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Full text of "Die Forschungen über das Nibelungenlied seit Karl Lachmann, eine gekrönte Preisschrift"

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DIE  FORSCHUNGEN 


ÜBKH  r)Ah; 


NIBELUNGENLIED 

SEIT  KARL  LACHMANN. 


EINE  GEKRÖNTE   PREISSCHUIFT. 


Y.OX 


m,  HERMAIflf  FISCHER. 


LEIPZIG, 

VERLAG   VON    F.  C.  W.  VOGEL. 

1S74. 


j 


Vo  r  w  or  t. 


Die  Arbeit,  die  ich  hier  als  Erstlingsversuch  der  OeflFent- 
lichkeit  übergebe,  verdankt  ihre  Entstehung  einer  von  der 
philosophischen  Facultät  zu  Tübingen  im  Jahre  1871  gestellten 
Preisaufgabe  über  folgendes  Thema: 

„Die  neuesten  Theorieen  über  Entstehung  und 
Verfasser  des  Nibelungenliedes  sollen  dargestellt 
und  kritisch  beleuchtet  werden." 

Ich  habe  für  die  Bearbeitung  dieser  Frage  einen  Hauptpreis 
erhalten,  und  veröftentliche  dieselbe  in  einer  etwas  umgearbeiteten 
Gestalt,  wesentlich  zu  dem  Behuf,  eine  geordnete,  möglichst 
vollständige  und  unparteiische  Darstellung  des  Ganges  und 
jetzigen  Standes  der  Nibelungenfrage  in  allen  ihren  Puncten  zu 
geben,  welche  vornehmlich  als  eine  Einleitung  in  das  Studium 
der  Nibelungen  dienen  könne. 

Die  Entstehung  der  Arbeit  mag  die  Wahl  des  Behandelten  und 
die  Art  und  Weise  seiner  Behandlung  rechtfertigen.  Als  Einleitung 
zum  Nibelungenliede  würden  wohl  vor  allem  einige  Andeutungen 
über  die  Sprache  desselben,  über  seinen  Vers,  über  die  litterar- 
historische  Stellung  des  Liedes  im  Allgemeinen  und  insbesondere 
über  seine  Geschichte  von  seiner  Widerentdeckung  im  achtzehnten 
Jahrhundert  an  erwartet  werden,  sowie  von  anderer  Seite  eine 
Einführung  in  die  Nibelungensage  nach  deutscher,  nordischer 
und  angelsächsischer  Ueberlieferung.  Diese  Dinge,  soweit  sie  nicht 
nebenbei  von  der  Untersuchung  schon  berührt  waren  (wie  denn 
die  Metrik  der  Nibelungen  bei  der  Darstellung  der  Bartschischen 
Theorie  über  die  Handschriften,  die  Sage  in  den  sie  betreffenden 
Abschnitten  vielleicht  genügend  erörtert  sind),  konnten  in  den 
Gang  derselben  nicht  wohl  aufgenommen  werden,  ohne  das 
Ganze  empfindlich  zu  alterieren.  Es  genüge,  für  dieselben  auf 
die  bekanntesten  einschlägigen  Werke  zu  verweisen. 


IV 

Die  Anordimii;^  des  Ganzen  nach  den  Theorieen  der  einzelneu 
Autoren  glaubte  ich  nicht  ändern  zu  dürfen.  Denn  eine  einiger- 
maassen  gründliehe  Einleitung  in  das  Lied,  das  eine  von  der 
homerischen  kaum  erreichte  Litteratur  aufzuweisen  hat,  wird 
wohl  thun,  die  Ansichten  der  würdigsten  Bebauer  dieses  Feldes 
in  ausführlicher  Darstellung  zu  bringen,  um  einen  Wegweiser 
nicht  nur  zu  bilden  durch  das  Labyrinth  dieser  Litteratur,  son- 
dern auch  eine  nähere,  nicht  wenig  zeitrauljende  Bekanntschaft 
mit  derselben  unnöthig  zu  machen.  Durch  die  erwähnte  Anord- 
nung war  zugleich  nothwendig  gegeben,  dass  ich  in  der  Dar- 
stellung der  einzelnen  Theorieen  mit  wenigen  Ausnahmen 
solcher,  die  gairz  kurz  behandelt  worden)  stets  die  Autoren, 
sogar  in  den  Noten,  selbst  sprechen  Hess,  meine  eigenen  Ehiwände 
oder  meine  Billigung,  soweit  sie  nicht  in  die  Schlussparagraphen 
verschoben  werden  konnten,  in  den  Noten  duvcli  das  Zeichen 
der  eckigen  Kiamnier  unterschied. 

Nachdem  die  in  manchem  Puncte  verwandte  homerische 
Frage  mehrere  einleitende,  den  Stand  der  Frage  kürzer  oder 
ausführlicher  darstellende  Werke  gefunden  hat,  mag  ein  ähnlicher, 
den  Umfang,  welchen  eine  Einleitung  zu  einer  Ausgabe  des 
Liedes  zu  haben  pflegt,  überschreitender  Versuch  auf  dem  Gebiet 
der  ziemlich  zum  Stillstand  gekommenen  Nibelungenfrage,  wie 
ihn  Zarnckc  (Ausgabe,  Aufl.  IV,  Einleitung  LIV)  als  ein  Bedürfnis 
der  Nibclungcnlitteratur  bezeichnet,  Billigung  finden.  Möge  diese 
Abhandlung  als  in  diesem  Sinne  veröffentlicht,  als  unparteiische 
Untersuchung,  die  freilich  sich  genöthigt  sah,  in  der  PLauptfrage 
sich  einer  bestimmten  Hypothese  anzuschliessen ,  Anerkennung 
und  billige  Nachsicht  finden! 

Meinem  hochverehrten  Lehrer,  Herrn  Professor  Dr.  Adel- 
bert von  Keller  in  Tübingen,  welcher  durch  die  Stellung  der 
oben  genannten  Preisaufgabe  meine  Arbeit  ins  Leben  gerufen 
hat,  bin  ich  für  manche  fruchtbringende  Anregung  zu  grossem 
Danke  verpflichtet.  Herr  Geh.  Hofrath  Profes&or  Dr.  Karl 
Bartsch  in  Heidelberg  hat  mich  schon  vor  dem  Drucke  und 
noch  mehr  während  desselben  mit  der  aufoi)ferndsten  Freund- 
lichkeit unterstützt,  indem  er  mir  insbesondere  bei  der  Correctur 
wie  für  die  Abfassung  des  Anhangs  mit  Ratli  und  That  behilf- 
lich war,  wofür  ihm  hier  mein  herzlichster  Dank  gesagt  sei. 

Stuttgart  im  Juni  1S7L 

Uermaiin  Fischer. 


Erster  Theil. 

Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 


i'isclier,   Nibelungenlied. 


Erster  Al)scliiiitt. 

Sie  Handsclirifteiifrage. 


A.   Einleitung. 


1. 


Bei  einer  jeden  Untersuchung  über  das  Nibelungenlied  muss 
die  über  die  Handsclirittcnfrage  voranstellen.  Denn  nicht  nur 
hat  K.  Lachmann  auf  seine  Beantwortung  dieser  Frage  seine 
ganze  Theorie  aufgebaut,  welche  ein  Menschenalter  laug  die 
gesammte  gerinanistische  Philologie  beherrschte;  auch  seine 
Nachfolger  haben  die  Wichtigkeit  dieser  Frage  anerkannt,  und 
der  Erste,  welcher  mit  einer  ausgedehnteren  und  eingehenderen 
Untersuchung  gegen  Lachmann  aufgetreten  ist,  A.  Holtzmann, 
beginnt  seine  ., Untersuchungen  über  das  Nibelungenlied''  mit  den 
Worten:  „Man  mag  das  Nibelungenlied  vom  historischen  und 
l)hilologisclien  oder  auch  vom  ästhetischen  Standpunct  aus  be- 
trachten, immer  Avird  es  vor  allem  darauf  ankommen,  Avclchen 
der  verschiedenen  Texte  man  zu  (Irunde  legt.'' 

Welches  aber  sind  die  Gründe,  aus  welehen  die  Hand- 
schriftenfrage, sonst  für  Bestimmung  der  Person  und  Zeit  eines 
Dichters  tVist  glcichgiltig.  hier  die  Priorität  vor  allen  anderen 
Momenten  in  Anspruch  zu  nehmen  hatV  Es  ist  einerseits  der 
Grund,  dass  I)ei  anderen,  wenigstens  bei  den  griechisch-römi- 
schen Schriftstellern  stets  die  Niederschreibung  der  auf  uns  ge- 
kommenen, ihre  Werke  enthaltenden  Codices  mindestens  um 
einige  Jahrhunderte  später  fällt  als  der  Dichter  selbst,  bei  un- 
serem Liede  aber   möglicherweise')    die   ältesten   Handschriften 


1)  So  nach  Lachmanns  TBeorie,  auch  nach  Zarncke. 


4  I.    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

fast  gleichzeitig  mit  der  Abfassung  des  Gedichts  gesetzt  werden 
können,  keinesfalls  aber  mehr  als  äu — (30  Jahre  später  fallen 
als  die  Abfassung  oder  letzte  Redaction  des  Werkes,^)  —  Anderer- 
seits aber  ist  die  Handschriftenfragc  hier  von  umfassender 
Wichtigkeit  deshalb,  weil  die  directen  äusseren  Zeugnisse,  die 
für  die  Entscheidung  der  Kibelungenfrage  benutzbar  sind,  äusserst 
spärlich  und  für  sich  allein  gar  nicht  entscheidend  sind,  also 
die  ganze  Frage  der  Hauptsache  nach^)  aus  inneren,  indirccten 
Zeugnissen  beantwortet  werden  muss.  Dass  solche  Zeugnisse 
bei  der  relativen  Gleichzeitigkeit  der  Handschriften  wesentlich 
in  diesen  liegen,  ist  an  und  für  sich  klar,  und  wird  noch  be- 
hestätigt  dadurch,  dass  die  Handschriften  nicht  nur  in  mehr 
oder  niinder  gleichgiltigen  Dingen  unter  einander  ditferieren,  i;on- 
dern  auch  in  solchen,  welche  für  die  gesammte  Kibelungenfrage 
von  Belang  sind.  —  Zugleich  nimmt  aber  die  Handschriften- 
frage auch  dadurch  einen  hohen  Rang  ein,  dass  je  nach  der 
verschiedenen  Entscheidung  derselben  auch  die  anderen  in  Be- 
tracht kommenden  Momente  verschiedene  Bedeutung    erhalten. 


Liegt  schon  in  dieser  gegenseitigen  Abhängigkeit  zwischen 
inneren  und  äusseren  Kriterien  eine  nicht  unbedeutende  Sch^vierig- 
keit  der  Entscheidung,  so  liegt  speciell  für  die  Handschriften- 
frage eine  noch  bedeutendere  in  dem  eigenartigen  Verhältnisse 
der  Handschriften  unter  einander.  Diesell)en  sind  nicht,  wie 
man  es  sonst  bei  handschriftlicher  Tradition  zu  sehen  gewohnt 
ist,  im  wesentlichen  übereinstinmiend,  von  ungebildeten  oder 
halbgebildeten  Schreibern  geschricl)en,  auf  einen  noch  vorhande- 
nen oder  verlorenen  Archetypus  deutlich  zurückführbar.  Sie 
sind  vielmehr  mehr  oder  minder  gleichzeitig  und  doch  weit  aus- 
einandergehend; die  besten  unter  ihnen  sind  für  fürstliche  Höfe 
))estimmt  gewesen  und  daher  i)rächtig  ausgestattet  sowie  mit 
verhältnismässig  grosser  Sorgfalt  geschrieben.  Die  Verschie- 
denheiten al)er,  die  unter  denselben  statttinden,  sind  nicht  der 
Art,   dass   eine   einheiHiche   Ueberlieferung  sich   n(»ch  darin  er- 

2)  So  fällt  nach  Pfeiffer  und  Bartsch  die  Handschrift  C  etwa  60  Jahre 
später  als  der  Diclitcr;  aber  ;\uch  nach  dieser  Theorie  enthalten  alle  Hand- 
schriften erst  spatere  üniarboitungen,  die  nicht  über  in  Jahre  früher  zu 
setzen  sind  als  die  älteste  erlialtene  Handschrift. 

;V)  Auch  die  nach  Abfassungszeit  und  Verfasser. 


1.    Die  Ilandschriftenfrage.    Einleitung.  5 

kennen  Hesse,  aus  welcher  durch  Dcpravation  oder  auch  neben- 
bei geübte  vermeintliche  Verbesserung  die  einzelnen  Hand- 
schriften entstanden  wären;  es  l)egegnen  uns  vielmehr  im  wesent- 
lichen zwei  geschiedene  Gruppen  von  llandscln-itten,  in  deren 
Abweichungen  wir  es  nicht  mit  dem  unwillkürlichen  allmählichen 
Auseinandergehen  jeder  handschrittlichcnTradition  zu  thun  hal)en; ') 
vielmehr  ist  die  Verschiedenheit  zwischen  l)eiden  der  Art,  dass 
wir  nothwendig  eine  absichtliche  Umarbeitung,  sei's  der 
einen  Textesgestalt  durch  das  Original  der  anderen  Gruppe, 
sei's  eines  verlorenen  Originals  durch  beide  erhaltenen  Redactio- 
nen,  anzunehmen  haben. 

Es  kommt  nun,  um  die  Wichtigkeit  und  zugleich  die  Schwie- 
rigkeit der  Handschriftenfrage  zu  erhöhen,  noch  dazu,  dass  nicht 
etwa  in  gieichgiltigen  Ausdrücken  und  liedensarten ,  sondern  in 
wesentlichen  Dingen,  in  Strophenbestand  und  Umfang  des  Ganzen, 
in  der  Behandlung  des  Metrums,  in  Stil  und  Darstellung  die 
beiden  Textesbearbeitungen  sich  bakl  mehr  bald  weniger  von 
einander  entfernen.  Es  sind  diss  Verschiedenheiten,  welche  zu 
Gunsten  der  einen  oder  der  anderen  Ueberlieferung  gedeutet 
werden  können  und  gedeutet  worden  sind.  Ausserdem  hat  die 
verschiedene  Wahl  zwischen  den  Mandschriften  die  verschiede- 
nen Auffassungen  des  Nibelungenliedes  als  eines  Kunstepos 
oder  als  eines  Volksepos  mit  hervorgerufen,  so  dass  auch  für 
die  Entscheidung  dieser  Streitfrage  die  der  Ilandschriftenfrage 
von  Wichtigkeit  sein  muss,  und  umgekehrt. 

o. 

In  kurzer  Zusammenstellung  sind  nun  die  Handschriften 
des  Nibelungenliedes  und  ihr  Verhältnis  unter  einander  folgende. 

Das  Nibelungenlied  ist  in  zehn  vollständigen  Handschriften 
und  achtzehn  Fragmenten  überliefert.  Von  den  zehn  vollstän- 
digen Handschriften  gehören  drei  dem  dreizehnten  Jahrhundert 
an,  nach  Lachmanns  Bezeichnung  A,  J)  und  C^  eine  dem  drei- 
zehnten oder  vierzehnten,  D,  eine  dem  vierzehnten,  J,  vier  dem 
fünfzehnten,  a,  h,  //,  /r,  eine  dem  sechzehnten,  <l.  Von  den  Frag- 
menten fallen  sechs  in  das  dreizehnte  Jahrhimdert,  E,  M,  0,  1\,  S,  7', 
vier  in  das  dreizehnte  oder  vierzehnte,  F,  G,-  //,  K,  vier  in  das 
vierzehnte,  />,  X,  Q,  /,  drei  in  das  fünfzehnte,  ff,  /,  ;/^  (oder  nach 
Zarnekes    Bezeichnung  iv).     Ausserdem   sind    in   einem   Drucke 

1)  Das  anzunehmen,  wird- schon  durch  die  relative  Gleichzeitigkeit  der 
Haupthandschriften  unmöglich. 


5  1.     Die  lüitstehung  des  Nibelungenliedes. 

des  sechzehnten  Jahrhunderts,  in  dem  Werk  des  W.  Lazius 
„De  gentium  nli(iuot  niigrationil)US",  einige  Strophen  aus  einer 
Nibclungenliandsciirit't  enthalten,  weiche  mit  c  hezeiclmet  werden. 
Nicht  alle  diese  Handschriften  sind  aber  von  eigentlich 
kritischer  Bedeutung,  da  einige  von  den  späteren  theils  Um- 
arbeitungen der  einen  oder  anderen  Textesbearbeitung  sind,') 
theils  auf  solche  hinweisen,*)  welche  aber  die  Frage  nach  der 
Entstehung  des  Gedichts  nicht  mehr  I)erühren;  da  ferner  eines 
der  Bruchstücke,  T,  eine  Uebersetzung  des  Liedes  in  das  Nie- 
derländische, zugleich  die  einzige  alte  Uebersetzung  desselben 
überhaupt,  nichts  für  die  Handschriftenfrage  l)ietet. 

Die  I  landschriften  aber,  welche  für  unsere  Frage  in  Betracht 
kommen,  vertheilen  sich  in  folgende  Gruppen.^) 

1)  Die  eine  der  beiden  Hanptrcdactionen,'}  gekennzeichnet, 
anch  öfters  benannt  nach  dem  Schluss  des  Gedichts,  ^^ elcher 
dasselbe  als  ,,(/cr  Xi/x'/i/fN/c  //ff"  bezeichnet,  zugleich  die  voll- 
ständigste Gestalt  des  Liedes  hinsichtlich  der  Stroj)henzahl  und 
die  feinste^)  hinsichtlich  der  Lesarten  enthaltend,  hat  zu  ihrem 
eigentlichen  Repräsentanten  die  Handschrift  f,  die  schönste  und 
sorgfältigste  Handsclirift  unseres  Liedes.  Ausserdem  gehören 
zu  dieser  Gruppe  die  Handschriften  (und  Fragmente)  /i',  F,  G,  H,  n. 

2)  Der  genannten  ersteren  Bearbeitung  tritt  gegenüber  eine 
zAveite,*^)  ebenfalls  bezeichnet  durch  den  Schluss  des  (Gedichts, 
wo  dasselbe  „(/er  Xi/jr/u/tf/c  nöl"  genannt  wird.  In  ihr  lassen 
sich  drei  Gruppen  unterscheiden,  welche  in  Beziehung  auf  die 
Zahl  der  Strophen  sich  immer  weiter  von  der  ersten  Bearbei- 
tung entfernen.  Die  erste  Gruppe  hat  ungetähr  achtzig  Strui)hen 
weniger  als  jene,  und  hesteht  aus  den  Handschriften  (und  Frag- 
menten) //,  J.  K,  (>,  Q,  (/,  //,  /.  Der  zweiten  Gruppe  fehlen 
gegenüber  der  ersten  wider  zwanzig  Strophen;")  sie  l)esteht 
aus  den  Handschriften  />',  /K  L,  M,  X.  L\  -S,  v,  ij,  /.'j     Da  aber 

1 )-  //  und  /{. 

2)  m,  als  ein  blosses  Aventiurenverzeichnis ,  dessen  Inhalt  aber  in  meh- 
reren Puncten  nicht  ganz  der  des  Liedes  ist. 

3)  Das  Folgende  im  Wesentlichen  nach  Zarncke,  Ausgal»e  X— XXIV. 

4)  Bei  Bartsch  ..zweite  Bearbeitung-;  kurz   ..Bearbeitung  ('-. 
.1)  Vorerst  davon  abgesehen,  ob  zugleich  die  echteste. 

(i)  Bei  Bartsch  ..erste  Bearbeitung",  kurz  ..Bearbeitung  ^•' oder  ..vulgata". 

7)  Wogegen  dieselbe  :iS  eigene  Strophen  mit  den  beiden  anderen  (Jrup- 
pen  dieser  Bearbeitung  vor  der  ersten  Bearbeitung  voraus  hat. 

^)  Unter  diesen  stimmen  />.  -V.  /',  S'  bis  Strophe  2ö^,  1  zu  C,  von 
da  aber  zur  zweiton  Bearbeitung,  sind  also  Mischhandschriften. 


1.     I>io  llaudschriftenfragc.    Einleitung.  7 

die  llaiuUc'hnit  J>  verhältnisniUssii;-  wenige  Differenzen  den 
übrigen  Handsehritten  der  zweiten  Bearbeitung  gegenüber  auf- 
weist, an  Altertbümlichkeit  und  Güte  aber  alle  übertrifft,  so  ist 
der  engste  Kreis  von  Handsehritten,  weleheni  />'  angehört,  als 
Repräsentant  der  zweiten  Bearbeitung  zu  betrachten,  welche 
wegen  der  grossen  Anzahl  der  ihr  angehörigen  Handschriften 
kurz  als  ..  vulgata"  oder  ..gemeine  Lesart"  l)ezeichnet  wird.  Die 
dritte  C4ruppe  dieser  Bearbeitung  l)esteht  aus  einer  einzigen, 
al)er  in  der  Geschichte  der  Nibelungenfrage  lange  Zeit  sehr 
wichtig  gewesenen  Handschrift,  .1.  welche  Ji  gegenüber  wider 
(33  Strophen  weniger  enthält  und  im  einzelnen,  ol)wohl  manch- 
mal selbständig  redigierend,  meist  sehr  flüchtig  und  fehlerhaft 
geschrieben  ist. 

Von  den  für  die  Kritik  unwesentlichen  Handschriften  T,  b, 
VI,  k  gehört  T  der  vulgata  an;  h  ist  ndt  i>  verwandt;  k  stimmt 
von  Str.  l — 433  und  von  S()2 — S71  zur  vulgata,  sonst  zu  der 
anderen  Bearbeitung;  m  kisst  sich  kaum  einreihen.'') 


B.     Die  vorliandeiien  Tlicorieeu. 

4. 

Da  nach  dem  oben  Gesagten,')  das  sich  auch  noch  weiter- 
hin bestätigen  wird,  die  beiden  Bearbeitungen,  ('  und  vulgata, 
sich  nicht  einfach  eine  auf  die  andere  zurückführen  lassen, 
sondern  eine  l  inarbeitung  irgend  welcher  Art  anzunehmen  ist, 
so  lässt  sich  diese  entweder  so  denken,  dass  eine  der  beiden 
Kedactionen  im  wesentlichen  den  ursprünglichen  Text  enthalte, 
zu  Avelcher  sich  alsdann  die  andere  als  Umarbeitung  verhielte, 
oder  aber  so,  dass  beide  Bearbeitungen  sich  zu  einem  verlore- 
nen Original  als  Umarbeitungen  verhalten.') 

Das  Erstere  haben  die  Früheren  allgemein  angenommen, 
nicht  nur  Lachmann  und  seine  Anhänger,  sondern  auch  Holtz- 
mann.  Zarncke  u.  a.;  das  Letztere  die  Späteren,  besonders  Bartsch. 


9)  S.  Zarncke.  Ausg.  XXII -XXIV  undLXV;  Bartsch,  Ausg.  XX.  XXI; 
XXV- XXIX. 

1)  S.  Seite  4  f. 


8  I.    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

Es  sollen  nun,  schon  um  die  zeitliche  Keihenfolge  einzuhalten, 
die  älteren  Theorieen,  welche  die  ersterc  Ansicht  vertreten,  zu- 
nächst hetrachtet  werden. 

5. 

Der  Erste,  welcher  für  eigentliche  Kritik  des  Nibelungen- 
liedes, insbesondere  für  Herstellung  eines  kritischen  Apparats 
bahnbrechend  war,  ist 

Karl  Lach  mann. 

Vor  ihm')  existierte  das  Nibelungenlied  nur  in  der  Bodmer- 
Myllerischen  Ausgabe,  welche  ohne  jede  kritische  Behandlung 
die  erste  Hälfte  des  Gedichts  nach  J,  die  zweite  nach  C  wider- 
gab;-) ferner  in  Hagens  Ausgaben  nach  B^^)  und  in  Lassbergs 
Abdruck  von  <'.'')  Mit  Ausnahme  von  Hagens  Ausgaben  bot 
keine  der  genannten  einen  kritischen  Apparat.  Theils  unab- 
hängig'^), theils  wohl  auch  in  gewisser  Abhängigkeit  von  Laeh- 
mann,'"')  herrschte  in  diesen  frühesten  Zeiten  der  Nibelungen- 
studien die  Ansicht  vor,  dass  .1  den  ältesten  Text  enthalte,') 
welcher  in  B  ül)erarl)eitet  und  verbessert  sei,  wie  B  widerum 
die  letzte  liedaction  in  C  ertähreu  habe.  Aber  diese  Ansicht 
war  nirgends  begründet,  und  erst  Lachmann  hat  in  der  Vorrede 
zu  seiner  Ausgabe  vom  Jahr  182()*')  eine  kritische  Begründung 
seiner  mit  der  genannten  identischen  llandscliriftentheorie  ge- 
geben, welche  noch  weiter  ausgeführt  und  im  einzelnen  be- 
gründet wurde  in  seinem  Werke  „Zu  den  Nibelungen  und  zur 
Klage",  erschienen  1836;  dasselbe  enthält  zugleich  Lachmanns 
Ansichten  über  die  Entstehung  des  Liedes  und  der  zu  Grunde 
liegenden  Sage,  seine  Einzelkritik  und,  was  das  Buch  bis  heute 


1)  D.  h.  vor  seiner  ersten  Ausgabe  des  N.  L.  im  J.  \<1^. 

2)  D.  h.  bis    1dS2,    1   nach  A,   dann  nach  C.    S.  die  ausführliche  Dar- 
stellung bei  Zarncke,  Ausg.  .XXV  flF. 

3)  Wozu  auchZeunes  ..Feld-  und  Zeltausgabe"  (IS  !.=•)  gehört.   S.  Zarncke, 
Ausg.  XXXIV. 

4)  In  dessen  ^Liedersaal"  l"'21. 

5)  So  in  den  vor  ISIO  erschienenen  Werken  jedenfalls, 
t.)  Dessen  erstes  Werk  über  das  N.  \j.  isit;  erschien. 

7)  Indes  kannte  man  damals   das  Verhältnis   der  Hss.  noch  gar  nicht; 
s.  Zarncke,  Ausg.  XXXVIII. 

8)  Welcher  noch  fünf  weitere,  im  wesentlichen  unverändert,  nachfolgten. 


1.    Die  IlanJschriftenfrage.    Die  vorhandenon  Tlieorieei!.  9 

unentbclirlicli  macht,")  einen  in  dem  damals  bekannten  Kreise 
von  Handscliriften  vollständigen  Apparat. 

In  seiner  ersten  Öehrift  über  das  Nibelungenlied'")  bat  I.acb- 
mann  noch  keinen  oder  doch  nur  äusserst  wenigen  Bezug  auf 
die  llandschriftenfrage  genonnnen.  Er  wollte  in  seinem  Werke 
die  Entstehung  des  Nibelungenliedes  aus  einzelnen  Volksliedern 
nachweisen,  welche  erst  durch  einen  Öannnler")  zu  einem 
(itanzen  vereinigt  worden  seien.  Zum  Zwecke  dieses  Nach- 
weises benutzte  er  damals  die  Handschrift  .1,  welcher  er  später 
einzig  maassgebenden  Wertli  beilegte,  nur  für  die  Kritik  des 
ersten  Theils  des  Gedichtes,  und  hier  nur  obenhin.  In  Beziehung 
auf  den  zweiten  Theil  des  Liedes,  von  welchem  überhaupt  seine 
ganze  Untersuchung  ausgieng,  suclite  er  auf  anderen  Wegen, 
weh'he  hieher  nieht  gehih-en,  zum  Ziele  zu  gelangen.  Jeden- 
talls  war  also  seine  Ansicht  über  die  Entstehung  des  Gedichts 
auch  öime  besondere  Berücksichtigung  der  Handschriftenfrage 
schon  getasst. 

Dagegen  tritt  in  Lachmanns  zweitem  Werke  über  das  Ni- 
belungenlied'-) und  in  seinen  Ausgaben  desselben  seine  Ansicht 
über  das  Verhältnis  der  Handschriften  klar  zu  Tage. 

Lachmanns  kritisches  Princip,  wie  auf  anderen  Gebieten, 
so  auch  hier,  w^ar  dieses:  anstatt  der  bis  auf  ihn  vorherrschend 
geübten  compilatorischen  Methode  der  Textkritik,  welche  aus 
jeder  Zeile  auch  wohl  der  schlechtesten  Handschrift  das  ent- 
nahm, was  gerade  am  besten  sich  in  den  Context  zu  schicken 
schien,  vielmehr  eine  oder  doch  nur  wenige  Handschriften  von 
hervorragender  Güte  zu  Grunde  zu  legen,  dem  dagegen,  was 
die  anderen  bieten ,  wenig  Aufmerksamkeit  zu  schenken,  weil 
es,  wenn  besser,  mit  Wahrscheinlichkeit  als  alte  Conjectur  zur 
Besserung  einer  noch  älteren  Corruptel  zu  betrachten  sei;  eine 
Conjectur,  die  wohl  an  manchen  Stellen  das  Echte  widerher- 
gestellt haben  mag,  der  aber  die  Lesart  der  bevorzugten  Hand- 
schriften vorzuziehen  ist,  wenn  sich  aus  derselben  auf  anderem 
Wege,  als  durch  Beiziehung  geringerer  Handschriften,  ein  be- 
friedigender Sinn  gewinnen  lässt. 


9)  Da  der  zweite  Theil  von  Bartschs  grösserer  Ausgabe  noch  nicht  er- 
schienen ist. 

10)  ..lieber   die  nrspningUche  Gestalt  des  (iediclits   von  der  Nibehmgou 
Noth";  Berlin,  Ferd.  Dünimlci-  IS  10. 

11)  ..Diaskeuaston-,  ähnlich  den  homerischen. 

12)  ,.Zu  den  Nibelungen  und  zur  Klage",  ISSti. 


10  I.    l'ie  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

Dieses  entschieden  richtige  Princip  wendet  Lachmann  auf 
das  Nibeliuiiienlied  tblgendermaassen  an.  Die  einzig  niaass- 
gebliclie  Handsehritt  ist  ihm  .1.  deren  Kürze,  Verderl)thcit  und 
Lückenhaftigkeit'^)  am  leichtesten  die  Aendeningen  der  andern 
Handscln-iiten  hegreif lieli  macht.'')  Alle  Lesarten  anderer  Hand- 
schriften haben  niciit  melir  als  den  Werth  von  Conjecturen  und 
Verbesserungen,  welche  mitunter  das  Richtige  getroffen  haben 
mr>gen.  Allein  um  die  Sunnne  von  Lachmanns  Kritik  zu  finden, 
muss  man  auf  seine  L  i  e  d  e  r  t  h  e  o  r  i  e  zurückgeben.  Zwanzig  -  ro- 
manzenartige Volkslieder",  gedichtet  etwa  in  den  Jahren  1190 — 
1210,  zu  derselben  Zeit  auch  schon  mit  einzelnen  Zusätzen  und 
Fortsetzungen  versehen,  wurden  nach  Lachmann  um  1210  zu 
einem  Ganzen  vereinigt:  dieses  Oanze  ist  das  Nibelungenlied 
in  der  Gestalt,  wie  es  in  A,  freilich  schlecht  genug,  erhalten 
ist.  Aber  diese  Verbindung  litt  noch  an  vielen  Mängeln;  die 
Stellen,  wo  die  echten  Lieder  an  einander  geflickt  waren,  sind 
oft  noch  nicht  genügend  geglättet,  die  einzelnen  Lieder  enthal- 
ten von  einander  abweichende  Darstellungen,  daher  finden  sich 
noch  Widersprüche  und  Iniehenheiten.  die  eben  für  die  Zusani- 
menschweissung  heterogener  Kestaiultheile  zeugen.  Ein  zweiter 
Bearbeiter,  dessen  Werk  uns  in  /j.  d.  h.  der  vulgata  im  engsten 
Sinn,  vorliegt,  unternahm  daher  eine  Besserung  dieser  mangel- 
haften Arbeit;  es  gelang  demselben  auch  wirklich  so  ziemlich, 
ein  gutes  Ganze  herzustellen;  aber  alle  Anstösse  sind  auch  hier 
noch  nicht  heseitigt; '")  erst  der  dritte  Bear])eiter,  von  dem  die 
Bearbeitung  ('  herrührt,  stellte  ein  wirklich  in  sich  vollendetes 
Ganze  her,  dem  sein  erster  Ursprung  nicht  mehr  anzufühlen  ist. 
P^in  Mittelglied  zwischen  J)  und  C  bildet  die  GrupjjC  J,  welche 
das  Machwerk  eines  gedankenlosen  Abschreibers  ist,  aber  den- 
noch einige  Znsätze  enthält.  Es  bildet  sich  demnach  folgendes 
Schema  für  die  Entstehung  der  liandschriftengruppen: 


\:i)  Belege  dafür  s.  u.  bei  lloltzmann  und  Bartsch. 

14)  Dieses  Aiiiument.  von  Lachmann  selbst  nicht  gebraucht  (er  hat  über- 
haupt eine  Itechtfertigung  seiner  Theorie  nicht  gegeben),  wohl  aber  von 
seinen  Schülern,  besonders  LiHcncron.  war  doch  wohl  nicht  das,  von  dem 
Lachniann  für  ./  ausgieng;  das  richtige  ^lotiv  liegt  vielmehr  in  der  Brauch- 
barkeit von  ./  für  Lachmanns  Liedertheorie  (>•.  oben). 

1.'»)  Als  Beispiel  mögen  die  zwei  autfallendsten  Widersprüche  dienen, 
welche  sich  in  B  finden,  in  C  nicht ;  Str.  S.j  1  nennt  f>  den  Wüskenwaid  als 
Ort  der  Jagd,  auf  der  Siegfried  ermordet  wird,  statt  des  Odeuwaldes ;  Str.  1272 
lind  1276  hat  (■  Treisenmüre.   die  vulgata  das  nnmögliche  Zeizeitmürc  (s.  u.l. 


1.    Die  Handschriftenfrage.    Die  vorhandcr.en  Theorieen.  11 

I.     Volk.slicder,  Zusätze  und  Fortsetzungen 
If.  Erste  Gesaninitrcdaction   A 

III.    Zweite  ..  Z-»'  u.  s.  w. 

1 
I\'.   Abschrift  von  III.  J  u.  s.  w. 

V.   Dritte  Gesammtredaetion  f  u.  s.  w. 

Was  die  Zeit  betrifft,  in  welcher  die  verschiedenen  Be- 
arbeitungen entstanden  sein  sollen,  so  setzt  Laclnnann  .4  um 
1210,  C  um  r22(»,  vor  122:).") 

Es  ist  nun  al)er  aus  der  Thatsache,  dass  Lachmann  die 
Eigenschaften  von  /J  gegenül)er  denen  der  andern  Handschriften 
aiis  der  in  .1  geschehenen  erstmaligen  Zusamnienschweissung 
von  Volksliedern  erklärt,  deutlich  ersichtlich,  dass  bei  der  ganzen 
Frage  die  Voraussetzung  stillschweigend  mit  unterläuft,  dass 
Lachmanns  Liedertheorie  bewiesen  sei.'')  Für  uns,  die 
wir  hier  nicht  von  dieser,  sondern  rein  von  der  Handschriften- 
frage allein  ausgehen,  entsteht  dadurch  ein  Cirkel  im  Beweis:'^) 
.1  muss  die  echteste  Textesgestalt  enthalten,  wenn  die  Lieder- 
theorie bewiesen  ist; '^)  aber  diese  selbst  beruht  wesentlich"-") 
auf  der  schlechten  Beschaffenheit  von  A,  so  dass  Haupt-')  mit 
Recht  %agt,  dass  Lachmann  aus  der  „letzten  Bearbeitung  der 
Samndung"  die  Nibelungenlieder  nicht  mit  Sicherheit  und  im 
einzelnen  überzeugend  hätte  nachweisen  können.  Wird  sich 
also  im  Laufe  der  Untersuchung  .1  wirklich  als  die  beste,  d.  h. 
originalste  Handschrift  erweisen,  so  mag  die  Liedertheorie,  die 
in  der  Priorität  von  .4  ihre  festeste  Stütze  hat,  immerhin  der 
genauen  Untersuchung  werth  sein;  ist  aber  die  maassgebende 
Bedeutung  dieser  Handschrift  unhaltbar,  so  wird  sich  die  Lieder- 
theorie begnügen  müssen,  als  ihr.-s  eigentlichen  Fundaments  be- 
raubt den  antiquierten  Hypothesen  beigezählt  uml  nur  kürzerer 
Erwähnung  bedürftig  erfunden  zu  werden. 


16)  Diss  jedenfalls  falsch;  ('  fallt  kaum  nach  1200. 

17)  Diss  zeigt  sich  schon  darin  (s.  not.  N).  dass  Lachmann  seine  Hand- 
schriftentheorie  gar  nicht  begründet  hat. 

IS)   Nicht    der   einzige    bei   Lachmann;    s.   Iloltzmann,   Unters.    S.  17; 
Fischer,  Nib.-Lied  oder  Nib. -Lieder V  141—143  u.  a. 

19)  S.  Holtzmann,  Kampf  um  der  Nibelunge  Hort  u.  s.  w.,  S.  55. 

20)  S.  Fischer  a.  m.  0.       . 

21)  S.  Haupts  Zeitschrift  V,  50.^;  Holtzmann.  Kampf  S.  21. 


\2  I.     Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 


Lachraaims  Handscliriftentheoric,  wie  überhaupt  seine  ganze 
Ansicht  von  der  Entstehung  der  Nibchmgen  blieb  lange  unbe- 
stritten, und  nur  Wenige  wagten,  eine  von  derselben  verschie- 
dene Ansiclit  über  diese  Frage  zu  hegen,')  aber  auch  diese 
hüteten  sich,  dieselbe  allzulaut  werden  zu  lassen.  Denn  als 
Lachmanns  Gegner  sich  zu  bekennen,  war  der  scharfen  Feder 
gegenüber,  die  er  führte,  keineswegs  räthlich.  Der  Erste,  wel- 
cher, allerdings  erst  drei  Jahre  nach  Lachnianns  Tode-)  (der  im 
Jahr  1S51  erfolgte),  offen  und  zugleich  in  ausgedehnterer  Unter- 
suchung gegen  Lachmann  in  die  Schranken  trat,  war 

Adolf  Hol  t  z  m  a  n  n 

in  seinen  „Untersuchungen  über  das  Nibelungenlied-',  welche 
1854  erschienen.  Iloltzmann  widmet  den  ersten  Theil  dieses 
Werkes^)  der  Ilaiidsclü-iftenfrage. 

'OAuch  er  will  nur  eine  handschriftliche  Tradition  unter 
den  erhaltenen  als  Original  zu  (irunde  legen,  aber  nicht,  wie 
Lachmann,  die  Handschrift  A,  sondern  vielmehr  die,  welche 
sich  in  allen  Ijcziehungcn  am  weitesten  von  J  entfernt,  nem- 
lich  €.  War  Lachmanus  Princip,  wenn  man  es  „bitter  aus- 
drücken" will:  ..Je  schlechter,  desto  besser",')  so  sind  hhigegen 
Holtzmanns  Principien  die  folgenden: 

1)  „Je  umfangreicher,  um  so  echter;" 

2)  „Je  bosser,  um  so  echter."'") 

Den  ersten  Grundsatz  will  Holtzmann  erhärten  durch  andere 
Beispiele  aus  mittelalterlichen  Handschriften  und  durch  die  all- 
gemeine Beobachtung,  dass  die  Werke  von  Dichtern,  je  mehr 
abgeschrieben,  um  so  kürzer  geworden  seien,  was  noch  ganz 
besonders  der  Fall  sei  bei  deutschen  Werken,  welche  nicht 
dieselbe  Achtung  genossen  wie  lateinische,  mit  denen  mau  daher 


1)  Z.  B.  W.  Glimm  (s.  Zarncke,  Ausg.  XXXIX);  Heinr.  Kurz  (s.  Holtz- 
mann, L'ntors.  2.);  Gervinus;  W.  Müller  („Ueber  die  Lieder  von  den 
Nibelungen".  \'^\ö;  vgl.  Gott.  Gel.  Anz.  \^bb,  S.  691);  J.  Grimm  (selbst 
früher  Anhänger  Lachmanns,  entdeckte  aber  1>*51  die  lleptadengrilie  des- 
selben, was  der  erste  Scliritt  zum  Sturze  der  Lachmannischen  Theorie  war). 

2)  Nicht  als  ob  Lachmanns  Tod  das  ]\Iotiv  der  nunmehrigen  Reaction 
gewesen  wäre,  s.  Iloltzmann,  Unters.  VI. 

:\)  Und  zugleicli  etwa  ein  Drittel  des  Ganzen. 

4)  S.  für  das  Folgende  E.  Pasch,  A  und  t',  S.ö— 87. 

5)  IS.  Literar.  Centralblatt  IS.^4,  Spalte  lir.l 

6)  [S.  E.  Pasch,  J  und  C,  85- ST.] 


1.    I>ie  Handschriftenfrage.    iJic  vorliaiulenen  Thcorieen.  13 

auch  sorgloser  iinigieng-.")  Den  zweiten  Grundsatz  will  Holtz- 
mann  auch  beim  Nibelungenlied  angewandt  wissen,  weil  er 
sonst  überall  gelte.  —  Beides  mm,  gröster  Umfang  und  beste 
Lesarten,  kommt  cntsebieden  der  Handschrift  ('  zu.  Selbst- 
verständlich aber  müssen  die  allgemeinen  Princiinen  der  Hand- 
schriftenkritik im  concreten  Falle  jedesmal  gejjrüft  werden.  Für 
die  Einzeluntersuchung  gibt  es  aber  überhaupt  eben  jene  zwei 
Gesichtspuncte  der  Quantität  und  der  Qualität,  d.h.  8trophen- 
differenz  und  Lesartenverschiedenh  eit.  Auf  diese  bei- 
den Gesichtspuncte  hin  vergleicht  lloltzmann  die  drei  Haupt- 
gruppen von  Handschriften,  die  in  Betracht  kommen  können, 
.1,  B  und  C ,  und  z^yar  untersucht  er  zuerst  das  Verhältnis  von 
A  zu  B,  sodann  das  von  l>  zu  C. 

Verhältnis  von  .1  zu  />'.  Zunächst  sind  die  beiden 
Handschriften  ül)erhaupt  ihrem  ganzen  Charakter  nach  verschieden. 
A  ist  jünger  als  />,**)  ist  flüchtiger  geschrieben  und  steht  über- 
diss  mit  seinem  Text  allein  gegenüber  den  vielen  Handschriften 
der  -vulgata".  Es  finden  sich  in  ^l  vielfache  Auslassungen  von 
Wörtern,'-')  unbedeutenden  und  entl)ehrlichen  wie  auch  bedeu- 
tenden und  unentbehrlichen;  daneben  auch  ganz  sinulose  ^'er- 
schreibungen  und  Verwechslungen'"),  die  von  Lachmann  meist 
„stillschweigend  geändert"  worden  sind.")  Djese  Fehler  theilen 
die  übrigen  Handschriften  der  vulgata,  theilt  insbesondere  B 
nicht.    Es  kann  somit  B  nicht  direct  von  A  abstammen.'^)   Schon 

T)  S.  lloltzmann,  ['nters.  5  f.  [Dagegen  E.  Pasch  1.  c.  87;  nicht  die 
Minderachtung  deutscher  Werke  wird  es  gewesen  sein,  weshalb  sie  eher 
verkürzt  wurden,  sondern  die  Kenntnis  der  Sprache  in  denselben,  welche 
Auslassungen  ohne  Sinnesstörung  erlaubte,  willu'end  der  Schreiber  von  la- 
teinischen Werken  nie  wissen  konnte  (wenn  er  nicht  lateinisch  verstand), 
ob  seine  Auslassung  nicht  eine  Lücke  verursache.  Indes  konnten  aus  demselben 
Grund  auch  Zusätze  in  deutschen  Werken  leichter  gemacht  werden,  so 
dass  dieser  Grund  Holtzmanns  sich  selbst  aufhebt] 

S)  [B  ist  etwa  um  1240  geschrieben,  Ä  um  r2sO:  s.  Zarncke,  Ausg.  XX. 
XXI;  Bartsch.  Ausg.  VI.  Unters.  :H(iS.] 

9)  S.  Hohzmann,  Unters.  4.     iBartsch,  Unters.  75  ö".,  242  ff.] 

10)  S.  Holtzmann,  Unters.  4.     [Bartsch,  Unters.  (j4  ff.,  70  ff.J 

U)  S.  Holtzmann.  Unters.  3  f.  [Bartsch.  Unters.  7-5—82.  —  Die  ..still- 
schweigende- Aenderuug  besteht  nur  darin,  dass  Lachmann  in  seinen  Aus- 
gaben die  wahren  Lesarten  von  A  an  den  betreffenden  Stellen  niclit  mit- 
getheilt  hat.   während  er  dieselben  in  seineu  Anmerkungen  referiert  hat.] 

12)  [Abgesehen  davon,  dass  A  jüngeren  I)atums  ist  als  B  (s.  not.  8), 
verbietet  diss  schon  die  Masse  von  Fehlern  in  A.  die  B  nicht  hat;  ein  Ab- 
schreiber hätte  keinesfalls  alle  diese  Fehler  richtig  gebessert.] 


14  I.     Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

« 
damit  ist  aber  die  Nothwendigkeit  der  Annahme,  dass  .1  die 
maassgcbcnde  Handschrift  sei,  mehr  als  problematisch  gemacht. 
Denn  weist  .  l  im  einzelnen  eine  solche  Menge  von  Fehlern  auf, 
die  in  der  übrigen  vulgata  nicht  enthalten  sind,  so  liegt  die  An- 
nahme sehr  nahe,  dass  auch  die  Ijcdeutenderen  Abweichungen 
von  ^4  gegenüber  von  B  solche  Fehler  seien. 

Dazu  kommt,  dass  .1  von  bedeutend  geringcrem  Umfange 
ist  als  /i.'^)  Diss  ist  zwar  tiir  Lachmann  ein  lieweis  zu  Gunsten 
von  ^1,  für  Holtzmann  al)er  umgekehrt.  Mriglich  wäre  nun 
immerhin,  lloltzmanns  erstem  Princip  entgegen,  dass  in  diesem 
besonderen  Falle  der  kürzere  Text  der  echtere  wäre,  wenn 
nemlich  bewiesen  wäre,  dass  .1  direct  aus  dem  Volksgesang 
stammt,  da  dieser  eine  stätige  Erweiterung  erfahren  kann.  Allein 
diss  ist  nicht  der  Fall;  -4  stammt  vielmehr  zunächst  jedenfaHs 
aus  einer  anderen  (resammthandschrift  des  Xibeluugeidiedes,") 
und  bei  der  Abschrift  eines  Codex  ruft  die  bei  (V^n  Abschrei- 
bern durchschnittlicli  vorliandene  Nachlässigkeit  weit  eher  eine 
Verkürzung  hervor. 

Ist  sojiiit  nach  dieser  allgemeinen  Vergleichung  die  Prio- 
rität von  B  gegenüber  von  A  wahrscheinlich,  so  folgt  dieselbe 
ganz  entschieden  und  zweifellos  aus  der  speciellen  Vergleichung 
beider  nach  Stro]ihendiflt'erenz  und  Lesartenverschiedenheiten. 

Die  Strophendifferenz')  beruht  zum  Theil  auf  der 
Nachlässigkeit'")  des  Schreibers  von  .1,  welcher  überhaupt  aus 
Klüngel  an  Aufmerksamkeit  seiner  Vorlage  gegenüber,  besonders 
aber  öfters  durch  grajjhische  Aehnlichkeiten  irre  geleitet,'') 
wie  nach  dem  Obigen  einzelne  Wörter  und  kleinere  Wörter- 
complexe,  so  auch  ganze  Strophen,  ja  Reihen  von  Strophen  aus-^ 
Hess.  Zum  anderen  beruht  dieselbe  auf  der  Faulheit  jenes  Ab- 
schreibers,") welcher  absichtUch,  um  Zeit  zu  gewinnen,  Strophen 
ausliess.     Es  sind  allerdings  die  in  .1  fehlenden  Strophen  zum 


13)  [A  hat  G5  Strophen  nicht,  die  B  hat;  dagegen  2,  welche  in  B  fehlen.] 

14)  S.  not.  12. 

\h)  [Das  Fehlen  von  Stroiilien  in  ./  ist  ganz  besonders  häufig  in  dem 
Abschnitt  von  Str.  :J24— tifi",  wo  M)  Lücken  auf  :<6(i  Strophen  kommen, 
während  für  den  Rest  des  Gedichtes,  etwa  2(iO(l  Strophen,  nur  7  Lücken 
bleiben.! 

ir.)  [S.  auch  für  das  Folgende  E.  Pasch.  .4  und  CA 

17)  Z.  B.  Nr.  102^'.  [s.  Bartsch,  Unters.  :W3.1 

1*>)  [Dahin  sind  natürlich,  wenn  die  in  A  fehlenden  Stroiihen  echt  sind, 
alle  zwischen  :i24  und  Oti7  fehlenden  zu  rechnen,  da  bei  so  massenhafter 
Auslassung  von  Unabsichtlichkoit  nicht  die  Rede  sein  kann.l 


! .    Die  Haiulschrilteufrage.    Die  vorhandenen  Theorieen.  1 5 

Thcil  cnthcbrlich;'')  keineswegs  aber  ist  ihre  Entbehrlichkeit 
ein  Beweis  gegen  ihre  Echtheit;*')  denn  gerade  entl)ehrliche 
8troi»ljen  konnten  am  ehesten  weggelassen  werden^  Ja  ihre  Hin- 
zudichtiing  ist  noch  schwerer  dcnki)ar  als  ihre  Auslassung.  Zum 
Theil  aber  sind  diese  in  .1  fehlenden  .Strophen  auch  wirklich 
unentbehrlich.-')  Tlieils  wurden  diese  Strophen  in  .1  einfach 
ausgelassen,  so  dass  mitunter  eine  Störung  der  (Vjnstruction  ein- 
trat;") theils  ist  in  den  Fällen,  wo  eine  solche  eingetreten  wäre, 
die  Construction  in  .1  verändert  worden,-')  freilich  nicht  zu 
Gunsten  dieser  Handschrift;  denn  es  sind  dadurch  nicht  selten 
Feinheiten  der  echteren  Lesart  \(n\vischt  worden. 

Die  Mehrzahl  dieser  Strophen  fehlt  nur  in  .i,ihre  Aus- 
lassung ist  also  dem  Schreiber  von  .1  selbst  zuzuschreiljen;  eine 
kleinere  Anzahl  derselben  muss  schon  in  der  Vorlage  von  .1 
gefehlt  haben,  weil  dieselben  auch  in  ./  fehlen.-')  Jedentalls 
aber  ist  erwiesen,  dass  .1  nicht  den  Text  cuthält,  der  allen  an- 
dern Handschriften  vorlag,  nicht  Archetypus  für  alle  Handschriften 
und  Handschriftengruppen  ist. 

Den  65  in  -1  fehlenden  Strojdien  gegenüber  hat  A  eine, 
die  />(^,  eine,  die  BCD  fehlt.- )  Beide  suid  ilircm  Inhalte  nach 
unverdächtig,  aber  auch  vollständig  entbehrlich;  da  sich  die- 
selben ausser  in  .1  nur  in  J,  beziehungsweise  DJ  finden,  also 
in  Handschriften  des  14.  Jahrhunderts,  so  beweist  diss,  dass  .  I 
schon  die  späteste  Ueberarbeitung  enthalten  muss.-^^i 

Die  Betrachtung  der  Lesarten  ergibt  folgende  Verschie- 
denheiten zwischen  -1  und  13: 


19)  Besonders  eine  grössere  Anzahl  von  solclien,  welche  der  Ausma- 
lung u.  s.  w.  dienen. 

20)  [S.  auch  Bartsch,  Unters.  M)A.\ 

21)  Z.  B.  33S'"-;  .589". 

22)  Z.  B.  33N  i'^. 

23)  Z.  B.  428  •'  [s.  auch  E.  Pasch,  ./  und  C,  [)ti  f.] 

24)  [Die  Strophen  102'"^.] 

25)  Strophe  3  fehlt  in  B  und  (',  steht  inADJ;  Strophe  21  felilt  in  BClf, 
steht  iu  JJ.  [Auch  sonst  linden  Holtzmann  und  Bartsch  eine  gewisse  Ver- 
wandtschaft zwischen./  und  ./;  s.  Holtzmann,  Unters.  '.».  15;  Bartsch,  Unters. 
303  fi'.  323.] 

2»i)  [Dem  Hesse  sich,  um  die  Unechtheit  beider  Strojthen  zu  erweisen, 
etwa  beifügen,  dass  beide  nach  Inhalt  und  Umgebung  vollständig  parallel 
stehen  (3  sagt  dasselbe  an  gleicher  Stelle  von  Krieujhild  aus,  was  21  von 
Siegfried),  so  dass  die  beidemalige  Auslassung  ein  unbegreiflicher  Zufall  wäre. 
Indes  hat  Bartsch   (Unters.  323;  vgl.   Germania   XVII,   431  ff.i   wahrschein- 


1(5  I.    l»ie  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

1)  A  verstellt  ältere  Wörter  und  Constructionen,  welche  B 
noch  erhalten  hat,  nicht  mehr  und  ersetzt  dieselben  durch  mo- 
dernere.-') 

2j  A  lässt  einzelne  Wörter  häutig-  aus  oder  verwechselt 
solche  in  ganz  gedankenloser  Weise.-**)  Insbesondere  sind  hier 
solche  Fälle  hervorzuheben,  in  denen  .1  dassell)e  Wort  zwei- 
mal kurz  hinter  einander  hat,  während  JJ  dafür  an  zweiter  Stelle 
ein  anderes,  richtiges  Wort  hat;  dem  gedankenlosen  Sclireiber 
von  A  lag"  hier  das  erste  Wort  nocli  in  den  Ohren.-'j 

'S)  Diesen  gedankenlosen  Verschreibungen  stehen  aber  auch 
bewusste  Aenderungen  gegenüber,  avo  .1  vermeintliche 
Schönheiten,  zumal  solche  im  Stile  der  ritterlich-h(>tisclien  Poesie, 
anbringen  will.-')  Auch  metrische  Gründe  bedingten  manchmal 
die  Aenderung.^")  Solche  bewusste  Aenderungen  indes  dürfen 
nicht  wohl  dem  trägen  und  ungebildeten  Schreiber  aou  .1  zu- 
geschrieben werden,  sondern  vielmehr  dem  licdactor  seiner  Vorlage. 

4)  Durchweg  hat  A  den  flacheren,  farbloseren  Ausdruck  statt 
des  bestimmten,  concreten  der  Andern;  alterthümliche  Wörter 
oder  Wendungen,  die  der  vulgata  fehlen  würden,  hat  A  gar  nie.^') 

lieh  gemacht,  dass  Str.  ;5  echt  ist;  denn  dieselbe  steht  in  /A  welche  hier 
noch  zu  6' gehört,  und  ilire  Auslassung  erklärt  sich  dadurch,  dass  sowohl 
Ütv.  2  als  Str.  ;i  mit  dem  Keim  üp :  fvip.  oder  wip:  lip  sehliesseu.  Ist  Str.  :<> 
echt,  so  ist  die  jedenfalls  unerhte  Str.  21  des  l'arallelismus  wegen  hinzu- 
gesetzt.] 

27)  Wörter:  z.  h.  snj.  ;\  A  (jcrihlen  statt  cmpfücrot  der  andern  Hss.: 
INS,  4  A  IßCÜhcn  lau  st.  nuijevehel  län  BCJ \  140,  2  viende.  :U2,  2  /jcste  st. 
ii'ideru'innot  der  andern;  Constructionen :  z.  B.  175;^.  :i. 

2S)  Ueber  die  Auslassungen  s.  not.  1»;  über  die  Verschreibungen  s.  not.  !••: 
einige  der  stärksten  und  siunverderbendsten  sind:  473,  1  rechen  statt  Ärrcf«  ; 
123S,  2  hurtjunden  st.  hurtjccrvn ;  19,  2  ivirser  st.  wie  sere ;  184,  1  suchen 
st.  Stichen-  1.511,3  7vau  der  starken  ilndcn  deheinz  in  da  benam  statt  7im)td 
in  diu  starke  iinde  deheinez  da  benam.  Von  falschen  Widerholungen  des- 
selben Worts:  (iO,  1  erlwbujen  (zuvor  einigemal  vorgekommen)  statt  erwer- 
ben; 1227,  2  mit  ir  fjesinde  als  in  ir  tjesinde  bot  statt  mit  ir  (fcsinde  als 
in  ir  znht  fjebot,  w.  a.  m.  [s.  Bartsch.  Unters.  72  f.j 

29)  So  die  Klimax  in  Str.  949,  3  erst  du  wart  ir  leit  -  Str.  970,  4  ir 
ander  herzeleit  —Str.  973,  4  daz  do  ir  herze  rol  ditrhsneit :  scheinbar  schön, 
aber  keineswegs  echt,  sondern  vielmehr  nur  auf  einem  INlisverstäudnis  des 
erst  in  Str.  919,  3  beruhend.  Auch  292,  1.  2  und  293,  4  sind  ganz  ritter- 
lich-höfisch gehalten.    [S.  Zarncke,  Aus«.  XXI  f.] 

30)  So  soll  1014,  3.  4  der  rührende  Reim  shi:  shi  vermieden  werden, 
ebenso  1433,  1.2  dan  :  dan :  auch  bringt./  Binnenreime  an,  ao  13  und  lOM. 

31)  Denn  das  allerdings  ziemlich  ahennsih  [doch  s.J.  Griinm.  D.Gramm. 
I  ',  2S4]  in  Strophe  177i).  4  steht  gar  nicht  im  Text,  sondern  ist  von  Lach- 


1.    Die  Ilanclschriftenfrage.    Die  vorhandenen  Theorieen.  17 

5)  Zu  diesen  Kemizeiclien  eines  jüngeren  Alters  von  ^1 
kommt  noch,  dass  diese  Handschrift,  wie  in  der  Stroi)henditle- 
renz,  so  auch  in  den  Lesarten  öfters  auffallend  mit i>J  stimmt,^-) 
welche  Uehereinstimmung"  mit  zwei  Handschriften  des  vierzehn- 
ten Jahrhunderts  nicht  eben  für  ^1  spricht,^^) 

Fragt  man  aber  endlich,  wie  Lachmann  darauf  verfallen 
konnte,  gerade  diesen  schlechtesten  aller  Texte  zu  bevorzugen, 
so  kann  die  Antwort  nur  die  sein:  weil  derselbe  als  solcher 
Lachmanns  Liedertheorie  am  meisten  Vorschub  zu  leisten  an- 
gethan  war, 

Verhältnis  von  Jj  zu  CV'') 

Fassen  wir  zunächst  wider  das  ^'erhältnis  der  l)eiden  15e- 
arbeitungen  im  allgemeinen  ins  Auge,  so  ist  C  anerkannter- 
maassen  besser,  d.  h.  vollendeter,  geschmackvoller  und  abge- 
rundeter. Al)er  Lachmanns  »Schule  bchaui)tet,  dass  diese  Vorzüge 
nicht  für  die  grössere  Originalität  des  Textes  von  C  zeugen, 
sondern  vielmehr  dafür,  dass  in  C  eine  Ueherarbeitung  der 
vulgata  enthalten  sei.  Allein  diese  Ansicht,  noch  nirgends  be- 
wiesen, stimmt  keineswegs  mit  den  sonstigen  Grundsätzen  der 
Textkritik  übereiu,  nach  welchen  vielmehr  im  allgemeinen  die 
beste  Lesart  und  Handschrift  als  die  echteste  zu  betrachten  ist. 
Es  soll  aber  hier  eben  ein  besonderer  Fall  vorliegen;  denn  das 
Ganze  ist  ja  nach  Lachmann  aus  Volksliedern  entstanden,  deren 
Zusammenschweissung  in  C  am  vollendetsten  gelungen  sein  soll. 
Allein  auch  abgesehen  von  der  Frage,  ob  Lachmanns  Lieder- 
theorie richtig  sei,  —  die  Volkslieder  werden  gewöhnlich  im 
Laufe  der  Zeit  nicht  besser,  sondern  vielmehr  immer  schlechter, 


mann  eingesetzt  worden ,  um  die  metrische  Rohheit  von  A  zu  verdecken ; 
denn  A  hat  hier  nur  3  Hebungen  in  der  achten  Halbzeile.  Die  A  eigene 
Partikel  end  (=  c)  ist  keineswegs  alt  [auch  nicht,  wie  Lachmann  will,  thü- 
ringisch], sondern  vielmehr  im  13.  Jahrhundert  noch  unerhört  [und  dem  Sü- 
den Deutschlands  eigen:  s.  Zarncke.  Beiträge  222  ff.]. 

32)  S.  Holtzmann,  Unters.  15  f. 

33)  [Doch  macht  Holtzmann  die  Hs.  7>  zu  schlecht;  dieselbe  fällt  viel- 
leicht noch  in  das  13.  .Jahrhundert  und  ist  z.  B.  von  Bartsch  eingehend  be- 
nutzt worden.] 

34)  [Weit  bedeutender,  als  der  Unterschied  zwischen  ./  und  B.  ist  der 
zwischen  ß  und  C,  indem  sich  derselbe  auch  auf  Stil  und  Darstellung  in 
einigen  Puncten.  insbesondere  in  metrischen  Dingen  is.  u.)  bezieht  Daher 
wird  die  Entscheidung  hier  von  grösserer  Wichtigkeit  sein,  als  die  über  A 
und  B,  welche  beide  nach  dem.  Ganzen  ihrer  Darstellung  einer  Bearbei- 
tung angehören,  zugleich  aber  auch  schwieriger.] 

Fische  r.  Xibelnngenliod.  - 


1^  I.    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

so  (lass  schliesslich  oft  nur  noch  die  Melodie  mit  einem  ganz 
entstellten  und  sinnlos  gewordenen  Text  übrig  ist.^^j 

Dazu  kommt  ferner,  dass  C  die  älteste  Handschrift  des 
Nibelungenliedes  ist,  welche  wir  kennen,  dass  überhaupt  die 
Handschriften  der  Bearbeitung  C  verhältnismässig  ziemlich 
älter  sind  als  die  der  vulgata.^^)  Es  ergäbe  sich  somit  nach  der 
Lachmannischen  Ansicht  das  sonderbare  und  fa<t  unglaubliche 
Verhältnis,  dass  eiue  neue  und  zwar  eine  vortreffliche  Ueber- 
arbeitung  gerade  in  den  ältesten  Handschriften  enthalten  wäre, 
die  ältere,  noch  minder  vollkommene  Form  des  Textes  aber 
in  den  späteren  und  spätesten  Handschriften  sich  noch  fände. 
So  unnatürlich  aber  diese  Annahme  an  und  tür  sich  ist,  so  ist 
sie  doch  a  priori  nicht  unmöglich;  daher  muss  die  Einzelkritik 
untersuchen,  auf  Seiten  welcher  Bearbeitung  das  Aeltere, 
Echtere  zu  finden  sei,  und  zwar  widerum.  nach  Strophendiffe- 
renz und  Lesartenverschiedenheit. 

Die  Strophendifferenz  ergibt  Folgendes: 

Es  finden  sich  in  C  verschiedene  Strophen,  welche  in  B 
aus  Unachtsamkeit  oder  Becpiemlichkeit  fortgelassen  sind.^')  Eine 
dieser  Auslassungen  in  ß  ist  aus  graphischen  Verhältnissen  zu 
erklären.^*) 

Dreimal^'-*)  begegnet  die  Erscheinung,  dass  C  irgend  einen 
Gedanken  in  einer  bei  B  fehlenden  Strophe  ausspricht,  welcher 
alsdann  nachher,  an  unpassenderem  Orte,  von  B  nachgeholt  wird. 

Was  den  Werth  der  Plusstrophen  von  C  betrifft,  so  sind 
verschiedene  derselben  unentbehrlich   oder   doch  schwer  zu  eut- 


35)  [Hier  hat  Holtzmann  entschieden  einen  starken  Irrthum.  Die  20  Volks- 
lieder wurden  ja  nach  Lachmann  schon  in  J  zu  einem  Ganzen  vereinigt, 
und  dieses  Ganze  als  solches  hat  nach  ihm  die  Bearbeitungen  in  B  und 
C  erfahren.  Wie  kann  also  das  sonst  allgemeine  Schicksal  des  Volksliedes  bei 
diesem  Ganzen  überhaujit  in  Betracht  kommen?] 

30)  [Abgesehen  natürlich  von  a;  s.  Zarncke,  Ausg.  X— XIII:  Bartsch, 
Ausg.  VI.  VII.  XI.  XII.] 

37)  Z.  B.  Str.  22";  44'^;  271";  329 "c;  423''  und  mehrere  andere. 

3S)  491,  4—7;  vielleicht  auch  105'2'^"^.  [Dass  dieser  Fall  hier  so  selten 
ist ,  bei  A  häufig,  beweist  schon ,  dass  das  Verhältnis  von  B  zu  C  ein  anderes 
ist  als  das  von  A  z\x  B;  cf.  Bartsch,  Unters.  303  fF.  310.] 

39)  Str.  94b,  von  B  nachgeholt  96;  S4S'',  von  5  nachgeholt  S.5S,  welche 
Strophe,  wie  m,  in  C  fehlt;  io7ti'',  von  B  nachgeholt  KiSd  (fehlt  0-  Aus 
diesen  Stellen  erhellt  zugleich  die  Unechtheit  der  Plusstrophen  von  B;  s.  u. 


I.    Die  Haudschriftenfrage.    Die  vorhandenen  Theorieeu.  19 

behren,'"!  viele  allerdings  entbehrlich,  keine  aber  schlecht  und 
störend.'') 

Zugleich  hat  nun  ein  grosser  oder  der  gröstc  Tlieil  der 
Plusstrophen  einen  ganz  bestimmten  Charakter,  so  dass  ott'enbar 
entweder  absichtliche  Interpolation  oder  absichtliche  Aus- 
lassung anzunehmen  ist.  Dahin  gehören  einmal  überhaupt  die 
Strophen,  welche  eine  breitere'-)  Ausmalung  und  Erweiterung 
enthalten.'^)  Nahe  damit  verwandt  sind  die  zahlreichen  Stro- 
phen, welche  halbgelehrtc  Notizen  und  Erklärungen  über  wun- 
derbare oder  überhaupt  bedeutende  Puncte  der  Sage  enthalten  ^^j ; 
insbesondere  aber  sind  hervorzuheben  die  Notizen  geographischer 
oder  auch  historischer  Art.'")  Sehr  häufig  hat  ferner  C  gerade 
am  Schlüsse  von  Aventiuren  eine  oder  mehrere  Strophen,  die 
der  vulgata  fehlen.'-) 

Sprechen  diese  für  C  charakteristischen  Arten  von  Plus- 
strophen weder  für  noch  gegen  die  Echtheit  von  C',  und  be- 
w^eisen  sie  nur,  dass  C  eine  vollkommnere,  abgerundetere  Hand- 
schrift ist  als  B,  so  sind  von  der  grösten  Wichtigkeit  für  die 
Handschriftenfrage  diejenigen  Strophen,  welche  eine  Beziehung, 
eine  Aehnlichkeit  mit  Stellen  der  „Klage''  enthalten.'') 

Den  ersten  Rang  unter  diesen  Strophen  nehmen   die   ein, 


401  Z.B.  271'';  491,  4— T;  äusserst  wüuschenswerth :  z.  B.  329''«;  423''; 
565'';  848";  1052'"=;  107(1  b.  S.  dagegen  E.  Pasch,  J  und  C\  SS— 94,  und 
s.  u.  §.  U).  not.  2. 

41)  [S.  E.  Ptisch,  A  und  C,  SS— 94;  und  s.  u.  §.   19,  not.  2.] 

42)  [Aber  dem  Stil  des  N.  L.  nicht  unangemessene,  s.  Zarncke,  Ausg.  VIII; 
Beitr.  23S.] 

43)  Z.  B.  1755'«^'';  1SS8'';  2094''. 

44)  Dahin  u.  a.  22'';  44'';  334'"^;   1201'';  2057  ^ 

45)  Historischer  Art  sind  10S2''-';  1201'';  nSö"":''  (44'';  565'');  geo- 
graphisclier  Art  942'';  1237'';  überhaupt  ist  V  in  geographischen  Bestim- 
mungen weit  genauer  als  5;  s.  u.  bei  den  Lesarten. 

46)  [In  vollständigerer  Aufzählung,  als  bei  Holtzmann,  gehören  hieher: 
Str.  44'';  (324");  720'';  750'"-;  S5'^'';  942'';  1012''«^;  10S2"-';  1229'"^;  1524''-'; 
3  Strophen  für  1654  und  1655;  1755'"^'';  1S57'';  (ISSS'');  1963''  und  2  Stro- 
phen für  1964;  2  Strophen  für  2316;  also  die  Schlüsse  von  16  Aventiuren: 
Av.  2.  5.   12.  13.  15.   16.  17.  19.  20.  25.  27.  29.  31.  32.  34.  38  (bzw.  39).] 

47 )  Dahin  gehören,  ausser  den  Strophen  über  das  Verhältnis  von  Hagen 
und  Kriemhild,  noch  insbesondere  Str.  1201'',  wo  gesagt  ist,  dass  Etzel  sich 
vermfjieret  habe,  und  1082''-',  die  Notizen  über  Lorsch.  Beide  Stellen  feh- 
len im  N.  L.  der  vulgata;  in  der  Klage  sind  von  beiden  Parallelen  in  der 
vulgata,  in  C  nur  von  1082''-'.  [S.  Bartsch,  Unters.  318  f.  Nach  Bartsch, 
Unters.  320,  gehört  auch  2316''  hierher,  s.  aber  unten  §.  13,  not.  107.J 

•1* 


20  I-    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

in  welchen  C  Kriemliild  entschuldigt,  Hagen  verklagt  oder  ihre 
Absicht,  nur  Hagen  zu  töten,  hervorhebt/"!  Hier  muss  sich 
zeigen,  welche  Bearbeitung  das  Echtere  hat;  denn  B  hat  jene 
Strophen  nicht,  zeigt  sich  auch  sonst  gehässig  gegen  Kriemhild ;  ^'') 
einer  von  beiden  Texten  muss  also  eine  absichtliche  Aenderung 
enthalten.  Und  zwar  hat  nicht  C  geändert,  sondern  vielmehr 
die  vulgata;^j  denn  die  Plusstrophen  genannten  Inhalts  in  C 
stimmen  ganz  treflflicli  mit  dem  übrigen  Gedichte  überein,  wäh- 
rend dagegen  in  B  noch  verschiedene  Strophen  sich  finden, 
welche  Kriemhilds  Sehnsucht  nach  ihren  Verwandten,^')  ihre 
Mordabsiclit  als  nur  gegen  Hagen  gerichtet  kundgeben  und 
daher  mit  der  genannten  Auffassung  der  vulgata  nicht  wohl  über- 
einstimmen ;  ■'^)  erst  gegen  den  Schluss  des  Liedes,  nachdem  sich 
alles  in  wüstes  Morden  aufgelöst  hat,  nachdem  alle  Verliält- 
nisse  der  Zerrüttung  anheimgefallen  sind,  wütliet  Kriemliild  auch 
gegen  Günther  und  tritt  anstatt  der  Treue  und  Kache  vielmehr 
der  Raub  des  Hortes  in  den  Vordergrund. 

Ist  nun  die  Auffassung  der  Rache  Kriendiilds  in  jenen  Plus- 
strophen von  C  nicht  allein  die  edlere,  sondern  auch  durch  die 
Anschauung  des  Nibelungenliedes  im  allgemeinen  l)estätigt,  so 
werden  jene  Plusstrophen  unzweifelhaft  als  echt  gelten  müssen,^^) 
und  damit  wird  auch  den  übrigen  Plusstrophen  von  C''''}  ihre 
Echtheit  zu  vindicieren  seiu.''^) 

Hatte  A  der  übrigen  vulgata  gegenüber  nur  zwei  Plusstro- 
])hen,  so  hat  dagegen  B  eine  ziemlich  bedeutende  Anzahl  von 
Strophen  vor  C  voraus,  nendich  3S.  Diese  müssen  daher  eben- 
falls untersucht  werden. 


4S)  Dahin  die  3  Strophen,  welche  C  für  1654  f.  hat;  ferner  1682"; 
1775  i-;   1S37'';  2023''. 

49)  So  1654  f.;  1&4U;  1334;  allemal  hat  C  dem  gegenüber  eine  andere, 
bessere  Lesart.  Ganz  sinnlos  ist  1 334 ,  wo  Kriemhild  rein  ins  blaue  liinein 
verdächtigt  wird.    [s.  aber  not.  69.]. 

50)  Mit  deren  Charakter  (s.  u.  bes.  Zarncke)  diese  Aenderungen  trefi- 
lich   übereinstimmen;    s.  Str.  1849,   und  s.  Holtzmanu,  Unters.  ITT  f.  27. 

51)  1333;   133T. 

52)  1703;   1846;   1962;  2041. 

53)  [S.  dagegen  Bartsch.  Unters.  :U9— 321.] 

54)  [S.  aber  unten,  wornach  Holtzmann  selbst  nicht  ausschliesslich 
alle  Plusstrophen  von  C  für  echt  hält.] 

55 1  Denn  nichts  spricht  gerade  bei  den  für  C  charakteristischen  Stro- 
phen gegen  deren  Echtheit. 


1.    Die  Handschriftenfrage.     Die  vorhandenen  Theoriccn.  2  t 

Im  allgemeinen  sind  dieselben  so  ziemlich  alle  entbehrlich.^'') 
Im  besonderen  können  drei  Arten  von  Plusstroi)hen  der  Aulgata 
unterschieden  werden.^')  Erstens  sucht  B  mehrmals  einen  Ge- 
danken, den  sie  vorher  ausgelassen,  nachzuholen."^)  Zweitens 
tinden  sich  einige  Fälle,  wo  B  wegen  unverständiger  Aende- 
rung  der  Lesart  von  C  eine  oder  mehrere  Stroi)hen  eigener 
Mache  nachschicken  muss,  um  wider  ins  Geleise  zu  kommen.^'^) 
Drittens  aber  zeigt  sich  in  einer  grossen  Anzahl  von  Plus- 
strophen der  vulgata  deren  allgemeiner  Charakter  deutlich, 
der  Charakter  der  ins  Maasslose  übertreibenden,  plumpen,  po- 
pulären Darstellungsart.  Es  werden  hier  von  B  frappante,  aben- 
teuerliche, oft  komische  oder  tragisch  übertriebene  Situationen 
eingemengt,  Avelche  der  maassvollen,  weisen  Oekonomie  des 
Ganzen  zuwiderlaufen. 

Doch  ist  Holtzmann  nicht  der  Ansicht,  dass  mit  rigoroser 
Ausschliesslichkeit  alle  C  eigenen  und  nur  diese  Strophen 
echt  seien;  z.B.  hält  er  Str.  2305  für  zugesetzt  von  C,  weil  die- 
selbe Hagen  zu  verdächtigen  suche."")  Auch  ist  in  C  jedenfalls 
an  einer  Stelle  eine  Strophe  ausgefallen,  die  in  B  erhalten  ist."') 

Die  Betrachtung  der  Lesarten  Verschiedenheiten  zwi- 
schen B  und  C  führt  auf  dasselbe.  Durchweg  fast  hat  C  nicht 
allein  die  schönere  und  bessere  Lesart,''^)  sondern  auch  die 
echtere  und  alterthümlichere. 


56)  Z.  B.  .546;  711  (mag  in  C  ausgefallen  sein);  76'^  (hier  verwickelte 
Verhältnisse);  830;  1594  u.  s.  w. 

57)  S.  Holtzmann,  Unters.  32  ff. 

58)  S.  die  not.  3H  erwähnten  drei  Stellen. 

5'.l)  Dahin  besonders  Str.  482—489  {C  nur  4  Strophen),  wo  der  Geiz  der 
Brünhild  hervorgehoben  werden  soll,  ohne  dass  diss  irgend  hergehörte  [s.  u.] ; 
499''  und  50u  (C  eine  Strophe):  Siegfrieds  unhöfliche  Weigerung  gegen 
Günther;  643  f.  soll  offenbar,  ohne  jeden  sachlichen  Anlass,  der  (jrund  zu 
Hagens  Feindschaft  gegen  Siegfried  gelegt  werden;  994  f.  werden  täglich 
hundert  Totenmessen  für  Siegfried  gelesen.  [Dass  B  von  Geistlichen  verfasst 
sei  (Holtzmann,  Unters.  3.i),  beweist  die  letzte  Stelle  nicht;  denn  nach 
Str.  1201'*   und  1270  konnte  man  dasselbe  von  6' behaupten  wollen.] 

tiO)  [Es  ist  übrigens  an  und  für  sich  ein  gutes  Motiv  der  dichterischen 
Darstellung,  wenn  Hagen,  der  alles  mordende,  schliesslich  mit  Bedacht  auch 
noch  seinen  Herrn  in's  Verderben  stürzt,  womit  freilich  die  Echtheit  der 
Strophe  nicht  bewiesen  ist] 

61)  1971,  4—1972,  4  fehlt  in  Ca  [ist  aber  in  k  erhalten];  der  Schreiber 
verirrte  von  dem  Worte //«^tvct'  in  1971,  4  auf  das  nemliche  Wort  in  1972,  4. 

62)  Denn  das  ist  allgemein  zugegeben  [s.  auch  Bartsch,  Unters.  379  unten]. 


"22  I-    Pie  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

Im  Einzelnen  sind  die  Verscliiedenlieiteu  folgender  Art: 

1)  Alterthiiniliche  oder  seltene .  Wörter  und  Constructiouen 
sind  in  C  noch  erhalten,  in  B  dagegen  verwischt/'') 

2)  In  vielen  Fällen  ist,   ohne   dass  die  Stellen  einen  be- 
stimmten Beweis  für  die  Priorität   der  einen   oder  der  anderen 


63)  Wörter: 

268,  l  C  peycn  {baien),  B  betten  [s.  Zarncke.  Beitr.  15S  und  Bartsch, 
Unters.  196]; 

7S&,  :J  C  7vortherle,  B  ivortra'ze\  C  hat  hier  ein  "Wort  von  alter- 
thümhcher  Bildung,  das  sich  nur  noch  bei  Notker  findet  [diese  Erklärung 
und  die  Lesart  Holtzmanns  überhaupt  ist  verlassen  worden,  weil  a  7Vortr<isse 
hat  und  die  Schreibung  in  C  verwischt  ist;  s.  Zarncke,  Ausg.  394]; 

327,  2  C  fjevriesch,  B  rernum  [s.  auch  Bartsch,  Unters.  206]; 

2278,  1  ('  getvühenen,  B  inuoten ; 

718,1;  1747,4;  \^%'2,  ^  C  gedif/ene  \  an  den  ersten  zwei  Stellen  ändAt 
Bmijesinde  [s.  Bartsch,  Unters.  190  f.],  au  der  dritten  Stelle  weicht  j5  ganz  ab; 

149,4;  315,2  V  Tvi(ler?vi)inen,  B  vieiide  [s.  aber  Bartsch,  Unters.  230]; 

B57,  4  V  urrvise,  B  vürwise,  die  Lesart  von  ß  ist  schlecht,  die  von 

C  lässt  sich  aus  dem  gothischen  arrjo  =  frustra  erklären  [s.  aber  Bartsch, 

Unters.  194,  wornach  Holtzmanns  Etymologie  falsch  ist  und  beide  Lesarten 

gleich  gut  und  alterthümlich  sind:  s.  auch  Zarncke,  Ausg.  394]; 

1119,  1  iniende,  B  hcrlierge  [s.  Bartsch,  Unters.  191]; 

1143,  4  C  jocli,  B  in:  ähnlich  S6.  4  C  joch.  fehlt  B  [s.  Bartsch, 
Unters.  200  f.] ; 

1234,  1.  2.  V  pfuwenkleit  von  genagelten  nehen  p feilen,  B  richiu 
kleil  von  gemalet  riehen  j) feilen  [hier  ist  6' jedenfalls  echter  (s.  auch  Bartsch, 
Unters.  192.  266);  aber  Holtzmanns  Erklärung  von  genagelte  p feile  =  lu- 
niccc  clavatce  ist  gewiss  falsch;  sinnlos  aber  ist  die  Citirung  des  altn.  negl- 
dar  brynior,  denn  die  Brünnen  sind  natürlich  ganz  wörtlich   .,  genagelt "  ] ; 

12S0,  4  C  unz  an  die  wende,  B  zuo  den  tvenden ;  beides  gibt  keinen 
guten  Sinn,  aber  C  ist  relativ  echter,  weil  in  die  wende  wahrscheinlich  das 
ahd.  timwinga,  mhd.  duwenge  ,.der  Schlaf-',  tempus,  verborgen  ist  [s.  aber 
Zarncke,  Beitr.  166  f.  u.  m.  a.]; 

17S4,  3  C  weit  ir  schaden  riten,  B  weit  ir  schachen  rUen;  in  C  ist 
riten  gen.  von  ahd.  rito  =  febris,  ..wollt  ihr  den  Schaden  eines  Wundtiebers" 
[eine  gezwungene,  auch  aufgegebene  Erklärung;  s.  Zarncke,  Ausg.  3',i^  f.; 
Bartsch.  Unters.  203]; 

Constructiouen: 

27.  3  C  da  begunde  er  sinnen  werben  schwnin  fVip,  B  löst  diese  freie 
Construction  auf  und  ändert:  er  begunde  mit  sinnen  7verben  sclurniu  wip 
[s.  Bartsch,  Unters.  203]: 

549,  3.  4  V  des  jach  da  manec  man ,  daz  si  den  p7-}s  an  scho:ne  in 
mancgen  landen  müesen  liän,  B  des  jach  man  äne  lüge  ■  oitclt  hls  man  an 
ir  Übe  da  deheiner  slahte  trüge ;  B  verstand  die  Beziehung  von  des  auf  das 
Folgende  nicht  [dieselbe  ist  aber  gewiss  nahe  liegend  genug] ; 

1S90,  3  67//«,  B  daz ;  diu  ist  Instrumentalis  und  wurde  von  B  nicht 
mehr  verstanden  [eine  aufgegebene  l-'.rklärung:  s.  Zarncke,  Ausg.  399]. 


I.    Die  Handschriftenirage.    Die  vorhandenen  Theorieen.  23 

Handsehi-ift  eiitlialtcu,  die  Lesart  von  C  einlach  besser  imd 
schöner, •*■')  daher  vorzuziehen;  denn  sonst  ist  überall  der  Grund- 
satz der  Textkritik,  dass  das  Bessere  auch  das  Echtere  sei. 

3)  B  hat  melu-ere  Verschreibung-eu  durch  graphische  Aehn- 
lichkeit  aufzuweisen,  welche  natürlich  entschieden  für  <'  be- 
weisen.®') 

4)  Es  finden  sich  mehrere  Stellen,  wo  weder  C  noch  B 
das  Echte  hat,  vielmehr  beide  eine  Verderbnis  enthalten,  wo 
aber  meistens  C  mit  ihrer  Corruptel  dem  echten  Texte  näher 
steht."«) 

5)  Der  Ausdruck  ist  in  C  meist  prägnanter,  in  B  flacher 
und  farbloser."') 

6)  Wie  in  der  Strophenditferenz,  so  tritt  auch  hier  die 
Genauigkeit  und  Correctheit  der  geographischen  Angaben  in  C 
gegenüber  der  üngenauigkeit  derselben  in  B  hervor,  und  zwar 
so,  dass  C  zugleich  das  Echte  haben  muss."*) 

64)  So  Str.  37,  1;  tSl,  1;  194,  4;  230,1;  2S2,  2;  564,  1;  742,4;  S97,.3; 
1233,  3;  1241,3.4;  1270,2;  1319,  3;  1323,  2  ;  1356,  1 ;  1549,4;  1621,3;  1722,2; 
1726,  4;  1739,  2.  3;  1772,  2;  1788,  2;  191S,  1;  2033,  3;  2070,  3;  2094,  3; 
2165,  1-3;  2214,  4;  2256,  3.  4. 

65)  So  Str.  725,  2;  8S5,  3;  1143,  4;  1213,  1;  1226,  3;  1236,  2;  2070,  3 
[auch  gehören  einige  der  nach  Holtzmanu  unter  not.  64  gehörigen  Fälle 
wohl  eher  hieher,  z.  B.  37,  1;  282,  2;  564,  1;  1319,  3;  1323,  2;  1356,  1; 
1549,4;  1722,2;  1918, 1 ;  2094, 3^;  es  sind  diss  diejenigen  Stellen  von  den  unter  64) 
aufgeführten,  an  denen  Bartsch  in  seiner  Ausgabe  selbst  den  Text  von  ß 
corrigiert ;  Holtzmann  hat  aber  in  den  Fällen  not.  64  und  65  öfters  Unrecht]. 

66)  So  nach  Holtzmann  857,  4  unvise  =  goth.  aravisco  (nicht  vorhan- 
den); 1245,  3  ist  C  falsch,  wahrscheinlich  aber  ein  alter  Fehler  vorhanden; 
12S0,  4  die  wende  C  =  duweufje  [s.  not.  63];  1583,  4  fehlt  in  C  ein  Wort, 
ohne  das  die  Strophe  keinen  Sinn  hat;  daher  ändert  7>;  2073,  4  ist  zweifel- 
haft, welche  Lesart  echter;  1597,  2  ist  6'  verdorben,  B  ändert;  1736,  4  ist 
C  leicht  verschrieben,  B  ändert;  2230,  3.  4  steht  B  dem  Echten  näher,  das 
in  B  leicht  verschrieben  ist,  weshalb  C  ganz  änderte. 

67)  Nur  drei  Beispiele  bei  Holtzmann: 

{1234,  1  C  pfäwenkleit,  B  rlcliiu  kleit; 
1234,  2  C  genagelte  lifelle,  B  gemälet  riche  i)f.; 

1621,  3   6'  in  gezweictem  muote,  B  in  vtrelichem  muote  [s.  Bartsch, 
Unters.  209]; 

1772,  2  C  kiiener  videhere  diu  sunne  nie  beschein,  B  küener  vide- 
Icere  wart  (noch)  nie  dehein  [s.  aber  Bartsch,  Unters.  26]. 

68)  In  Str.  682,  3  könnte  vielleicht  6' geändert  haben,  um  den  geographischen 
Verstoss,  der  in  der  Nennung  von  Norwcvge  liegt,  zu  entfernen;  nothwendig 
ist  es  aber  nicht  [s.  indes  Bartsch,  Unters.  301].  854,  3  dagegen  hat  C  allein 
den  richtigen  Namen  Otenwalt,  die  vulgata  IVasketiwalt ,  was  unmöglich, 
da   auch   in  B   die  Nibelungen   von  Worms   über  den  Rhein  auf  die  Jagd 


24  I-    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

7)  Auch  in  den  Lesarten  tritt  nielirnials  die  Vorliebe  fürKriem- 
hild  in  C  und  die  Gehässigkeit  gegen  dieselbe  in  B  hervor.''") 

Es  ist  allerdings  nicht  zu  leugnen,  dass  sich  einige  Stellen 
finden,  wo  B  das  Echtere  erhalten  hat;'°)  aber  im  allgemeinen 
fällt  die  Vergleichung  in  allen  Puncten  zu  Gunsten  von  C  aus. 

Auch  in  der  mit  dem  Nibelungenliede  so  eng  verlnmdenen 
Klage  zeigt  sich  dasselbe  Verhältnis  von  B  zu  C.  Jedenfalls 
kann  auch  hier  C  keine  verbessernde  Ueberarbeitung  von  B 
sein;  aber  auch  C  hat  nicht  ganz  den  ursprünglichen  Text,  dem 
sie  jedoch  viel  näher  kommt.  Deutlich  ist,  dass  auch  hier  B 
abkürzt;  doch  ist  C  nicht  vollständig.  Die  Lesarten  von  C 
sind  fast  immer  besser,'';  alterthümUcher'-)  und  richtiger;''^)  auch 
differieren  die  beiden  Handschriften  widerum  hinsichtlich  der 
Autfassung  des  letzten  Theils,  der  Hache  Kriemhilds,  nur  dass 
hier  die  vulgata  in  ihrer  Gehässigkeit  gegen  Kriemhild  noch 
weniger  consequent  ist.    Die  Erweiterungen  in  B  sind  meistens 


fahren  [s.  aber  Bartsch,  Ausg.  XXXII.].  Noch  deutlicher  ist  das  Verhältnis 
in  1272,  3  und  127ti.  1 ;  an  der  ersten  von  beiden  Stellen  hat  B  wie  C  das 
richtige  Treiseiimüre ,  an  der  zweiten  ist  wider  6'  correct,  B  dagegen  hat 
sinnlos  Zeizenmure,  C  ist  also  hier  jedenfalls  echt  [s.  Zarucke,  Beitr.  200  ff.; 
Bartsch,  Unters.  302,  und  s.  u.  S.  29  (§.  S,  not.  12)]. 

69)  So  soll  z.  B.  in  1334  nach  B  an  Kriemhild  getadelt  werden,  dass 
sie  sich  freundlich  von  Giselher  getrennt  habe,  als  sie  zu  Etzel  zog;  ein 
Tadel,  der  gar  keinen  Sinn  hat.  [Holtzmann  thut  hier  doch  der  vulgata  zu 
sehr  Unrecht.  Es  ist  nach  ihrer  Darstellung  ein  ..Rath  des  Teufels",  dass 
sich  Kriemhild  freundlich  von  ihren  Brüdern  verabschiedet  hat,  aber  mit 
Groll  und  Rachegedanken  im  Herzen,  dass  sie  durch  ihre  angenommene 
Freundlichkeit  ihre  Brüder  in  das  Verderben  gestürzt  hat.  Giselheren  gegen- 
über ist  freilich  der  freundliche  Abschied  kein  Grund  zum  Vorwurf;  denn 
gegen  ihn  ist  Kriemhüd  immer  aufrichtig  gut  gesinnt  gewesen;  s.  1039,  4; 
167.5,  3  u.  a.    Indessen  liest  £)  ..Giinlherc",  was  Bartsch  herstellt.] 

701  Z.  B.  2230,  3.  4;  2241,  3;  224s,  1.  2. 

7!)  Z.  B.  Z.  48  f.,  wo  B  die  Construction  zerreisst;  1720  tf.  macht  B 
aus  dem  Wort  schelt  (von  schein)  misverstäudlich  scheiden  und  ändert  da- 
nach; die  Lesart  von  C  enthält  ein  durch  Freidank  bestätigtes  Sprichwort, 
ist  also  echt;  322  ff.  streut  B  einen  unpassenden  Witz  ein  [ist  doch  wohl 
kein  Witz]. 

72)  Z.  B.  799  (ähnlich  Nib.  1302)  V  enlrusten ,  B  entn-äfen ;  152  ('  die 
küenen  Rinvranken;  küen  ist  das  stehende  Attribut  der  Nibelungen.  B  aber 
ändert  in  stolz,  um  zu  verschönern.  (Ebenso  heisst  Hildebrand  im  Nib.-Lied 
in  ('  gleich  anfangs  meister  (sein  stehender  Beiname),  in  7>  erst  später.) 

73)  So  ist  Z.201  nach  B  Iring  von  Lothringen  (wie  im  Biterolf),  nach  0' 
Yon  Dänemark,  woher  er  im  Nibelungenlied  und  auch  sonst  in  der  Klage  ist 
[dieser  Fall  spricht  eher  gegen  C]. 


1.    Die  Handschrifteufrage.    Die  vorhandenen  Theorieen.  25 

unfreiwillige,  iudciu  (Inreh  eine  von  B  vorgenommene  Aende- 
rung  der  Reim  iilteriert  wurde  und  daher  der  Gedanke  in  B 
Ott  weiter  ausgesponnen  werden  muste,  um  wider  mit  den  Rei- 
men in's  Geleise  zu  kommen.  In  C  ist  nichts  willkürlich  ge- 
ändert; manches  wohl  aljsichtlich,  weil  im  Nibelungenliede 
schon  enthalten,  weggelassen/') 


Das  Resultat  der  Holtzmannischen  Untersuchung  über  das 
Verhältnis  der  Handschriften  ist  somit  folgendes. 

C  kommt  dem  Urtext  am  nächsten,  ohne  ihn  freilich  ganz 
rein  zu  geben.  Dagegen  enthält  die  vulgata  einen  abgekürzten, 
überarbeiteten  und  durch  viele  unabsichtliche  Fehler  entstellten 
Text,  von  welchem  .1  eine  nochmalige  Abkürzung  und  Ver- 
schlechterung ist.  Das  Original  von  B  ist  nicht  C,  aber  eine  C 
sehr  nahe  stehende,  sogar  in  einigen  Fehlern  mit  C  überein- 
stimmende'") Handschrift.  Schematisch  stellt  dieses  Hand- 
schriftenverhältnis sich  so  dar: 

Z 


X 

i 

B 

I 
A 


Der  Stoss,  welchen  Holtzmanns  Untersuchungen  dem  Fun- 
damente der  Lachmaunischen  Lehre  jedenfalls  gegeben  hatten, 
rief  eine  lebhafte  Reaction  von  Seiten  der  Lachmannianer  her- 
vor, welche  sich  am  heftigsten,  aber  nicht  eben  am  vortheil- 
haftesten  äusserte  in  dem  IS55  erschienenen  Werke  von 

Karl  Mttllenhoff, 

„Zur  Geschichte  der  Xibelunge  Not."')     Seine  Beweisführung, 
soweit  sie  die  Handschriftenfrage   überhaupt  berührt,   geht   im 

74)  [S.  auch  Bartsch,  Unters.  :MS— 320.] 

75)  S.  not.  66. 

1)  S.  Zarncke,  Ausg.  XLIV.;  ders.  im  lit.  Centr.-Blatt  1S55,  Sp.  12S  If.; 
Gott.  Gel.-Anz.  1S.55,  S.  6S9  ff.  (von  W.  Müller);   Holtzmann,  Kampf  u.  s.  w. 


26  I-    I^ie  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

wesentlichen  darauf  hinaus,  dass  die  Meisterschaft,  mit  der  es 
Lachmann  gelungen  sei,  aus  A  nicht  allein  seine  treffliche  Aus- 
gabe des  Liedes  herzustellen,  sondern  auch  aus  derselben  Hand- 
schrift die  zwanzig  echten  Volkslieder  herauszuschälen,  ganz 
entschieden  für  .1  spreche,  ja  den  Gedanken  an  die  Priorität 
irgend  einer  anderen  Handschrift  unmöglich  mache.  Es  ist  deut- 
lich, dass  diese  Beweisführung  nicht  allein  einen  für  andere  all- 
zustarken Autoritätsglauben  verräth,  sondern  auch  sachlich  auf 
der  Lachmannischen  Liedertheorie  als  einer  ganz  bewiesenen 
Sache  beruht,  somit  hier  nicht  näher  zu  berücksichtigen  ist. 
Auch  war  Müllenhoffs  Schrift  mehr  ein  Pasquill  als  eine  würdig 
gehaltene  Streitschrift. 

Ernster  und  sachlicher  fasste 

Max  Rieger 

die  Frage  in  seiner  Schrift  „Zur  Kritik  der  Kiljelunge ",-) 
welche  noch  vor  Müllenhoffs  Werk  erschien.  M.  ßieger  schlägt, 
um  die  Priorität  von  A  zu  beweisen,  einen  ganz  anderen  Weg 
ein  als  die  übrigen  Lachmannianer ;  obgleich  sein  Resultat  mit 
dem  Lachmanns  übereinstimmt,  stellt  er  sich  i)rincipiell  gerade 
entgegengesetzt  zu  der  Frage.  Ihm  ist  (wie  Holtzmanni  eine 
fortgehende  Verbesserung  des  Textes  undenkbar,  vielmehr  nimmt 
er  eine  fortgehende  Verschlechterung  an.  Hatten  aber  alle  an- 
deren Gelehrten  C  für  die  beste,  A  für  die  schlechteste  Bearbei- 
tung erklärt,  waren  sie  nur  in  der  Erklärung  dieses  Verhält- 
nisses auseinandergegangen,  so  erklärt  vielmehr  Rieger  A  für 
die  l)este  Handschrift,  aus  welcher  durch  Verschlechterung 
i>,  dann  C  geworden  sei.  Das  hiess  aber  nach  allgemeinem 
Urtheile  die  Sache  auf  den  Kopf  stellen,  weshalb  es  auch  hier 
nicht  nöthig  sein  wird,  länger  bei  Riegers  Schrift  stehen  zu  bleiben. 

Entschieden  das  Beste,  was  von  Lachmannianischer  Seite 
über  die  Handschriftenfi*age  geschrieben  wurde,  ist 

R.  von  Liliencrou, 

„lieber  die  Nibelungenhandschrift  C",  1856.^)     Liliencron   stellt 
sich  wider  ganz  auf  den  Boden  des  Lachraannischen  Princips. 


2)  S.  Zarncke,  Ausg.  XLIV;   Holtzmanu,  Kampf  u.  s.  w..  S.  65— 6S; 
Lit.  Centralblatt  1S55,  Sp.  59/(30. 

3)  S.  Zarncke,  Ausg.  XLIV— XLVII:   Lit.  Centralblatt   1S5G,   Sp.  639- 
641;  Bartsch  an  vielen  Orten  seiner  ^Untersuchungen-,  bes.  S.  244—2.5:3. 


1.    Die  Handscliriftenfrage.    Die  vorhandenen  Tlieorieen.  27 

Er  erkennt  nn,  dass  C  den  „angemesseneren,  correcteren,  zier- 
licheren nnd  feineren"  Text  lial)e,  aber  eben  diese  Vorzüge 
sind  ihm  ein  Beweis  für  Lachmanns  Ansiclit.  Denn  es  sei, 
meint  Liliencron,  weit  schwerer  anzmiehmeu,  dass  ein  guter 
Text  verschlechtert  werde,  als  dass  ein  schlecliter  verbessert 
werde;  denn  man  begnüge  sich  gewiss  am  einfachsten  mit  dem 
^'orllandenen,  wenn  dasselbe  gut,  also  zur  Aenderang  kein  Grund 
vorhanden  sei. 

Im  Einzelnen  hat  Liliencrou  verdienstliche  Zusammenstel- 
lungen der  Eigeuthümlichkeiten  der  verschiedenen  Texte  ge- 
geben; insbesondere  sucht  er  eine  grosse  Zahl  von  Lesarten- 
verschiedenheiten aus  einer  Abneigung  des  Bearbeiters  C  gegen 
gewisse  Wörter,  Wendungen'')  oder  Arten  der  Darstellung^) 
zu  erklären.  Als  einen  Beweis  für  die  in  C  enthaltene  Ueber- 
arbeitung  sieht  ferner  Liliencron  den  Umstand  an,  dass  die  Sen- 
kungen in  der  vulgata*^)  häutiger  fehlen  als  in  C,  das  Auslassen 
derselben  aber  ältere  Weise  sei  gegenüber  der  im  dreizehn- 
ten Jahrhundert  zum  Gesetz  gewordeneu  Ausfüllung  aller  Sen- 
kungen.') 

8. 

Während  Holtzmann  sich  im  allgemeinen  damit  l)eguügte, 
auf  Müllenhoffs  plebejische  Angriffe  in  einer  zwar  ebenfalls  sehr 
derben,  aber  doch  weit  anständiger  gehaltenen  Schrift  „Kampf 
um  der  Nibelunge  Hort  gegen  Lachmanns  Nachtreter",  1855 
erschienen,  zu  antworten,  hat  dagegen  der  Erste,  der  sich  an 
ihn  anschloss, 

Friedrich  Z  a  r  n  c  k  e , 

die  Ansichten  Holtzmanns  eingehender  begründet  in  zwei  Ab- 
handlungen: „Zur  Nibelungenfrage'',  1854,  und  „Beiträge  zur 
Erklärung  und  Geschichte  des  Kibelungenlieds ",  in  dem  Jahr- 
gang 1855  der  Berichte  der  K.  Sachs.  Gesellschaft  der  Wissen- 
schaften (phil.-historische  Classe).') 

4)  S.  Bartsch,  Unters.  244—253. 

5)  S.  Bartsch,  Unters.  275.  2S9.  295. 

())  Zumal  iu  A,  wo  aber  diese  Erscheinung  jedenfalls  aus  der  nach- 
lässigen Schreibart  zu  erklären  ist. 

T)  S.  dagegen  Zarucke,  Ausg.  LI,  oben;  Bartsch.  Unters.  30(3  .'itjT.  — 
Auf  andere  Weise  benützt  Bartsch  das  häufigere  Fehlen  der  Senkungen  zu 
Gunsten  der  vulgata. 

1)  Von  den  „Beiträgen"  beziehen  sich  auf  die  Handschriftenfrage  die 
Kummern  \T;I,  VIII,  XU,  mehr  iiidirect  auch  I,  III,  V,  XI. 


28 


I.    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 


Nach  Zarncke  ist,  wie  nach  Holtzmann,  die  Bearbeitung 
und  Handschrift  C  die  maassgebende,  als  Ansgangspimct  für  die 
Kritik  allein  berechtigte;  doch  nicht  so  absolut,  dass  nicht 
Ueberarbeitung  in  einem  kleinen  Maassstab  darin  enthalten 
wäre.^)  Näher  bestimmt  sich  das  Verhältnis  zwischen  den  Hand- 
schriften der  Gruppe  C',  schematisch  dargestellt  so:^) 

Original 


X 

mit  einzelnen  Lücken  u.   .  w. 


c 

treueste  Abschrift 


R 

die  Lücken  wahr- 
scheinlich glättend 


E      F 

unbestimmt 


k 

vollständige 
Umarbeitung 


anfangs  lückenhaft  und 
roh,  später  treuer 


Der  Bearbeitung  (,'  steht  mm  die  vulgata  als  eine  von  einem 
„in  Sachen  des  Geschmacks  grobkörnigen,  aber  doch  nicht  ganz 
ungeschickten"  Verfasser  herstammende  Ueberarbeitung  gegen- 
über.'^  Die  Ueberarbeitung  als  solche  und  zugleich  die  Ge- 
schmacksrichtung derselben  wird  bewiesen   durch  verschiedene 


Noch  1^54  theilte  Zarucke  in  einer  Receusiou  der  Iloltzmannischeu 
„Untersuchungen''  (Lit.  Centr.-BIatt  1S54,  Sp.  115)  die  Handschriften  in  fol- 
gende Abtheilungen: 

L    1)  BLrjciM  -f  Db^P, 
•1)  JhK  -ir  d H 0, 

3)  VEFaG; 
IL         A. 
In   seinem    .zur  Nibelungentrage"    aber   hat  er  das   richtige  Verhältnis 
der  einzelnen  Gruppen  festgestellt. 

Auch  schwankt  Zarncke  in  der  genannten  Recension  Holtzmanns  noch 
zwischen  />'  und  C ;  er  sagt  jedenfalls,  dass  er  vor  Holtzmanns  Schrift  6' 
für  eine  Umarbeitung  von  B,  A  für  eine  Depravation  von  B  gehalten  habe, 
vrill  aber  Holtzmanns  Gründen  weichen  (vgl.  zur  Nib. -Frage  UM. 

2)  S.  Zarncke,  Ausg.  LH. 

3)  S.  Zarncke,  Ausg.  3SI.  —  G  enthält  nur  Stellen  der  Klage. 

4)  S.  Zarncke,  Ausg.  .390. 


1.    l)ic  Handschriftenfrage.    Die  vorhandenen  Theorieen.  29 

Umänderiuigcii  und  Interpolationen,  welche  ^ nicht  unwesentlich 
dem  bänkelsängei'ischen  Stile  zuneigen;"'')  der  Inter))olator  geht 
darauf  aus,  ohne  feinen  Sinn  in  Auffassung  der  Charaktere  und 
Situationen  zu  verrathen,  allerlei  Anekdoten  einzuflechten ,  oder 
Einzelnes  derl)er  aufzutragen,  mit  grelleren  oder  gröberen  Far- 
ben zu  malen.'') 

Auch  scheint  der  Üeberarl)eitcr  Anstösse  sprachlicher  und 
technischer  Art  gefunden  zu  haben;  er  entfernt  meistens  die. 
harten  Kürzungen  des  Originals;')  auch  scheinbar  klingender 
Reim^^)  und  zweite  Halbzeilen  mit  scheinbar  vier  Hebungen^) 
sind  ihm  unangenehm ;  ebenso  ganz  durchgereimte  Strophen  und 
der  Reim  lauger  Vocale  auf  kurze,  ausser  beim  «.'") 

Für  die  Zeit,  in  welche  die  Entstehung  dieser  Ueberarbei- 
tung  fällt,  l)ietet  sich")  eine  Bestimmung  in  der  fälschlichen 
Nennung  \o\\  Zeizeiimi'irc  statt,  wie  t' richtig  hat,  Treiscnmare}-) 
Da  Zeissenmure  ein  ärndiches  Dorf,  Treisenmure  aber  eine  Stadt 
und  Burg  war,  da  somit  an  der  betreffenden  Stelle  sachlich  nur 
die  Lesart  Treisenmure  richtig  ist,  so  kann  die  Aenderung  der 
vulgata  nicht  von  einem  Oesterreicher  herrühren,")  denn  einem 
solchen  wären  gewiss  die  wahren  geographischen  Verhältnisse 


5)  S.  Zarncke,  Ausg.  XIV. 

(i)  S.  ebenda.  —  Zu  diesen  Interpolationen  gehört  nach  Zarncke: 

4S2  ff. ,  wo  der  Geiz  Brünhilds  in  übertriebener  und  sachwidriger 
Weise  berührt  wird; 

499"^,  wo  sich  Siegfried  in  plumper  und  unhötischer  "Weise  Günthern 
gegenüber  weigert,  die  Botschaft  nach  Worms  zu  übernehmen: 

04.^  f.,  wo  Hagen  trotzige  Reden  gegen  Kriemhild  führt,  ehe  noch 
irgend  eine  Feindschaft  zwischen  beiden  Theilen  besteht: 

15U4,  wo  Hagen  beim  Uebersetzeu  über  die  Donau  sein  Ruder  zer- 
bricht [diese  Stelle  steht  nach  Holtzmann,  Unters.  210  in  a  {C  hat  dort  eine 
Lücke);  Zarnclce  leugnete  diss  in  seiner  Schrift  von  1S54  wegen  des  all- 
gemeinen Charakterunterschieds  zwischen  C  und  vulgata,  und  —  die  Strophe 
fehlt  wirklich  in  a] ; 

andere  ähnliche  Aenderuugen  finden  sich  1S49;  2303,  3;  2057''  fehlt 
in  B.  —  Vgl.  Zarncke,  Zur  Xib. -Frage  S.  16  AT. 

7)  Wie  t(it  für  tätet,  hct  für  lictet  u.  a. 

8)  [S.  auch  Bartsch.  Unters.  8  f.] 

9)  [S.  Bartsch,  Unters.  311.  101.] 

10)  S.  Zarncke,  Ausg.  XVI. 

11)  S.  Zarncke,  Beitr.  205—210. 

12)  Str.  1272,  3  haben  rZ>  (hiervon  einander  unabhängig),  also  beide  Be- 
arbeitungen J'?-m£'«w?/<?-t',  die  adn.  IIss.  Zeiz.:  1276.  1  hat  nur  C  Treis.,  alle 
andern  Zeiz.    [S.  Bartsch,  Unters.  3o2  oben,  wo  aber  mehrere  Druckfehler.] 

13)  [S.  dagegen  Bartsch,  Ausg.  XXXII.] 


30  I.    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

dazu  viel  zu  wohl  bekannt  gewesen.  Sie  ist  aber,  eben  weil 
Zeissenmure  ein  ganz  ärmliches  Dorf  ist,  von  einem  NichS 
Oesterreicher  nur  dann  zu  begreifen,  wenn  derselbe  aus  irgend 
einem  litterarisehen  Werke  das  Dorf"  Zeissenmm*e  kannte.  Nun 
kommt  dasselbe  in  der  Tliat  in  der  Litteratur  des  dreizehn- 
ten Jahrhunderts  vor,  und  zwar  in  Nitharts  Gedichten,  unter 
welchen  die  österreichischen  kaum  vor  I23(J  fallen  können. 
Dazu,  dass  die  vulgata  aus  Nithart  geschöpft  habe,  stimmt  der 
populäre,  plumpe  und  derbe  Charakter  derselben  recht  wohl. 
Es  ist  demnach  die  Entstehung  der  vulgata  etwa  um  1240  zu 
setzen,  wozu  die  diplomatische  Beschaifenhcit  ihrer  Handschrif- 
ten recht  wohl  stimmt.'") 

Die  Handschriften  der  vulgata  theilen  sich,  wie  ol)en  be- 
merkt,'"'), in  drei  Gruppen: 

1)  HOd  +  JKQhl- 

2)  DNPS  +  BLMc'ji- 

3)  A. 

Nach  Zarncke  liegt  in  diesen  drei  Gruppen  eine  stufenweise 
Entfernung  von  dem  in  C E F G Ra  enthaltenen  Original  vor. 
Alle  diese  Handschriften  gehören  zur  vulgata,  haben  deren  cha- 
rakteristische Eigenschaften;  aber  hinsichtlich  der  Treue  der 
Tradition,  wesentlich  in  Beziehung  auf  die  Strophenverhältnisse, 
entfernen  sich  dieselben  innner  weiter  vom  Original. 

Am  nächsten  steht  demselben  die  erste  Gruppe  der  vul- 
gata, besonders  llOdy  während  JKQhl  selbständiger  redi- 
gieren;'^) weiter  entfernt  sich  die  zweite  Gruppe;  am  weitesten 
ab  steht  A. 

Ohne  besonderen  Werth  sind  im  allgemeinen  die  späteren 
Ueberarl)eitungen  h  ni  k ;  doch  lässt  sich  Ijesonders  /.•  für  manche 


14)  [S.  dagegen  Bartsch,  Unters.  oO"  f.,  und  s.  u.] 

15)  S.  Seite  6  und  7. 

16)  Indes  Uisst  Zarncke  die  sonst  gewöhnliche  Ansicht  als  möglich  be- 
stehen, dass  nemhcli  //  /  K  ^>  (>  ^/  /<  /  M i  s  c  h  h  a  n  d  s  c  h  r  i  f  t  e  n  seien  aus  einer 
Handschrift  der  vulgata  und  einer  des  anderen  Textes  [dafür  spricht  insbe- 
sondere der  (von  Zarncke  schon  in  der  not.  1  genannten  llecension  Holtz- 
manns  erwähnte)  Umstand,  dass  von  den  C  und  J  gemeinsamen  .Strophen 
manche  in  J d  an  anderer  (falscher)  Stelle  stehen  als  in  (';  es  diirtte  also 
anzunehmen  sein,  dass  /  entstanden  ist  aus  einer  Handschrift  des  gemeinen 
Textes,  in  welcher  aus  6'  eine  Anzahl  von  Strophen  (eben  jene  20)  am  Rande 
nachgetragen  waren,  die  dann  J  an  falscher  Stelle  einrückte;  s.  Zarncke, 
Ausg.  365. 


1.    Die  Handschriftenfrage.    Die  vorhandenen  Theorieen.  31 

Stelleu  des  Gedichts  kritisch  verwerthen.'').  —  Die  Uebersetziing 
T  gehört  zur  vulgata  |s.  o.]. 

9. 

Der  Letzte,  welcher,  und  zwar  mit  siegreichem  Erfolge, 
sich  gegen  Laclimaiuis  Theorie  gewendet  hat,  mit  dessen  Auf- 
treten wirklich  die  Streitigkeiten  von  dieser  Seite  ein  Ende 
gefunden  haben,  ist 

Heinrich  Fischer 

in  seiner  Schrift:  „Nibelungenlied  oder  Nibelungenlieder?"  1859. 
Er  geht  allerdings  nicht  von  der  Handschriftenfragc  aus,  weil 
schon  Holtzmanu  von  diesem  Puncto  aus  Lachmanns  Ansichten 
bekämpft  habe ;  sondern  er  unterzieht  vielmehr  Lachmanns  Theorie 
hinsichtlich  der  zwanzig  Lieder,  insbesondere  aber  hinsichtlich 
der  zahllosen  Athetcsen,  welche  Lachmann  seiner  Liedertheorie 
zu  Liebe  über  grosse  Theile  des  Liedes  verhängt  hatte,  einer 
genauen  und  wirklich  vernichtenden  Kritik.  Nur  mehr  Ijeiläufig 
konnnt  Fischer  an  zwei  Puncten  auf  die  Handschriftenfrage  zu 
sprechen,  soll  daher  hier  kurz  erwähnt  werden.  Zuerst  berührt 
er  die  Frage  bei  Gelegenheit  der  Kritik  von  0.  Vilmars  „Reste 
der  Allitteration  im  Nibelungenliede"  (1855).')  Vilmar  wollte 
durch  Beiziehung  dieser  Allitterationsreste  die  Lehre  Lachmanns 
über  die  echten  und  unechten  Strophen  bekräftigen,  indem  er 
behauptete,  dass  die  von  Lachmann  als  echt  bezeichneten  Stro- 
l)hen  zugleich  dadurch  sich  als  echt  zeigen,  dass  sehr  häufig 
sich  in  denselben  noch  Allitterationsreste  zeigen.  Fischer  aljer 
weist  an  einigen  statistischen  Zahlen-)  nach,  dass  diese  Allitte- 
rationen,  wenn  sie  ül)erhaupt  eine  kritische  Bedeutung  hal)en 
sollen,  weder  Lachmanns  Handschriftentheorie  noch  seine  Stro- 
phenkritik bestätigen,  indem  sie  sich  am  häufigsten  in  C  und 
gleichmässig  in  „echten"  wie  „unechten"  Strophen  vorfinden. 

Eingehender  kommt  Fischer  auf  die  Handschriftenfrage  zu 
sprechen  gelegentlich   der  von  Lachmann   so  vielfach  für  seine 

IT)  S.  Zarncke,  Ausg.  372— 37(i. 

1)  S.  Fischer,  S.  s_i2. 

2)  In  Lachmanns  erstem  ..Lied"  sind  5G  ..echte-,  Sl  „Zusatz --Strophen; 
die  drei  regelmässigen  ..Stähe'-  linden  sich  in  „echten-  Sti'ophen  2  mal,  in 
„unechten"  S  mal,  dazu  kommen  in  C  3—4  weitere;  das  dritte  „Lied- 
hat nach  den  A  und  C  gemeinsamen  Lesarten  2,  nach  C  allein  11  regel- 
mässige Allitterationen ;  das  neunte- ..Lied"  hat  in  ..echten-  Strophen  5,  in 
„unechten"  nach  A  2,  nach  C  9  Allitterationen. 


32  I-    iJJe  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

Theorie  ausgebeuteten  „Widersprüche"  im  Nibelungenliede. 
Kiichdem  Fischer  die  meisten  derselben  weggeräumt  hat,  ge- 
langt er  zu  dem  Resultat,  dass  die  noch  übrigen  in  A  sich 
findenden  Widersprüche^)  immer  noch  nicht  zur  Annahme  von 
Lachmanns  Liedertheorie  l)erechtigen ,  vielmehr,  wenn  sie  nicht 
auf  handschriftlichen  Fehlern  beruhen,  nur  als  lupsus  momoriiv 
des  einen  Dichters  des  Nibelungenliedes  zu  betrachten  seien. 
Anstatt  also  dieselben  zur  Destruction  des  Kunstwerks  zu  be- 
nutzen, was  das  Nibelungenlied  seinem  ganzen  Plan  und  Bau 
nach  ist,')  soll  man  dieselben  lieber  zu  beseitigen  suchen;  und 
dafür  bietet  sich  die  Handschrift  C',  welche  dieselben,  mit  Aus- 
nahme eines  einzigen,^)  nicht  enthält.  Allein  die  Lachmannianer 
erklären  das  Fehlen  dersell)en  in  C  eben  für  einen  BcAveis  der 
Ueberarbeitung.  Aber  ganz  unbegreiflich  ist  es  jedenfalls,  dass 
erst  die  vierte  von  allen  Bearbeitungen  die  auffallendsten  Wider- 
sprüche beseitigt,  einen  aber  selbst  noch  übersehen  haben  soll. 
Es  ist  somit  der  einfachste  Ausweg,  C  als  Orighial  zu  l)etrach- 
ten,  und  die  Erklärung  der  Abweichungen  der  vulgata,  wie  sie 
Zarnckc  gegeben  hat,  ist  ganz  vollgenügeud.  Das  Gedicht 
stammte  aus  vornehmen  Kreisen,  land  aber  in  hütischen  Cirkeln 
wenig  Sympathie,  weil  dort  der  Geschmack  sich  den  franzö- 
sisch-britischen Sagenkreisen  zukehrte,  um  so  mehr  jedoch  im 
Volke.  Daher  bemächtigten  sich  die  Fahrenden  des  Liedes 
und  gaben  ihm  nicht  allein  die  von  Zarncke  hervorgeho])eneu 
ästhetischen  Veränderungen,  sondern  auch  solche,  durch  welche 
die  einzelnen  Theile,  welche  für  den  mündlichen  Gebrauch 
allein  tauglich  waren,  getrennt,  der  enge  Zusammenhang  der 
Aventiuren  gelockert  wurde. 

10. 
Die  bisher  behandelten  llandschriftentheorieen  haben,  so- 
weit dieselben  auch  auseinandergehen,  das  gemein,  dass  alle 
nur  eine  Handschrift,  beziehungsweise  Bearbeitung,  zu  Grunde 
legen,  die  übrigen  aber  als  Ueberarbeitungen  dieses  Originals 
betrachten.  Allerdings  enthält  nach  Lachmann  auch  .1  noch 
nicht    den   ursprünglichen  Text,    derselbe  ist  vielmehr   in   den 

3)  In  Str.  S.i4,  .3:  (i64,  :<;  1457,  I   f.;  1S61,  3:  1417. 

4)  Diesen  einheitlichen  Plan  hat  Fischer  eben  Lachmann  gegenüber  zu- 
vor überzeugend  nachgewiesen;  s.  u. 

5)  Str.  1417,  wo  Volker,  der  doch  schon  im  Sachsenkrieg  genannt  war, 
neu  eingeführt  wird. 


1.    Die  Handsclu'iftenfrage.    Die  vorhandenen  Tlicorieen.  33 

20  Volksliedern  enthalten;  Holtzmann  nimmt')  eine  weit  ältere"-) 
Grundlage  des  Gedichtes  an,  von  welcher  die  Bearbeitung  C 
eine  Uebersetzung-  oder  Umarbeitung-  sei.  Aber  darin  sind  alle 
einig,  dass  die  letzte  einheitliche  Rcdaction  des  Liedes,  welche 
also  unmittelbar  vor  das  Auseinandergehen  der  Handschritten 
fällt,  in  einer  der  erhaltenen  Handschriftengruppen  enthalten 
sei.  Anders  diejenig-cn,  deren  Theorieen  nunmelir  l)esprochen 
werden  sollen.  iSie  nehmen  alle  an,  dass  die  vorhandenen  Nibc- 
lungenhandschriften  eine  gemeinsame  Vorlage  voraussetzen,  zu 
Av  e  1  c  h  e  r  sieh  alle  e  r  h  a  1 1  e  n  e  n  li  e  a  r  1)  e  i  t  u  n  g  e  n  a  1  s  U  m  - 
arbeitungeu  verhalten;  und  zwar  nicht  eine  Vorlage  der 
Art,  wie  Holtzmanns  ,. altes  Gedicht'-  oder  Lachmanns  zwanzig 
Lieder,  welche  sich  weit  von  der  jetzigen  Leberlieferung  ent- 
fernt hätte,  sondern  vielmehr  eine  solche,  aus  welcher  durch 
relativ  minder  bedeutende,  d.  h.  das  Ganze  des  Liedes 
nicht  alterierende,  Aenderungen  die  jetzigen  Traditionen 
entstanden  seien.  Unter  den  drei  Schriftstellern,  welche  hier 
zu  nennen  sind,  stimmen  hinsichtlich  des  Endresultats  Pasch 
und  Bartsch  überein,  indem  beide  die  Bearbeitung  ('  und  die 
vulgata  als  selbständige,  von  einander  unabhängige,  Ueberarbei- 
tungen  einer  gemeinsamen  Vorlage  betrachten.^)  Andererseits 
.stimmen  hinsichtlich  des  Motivs,  das  sie  für  die  Umarbeitung 
annehmen,  Pfeiffer  und  Bartsch  überein,  indem  beide  als 
]\Iotiv  der  Umarbeitung  eines  um  1140  verfassten  Originals,  welche 
Umarbeitung  in  unseren  Handschriften  erhalten  sei,  die  um  1 1 90 
nicht  mehr  gebräuchlichen  Assonanzen  des  Originals  betrachten. 
Hinsichtlich  der  Methode,  durch  welche  sie  zu  ihrem  Ergel)- 
nisse  gelangen,  sind  Pasch  und  Bartsch  sich  darin  ähnlich, 
dass  sie  dasselbe  aus  der  Vergleichung  der  Handschriften  selbst 
gewinnen,')  während  Pfeiffer  durch  die  Herljeiziehung  von 
äusseren,  nicht  im  Liede  selbst  gelegenen  Beweisgründen-'^)  zu 
seiner  Ansicht  gelanü-te. 


1)  S.  u. 

2)  Der  zweiten  Hälfte  des  1().  Jahrhunderts  angehörige. 

:i)  Während  Pfeiffer  der  Hs.  C  den  Vorrang  Hess;  s.  E.  Pasch  A  und  ('.  S  S:<. 

4)  Und  zwar  Pasch  nur  durch  die  Vergleichung  zweier  Puncte.  der 
Strophendiffereuz  und  der  grammaticalischen  Eigenthümlichkeiten  l)eider 
Hearbeitungen,  Bartsch  dagegen  durch  die  Herbeiziehung  aller  kritischen 
Hilfsmittel,  in  erster  Linie  der  Metrik. 

.51  Identität  der  Xibclungeustrophe  mit  der  der  Küreubergischen  Lieder 
und  Gesetz  der  Nichtentlehnung  der  Töne. 

Fischer.  Nibelungenlied.  'i 


34  I.    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

11. 
E.  Pasch 

hat  seine  Ansichten  über  das  Verhältnis  der  Handschriften  dar- 
gelegt in  der  Abhandlung:  „  Ueber  die  Xibelungenhandschriften 
A  und  C'. "')  Pasch  geht  aus  1)  von  der  Strophendifferenz  zwi- 
schen den  beiden  erhaltenen  Bearbeitungen  und  2 )  von  den  Ab- 
weichungen, welche  beide  gegenüber  der  gewöhnlichen  mittelhoch- 
deutschen Grammatik  darbieten.  Als  Repräsentanten  der  vulgata 
w^ählt  Pasch  die  Handschrift  .1;-)  es  können,  sagt  er,'^)  nur.l  uudC 
in  Betracht  kommen,  da  alle  andern  Handschriften  entweder 
zwischen  denselben  liegen  oder  hinter  ihnen,  ausserhalb  des  Be- 
reichs der  Streitfrage. 

Zunächst  kritisiert  Pasch  Holtzmanns  kritische  l'rincipien 
und  weist  nach,  dass  mit  denselben  an  und  für  sich  gar  nichts 
anzufangen  sei.  Was  das  Princip  der  Bevorzugung  der  umfang- 
reicheren Handschrift  betrifft,  so  weist  die  deutsche  Litteratur- 
geschichte  mehrere  Beispiele  auf,  wo  der  kürzere  Text  entschie- 
den echter  ist;'')  das  andere  Princip  Holtzmanns,  dass  die  bessere 
Lesart  zugleich  die  echtere  sein  soll,  ist  nicht  stichhaltig,  weil 
der  Gedanke  nicht  von  vorneherein  abzuweisen,  dass  ein  Ueber- 
arbeiter,  ja  ein  Abschreiber,  wenn  auch  nicht  poetisch  befähig- 
ter gewesen  sei  als  der  Dichter  selbst,  so  doch  im  einen  oder 
anderen  Falle  eine  bessere  Wendung  gefunden  habe  als  dieser,'') 
Gelten  aber  beide    Principien  Holtzmanns,   a  priori  betrachtet, 

1)  Erschienen  ^^63  als  Osterprogramm  der  Realschule  zu  Perleberg;  ab- 
gedruckt in  der  Berliner  Zeitschrift  für  das  Gvmn.  Wesen,  Febr.   1S64. 

•Ji  Diss  hat  bei  ihm  zu  mauchfacheu  Verwirrungen  geführt,  weil  J  bald 
gegenüber  von  C,  bald  gegenüber  von  allen  andern  Handschriften,  also 
auch  B,  gestellt  wird. 

3)  S.  Pasch,  A  und  C,  S.  S.5. 

41  Dahin  die  innerhalb  eines  Jahrhunderts  vor  sich  gegangene  Erwei- 
terung des  zwei  Erzählungen  enthaltenden  Isegrimus  zu  2"  Erzählungen 
[dieses  Beispiel  passt  nicht,  weil  es  sich  dabei  um  eine  Anekdoten  Samm- 
lung handelt];  dahin  die  apokryphische  Erweiterung  von  Luthers  «Ein' 
feste  Burg"  um  eine  fünfte  Strophe;  dahin  die  Erweiterung  von  Goethes 
„Unter  allen  Gipfeln  ist  Ruh"  um  zwei  Strophen  durch  J.D.Falk  (i.  J.  ISIT). 
—  Auch  ist  das  von  Iloltzmann  (Unters.  5  61  für  die  Verkürzung  eines  Ge- 
dichts durch  Abschreiben  citierte  Alexanderlied  Lamprechts  ein  zweifelhaftes 
Beispiel. 

5)  Von  einigen  Stellen  gibt  ja  Iloltzmann  zu,  dass  die  vulgata  den  besse- 
ren Text  habe  [s.  S.  23  f  ]. 


1.    Die  Handschriftenfrage.    Die  vorhandenen  Theorieeu.  35 

nichts,  so  ist  es  doch  mögiicli  mid  daher  noch  zu  untersuchen, 
ob  sie  nicht  gerade  beim  Nibelungenliede  zutreffen.  Da 
Pasch  zunächst  von  der  Stroi)hendit!erenz  aus<;-cht,  so  ist  zu 
untersuchen  nur,  ob  der  längere  Text  hier  wirklich  der  bessere 
sei.  Wenn  diss  angenommen  wird,  aus  welchen  Ursachen  ist 
alsdann  das  Fehlen  so  vieler  Strophen  in  J  zu  erklären  V  Nach 
Holtzmann  ist  es  zu  erklären  aus  der  einem  deutschen  Ge- 
dichte gegenüber  besonders  natürlichen  Bequemlichkeit  und  Ge- 
dankenlosigkeit des  Schreibers.  Allein  die  deutsche  Poesie  war 
im  dreizehnten  Jahrhundert  gewiss  hoch  angesehen,  also  ist 
lloltznianns  Erklärung  nicht  ganz  begründet.*')  —  Es  sind  bei 
lloltznianns  Theorie  drei  Fälle  möglich,  wofern  als  Grund  der 
Auslassungen  in  ^l  die  Faulheit,  d,  h.  die  bewuste,  absichtliche 
Nachlässigkeit  und  Bequemlichkeit  des  Schreibers  angenommen 
wird:  1)  entweder  war  der  Abschreiber  so  träge,  dass  er  auf 
das  Gerathewohl,  unbekümmert,  um  das  Schicksal  seines  Textes, 
ausliess;  2)  oder  er  suchte  sich  die  Strophen  heraus,  die  ohne 
Störung  des  Zusammenhanges  ausgelassen  werden  konnten ; 
3)  oder  er  brachte  durch  Aenderung  einiger  AVorte  die  durch 
seine  Auslassungen  zerrissenen  Strophenzusammenhänge  wider 
in's  Gleiche. 

I)  Setzen  wir  den  ersten  der  drei  angenommenen  Fälle,  so 
wäre  es  gewiss  mehr  als  Zufall,  wenn  durch  das  planlose  Aus- 
lassen so  vieler  Strophen  nicht  irgendwo  eine  Lücke  entstanden 
Aväre.  Eine  solche  findet  sich  allerdings  in  .1,')  gehört  aber, 
weil  graphisch  zu  erklären,  nicht  hieher.^)  Sonst  sind  alle 
Plusstrophen  von  C  für  den  Zusammenhang  entbehrlich,  ja  mit- 
unter störend,  was  Pasch  an  einer  grösseren  Anzahl  solcher 
Plusstrophen  durchführt.')  Somit  ist  die  Möglichkeit  ausge- 
schlossen, dass  die  Plusstrophen  von  C  m  A  weggelassen  seien 
durch  die  blosse  Faulheit  eines  auf  das  Gerathewohl  auslassen- 
den Schreibers. 

6)  [S.  Seite  13  (§.  G,  not.  7).  So  unerhört  sind  eben  Abkürzungen  und 
Verstümmekingen  auch  in  jener  Zeit  nicht;  das  beweist  A  gegenüber  von 
B\  so  gut  nach  Pasch  die  Achtung  der  deutschen  Poesie  das  Abkürzen  ver- 
bot, hätte  sie  auch  das  Zusetzen  verbieten  sollen;  s.  aber  das  Alexanderlied 
nach  Paschs  Ansicht.] 

7i  Str.  491,  4—7  fs.  Seite  IS  (§.  6,  not.  3S)]. 

s)  Denn  Versehen  aus  graphischen  Gründen  sind  nicht  Sache  der  ».Faul- 
heit", sondern  der  «Nachlässigkeit-,  d.  h.  des  unbewusten  Irrthums. 

9)  [Diese  Strophen  s.  ausführlich  behandelt  bei  der  Kritik  Paschs 
§.  19,  not.  2.).] 

3* 


36  I     t>ie  Entstelmng  des  Nibelungenliedes. 

2)  Finden  sich  in  ^1  keine  Lücken,  ist  also  die  erste  Mög- 
lichkeit ausgeschlossen,  so  ist  die  Annahme  möglich,  dass  das 
Fehlen  von  Strophen  herrühre  von  einem  Schreiber,  der  sich 
zuvor  an  jeder  bctreftendcn  Stelle  überlegt  habe,  ob  daselbst 
eine  Auslassung  möglich  sei.  Dass  Strophen,  welche  ohne  Scha- 
den ausgelassen  werden  können,  in  jedem  grösseren  Gedichte 
vorkonnnen,  ist  klar.  Allein  die  Mühe,  zu  untersuchen,  ob  diese 
oder  jene  Strophe  entbehrlich  sei,  war  wohl  grösser  als  die  des 
Schreibers ;  somit  könnte  hier  von  ,,  Faulheit "  nicht  die  Rede  sein. 

3j  Also  bleibt  noch  der  dritte  Fall  ül)rig,  dass  nemlich  in 
den  Fällen,  wo  eine  Strophe  nicht  ohne  Zerstörung  des  Zu- 
sammenhangs, inbesondere  des  Satzbaus,  ausgelassen  werden 
konnte,  der  Schreiber  von  .  1,  um  doch  auslassen  zu  können,  ge- 
ändert habe.  In  der  That  liegt  der  Fall  öfters  vor,  dassJ,  wo 
sie  eine  Strophe  weniger  hat  als  (',  zugleich  in  den  vorangehen- 
den oder  nachfolgenden  Zeilen  eine  andere  Lesart  bietet  als  C") 
Allein  dieser  Fall  ist  ebenso  zu  1)eurtheilen  wie  der  zweite; 
denn  die  Mühe,  zu  ändern,  wäre  doch  noch  grösser  gewesen, 
als  die,  die  Entbehrlichkeit  einer  Strophe  zu  untersuchen. 

Darf  also  das  Fehlen  von  Strophen  in  .1  nicht  auf  Rech- 
nung der  Faulheit  des  Abschreil)ers  gesetzt  werden,  so  konnut 
es  vielleicht  auf  Rechnung  seiner  Nachlässigkeit  und  Flüchtig- 
keit, ist  also  ein  unabsichtliches?  Diss  ist  auch  ziemlich  schein- 
bar. Vor  allem  sprechen  dafür  die  vielen  nachweislichen  Schreib- 
fehler und  Auslassungen  von  -1  in  Beziehung  auf  einzelne  Buch- 
staben und  Worte ;  es  ist  natürlich  an  sich  ebenso  denkbar,  dass 
auch  in  Beziehung  auf  ganze  Strophen  dieselbe  Nachlässigkeit 
in  ^1  geherrscht  hätte.  AVirklich  hat  auch  .1  einmal  erweislich 
aus  Nachlässigkeit  eine  Strophe  ausgelassen.")  Aber  starke 
Gründe  machen  doch  die  allgemeine  Anwendung  dieses  Gesichts- 
punctes  unmöglich.  Denn  die  Anzahl  der  in  einem  kleineren 
Abschnitt  fehlenden  Strophen '-j  ist  manchmal  doch  gar  zu  gross, 
ebenso  auch  manchmal   die  Anzahl   der  unmittelbar  hinter  ein- 


10)  So  führt  Pasch  an  die  Str.  42!);  442,  4;  602,  1;  60S,  1;  «2.3,  l; 
040,  4;   1053,   1;   1077,   1;   1202,   1;   i:3.V2,  4;   140S;   1^41» 

11)  4111,  4—7.  [Die  Strophe  fehlt  indes  nicht  in  A  allein,  wie  es  dem 
Zusammenhange  bei  Pasch  nach  scheinen  könnte,  wo  von  der  nachlässigen 
Schreibung  von  J  die  Rede  ist,  sondern  in  .i  undiP;  s.  Bartsch,  Unters.  :_303.] 

12)  In  Av.  X  fehlen  IS  Strophen  von  104,  in  Av.  VI  IG  von  4"5,  in 
Av.  YII  23  von  94.     [S.  dazu  §.  (i,  not.  15.  IS.  und  unten  bei  der  Kritik.] 


1.    Die  Handschriftenfrage.    Die  vorhandenen  Theorieeu.  37 

ander  fehlenden  Strophen,")  um  den  Glauben  möglich  zu  machen, 
dass  ein  Abi^chrciber,  unabsichtlich  und  ohne  es  zu  bemerken, 
so  viele  Strophen  in  .so  kurzen  Zwischenräumen  ausgelassen  habe. 
Ausserdem  fehlen  gerade  am  Ende  von  Aventiuren  sehr  häufig 
Strophen  in  ^1,")  also  an  einem  Orte,  wo  ein  Uebersehen  nicht 
denkbar  ist.  Dazu  konmit  noch,  dass  die  Plusstrophen  von  C 
tast  alle  denselben  ausgeprägten  Charakter  der  erweiternden 
Schilderung  oder  glosscnartiger  Notizen  haben,'")  Da  diss  nicht 
zufällig  sein  kann,  da  ferner  das  Fehleu  von  Strophen  in  .  l  last 
nie  eine  Lücke  verursacht  hat,  so  kann  von  Auslassung  aus 
Nachlässigkeit  nicht  die  Rede  sein. 

Eine  dritte  Möglichkeit  wäre  die,  dass  das  Deficit  in  .1  die 
Folge  einer  Uebcrarbeitu  ng  wäre;  diese  Möglichkeit  ist  aber 
weder  von  Zarncke  uocli  von  Holtzmann  berührt  worden,  i>raucht 
also  nicht  berücksichtigt  zu  werden.'*) 

Somit  kann  das  Deficit  von  ^1  überhaupt  nicht  entstan- 
den sein,  d,  h.  die  Plusstro})hen  von  C,  wenigstens  deren  grosse 
Mehrzahl,  können  in  der  Vorlage  von  ^1  nicht  gestanden  haben, 
C  kann  nicht  unmittelbare  Quelle  von  ^1  sein. 

Holtzmann  selbst  gesteht  zu,  dass  einzelne  Plusstrophen  von 
('  hinzugedichtet  seien,  da  ein  Abschreiber  wohl  mitunter  sich 
auch  Zusätze  erlaubt  haben  könne.'')  Aber  ein  solcher  Ab- 
schreiber ist  vielmehr  schon  ein  lieber  arbeit  er.  Und  wirk- 
lich bietet  die  Annahme,  dass  in  C  eine  Ueberarbeitung  vor- 
liege, keine  Schwierigkeit;  das  Zunehmen  eines  Gedichts  an 
Umfang  ist  ebenso  möglich  als  das  Abnehmen.  Die  in  .1  etwa 
vorhandenen  Lücken  "")  beweisen  nur  die  Echtheit  ganz  weniger 
Plusstrophen  von  C.  Ausserdem  ist  an  und  für  sich  einem 
Ueberarbeiter  weit  eher  ein  Hinzusetzen  zuzutrauen  als  ein  Ab- 
kürzen; denn  das  Unternehmen  einer  Ueberarbeitung  beweist  ja 
schon  eine  gewisse  Achtung  und  Pietät  gegen  das  Werk,  das 
man  bearbeitet,  das  man  also  wohl  nicht  für  schlecht,  sondern 
für  gut    halten  wird;   diese  Pietät  wird  aber  wohl  dem  Ueber- 


13)  68  mal  fehlt  eine  Str.,  is  mal  2,  *i  mal  3,  3  mal  A,  1  mal  5,  1  mal  8. 

14)  [S.  §.  6,  not.  4H.] 

15)  [S.  §.  6,  not.  42—45.] 

Ki)  [Und  doch  rührt,  wenn  C  als  echt  angenommen  wird,  das  Deficit 
in  der  vulgata  sicher  von  Ueherarheitung  her.] 

ITi  S.  Seite  21  [auch  Zarncke  will  nicht  alle  Plusstrophen  von  C  halten, 
s.  Ausg.  LH]. 

iS)  Wenn  deren  mehrere  sind;  s.  not.  '  und  11. 


38  I-    I>ie  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

arbeiter  verbieten,  seine  Vorlage  durch  Kürzungen,  zu  verstüm- 
meln.'^)  Zumal  Strophen  am  Ende  von  Aventiuren,  erweiternde 
Schilderungen  u.  dgl.  einzufügen,  konnte  einem  Bearbeiter  leicht 
einfallen,  und  der  Art  sind  ja  so  viele  der  Plusstrophen  von 
Cr'*)  Es  werden  denniach  die  Plusstrophen  von  C  wohl  als  Er- 
zeugnisse späterer  Ueberarbeitung  gelten  müssen.  Da  aber  nicht 
alle  dieses  Ursprungs  sein  können,  vielmehr  eine  oder  einige 
wenige  echt  sein  müssen,  weil  sie  Lücken  von  ^1  ausfüllen,  so 
kann  auch  .1  nicht  der  absolut  echte  Text,  die  directe  Vorlage 
von  C  sein;  vielmehr  sind  beide  aus  einem  gemein- 
samen Grundtext  hervorgegangen,  zu  welchem  sich 
C  als  Ueberarbeitung  verhält. 

Wie  sich  .1  zu  diesem  Grundtexte  verhält,  zeigt  die  Be- 
trachtung der  Plusstrophen  von  J.  Dieselben  sind  entweder 
1)  alle  echt,  oder  2)  alle  unecht,  oder  3)  theils  echt  theils 
unecht. 

1)  Sind  sie  sämmtlich  echt,  so  müssen  sie  von  C  aus  Faul- 
heit oder  aus  Nachlässigkeit  ausgelassen  sein.  Ersteres  ist  un- 
möglich, weil  einmal-'}  C  die  Construction  bei  Auslassung 
einer  Strophe  verändert  haben  muss;")  letzteres  ist  ebenfalls 
unmöglich,  weil  sich  in  C  keine  Lücken  tinden,  und  wegen  der 
eben  erwähnten  Stelle.  Ferner  können  dieselben  in  C  auch 
durch  Ueberarbeitung  fehlen;  eine  Verkürzung  durch  Ueberarbei- 
tung ist  zwar  (s.  o.)  minder  wahrscheinlich  als  das  Gegen- 
theil,  al)er  doch  nicht  unmiiglich.  Allein  auch  diss  ist  nicht 
glaublich.-') 


19)  [Pasch  arbeitet  auch  hier,  wie  meistens,  mit  allgemeinen  Sätzen,  die 
im  concreten  Falle  ebensogut  falsch  als  wahr  sein  können.  So  auch  hier, 
sogar  wenn  der  Satz  allgemein  bleibt.  In  verzerrender  Gestaltung  des  Ein- 
zelnen (./)  und  in  entstellenden  Zusätzen  liegt  auch  wenig  ..Pietät",  wenn 
überhaupt  im  Mittelalter  viel  von  Pietät  des  Schreibers  gegen  das  Werk  die 
Rede  sein  kann.] 

20)  Als  besonders  eclatante  Beispiele  führt  Pasch  an:  475'".  die  Notiz 
über  die  Tarnkappe,  und  1()S2'*-',  die  Notizen  über  das  Kloster  Lorsch. 

21)  (i42.  4  B  Kriemliilt  (h)  senden  heyan  643,  1  n/ich  Haijenen  von 
Tronerje  u.  s.  w. ;  C  042.  4  daz  was  ir  liehe  getan,  64-3  und  644  fehlen  in  C 

22)  Denn  das  Acndern  von  Lesarten  lässt  sich  (s.  Seite  36)  nicht  mit  der 
Faulheit  des  Abschreibers  vereinigen. 

2:5)  Liliencron  behauptet  das  "Weglassen  in  C  durch  Ueberarbeitung 
sicher  nur  von  Str.  3:  .346;  610;  1S2.5;  bei  12  andern  ist  es  ihm  wahr- 
scheinlich, bei  1594  gesteht  er  das  Gegentheil  zu.  Aber  bei  mehreren  der 
Strophen  ist  ein  Weglassen  durch  Ueberarbeitung  unbegründet. 


1.     r)ie  Ilandschriftenfiage.     Die  vorhandenen  Theorieen.  39 

2)  Als  zweite  Mög-lichkeit  wäre  dcukbar,  dass  alle  Pliis- 
stropheu  von  .1  unecht  wären,  also  erst  durch  Ueberarbeitung 
in  den  Text  gekommen.  Diss  ist  aber  auch  keineswegs  der 
Fall.")  Auch  nach  Holtzmann  ist  die  Zudichtung  bei  einer 
ganzen  Anzahl  ^•on  Plusstrophen  der  vulgata  nur  wahrschein- 
lich; einige  sind  nach  seinem  Zugeständnisse  in  C  ausgetallen.") 
Es  sind  also  nicht  sämmtliche  Plusstrophen  von  ^1  unecht,  so- 
mit ist 

3)  ein  Theil  derselben  echt,  der  andere  unecht.-^)  Sind 
aber  einige  echt,  andere  unecht,  so  muss  auch  -1  sich  zu 
dem  Gruudtexte  als  Ueber arbeitung  verhalten. 

Dasselbe  Resultat  ergibt  sich  aus  der  Vergleichung  von  A 
und  f  hinsichtlich  der  granima  ticali scheu  EigenthUm- 
lichkeiten  beider  Handschriften.  Beide  stimmen  manchmal 
nicht  ndt  den  Regeln  des  Mhd.  im  dreizehnten  Jahrhundert 
überein,  und  noch  häufiger  weichen  nicht  beide,  sondern  nur 
eine  von  beiden  davon  ab,  durch  Anwendung  einer  älteren  oder 
späteren  Form  sowohl  in  der  Schreiljung  einzelner  "Wörter  als 
in  Flexion  und  Syntax.-")  Daraus,  dass  die  höhere  Alterthüm- 
lichkeit  bald  auf  der  einen,  bald  auf  der  anderen  Seite  ist, 
folgt,  dass  beide  Handschriften  aus  einem  älteren  Grundtext 
als  Ueberarbeitungen  hervorgegangen  sind. 

12. 
Franz  Pfeiffer 

gehört  nicht  eigentlich  zu  Denen,  welche  in  der  Handschriften- 
frage thätig  waren;  er  hat,  im  Anschluss  an  Holtzmann,  der  Hand- 
schrift C  den  Vorzug  gegeben.  Aber  seine  Schrift :  „  Der  Dichter 
des  Nibelungenlieds",  1S62,  ist  darum  auch  fiir  diese  Frage 
nicht  unwichtig,  weil  sie  den  ersten  Anstoss  zu  der  neuesten, 

24)  Z.  B.  die  von  Holtzmann  (Unters.  32)  als  Beweis  der  Ueberarbeitung 
benutzten  Str.  4S2 — 4^9  sind  vielmehr  in  der  vulgata  echter  als  die  vier  da- 
für in  C  stehenden  Strophen ;  von  Geiz  der  Brünhild  kann  auch  iu  Ä  nicht 
die  Rede  sein,  denn  auch  nach  der  Darstellung  von  A  will  sie  ihr  Gold  mit 
nach  Burgund  nehmen,  um  es  dort  zu  vertheilen  [s.  u.  bei  der  Kritik.J 

2.5)  Jedenfalls  1971,  4—1972,  4;  wohl  auch  711. 

26)  Echt  z.  B.  76S;  unecht  1193  f. 

27)  [Paschs  zahlreiche  Beispiele  anzuführen,  ist  werthlos:  dieselben  sind 
von  gar  keiner  Beweiskraft ;  am,  wenigsten  kann  die  Orthographie  einzelner 
Wörter  hier  etwas  beweisen,  denn  C  und  Ä  liegen  fast  ein  Jahrhundert  aus- 


40  I.    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

(lureli  Bartsch  weiter  ausgeführten  Theorie  gegehen  hat,  dass 
neralich  im  Xibelungenliede,  auch  nacli  seiner  besten  Redaction, 
eine  Umarbeitung  eines  um  1 1 40  vertassten  Gedichtes  enthalten 
sei,  und  weil  Pfeiffer  als  Beweis  für  diese  Ansicht  ausser  ande- 
ren, nicht  im  Liede  selbst  gelegenen  Gründen')  besonders  auch 
die  in  demselben  noch  vorkommenden  alterthümlichen  Reime-) 
benutzt  und  die  Entfernung  dieser  in  dem  alten  Original  weit 
zahlreicher  vorhandenen  Reime  als  Motiv  der  Umarbeitung  be- 
trachtet, 

13. 

Karl   Bartsch 

ist  wohl  unter  den  Neueren  der  Bedeutendste,  der  sich  mit  der 
Nibeluugenfrage,  insbesondere  mit  der  Handschriftenfrage,  be- 
fasst  hat.  Zeichnete  sich  Holtzmann  durch  Originalität  der  An- 
schauungen, Fülle  der  Phantasie  und  Geneigtheit  zu  neuen,  weit- 
greifeuden  Schlüssen  und  Problemen  aus,')  so  zeigt  Bartsch 
scharfe  Betrachtung  des  Einzelnen  und  besonders  grossen  Fleiss 
im  Sammeln  der  einzelnsten  Einzelheiten.  Seine  Ansichten  über 
die  Nibelungenfrage  überhaupt,  die  aber  bei  ihm  so  ziemlich 
ganz  von  der  Handschriftenfrage  abhängig  ist,  hat  Bartsch  zuerst 
1S62  auf  der  Augsburger  Philologenversannnlung  vorgetragen, 
sodann  aber  eingehend  ausgeführt  und  begründet  in  seinen 
„  Untersuchungen  über  das  Nibelungenlied ",  1S65,  kurz  dargelegt, 
endlich  in  seinen  zwei  verschiedenen  Ausgaben  des  Liedes.-) 

Bartsch  legt,  wie  Holtzmann,  der  Handschrift  ^1  gar  keinen 
maassgebenden  Werth  bei.  A  hatte  allerdings  eine  sehr  alte 
Vorlage,^)   ist   aber   selbst  zugegebenermaassen    sehr    nachlässig 

einander,  und  kein  Schreiber  hat  alterthümliche  Züge  seiner  Vodage  beibe- 
halten (s.  Bartsch,  Unters.  365);  ferner  ist  hier  A  wider  einmal  als  einzelne 
Handsclirift  gefasst;  und  endlich  führt  Pasch  Beispiele  von  älterem  und 
jüngerem  Gebrauch  an,  die,  vor-  oder  rückwärts,  fast  über  die  Grenzen  des 
Mhd.  hinausfallen,  somit  als  zufällige  Abweichungen  zu  betrachten  sind.] 

1)  S.  §.  10,  not.  5. 

2)  Von  denen  Bartschs  Untersuchung  ihren  Ausgangspunct  nimmt. 

U  Diss  tritt  in  dem  zweiten  Theile  seiner  ..Uaitersuchungen"  noch  weit 
mehr  hervor  als  in  dem  ersten,  wo  allerdings  in  einzelnen  Conjecturen  viel 
Kühnheit  ist;  am  meisten  aber  iu  seinen  „Kelten  und  Germanen". 

2)  Die  kleinere  erschien  1866,  1869  und  IS72  in  Pfeitfers  „Deutsche 
Classiker  des  Mittelalters";  von  der  grösseren  ist  bis  jetzt  erst  der  erste 
Band  (1S70)  erschienen. 

3)  Diss  beweisen  die  Schreibungen  sc  und  irrthümlich  a'  =  .■ic/i.  a  =  (c, 
o  =  oe,  uo  =='  üe,  uu  =  w,  v  nach  einem  Consonanten  =  iv. 


1.    Die  Handschriftenfrage.    Die  vorhandenen  Theorieen.  41 

geschrieben.  Manche  Fehler  von  .1  erklären  sich  durch  die 
Schriftzüge  der  Vorlage.')  Die  Nachlässigkeit  der  Schreibung 
von  .1  wird  auch  dadurch  bestätigt,  dass  in  .1  oft  ein  Wort 
fälschlich  steht,  das  in  der  Nähe  schon  einmal  vorkam.  Weiter- 
hin zeigt  sich  der  jüngere  Charakter  von  .1  darin,  dass  sie  statt 
veralteter  Wörter  neuere  setzt.  Besonders  aber  linden  sich  in 
.1  Versetzungen  von  Wörtern  in  einer  Art,  aus  welcher  erhellt, 
dass  - 1  1 )  die  prosaische  Wortstellung  anstatt  der  um  des  Verses 
willen  gewählten  und  in  den  Vers  allein  passenden  wählt,  2)  nicht 
das  mindeste  Gefühl  für  die  Feinheiten  des  Rhythmus  hat.'')  — 
Lachmann  hat  diesen  Fehlern  von  .1  gegenüber  einen  ganz  fal- 
schen Weg  eingeschlagen.  Er  ergänzt  viele  ausgelassene  Wörter, 
deren  Auslassung  nur  als  Nachlässigkeit  zu  erklären  ist;  er  hat 
auch  Ergänzungen  aufgenommen,  die  nur  für  den  Vers  noth- 
wendig  sind,  war  aber  gerade  hierin  vollständig  inconsequent, 
sein  Verfahren  subjectiv.  Ebenso  verfuhr  er  inconsequent  gegen- 
über von  den  in  -1  fehlerhaft  zugefügten  Wörtern. 

Wenn  auch  von  den  Fehlern  von  -1  manche  schon  der  Vor- 
lage von  .1  eigen  sind,  indem  sie  von  B  oder  -D,  seltener  von 
J,  getheilt  werden,  so  kommen  doch  die  meisten  allein  auf 
Rechnung  von  A.  Es  ist  somit  diese  Handschrift  keineswegs 
auch  nur  als  Repräsentant  der  vulgata  anzusehen,  was  vielmehr 
unter  allen  am  meisten  B  ist;  es  kann  sich  also  bei  der  Unter- 
suchung über  die  Handschriften  wesentlich  nur  um  B  und  C 
handeln,  als  die  Repräsentanten  der  beiden  Bearbeitungen.') 

Bartsch  beginnt  seine  Untersuchung  mit  der  Frage,  ob  im 
Nibelungenliede  die  Reime  auf  eine  Umänderung  aus  freieren 
Reimen  hinweisen  oder  nicht.  Diese  Frage  ist  eine  Cardinal- 
frage  der  Lachmannischen  Kritik  gegenüber,  denn  Lachmann 
nahm  keine  Umarbeitung  der  Reime  beim  Uebergange  von  den 
Volksliedern  zum  Sammler  an.     Er  wäre  aber  widerlegt,  sobald 


4)  So  Consonanten-  und  Vocalvertauschungea,  Vertauschung  und  zu- 
gleich Auswerfung  von  Buchstaben,  Wegfall  von  Buchstaben  und  Silben, 
HJnzufügung,  Verwechselung  von  Buchstaben,  Verwechselung  von  Wörtern; 
s.  dafür  und  für  das  Folgende  Bartsch,  Unters.  63—^.3. 

5i  Dahin  gehören  besonders,  was  für  die  Metrik  wichtig  ist,  Wörter  mit 
kurzer  Penultima  in  der  Cäsur;  am.  besten  wird  das  junge  Alter  von  ./  in 
metrischen  Dingen  dadurch  bewiesen,  dass  A  häutig  achte  Halbzeilen  von 
nur  3  Hebungen  hat,  wie  solche  von  12.=)0  an  üblich  wurden. 

t>)  Die  Bearbeitung  B  (vulgata:  bezeichnet  Bartsch  als  ..erste  Bearbei- 
tung", kurz  ..I",  die  Bearbeitung  C  als  ..zweite  Bearbeitung",  kurz  „11". 


42  I-    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

sich  eine  solelie  Umarbeitung  nachweisen  Hesse,  weil  alsdann 
jedes  Kriterium  der  „Echtheit"  der  einzelnen  Strophen  wegfallen 
müste;  denn  die  Aenderung  der  Reime  muste  uoth wendig  auch 
eine  grössere  oder  kleinere  Aenderung  im  Innern  der  Verse  mit 
sich  bringen. 

Es  führen  aber  wirklich  die  Reime  des  Nibelungenliedes 
auf  eine  solche  Umarbeitung.  Die  Besonderheiten  des  Reims, 
welche  zu  dem  Schlüsse  auf  eine  solche  l)erechtigen,  sind 

1)  die  ungenauen  und  alterthümlichcn  Reime, 
welche  im  Nibelungenliede  noch  erhalten  sind, 

2)  die  Abweichungen  der  beiden  Bearbeitungen 
im  Reime  auch  wo  beide  genau  reimen. 

1)  Zu  den  erhaltenen  Alterthümlichkeiten  in  den 
Reimen  gehören: 

a)  Die  stumpfen  Reime,  in  denen  die  eigentliche 
Reimsilbe  nicht  die  letzte,  sondern  die  drittletzte 
ist,  wie  Ilätjenc,  siujene  u.  ä. ;  dieselben  sind  theils  genau,')  theils 
ungenau,^)  letzteres  an  den  meisten  Stellen  nur  in  einer  von 
beiden  Bearbeitungen.  Die  grössere  Schwere  der  Endsilben,  die 
sich  in  diesen  Reimen  zeigt,  ist  im  dreizehnten  Jahrhundert 
nicht  mehr  vorhanden.  Die  ungenauen  Reime  dieser  Art  sind 
bald  consonantisch,  bald  vocaliseh  ungenau.  In  den  meisten 
Fällen  lässt  sich  nicht  erklären,  wie  eine  der  beiden  Bearbei- 
tungen dazu  gekommen  sein  sollte,  den  genauen  Reim  der  an- 
dern in  den  ungenauen  eigenen  zu  verwandeln.  Es  ist  vielmehr 
die  einzig  mögliche  Erklärung  dieser  Ditferenzen  die,  dass 
beiden  Bearbeitern  ein  noch  in  freieren  Reimen  ver- 
fasstes  Original  zu  Grunde  lag,  dass  beide  Bearbei- 
ter diese  freien  Reime  beseitigen  wollten,  dass  je- 
doch beide  diss  nicht  consequent  t baten. 

b)  Die  zweisilbigen,  scheinbar  klingenden  Reime, 
wie  md'rv  :  irdju"^  in  der  strophischen  erzählenden  Poesie  des 
dreizehnten  Jahrhunderts  bilden  dieselben  nur  eine  Hebung, 
im  Nibelungenliede  noch,  wie  früher,  zwei  Hebungen.  Doch 
ist  dieser  Beweis  für  das  höhere  Alter  desselben  nicht  stringent, 


')  So  Hntjenc  :  trdijenc ,  :  (hnjeite,  :  jäyene,  :  sdyciie,  :  ersbigcni, 
:  kldijenc;  degen'c  :  engcgene,  :  zegegeni'. 

8)  So  Hägcnl:  :  hdhen'c ,  :  gddeini' .  :  de'genc,  :  zes/hnetii',  :  menegi'; 
also  in  beiden  Fallen  fast  lauter  Reime  auf  den  Namen  Hdgenc. 


1.    Die  Handschrifteufrage.    Die  vorhandenen  Theorieeu.  43 

da  in  der  volksthüralicheii  lyrischen  Poesie  der  klingende  Reim 
auch  später  noch  als  zwei  Hebungen  zählte.') 

Jene  ungenauen  Reime  weisen  in  eine  Zeit  zurück,  wo  über- 
haupt die  Reimfreiheiten  noch  häutiger  waren;  es  ist  nicht  denk- 
bar, dass  nicht  noch  mehr  solche  im  Original  gestanden  wären. 
Dieselben  blieben,  während  sonst  die  Reime  geglättet  wurden, 
unverändert  stehen,  weil  auf  den  häutigen  Namen  Ihujenc '")  ge- 
naue Reime  nicht  immer  zu  finden  waren. 

c)  Auch  an  den  gewöhnlichen  stumpfen  Reimen  zeigen 
sich  Spuren  der  Alterthümlichkeit.  Hieher  gehören  vollere  For- 
men der  Flexionsendungen,")  auch  ungenaue  Reime,  welch 
letztere  aber  nie  in  beiden  Bearbeitungen  stehen.'-)  Es  ist  ganz 
wohl  denkbar,  dass  noch  ein  Dichter  der  späteren,  genau  reimen- 
den Zeit  auf  einen  freien  Reim  verfiel;  aber  undenbkar  ist,  dass 
ein  Bearbeiter  einen  ihm  vorliegenden  genauen  Reim   in  einen 


9)  Besonders  häufig  sind  diese  klingenden  Reime  in  C,  namentlich  in 
den  Plusstrophen  von  C  (\\  mal  gemeinsam,  S  mal  \nL\  worunter  7  Plus- 
strophen); diss  könnte  einen  Beweis  für  die  Echtheit  derselben  abgelien, 
wenn  nicht  sonst  deren  Unechtheit  wahrscheinlicher  wäre.  C  brachte  diese 
klingenden  Reime  in  seinen  Plusstrophen  an,  weil  der  Bearbeiter  V  sie  in 
seiner  Vorlage  schon  fand;  „er  hielt  sie  eben  für  unanstössig  und  suchte 
durch  sie  eine  Abwechselung  hineinzubringen,  wie  sie  die  gewöhnlichen  Reim- 
paare, bei  denen  das  Verhältnis  von  stumpfen  und  klingenden  ein  ganz 
gleiches  wie  im  Nibelungenlied  ist,  ebenfalls  haben-  (Bartsch,  Unters.  9). 

10)  Auf  den  (s.  not.  7.  S.)  sich  diese  dreisilbigen  Reime  fast  alle  be- 
schränken. 

11)  Partie,  prft-ter.  in-(>?  —  953,  3 ;  lü'-d,  3 —kommen  allerdings  bei  öster- 
reichischen Dichtern  noch  später  vor.  noch  viel  später  bei  alemannischen; 
aber  wo,  wie  beim  N.  L. ,  alles  auf  das  12.  Jahrhundert  weist,  dürfen  sie 
mit  als  Zeugnisse  für  höheres  Alter  gelten.  Superl.  m-dst  ( I4()f),  1 ;  19.57, 2j ;  kom- 
men bei  österreichischen  Dichtern  im  13.  Jahrhundert  nicht  mehr  vor,  bei  ale- 
mannischen noch  im  13.  14.  [S.  dagegen  Zarncke,  Ausg.  CXIII  **  und  ***; 
auch  Beitr.  VIII,  wo  überhaupt  die  österreichische  Abstammung  des  Liedes 
bestritten  wird.] 

12)  Vocalische  Ungenauigkeiten:  Genial :  t not  -lO'So,  1,  eine  im 
12.  Jahrhundert  nicht  seltene  Bindung;  C  änderte.  Cons  onan tische  (im 
13.— 15.  Jahrhundert  noch  vorkommend,  hier  aber  Zeugnisse  für  höheres 
Alter):  wi  :  H  (13.  Jahrhundert  nicht  selten)  in  si/n  :  fnun,  und  sonst  i22b,  1 
(nicht  in  ('/);  1637.  2  in  a\  1511.  \  va.  B  allein  gegen  alle  andern,  welche 
unabhängig  von  einander  auf  einen  genauen  Reim  kommen  konnten  [doch 
hat  Bartsch  in  seiner  Ausgabe  die  Lesart  von  CA  aufgenommen]:  327  in  /; 
h:g  717,  1  in  C\  2118,  2  AJ  gegen  BCD,  aber  falsch;  einmal  falsch  in  Z>; 
c :  t  769,  4  in  A,  2209.  1  /,  beidejnal  entstellt :  aber  echt  sind  ganz  sicher 
die  Stelleu  717,  i  (C  echt)  und  I22t3.  1  [AB DJ  echt. 


44  I-    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

ungenauen  geändert  hätte,  was  man  annehmen  muss,  wenn  man 
eine  Bearbeitung  direct  aus  der  anderen  stammen  lässt. 

2)  Auf  dasselbe  Resultat  führt  die  Ijetrachtung  der  vielen 
Fälle,  wo  beide  Bearbeitungen  im  Reime  abweichen 
und  beide  genau  reimen.  Meist  weicht  nur  der  Ausdruck 
ab,  während  der  Sinn  derselbe  ist,  so  dass  ein  Grund  zur  Aen- 
derung  aus  der  einen  Lesart  in  die  andere  nicht  abzusehen  wäre. 
Besonders  die  Anhänger  von  .1  lassen  Ueberarbeitmigen  am 
Nibelungenliede  statttinden,  wie  sie  in  der  ganzen  udttelalter- 
lichen  Litteratur  unerhört  sind.  Denn  bei  allen  uns  bekannten 
Umarbeitungen  sind  Gründe  der  Form  ,'^)  nicht  des  Inhalts,  gel- 
tend, vor  allem  aber  die  ungenauen  Reime  der  Originaldich- 
tungen. Es  wäre  ein  grosser  Theil  der  Schwierigkeiten  gehoben, 
wenn  man  auch  für  das  Nibelungenlied  formale  Gründe  der 
vielfachen  Aenderungen  annähme.  Dieselben  werden,  nach  den 
Fingerzeigen,  welche  die  noch  erhaltenen  Assonanzen 
geben,  wesentlich  in  Assonanzen  der  Vorlage  zu  suchen  sein. 
Die  Reimabweichungen  classificieren  sich  unter  folgende  Fälle : 
1)  Der  in  die  Augen  springendste  Fall'')  ist  der,  dass  beide 
Bearbeitungen  für  sich  genau  reimen,  dass  aber  ein  Vers  der 
einen  auf  einen  der  anderen  assoziiert. '^)  In  diesem  Fall  ist  am 
einfachsten  anzunehmen,  dass  eben  diese  Assonanz  den  ur- 
sprünglichen Reim  darstellt.'^) 


13)  Entweder  die  ungenauen  Reime  des  Originals,  welche  zum  Theil 
noch  im  12.,  zum  Theil  im  13.  Jahrhundert  entfernt  wurden;  oder  mund- 
artliche Eigenheiten;  oder  veraltete  Ausdrücke  im  Reim,  diss  besonders  in 
den  Abschriften  des  1.5.  -Jahrhunderts. 

14)  16  Beispiele. 

15)  S  c  h  e  m  a  [rt  ;  rt  =  genauer  Reim  ;«://  =  Assonanz ;  a^ .-  a,  und  a„  .■  a,, 
=  zwei  Reime  von  gleichem  Klang,  aber  mit  verschiedenen  Reimwörtern]: 

I.  {AB)        II.  iC) 
a  b 

a  b 

Z.B.  Str.  133(j,  l    B     Des  willen  in  ir  herzen  kom  si  vil  selten  abe, 

si  (/edaltt  •ich  bin  so  riche  und  hän  so  gruze  habe. 
C    Daz  si  <laz  rechen  muhte,  des  wunschtes  alle  tage: 
'ich  bin  nu  wol  so  riche,  stvem   iz  auch  missehage. 
U>)  Somit  Schema  für  das  Original: 

•{  ,     oder    { 
\b  \a 

In  dem  angeführten  Beispiel  1330,  1.  2.  also: 

Daz  si  daz  rechen  möhte,  des  wunschtes  alle  tage. 

si  gedähl  'ich  bin  so  riche  und  hän  so  grdze  habe'. 


1.    Die  Ilandschriftenfrage.    Die  vorhandenen  Theorieen.  45 

2)  Ein  weiterer,  einfacher,  aber  minder  sicherer  Fall'")  ist 
der,  dass  beide  Bearbeitungen  in  dem  einen  Reimworte  stim- 
men, in  dem  anderen  nicht.  In  dem  Fall,'*)  wo  das  erste  Reim- 
wort gleich  ist,  wird  natürlich  am  wahrscheinlichsten  sein,  dass 
dieses  Reimwort  im  Original  stand,  das  aber  ungenau  darauf 
gereimt  war.'^j  Ebenso  in  dem  Fall,-**)  wo  das  zweite  Reim- 
wort gleich  ist.-') 

3)  Selten")  ist  der  Fall,  dass  beide  Reimwörter  in  den 
Bearbeitungen  verschieden  sind,  al)er  denselben  Reimklang  ha- 
ben;"^) hier  ist  die  Herstellung  des  Originals  noch  schwieriger, 
da  kein  gemeinsames  Reim  wort  vorhanden;  als  wahrscheinlich 


17)  159  Beispiele. 

1^)  117  Beispiele;  Schema: 

I.  II. 

a  a 

a,  a,, 

Z.  B.  Str.  32,  3  B  Der  wirt  der  hiez  dd  sidelen  vil  manegen  küenen  man 
ze  einen  sune/renden,  dd  Sifrit  ritters  namen  r/ewan. 
C    ze  einen  simewenden.  dd  er  die  hdcJtzil  tvolde  htm. 

19)  Schema  für  das  Original: 

\l 

In  dem  angeführten  Beispiel  32,  3.  4: 

Der  ivirt  der  hiez  dd  sidelen  vil  manegen  küenen  man 
ze  einen  suneweudcn,  dd  sin  sime  stvert  genam. 

20)  42  Beispiele. 

21)  Schema: 

I.  IL 

a,  a„ 

a  a 

Z.  B.  Str.  213,  3  B  An  den  küenen  Sahsen,  der  man  vil  ?vunder  sach; 

hei  7vaz  da  lichter  ringe  der  küene  Dancwart  zehrach: 
C  3:  An  den  küenen  Sahsen,  die  dolten  ungemach. 
4  wie  B. 

Schema  für  das  Original: 

In  dem  angeführten  Beispiel: 

An  den  küenen  Sahsen,  swie  vil  der  was ; 

hei  7vaz  dd  lichter  ringe  der  küene  Dancwart  zebrach  ! 

22)  7  Beispiele. 

23)  Schema: 

I.  IL 

a,'  a„ 

a,  a„ 


46  I.    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

ist    aber   doch   anzunehmen,  dass  der  Klang  beider  oder  eines 
Reimwortes  derselbe  war."-') 

4)  Weit  häutiger  ist  es,  dass  beide  Reimwörter  verschieden 
sind  und  zugleich  verschiedenen  Klang  haben.-'^)  Hier  ist  die 
Herstellung  am  leichtesten,  wenn  der  Gedanke  nach  beiden 
Lesarten  dersell)e  ist;--)  weicht  derselbe  ab,  so  ist  sie  schwie- 
riger, doch  nicht  unmöglich.^') 

Z   E.  Str.  S7,  .3  B  So  9vil  ich  rvol  yeloubeit,  swie  cz  dar  umhe  stät, 
daz  ez  si  der  recke,  der  dort  so  her/ichen  gut. 
C  sd  wil  ich  wol  (jetrouwen,  swiez  sich  yefüeget  hat, 
so  ist  ez  der  recke,  der  dort  so  haiichen  stat. 
Str.  532,  1  B  Sehs  und  ahzec  frourven  such  man  für  gm, 
die  gehende  iruogen.    zuo  Kriemhilde  dan 
körnen  die  vil  schöne. 
V  Sehs  und  ahzec  frourven  hiez  man  komen  dan, 
die  gehende  truogen,  zuo  Kriemhilde  st  an; 
dö  körnen  die  vil  schoenen. 
Str.  6SS,  .'{  B  Mit  shien  hergesellen,  Guntheres  man. 

Geren  den  vil  riehen  hat  man  an  den  sedel  gdn. 
C  und  sine  hergesellen,    hl  der  hende  dan 

KricinhiU  fuorte  Geren:  daz  was  durch  liehe  getan. 

24)  Mögliche  Schemata  für  das  Original: 

a,    a,,  j  a,  j  a„  )  b  )  h 

a„    a,  \h   \h    ]a,\  a„ 

Von  diesen  möglichen  Schematen  hat  indessen  Bartsch  nur  das  erste,  zweite 

und  sechste  angewendet ,  indem  er  ST,  3.  4.  stat :  stat,  532,  1 .  2.  dan :  dan 

reimen  lässt  und  OSS,  3.  4.  so  herstellt: 

mit  sinen  hergesellen,    hl  der  hende  nam 

Kriemhilt  den  riehen  Geren:  daz  was  durch  liehe  getan. 

25)  Schema: 

1.  II. 

a  h 

a  h 

Von  den  vielen  Beispielen  sei  nur  Str.  8",  1.  2.  angeführt: 

B  Also  sprach  dö  Hagene  u'ih  wil  des  wol  verjehen, 

swie  ich  Sifriden  nie  mere  hau  gesehen''. 
C  Also  sprach  dö  Hagene  'als  ich  mich  kan  verstan, 
swie  ich  Sifriden  noch  nie  gesehen  hau' ; 
wo  Bartsch  so  restituiert: 

A/sö  sprach  dö  Ilagene  'ich  muc  daz  wol  sagen, 
swie  ich  Sifriden  nie  gesehen  hahe. 

26)  So  Beispiele. 

27)  46  Beispiele;  in  19  Fällen  will  hier  Bartsch  das  Original  mit  Sicher- 
heit herstellen,  in  27  nur  mit  einiger  Wahrscheinlichkeit  errathen  können, 
zumal  da  hier  nicht  mehr  zu  entscheiden  ist,  inwieweit  bei  den  Aenderungen 
der  Bearbeitungen  die  Rücksicht  auf  den  Inhalt  mitwirkend  (oder  allein 
wirkend)  war.     Im  Wesen  der  Assonanz  als  eines  freien  Reims  liegt  es 


1.    Die  Haiidschriftenfrage.    Die  vorhandenen  Theorieen.  47 

Dass  mit  der  Entferining:  der  alten  Assonanzen  die  beiden 
Bearbeiter  auch  in  der  Darstellung  des  Gedankens  aiiseinander- 
giengen,  ist  nicht  zu  verwundern.  Bei  anderen  Fällen  dopjjelter 
Umdiehtung  findet  sieh  dieselbe  Erscheinung.  Eine  solche  Ana- 
logie bieten  unter  verschiedenen  anderen  die  Umdichtungen  von 
des  rtaffen  Konrad  Karl  einerseits  durch  den  Stricker,  an- 
dererseits durch  den  niederrheinischen  Dichter,  dessen  Werk  in 
die  Compilation  des  Karlmeinet  autgenommen  wurde.-*)  Ein 
anderes  Beispiel  ist  die  Kaiserchronik  mit  ihren  beiden  Um- 
diclitungen  aus  dem  dreizehnten  Jahrhundert.  Die  im  Nibelungen- 
liede erhaltenen  und  die  aus  den  Reimditferenzen  mit  Sicherheit 
folgenden  Assonanzen  weisen  auf  eine  Zeit,  die  dem  Jahre  1150 
näher  liegt  nh  dem  Jahre  1 19().  In  dieselbe  Zeit  etwa  weisen 
auch  die  im  Liede  noch  besonders  häufig  erhaltenen,  weil  von 
den  Bearbeitern  nicht  beachteten,  ungenauen  Cäsur reime; 
solche  sind  auch  in  anderen  Gedichten  des  zwölften  Jahrhun- 
derts nachweislich.-^)  Gereimt  wnirde  die  Cäsur  in  der  Kegel 
nicht;  wo  sich  aber  von  selbst  ein  Reim  ergab,  wurde  derselbe 
nicht  vermieden.  Obgleich  sich  daher  auch  in  späteren  Ge- 
dichten zufällig  noch  ungenaue  Cäsurreime  finden,  so  werden 
dieselben  doch  im  Nibelungenliede  nicht  für  zufällig,  sondern 
für  Zeugnisse  einer  älteren  Form  gelten  dürfen.  Auch  die  ge- 
nauen Mittelreime,  soweit  sie  beiden  Bearbeitungen  gemeinsam 
sind,  sind  als  ursprünglich  zu  betrachten ;  sind  sie  nicht  gemein- 
sam, so  gehören  sie  mit  Wahrscheinlichkeit  dem  betr.  Bearbeiter 
an,  da  die  späteren  Bearbeitungen,  w^ie  überhaupt  die  spätere 
Zeit,  den  Cäsurreim  als  einen  Schmuck  der  Darstellung  lieben 
und  häufiger  anwenden.  Darauf  weist  auch  hin,  dass  die  Zahl 
der  nur  in  den  einzelnen  Bearbeitungen  vorkommenden  genauen 
Cäsurreime  die  der  beiden  gemeinsamen  weit  überwiegt.^") 


überdiss.  dass  auf  einen  Eeimklang  eine  Menge  von  ähnlichen  Klängen 
assonieren  können;  daher  ist  die  Herstellung  der  Assonanzen  nie  ganz  sicher; 
da  aber  der  Sinn  [und,  kann  man  hinzusetzen,  der  an  "Wortreichthum  arme 
Stil  des  Volksepos]  eine  Menge  von  Wörtern  ausschliesst,  so  ist  eine  zu 
grosse  Abweichung  vom  Original  für  die  Conjecturalkritik  nicht  zu  befürchten. 

2S)  Der  Stricker  dichtet  freier  um,  der  nrh.  Dichter  getreuer;  ähnlich 
ist  das  Verhältnis  zwischen  ('  und  der  vulgata. 

29)  Kürenberg;  Meinloh  von  Sevelingen. 

Mii)  Beiden  Bearbeitungen  gemeinsam  sind  die  genauen  Cäsurreime 
etwa  41  mal;  in  I  allein  linden  sich  IS,  in  11  allein  bis  '22,  in  den  Plus- 
strophen von  C  -15 ;  somit  sind  die  nicht  gemeinsamen  mehr  als  das  Doppelte 


48  I-    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

Das  Ergebnis  der  Untersucliuiig  über  die  Reime  ist  also 
dieses.  Weder  die  eine  noch  die  andere  Bearbeitnng-  repräsen- 
tiert das  Original,  sondern  beide  enthalten  eine  wegen  der  nn- 
genauen  Reimformeu  des  Originals,  das  aus  dem  zwölften  Jahr- 
hundert stammt,  vorgenommene  Ueberarbeitung.  Beide  Bearbei- 
tungen fallen  so  ziemlich  in  dieselbe  Zeit,  beide  Bearbeiter 
waren  inconsequent,  indem  beide  mitunter  eine  Alterthümlichkeit 
im  Reime  stehen  Hessen;  eine  Ineonsequenz,  welche  auch  bei 
den  meisten  analogen  Umarbeitungen  jener  Zeit^'j  hervortritt.^-) 

Als  Grundsatz  der  weiteren  Vergleichung  beider  Be- 
arbeitungen unter  sich  und  mit  dem  Original  muss 
natürlich  gelten,  dass,  Avas  der  zweiten  Bearbeitung  mit  der 
ersten,  namentlich  mit  BD,  gemeinsam  ist,  in  der  ursprünglichen 
Form  erhalten  sei.  Weniger  wichtig  ist  die  Uebereinstimmung 
der  Bearl)eitung  C  mit  J  und  den  dieser  verwandten  Hand- 
schriften, da  diese  von  dem  Einflüsse  jener  Bearbeitung  nicht 
ganz  fi-ei  sind. 

AVeiterhin  sucht  Bartsch  das  Verhältnis  der  Bearbeitungen 
unter  einander  und  zu  ihrem  Original  festzustellen  durch  die  Be- 
trachtung der  metrischen  Gesetze  des  Kibelimgcnliedes, 
welche  hinwiderum  wesentlich  auf  das  schon  erkannte  Verhältnis 
der  Handschriften  gebaut  werden.  In  diesem  Theile  der  „  Unter- 
suchungen'' werden  sehr  schöne  und  eingehende  metrisch-rhyth- 
mische Bemerkungen  dargeboten;  aber  relativ  wenig  bietet  der- 
selbe in  seinen  ersten  Abschnitten  für  die  Erkenntnis  des  Hand- 
schriftenverhältnisses, Dagegen  sind  die  letzten  Ai)schnitte  der 
metrischen  Untersuchungen  in  dieser  Beziehung  um  so  wichtiger, 
da  in  deusell)en  derjenige  Punct  der  ]\Ietrik  besprochen  wird, 
welcher  einen  wesentlichen  Unterschied  zwischen  den  Bearbei- 
tungen bildet,  das  Vorhandensein  oder  Fehlen  der  Senkungen. 

Das  Verhältnis  der  jüngeren  Texte  zum  Original  zu  ergrün- 
den, gibt  es  kein  besseres  Mittel,  als  die  Betrachtung  ihrer  metri- 
schen Beschaffenheit,   welche  zwar  bei  den  Dichtern  jener  Zeit 


der  genieiusameu.     Dagegen    ist    die  ZaLl    der  gemeinsamen    ungenauen 
Cäsurreime  mehr  als  das  l'ifache  der  nicht  gemeinsamen. 

31)  S.  Bartsch  in  Pf.  Germ.  XIII.  Seite  217  tf. 

32)  Bei  diesem  Verhältnis  der  Bearbeitungen  begreift  es  sich  auch  leicht, 
dass  beide  bisher  einander  gegenüberstehenden  Parteien.  Lachmaunianer  und 
Holtzmannianer,  genug  Beweisgründe  für  sich  aufbringen  konnten,  da  wirk- 
lich jede  Bearbeitung  manchmal  das  Echte  erhalten  hat. 


1.    Die  Handschriftenfrage.    Die  vorhandenen  Theorieen.  49 

im  allgemeinen  den  gleichen  Gesetzen  folgt,  deren  Anwendung 
aber  und  deren  Ausl)ildung  im  Einzelnen  doch  von  dem  feine- 
pen  oder  gröberen  Getiihlc  der  einzelnen  Dichter  abhängig  sind. 

Ein  den  hochdeutschen  Dichtern  jener  Zeit  gemeinsames 
Gesetz  ist  das  der  Einsilbigkeit  der  Senkung.  Von  dieser 
Einsilbigkeit  darf  nur  der  Auftact  eine  Ausnahme  machen, 
ihm  ist  Zweisilbigkeit,  ja  Dreisilbigkeit  gestattet;  an  den  an- 
deren Stellen  des  Verses  werden  stets  zweisilbige  Senkungen 
entfernt.  Der  Betrachtung  der  Mittel,  durch  welche  diss  ge- 
schieht, und  der  Betrachtung  des  Auftacts  widmet  Bartsch  die 
Abschnitte  a)  —  n)  seiner  metrischen  Untersuchungen. 

Die  einfachsten  Mittel  zur  Entfernung  zweisilbiger  Senkun- 
gen sind  die  Ausweifung  a)  eines  kurzen,  unbetonten  Vocals  (e) 
am  Ende  eines  "Wortes,  d.  h.  Apokope,  b)  die  eines  solchen 
in  der  Mitte  des  Wortes,  d.  h.  Synkope. 

c)  Verschleif uug  zweier  e.  in  der  Senkung  zu  einer 
Sillje  soll  nach  Lachmann  erlaubt  sein;  eine  Behau])tung,  welche 
sich  nur  auf  den  rohen,  zu  keinen  metrischen  Schlüssen  berech- 
tigenden Text  von  ^1  gründet ;  vielmehr  sind  Wörter  von  der 
Form    -  ^^  (wie  krpftef/e  u.  ä.)  stets  rhythmisch  zu  lesen  '\  -J^^) 

d)  Werden  zwei  unbetonte  e  durch  eine  Liquida  ge- 
trennt, so  ist  im  gewöhnlichen  Mhd.  des  dreizehnten  Jahrhun- 
derts das  zweite  e  stets  stumm;  im  Nibelungenliede  dagegen 
finden  sich  noch  vielfache  Spuren  des  älteren,  noch  im  zwölften 
Jahrhundert  herrschenden  Gebrauchs,  beide  e  lauten  und  das 
erste  hebungsfähig  sein  zu  lassen.^^) 

e)  Verse  hie  ifung  auf  der  Hebung  ist  ganz  unbedenk- 
lich hei  zwei  kurzen  Sill)en,  deren  erste  den  Hochton  und  deren 
zweite  unbetontes  (stummes)  e  hat;  auch  hier  ist  im  gewöhn- 
lichen Mhd.  die  Auswerfung  dieses  e  Kegel,  wenn  eine  Liquida, 
namtlich  /  oder  r,  vorhergeht;  im  Nibelungenliede  ist  diss  noch 
nicht  der  Fall.'"') 


33)  C  sucht  bei  solchenWörtern  die  Senkung  zwischen  der  hochbetonten  und 
der  tiefbetonten  Silbe  nicht  selten  auszufüllen  (s.  u  ).  Schon  hier  zeigt  sich 
beträchtliche  Verschiedenheit  zwischen  Bearbeitungen  und  Original,  wie  zwi- 
schen den  Bearbeitungen  unter  sich.  Der  Dichter  selbst  ist  am  strengsten; 
A  ist  am  laxesten. 

34)  Im  gewöhnlichen  Mhd.  z.  B.  andern  =  /  w;  im  1 2.  Jahrhundert  und 
noch  im  N.  L.  anderen  =  /\  -. 

35)  Liliencrons  Behauptung,  däss  C  die  Verschleifung  auf  der  Hebung 
nicht  liebe,  ist  falsch;  denn  V  hat  sie  mitunter,  wo  sie  in  I  fehlt. 

Fischer,  Nibelungenlied.  4 


50  I-    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

f)  Weiterhin  dient  zur  Einsilbigmaeliung  der  Senkung-  die 
Anlehnung  kurzer  Pronomina  an  betontere  Wörter.^^) 

g)  Ein  weiteres  Mittel  für  diesen  Zweck  ist  die  Elision, 
welcher  h)  der  Hiatus  gegenübersteht;  oft  ist  zweifelhaft,  ob 
auf  der  Hebung  zu  elidieren  oder  Hiatus  anzunehmen  sei;  im 
allgemeinen  spricht  der  Gebrauch  der  guten  Dichter  mehr  für 
das  Erstere.^') 

i)  Unter  den  Fällen,  wo  Elision  eintritt,  ist  besonders  her- 
vorzuheben der,  dass  dadurch  ein  einsilbiges  Wort  Auttact,  erste 
Hebung  und  erste  Senkung  vertritt,  was  bei  wirklich  einsilbigen 
Wörtern  häufig  ist,  unter  gewissen  Bedingungen,  welche  aus 
dem  logischen  Werth  des  Wortes  sich  ergeben.^**) 

k)  Von  der  Regel  der  einsilbigen  Senkung  macht,  wie  be- 
merkt, der  Auftact  eine  Ausnahme,  indem  hier  Zweisilbigkeit 
unter  gewissen  Bedingungen  gestattet  ist;  dreisilbiger  Auftact  ist 
sehr  selten.^')  1)  Der  Auftact  der  zweiten  Vershälfte  hat  im 
Wesentlichen  dieselbe  Behandlung,  wie  der  der  ersten.  Bei 
vocalischem  Auslaut  der  ersten  und  vocalischem  Aidaut  der 
zweiten  Vershälfte  tritt  häufig  Synalöphe  ein,  wodurch  zweisil- 
biger Auftact  vermieden  wird.  Es  finden  sich  aber  auch  wirk- 
lich zweisilbige  Auftacte  in  der  zweiten  Vershälfte. '*) 

m)  Zur  Herstellung  des  richtigen  Verhältnisses  zwischen 
Hebungen  und  Senkungen  dient  ferner  die  logisch  und  gramma- 
ticalisch  unrichtige  Betonung  nicht  nur  einzelner  Wörter 
(z.  B.  z- irischen  der  wende  ujid  einen  schrin  620,  4).  sondern 
auch   kleinerer  Wortgruppen    (z.  B.   duz   sin  sun   körnen   irölde 

36)  C  hat  meistens  das  Richtige. 

37)  Den  Hiatus  auf  der  Cäsur  scheint  C  einigemal  zu  entfernen. 
3S)  Ä  hat  auch  gegen  diese  Eegel  die  meisten  Verstösse. 

39)  Einige  Fälle  von  schwerfälligem  Auftact  werden  meistens  in  C  ver- 
mieden, der  z.  B.,  dass  der  Auftact  durch  2  einsilbige  Wörter  gebildet  wird, 
von  denen  das  erste  besonders  starkes  logisches  Gewicht  oder  das  zweite 
stärkeres  als  das  erste  oder  dritte  hat.  Dagegen  hat  C  allein  einige  schwe- 
rere Fälle  des  Auftacts,  wie  den,  dass  ein  zweisilbiges  ^Yort  den  Auftact 
bildet,  dessen  zweite  Silbe  stärker  betont  ist  als  die  erste;  ebenso  findet 
sich  ein  dreisilbiges  Wort  mit  Elision  der  dritten  Silbe  im  Auftact  in  einer 
Plusstrophe  von  C  (ISIT''),  und  endlich  zwei  fehlerhafte  Fälle  von  dreisilbi- 
gem Auftacte  (1597,  2;  S76,  1). 

40)  Die  Bearbeiter  suchen,  gegen  den  Gebrauch  des  Dichters,  der  hier 
zwischen  erster  und  zweiter  Vershälfte  keinen  Unterschied  macht,  die  Un- 
regelmässigkeiten in  der  zweiten  einzuschränken,  offenbar  damit  nicht  der 
Unterschied  zwischen  der  2.  4.  6.  und  der  ^.  Halbzeile  durch  zu  grosse  Aus- 
dehnung der  drei  ersteren  verwischt  werde. 


1.    Die  Haudschriftenfrage.    Die  vorhandenen  Theorieen.  51 

648,  2  BD]  su'd  diu  tier  hine  (jänt  857,  3;  Kürenb.  8,  7  er 
müoz  mir  diu  laut  ri/mhi),  nach  Lachmann  „schwebende  Be- 
tonung" genannt/') 

n)  In  die  letzte  Senkung  des  Verses  können  nur  solche 
zweisilbige  Wörter  lallen,  die  im  Mlid.  des  dreizehnten  Jahrhun- 
derts der  Regel  nach  einsilbig  sind.'-) 

Die  zweite  Hälfte  der  metrischen  Untersuchungen  ist  weit 
wichtiger  tiir  die  Erkenntnis  des  Handschriftenverhältnisses,  und 
soll  daher  hier  eingehender  behandelt  werden.  Sie  beschäftigt 
sich  mit  denjenigen  Fällen  und  Stellen  des  Verses,  wo  eine 
Senkung  fehlen  darf;  Bartschs  Resultat  ist,  dass  beide  Be- 
arbeitungen, im  höchsten  Grade  aber  C,  die  Senkungen  auszu- 
füllen suchen,^^)  die  im  Original  unausgeftillt  waren. 

o)  An  und  für  sich  kann  die  Senkung  an  jeder  Stelle  des 
Verses  fehlen;  aber  einige  besonders  charakteristische  Fälle  sind 
hervorzuheben.  Alle  Senkungen  einer  Halbzeile  fehlen  im  ge- 
meinsamen Texte  nicht,  die  meisten  Stellen  dafür  finden  sich 
nur  in  A,  und  zwar  meist  fehlerhaft.  Zweifelhaft  ist  auch,  ob 
bei  vorhandenem  Auftacte  die  Senkungen  alle  fehlen  dürfen. 
Dagegen  ist  häufig,  dass  der  Halbvers  nur  eine  einzige 
Senkung  hat.  Es  gibt  dafür  zwei  Fälle:  entweder  die  Sen- 
kung steht  nach  der  zweiten  Hebung^')  oder  sie  steht  nach  der 
ersten.'^)  Im  letzteren  Falle  liebt  es  der  Dichter  namentlich 
dreisilbige,  antibacchische  Wörter  vor  die  Cäsur  zu  setzen.'^) 
Erwähnung  verdienen  dreisilbige  an  dieser  Stelle  stehende  Wör- 
ter, deren  zweite  Silbe  ein  e  hat,  so  namentlich  participia  praj- 
sentis,  welche  seit  dem  Ende  des  zwölften  Jahrhunderts  nicht 
mehr  als  klingende  Reime  verwendet  werden.^')     Schliesst  die 


411  Die  Hss.  entfernen  diese  Freiheit  gern;  namentlich  entfernte  häufig 
die  schwebende  Betonung  solcher  Wörter,  deren  zweite  Silbe  kein  ton- 
loses e  hat. 

42)  Die  Bearbeitungen  unterschieden  sich  hier  kaum  merklich  vom  Ori- 
ginal; nur  A  zeigt  wider  ihre  Unkenntnis  der  metrischen  Gesetze. 

43)  Hieher  Nr.  o  —  q  der  metrischen  Untersuchungen. 
44 1  Vordere  Vershälfte  =  //\-/;; 

hintere  Vershälfte  =  /  /  ^  / . 
45)  Vordere  Vershälfte  =  /^///; 

hintere  Vershälfte  =  /  -^  /  /. 
4(1)  Vor  allem  Namen  von  der  Form  —  ^ ;  von  Appellativen  besonders 
oii  junc fr  oxüve;  adjj.  auf  -liehe  und  Zusammensetzungen  mit  un-. 

47)  [S.  Holtzmann.  Unters.  71;- Bartsch,  Unters.  136,  not.  2.  Eine  Alter- 
thümlichkeit  sind  diese  Formen  allerdings,  insofern  sie  in  das  zwölfte  Jahr- 

4* 


52  I-     I'ie  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

vordere  Vershälfte  mit  einem  zweisilbigen  Worte,  so  darf  ein 
demselben  vorangehendes  einsilbiges  betont  werden,  wenn  es 
mindestens  gleich  hohen  Ton  mit  dem  folgenden  hat,'^)  so  dass 
hier  grammaticalisch  und  logisch  tonlose  Wörter  vor  einer  höher 
betonten  Silbe  ausgeschlossen  sind.  In  der  zweiten  Vershälfte'") 
stehen,  wenn  die  einzige  Senkimg  nach  der  ersten  Hebung  steht, 
zwei  Hebungen  am  Schlüsse;  diss  ergibt,  wenn  dieselben  durch 
ein  zweisilbiges  Wort  mit  betonter  Penultima  gebildet  werden, 
die  schein])ar  klingenden  Reime.'°)  Schliesst  aber  der  Vers 
mit  einem  einsilbigen  Worte,  so  muss  die  vorangehende  Silbe, 
um  ohne  dazwischentretende  Senkung  an  dieser  Stelle  stehen 
zu  können,  einen  mit  der  folgenden  mindestens  gleich  hohen 
logischen  Ton  haben. 

p)  Noch  in  viel  hJiherem  Grade  als  bei  allen  anderen  Halb- 
zeilen zeigt  sich  das  Bestreben,  die  Senkung  zwischen  der  zwei- 
ten und  der  dritten  Hebung  auszulassen,  in  der  achten  Hall)- 
zeile,  deren  Behandlung,  wenigstens  für  die  Handschriften- 
frage,  weitaus  der  wichtigste  Punct  von  Bartschs  metrischen 
Beobachtungen  ist.  Auch  hier  besteht  das  Verhältnis,  dass,  wenn 
zwischen  zweiter  und  dritter  Hebung  die  Senkung  fehlt,  die 
zweite  Hebung  mindestens  gleich  hohen  logischen  Ton  mit  der 
dritten  haben  muss ;  so  dass  ein  ungemein  häufiger  Fall  der  ist, 
dass  diese  beiden  Hebungen  auf  ein  Wort  fallen.  Die  Structur 
verändert  sich  je  nach  der  Silbenzahl  des  Wortes,  das  den  Vers- 
schluss  bildet.  Häufig  ist,  dass  ein  einsilbiges  Wort  am  Schlüsse 
steht,  welchem  ein  dreisilbiges  mit  der  Betonung  A  ^  vorangeht, 
dessen  zweite  Silbe  jedoch  auch  ein  unbetontes  e  sein  kann, 
das  durch  den  Versbau  Betonung  erhält.^')   Ferner  kann  der  Vers 


hundert  zurückweisen,  und  in  dieser  Hinsicht  ist  Müllenhotfs  Heispiel  der 
Betonung  vHcrjcnde  unrichtig:  aber  eine  grössere  Alterthümlichkeit  als  die, 
welche  in  der  Behandlung  später  klingender  Reime  als  zweimal  gehoben 
liegt,  sind  sie  nicht;  und  vielleicht  hat  Müllenhoff  das  gemeint.] 

48)  Ueberhaupt  ist  nach  Bartsch  Regel,  dass  eine  Senkung  zwischen 
zwei  Silben  nur  dann  fehlen  darf,  wenn  die  erste  logisch  mindestens  ebenso 
betont  ist  wie  die  zweite. 

49)  Abgesehen  von  der  des  vierten  Verses. 

50)  Welche  aber  vielmehr  2  Hebungen  bUden;  dieselben  erscheinen  im 
dritten  und  vierten  Verse  nicht,  s.  Bartsch,  Unters.  149  150. 

51)  Somit  ist  zu  lesen  (Str.  .3,  4): 

zierten  (indcriu  fvip ,  nicht  wie  Lachmann  wollte:  zierte»  nnden'u  ivtp.  — 
Ausserdem  stehen  an  dieser  Stelle  sehr  häutig  adjj.  auf  liehe,  wo  C  gegen- 


1.    Die  Handschriftenfrage.    Die  vorhandenen  Thcorieen-  5S 

mit  einem  zweisilbigen,  jambisch  betonten  Worte  schliessen, 
dem  ein  zweisilbiges,  trochäisch  betontes  mit  langer  Penultima 
vorangeht.  C  weicht  hier  öfters  von  der  Form  mit  fehlender 
Senkung  ab,'^)  auch  die  andere  Bearbeitung  manclnnal. 

In  allen  diesen  Fällen  kann  über  den  Rhythmus  kein  Zweifel 
sein :  es  fehlt  deutlich  die  Senkung  zwischen  zweiter  und  dritter 
Hebung.  Schon  die  miter  die  beiden  aufgezählten  Fälle  gehö- 
renden zahlreichen  Stellen  würden  darlegen,  dass,  wenn  über- 
haupt eine  Senkung  ausgelassen  werden  soll,  die  Auslassung 
an  dieser  Stelle  als  Regel  gilt.  Es  wird  auch  dann  über 
diese  Betonung  kein  Zweifel  herrschen  können,  wenn  die  zweite 
Hebung  auf  ein  einsilbiges  Wort  fällt,  Avelches  logisch  höher 
betont  ist  als  das  folgende.'^) 

Es  fragt  sich  aber,  ob  die  Senkung  nicht  auch  an  einer^ 
anderen  Stelle  des  achten  Halbverses  fehlen  könne.  Wäre  das 
Fehlen  derselben  zAvischen  erster  und  zweiter  Hebung 
erlaubt,  so  Avürden  sich  ohne  Zweifel  solche  Fälle  finden,  in 
welchen  auf  ein  die  erste  Hebung  allein  einnehmendes  Substantiv 
oder  Adjectiv  die  Partikel  iinde  folgen  würde.^^j  Diss  ist  auch 
der  Fall  in  A  264;  allein  da  dort  die  besseren  Handschriften 
abweichen,  so  ist  die  Lesart  von  .4  als  durch  blosse  Nachlässig- 
keit entstanden  zu  betrachten.  Auch  sonst  finden  sich  die 
meisten  Fälle  nur  in  .4,  und  alle  Fälle  dieses  unerlaubten  Ge- 
brauches lassen  sich  beseitigen.  Zwischen  dritter  und 
vierter  Hebung,  wo  in  der  zweiten,  vierten  und  sechsten  Halb- 
zeile die  Senkung  fehlt,'' )  fehlt  sie  in  der  achten  Halbzeile  nie ;  ^'^j 
darum  sind  auch  die  klingenden  Reime  auf  die  erste  und  zweite 
Zeile  beschränkt. 


über  von  111  gemeinsamen  Fällen  51  mal  glättet  oder  die  Bearbeitungen 
stärker  abweichen  (s.  auch  Bartsch  in  Pf.  Germ.  XIII,  227);  auch  adjj.  auf 
—ige\  ferner  sehr  häutig  Namen  von' der  Form  i\  w. 

52)  An  S9  Stellen  gegenüber  von  300  gemeinsamen. 

h'.\)  Z.  B.  gab  er  ros  ünt  gewünt;  überhaupt  diejenigen  Fälle,  in  denen 
auf  die  zweite  Hebung  ein  einsilbiges  Substantiv  (oder  Adjectiv)  fällt,  dem 
die  Partikel  unde  nachfolgt. 

54i  Was  in  den  anderen  Halbzeilen  häufig  der  Fall  ist. 

55)  D.  h.  in  zweiter,  dritter  und  sechster  Halbzeile  zwischen  der  zwei- 
ten und  dritten  Hebung,   so  dass  am  Schluss  sich  zwei  Hebungen  folgen. 

•5ti)  Allerdings  finden  sich  am  Schluss  der  achten  Halbzeile  in  C  die 
Worte  Dietrich  und  spthuän;  aber  diese  sind  dreisilbig  zu  lesen  [s.  die  Con- 
troverse  zwischen  Bartsch  und  Zarncke,  Pf.  Germ.  XIII,  231  und  447  f.]; 
in/  steht  falsch  ivhjanl;  mABD  helmhant,  was  aber  zu  lesen  hi hehnebant. 


54  !•    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

Kanu  aber  eine  einzige  Senkung  nur  an  einer  Stelle  dieser 
Halbzeile  fehlen,  so  gibt  es  nur  einen  Fall,  in  welchem  das 
Fehlen  mehrerer  Senkungen  erlaubt  ist,  wenn  nemlieh  die  drei 
ersten  Hebungen  der  achten  Halbzeile  auf  ein  Wort  fallen, 
dessen  Betonung  in  absteigender  Linie  geht  (z.  B.  Str.  1997,  4: 
der  7nört(irrmtn)(je  mdn)-^  aber  keiner  der  Fälle  ist  gemeinsam. 

Das  Resultat  dieser  Untersuchung  ist,  dass  für  den  achten 
Halbvers  nur  zwei  Formen  zulässig  sind:  entweder 
werden  alle  Senkungen  ausgefüllt  oder  wird  die 
zwischen  zweiter  und  dritter  Hebung  ausgelassen. 
Wichtig  ist  aber  dieser  Punct  für  die  Handschriftenfrage  da- 
durch ,  dass  nach  Bartsch  der  Dichter  die  entschiedene 
Neigung  hat,  jene  Senkung  auszulassen,  die  Be- 
.arbeiter  aber,  und  ganz  besonders  C,  dieselbe  aus- 
zufüllen suchen.")  Es  hat  aber  die  Erscheinung,  dass  die 
Senkung  gerade  nur  an  dieser  Stelle  fehlen  darf,  ihren  Grund 
in  der  musicalischen  Wirkung  des  Strophenschlusses,  welcher 
durch  diese  Form  etwas  feierlich  Verhallendes  erhält. 

Die  Untersuchung,  welche  Lachmanns  Metrik  in  einem 
wesentlichen  Puncte  als  falsch  darstellt,  beweist  zugleich  die  Roh- 


[Das  Mhd.  'Wörterbuch  führt  nur  hehnbant ,  nicht  helmehant  an;  da  aber 
auch  helme,  als  schwaches  subst.,  vorkommt,  so  ist  letztere  Form  be- 
rechtigt; sie  wird  ausserdem  durch  andere  Compositionen  mit  hebne- 
gestützt.] 

57)  Bartsch  sucht  diss  an  einigen  statistischen  Zahlen  nachzuweisen: 

Beide  Bearbeitungen  haben  die  Senkung  nicht 913  mal; 

Dazu  die  Fälle,  wo  ein  e  zu  elidieren hl  mal; 

C  füllt  aus  etwa 210  mal; 

Beide  Bearbeitungen  weichen  im  Texte  ab.  füllen  aber  nicht  aus        5."J  mal; 

I  füllt  aus.  C  nicht 33  mal; 

Dasselbe  bei  abweichendem  Reim 20  mal; 

I  füllt  nicht  aus  bei  abweichendem  Reim 71  mal; 

Zusammen  1352 
Fälle,  wo  für  das  Original  die  Form  mit  fehlender  Senkung  vorausgesetzt 
werden  darf;  wahrscheinlich  ist  nun,  dass,  wo  die  Originalform  verloren  ist, 
dieselbe  die  Form  mit  fehlender  Senkung  gehabt  habe.  Bei  abweichendem 
Reime  haben  grossentheils  beide  Bearbeitungen  die  Senkung  ausgefüllt,  nem- 
lieh S7  mal,  wobei  die  Form  mit  fehlender  Senkung  für  das  Original  höchst 
wahrscheinlich  ist;  dasselbe  wird  auch  gelten,  wenn  die  Bearbeitungen  bei 
beiderseits  ausgefüllter  Senkung  anderswo  als  im  Reime  abweichen,  was 
S6  mal  der  Fall  ist.  die  Addition  dieser  S7  -}-  S6  =  173  Stelleu  zu  den 
obigen  1352  ergibt  1525  Stelleu.  wo  die  Senkung  im  Original  gefehlt  haben 
wird,  also  etwa  zwei  Drittel  aller  Strophen. 


1.     Die  Handschriftenfrage.     Die  vorhandenen  Theoriccn.  55 

lieit  der  Handschrift  A,  welche  auch  noch  besonders  hervortritt 
in  dem  in  .1  häufigen  Erscheinen  von  nur  drei  Hebungen 
in  der  achten  Halbzeile.  Dieser  Fehler  findet  sich  indes 
vereinzelt  auch  in  besseren  Handschriften,  wobei  oft  die  Halb- 
zeiie  scheinbar  vier  Hebungen  hat,  deren  erste  al)er  zu  schwach 
ist,  um  ohne  die  (fehlende)  nachfolgende  Senkung  eine  Hebung 
bilden  zu  können.  Gemeinsam  ist  aber  keiner  dieser  Fälle.  Die 
Fehler  in  .4  sind  zum  grösten  Theile  durch  Auslassung  von 
Wörtern  zu  erklären. 

Den  fehlerhaft  verkürzten  Halbzeilen  stehen  auch  fehler- 
haft verlängerte  gegenüber.  So  vordere  Vershälften  in  .1 
und  -ß;  weit  häufiger  aber  sind  die  hinteren  Vershälften  ver- 
längert."*) Simrocks  Annahme,  dass  diese  Fälle  Ueberreste 
einer  älteren  Form  seien,  welche  in  allen  Halbzeilen  vier  He- 
bungen gehabt  habe,  ist  unrichtig;  ebenso  die  Holtzmanns''), 
dass  alle  Halbzeilen  mit  klingendem  Reim  vier  Hebungen  haben ; 
denn  wenn  so  die  achte  Halbzeile  nicht  ganz  streng  von  der 
zweiten,  vierten  und  sechsten  geschieden  wäre,  so  wäre  kein 
Orund  vorhanden,  das  Vorhandensein  von  nur  drei  Hel)ungen 
für  die  achte  Halbzeile  auszuschliessen ;  beides  miteinander  aber 
miiste  jeden  regelmässigen  Strophenbau  zerstören.®")  Die  An- 
nahme von  vier  Hebungen  muss  also  auf  einzelnen  handschrift- 
lichen Fehlern  beruhen,  was  auch  durch  die  Vergleichung  der 
Lesarten  an  den  betreffenden  Stellen  bewiesen  wird. 

9)  Der  letzte  Punct ,  welcher  bei  der  Untersuchung  über  das 
Fehlen  der  Senkungen  in  Betracht  kommt,  ist  die  Behandlung 
der  Cäsur.  Dieselbe  ist  meistens  klingend,  d.  h.  zwischen  der 
dritten  und  vierten  Hebung  der  ersten  Vershälfte  fehlt  die  Sen- 
kung in  der  Regel.     Doch   ist  diss  keineswegs  immer  der  Fall, 


öS)  Der  letztere  Fall  ist  nur  einmal  gemeinsam,  Str.  22üit,  2,  wo  wahr- 
scheinlich durch  die  Annahme  einer  etwas  freiereu  Construction  im  Original, 
welche  die  Bearbeiter  zu  entfernen  suchten,  die  fehlerhafte  Verlängerung 
zu  erklären  ist  [s.  Bartsch,  Unters.  161;  anders  emendiert  Holtzmann,  wäh- 
rend Zarncke  die  La.  von  C  beibehält].  Sonst  finden  sich  diese  Fälle  nur 
in  einzelnen  Hss.,  bald  in  einer  einzigen  (C,  .5, /)),  bald  in  mehreren  (6'ö,  ^^Z>). 

59)  Holtzmann,  Unters.  74. 

60)  [Holtzmanns  Ansicht  ist  besonders  verkehrt;  denn  auch  die  klingen- 
den Yersausgänge  werden  im  Nibelungenliede  zwei  Hebungen  gleich  ge- 
rechnet, unterscheiden  sich  also  gar  nicht  von  den  stumpfen;  somit  miiste 
Holtzmann  consequenter  "Weise  da-s  Vorhandensein  von  vier  Hebungen  auch 
für  die  stumpf  reimenden  HalbzeUen  gelten  lassen.] 


56  I-    PJe  Entstehuni  des  Xibelungenliedes.  ■ 

und  die  Fälle,  wo  diese  Senkung  ausgefüllt  ist,  beweisen,  dass 
der  vordere  Halbvers  immer  vier  Hebungen  haben  muss.'") 

Laclimanns  Regeln  über  die  Behandlung  der  Cäsur  sind 
total  verkehrt  und  beruhen  nur  auf  Fehlem  der  Handsqhrift  ^1. 
(Dieselben  sind:  1)  es  können  in  der  Cäsur  die  dritte  und  vierte 
Hebung  auf  ein  Wort  von  zwei  kurzen  Silben  fallen;^'-)  2)  ein 
Wort  von  zwei  verschleiften  kurzen  Silben  kann  die  vierte  Hebung 
nur  dann  bilden,  wenn  es  in  Composition  als  Grundwort  steht.)") 
—  Denn  beide  Kegeln  widersprechen  sich  in  ihren  Grundlagen:  darf* 
komen  als  einzelnes  Wort  nur  gleich  zwei  Hebungen  gebraucht 
werden,  wozu  unorganische  Verlängerung  des  o  nöthig  ist,  so 
ist  nicht  einzusehen,  warum  dasselbe  Wort  in  der  Zusammen- 
setzung, in  dem  Worte  irülekomen  etwa,  nur  eine  Hebung 
bilden  soll.  Beide  Regeln  Lachmanns  beruhen,  wie  bemerkt, 
auf  den  Fehlern  von  A,  welche  oft  Wörter  mit  kurzer  Penul- 
tima  in  Cäsur  setzt,  was  fehlerhaft  auch  andere  Handschriften, 
aber  nur  vereinzelt,  thun.®') 

Allerdings  gibt  es  gewisse,  aber  auch  nur  gewisse  ganz 
bestimmte  Wörter,  deren  Penultima  verlängert  werden  darf,  um 
dieselben  in  Cäsur  setzen  zu  können;  diss  sind: 

1)  Die  Namen  Günther,  Giselher,  Sk-rit,  wo  in  der  Cäsur 
gelesen  werden   darf:    Günthere,    Giselhere^.  Sivride-/'^)    2)   das 

GM  Abgesehen  von  den   gewöhnlichen  klingenden  Cäsaren  sind  hier  zu 
unterscheiden  folgende  Fälle: 

1)  Die  Senkung  fehlt,  aber  die  letzte  Silbe  hat  einen  > betonten  Vocab 
also  stampfe  Cäsur:  so  am  häutigsten  bei  Xamen:  Slrrit,  Gxnther  u.  ä. ; 
auch  die  Adjectivendung  -iu,  welche  im  zwölften  Jahrlmndert  noch  keinen 
klingenden  Reim  bildet,  im  dreizehnten  nur  vereinzelt;  ausserdem  noch  ver- 
schiedene andere  "VV ortformen  an  dieser  Stelle; 

2)  die  Senkung  ist  zwar  ausgefüllt,  aber  die  letzte  Silbe  hat  tonloses 
e:  Hagen'e,  körnende^  da  solche  Wörter  als  klingende  Reime  verwendet  wer- 
den, so  werden  diese  Cäsuren  als  klingend  bezeichnet  werden  dürfen; 

3|  die  Senkung  ist  ausgefüllt,  die  letzte  Silbe  hat  kein  tonloses  e. 
Dahin  besonders  Namen,  wie  Sujemünt,  BUcdelhi  u.  a. ;  auch  andere  Wör- 
ter, besonders  solche,  die  im  dreizehnten  Jakrhuudert  einsilbig  sind,  im 
zwölften  aber  noch  zweisilbig  [areheit ,  spUenum).  Dabei  darf  die  letzte 
Silbe  aus  zwei  verschleifteu  bestehen  iivUlekomen),  was  auch  erlaubt  ist, 
wenn  die  Senkung  vor  der  vierten  Hebung  fehlt  {vrith6ve)\ 

4)  die  letzte  Hebung  ist  ein  einsilbiges  AVort. 
(32)  Also  z.  ß.   sihi'H  =  /\  u.  ä.  m. 

63)  Also  sivesterstme ,  aber  nicht  Hannen  sxnxe. 

64)  BD  einmal ,   D  achtmal,   J  dreimal,   C  dreimal  durch  Schreibfehler. 

65)  C  entfernt  h  —  7  mal   gegenüber  von    über  10   gemeinsamen  Fällen 
das  Wort  Sivride  aus  der  Cäsur.    [Vgl.  Germania  XIH,  24o.] 


1.    Die  Haiidschriftenfrage.    Die  vorhaiKleiicn  Theorieen.  57 

im  Mhd.  allgemein  so  behandelte  Wort  pälas,  ohnehin  ein 
Fremdwort;  3i  das  Wort  hlttcn,'^^}  in  welchem  die  Verdoppelung 
des  t  organisch  ist;*'")  4)  die  Formen  //(^tf^  u.  s.  w.  gehören 
eigentlich  nicht  daher,  weil  fast  allen  Dichtern  mehrere  FouBien 
des  })r}iet.  von  /tahe/i  geläufig  sind.  Aber  diese  wenigen  Asis- 
nahmen  bestätigen  nur  die  Regel,  nach  welcher  als  dritte  und 
vierte  Hebung  der  ersten  Vershälfte  nur  ein  AVort  mit  langer 
Penultima  dienen  kann.'") 

Das  Enjambement  in  der  Cäsur,  eigentlich  dem  Wesen 
derselben,  als  eines  Ruliepunctes,  zuwider,  ist  nicht  selten,  auch 
im  gemeinsamen  Texte.  Es  fehlt  öfters  in  C,  manchmal  mit 
Recht;  am  häufigsten  ist  es  in  ^4."") 

r)  Den  letzten  Theil  der  metrischen  Beobachtungen  bei 
Bartsch  bildet  die  Behandlung  des  Reims,  soweit  sich  der- 
selbe innerhalb  der  in  der  Zeit  des  genauen  Reims  erlaubten 
Freiheiten  hält.  Der  Reim  eines  kurzen  Vocals  auf  den  ent- 
sprechenden langen  ist  nicht  selten ,'°)  auch  der  eines  kurzen 
Vocals  auf  einen  verwandten  Diphthong.'')  Nicht  unwichtig  für 
die  Handschriftenfrage  ist  der  rührende  Reim.  Da  derselbe 
von  den  guten  Dichtern  der  classischen  Zeit  meist  sorglältig 
gemieden  wird,   so  ist  er  auch  im  Nibelungenliede  nicht  häufig. 


(')t))  1193,  1,  von  CD  entfernt. 

07)  Das  Mhd.  W.  B.  (I  16S'')  sagt:  ..Wenn  auch  in  den  Hss.  häufig  tt 
neben  einfachem  t  stellen  mag,  so  entscheidet  der  Reim  doch  durchaus  für 
das  einfache  ^".  ,,Im  Präsens  ist,  wie  schon  ahd.,  die  schwache  Form 
eingetreten;  es  lautet  aber  nicht  mehr,  =  ahd.  p/tjt<,  .bitte',  sondern  viel- 
mehr ,bite''\     [S.  dagegen  Germania  XIII,  2o5.] 

OS)  Den  besten  Beweis  dafür  liefert  der  häufige  Fall,  dass  das  zu  einem 
Substantiv  gehörige  Adjectiv  nachgestellt  wird  und  in  die  Cäsur  tritt,  wenn 
das  Substantiv  kurze  Penultima  hat  (so  1078,  2:  Kriemhilt  ir  schaden  grdzi'u), 
wobei  alsdann  A  aus  Vorliebe  für  die  prosaische  Wortstellung  (s.  ö.  41) 
das  Adjectiv  voranzustellen  liebt  (a.  a.  0.:  KriemhUl  ir  grözi:n  schaden).  Es 
ist  bekannt,  dass  das  Gefühl  für  Quantität  immer  mehr  abstarb;  daraus, 
dass  A  die  Verletzung  dieser  am  häufigsten  hat,  geht  deutlich  das  junge 
Alter  und  die  Unbrauchbarkeit  dieser  Hs.  hervor. 

69)  Die  noch  stärkere  Verletzung  der  Abschnitte  durcli  Hinüberziehen 
des  Satzes  über  das  Strophenende  s.  u. 

70)  Besonders  a:a,  was  auch  sonst  ganz  unanstössig  ist,  aber  von  V 
2  mal  entfernt  wird,  jedoch  sich  in  einer  Plusstrophe  von  C  findet;  e :  e 
i  mal  in  I,  1  mal  in  C;  o  ■■  o  nur  in  einer  Plusstrophe  von  C. 

71)  i:ie  ist  österreichisch  ganz  ohne  Anstoss;  u:uo  in  sun-.tuon  ist 
h  mal  gemeinsam,  5  mal  in  L\  2  mal  in  I. 


58  I-    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

Gemeinsam  allen  Texten  sind  nur  wenige  Beispiele;""^)  ziemlich 
viele  aber  finden  sieh,  wo  bald  die  eine  bald  die  andere  Be- 
arbeitung den  rührenden  Reim  hat.  Durchschnittlich  wird  der- 
selJie  als  das  UrsprüngHche  anzusehen  sein,  das  die  Bearbei- 
tungen änderten,  um  dem  strengeren  Gebrauche  ihrer  Zeit  zu 
folgen.") 

Neben  den  metrischen  Eigenthümlichkeiten  der  einzelnen 
Texte  benutzt  Bartsch  noch  verschiedene  andere  Hilfsmittel,  um 
das  Verliältnis  derselben  zu  bestimmen.  Dahin  gehören  zunächst 
die  s  p  r  a  c  h  1  i  c  h  e  n  E  i  g  e  n  t  h  ü  m  1  i  c  h  k  e  i  t  e  n ,  soweit  sie  durch 
Reime  gesichert  sind.  Es  ist  indes,  schon  weil  das  Nibelungen- 
lied rein  oberdeutsche  Sprache  hat,  hier  nicht  viel  zu  gewinnen.'') 
Manches  weist  auf  österreichischen  Ursprung  hin."') 

Wichtiger  für  die  Kritik  ist  der  Wort  bestand  des  Liedes. 
Auch  in   diesem  Puncte  ist,   wie  in  den  metrischen  und  Reim- 


72)  Gar  kein  Fall,  wo  Wörter  von  ganz  gleichem  Klang  reimen  würden, 
sondern  nur  Composita  auf  Simplicia,  Namen  auf  Appellativa. 

73)  In  I  14,  in  II  9  P'älle;  in  B  und  C  -1  mal,  entschieden  echt;  einige- 
male  A,  aber  unrichtig.  Instructiv  ist  1433,  l.  2,  wo  ßJ  den  rührenden 
Reim  haben,  den  C  und  AD,  unabhängig  von  einander,  beseitigen. 

74)  a  steht  statt  o  einmal  gemeinsam,  einmal  echt  in  C;  e  reimt  öfters 
auf  t'';  Abwerfung  von  e  im  Reim  kommt  nach  langem  Vocal  nur  vor  in 
miU  und  klein,  nach  kurzem  in  den  "Wörtern,  M-elche  auf  S]):ril  reimen; 
0  statt  %i  haben  Cd  einmal;  ei  =  arje  oder  ege  ist  sehr  häufig;  ou  für  iu 
kann  nicht  bewiesen  werden;  xio  statt  u  findet  sich  in  duo-.fruo  2  mal, 
wahrscheinlich  alterthümlich,  da  2.w(i\i  Gcrndl :  iuot  vorkommt  (s.  not.  12)  und 
owio  eine  im  12.  Jahrhundert  nicht  seltene  Bindung  ist.  ch  steht  einige- 
mal im  Auslaut  statt  c,  aber  nur  nach  /  und  r\  h  wird  nur  iu  iahen  aus- 
geworfen; vor  l  steht  h  statt  c  im  partic.  und  prtet.  schwacher  Verba  mit 
Rückumlaut.  Flexion:  ob  si  lang  gebraucht  wird,  ist  nicht  sicher;  nieman 
nur  in  A,  aber  falsch,  sonst  -en\  gen.  -annes  von  6'  geändert;  kein  ist  nicht 
gemeinsam,  sondern  nur  dehein;  neben  dri  auch  drie ;  II.  pl.  vom  Verbum 
hat  -t,  nicht  -nl;  UI.  sg.  von  werden  lautet  ?virdet  und  fvi?-t;  prjet.  von 
schrien  ist  schre ,  nicht  schrei;  (jän  und  st  an  sind  häufiger  als  die  Formen 
mit  «'.  im  conj.  nur  t';  gie  ist  häufig,  lie  häufiger  als  liez,  welches  5  mal 
vorkommt,  worunter  einmal  nur  C\  gegangen  im  Cäsurreim.  gegan  im  End- 
reim; ebenso  gestanden  und  geslän;  gesin  und  gewesen  als  inf.  neben  s)n 
und  tvesen,  II.  pl.  ir  sil  und  irhirt;  megen  inf.  6' unecht,  der  Dichter  brauchte 
wohl  die  Formen  mit  J,  ü  und  die  mit  a,  e  promiscue:  wellen:  du  wil,  ir 
weit,  7vellet,  I.  und  III.  pl.  einsilbig  1  mal  C,  1  mal  BDJ,  sonst  zweisilbig. 
Partikeln:  tner  und  m^  öfters;  mere  4  mal  im  Binnenreim  (darunter 
2  Plusstr.  von  C);  sit,  sinf,  sider  sind  alle  drei  durch  Reime  belegt;  ebenso 
sä  und  siin. 

75)  So  der  Reim  von  a  auf  o  [s.  aber  Zarncke.  Ausg.  CXIII],  d  h  a 
statt  o;  duo  ist  österreichisch  häufig 


1.     Die  Handschriftentrage.    Die  vorhandenen  Theorieen.  59 

Gesetzen  zwischen  dem  zwölften  und  dem  dreizehnten  Jahr- 
hundert ein  beträchtlicher  Initerschied.  Es  erloschen  im  drei- 
zehnten verschiedene  dem  zwölften  noch  ganz  geläufige  Wörter; 
dieses  Symptom  zeigt  sich  zuerst  im  ritterlichen  Epos,  im 
höfischen  Volksepos  erhielt  sich  manches  Alte  noch  länger. 
Si)ätere  Handschriften  entfernen  dann  dasselbe  häutig,  und  diss 
ist,  wie  es  bei  anderen  Dichtern  nachweislich  ist,  so  auch  beim 
Nibelungenliede  anzunehmen.')  Dabei  kommt  aber  nicht  bloss 
die  Alterthümlichkeit  in  Betracht,  sondern  auch  metrische 
Rücksichten. 

Zunächst  werden  betrachtet  a  1 1  c  r  t  li  ü  m  1  i  c  h  e  Worte  u  n  d 
Wort  f 0  r  m  e  n.  Die  Synkopierung  von  dreisilbigen  Superlativen, 
wie  /jczzisic',  r/u'-sfe,  (//-(/'z-fs/f,  ist  etwa  seit  1200  erfolgt")  In 
manchen  Fällen,  wo  die  Bearbeitungen  von  einander  abweichen, 
werden  diese  Formen  wohl  von  denselben  entfernt  worden  und 
daher  in  den  Text  zu  restituieren  sein.'**)  Ebenso  werden  noch 
andere  alte  Formen  zu  erschliessen  sein  aus  den  Abweichungen 
der  Bearbeitungen,  welche  eben  zur  Vermeidung  der  Alterthüm- 
lichkeiten  den  Text  änderten.")  Neben  diesen  Altcrthümlich- 
keiten,  welche  nur  zu  vermutheu  sind,  haben  sich  al)er  auch 
noch  solche  in  den  Bearbeitungen  erhalten,  bald  in  der  ersten, 
bald  in  der  zweiten,^")  bald,  doch  seltener,  in  beiden.*') 


7(5)  So  entfernen  z.  B.  die  späteren  Bearbeitungen  der  Maria  und  des 
Roland  neben  den  Alterthiimlichkeiten  im  Reim  auch  viele  im  Wortbestande. 

77)  Bei  beste  schon  früher:  crest  findet  sich  noch  in  Hss.  des  13.  Jahr- 
hunderts; (jro?zisie  haben  sogar  die  Bearbeiter  meist  beibehalten.  Es  sind 
aber  im  zwölften  Jahrhundert  diese  Formen  noch  zum  Iteime  auf  -iste  tauglich. 

78)  So  z.  B.  15S(),  4  ÄBDJrj:  so  ich  aller  beste  kau,  a  (Lücke  von  C): 
mit  triwen  so  ich  beste  kan;  offenbar  ursprünglich  :  so  ich  bezziste  km; 
ähnlich  226,  1  ABJ :  ze  ernest  iint  ze  strite,  C:  ze  vorder  st  an  dem  strite ; 
offenbar  ursprünglich:  ze  er  est  an  dem  strite:  die  vulgata  verschrieb,  wäh- 
rend C,  die  dem  Gebrauch  ihrer  Zeit  gemäss  ze  erst  an  dem  strite  las, 
ändert,  um  die  Senkung  auszufüllen  [doch  ist  ^  I '  <^  1 1  auch  in  C  keine  seltene 
Form]. 

79)  So  s»me  statt  satn ,  sainet  statt  samt ;  von  tviii  ist  zu  erschliessen 
aus  den  handschriftlichen  Lesarten  dxrh  waz ,  war  umbe,  wä  von  (a  hat 
einmal  von  wen);  ebenso  nach  fviit  aus  ähnlichen  Lesartenverschiedenheiten. 
So  erschliesst  Bartsch  an  ganzen  Wörtern  das  Wort  taren  =  „schaden"  zur 
Herstellung  von  Assonanzen  (s.  auch  Bartsch  in  Pf.  Gei-m.  XIII,  S.  224). 

50)  [C  hat  entschieden  den  Vorzug,  die  meisten  derselben  aufzuweisen ; 
s.  das  Verzeichnis-  not.  Sl  und  s.  o.  §.  6,  not.  63]. 

51)  Bartsch  führt  an:  berjfgene  statt  enfjefjene ,  meist  in  C;  zegcfjene 
einmal  I,  einmal  II;  ei<jendiu  \im'  BÜ;  (/edi'jene  nur  einmal  gemeinsam,  sonst 


60  I-    Die  Entstehung  des  ^'ibelungenliedes. 

]\Iiiider  sicher  ist  die  Entscheidung  über  den  ursprünglichen 
Wortlaut  in  den  Fällen,  wo  es  sich  nur  um  seltene  Worte 
oder  seltenen  Wort  gebrauch  handelt.  Auch  hier  war 
öfters  eben  die  Seltenheit  Grund  zur  Aenderung,  welche  bald 
von  der  einen  bald  von  der  andern  Bearbeitung  vorgenommen 
wurde;  ötters  aber  waren  auch  andere  Gründe  zur  Aenderung 
vorhanden/-)  Abgesehen  von  den  beiden  Bearbeitungen  gemein- 
samen seltenen  Wfirtern  tinden  sich  dieselben  in  beiden  einzeln 
ungefähr  in  gleicher  Zahl. 

Auch  darin  weichen  die  Bearbeitungen  nicht  selten  von 
einander  ab,  dass  dieselben  Wörter  von  ähnlicher  Bedeu- 
tung unter  e  i  n  a  n  d  e  r  v  e  r  t  a  u  s  c  h  e  n ,  welche  weder  als  selten 
noch  als  eigenthümlich  gebraucht  erscheinen  können.  Mitunter 
mag  hier  der  Grund  der  Abweichung  darin  liegen,  dass  das 
Original  einen  älteren,  im  dreizehnten  Jahrhundert  obsoleten 
Ausdruck  enthielt,  welcher  von  beiden  Bearl)eitungen,  unabhängig 
von  einander,  in  die  Sprache  von  1100 — 12(i(i  übersetzt  wurde.*'^) 
Wo  diese  Annahme  nicht  statthaft  ist,  ist  natürlich  zwischen  den 
abweichenden  Lesarten  zu  wählen  und  der  minder  gewöhnlichen, 
der  prägnanteren,  mehr  episch  gefärbten  der  Vorzug  zu  geben.'"') 

in  C,  in  dem  Sinne  wie  im  Xib.  Lied  kommt  das  Wort  nur  noch  im  12.  Jahr- 
hundert vor;  ^t'r/i')i  c.  gen.  (nur  noch  einmal  im  Rother  [s.  Holtzmann, 
Unters.  53  f.]);  herte  =  ..Schulterblatt"  in  C,  im  13.  Jahrhundert  veraltet; 
hiint  =  hundert,  was  von  Lachmann  für  A  angenommen  wurde,  ist  falsch, 
weil  viel  zu  alt;  iniende,  (',  ist  im  13.  Jahrhundert  veraltet;  ilenixuve.  \ on  AJ 
einigemal  entfernt;  <jena(jclte  pfelle  C ;  niemanne,  acc,  gesichert,  meist  in  6'; 
ob  die  2 silbige  Form  von  niht  dem  Dichter  geläufig  war,  ist  unsicher;  statt 
niun  noch  niivcn,  was  der  Schreibfehler  niivan  beweist;  riUer  ist  in  den 
Hss.  2 silbig,  es  finden  sich  aber  noch  Spuren  der  im  13.  Jahrhundert  ver- 
alteten dreisilbigen  Form;  tai-en  =  ..schaden"  (s.  not.  SO),  zur  Gewinnung 
von  Assonanzen  zu  vermuthen,  handschriftlich  nicht  erhalten;  vürwisc  I.  tir- 
ivise  II  beweisen ,  welches  nun  echt  sein  möge ,  beide  das  hohe  Alter  des 
N.  L.;  wine  =  „Gattin"  ist  im  13.  Jahrhundert  obsolet,  findet  sich  im  N.  L. 
2  mal,  als  masc.  l  mal  gemeinsam,  sonst  in  einzelne^,  Hss. 

S2)  Besonders  metrische  oder  Assonanzen  des  Originals. 

83)  So  nimmt  Bartsch  das  alte  Wort  magen  an  für  die  handschriftlichen 
Abweichungen  zwischen  kraß,  eilen,  slerke;  so  ruochen  [was  indes  ein  im 
X.  L.  häufiges  Wort  ist]  für  die  Abweichungen  zwischen  wellen  und  (fern  ; 
so  liehen  für  die  zwischen  fjevallen  und  behaijen. 

S4)  Von  besonderer  Wichtigkeit  für  die  Hss.-Frage  ist  hier  nur  der  Wechsel 
der  Wörter  helt,  degen,  rilter,  herre  und  rceke.  recke,  deyen  und  helt  wur- 
den in  der  höfischen  Poesie  des  13.  Jahrhunderts  fast  gar  nicht  mehr  oder 
doch  meist  nur  in  bestimmten  Bedeutungen  und  Beziehungen,  nicht  wie  im 
N.  L.   als  blosse  epitheta  ornantia,  gebraucht.     Es  lässt  sich  bei  der  ver- 


1.    Die  Handschriftenfrage.    Die  vorhandenen  Tlieorieen  61 

Unwesentlich  sind  diejenigen  Wortvertauscbimgen ,  welche 
graphischer  Natur  sind'*'');  von  grösserer  Wichtigkeit  dagegen 
sind  die  Vertauschungen  von  Wörtern  aus  metrischen 
Or linden.  Hier  war  von  dem  grösten  Einflüsse  das  Bestreben 
die  Senkungen  auszufüllen,  besonders  in  C,  was  sich  am  deut- 
lichsten zeigt  an  den  Adjectiven  auf  -lieh  und  auf  -ic  (ec), 
welche  von  C  wegen  des  in  ihnen  häufigen  Zusammeustossens 
zweier  Hebungen  oft  vermieden  werden.  Die  Aenderungsversuche 
sind  aber  auch  hier  keineswegs  einseitig  auf  Seiten  von  <';  nur 
ändert  C  consequenter.  Sonst  hat  C  noch  manche  Vertauschungen 
zu  Gunsten  der  Ausfüllung  von  Senkungen  aufzuweisen. 

Ebenfalls  dieser  Ausfüllung  dient  die  Einschiebung  von 
Worten,  welcher  auf  der  anderen  Seite  die  Auslassung  von 
Worten  gegenübersteht.  Auch  hier  steht  C  nicht  einseitig  da. 
Natürlich  werden  meist  einsilbige  Wörter  eingeschoben  und 
solche  von  unwichtiger  Art,  wie  besonders  Partikeln,  doch  auch 
einige  zweisilbige;  oder  es  werden  statt  eines  Wortes  zwei 
andere  gesetzt,  welche  denselben  Sinn  geben.  Das  Auslassen 
von  Wörtern  lässt  sich  am  sichersten  von  A  behaupten,  welche 
davon  die  zahlreichsten  Beispiele  bietet.  - 

Liliencrou  hat^")  der  Handschrift  C  eine  „Abneigung" 
gegen  gewisse  Wörter  und  Wendungen  zugeschrieben,  aus  welcher 
er  verschiedene  Abweichungen  zwischen  den  Bearbeitungen  zu 
erklären  sucht.  Diese  Annahme  ist  schon  priucipiell  unwahr- 
scheinlich und  wird  es  noch  mehr  dadurch,  dass  unter  den  Aus- 
drücken, gegen  welche  die  Abneigung  von  C  gerichtet  sein  soll, 

sciiiedenen  metrischen  Beschaffenheit  der  fünf  Wörter  ('  oder  ^^,  ^^,  /w, 
/ '-'.  /  ^ )  aus  dem  Bestreben ,  die  Senkungen  auszufüllen,  welches  besonders 
in  ('  herrscht,  manche  Variation  des  Ausdrucks  erklären.  So  setzt  C  statt 
des  im  13.  Jahrhundert  einsilbigen  /le/t  nicht  selten  einen  der  andern  vier  Aus- 
drücke ;  doch  fehlt  es  an  Belegen  des  Gegentheils  nicht.  Metrische  Gründe  kön- 
nen auch  bei  der  Yertauschung  \on  drffrn  und  ntlcr,  dcocn  und  rucki,  gewaltet 
haben.  In  einem  Fall  wird  sich  das  Erste  sicher  finden  lassen,  wenn  nem- 
lich  die  (uralte)  AUitteration  von  hell  und  haut  sich  findet,  und  C  statt  hell 
ein  anderes  Wort  setzt.  In  solchen  Fällen  ist  natürlich  helt  die  echte  Les- 
art; aber  abgesehen  von  diesen  Fällen  und  von  denjenigen,  wo  metrische 
Gesichtspuncte  ins  Spiel  kommen,  lässt  sich  das  Echte  nicht  mehr  entscheiden. 

>5)  Dahin  besonders  der  Wechsel  von  mit  und  unt,  wobei  C  meistens 
imt  hat;  am  meisten  tritt  in  diesem  Abschnitte  hervor  die  häutige  Ver- 
wechselung von  tür  und  turn,  wo  immer  Metrum  und  Sinn  das  letztere 
Wort  verlangen  und  wo  nur  />  immer  das  Echte  bewahrt  hat  (das  Nähere 
s.  Bartsch,  Unters.  223,  224). 

S6)  [S.  Seite  27]. 


62  I.    Die  Entstellung  des  Nibelungenliedes. 

fast  lauter  ganz  gewöhnliche  und  gebräuchliche  sind;  begreiflich 
und  häufig  ist  die  Vorliebe  eines  Dichters  für  gewisse  Wen- 
dungen. Aber  Lilieucrons  Behauptung  wird  durch  den  That- 
bestaud  vollständig  widerlegt.  Von  allen  bei  ihm  aufgeführten 
"Wörtern  und  Redensarten  hat  C  mehrfache  Beispiele,  ja  C  hat 
viele  derselben  mitunter  an  Stellen,  wo  dieselben  in  den  andern 
Handschriften  fehlen.*')  Etwas  anderes  ist  es  natürlich,  wenn 
aus  metrisciien  Gründen  in  C  gewisse  Wcirter.  in  denen  zwei 
Hebungen  zusammenstossen,   seltener  sind. 

Umgekehrt  aber  ist  es  natürlich,  dass  auch  in  den  Ausdrücken 
der  Bearbeitungen,  denen  ja  die  Umänderung  der  alten  Asso- 
nanzen vielfach  noch  weiter  gehende  Veränderungen  der  Verse 
nothwendig  machte,  manches  vom  Sprachgebrauche  des  Dichters^ 
wie  er  aus  den  gemeinsamen  Partieen  sich  ergibt,  Abweichende 
begegnet,  in  welchem  sich  die  Vorliebe  jedes  Bearbeiters  für 
gewisse  Ausdrücke  manifestiert.^**) 

Ebenso  werden  auch  viele  den  Bearbeitern  mit  dem  Original 
gemeinsame  Wörter  von  den  Bearbeitungen  in  einem  beson- 
deren Sinne  gebraucht.  Diese  Abweichungen  sind  nicht 
so  aufzufassen,  als  ob  die  betreifenden  Wendungen  dem  Dichter 
unmöglich  gewesen  wären;  ihr  Nichtvorkommen  im  Original  ist 


87)  Die  bei  Liliencron  angeführten  Ausdrücke  sind  folgende:  al ,  aller 
vor  Superlativen;  hcginneii  c.  inf.  als  blosse  Umschreibung  des  verb.  finit. ; 
edele,  liep,  gxiot  als  auszeichnende  Epitheta;  küene  als  Epitheton  von  Sieg- 
fried; nche  =  „kostbar";  die'Vw/t;.  harte,  rehte,  sere .  starke  bei  Häufung 
von  Adverbien;  das  Adjectiv  künde;  vritint  =  tnan  oder  mac :  pflegen  = 
,.handeln",  ..verfahren";  ^Mon  in  gewissen  Verbindungen.  Alle  diese  Aus- 
drücke sind  C  ganz  geläufig.  Eine  einzige  Behauptung  Liliencrons  hat  einen 
gewissen  Grund,  die  nemlich,  dass  C  die  Bezeichnung  schcene ,  auf  ältere 
Frauen  bezüglich,  entferne;  allein  an  den  betr.  Stellen  ändert  öfters  nicht 
allein  6',  sondern  auch  J  oder  D;  A  hat  zweimal  allein  diese  Bezeichnung. 
Verliert  schon  dadurch  die  Behauptung  Liliencrons  an  Werth,  so  kommt 
dazu,  dass  C  auch  da,  wo  dieser  specielle  Anlass,  das  adj.  schcene  zu  ent- 
fernen, nicht  vorlag,  das  Wort  nicht  hat,  so  dass  Liliencrons  Satz  sich  selbst 
aufhebt. 

&S)  So  hat  z.  B.  C  eine  besondere  Vorliebe  für  folgende  Wörter:  angesl 
und  angestllcli  (weil  =  /  ^,  /^');  behagen  (gemeinsam  3nial,  A  imal,  I  Imal, 
C  4mal;  doch  wohl  nicht  echt,  vielmehr  [s.  not.  S3]  das  alte  Wort  liehen  zu 
vermuthenj;  gar  (Ausfüllwort);  ger  (Imal  gemeinsam,  C  3mal,  aber  nicht 
echt);  jänier  MnH  jamerhaft  (weil  =  /w,  /^  ;  gemeinsam  Utmal,  C  ISmal); 
lohesum  (gemeinsam  Imal,  I  Imal,  C  4mal);  riuwe  (gemeinsam  Imal,  C'2mal); 
?r/M/i'f  (metrische  Rücksichten,  =  /  o) ;  mit  vrüuden ;  zu/it  (zum  Theil  metrische 
Pdicksichten) ;  Umschreibungen  durch  mit;  tvert  als  ehrendes  Epitheton. 


1.    Die  Handschriftenfrage.    Die  vorhandenen  Tlieoriccn.  63 

ein  Zufall,  aber  immerhin  ein  charakteristisclier.''')  Ausserdem 
findet  sich  in  den  Bearbeitungen  noch  eine  ziemliche  Anzahl  von 
Wörtern,  welche  dem  Original  fehlen."")  Mit  wenigen 
Ausnahmen  sind  jedoch  dieselben  nicht  besonders  selten  oder 
auffallend.  Manche  mögen  dem  Original  zu  vindicieren  sein,  die 
meisten  aber  sind  durch  selbständige  Aenderung  der  Bearbeiter 
in  den  Text  gekommen. 

Verschiedene  Abweichungen  zwischen  den  Handschriften 
zeigen  sich  ferner  in  der  kSyntax.'-")  Das  Verhältnis  der  Hand- 
schriften ist  hier  dasselbe,  wie  in  den  anderen  Puncten :  das  Echte 
ist  nicht  auf  Seiten  einer  einzigen  Bearbeitung,  sondern  es  hat 
sich,  aus  dem  Original  herüber,  bald  in  der  einen  bald  in  der 
anderen  erhalten.  C",  durch  planmässigere  Glättung  als  vollkom- 
menere und  geschmackvollere  Handschritt  sich  darstellend,  steht 
doch  im  allgemeinen  dem  Original  ferner,  als  die  vulgata. 
-1  bietet  wideruni  den  nachlässigsten  Text,  doch  nicbt  ohne  ab- 
sichtliche Aenderungen.  Auch  von  einigen  syntaktischen  Eigcn- 
thinnlichkeiten  behaujjtet  Liliencron  eine  Abneigung  bei  C]  diss 
sind  1)  die  Setzung  des  pron.  er  und  seiner  Formen,  um  pleo- 
nastisch  einen  folgenden  Begriff  im  voraus  anzudeuten;  2)  Tau- 
tologieen  und  Widerholungen ,  3)  die  Sätze  mit  „  leichter  Ironie ", 
welche  gerade  eine  Eigenthüinlichkeit  des  Nibelungenliedes  seien. 
Alle  diese  Behauptungen  sind  falsch;  denn  pleonastisches  er 
findet  sich  ohne  metrische  NothAvendigkeit  in  einer  Plusstrophe 
von  C;  Tautologieen  und  Widerholungen,  welche  in  der  vulgata 
fehlen,  hat  C  in  ziemlicher  Zahl;  die  ironischen  Sätze  finden 
sich  vielfach  nur  in  C.'^) 

Auch  in  der  Behandlung  der  Namen  des  Nibelungenliedes 


89)  Manches  Singulare  im  AVortgeb rauch  tiudet  sich  in  beiden  Be- 
arbeitungen, nur  nicht  gemeinsam,  noch  mehr  nur  in  beiden  einzeln ;  Bartsch 
zählt  für  i?  II,  für  C  35  dem  Original  fremde  Wortgebriuiche  auf. 

90 1  Gemeinsam  sind  beiden  Bearbeitungen  5  solche  Wörter,  der  ersten 
Bearbeitung  eigen  3,  der  zweiten  7.  Noch  zahlreicher  sind  die  «rr«!  alot^utm 
beider  Texte,  d.  h.  die  Wörter,  welcher  nur  in  einer  Bearlieitung  vor- 
kommen und  auch  in  dieser  nur  einmal;  in  I  überhaupt  tinden  sich  42 
HTial  ei^r,utya,  in  mehr  als  einer  Hs.  von  IS,  in  /^  allein  3,  in  Jf  und  / 
mehrere,  in  A  allein  27  (was  von  der  moderneren  P'ärbung  dieser  Hs.  her- 
rührt, welche  jüngere,  lyrische  Ausdrucksweisen  und  Formen,  was  die  ott. 
iiQ.  von  A  meist  sind,  liebt);  in  H  tinden  sich  a7T.  eio.  44,  in  CJ  2. 

91)  Vieles  bieher  Gehörige  lässt  sich  noch  unter  den  besonderen  Wort- 
gebrauch der  einzelnen  Bearbeitungen  subsumieren. 

92)  S.  auch  Dresse],  Charakter  Kriemh.  etc.  S.  S. 


64  I.    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

zeigt  sich  gewissermaasseii  das  Verhältnis  der  Dichtungsgattung 
des  Originals  zu  der  der  Bear])eititugen.  Denn  in  der  ritter- 
lichen Poesie  des  dreizehnten  Jahrhunderts  wurden  die  Namen 
weit  sparsamer  verwendet,  als  im  Volksepos,  und  eine  Spur 
dieser  Verschiedenheit  findet  sich  auch  in  dem  Verhältnis  des 
Nibelungen-Originals  zu  seinen  Bearbeitungen,  In  den  letzteren 
sind  öfters  Namen  entfenit,  die  wohl  im  Original  standen,  doch 
nicht  allein  aus  jenem  sozusagen  ästhetischen  Grunde,  sondern 
häufig  auch  aus  anderen,  vorzugsweise  metrischen  Gründen, 
zumal  bei  den  zahlreichen  Nameu,"^)  in  welchen  zwei  Hebungen 
zusammenstossen.''^)  Zugleich  aber  finden  sich  einzelne  Namen 
in  den  Bearl)eituugen,  welche  das  Original  nicht  keunt.''^) 

Von  grosser,  ja  von  der  grössten  Wichtigkeit  für  das  Hand- 
schriftenverhältnis ist  endlich  die  Verschiedenheit  des  .S  t  r  o  - 
p  h  e  n  b  e  s  t  a  n  d  e  s.  Es  sind  hier  zwei  Hauptgruppen  von  Strophen 
zu  unterscheiden: 

1)  solche,  welche  alle  Handschriften  ausser  ^4  haben  ;^^) 

2)  solche,  welche  die  Bearbeitung  C  allein  hat. 

Die  ersteren  werden  nach  dem  Bisherigen,  nach  welchem 
Uebereinstimmung  von  B  und  C  Zeichen  der  Echtheit  ist,  als 
echt  gelten  müssen.   Die  Betrachtung  ihres  Inhalts  führt  zu  nichts; 


93)  So  die  Namen  Däiicrvärt,  Etzel  (in  den  cas.  obliq.),  Gernöt,  Hdriene, 
Kriemhilt,  Sivrit ,  Völker,  Wölfhärt .  Dietrich,  G>'oit/ia\  Ortnnn.  PninhUt, 
Bi'irgdiideu  u.  a.  m. 

94 )  Beide  Bearbeitungen  entfernen  sich  manchmal  ohne  einen  anderen  denk- 
baren Grund  als  die  allgemeine  Abneigung  gegen  oftmalige  Nennung  von  Namen. 
Aus  metrischen  (xründen  werden  dieselben  natürlich  von  C  am  häufigsten 
entfernt.  Auch  stehende  epische  Formeln  und  Verbindungen  von  Namen 
entfernen  die  Bearbeiter;  z.  B.  die  Formel  Hagene  von  Tronege  ist  in  C 
öfters  entfernt.  Ersichtlich  wird  ein  Name  von  den  Bearbeitern  getilgt,  wenn 
der  Redende  sich  selbst  nennt  oder  der  Name  des  Angeredeten  in  einem 
anderen  Casus  als  im  Vocativ  steht:  ebenso  wird  ein  Name  entfernt,  wenn 
schon  vorher  Bezug  auf  ihn  genommen  ist. 

9.5)  Dieselben  sind:  Dancrät  (nur  in  Str.  7  gemeinsam,  sonst  nur  in  C\\ 
Lörse  (in  C);  Plcaelingen  (C)\  Otenhein  iC'l;  Olemvalt  (C):  WincUnt  (C. 
Sigelint  B:  in  C  wohl  geändert,  weil  Sigclint  schon  der  Name  von  Siegfrieds 
Mutter  war);  ///  (nicht  in  C);  ^ider/ende  [A);  yortvcrge  i nicht  in  C\; 
Tre'isenmiire  und  Zeizenmüre  (Treis.  ist  offenbar  das  Richtige  und  auch  das 
Echte,  was  Zarncke  treffend  nachgewiesen  hat;  aber  Z.s  Schlüsse  auf  das 
Alter  der  vulgata  sind  falsch,  weil  diese  aus  anderen  Gründen  älter  als 
Nitharts  Gedichte  ist  [s.  o.  S.  lo.  24.  20  f.]). 

9b)  [Ueber  die  ungleichmässige  Vertheilung  dieser  Lücken  über  das  Ge- 
dicht s.  Seite  14  (§  ti,  not.  15)].  Sodann  fehlen  in  AJ  2  Strophen,  in  B  AJ 
eine,  alle  diese  echt  und  durch  graphische  Verseheu  ausgelassen. 


1.    Die  Handscliriftenfrage.    Die  vorhandenen  Theoriecn.  65 

denn  die  Hiiizufiig'ung  entbehrlicher  Strojjhen  ist  ebenso  denkbar 
wie  deren  Auslassung-.  Gegen  die  Pk-htheit  der  in  A  fehlenden 
Stro])hon  l)cwcist  die  Entbehrlichkeit  derselben  nichts.'^"  i  Grai)hi- 
sclie  Erklärung  der  Auslassung  passt  auf  etwa  ein  Drittel  der 
in  .1  fehlenden  Stro])heu.'")  Zweimal  führt  eine  von  A  weg- 
jrelassene  Strophe  den  Satz  weiter.  Hier  ist  natürlich  l)eabsich- 
tigte  Auslassung  in  .1  wahrscheinlich;  denn  auch  sonst  vermeidet 
A  dieses  Hinüberlaufen  des  Sinnes.  Ein  weiterer  Grund  für 
die  Echtheit  dieser  Stroi)hen  ist,  dass  dieselben  in  jeder  Hin- 
sicht ganz  vollkommen  mit  dem  Gebrauch  in  den  gemeinsamen 
Strophen  übereinstimmen.  Insl)esondere  finden  sich  in  denselben 
g-anz  die  nendichen  üifit'erenzen  zwischen  den  Bearbeitungen,  W'ie 
in  den  allen  Handschriften  gemeinsamen  Strophen.  Die  metrische 
Behandlung,  besonders  die  der  letzten  Halbzeile,  ist  ganz  die- 
selbe, ebenso  die  der  Namen  und  des  Reims.  Einiges  Abweichende 
zeigt  sich  allerdings  im  Wortbestande  °^),  ist  aber  zu  unbedeutend 
gegenüber  der  sonstigen  vollkommenen  Uebereinstimmung. 

Ganz  anders  verhält  es  sich  mit  den  Strophen,  welche  nur 
der  Bearbeitung  C  eigen  sind.  Nur  einmal  ist  eine  graphische 
Erklärung  möglich,  v»arum  eine  Plusstrophe  von  C  in  der  vul- 
gata  ausgetallen  sein  könnte.'"")  Dabei  ist  der  Charakter  der 
Plusstrophen  von  C  und  der  der  gemeinsamen  sehr  verschieden. 
Die  Senkung  zwischen  zweiter  und  dritter  Hebung  der  achten 
Halbzeile  fehlt  nur  in  \<j  der  Plusstrophen  von  C"")  Daneben 
zeigt  sich  unverkennbare  Vorliebe  für  den  Cäsurreim.'"-)  Die 
Verschiedenheiten  im  Wortbestande  gegenüber  den  gemeinsamen 
Strophen  sind  nicht  unbedeutend.'"*)     Es  ist  daher  kein  Grund 

97)  Denn  gerade  da,  wo  in  A  die  meisten  Strophen  fehlen,  hat  A  auch 
die  meisten  Fehler. 

9s)  Bald  -war  es  gleicher  Strophenanfang,  bald  gleiches  Strophenende, 
vas  den  Schreiber  irreleitete. 

99)  Zwanzig  /<.t«|  noi^utva,  aber  nur  2  mal  abweichender  Gebrauch  von 
auch  sonst  vorkommenden  Wörtern. 

100)  Str.  423''. 

101)  Auch  sonst  ist  das  Fehlen  von  Senkungen  selten;  drei  liebungen 
ohne  Senkung  vor  der  Cäsur  linden  sich  in  den  320  Zeilen  S  mal,  in  den 
A  fehlenden  Strophen  dagegen  (=  256  Zeilen)  14  mal;  sonst  fehlende 
Senkungen  in  25  Zeilen;  also  etwa  '  is.  Eine  andere  metrische  Abweichung 
sind  die  geraden  Halbzeilen  zu  4  Hebungen. 

102)  Derselbe  kommt  19  —  20  mal  vor,  worunter  4  ganz  durchgereimte 
Strophen. 

103)  34  rcTit^  ttorjifi  n  und  39  sonstige  Abweichungen  von  dem  gemein- 
samen Wortgebrauche. 

Fisclier,  Nibelungenlied.  5 


CO  I-     I)ie  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

vorhanden,  dem  Prineip  gegenüber,  dass  nur  das  beiden  Bearbei- 
tungen Gemeinsame  echt  sei,  die  Echtlieit  dieser  Plusstrophen 
zu  behaupten. 

Am  nächsten  in  Beziehung  auf  die  Behandlung  des  Metrums 
und  den  Sprachgebrauch  stehen  den  Plusstrophen  von  C  die- 
jenigen 20  Stroi)hen,  welche  sich  neben  C  auch  in  der  Gruppe 
J  finden.  Diese  Grappe  gehört  aber  der  vulgata  an;  es  ist 
somit  nur  die  Annahme  möglich,  dass  der  Schreiber  des 
Originals  dieser  Grupi)e  neben  dem  Text  der  vulgata  auch 
einen  nach  der  Eedaction  C  vor  sich  hatte.  Ob  derselbe  nun 
diese  80  +  20  =  100  Strophen  alle  in  dieser  Handschrift 
vorfand,  oder  ob  seine  Vorlage  bloss  eben  die  20  enthielt, 
die  er  in  seinen  Text  aufnahm,  lässt  sich  nicht  mehr  entscheiden. 
Im  letzteren  Falle  wäre  eine  Doppelredaction  der  Bear- 
beitung (' anzimehmen,  indem  der  Bearbeiter  erst  eine  kleinere 
Anzahl  (20),  dann  eine  grössere  Menge  (80)  von  Strophen  zu- 
gedichtet hätte.  Für  diese  Annahme  sjjricht  eine  wirklich  vor- 
handene formelle  Verschiedenheit  zwischen  den  Plusstro])hen 
von  C  und  denen  von  C  J  :  den  in  den  ersteren  so  häufigen 
Cäsurreim  haben  die  letzteren  gar  nicht. "'^) 

Ergeben  somit  die  äusseren  Gründe  die  Unechtheit 
der  Plusstro])hen  von  C  und  J,  was  waren  dann  wohl  die 
inneren  Gründe,  aus  welchen  diese  Strophen  zugesetzt  worden 
sind?  Bei  den  meisten  derselben  lässt  sicji  nur  im  allgemeinen 
die  seit  dem  Ende  des  zAvölfteu  Jahrhunderts  herrschende  Neigung 
zu  ausmalenden,  erweiternden  Schilderungen  anführen.  Daneben 
wurden  Un Wahrscheinlichkeiten  der  Darstellung  entfernt, 
zum  Theil  selbständig,  zum  Theil  aus  der  wirklichen  Sage  und 
ihrer  damaligen  Gestaltung  heraus.'"')    Es  lässt  sich   aber  auch 

104)  I Dieses  Argument  beweist  nichts;  denn  /  scheint  überhaupt  eine 
Abneigung  gegen  den  Cäsurreim  zu  haben,  da  sie  alle  durchgereimten  Strophen 
entfernt  (s.  Zarncke,  Ausg.  CXVIII);  es  können  also  Casurreime  in  den 
Plusstrophen  von  /  auch  deshalb  fehlen,  weil  /  keine  Strophen  mit  Cäsur- 
reim aus  C  aufnahm.  Eigenthümlich  ist  jedenfalls  die  Annaiime.  dass  der 
Bearbeiter  von  C  zuerst  20  Strophen  ohne  jeden  Cäsurreim  gedichtet  habe, 
dann  80  mit  vielen  solchen  Keimen.  Der  Bearbeiter  C  soll  doch  nach 
Bartsch  sonst  in  metrischen  Dingen  so  consequent  sein;  woher  hier  diese 
Inconsequenz  ?  —  Es  ist  also  wohl  besser  anzunehmen,  dass  die  20  Strophen 
von  J  aus  C  ausgewählt  sind.] 

10.5)  So  hat  C  UnWahrscheinlichkeiten  beseitigt  durch  die  Plusstrophen 
475''<^;  2057  "^  [s.  aber  über  diese  Str.  Zarncke,  Beitr.  S.  240  ff.  und  Zarncke 
in  Pf  Germania  IV,  S.  4.37  ff.];  22 '\ 


1.   Die  Ilaudschriftenfrage.    Die  vorliaiidcncn  Theoriccn.  07 

noch  eine  positive  Quelle  anführen,  aus  welcher  C  geschöpft 
hat.  Diss  ist  dii'  Klage.  C  sucht  nemlich  die  Angaben  dieser 
mit  den  nianchmnl  etwas  abweichenden  des  Liedes  zu  ver- 
einigen, iibcrliaui)t  beide  Gedichte  in  näheren  Contact  zu  bringen. 
Daher  sind  aus  der  Klage  mehrere  einzelne  Züge  in  den  Text 
des  Liedes  nach  C  gekommen,  welche  dann  C  als  hier  schon 
vorhanden  in  der  Klage  ausliess.'"*')  Insbesondere  aber  ist  nicht 
nur  Manches  im  Stile  des  Liedes  durch  den  Einfiuss  der  Klage 
gefärbt,'"^)  sondern  die  ganze  Auftassungsweise  von  Kriemhilds 
Verfahren,  ihre  Absicht,  die  Brüder  zu  schonen  und  nur  Hagen 
an  das  Leben  zu  gehen,  die  Idee  ihrer  Treue  gegen  Siegfried 
als  des  Motivs  ihrer  Rache,  stammt  aus  der  Klage.'"') 

Gegenüber  den  Plusstrophen  von  C  stehen  die  38,  welche 
die  vulgata  vor  C  voraus  hat.  Dieselben  stehen  in  Hinsicht  des 
Metrums  und  Wortgebrauchs  auf  demselben  Standpuncte  wie  die 
in  .1  fehlenden,  wären  also  darnach  als  echt  zu  betrachten, 
wenn  nicht  dem  eben  das  Fehlen  in  C  widerspräche,  da  ja  nur 
das  Gemehisame  echt  sein  soll.  Auch  geht  das  Bestreben  von 
C  sichtlich  dahin,  das  Gedicht  zu  bereichern;  es  ist  also  un- 
wahrscheinlich, dass  C  diese  Strophen,  wären  sie  im  Original 
vorhanden  gewesen,  getilgt  haben  würde. 


1()6)  So  hat  C  die  Notiz,  dass  Etzel  Renegat  gewesen,  aus  Kl.  4*)1  ff. 
in  das  N.  L.  Str.  1201''  gebracht,  jene  Stelle  der  Klage  sodann  auslassend; 
ebenso  hat  C  die  Stelle  Kl.  1^40  ff.,  wo  Lorsch  als  Utes  Wohnsitz  genannt 
wird,  gekürzt,  weil  sie  diese  Xotiz  in  das  X.  L.  Str.  10S2''"'  anfgenommcn 
hatte;  ebenso  wurde  Kl.  1953— lOO:}  ausgelassen,  weil  N.  L.  222S  anticipiert. 
—  Eine  Parallele  für  dieses  voru-zusetzen  und  hinten-weglassen  s  Bartsch 
in  Pf.  Germania  XIII,  229. 

lOI)  [Dahin  zählt  Bartsch  u.  a.  den  Schluss  des  X.  L. :  daz  ist  der 
Xibiiioiffc  lü-l,  welcher  aus  dem  Schlüsse  der  Klage  entlehnt  sei.  Diss  will 
nicht  recht  einleuchten.  Wie  brauchte  C,  um  diesen  einfachsten  und  ge- 
wöhnlichsten aller  Liederschlüsse  anzubringen,  ihn  aus  der  Klage  zu  ent- 
lehnen? Gewiss  leuchtet  W.  Grimms  Ansicht  mehr  ein,  nach  welcher  C 
änderte,  weil  N.  not  nur  auf  den  zweiten  Theil  zu  passen  schien.] 

lOS)  So  stammen  aus  der  Klage  die  Str.  1775'';  2023'';  1S37''.  — 
[Schematisch  lässt  sich  das  Verhältniss  zwischen  Kl.  und  N.  L.  nach  Bartschs 
Ansicht  etwa  so  darstellen: 

Orig.-Xib.  Orig.-Kl. 


I.-Xib.  II.-Nib^^-,^      I.-KI. 

11.  Kl.] 


ßS  I-     Die  Entstehung  dos  Nibelungenliedes. 

Unwesentlich  ist  die  Betrachtung  der  in  einzelnen  anderen 
Handschriften  fehlenden  oder  nur  in  einzelnen  stehenden  Strophen. 

Das  Resultat  der  Untersuchung  ist  also:  1)  Die  nur  in  ^4 
fehlenden  Strophen  sind  echt.  2)  Die  nur  in  C  stehenden 
Strophen  sind  unecht.  3)  Die  in  C  fehlenden  Strophen  sind 
uneclit. 

Für  das  Gesammtverhältnis  der  Texte  folgt  auch  hieraus 
wider,  dass  B  dem  Original  näher  steht  als  C;  ebenso  auch, 
dass  der  Titel  des  Originals  de?'  Xibehirnje  not  war,  da  die 
letzte  Strophe  von  C  aus  der  Klage  stammt. '°'') 

Hatte  schon  die  Betrachtung  der  Stroplienditfercnz  auf  die 
Klage  und  ihr  Verhältnis  zum  Nibelungenliede  getiihrt,  so 
zieht  Bartsch  jenes  Gedicht  noch  besonders  und  ausdrücklich  in 
den  Kreis  seiner  Forschung.  Auch  die  Klage  ist  in  C  anders 
überliefert  als  in  der  vulgata,  und  die  Unterschiede  zwischen 
den  Bearbeitungen  sind  im  wesentlichen  dieselben  wie  im 
Nibelungenliede.  Es  finden  sich  noch,  bald  in  C  bald  in  Z>', 
alterthümliche "°)  und  ungenaue'")  Reime;  ebenso  häufige  Ab- 
weichungen der  Bearbeitungen  im  Reime,  die  aber  grösser  und 
schwerer  auf  das  Echte  zurückzuführen  sind  als  beim  Nibelungen- 
lied, weil  die  freiere  Form  der  Reimpaare,  welche  leicht  zu 
handhaben  war,  umfassendere  Aenderungen  möglich  machte  und 
wirklich  hervorgerufen  hat,  als  die  schwerfällige  Strophenform. 
Diese  Verhältnisse  führen  auch  hier  auf  die  Annahme  einer 
doppelten,  s  e  1  b  s  t  ä  n  d  i  g  e  n  U  m  a  r  b  e  i  t  u  n  g  a  u  s  f  o  r  m  e  1 1  e  n 
Gründen;  so  dass  das  Verhältnis  der  Bearbeitungen  hier  das- 
selbe   ist    wie    im  Nibelungenliede."')     Dieses   Verhältnis    wird 


109)  [S.  not.  107;  nach  Bartsch  sollen  überhaui^t  die  Ausdrücke  dieser 
letzten  Strophe  in  C  der  Reilio  nach  aus  denen  des  Schlusses  der  Klage  ge- 
nommen sein.  Und  doch  soll  C  einen  nicht  unfähigen  Mann  zum  Verfasser 
haben;  wie  soll  einem  solchen  zuzutrauen  sein,  dass  er  ganze  Strophen  aus 
Worten  eines  anderen  Gedichts  zusammengesetzt  habe?] 

11(1)  So  die  Heime  ä  :  «',  no  :  iie,  welche  beweisen,  dass  zur  Zeit  der 
Abfassung,  wenigstens  in  den  betr.  Wörtern,  noch  a  und  lio  gesprochen 
wurde;  ferner  partic.  praet.  auf  —  dt,  ptc.  pra?t.  auf  —  unde ;  superl. 
iJiiniiist  u.  ä. 

111)  So  die  Reime  ougen  :  rjclouhen;  TVicnen  :  niemen  C;  darinne  : 
(jrimme  ABT);  srvester  :  laster  ABD;  Itenden  :  tvinden  a;  tagen  :  begrabe» 
BDJ  (A  und  C  ändern)  u   a. 

112)  [Und  natürlich  wird,  da  die  Unterschiede  von  B  und  ('hier  die- 
selben sind  wie  im  Nibelungenliede,  diese  dopi'.elte  Umarbeitung  denselben 
Bearbeitern  zuzuschreiben  sein,  welche  das  Nibelungenlied  umarbeiteten;  die 


1.     Die  Handschriftenfrage.    Die  vorhauJeuen  Theorieen.  OU 

bestätigt  durch  die  noch  nach  12(10  erlaubten  lieimfreiheiten."^) 
Weisen  so  beide  Bearbeitungen  auf  ein  älteres,  gemeinsames 
Original  hin,  st)  weist  der  gemeinsame  Text  beider  Bearl)citungen 
auf  ein  noch  älteres  Buch  hin,  aus  dem  der  Dichter  der  Klage 
geschöpft  habe.  Diese'fe  Buch  ist  offenbar  das  alte  Nibelungen- 
lied; die  dagegen  vorgebrachten  Gründe  sind  nichtig,"';  hin- 
gegen sprechen  zahlreiche  Uebereinstimmungen  auch  in  ganz 
einzelnen  Dingen,  Avie  im  Wortlaut  vieler  Stellen,  dafür.  Die 
umtängreiche  Zusammenstellung,  welche  Bartsch  von  diesen 
gibt,"^)  beweist,  1)  dass  auch  der  erste  Theil  des  Liedes  dem 
Verfasser  der  Klage  vorlag,"")  2)  dass  auch  die  nach  Laehmaun 
unechten  Strophen  in  demselben  enthalten  waren,  ehe  die  Klage 
gedichtet  wurde;  dass  also  das  Nibelungenlied  vor  1180  ver- 
fasst  sein  muss,  da  das  Verhältnis  der  Bearbeitungen  in  der 
Klage  das  Original  derselben  etwa  in  das  Jahr  1180  verweist. 
Es  fällt  aber  auf,  dass  die  Ausdrücke  des  Nibelungenliedes  in 
C  genauer  zu  denen  der  Klage  stimmen,  als  die  in  der  vulgata. 
Daraus  würde  die  Priorität  von  C  für  das  Lied  folgen,  wenn 
nicht  die  nachgewiesene  Unechtheit  der  Plusstrophen  von  C 
bewiese,  dass  diese  Bearbeitung  für  das  Nibelungenlied  mehrfach 
aus  der  Klage  geschöpft  hat.  Ueberhaupt  steht  auch  in  der 
Klage  C  dem  Original  ferner  als  B. 

Nachdem  somit  alles  auf  das  von  Bartsch  aufgestellte  Ver- 
hältnis zwischen  Bearbeitungen  und  Original  bestätigend  hin- 
gewiesen, fragt  sich  noch  schliesslich,  welcher  Zeit  das 
Original,  welcher  seine  Bearbeitungen  angehören. 
Die  im  Liede  erhaltenen  Assonanzen  weisen  auf  die  Zeit  vor 
1150,"')  wii-  erhalten  aber,  wenn  wir  auch  an  allen  Stellen, 
wo  die  Reime  der  Bearbeitungen   auseinandergehen,  Assonanzen 

Klage  war  also  mit  dem  N.  L.  schon  verbunden,  ehe  die  Doi)pelbearbeitung 
stattfand,  d.  h.  vor  1190;  s.  u.]. 

113)  a  :  ä  unangefochten;  e  :  c  von  jedem  Bearbeiter  einmal  beseitigt; 
/  :  /;  t»  .•  (5  C,  einmal  I.  Rührender  Eeim  häufig,  doch  nur  ein  gemein- 
samer Fall,  in  welchem  dasselbe  Wort  reimt. 

114)  [Gehört  in  die  Frage  nach  den  historischen  Autecedenzien;  s.  daher 
unten.] 

115)  S.  Untersuchungen  S.  339  ff. 

116)  [Gegen  Lachmauns  Ansicht;  s.  Lachmann,  Ueber  die  ursprüngliche 
Gestalt  etc.  §  12  tf. ;  Anmerkungen  S.  2SS  ff.] 

117)  [Dahin  weist  auch,  was  aber  in  die  Handschriftenfrage  nicht  gehört,  die 
Identität  des  Verfassers  des  N.  L.  mit  dem  der  kürenbergischen  Strophen,  welche 
Bartsch  behauptet  (s.  u. ) ;  s.  über  die  Frage  bei  der  Kritik  und  im  Nachtrage.] 


70  I-    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

annehmen,"*)  doch  noch  bei  weitem  nicht  so  viele,  als  ein  nm 
oder  vor  1150  verfasstes  deutsches  Gedicht  durchschnittlich  auf- 
zuweisen pflegt."")  Diese  Incongrnenz  weist  mit  Nothwendigkeit 
darauf  hin,  dass  zwischen  der  Originaldichtung  und 
den  beiden  uns  erhaltenen  Bearbeitungen  eine  erste 
Umarbeitung  stattgefunden  hat;  dieselbe  mag  etwa  um 
1170,  auch  1180,  anzusetzen  sein,  vielleicht  auch  sich  über  die 
Reime  hinaus  auf  die  Zudichtung  von  Strophen  erstreckt  haben.'-") 
Dass  in  noch  kürzerer  Zeit  das  Bedürfnis  einer  Umarbeitung 
empfunden  wurde,  in  jener  Zeit,  wo  sich  die  strengeren  An- 
sprüche an  die  poetische  Form  rasch  steigerten,  zeigt  die 
Litteraturgeschichte  des  zwölften  Jahrhunderts.'-') 

Was  die  Zeit  betrifft,  in  welche  die  beiden  letzten,  parallelen 
Umarbeitungen  fallen,  so  ist  dieselbe  nicht  später,  als 
1100 — 1200  anzusetzen.  Die  Bearbeitung  C  setzt  die  Klage 
voraus,  die  in  der  Gestalt,  welche  ihren  Bearbeitern  vorlag,  nicht 
nach  11  SO  fällt.  Diss  der  tcrmimis  a  quo]  der  terminus  ad  qucin 
lässt  sich  schärfer  bestimmen  1)  durch  die  Sprachformen  der 
Lassbergischen  Handschrift  (C);'--)  2)  dadurch,  dass  Wolfram  von 


US)  [Euie  übertriebene  Annahme;  denn  nach  Bartsch  lag  der  Grund 
der  Abweichungen  nicht  selten  in  Anderem ,  manchmal  wohl  in  Sinnesver- 
schiedenheiten, in  alterthümlichen  Ausdrücken  im  Keim  und  ausserhalb 
desselben,  öfters  auch  iu  einem  rührenden  Reim,  der  entweder  in  einer 
Bearbeitung  erhalten  oder  für  das  Original  anzunehmen  ist.] 

119)  [Werden  überall,  wo  die  ReimMorte  abweichen,  Assonanzen  ange- 
nommen, so  fallen  auf  das  ganze  Lied  (mit  den  noch  erhaltenen)  etwa  360 
Assonanzen  auf  etwa  4S00  Reimpaare,  also  eine  Assonanz  etwa  auf  12—13 
genaue  Reime.  (Einige  willkürlich  gewählte  Beispiele  bestätigen  ungefähr 
dieses  Verhältnis.  In  Avent.  II  kommen  (bei  allen  Reimverschiedenheiten 
Assonanzen  angenommen)  auf  46  Reimpaare  2  Assonanzen,  in  Av.  XIII  auf 
72  Reimpaare  2  Assonanzen,  in  Av.  XXIII  auf  70  Reimpaare  S  —  9  Asso- 
nanzen, in  Av.  XXYIII  auf  176  Reimpaare  10  —  12  Assonanzen.  In  dem 
unter  den  genaimten  Fällen  also ,  wo  am  meisten  Assonanzen  anzunehmen 
wären,  kommt  eine  Assonanz  auf  etwa  7  genaue  Reime.)  Dagegen  kommen 
iu  den  30  Reimpaaren  des  Kürenbergcrs  auf  13  Assonanzen  17  genaue  Reime; 
der  Küreubergcr  hat  also  etwa  zelin  mal  so  viel  Assonanzen  im  Verhältnis 
zu  den  genauen  Reimen,  als  das  Original  der  beiden  Bearbeitungen  des  X.  L.] 

120)  Woraus  sich  mehrere  kleinere  Widersprüche  des  Gedichts  einfach 
erklären  Hessen. 

121)  Es  wurde  z.  B.  Wernhers  Maria,  um  1170  gedichtet,  schon  zwischen 
11  SO  und  1190  umgearbeitet. 

122)  Z.  B.  habete,  helet,  welche  schon  im  ersten  Viertel  des  13.  Jahr- 
hunderts obsolet  waren.  Diese  Formen  lassen  sich  nicht  so  erklären ,  dass 
C  sie  aus  ihrer  Vorlage  herübergenommeu  hätte;  denn  jeder  Schreiber  über- 


1.     Die  Hamlschriltenfrage.    Die  vorhaiuleneii  Thcorioen.  71 

Esclienbaeh  im  achten  Buche  des  Parcival  eine  unverkennbare 
Bozieliunii'  auf  eine  l^lusstrophe  von  a  (d.  h.  C)  hat.'")  Das 
achte  Buch  des  Parcival  ist  etwa  um  1205  geschrieben,  und  um 
die  Anspielung  möglich  und  verständlich  zu  machen,  musste  die 
Bearbeitung  ('  damals  schon  einigermaassen  vcrl)reitet,  also 
doch  ein  paar  Jahre  alt  sein.'-')  Was  man  gegen  dieses  Alter 
von  C  gesagt  und  für  eine  spätere  Entstehung  geltend  gemacht 
hat,  ist  nicht  stichhaltig.  Das  Kloster  Lorsch  konnte  um  1 1 90 
eher  als  bedeutende  Abtei'")  genannt  werden  als  um  1220'-"); 
seine  Nennung  spricht,  wenn  der  Ausdruck  des  diiic  n'l  Jioke  an  (Ten 
stüt  nicht  blosses,  müssiges  Beiwort  ist,'-')  gerade  für  ein  hohes 
Alter  der  Bearbeitung  C.     Der  Beweis,   den  Liliencron  aus  der 

trug  ohne  weiteres  solche  Worte  in  die  ihm  geläufigen  Formen.  Es  muss 
also  C  in  einer  Zeit  geschrieben  sein ,  wo  jene  Formen  noch  nicht  veraltet 
waren,  d.  h.  um  1200;  die  diplomatische  Bestimmung  lässt  als  möglich  er- 
scheinen, dass  die  Handschrift  6'.  noch  dem  12.  Jahrhundert  angehöre 
[s.  Holtzmanu,  Unters.  S.  61]. 

\Ti\  Die  vielgenannte  Stelle  des  Parcival  (VIII;  420,  25)  lautet: 
wurdet  ir  mirs  nimmer'  holt, 
ich  Uete  e  als  Rümolt, 
derm  künic  Gunthere  riet, 
do  er  ron   Wormze  gein  den  Hiunen  sohlet: 
er  hat  in  lange  sniten  hccn 
nnd  inme  Kezzel  umhe  dram-. 
Diese  Stelle  kann  sich  nur  beziehen  auf  Nib.  1408'"^,  wo  a  (Lücke  von  C)  hat: 
Oh  ir  niht  anders  lictet  des  ir  müht  geleben, 
ich  ivolde  iu  einer  splse  den  vollen  immer  geben, 
sniden  in  öl  gehrouwen  :  de  ist  Ru/noldes  rat, 
slt  ez  sns  angestlichen  erhaben  da  zen  Hiunen  stät. 

Ich  ?»eiz ,  daz  min  frou  Kriemhilt  iu  nimmer  wirdet  holt. 

124)  [Zwingend  ist  dieser  Schluss  nicht;  möglich,  dass  die  ausführliche 
Erzählung  bei  Wolfram  eben  beweist,  dass  das  Gedicht  um  120.5  noch  nicht 
besonders  bekannt  war.] 

125)  S.  Nib.   10S2^  4: 

des  dinc  vil  hohe  an  eren  stät. 

126)  [In  welche  Zeit  etwa  Lachmann  C  versetzt  (schon  wegen  der  diplo- 
matischen Bestimmung  von  C  als  Handschrift  unmöglich).  Die  Daten 
für  die  Geschichte  von  Lorsch  sind  folgende: 

Früher  eine  mächtige  Abtei  (Brun,  Ottos  I.  Bruder,  war  Abt  von  Lorsch ; 
s.  Holtzmann,  Unters.  129),  verlor  Lorsch  1125  seine  besten  Ländereieu  und 
seit  1167  alle  Bedeutung,  nachdem  es  sich  unter  Heinrich  VI  (1153  — 1167) 
etwas  gehohen  hatte;  1229  verlor  es  sogar  seine  Selbständigkeit,  indem 
Gregor  IX.  Verwaltung  und  Reform  des  Klosters  dem  Erzbischof  Siegfried 
von  Mainz  übertrug;  s.  Lachmanu,  Anmerkungen  S.  51;  Holtzmanu,  Unters. 
S.  129.] 

127)  [Wie  so  viele  im  Epos  überhaupt   und  iu  den  Nibelungen  speciell] 


72  I-    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

metrischen  Beschaffenheit  von  C  führen  will,  class  nemlicli  für 
die  Zeit  um  oder  vor  1200  in  C  der  Versbau  schon  zu  sehr 
geglättet,  zu  viele  Senkungen  ausgefüllt  seien,  ist  ebenfalls 
nichtig;  denn  schon  in  Gedichten  aus  den  Jahren  1190 — 1200 
werden  die  Senkungen  in  umfassendem  Maasse  ausgefüllt.'-**) 
Da  nach  dem  Obigen  Wolfram  in  seinem  Parcival  C  benutzt  hat, 
so  kann  auch  Aziujouc  (Nib.  417'*,  2)  und  Zazamanc  (Nib.  353,  2) 
nicht,  wie  Lachmann  will,  aus  dem  Parcival  in  die  Nibelungen 
gekommen  sein,  sondern  nur  umgekehrt. 

Auch  die  Bearbeitung  AßDJ  ist  nicht  jünger  als  C.  Diss 
beweist  die  Str.  1292,  4  noch  gebrauchte  Form  des  Wortes 
riter  s.  ritter,^^^)  auch  die  durch  das  Metrum  geforderten  Formen 
heh't,  samet,  Giinthere,  heidere^  niemenne,  ('riste  u.  a.'^°)  Jeden- 
falls macht  Zarncke  '^')  die  Bearbeitung  zu  jung ;  seiner  Annahme 
widerspricht  schon  die  diplomatische  Bestimmung  der  Hand- 
schrift i>,  welche  diese  eher  vor  als  nach  12  40  weist. 

14. 

Bartschs  Untersuchungen  sind  die  letzte  über  die  Hand- 
schriftenfrage erschienene  Schrift.')  Er  hat  mit  denselben  viel- 
fach Anklang  gefunden,"-;  und  keine  grössere  Arbeit  ist  gegen 
seine  Theorie  erschienen.  Zarncke  ist  der  Einzige,  der  sich 
mehrmals  gegen  ihn  gewendet  hat;^)  seine  Einwände  werden 
unten  bei  der  Kritik  Bartschs  Erwähnung  und  Betrachtung  finden. 

128)  In  dem  in  diese  Zeit  fallenden  Gedicht  „Athis  und  Profilias  " 
kommen  S.  433  auf  33  Reimzeilen  nur  3,  denen  eine  Senkung  fehlt;  der 
niederrheinische  Morant,  zwischen  1190  und  1210  verfasst,  hat  weitaus  mehr 
Verse  ohne  fehlende  Senkungen  als  solche  mit  fehlenden.  [S.  auch  Zarncke, 
Ausg.  LI.] 

129)  Nur  B  hat  dort  das  Echte,  A  und  C  füllen  den  Vers  aus  durch 
Einschiebuug  eines  Adjectivs.  'Mag  nun  nlwre  oder  W/i';-i'  (so  B)  das  Echte 
sein,  jedenfalls  sind  beide  Formen  im  13.  Jahrhundert  obsolet. 

130)  S.  Bartsch,  Ausg.  XXV. 

131)  S.  §  S,  not.  11—14  (Seite  29  f.). 

1)  Das  Werk  von  Karl  und  Nikola  Mos  1er,  „Der  Nibeluuge  Noth. 
Heldengedicht  des  12.  Jahrhunderts  etc."  (Leipzig  1S04),  dessen  Verfasser  eine 
noch  über -J  zurückgehende  Textgestalt  annehmen,  aus  welcher  A  erweitert 
sei,  wird  nicht  als  wissenschaftliche  Arbeit  bezeichnet  werden  und  daher 
mit  der  blossen  Nennung  abgethan  werden  können.  S.  die  Kritik  in  Pf. 
Germania,  Band  IX. 

2)  S.  Bartsch  in  Pf.  Germania  Xlll,  216. 

3)  Zarncke,  Ausg.  XLVIII  — LI;  dagegen  Bartsch  in  Pf.  Germ.  XIII, 
216—240;  Zarnckes  Antwort  ebenda  S.  415  flf. 


1.    Die  Handschriftenfrage.    Kritik  und  Resultate.  73 

r.   Kritik  und  Resultate. 

Kritik. 


Bei  Lachmanns  Theorie  lange  stehen  zu  bleiben,  wäre 
verlorene  Arl)cit  g-egenüber  den  vollständigen  Widerlegungen, 
welche  derselben  durch  Holtzmann  und  besonders  durch  Bartschs 
erschöi)tcnde  Zusammenstellung  der  Mängel  der  Handschrift  .1 
geworden  sind.  Eines  nur  wurde  bisher  nicht  genügend  zur 
Kritik  von  .1  verwendet,  obwohl  es  Zarncke  in  seiner  Recension 
über  Holtzmanns  Untersuchungen  als  kritisches  Hilfsmittel 
hervorhob;  nemlich  die  ungleiche  Vertheilung  der  in  ^4  sich 
findenden  Lücken  über  das  Gedicht  hin,  da  sich  von  Av.  VI — XI 
(=  Str.  :324 — 1)66)  50  Lücken,   im  übrigen  Liede  nur  7  finden. 

Diese  Thatsache  ist  allein  schon  genügend,  die  Echtheit 
der  in  .1  fehlenden  Strophen  und  damit  die  kritische  ünbrauch- 
barkcit  dieser  Handschrift  zu  beweisen.  Denn  es  ist  wohl 
denkbar,  dass  der  Schreiber  von  .1  bei  der  Xiederschreibung 
von  Av.  VI — XI  gerade  besonders  wenig  Fleiss  zeigte  (dieselben 
können  etwa  an  einem  Tage  geschrieben  sein),  was  auch  da- 
durch sich  bestätigt,  dass  in  VI — XI  .1  die  meisten  andersartigen 
Fehler  aufzuweisen  hat.')  Undenkbar  aber  ist,  dass  ein  Um- 
arbeiter  gerade  mitten  im  Gedichte  so  eminent  viel  mehr 
Zusätze  gemacht  hätte  als  sonst;  diss  wäre  etwa  denkbar  am 
Anfang  des  Gedichtes,  wo  noch  die  Kraft  des  Bearbeiters  am 
frischesten  sein  muste.-) 

1(3. 

Anders  steht  es  mit  der  Frage  über  B  oder  C.  Hatte 
Holtzmann  hinsichtlich  der  Vergleichuug  von  ^4.  und  B  un- 
streitig das  Richtige  getroffen  (obgleich  Holtzmanns  Beweisführang 
ungenügend  und  lückenhaft  ist),  so  ist  diss  entschieden  weniger 


1)  S.  Bartsch,  Unters.  304.  Die  Bemerkungen  MüUenhoffs  (Zur  Ge- 
schichte der  Nibelunge  Not  S.  965  f.)  werden  unseren  Schluss  nicht  um- 
stossen  können,  da  vorher  bewiesen  sein  müsste.  dass  in  dieser  Partie  des 
Gedichts  gerade  besonders  viel  Anlass  zu  Einschiebungen  gewesen  sei;  M. 
stützt  sich  wesentlich  auf  Lachmanns  Textkritik. 

2)  S.  Bartsch,  Unters.  3. 


74  I.    r>ie  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

der  Fall  bei  der  Verg-leiclimig  von  B  und  C.  An  die  Stelle  der 
kritischen  Betrachtung  tritt  hier  nicht  selten  das  blosse 
ästhetische  Gefühl.')  Dass  C  vollendeter,  schöner,  besser  sei 
als  B,  hat  Holtzmann  nachgewiesen,  wenn  diss  überhaupt  dem 
allgemeinen  Zugeständnisse  der  Gegner  gegenüber  noch  noth- 
wendig  war;  dass  an  vielen  Stellen  C  zugleich  das  Echtere 
biete,  ist  nach  Holtzmanns  Untersuchungen  gar  nicht  mehr  zu 
bezweifeln.  Al)er  dass  mitunter  auch  C  hinter  Ji  zurücksteht, 
an  Güte  oder  auch  an  Originalität,^)  hat  Holtzmann  selbst  widerum 
deutlich  dargethan,  und  es  Hessen  sich  den  von  ihm  beigezogenen 
Stellen  noch  viele  beifügen.^)  AYie  ist  nun  diss  zu  erklären? 
Wie  ist,  und  diese  Frage  ist  weit  wichtiger,  ferner  zu  erklären 
die  grosse  Entfernung  der  vulgata  von  C?  Denn  der  Einwurf 
der  Lachmanniauer,  vor  allem  Liliencrons,  dass  aus  einer  guten, 
durchaus  l)efriedigcuden  Lesart  nicht  Avohl  eine  schlechte  durch 
be wüste  Aenderung  entstehen  könne,  ist  doch  nicht  so  unge- 
gründet, als  Zarncke  meint.^)    Die  von  Zarncke  für  eine  solche 


1)  Welches  (s.  auch  Bartsch,  Unters.  :5^4 )  in  kritischen  Dingen  keine 
Stimme  hat. 

2)  S.  die  Zusammenstellung  bei  Rieger. 

3)  Falsche  Erklärungen  und  Misverständnisse  finden  sich  bei  Holtzmann 
nicht  selten;  er  hat  z.  B.  Str.  2214,  4  die  Worte  du  sluoc  er  Woipmrteu, 
daz  er  stieben  began  B  nicht  verstanden  und  ihnen  die  LA.  von  6':  daz 
er  struclioi  hegan  vorgezogen ;  mit  Recht  haben  Rieger  S.  54  und  Bartsch 
S.  2(t3  f.  darauf  hingewiesen,  dass  slicben  hier  gebraucht  ist  von  dem  Manne, 
der  den  Funken  sprühenden  Panzer  trägt,  statt  von  diesem  selbst  —  eine 
sehr  unbedeutende  Licenz  — ,  und  dass  (',  weil  sie  diss  nicht  verstand,  daraus 
strncken  machte,  was  nicht  einmal  in  den  Context  passt.  So  noch  verschie- 
dene Stellen,  wo  eher  B  das  Echte  hat;  z.  B.   I".t4,  4;  742,  4;  1233,  3.  u.  a. 

4)  Ausg.  XLV  ö-  und  Lit  Centr.  Bl.  is.jO,  Sp.  639  ff.  Wenn  Zarncke 
insbesondere  an  der  erstgenannten  Stelle  (S.  XLVII)  sagt:  ..Offenbar  hat 
,.Liliencron  einen  richtigen  philologischen  Grundsatz  unrichtig  angewandt.  Es 
„ist  eine  wohlbegründete  Annahme  der  Kritik  ....  dass  von  zwei  Lesarten  die 
„schwierigere  und  dunklere  die  grössere  Wahrscheinlichkeit  für  sich  habe; 
„aber  nimmermehr  darf  dieser  Satz  so  gewandt  werden,  als  ob  die  schlechtere, 
„die  unpassendere  sich  dieses  günstigen  Vorurtheils  zu  erfreuen  habe-,  so 
hat  hierin  doch  wohl  Liliencron  Recht.  Denn  der  Grund  des  difficilior 
lectio  rccipienda  ist  doch  nur  der,  dass  aus  der  schwierigeren  LA.  die 
leichtere  gemacht  werden  konnte,  der  Verständlichkeit  zu  Liebe,  nicht  um- 
gekehrt; und  dasselbe  wird  auch  bei  gut  und  schlecht  gelten  dürfen.  Dass 
Zarncke  a.  a.  0.  in  Parenthese  setzt:  „ —  Annahme  der  Kritik  (die  natür- 
lich*auch  nicht  ohne  Ausnahme  gilt)-,  beweist  nur,  dass  er  die 
principielle  Identität  beider  Sätze  stillschweigend  anerkannt  hat. 


1.    Die  Handscliriftenfrage.    Kritik  und  Resultate.  75 

Versehlei'htenuig  des  Textes  aus  der  mittelalterlichen  Litteratiir 
angefiilirten  Beispiele/')  die  Klage  Sebastian  Brants  über  die 
Corrujjtelen  seines  ^Narrenschitfs",  sowie  die  Feifalikisehe  Hand- 
schrift (k)  des  Nil)eliuig'enliedes  selbst,  fallen  viel  später,  als 
die  vulgata  entstanden  ist;'')  sie  fallen  in  die  Zeit  der  Form- 
verwilderiing,  der  Poetasterei  und  Meistersingerei,  wo  jeder  Un- 
begabte dichten  zu  müssen  meinte;  diss  war  aber  im  dreizehnten 
Jahrhundert  und  ])esonders  zu  Antang  desselben  ganz  anders. 
Insbesondere  aber  kann  der  Text  von  C,  welcher  /.•  zu  Grunde 
lag,  durch  Schreibfehler  u.  dgl.  so  entstellt  gewesen  sein  (was 
im  Lauf  von  zwei  bis  drei  Jahrhunderten  wohl  denkbar  ist), 
dass  sich  daraus  die  Aenderungen  in  /.•  ergaben;  auch  diss  ist 
bei  der  vulgata  anders,  welche  kaum  ein  paar  Jahre,  höchstens 
Jahrzehute,')  später  als  C  entstand.  Die  grosse  Verschiedenheit 
im  ganzen  Wortlaut  grösserer  und  kleinerer  Stellen,  die  zwischen 
Ji  und  C  herrscht,  hat  nothwendigerweise   die  Anhänger  von  C 


5)  Denn  die  Beispiele  Veldeckes  und  Heslers  beweisen  nichts.  Veldecke 
sagt  nur,  dass  das  Gedicht,  weil  es  ihm  entwendet  worden,  in  anderer  Ge- 
stalt erschienen  sei,  als  wenn  es  ihm  geblieben  wäre;  er  braucht  also  nicht 
nothwendig  von  Umarbeitungen  zu  reden,  sondern  er  spricht  wohl  gerade 
von  der  Abschrift  des  Gedicbts  in  dem  unvollendeten  Zustande,  in  dem 
es  bei  dem  Diebstahl  sich  befand  und  an  den  er  sonst  noch  Hand  gelegt 
hätte.  Hesler  aber  spricht  von  nüsseschnbeji;  diss  ist  wohl  nichts  anderes, 
als  wenn  ein  Autor  unserer  Zeit  sich  über  Druckfehler  in  seinem  Werke 
beklagt,  die  entstanden  seien,  weil  er  die  Correctur  nicht  geleitet  habe.  Am 
ehesten  hätte  Zarucke  den  Schluss  der  Kindheit  Jesu  des  Konrad  von 
Fussesbrunnen  für  seinen  Beweis  benutzen  können: 

Swer  sich  nu  dar  an  richet 

wit  ez  baz  oder  anders  sprichet 

(al.  stver  ir  uns  me  berihtet 

unt  si  baz  oder  anders  tihtet)     ' 

iint  setzet  siniu  spei  dar  zuo, 

des  dunket  mich,  er  missetuo, 

wan  er  'ntcrt  selbe  sich 

(al.  unt  välschet  selbe  sich). 

Der  ir  begunde  daz  bin  ich  u.  s.  w. 
(S.  Hahn,  Gedichte  des  XII.  und  XIII.  Jahrhunderts,  Seite  102  und  146). 
Doch  auch  dieses  Beispiel  deckt  sich  mit  dem,  was  Zarncke  für  die  Nibe- 
lungen annimmt,  nicht  völlig;  Konrad  scheint  mehr  von  Eindichtuugen  und 
Erweiterungen  in  der  Art,  wie  sie  etwa  bei  den  Reinhartserzählungen  statt- 
fanden, als  von  blosser  Ueberarbeitung  zu  reden.  Ueberhaupt  ist  diese  eine 
Beispiel  nicht  beweisend. 

fi)  Xarrenschitf  14'J4;  k  ebenfalls  1-5.  Jahrhundert. 
")  S.  u. 


76  I.    r)ie  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

dazu  getrieben,.  B  als  aus  C  überarbeitet  anzusehen.  Auch 
ein  Motiv  der  Ueberarbeitung  ist  gefunden  worden:  es  war  die 
Zustutzung  des  Liedes  zum  Geljrauche  der  varnden,  um  welcher 
willen  nun  verschiedene  Zusätze  und  Aenderungen  gemacht 
wurden,  •  welche  theils  den  Zusammenhang  der  Aventiuren 
lockern  theils  durch  populär  gehaltene  Uebertreibungen  „im 
bänkelsängerischen  Stile'",  durch  ., arge  Eifecthaschereien "  u.  dgl. 
die  für  höfischen  Gaumen  berechnete  Speise  dem  derberen  Ge- 
schmacke  des  Publicums  der  Jahrmärkte  und  Kirchweihen 
geniessbar  machen  sollten.  Beides  ist  entschieden  nicht  über- 
zeugend. Dass  der  Zusammenhang  der  Aventiuren  durch  das 
vielfache  Fehlen  von  Strophen  am  Schluss  von  Aventiuren  ^ 
gelockert  würde,  lässt  sich  nicht  sagen.  Was  aber  die  Ver- 
änderungen und  Zusätze  der  vulgata  betrifft,  welche  einen  derb 
auftragenden,  plumpen  Ton  und  Charakter  haben  sollen,  so  ist 
häufig  dieser  Ton  gar  nicht  zu  finden  oder  jedenfalls  nicht 
störend  gegenüber  dem  Ganzen  des  Gedichts;  „verkehrt"")  sind 
diese  Aenderungen  und  Zusätze   mindestens  nicht.'")     Was  aber 


S)  S.  oben  §  6,  not.  46. 

9)  So  Zarncke,  Ausg.  XV,  6  v.  u.:  „wenn  auch  nicht  Alles  gleich  ver- 
kehrt ist."' 

10)  Die  von  Zarncke  (Ausg.  XIV.  XV.)  für  die  plumpe  Geschmacksrichtung 
der  vulgata  angeführten  Stellen  beweisen  eine  solche  nicht.  4S2  If.  enthält, 
wie  Rieger  S.  4  und  Pasch  S.  104  richtig  bemerken,  keine  Andeutung  über 
Brünhilds  Geiz,  sondern  nur  einen  leichten  Spott  über  Dankwarts  ..belustigende 
reckenhafte  oder  jugendhche  Maasslosigkeit";  dieser  Spass  ist  wohl  nicht 
eben  fein  und  steht  an  sonderbarer  Stelle,  aber  eben  deshalb  mag  C  geändert 
haben;  Zarncke  selbst  nennt  (Lit.  Centr.  Bl.  1S54,  Sp.  ll.i  ff.)  Dancwart 
einen  „Grünschnabel"',  wird  also  gegen  Riegers  Erklärung  nichts  einwenden 
können.  —  Str.  499"^  (fehlt  merkwürdigerweise,  doch  gewiss  zufällig,  auch 
in  A)  ist  allerdings  ufihötisch  und  unhöüich,  aber  „plump"?  Ebenso  gut 
kann  C  ausgelassen  haben,  um  den  Anstoss  zu  beseitigen.  —  Str.  643  ü44 
ist  allerdings  auffallend;  aber  was  Zarncke  darin  findet,  liegt  nicht  noth- 
wendig  darin;  Hagen  sagt:  tvan  ir  wol  bekennet  der  Tronegare  site,  beruft 
sich  also  darauf,  dass  die  Herren  von  Tronege  nie  in  fremden  Dienst  ge- 
treten seien;  trotz  der  Worte  ()4:],  3:  do  (/ewan  dar  umhe  Hayene  ein 
zornlickez  leben,  ist  seine  Rede  weder  „trotzig""  noch  „spottend"".  —  Str.  1504, 
wo  Hagen  bei  der  Ueberfahrt  über  die  Donau  sein  Ruder  bricht  und  er  es 
mit  seinem  Schildfesscl  binden  muss,  ist  nach  Zarncke,  Ausg.  370,  ein 
,.geschmackloscr  Einfall"",  nach  Lachmann,  Anmerkungen  S.  19.5,  ein  ..sehr 
schöner  und  ohne  Zweifel  aus  der  Sage  genommener  Zug".  Wer  hat  hier 
Recht?  —  Dass  die  Lesart  der  vulgata  "2303,  3  um  si  ir  bruoder  houbct  hin 
für  Ilagenen  irouc,  eine  „arge  Effecthascherei"  sei,  ist  nicht  wahr:  sie  thut 
das  hier  Gesagte   nachher  auch  in  C  (s.  auch  Dressel  S.  22 j.    —   Str.  1S49 


1.     Die  Handschriftenfrage     Kntil<;  und  Eesultate.  77 

den  Hauptpunct  1)etrifft,  in  Avelcheni  B  und  C  auseinandergehen 
sollen,  dass  nemlidi  ( '  Kriemliiid  entschuldige,  B  sie  7A\  verdäch- 
tigen suche,  so  hat  wohl  Dressel  nachgewiesen,  dass  auch  JJ  die- 
jenigen Gesinnungen  kennt,  welche  C  der  Kriemhild  zuschreibt,  dass 
ferner  auch  ('  derselben  einen  F)itteren  Hass  gegen  Günther  als 
den  Helfershelter  des  Mordes  an  Siegfried  nachsagt.  Die  hier 
in  Betracht  kommenden  Verschiedenheiten  sind  somit  unbedeutend, 
berühren  jedenfalls  den  Charakter  der  beiderseitigen  Texte  nicht. 
Die  betreffenden  Strophen  und  Lesarten  von  Cund  von  Z>  beweisen 
somit  weder  für  C  noch  für  B,  und  ihr  Schicksal  wird  von  der 
sonstigen  Ansicht  eines  Jeden  über  das  Verhältnis  der  Bearbei- 
tungen abhängig  sein  müssen. 

Aber  selbst,  wenn  wirklich  die  durchgreifende  Geschmacks- 
verschiedenheit zwischen  B  und  C  herrschen  sollte,  die  Zarncke 
hauptsächlich  behauptet,  so  würde  die  Annahme,  dass  die  vul- 
gata  eine  Umarbeitung  aus  wesentlich  ästhetischen  Motiven  sei, 
die  Schwierigkeiten  noch  lange  nicht  beseitigen,  welche  die 
grossen  Abweichungen  beider  Texte  an  einzelnen  Stellen  der 
Al)leitung  der  vulgata  aus  der  Bearbeitung  C  nothwendig  be- 
reiten müssen.  "Wenn  nachgewiesen  wäre  (was  es  nicht  einmal 
ist),  dass  die  vulgata  eine  Umarbeitung  aus  ästhetischen  Gründen 
enthalte,  so  würden  sich  dadurch  Zusätze,  Auslassungen  und 
Aenderungen,  wie  die  not.  10)  berührten,  begreifen,  auch  wohl 
Entfernung  mancher  unpopulären  Wörter  und  Wendungen.  Aber 
so  indifferente  und  doch  nothwendig  absichtliche  Abweichungen 
und  Aenderungen,  wie  sie  sich  in  Hunderten  von  Versen  zAvischen 


wird  die  Lesart  von  B  bestätigt  durcfi  die  Thidrekssaga  und  durch  das  bei 
Dressel  S.  19  aus  dem  Anhange  zum  Heldenbuch  Mitgetheilte.  Mögen  auch 
diese  beiden  Quellen  von  der  vulgata  abhängig  sein,  so  ist  doch  vielleicht 
dieser  beiderseits  überlieferte  Zug  sagenmässig.  Dass  die  Darstellung  in 
B  nicht  recht  passt,  ist  dabei  leicht  erklärlich;  ebenso  ist  durch  die  Weg- 
lassung des  früheren  Verhältnisses  zwischen  Siegfried  und  Brünhild  Manches 
darauf  Bezügliche  verwirrt  und  unverständlich  geworden.  —  Str.  205"'',  wo 
das  Gewölbe  des  von  Ivriemhild  angezündeten  Saales  erwähnt  ist,  fehlt  in 
der  vulgata  vielleicht  mit  L'nrecht;  dass  diss  aber  Folge  übertreibender  Efiect- 
hascherei  sei,  ist  unbeweisbar. 

Dass  es  gefährlich  ist  ästhetische  Puucte  in  die  Textkritik  liereinzu- 
ziehen,  zeigt  Str.  140S'*,  wo  die  Erwähnung  der  Oelschnitten  in  C  gewiss 
auch  recht  wohl  einer  ..verschnörkelnden  Ueberarbeitung-  (Zarncke,  Ausg.  XIV) 
zugeschrieben  werden  könnte;  ferner  könnten  auch  Str.  622''-«  füglich  als 
eine  plumpe  Erweiterung  des  in  B  kürzer  erzählten  nächtlichen  Ringens 
gelten. 


78  I-    Die  Entstehung  des  Xibelungenliedes. 

B  und  C  finden,  können  weder  aus  der  Nachlässigkeit  und 
Unbildung  des  Verfassers  der  vulgata,  noch  aus  der  Geschmacks- 
richtung derselben  erklärt  werden. 

Es  bleibt  somit  Liliencrons  Einwurf  in  seinem  vollen  Rechte, 
und  damit  ist  die  Mrjglichkeit  aufgehoben,  dass  B  (d.  h.  die 
vulgata)  aus  C  stammen  könne,  auch  wenn  Ueberarbeituug  von 
Seiten  der  vulgata  angenommen  wird. 

17. 

War  so  Holtzmann  mit  seinen  Resultaten  keineswegs  glück- 
lich, so  waren  doch  auch  die  Repliken,  die  er  von  Lach- 
mannianischcr  Seite  fand,  keineswegs  dazu  angethan,  ihn  zu 
widerlegen,  noch  weniger,  Lachmanns  Theorie  der  seinigen 
gegenüber  wider  plausibel  zu  machen. 

Von  Müllenhoffs  Schrift  kann  hier  abgesehen  werden; 
denn  was  sie  für  die  Handschriftenfrage  Ijietet,  ist  gleich  Null; 
darauf  recurrieren,  dass  Lachmanns  Text  als  der  beste  vor- 
handene zugleich  tiir  A  als  die  Handschrift,  aus  welcher  er 
geschöpft  sei,  beweise,  hiess,  wie  Holtzmann  (Kampf  etc.  5-4  flf.) 
bitter,  aber  wahr  entwickelt  hat,  den  Kampf  mit  den  Waffen 
der  Wissenschaft  aufgeben  und  an  deren  Stelle  die  der  Autorität 
setzen. 

Auch  Liliencrons  und  Riegers  Repliken  haben  ent- 
schieden nicht  für  ^4  bewiesen.  Denn  wenn  Holtzmanns  und 
Zarnckes  Schriften  noch  nicht  genug  bewiesen  hatten,  dass  A 
aus  B  verderbt  ist,  so  hat  es  für  u  n  s  Bartschs  Werk  be^viesen. 
Auch  hat  bei  den  beiden  Vertheidigern  der  Lachmannischen 
Lehre  das  kritische  Princip,  das  jeder  von  ihnen  anwandte,  ihre 
eigene  Ansicht  widerlegt.  Liliencrons  richtiger  Einwand,  dass 
man  aus  dem  Vorhandenen  nicht  wohl  etwas  Schlechteres  mache, 
beweist  nicht  die  Entstehung  von  C  aus  i>;  denn  auch  B  hat 
an  vielen  Stellen  eine  bessere  Lesart  als  C,')  und  die  zahlreichen 
Stellen,  wo  beide  eine  gleich  gute  und  doch  wesentlich  ver- 
schiedene Lesart  bieten,  bleiben  unerklärt.  Wird  also  Lilien- 
crons Princip  an  dem  wirklichen  Handschriftenverhältnis  durch- 
geführt, so  beweist  es  nur  die  Unmöglichkeit,  irgend  eine  der 
beiden  Bearbeitungen  aus  der  anderen  entstehen  zu  lassen. 
Rieger  aber  hat  nicht  nur  darin  gefehlt,  dass  er  A  für  die 
beste  Handschrift  hielt,    C  für  die   schlechteste,    sondern   auch 


1)  S.  schon  Holtzmann;  noch  mehr  Rieger. 


1.    Die  Ilaudschrifteufrage.    Kritik  und  Resultate.  79 

(lariu,  dass  er,  der  selbst  eine  Reihe  von  Stellen  angeführt 
hatte,  wo  ('  besser  sei  als  ^if),  dennoch  schliesslich  nach  dem 
Grimdsatze,  dass  das  Bessere  stets  das  Echtere  sei,  .1  den  Vorzug 
gab.  Consequenterweise  konnte  er  nur  an  den  betreffenden  ein- 
zelnen Stellen  B  oder  C  für  echt  halten.  Er  hat  also  einen 
ni  ö  g  1  i  c  h  e  r  w  e  i  s  e  falschen  G rundsatz  auf  ein  im  Ganzen  jeden- 
talls  falsch  aufgefasstes  Verhältnis  inconsequent  angewendet, 

18. 
Zarnckes  Theorie  hat  wegen  ihres  vollständigen  An- 
schlusses an  die  Holtzmannische  für  das  Wesentliche  und  All- 
gemeine nichts  oder  nicht  viel  Neues  gebracht,  ist  daher  auch 
oben  (§  K))  zugleich  mit  der  Holtzmannischen  behandelt  worden. 
Verdienstlich  waren  Zarnckes  Leistungen  mehr  für  das  Einzelne, 
und  hier  verdienen  zwei  Puncte  kritische  Betrachtimg. 

1)  Zarncke  hat  die  Gruppe  J  als  Mittelglied  zwisclien  C 
und  B  beti'achtet.  Das  oben  Bemerkte')  wird  wohl  die 
gegnerische  Ansicht  mehr  plausibel  machen,  dass  die  Gruppe  J 
aus  einer  Mischhandschrift  stamme.  Auch  die  Weglassuug 
aller  durchgereimten  Strophen  in  J,  i«owie  einige  Aenderungen 
im  ritterlich- höfischen  Stile"-)  beweisen  das  jüngere  Alter  dieser 
Gruppe. 

2)  Die  Zeitbestimmung  der  vulgata  bei  Zarncke  ist 
gewiss  geistreich,  aber  nicht  zwingend.  Es  ist  wahr,  dass  wir 
über  die  Schwierigkeiten  des  Schreibfehlers  in  1272  und  1276 
hinauskommen  könnten,  wenn  wir  berechtigt  wären,  die  vulgata 
später  anzusetzen  als  Nitharts  Gedichte,  Diese  Frage  soll  unten 
eingehender  erörtert  werden;  zunächst  lässt  sich  aber  gegen 
Zarncke  Folgendes  wohl  mit  Recht  einwenden.  Die  Schwierig- 
keit, wie  ein  ortskundiger  Oesterreicher  hätte  dazu  kommen 
sollen,  Zeisselmauer  als  Ort  eines  dreitägigen  Aufenthaltes  einer 
Fürstin  zu  nennen,  ist  nicht  viel  grösser,  als  die,  wie  Jemand 
hätte  darauf  verfallen  sollen,  aus  Nitharts  Gedichten,  wo  Zeissel- 
mauer als  Wohnort  von  Schweinehirten  mid  anderem  Gesindel 
mit  Spott  Übergossen  wird,  eben  dasselbe  Zeisselmauer  in  der  ge- 
nannten Weise  im  Nibelungenliede  zu  verwenden.  Die  ganze  Frage 
mag  also  unentschieden  bleiben  bis  zur  Discutierung  der  Theorie 
Bartschs,  welcher  der    Ansicht  Zarnckes    entgegengetreten   ist. 


1)  S.  §  «,  not.  16. 

■2)  S.  Bartsch,  Unters.  3S2;  Ausg.  XXII. 


so  I-    I'ie  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

19. 
Paschs  Handschriftenuntersuchung  wurde  etwas  ausführlieh 
behandelt,  weil  sie  von  einem  ganz  anderen  Gesichtspuucte  aus 
zu  einem  ähnlichen  Resultate  gelangt,  wie  die  Bartschische. 
Denn  im  Einzelnen  ist  Paschs  Arljeit  wohl  nicht  von  grosser 
Bedeutung.  Sie  ist  jedenfalls  sehr  flüchtig  gemacht  und  ent- 
hält starke  Verstösse.')  Die  Kritik  der  Holtzmannischen  Prin- 
cipien  wäre  gelungen  zu  nennen,  wenn  nur  Holtzmann  von 
denselben  überhaupt  umfänglichen  Gebrauch  gemacht  hätte. 
Holtzmann  hat  dieselben  zwar  ausgesprochen,  und  seine  Resultate 
stehen  in  Uebereinstimmung  mit  denselben;  aber  zu  diesen  Re- 
sultaten gelangte  er  auf  Grund  der  Einzeluntersuchung.  Pasch 
hat  die  letztere  nur  in  einem  Punctc  zu  widerlegen  versucht, 
in  Beziehung  auf  die  Plusstrophen  von  C,  welche  er  ihrem 
grösten  Theile  nach  für  überflüssig  hält.  Es  ist  ihm  indes  sein 
Xachweis  nicht  gelungen;  unentbehrlich  ist  freilich  keine  der 
Strophen,  die  er  für  überflüssig  hält,  aber  als  schlecht  und 
störend  hat  er  keine  davon  nachzuweisen  vermocht.-)  Dazu 
kommt  al)er,   was   die  Hauptsache  ist,   dass  Pasch   A  und   die 


1)  S.  Pasch  S.  97:  „Rechnen  ^vil•  dazu,  dass  bei  A  sogar  am  Anfange 
des  ganzen  Liedes  eine  Strophe  fehlt,  die  3!",  als  ob  nicht  vielmehr  Str.  3 
in  A  stände,  in  BC  aber  fehlte!  S.  99  hat  Pasch  bei  Holtzmann  „unwahr- 
scheinlich- gefunden  und  druckt  so  ab,  scheint  aber  zu  meinen,  es  heisse 
„wahrscheinlich" ! 

2)  Str.  94  **  ist  nach  Pasch  überfliissig ,  Holtzmauns  Gründe  für  diese 
Str.  nichtig.  Die  Str.  wird  nicht  eben  vermisst;  allein  ganz  richtig  ist.  was 
Holtzmann  zu  dieser  Strophe  bemerkt,  Pasch  aber  nicht  berührt  hat,  dass 
nemlich  das  Schwert  Balmunc  in  C  94 ''  steht,  von  der  vulgata  erst  in 
Str.  90 ,  welche  C  fehlt .  nachgeholt  wird,  was  eher  für  als  gegen  C  spricht. 
S.  Eieger  S.  6. 

Str.  271  wird  gesagt,  dass  Günther  von  der  stillen  Liebe  Siegfrieds  zu 
Kriemhild  wohl  gewust  habe;  272  sagt  Ortwin,  dass,  wenn  Günther  das 
Siegesfest  (nach  dem  Sachsenkriege)  recht  feiern  wolle,  er  die  Jungfrauen 
seines  Hofes  öffentlich  dazu  beiziehen  müsse,  besonders  auch  Kriemhild. 
Zwischen  beiden  Str.  steht  in  C  eine  dritte  (271'>),  worin  Günther  seine 
Mannen  auffordert,  ihm  über  die  rechte  Art,  das  Fest  zu  halten,  Rath  zu 
ertheilen.  Pasch  behauptet,  dass  durch  diese  Str.  ein  feiner  Gedanke  ver- 
wischt werde:  Günther  weiss,  dass  Siegfried  Kriemhild  liebt  und  denkt  des- 
halb, er  wolle  sie  zum  Feste  beiziehen;  Ortwin  hat  denselben  Gedanken  und 
spricht  ihn  272  aus.  —  Allein  wie  dieser  ..feine  Gedanke"  durch  die 
Str.  271''  verwischt  werden  soll,  ist  nicht  abzusehen.  271''  spricht 
Günther  keineswegs  aus,  dass  er  Kriemhild  um  Siegfrieds  willen  beiziehen 


1.    Die  Handschriftenfrage.    Kritik  und  Resultate.  81 

vulg-ata  fortwährend  verwechselt,  l)ald  solche  Strophen  anführt, 
die /j  mit  C  gemein  hat,  bald   solche,  welche  nur   in  C  stehen; 


■wolle;  er  fragt  nur,  wie  es  sich  gehört,  seine  Magen  um  Rath  wegen  des 
Festes;  Kriemhild  oder  überhaupt  die  Frauen  werden  271''  mit  keinem 
"Worte  erwähnt.  Ob  Ortwin  überhaupt  denselben  Gedanken  hat  wie  Günther, 
ist  zweifelhaft.  Das  Beiziehen  der  Damen  gehörte  wohl  zu  jedem  solchen 
Hoffeste;  Ortwin  kann  also  seinen  Rath  auch  aus  Schicklichkeitsgründen 
geben.  Will  aber  wirklich  der  Dichter  Ortwin  jenen  Gedanken  haben  lassen, 
so  ist  iliese  Auffassung  nach  C  ebenso  möglich  wie  nach  B.  —  S.  Rieger  S.  6. 

Str.  329  widerräth  Siegfried  den  Zug  nach  Island  mit  den  Worten :  ja 
hat  diu  küncQinne  sd  vreisUcIte  sitc,  swer  nmhe  ir  ininne  ivirbet,  daz  ez  im 
höhe  stät;  darauf  räth  330  Hagen  dem  Könige,  Siegfried  zur  Theilnahme  an 
dem  Zuge  aufzufordern,  sft  im  daz  ist  so  kändec,  wiez  umhe  Prünhikle  stät. 
Zwischen  diesen  beiden  Str.  hat  C  2  weitere  und  dk  eine  dritte,  in  welchen 
drei  Str.  Siegfried  auseinandersetzt,  dass  4  Männer  nicht  gegen  Brünhild 
aufkommen  könnten,  und  Günthern  räth,  wenn  ihm  sein  Leben  lieb  sei,  nicht 
hinzugehen.  Pasch  hält  diese  Strophen  für  überflüssig,  während  Holtzmann 
meinte,  die  Worte  sU  im  daz  ist  sd  kündcc  etc.  könnten  sich  nicht  auf  32*> 
allein  beziehen.  Dennoch  dürften  die  3  Strophen  zu  halten  sein  (wenn  auch 
beide  Gründe  dafür  nicht  eben  zwingende  sind) .  1 )  um  des  Sinnes  willen. 
Denn  wenn  Siegfried  einmal  mit  so  vagen. Worten  wie  329  von  Brünhilds 
Gefährlichkeit  geredet  hat,  so  hat  Hagens  Yermuthung,  dass  Siegfried  genau 
um  Brünhild  wisse,  keine  besonders  genügende  Begründung.  Allerdings  hat 
Pasch  darin  Recht,  dass,  was  Siegfried  329'^  über  Brünhild  sagt,  nicht 
stärker  ist  oder  auf  nähere  Bekanntschaft  mit  ihr  deutet  als  329;  aber  die 
mehrmalige  Warnung  Siegfrieds  in  Cdk  gibt  Hagen  erst  genügende  Veran- 
lassung zu  der  Yermuthung,  dass  Siegfried  genau  um  Brünhild  wisse  (denn 
ihre  frühere  Bekanntschaft  kennt  Hagen  nicht,  da  er  Str.  ST  — 102  nichts 
davon  erzählt)  2)  Sind  die  3  Strophen  festzuhalten  wegen  ihrer  handschrift- 
lichen Ueberlieferung.  Dass  d  und  k  dieselben  haben,  während  diese  Hand- 
schriften sonst  {k  jedenfalls  in  diesem  Theile)  zur  vulgata  gehören,  macht 
ihre  Echtheit  nicht  unwahrscheinlich.  In  /  stehen  die  3  Strophen  nicht, 
sie  fanden  sich  wohl  in  0,  dem  Original  von  d,  und  stammen  alsdann  jeden- 
falls aus  dem  13.  Jahrhundert,  wenn  sie  nicht  älter  sind.  —    S.  Rieger  16. 

Str.  338  fragt  Günther,  ob  er  nicht  Recken  in  Brünhilds  Land  mitführen 
solle;  30000  [C  2000)  könne  er  bald  zusammenbringen.  Darauf  entgegnet 
Siegfried  339:  der  fjesellen  hin  ich  einer,  der  ander  soltu  wesen,  der  dritte 
daz  sl  Hagene  {wir  mügen  wol  genesen],  der  vierde  daz  si  Dancwart,  der 
vU  küene  man;  ttns  endurfen  ander  tüsent  mit  stnte  nimmer  hestan.  Da- 
zwischen stehen  in  C  und  B  noch  zwei  Str.,  worin  Siegfried  sagt,  wenn  sie 
auch  noch  so  viel  Volkes  mitnähmen,  so  würden  doch  alle  vor  dem  ühermuot 
Brünhilds  sterben.  Daher  soll  Günther  nur  selb  riert  in  recken  ?vise  nach' 
Island  fahren.  —  Pasch  behauptet,  diese  2  Str.  seien  störend.  Auf  338,  4 
könne  Siegfried  nicht  entgegnen:  ..Nicht  30000,  sondern  4  wollen  wir  mit- 
nehmen", sondern  er  könne  nur  sagen  „Du  und  ich  und  2  andere  wollen 
gehen".  [Was  das  heissen  soll,,  ist  nicht  zu  verstehen.]  Nach  33S''  sollen 
keine  30000  mitgenommen  werden,  weil  doch  alle  umkommen  würden;  diss 

Fischer,  NibeIungenli>Hl.  " 


82  I-    Die  Enstehung  des  Nibelungenliedes. 

ohne  die  Verschiedenheit  dieser  beiden  Verhältnisse  irgend  gewahr 
zu  werden. 


stehe  im  Widerspruche  mit  339,  4.  Allein  auch  hier  hat  Pasch  ganz  falsch 
gesehen.  Abgesehen  davon,  dass  Siegfried  gar  nicht  ausdrücklich  als  redend 
eingeführt  wird,  wenn  die  beiden  Strophen  fehlen,  so  ist  doch  ganz  undenkbar, 
wie  er  auf  die  Frage  i33S)  Günthers  antworten  sollte:  der  gesellen  etc., 
damit  weist  er  ja  die  30000  gar  nicht  ausdrücklich  zurück,  gibt  auf  Günthers 
Frage  gar  keine  Antwort.  Was  aber  den  Widerspruch  betrifft,  der  zwischen 
338''  und  339,  4  stattfinden  soll,  so  ist  derselbe  gar  nicht  vorhanden,  und 
wenn  vorhanden,  sehr  unbedeutend.  Liisst  sich  nicht  denken,  dass  Siegfried 
abräth.  Mannen  mitzunehmen,  weil  diese  doch  alle  umkommen  würden?  und 
lässt  sich  damit  nicht  vereinigen,  dass  er  sagt,  gegen  sie  vier  als  besonders 
tapfere  Helden  werden  1000  nichts  ausrichten?  Diss  ist  eine  im  Epos  jener 
Zeit  nicht  unerhörte  Prahlerei.  —  Ohnehin  stehen  die  2  Str.  in  B,  müssen 
also  echt  sein.  —  S.  Rieger  21  f. 

Str,  42S''  steht  in  B,  ist  also  echt.  Die  Gründe  für  und  gegen,  sofern 
sie  aus  dem  Sinn  und  Zusammenhang  genommen  sind,  sind  unbedeutend.  — 
S.  Rieger  26. 

iStr.  491,  4  —  491'',  3  ist  wirklich  durch  graphisches  Verfahren  in  A 
[und  B]  ausgefallen.) 

Str.  565''  wird  der  altgermanischen  Sitte  gedacht,  nach  welcher  vor 
einer  Verlobung  die  Verwandten  um  ihre  Zustimmung  befragt  wurden.  Die 
Str.  wurde  nach  Holtzmann  in  der  vulgata  ausgelassen,  weil  diese  jene  Sitte 
nicht  mehr  kannte.  Allein  es  berechtigt  nichts  zu  der  Annahme,  dass  im 
13.  Jahrhundert  diese  Sitte  nicht  mehr  bekannt  gewesen  sei.  Im  Gegentheil 
konnte  sie  der  Dichter  leichter  zu  erwälinen  vergessen  als  der  Bearbeiter  C, 
welcher  überhaupt  liebt,  solche  erweiternde  Strophen  einzufügen.  —  Man 
wird  diesem  Einwand  Paschs  nicht  widersprechen  können;  aber  er  beweist 
nur  die  Entbehrlichkeit,  damit  aber  nicht  auch  die  Unechtheit  der  Strophe. 
S.  Rieger  7. 

Str.  589 1»  wird  erzählt,  dass  Brünhild  in  der  Rrautnacht  den  Günther 
bis  an  den  Tag  habe  hängen  lassen;  nach  Holtzmann  wird  diese  Str.  durch 
Str.  600  gefordert,  wo  Günther  eben  diss  erzählt.  Allein  die  Str.  ist  nach 
Pasch  nicht  nothwendig;  A  setzt  eben  voraus,  dass  Günther  bis  an  den 
Tag  gehangen  sei;  diss  erhellt  aus  Brünhilds  Frage  590.  —  Auch  hier  ist 
Paschs  Argumentation  falsch.  Entweder  hängt  Günther  bis  an  den  Tag 
(nach  600  nothwendig),  dann  ist  in  A  ungeschickt  erzählt;  denn  die  ganze 
Darstellung  in  A,  besonders  das  dd  589,  l  macht  den  Eindruck,  als  ob 
Günthers  Bitte  in  5S9  gleich  nach  dem  Aufhängen  geschehen  sei,  und  Brün- 
hilds Frage  590  ist  gleich  nach  dem  Aufliängen  ebenso  möglich  wie  am 
Morgen;  denn  wenn  sie  ihn  nicht  löst,  so  finden  ihn  seine  Kämmerer  jeden- 
falls gebunden.  Oder  aber,  Günther  hängt  nach  A  nicht  bis  an  den 
Tag;  dann  Widerspruch  mit  600.  Die  Strophe  ist  also  echt,  zumal  da  sie 
auch  in  B  steht.  —  S.  Rieger  25. 

Str.  848  •> .  Auf  die  Verabredung  und  Ankündigung  des  falschen  Sachsen- 
kriegs hin  geht  Hagen  zu  Kriemhild,  welche  zu  Siegfrieds  Sicherung  im 
Kampfe  auf  sein  Gewand  ein  Kreuz  näht  und  Hagen  bittet,  diese  einzig  ver- 


1.    Die  Haiidschriftenfrage.    Kritik  und  Resultate.  83 

Mit  dem  ganzen  Spielen  mit  den  Begriffen   von  „Faulheit" 
und  „Nachlässigkeit"   ist  nicht  viel   zu  erreichen;   der  Schreiber 


wundbare  Stelle  Siegfrieds  zu  beschirmen.  Ilagen  verspricht  diss  in  Str.  848 
und  geht  irw/ic/ie  dan.  849  fährt  fort:  des  kiateges  inyesindc  (=  Hagen; 
s.  Zarncke,  Beitr.  161)  was  allez  wol  tjetmiol  etc.  Darauf  folgt  die  falsche 
Heerfahrt  und  wird  durch  Boten  Hagens  wieder  vereitelt;  Günther  ladet 
Siegfried  zur  Jagd  ein.  Nach  84S  hat  nun  C  allein  eine  Str.,  worin  gesagt 
wird,  dass  Hagen  dem  Könige  den  unfreiwilligen  Verrath  Siegfrieds  durch 
dessen  Weib  und  seinen  darauf  gegründeten  Plan  mitgetheilt  habe,  der  König 
aber  damit  einverstanden  gewesen  sei.  Denselben  Inhalt  hat  Str.  858,  welche 
in  ('fehlt.  —  Pasch  folgert  hier  ganz  falsch :  „Hagen  sei  fröhlich,  weil, 
nachdem  er  Siegfrieds  verwundbare  Stelle  erfahren,  die  Heerfahrt  unnöthig 
sei."  Es  ist  aber  gar  nicht  denkbar,  dass  dieselbe  jemals  nöthig,  jemals 
ernstlich  gemeint  gewesen  wäre;  wie  sollte  man  einen  Kampf  veranstalten, 
in  dem  Siegfried  vielleicht  gar  nicht  fallen,  sondern  nur  den  verkappten 
Burgunden  recht  viel  schaden  konnte  I  Der  einzige  Zweck,  um  dessen  willen 
der  Scheinkrieg  überhaupt  angekündigt  und  vorbereitet  wird,  ist  offenbar 
kein  anderer,  als,  wie  es  auch  hernach  geschieht,  durch  KriemhUd  Siegfrieds 
verwundbare  Stelle  zu  erfahren.  Ganz  genau  dieser  Zweck  der  Scheiufahrt 
ist  bei  der  ersten  Verabredung  derselben  Str.  818.  4  erwähnt,  in  C  deutlich, 
in  AB  minder  klar,  aber  unzweideutig.  —  Die  Str.  848^'  kann  also  unecht 
sein;  aber  Paschs  Bemerkung  dazu  ist  unsinnig.  —  S.  Rieger  17. 

Str.  1614  sagt  an  Rüdigers  Hofe  Volker,  wenn  er  ein  Weib  wollte,  so 
würde  er  ohne  Bedenken  Rüdigers  Tochter  wählen;  1615  „antwortet"  Geruot, 
sein  Sinn  wäre  derselbe.  Dazwischen  haben  6'  und  B  eine  Str.,  worin 
Rüdiger  sagt,  ein  König  würde  ja  doch  eines  Verbannten  Tochter  nicht  zum 
Weibe  nehmen  wollen.  Nach  C,  in  welcher  sich  mehrere  Ausdrücke  von 
1615  auf  1614''  beziehen,  ist  letztere  unentbehrlich,  nach  dem  Wortlaut  der 
vulgata  nicht.  Die  Str.  kann  allerdings  fehlen,  ist  aber  jedenfalls  echt, 
weil  in  BC  stehend.  S.  dazu  die  schöne  Auseinandersetzung  bei  Zarncke, 
Nib.-Frage  29-32.    S.  Rieger  23. 

Str.  1835'"^.  Volker  hat  im  Turnier  einen  Hünen  getödtet;  es  erhebt 
sich  ein  Streit,  den  Etzel  abbricht.  Man  geht  zu  Tische,  Str.  1835,  und 
Z.  4  wird  gesagt:  da  heten  die  von  Eine  starker  viende  gemioc.  Es  dauert 
(1836)  lange,  bis  mau  sich  gesetzt  hat;  inzwischen  bespricht  sich  Kriemhild 
mit  Dietrich  über  ihr  Vorhaben  u.  s.  w.  Nach .  Str.  1835  haben  nun  CJ 
2  Strophen,  welche  eine  Erläuterung  zu  1835,  4  bilden,  indem  sie  aussagen, 
dass  sich  aus  Hass  viele  bewatfuet  an  die  Tische  gedrängt  haben  und  dass 
Etzel  allen  Unfug  verboten  habe.  Diese  Str.  sind  nach  Pasch  entbehrlich. 
Allerdings,  doch  damit  noch  nicht  unecht.   —  S.  Rieger  17. 

Str.  1939'"^^.  Die  Unparteiischen,  Etzel,  Dietrich  und  Rüdiger  verlassen 
den  Saal.  Volker  tötet  einen  Hünen  und  Etzel  klagt  (1938/1939)  über 
diesen  Mann,  der  ihm  alles  tot  schlage.  Nachdem  sich  die  drei  Genannten 
entfernt,  geht  der  Kampf  weiter.  Nach  1939  hat  C  2  Strophen,  worin  gesagt 
wird,  dass  Dietrich  und  Rüdiger  in  ihre  Herberge  gegangen  seien.  Diese 
2  Strophen  sind  nach  Holtzmann  .unentbehrlich,  weil  beide  nachher  aus  ihrer 
Herberge   kommen   und   man   sonst   nicht   wisse,  dass   sie   überhaupt  dort 

6* 


84  I.    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

von  ^4  war  jedenfalls  sowohl  faul  als  nachlässig.  Der  ganze 
Hanpt-Schluss  des  ersten  Theils  beweist  nicht  viel  oder  gar 
nichts;  der  zweite  Theil  noch  weniger,  da  das  meiste  hier  als 
„  grammaticalische  Eigenthttmlichkeiten "  Erwähnte  —  ortho- 
graphische Besonderheiten  sind,  die  keinen  Schluss  gestatten 
(s.  oben  §  11,  not.  27). 

20. 

Ganz  anders  Bartsch.  Seine  Theorie  bietet  vor  allem  das 
Wohlthuende  einer  in  sich  ruhenden,  abgeschlossenen  und  ein- 
heitlichen, auf  Grund  sämmtlicher  in  Betracht  kommenden  Ver- 
hältnisse autgel)auten  Totalanschauung.  Es  sind,  und  man  kann 
sagen  durchweg  mit  Glück,  alle  kritischen  Handhaben,  sogar 
mit  peinlicher  Genauigkeit,  verwendet  und  auf  das  Endresultat 
des  Ganzen  bezogen.  Dem  allem  kommt  eine  ausgedehnte 
Kenntnis  der  zeitgenössischen  Litteraturgeschichte  zu  Hilfe, 
welche  den  Verfasser  vor  kühnen  und  haltlosen  Schlüssen') 
bewahrt;  so  dass  Bartschs  Theorie  mindestens  —  und  das  werden 
auch  alle  ihre  Gegner  von  ihr  zugeben  müssen  —  als  keines- 
wegs unmöglich,  vielmeihr  als  sehr  plausibel  und,  wenn  bewiesen, 
als  höchst  willkommen  und  befriedigend  erscheinen  muss,  nament- 
lich da  diese  Theorie  eine  versöhnende  Vermittlung  zwischen 
den  beiden  extremen  Parteien  zu  bilden  trefflich  geeignet  ist. 

Es  kommt  aber  darauf  an,  die  Beweise  Bartschs  näherer 
Betrachtung  zu  unterwerfen.  Was  gegen  dieselben  vorzu- 
bringen war,  hat  Zarncke  in  der  dritten  Auflage  seiner  Ausgabe 
(S.  XXXIX — XLHI)  beigebracht;  Bartsch  antwortete,  nicht  eben 
fein,  in  Pfeiffers  Germania  (Band  XIII,  217—240),  damit  zugleich 
eine  Kritik  des  Textes  von  Zarnckes  Ausgabe  verbindend,  auf 
welche  letztere  Zarncke  in  derselben  Zeitschrift  (Band  XHI,  445  ff.) 
antwortete.  In  der  vierten  Auflage  seines  Nibelungenliedes 
(1871)   dmekte  Zarncke   das   in   der  dritten  gegen  Bartsch  Vor- 


gewesen. —  Pasch  wendet  richtig  ein,  dass  sie  ja  schon  1932  und  1935  ge- 
gangen seien,  so  dass  nicht  uothwendig  dazustehen  brauche,  wohin.  Ausserdem 
seien  1939'"^  störend,  1939'',  3  sei  zu  wenig  innerlich  [wie  soV  ^sine  wolden 
mit  dem  stritc  niht  ze  schaffen  häiv],  und  es  seien  AViderholungen  in  den 
Versen  enthalten.  —  Die  Strophen  sind  allerdings  entbehrlich ;  aber  inwiefern 
sie  schlecht  oder  störend  sein  sollen,  ist  nicht  einzusehen;  sie  stehen  an  ganz 
guter  Stelle.     S.  Rieger  10. 

1)  Wie  etwa  die  Holtzmanns  in  dem  zweiten  (und  dritten)  Theile  seiner 
„Untersuchungen". 


1.    Die  Handschriftenfrage.     Kritik  und  Resultate.  85 

gebrachte  wider  ab  (S.  XLVIII— LI).  Es  soll  im  Folgenden 
auf  Zarnckes  Einwände  Rücksicht  genommen  werden. 

Bartschs  Theorie  war  gewissermaasscn  durch  die  vorher 
allein  vorhandenen  Theorieen  geboten.  Beide  streitenden  Parteien 
hatten  sich  und  ihren  Stoff  zum  Ueberdruss  erschöpft;  ])eide 
hatten  einander  trotz  alles  angewandten  Schaifsinns,  der  freilich 
nicht  selten  mit  einer  minder  wünschenswerthen  Zugabe  von 
Grobheit  und  beissenden  Ausfällen  auf  den  Gegner  versetzt  war, 
nicht  überzeugen  können.  Man  hat  in  der  That  bei  der  Lcctüre 
der  Untersuchungen  Holtzmanns.  Zarnckes  und  ihrer  Gegner 
das  Gefühl,  dass  beide  Theile  Recht  haben,  d.  h.  richtiger  keiner 
von  beiden.  Im  Gebiete  der  Strophendiflferenz  und  der  Lesarten, 
auch  in  dem  Wenigen  von  Metrik,  was  Holtzmann  (Unters. 
S.  G2  — Sl)  und  Rieger  (Nibelungen  S.  91  —  100)  beibringen, 
haben  beide  Parteien  Hunderte  von  Stellen  tiir  sich  beigebracht, 
jede  mit  demselben  Recht  und  an  einzelnen  Stellen  beide  über- 
zeugend. Daraus  muste  sich  dem  Unparteiischen  die  Folge 
ergeben,  dass  wohl  keiner  der  bis  dahin  einseitig  vertreteneu 
Texte  das  absolut  Echte,  d.  h.  die  Quelle  der  anderen  darstelle, 
dass  vielmehr  alle  Texte  mit  einarider  auf  ein  von  allen  ver- 
schiedenes Original  hinweisen."  Und  diese  Verschiedenheit  des 
Originals  von  seinen  Bearbeitungen  kann  nicht  als  eine  so  un- 
bedeutende erscheinen,  wie  auch  die  extremsten  Vertreter  einer 
der  feindlichen  Ansichten  eine  solche  annehmen  musten  und 
annahmen,  sondern  sie  muss  eine  durchgreifendere  gewesen  sein, 
will  mau  aus  ihr  die  manchfachen,  nicht  unbedeutenden  Einzel- 
verscbiedenheiten  der  beiden  Haupttexte  genügend  ableiten 
können.  Ferner  aber  muss  natürlich  an  den  Stellen,  wo  die 
Texte  abweichen,  ein  Wortlaut  im  Original  angenommen  werden, 
welcher  die  beiderseitigen  Aenderungen  begreiflich  macht  und 
erklärt. 

Auf  diesen  Gesichtspunct  hin  hat  denn  auch  Bartsch  wirk- 
lich alle  in  Betracht  kommenden  Puncte  und  alle  eine  Les- 
artenverschiedenheit enthaltenen  Stellen  des  Gedichtes  betrachtet 
und  wirklich  bewiesen,  dass  in  allen  Puncten  beide  Bearbeitungen 
des  Gedichts  abwechslungsweise  echtere  Gestaltungen  des  Textes 
der  einzelnen  Stellen  darbieten,  dass  sich  kein  Punct  findet,  in 
welchem  wirklich  eine  Bearbeitung  absolut  echter  wäre  als 
die  andere. 

Aus  allen  den  vielen  Gesichtspuncten,  die  Bartsch  der  Text- 
kritik zu  Grunde  legt,  ragen  durch  Wichtigkeit  zwei  hervor: 


S6  I.    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

1)  Die  freien  Reime,  2)  die  Senkuugsgesetze ,  namentlich 
die  Beliandliing  der  achten  Halbzeile. 

1)  Durch  die  Betrachtmig  der  freien  Reime  gewinnt  Bartsch 
das  Verhältnis  der  Bearbeitungen  unter  sich  und  zu  dem  ver- 
lorenen Original.  Zarncke  glaubt  vielleicht  nicht  mit  Unrecht, 
dass  in  den  freien  Reimen,  die  noch  im  Nibelungenlied  erhalten 
sind,  kein  Beweis  liege.  Denn  solche  Reime  finden  sich  noch 
bei  späteren  Dichtern  und  in  grösserer  Anzahl  als  im  Nibelungen- 
liede. Ausserdem  beschränkt  sich  weitaus  der  grösste  Theil 
dieser  Reimfreiheiten  auf  Reime  auf  den  Namen //o^^«^;  Bartsch 
bemerkt  (Pf  Germ.  XIII,  221)  zwar  mit  Recht,  dass  auf  diesen 
Namen  genug  genaue  Reime  möglich  gewesen  wären ;  aber  sollte 
nicht  der  Name  als  solcher  (denn  Namen  gemessen  ja  stets 
gewisse  metrische  Freiheiten,  wenn  auch  sonst  nicht  eben  im 
Reime)  vielleicht  auch  noch  in  einer  Zeit  genauerer  Reime  einen 
ungenauen  Reim  gestattet  haben?  Dass  nun  gerade  die  auf- 
fallendsten, alterthümlichsten  mid  freiesten  Reime  sich  durch 
zwei  formelle  Umarbeitungen  hindurch  sollten  erhalten  haben, 
ist  auffallend  und  schwer  glaul)licli.  Allein  sind  denn  wirklich 
jene  von  Bartsch  als  besonders  alterthümlich  bezeichneten  Reime, 
w^ie  Hageyie  :  fjademe,  Hagene  :  menege^  so  ganz  besonders  frei 
mid  ungenau"?  Bartsch  sagt,  dass  sich  solche  doppelt -con- 
sonantisch  und  dazu  vocalisch  ungenaue  Reime,  deren  Reimsilbe 
die  drittletzte  sei,  nur  vor  1150  noch  finden.  Das  mag  sein; 
aber  es  ist  vielleicht  ein  Zufall.  Bartsch  sagt  selbst,  dass  gewiss 
ursprünglich  in  solchen  Wörtern  die  letzte  Silbe  gereimt  habe,^) 
dass  aber  im  zwölften  Jahrhundert  die  drittletzte  Silbe  die  Reim- 
silbe gewesen  sei.  Das  letztere  mag  wahr  sein;  aber  wie  soll 
dann  eine  Unregelmässigkeit  des  Reims  hi  dieser  Silbe,  die  in- 
mitten des  Verses  steht,  schwerer  wiegen  als  eine  solche  in  der 
letzten  Silbe  des  Verses,  d.  h.  eine  Ungeuauigkeit  im  stumpfen 
Reime?  Das  Nibelungenlied  kennt  noch  keine  klingenden  Reime, 
somit  reimt,  genau  genommen,  in  jenen  Wörtern  die  letzte  Silbe 
—  e,  welche  in  allen  jenen  Wörtern  gleich  ist;  Gleichklang  der 
vorhergehenden  Silben  muss  natürlich  wegen  des  Worttons 
schon  gewünscht  werden,  damit  nicht  diesem  zuwider  der  Accent 
zu  einseitig  auf  die  km'ze  letzte  Silbe  falle;  aber  gefordert 
werden  kann  gewiss  der  Gleichklaug  der  vorhergehenden  Silben 


2)  Bartsch,  Unters.  2. 


1.     Die  Handschriftenfrage.     Kritik  und  Resultate.  87 

nicht.     Es   ist   also  gewiss  ein  Zufall   wenn  solche  freie  Reime 
nur  vor  1150  sich  finden/) 

Sind  also  jene  dreisilbigen  Reime  nicht  als  freier  zu  be- 
trachten als  die  freien  stumpfen  Reime,  die  das  Nibelungenlied 
enthält,  so  fallt  jener  Einwand  gegen  Bartsch  weg,  dass  sich 
gerade  die  allerfreiesten  Reime  sollten  erhalten  haben.  Es 
lallt  aber  auch  der  Schluss  weg,  den  Bartsch  aus  diesen  er- 
haltenen freien  Reimen  auf  das  hohe  Alter  des  Liedes  ziehen 
w^ollte. 

Beweisen  somit  die  erhaltenen  Reimfreiheiten  kein  höheres. 
Alter  des  Liedes,  also  keine  Noth wendigkeit,  über*  die  hand- 
schriftliche Tradition  auf  eine  ältere  Gestalt  zurückzugehen;  so 
würde  wohl  auch  der  Umstand,  dass  gerade  an  allen  Stellen, 
wo  sich  ungenaue  Reime  linden,  nur  eine  Bearbeitung  einen 
solchen  aufweist,  noch  nicht  genügen,  um  das  von  Bartsch  auf- 
gestellte Verhältnis  der  Bearbeitungen  zu  beweisen.  Denn  aucli 
wer  einer  einzelnen  Bearbeitung  absoluten  Vorrang  zuerkennt, 
wird,  ohne  seinen  Standpunct  noch  verlassen  zu  müssen,  zu- 
geben können,  dass  an  den  wenigen  Stellen,  wo  die  andere 
Bearbeitung  einen  freien  Reim  aufweist,  diese  das  Echte  erhalten 
habe;  denn  das  auf  diese  Weise  sich  ergebende  Original  wird 
von  der  als  echtest  erwählten  Handschrift  nicht  sehr  viel  ver- 
schieden sein,  die  letztere  also  immer  noch  so  ziemlich  das 
Original  darstellen,  —  Die  erhaltenen  Assonanzen  werden 
also  das  von  Bartsch  aufgestellte  Handschriftenverhältnis  noch 
nicht  beweisen,  wohl  aber,  wenn  es  anderswoher  wahrscheinlich 
gemacht  wird,  den  Beweis  wesentlich  unterstützen  kömien. 

Und  diss  ist  auch  wirklich  der  Fall.  An  den  Stellen,  wo 
noch  eine  Bearbeitung  einen  freien  Reim  erhalten  hat,  war 
glaublich,  dass  die  andere  Bear1)eitung  eben  die  Lesart  der 
ersten  geändert  habe,  um  des  Reimes  willen;  hier  also  brauchte 
man  im  einzelnen  Falle  —  und  der  Fälle  sind  wenige  —  noch 
nicht  über  eine  von  beiden  Bearbeitungen  hinauszugehen. 
Anders  an  den  Stellen,  wo  die  Bearbeitungen  im  Reime  von 
einander  abweichen  und  beide  genau  reimen.  Hier  hat  keine 
von  beiden  etwas  Auftallendes  oder  Alterthümliches,  keine  etwas, 
was  Anlass  zur  Aenderung  gegeben  haben  könnte.  Somit  kann 
keine  Originaltext  sein;  dieser  muss  vielmehr,  um  die  Aender- 
ungen  begreiflich  zu  machen,  irgend  etwas  Auffallendes,  etwas 


3)  S.  auch  Zarncke.  Ausg.  CXIII  f.   S.  über  die  ganze  Frage  im  Nachtrag. 


88  I-    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

Alterthtimliches  gehabt  haben.  Für  dieses  Etwas  nun  bieten 
sich  bei  einem  Gedicht,  dessen  erhaltene  Redactiouen  an  den 
Schhiss  des  zwölften  Jahrhunderts  weisen,  die  freien  Reime 
fast  von  selbst,  für  deren  Entfernung  durch  Ueberarbeitungen 
älterer  Gedichte  es  ja  an  Parallelen  gerade  aus  jener  Zeit 
nicht  fehlt.  Und  sind  die  noch  im  Nibelungenliede  erhaltenen 
Keime  nicht  als  besonders  alterthümlich  anzusehen,  so  wml 
auch  (s.  0.)  der  Einwand  fallen  müssen,  dass  ein  Stehenbleiben 
gerade  der  freiesten  Reime  nicht  denkbar  sei.  Fällt  nun  dieses 
Moment  weg,  so  wird  auch,  wenigstens  vom  Standpuncte  der 
Handschriftenfrage  aus,^)  jene  erste  von  Bartsch  angenommene 
und  um  1170  angesetzte  Umarbeitung  nicht  mehr  nöthig  sein. 
Jedenfalls  aber  fällt  Zarnckes  Einwurf,')  dass  „das  beiden  Be- 
arbeitungen gemeinsam  Verbleibende  einen  Stil  und  eine  Dar- 
stellungsweise zeige,  wie  sie  vor  1190  nicht  möglieh  seien. "^ 
Denn  nicht  nur  macht  die  Persönlichkeit  des  Dichters,  welche 
beim  Nibelungenliede  doch  entschieden  eine  bedeutendere  ist 
als  bei  den  andern  Epikern  der  Zeit  um  1170,  eine  grosse  Ver- 
schiedenheit des  Stils  möglich;  nicht  nur  muss  der  Stil  eines 
strophisch  gehaltenen  Gedichtes  nothwendig  ein  anderer  sein*) 
als  der  eines  in  Reimpaaren  verfassten;  sondern  es  ist  überhaupt 
gewagt,  in  der  Diction  einen  solchen  zeitlichen  Unterschied 
statuiren  zu  wollen.  Des  Kürenbergers  Lieder  werden  in  die 
Zeit  um  1140  gesetzt;  wie  viele  Anklänge  an  die  S})rache  des 
Nibelungenliedes  haben  darin  Franz  Pfeiffer,')  Thausing*)  und 
Bartsch^)  nachgewiesen!  Wenn  endlich  Zarncke  die  Versart 
und  den  Stil  des  Liedes  mehrfach  lyrisch  sein  lässt,'")  so  darf 
hier  nur  wider  an  den  Kürenberger  erinnert  werden,  dessen 
Lyiik  wohl  nicht  für  minder  modern  gelten  darf"  als  die  des 
Nibelungenliedes,  trotz  der  nach  Zarncke  vorhandenen  zeitlichen 
Distanz  von  einem  halben  Jahrhundert. 

Wir  dürfen  also  gewiss   ohne  Bedenken  Bartschs  Ansichten 
über  die   doppelte  Umarbeitung  einer  um    1 170    anzusetzenden 


4)  Denn  die  Kürenberger-Theorie  verlangt  nach  Bartsch  diese  Mittelstufe. 

5)  Zarncke,  Ausg.  XLVIII. 

6)  S.  Zarncke,  Ausg.  VIII;  3S9  f.;  Beitr.  239  f. 

7)  S.  Freie  Forschung  S.  "iö— 2S. 

8)  S.  Bartsch,  Unters.  30:5. 

9)  S.  Bartsch,  Unters.  362  f. 
10)  S.  Zarncke,  Beitr.  240. 


1.    Die  Ilaiulschriftenfrage.    Kritik  und  Resultate.  81) 

Gestaltung;-  des  Gedichts,  welche  noch  wesentlich  in  ireion 
Reimen  gehalten  war,  adoptieren,  umsomchr  als  Bartsch  zugleich 
für  alle  Fälle  der  Kcimdiflterenzen ")  und  für  alle  Arten  von 
Assonanzen,  die  er  dafür  annimmt,"^)  hinreichend  viele  Parallelen 
aus  den  Umarbeitungen  der  zweiten  Hälfte  des  zwölften  Jahr- 
hunderts beigebracht  hat.  Neben  den  freien  Reimen  des  Originals 
hat  jedoch  Bartsch  auch  andersartige  Altcrthümlichkeiten  an- 
genommen und  auch  dafür  Parallelen  angeführt.'^) 

Für  das  hohe  Alter  des  Nibelungenliedes  führt  Bartsch'') 
ferner  noch  die  ungenauen  Cäsur reime  derselben  an.  Die- 
selben wurden  von  den  Bearbeitern  selten  entfernt,  jedenfalls 
nicht  um  ihrer  selbst  willen,  weil  auf  diese  Reime  nicht  geachtet 
wurde.  Allein  wenn  Bartsch  sagt,  dass  „sie  überhaupt  für  zu- 
fällig zu  halten,  ihr  häufiges  Vorkommen  verbiete",")  so  ist  das 
doch  nicht  streng  beweisend.  Es  sind  etwa  132  Stellen  des 
Liedes,  die  Bartsch  anführt  und  deren  Binnenreime  er  durch- 
ähnliche Endreime  des  zwölften  Jahrhunderts  als  beglaubigte 
Reimfreiheiten  documentiert.  Wie  viele  von  diesen  Reimen  mögen 
rein  zufällig  sein,  umsomehr  als  Bartsch  darunter  Reimwörter 
von  sehr  unähnlichem  Klange  aufgeführt  hat !  Können  also  diese 
„freien  Cäsurreime",  nachdem  das  hohe  Alter  des  Liedes  er- 
wiesen, als  Reste  älterer  Form  gelten,  so  ist  jedenfalls  an  und 
für  sich  ebenso  möglich  die  Annahme,  dass  dieselben  ganz  zu- 
fällig seien;  jedenfalls  also  kann  aus  denselben  kein  Schluss 
auf  höheres  Alter  gezogen  noch  auch  ein  solcher  verstärkt  werden. 

2)  Durch  die  Betrachtung  der  Senkungsgesetze  und  ihrer 
Beobachtung  an  den  gemeinsamen  Stellen  und  an  den  jeder  Be- 
arbeitung eigenen,  hat  Bartsch  das  Verhältnis  der  Bearbeitungen 
ihrer  grösseren  oder  geringeren  Treue  gegen  das  Original  nach 
festzustellen  gesucht.  Auch  die  hier  von  Bartsch  gezogenen 
Schlüsse  hat  Zarncke  a.  a.  0.  bekämpft.  Wenn  wir'")  aus 
ästhetischen  Gründen,  die  in  der  Auffassung  des  Ganzen,  in  der 
gesammten  Stilart  und  Darstellung  liegen,  einer  von  beiden  Be- 
arbeitungen den  Vorzug  nicht  geben  können,  vielmehr  beide  als 
wesentlich  gleich  und   gleichberechtigt    betrachten   müssen,    so 

11)  S.  Pf.  Germ.  XHI,  2-2 1—223. 

12)  S.  Bartsch,  Unters. 

13)  S.  Pf.  Genn.  XIII,  224;  Unters.  4.5  f. 

14)  Wie  schon  Holtzmauu,  Unters.  67 — 70. 

15)  S.  Bartsch,  Unters.  53. 

16)  S.  oben,  Seite  76  f. 


90  I-    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

wird  der  letzte  Grund  geschwunden  sein,  C  irgend  einen  kritisch  in 
Betracht  kommenden  *')  Vorzug  vor  der  vulgata  zu  geben.  Bartsch 
hat  wohl  auch  hier  richtig  gesehen,  wenn  er  C,  weil  sie  den 
Versbau  möglichst  zu  glätten  sucht,  den  geringeren  Anspruch 
auf  Originalität  zuerkannte.  Am  deutlichsten  ist  diss  bei  der 
Behandlung  der  achten  Halbzeile.  Zarncke  hat  hier  Bartschs 
Beweise  nicht  zu  entkräften  vermocht,  Dass  der  kretische 
Khythmus  des  Strophenschlusses  nicht  gewollt,  sondern  noth- 
wendig  herbeigeführt  sei  durch  die  in  der  letzten  Halbzeile 
häufigsten  Worte,'*)  hat  Bartsch  durch  Verweisung  auf  den 
Kürenberger,  bei  dem  nothwendig  meist  andere  Worte,  als  im 
Epos,  den  Schluss  der  Strophen  bilden  müssen  und  der  doch 
den  kretischen  Strophenschluss  vorwiegend  anwendet,  genügend 
widerlegt.''')  Dass  C  so  sehr  oft  im  letzten  Halbverse  nichts- 
sagende Aenderungen  ( die  also  nicht  um  des  Sinnes  willen 
unternommen  sein  können)  anbringt,  durch  welche  der  Rhythmus 
jambisch  wird,  beweist  wohl  deutlich,  dass  C  den  kretischen 
Rhythmus  mehr  oder  minder  vermied,  um  die  Senkung  aus- 
zufüllen. 

Mit  der  Behandlung  der  achten  Halbzeile  hängt  das  Schicksal 
der  Plusstrophen  von  C  eng  zusammen.  Hat  der  Bearbeiter 
C  eine  deutlich  ausgeprägte  Individualität  in  der  Behandlung 
des  Textes  verrathen,  deren  Haui)tzug  das  Streben  nach  Glättung 
ist,  so  wird  diese  Individualität  in  den  Plusstrophen  derselben 
besonders  deutlich  heraustreten  müssen,  wenn  dieselben  sein 
eigenes  Machwerk  sind.  Diss  ist  auch  wirklich  der  Fall: 
metrische   Behandlung    und   Wortgebrauch    weisen   wesentliche 


1 T)  Etwas  anderes  ist  es,  wenn  C  mit  Recht  in  ästhetischen  Dingen,  als 
Grundlage  zu  Uebersetzungen,  Vorlesungen  u.  ä.,  bevorzugt  wird  als  der 
umfangreichste  und  im  allgemeinen  auch  beste  und  feinste  Text. 

16)  Zarncke  führt  folgende  Fälle  an,  wo  kretischer  Rhythmus  noth- 
wendig sei  und  neben  denen  freiwillige  Kretici  ganz  selten  seien: 

1)  Die  Doppelhebung  liegt  auf  einem  Eigennamen  von  der  Form 
/\  (^)»  wohin  die  meisten  des  N.  L.  gehören:  Bnrijnnden  u.  a.  [s.  §  13, 
not.  93.]; 

2)  Sie  ruht  auf  Appellativen  oder  Adjectiven  von  dieser  Form,  wie 
herlicher,  bluotirjer,  tiatn/e  u.  ä.;  auch  diese  waren  nur  bei  kretischer  Form 
an  dieser  Stelle  unterzubringen; 

3)  Sie  ruht  auf  einem  trochäischen  Wort,  dem  ein  jambisches  folgt: 
ri'tlir  gemeit,  rvöldc  gesUni  u.  ä.  Auch  hier  musste  nothweudiger  Weise 
kretischer  Rhythmus  eintreten. 

19)  S.  Pf.  Germ.  XIH,  22^. 


1.    Die  Handschriftenfrage.    Kritik  und  Resultate.  91 

Unterschiede  auf  geg-eiiübcr  der  Metrik  und  dem  Wortgebrauche 
des  gemeinsamen  Textes.  Kretisclier  Khythmus  der  achten 
Halbzeile  tindet  sich  unter  den  &<>  atrophen  nur  neunmal,  also 
ist  das  Verhältnis  der  jambischen  Schlüsse  zu  den  kretischen 
das  von  S:l,  während  iii  den  Strophen,  die  ('mit  B  gemein 
hat,  das  Verhältnis  das  von  (> :  5  ist.'")  Auch  sonst  ist  das 
Fehlen  der  Senkungen  selten.  Der  Wortgebrauch  Aveist  ebenfalls 
manchtache  Besonderheiten  auf;  doch  sind  dieselben  wohl  nicht 
der  Art,  dass  sich  aus  ihnen  allein  ein  Scliluss  ziehen  Hesse.  — 
Die  Erklärung,  welche  Zarncke  für  diese  auffallend  grosse 
Minderheit  der  kretischen  Schlüsse  in  den  Plusstrophen  von  C 
gegeben  hat,  dass  nemlich  diese  Strophen  fast  alle  der  Betrach- 
tung und  Reflexion  dienen  und  dass  für  diese  der  jambische 
Rhythmus  mehr  geeignet  sei,  weil  die  den  kretischen  Rhythmus 
hervorrufenden  Wörter  meist  nur  in  der  epischen  Erzählung  vor- 
kommen, genügt  otfen])ar  nicht,  und  Bartsch  haf-'j  mit  Recht 
darauf  hingewiesen,  dass  einmal  kein  Grund  vorhanden  sei, 
warum  die  Betrachtung  und  Reflexion  die  betreffenden  Wörter  und 
AVendungen  weniger  anwenden  sollte  als  die  epische  Erzählung, 
und  dass  zweitens  auch  in  den  gemeinsamen  Strophen  die 
Schlusszeile  sehr  häufig  eine  Reflexion  des  Diclrters  enthalte, 
ohne  dass  deswegen  hier  der  jambische  Rhythmus,  auch  in  C, 
vorwiegen  würde. 

Es  wird  demnach  nichts  dagegen  beizuljringen  sein,  dass 
die  Plussstrophen  von  C  eigenes  Machwerk  dieses  Bearbeiters 
seien  (ebenso  auch  die  denselben  metrischen  Charakter  tragen- 
den von  CJ),  worauf  auch  schon  der  gemeinsame  Charakter 
aller  dieser  Strophen  einigermaassen  hinweist.  Mehrere  dieser 
Strophen  können  allerdings  sehr  erwünscht  erscheinen;  aber 
nothwendig  ist  deren  keine;'")  manche  stören  durch  ihren 
glossenmässigen  Charakter  sehr.  Was  am  meisten  für  diese 
Strophen  sprechen  könnte,  sind  die  vielen  klingenden  Reime; 
aber  Bartschs  Erklärung  datür  dürfte  genügen.-^) 

Ebenso  werden  aber  auch  nach  dem  Grundsatze,  dass  nur 
das  beiden  Bearbeitungen  Gemeinsame  echt  ist,  die  Plus- 
strophen der  vulgata  als  unecht  gelten  dürfen. 


20)  S.  §  i:{,  not.  57. 

21)  S.  Pf.  Germ.  Xffl,  22S. 

22)  S.  §  19,  not.  2. 

23)  Bartsch,  Unters,  t».     S.  §  13,  not.  9. 


92  I-    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

Der  doppelten  Zudichtung  von  Strophen  durch  den  Be- 
arbeiter von  C,  welche  Bartsch  annehmen  will,  tritt  die  Un- 
wahrscheinlichkeit  gegenüber,  dass  derselbe  Bearbeiter  zuerst 
20  Strophen  ohne  Cäsurreime,  sodann  aber  80  Strophen,  in 
denen  auf  alle  vier  Strophen  ein  Cäsurreim  kommt,  sollte  ge- 
dichtet haben.  Wenn  also  die  20  Strophen,  welche  J  mit  C 
gemein  hat,  diese  Reime  nicht  enthalten,  so  ist  diss  so  zu  er- 
klären, dass  der  Bearbeiter  des  Originals  der  C4ruppe  J  nur 
solche  Strophen  aus  C  auswählte,  welche  keinen  Cäsurreim 
boten.^') 

Was  die  Entlehnungen  aus  der  Klage  betrifft,  Avelche  Bartsch 
der  Bearbeitung  C  zuschreibt,  so  sind  dieselben  keineswegs  un- 
möglich, und  dieses  Verhältnis  mag  sich  dadurch  Itestätigen, 
dass  C  in  der  Klage  manche  Steilen  auslässt,  deren  Inhalt  sie 
im  Nibelungenliede  hinzugedichtet.  Aber  zu  weit  geht  Bartseh, 
wenn  er  die  EntlehnuDgen  bis  auf  die  einzelsten  Ausdrücke 
ausdehnt,  unter  welchen  viele  sind,  die  gar  nichts  besonderes 
an  sich  haben.  —  Die  übrigen  Bemerkungen  Bartschs  über  die 
Klage  gehören  nicht  hieher.  Natürlich,  dass  in  ihr  das  Hand- 
schriftenverhältnis dasselbe  ist  wie  im  Nibelungenlied. 

Noch  Einiges  über  das  Alter  der  beiden  Bearbei- 
tung e  n.^^)  Dass  die  Bearbeitung  C  etwa  1 1 90 —  1 200  entstanden 
ist,  wird  durch  die  von  Bartsch  und  von  Anderen  beigebrachten 
Zeugnisse  bewiesen.  Minder  sicher  ist  die  Zeitbestimmung  der 
vulgata.  Einen  termi?ius  ad  quem  erhalten  wir  hier  aus  dem 
Umstände,  dass  die  falsche  Schreibung  von  B  1494,  1  :  vii 
nhdkh  ijehü  statt  vil  inüeUch  (jesit^  in  der  Thidrekssaga  zu  einer 
ganzen  Erzählung  von  dem  Weibe  des  Fährmanns  Veranlassung 
geworden  ist.-")  Ist  die  Thidrekssaga  um  1250  veilässt,  wie 
Holtzmann  und  Zarucke-")  augeben,  so  fällt  B  als  Hand- 
schrift (denn  ^4  theilt  jenen  Schreibfehler  nicht)  vor  1250, 
noch  früher  natürlich  die  Bearbeitung.  Diss  streitet  noch 
nicht  mit  Zarnckes  Zeitbestimmung,  auch  das  nicht,  dass  nach 
Bartsch  B  eher  vor  als  nach  1240  geschrieben  ist.-*)  Holtz- 
manns  Angabe,^'-*)  dass  0  noch  im  zwölften  Jahrhundert  geschrieben 

24)  S.  §  13,  not.  104. 

25)  Ueber  das  des  Originals  s.  u. 

26)  S.  Holtzmann,  Unters.  210. 

27)  Holtzmann,  Unters.  174;  Zarncke,  Ausg.  LXXXIII 

28)  Bartsch.  Unters.  36S. 

29)  Holtzmann,  Unters.  62. 


1.    Die  Handschriftenfrage.    Kritik  und  Resultate.  93 

sein  könnte,  bestätigt  sich  durch  Zarnckes  und  Bartschs  Angaben 
nicht.  Dagegen  fällt  nach  Bartsch^")  die  Handschrift  aS  an  den 
Anfang  des  dreizehnten  Jahrhunderts,  wodurch  natürlich  die  Ent- 
stehung der  vulgata  in  eine  weit  frühere  Zeit  gerückt  wird. 
Dazu  kommt,  dass  die  in  der  vulgata  erhaltenen  Formen :  rltet^e 
oder  ritcere,  sainct,  Guntkere^  beidere,  niemenno,  ('riste  nach 
Bartsch  bestimmt  auf  das  zwölfte  Jahrhundert  deuten.  Zarnckes 
Theorie  von  der  Entstehung  der  vulgata  nach  Nitharts  öster- 
reichischen Liedern,  d.  h.  nach  1230,  ist  somit  zu  verlassen. 
Daraus  folgt  auch  etwas  über  die  Heimat  der  vulgata. 
Hat  diese  den  Namen  Zeizenmüre  nicht  aus  Nithart  geschöpft, 
so  muss  ihr  Redactor  ein  Oesterreichw  sein,  weil  ein  Nicht- 
österreicher  gewiss  nichts  von  der  Existenz  von  Zeisselmauer 
wissen  konnte ;  wenigstens  wird  er  so  lange  dafür  gelten  müssen, 
bis  ein  Werk  des  zwölften  Jahrhunderts  mrd  gefunden  werden, 
das  diesen  Namen  enthält,  aus  dem  also  der  Verfasser  der 
vulgata  geschöpft  haben  könnte. 


Resultate. 
21. 


Kurz  zusammengefasst ,  sind  somit  die  Resultate  dieser 
Untersuchung  folgende : 

1)  A  ist  schlechter  als  B  und  von  geringerem  Werthe;  B 
ist  der  eigentliche  Repräsentant  der  vulgata. 

2)  Weder  die  Bearbeitung  C  noch  die  vulgata  sind  absolut 
echt;  beide  sind  vielmehr  Bearbeitungen  einer  älteren,  vor  1190 
fallenden  Gestalt  des   Gedichtes,  der  Form  wegen  unternommen. 

3)  Ob  diese  ältere  Gestalt  nicht  selbst  schon  eine  Bearbeitung 
des  Originals,  dieses  also  noch  älter  ist,  kann  die  Handschriften- 
Untersuchung  nicht  entscheiden, 

4)  Inwieweit  die  beiden  Bearbeitungen  B  und  C  neben  den 
Assonanzen  ihres  Originals  noch  andere  Alterthümlichkeiten 
beseitigt  haben,  lässt  sich  nicht  mehr  entscheiden. 

5)  Beide  Bearbeitungen  sind  etwa  in  den  Jahren  1190 — 1200 
entstanden. 

6)  Der  Verfasser  der  vulgata  war  ein  Oesterreicher. 

30 1  Ausgabe  S.  XI. 


94  I.    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

7)  In  der  Bearbeitung  C  lassen  sich  keine  weiteren  Re- 
dactionen  mehr  untersclieiden. 

S)  Dagegen  sind  einige  Handschriften  der  vulgata,  die  der 
Gruppe  J,  von  einer  Handschrift  des  anderen  Textes  in  manchen 
Dingen  abhängig;  insbesondere  haben  dieselben  von  den  Plus- 
strophen des  Textes  C  zwanzig  herübergenommen. 

9)  Für  die  Handschriftenvergleichung  im  Einzelnen  gilt, 
dass  nur,  was  beiden  Bearbeitungen  gemeinsam  ist,  als  echt 
gelten  kann;  was  nicht  gemeinsam  ist,  ist  Eigenthum  der  Be- 
arbeitungen. 

10)  Daher  sind  die  Plusstrophen  beider  Bearbeitungen 
nicht  dem  Original  zuzutheilen;  wohl  aber  sind  die  in  ^l  allein 
fehlenden  Strophen  echt. 

11)  Das  Verhältnis  der  Handschriften  in  der  Klage  ist  das- 
selbe wie  im  Nibelungenliede. 

12)  Daraus  ergibt  sich  folgende  Genealogie: 

Original  der  beiden  Bearbeitungen,  c  1170 — 1180 
_— ^— ^  Z  _____ 

Originale  der  Bearbeitungen,  1190 — 1200 
BD  MN  S  b   c  i  L  A 'CD   S   h^ EF     ~R       k 

Misch  Hss. 

H  0~^~Jk'Q  l 

I         I 
d       h 


ZAveiter  Al)sclmitt. 

Die  ITitielungensage. 


22. 

Die  Sage  als  der  Inbegriff  des  in  dem  Gedichte  Darge- 
stellten muss  uns  natürlich  hier  auch  berühren,  da  auch  sie  zu 
den  Entstehungsmomenten  und  Bedingungen  des  Gedichts  gehört. 
Es  soll  •  aber  hier  nicht  eine  Darstellung  der  Mbelungensage 
nach  ihren  verschiedenen  Gestaltungen  in  den  eddischen  Liedern 
und  Prosastücken,  in  den  angelsächischen  Epen,  in  der  Thidreks- 
saga,  im  Nibelungen-  und  Siegfriedsliede  gegeben  werden, 
sondern  es  soll  gefragt  werden:  1)  wie  ist  die  in  der  Nibelungeu- 
sage  offenbar  vorliegende  Verschmelzung  eines  historischen 
Elements  (in  der  Sage  von  Attila  und  den  Burgunden)  und 
eines  mythischen  (in  der  Sage  von  Siegfried  und  den  Nibelungen) 
zu  erklären;  2)  welche  ursprüngliche  Bedeutung  ist  der  Sieg- 
friedssage zuzuschreiben;  3)  in  wie  weit  ist  die  alte  Gestaltung 
der  Sage  im  Nibelungenliede  noch  erhalten,  beziehungsweise 
besser  erhalten  als  in  den  andern  Aufzeichnungen  der  Sage,  in 
wie  weit  ist  sie  getrübt  oder  völlig  zerstört? 


1.    Der  liistorische  Tlieil  der  Sage. 

23. 

Dass  in  der  Nibelungensage,  so  wie  sie  uns  in  allen  voll- 
ständigen Ueberlieferungen  vorliegt,  zwei  Theile  bestimmt  zu 
unterscheiden  sind,  einerseits  die  Geschichte  Siegfrieds  bis  zu 
seinem  Tode  und  andererseits  die  von  dem  Untergange  der 
Burgunden  durch  Attila,  ist  allgemein  anerkannt.     Ebenso  ist 


96  L    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

klar,  Avo  die  Verbinduiigsj^uncte  zwischen  lieiden  Theilen  liegen 
müssen;  beiden  sind  jedenfalls  gemeinsam  die  Personen 
Kriemhilds  und  der  Nibelungen.  Es  gehen  aber  eben  in  der 
Erklärung  dieser  Verschmelzung  von  ursijrünglich  getrennten 
Personen  und  Erzählungen  die  Ansichten  der  Gelehrten  ausein- 
ander. Den  wesentlichsten  Streitpunct  bildet  die  Frage,  ob 
nach  der  älteren  Fassung  der  Sage  Kriemhild  oder  Etzel  die 
Schuld  an  dem  Untergange  der  Burgunden  getragen  habe.  Die 
nordische  Sage  weicht  in  diesem  Puncte  wesentlich  von  der 
deutschen  ab,  indem  jene  Atlis  Gier  nach  dem  Horte  Siegtrieds 
den  Untergang  der  Burgunden  herbeiführen,  Gudrun  aber 
(=  Kriemhild)  auf  der  Seite  ihrer  Brüder  kämpfen  und  zuletzt, 
um  diese  zu  rächen,  ihren  Gatten  Atli  ermorden  lässt. 


24. 
Karl  Lachmann 

hat  zuerst  genauere  Forschungen  über  die  Trennung  des  histori- 
schen und  des  mythischen  Theils  der  Sage  angestellt.') 

Ein  historisches  Ereignis,  das  alle  Darstellungen  haben, 
ist  die  Besiegung  der  Burgunden^)  durch  die  Hünen.  Dieser 
Vorgang,  obwohl  in  allen  Darstellungen  der  Sage  an  einen 
falschen  Ort  versetzt,  ist  doch  ganz  entschieden  historisch 
und  g-ut  bezeugt.  Die  Burgunden  (in  mehreren  Quellen  wird 
(jrundicurws ^  d.  h.  ahd.  Gi/fida/iuri ,  mhd.  Gu?ithe?'e,  als  König 
derselben  bezeugt)  wurden  im  Jahre  435  oder  436  von  Aetius 
besiegt  und  437  von  den  Hünen  gänzlich  geschlagen  und  ihr 
Königshaus  vernichtet;^)  wahrscheinlich  östlich  vom  Mittelrliein, 


1)  ..Kritik  der  Sage  von  den  Nibelungen",  aus  dem  Ehein.  Museum  von 
1829;  si^äter  in  die  ..Anmerkungen"  aufgenommen,  S.  333 — 349. 

2)  oder  Nibelungen  (so  in  der  Siegfriedssage)  oder  Gibichungen  (uord. 
Gjukungen). 

3)  (Die  Stellen  dafür  s.  Müllenhoff,  Zur  Gesch.  der  Nib.  Sage,  in  Haupts 
Zeitschr.  X,  14s  f.;  bei  Idacius:  Burgundiones.  qui  rebellaverant,  a  Romanis 
duce  Aetio  dcbellantur  (436';  Burgundionum  ca^sa  vigiuti  milia  (437i;  bei 
Prosper  Aquitanus:  Gundicarium  Burgundionum  regem  intra  Gallias 
habitantem  Aetius  bello  obtrivit,  paccmque  supplicanti  dedit;  qua  uon  diu 
potitus  est,  si  quidem  illum  Huni  cum  populo  suo  ac  stirpe  deleverunt; 
Attila  als  Führer  der  Hünen  erscheint  erst  bei  Paulus  Diaconus.] 


2.   Die  Nibelungensage.    Der  historische  Theil  der  Sage.  97 

auf  de.ssen  beiden  Seiten  die  Bnrgunden  damals  wohnten.^)  Dazu 
kommt  ferner,  dass  König  Giindobald  in  der  lex  liurgundionum 
tit.  1)  als  seine  Vorfahren  (ii/jica ,  (Todomunisj-')  (jislaharius  und 
Gunduharhis  nennt.  Diese  Xamen  treffen  mit  denen  der  Nibel- 
ungen zAisammen,'"')  und  ihr  Xel)encinandcrstehen  in  beiden  Theilcn 
der  Sage  verstärkt  den  Beweis,  dass  an  diesem  Punete  die  Ver- 
schmelzung zwischen  Sage  und  Geschichte  stattgefunden  hat; 
denn  die  Nibelungen  als  solche  gehören  der  Siegfriedsagc  un- 
mittelbar an  und  nur  ihr  allein,  wie  schon  der  Name  „  Nibelungen "') 
beweist. 

Dass  die  Nibelungen  eigentlich  der  Geschichte  der  Burgun- 
den  vollständig  ferne  stehen,  beweist  der  Umstand,  dass  sie  nur 
in  den  deutschen  Gedichten  jüngeren  Alters^)  und  nur  einmal 
in  der  Edda  Burgimden  heissen,  aber  in  allen  Darstellungen  der 
Sage  zugleich  als  Franken  gelten.  Dazu  kommt,  dass  der 
Name  Xihchinii,  der  allen  Darstellungen  der  Sage  gemeinsam 
ist,  als  historischer  Personenname,  wenigstens  in  älterer  Zeit, 
lediglich  ein  fränkischer  ist') 

Lachmann  beweist  des  Weiteren,  dass  Siegfried  und  die 
Nibelungen  gar  nicht  historische,  sondern  rein  mythische  Persön- 
lichkeiten sind;  darüber  s.  u. 

Aber  auch  die  Sage  von  dem  Untergange  der  Burgunden 
ist  als  Sage  schon  sehr  alt;  sie  war  wohl  schon  vor  der  Ver- 
nichtung des  burgundischen  Rei'chs  Eigenthum  des  Volksgesangs, 
d.  h.  vor  5.'-iS,  da  nach  dieser  Katastrophe  sich  an  jene  frühere 
das  Gedächtnis  wohl  kaum  mehr  erhalten  hätte  ohne  vorherige 
Festhaltung  durch  Sage  und  Lied. 


4)  [S.  Müllenhoff,  Mb.  Sage  146  ff.;  Zarncke,  Ausgabe  II.  —  Ob  Attila 
wirklich  der  Führer  der  Hünen  war  (s.  Müllenhoff  150  f.),  ist  gleichgiltig, 
da  er  jedenfalls  in  Sage   und  Geschichte  Repräsentant   des  Hunenvolks  ist.] 

5)  So  oder  Godomaris  ('?),  Gundomarus. 

ti)  Gibich  (nord.  Giidci,  mhd.  Giheke)  heisst  Günthers  Vater  in  allen  Auf- 
zeichnungen, ausser  in  Kibelungen,  Klage  und  Biterolf;  Günther  (nord. 
Giinnarr)  ist  gemeinsam;  aber  Gundomar  (uord.  Guttorntr)  und  Gisclhcr  ge- 
hören nur  der  Geschichte  an,  finden  sich  daher  auch  nicht  in  allen  Auf- 
zeichnungen; statt  Gundomars  steht  meist  Gcniöt  als  dritter  Bruder  da. 

7)  Opp.   T'öisu»f/ar;  s.  u. 

8)  Nibelungen,  Klage,  Biterolf. 

9)  Auf  das  fränkische  Worms,  das  in  der  deutschen  Sage  von  den 
Nibelungen  und  in  der  von  Walther  erscheint,  sowie  auf  die  Abstammung 
Hagens  von  Troja  (Nib.  „Tronege-;  s  Lachmann,  Anm.  S.  8.  336),  woher 
nach  der  Sage  die  Franken  stamnien,  ist  wenig  Gewicht  zu  legen. 

Fischer,  Nibelungenlied.  ' 


98  I-    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

Mit  der  Sage  vom  Untergang  der  Burgunden  durch  Etzel 
ist  auch  Dietrich  verbunden,  welcher  ganz  unstreitig  mit  dem 
historischen  Ostgothen  Theodoricli  dem  Grossen  identisch  ist. 
Er  hält  sich  auf  seiner  durch  die  Sage  ganz  unhistorisch  als 
sehr  lange  dauernd  dargestellten  Flucht  vor  Odoaker'")  bei  Attila 
auf.  Das  eigenthümliche  Verhältnis,  in  welchem  er  in  der  Sage 
zu  der  Katastroidie  steht,  ist  das,  dass  überall,  wo  Dietrich  bei 
derselben  erscheint,  der  Mord  der  Burgunden  als  Kriemhilds 
Werk  dargestellt  wird,  während  in  den  Darstellungen,  nach 
denen  Attila  selbst  Urheber  des  Mordes  ist,  Dietrich  fehlt. 

Wie  kam  aber  überhaupt  die  Sage  dazu,  Attila  mit  Sieg- 
frieds Witwe  oder  mit  der  Schwester  der  Burgunden  vermählt 
sein  zu  lassen?  Am  natürlichsten  erklärt  sich  diss,  wenn  man 
annimmt,  dass  Attila  und  die  Burgunden  in  der  Sage  schon  als 
verbunden  fixiert  waren,  ehe  diese  mit  den  Nibelungen  identifi- 
ciert  wurden.")  Wenigstens  hat  die  ungarische  Volkssage  '■')  uns 
als  den  Namen  einer  der  vielen  Gemahlinnen  Attilas,  einer 
deutschen  Princessin,  den  Namen  Cremild*^)  aufbewahrt,  während 
dieselbe  weder  von  Günther  noch  von  den  Nibelungen  etwas 
weiss.  Da  nun  die  ungarische  Sage  auch  von  Dietrich'')  etwas 
weiss  als  einem  Freunde  Attilas,  so  wird  auch  Dietrich  schon 
in  der  Burgundensage  figuriert  haben,  ehe  sie  mit  der  Nibelungen- 
sage combiniert  wurde.  Damit  erhält  aber  zugleich  die  deutsche 
Darstellung  des  Untergangs  der  Burgunden,  nach  welcher  Kriem- 
hild  die  Schuld  an  dem  Morden  trägt,  den  Vorrang  vor  der 
nordischen.  Doch  können  beide  Darstellungen  gleichzeitig  und 
unabhängig  von  einander  existiert  haben. 

Die  Veranlassung  aber,  beide  Sagen,  die  burgundische  und 
die  fränkische,  zu  combinieren,  lag  offenbar  sowohl  in  der  Gemein- 
samkeit des  Namens  Günthers  als  auch  in  der  Unvollständigkeit 


10)  S.  Lachmann,  Anmerk.  S.  337. 

11)  Es  ist  sogar  nach  Lachmann  nicht  unmöglich,  dass  die  Vermählung 
Attilas  mit  einer  burgundischen  Fürstentochter  vor  437  historisch  sei; 
wenigstens  seien  435  lluneu  und  Burgunden  befreundet  gewesen. 

12)  [Nach  Simon  von  Keza;  s.  Wilhelm  Grimm,  Deutsche  Heldensage, 
No.  «3  (S.  163— lt;G).] 

13)  [Bei  Grimm  1.  c.  S.  105:  de  illustri  prosapia  Germaui;e  ducum  orta. 
domina  Kremheyich  vocitata;  ibid.  S.  1(56:  Crumhelt.] 

14)  S.  Grimm  1.  c.  104:  Detricus  de  Verona; Hungarorum  in 

idiomate  halhatatlan  Detreh  dici  meruit,   präsentem  usque  in  diem  (Keza 
schrieb  in  der  2   Hälfte  des  13.  Jahrh ).] 


2.    Die  Nibelungensage.     Der  historische  Theil  der  Sage.  99 

der  Sage  von  Siegfried,  wenn  diese  mit  seiner  ungerocbenen 
Ermordung  schloss.'^)  Wann  die  Verbindung  beider  Sagen 
geschab,  ist  nicbt  mebr  zu  entscheiden;  jedenfalls  liegt  kein 
Grund  vor,  sie  bis  zu  Karl  dem  Grossen  oder  über  denselben 
hinaufzurücken. 

25. 

Ganz  unabhängig  von  Lachmauns  Ansicht  und  vielfach  der- 
selben entgegengesetzt  ist  die  (jetzt  freilich  veraltete)  von 

Wilhelm  Grimm, 

in  dessen  Werk  „Die  deutsche  Heldensage"  (Göttingen  1&29)') 
entwickelt. 

W.  Grimm  hält  die  nordische  Darstellung  vom  Untergange 
der  Burgunden  tür  die  echtere:  Kriemhild  erhält  von  ihren 
Brüdern  ein  Wergeid  für  Siegfrieds  Tod  -)  und  kann  somit  nach 
altgermanischer  Anschauung,  wie  solche  der  Norden  noch  reiner 
erhalten  hat,  nicht  mehr  auf  Rache  gegen  dieselben  sinnen. 
Damit  hängt  es  zusammen,  wenn  Grimm  den  nordischen  Atli 
von  dem  historischen  Attila  vollständig  trennt  und  glaubt,  dass 
eine  Identificierung  beider  erst  später  erfolgt  sei,  Grimm  glaubt 
somit,  dass  schon  vor  dem  Eindringen  des  historischen  Elementes 
die  ganze  Nibelungensage  bis  zu  Atlis  Tod  ein  Ganzes  ge- 
bildet habe  und  dass  eben  durch  die  Aehnlichkeit  von  Atlis 
und  Attilas  Namen  und  die  zwischen  der  burgundischen  Kata- 
strophe von  437  und  der  Vernichtung  der  Gjukungen  der 
historische  Attila  und  die  historischen  Burgunden  in  die  Sage 
eingedrungen  seien.  Attila  erscheint  in  der  Edda  noch  als 
kleiner,  unbedeutender  Fürst,  nicht  als  der  welthistorische 
Hunenkönig   der    deutschen   Sage   und   der  Geschichte;^)    auch 


1.5)  Nach  dem  ursprünglichen  Sinn  des  Siegfried- Mythus,  wie  ihn  Lach- 
mann darstellt,  ist  diese  Unvollständigkeit  nicht  vorhanden,  sondern  die  Sage 
und  ihr  mythischer  Gehalt  schliesst  mit  Siegfrieds  und  Brünhilds  Tod. 

1)  Lachmanns  ..Kritik"  und  Grimms  ».Heldensage"  erschienen  fast  gleich- 
zeitig (s.  Lachm.,  Anm.  S.  349). 

2)  Davon  scheint  ein  halb  unverstandener  Rest  die  suone  im  Nib.  Lied 
(1046 — 1055)  zu  sein. 

3)  Dass  auch  Atli  König  von  Hunaland  heisst,  wäre  eben  durch  das 
Hereindringen  der  historischen  Vorstellungen  von  Attila  zu  erklären ;  ebenso 
das  einmalige  Vorkommen  des  Namens  der  Burgunden. 

7* 


100  I.    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

zeigt  sich  sein  Charakter  iu  beiden  Darstellungen  dA*  Sage  ver- 
schieden; er  erscheint  im  Norden  als  tückisch,  habgierig,  schwach 
und  feig,  was  er  in  der  deutschen  Sage  nicht  ist.') 


26. 
A.  G lese  brecht') 

hat  zwar  im  allgemeinen  für  die  Erklärung  der  Sage  selbst 
wenig  Bleibendes  gewirkt;  er  steht  vollständig  auf  dem  Boden 
des  reinen  Euhemerismus'-)  und  damit  auf  einem  ganz  allgemein 
verlassenen  Posten;  aber  ein  Punct  seiner  Untersuchungen  und 
gerade  ein  auf  die  Verschmelzung  von  Siegfriedssage  und  Bur- 
gundengeschichte bezüglicher  ist  es,  was  der  hieher  gehörigen 
Abhandlung  dieses  Gelehrten  noch  für  heute  dauernden  AVerth 
verliehen  hat. 

Giesebrecht  glaubt,  dass  der  erste  und  ursprüngliche  Held 
der  Siegfriedssage  Armin ius  sei,  dessen  Ende  durch  Verrath 
seiner  nächsten  Verwandten,  durch  welchen  Weib  und  Kind  in 
der  Gewalt  feindlicher  Mächte  gelassen  werden,  mit  Siegfrieds 
Schicksal  überraschende  Aehulichkeit  habe.  Die  Sage  wurde 
später  in  die  Gegend  von  Santen  verpflanzt,  zu  des  Claudius 
Civilis  Zeiten  dort  befestigt  und  erneuert.  Zu  Chlodwigs  Zeit 
kam  der  Hort  als  wesentliches  Moment  hinzu.  Die  Sage  aber 
^'on  Kriemhilds  Rache,  und  damit  kommen  wir  an  den  erwähnten 
Punct,  der  diese  Untersuchung  für  uns  wichtig  macht,  welche  die 
unvollendet  gebliebene  Geschichte  von  Thusnelda  abschloss,  war 
veranlasst  durch  die  Geschichte  von  Chlodwigs  I.  Gattin 
C  h  r  0  d  i  c  h i  1  d  e.  Diese  war  die  Tochter  Chilpcrichs  von  Burgund, 
den  sein  Bruder  Gundobald  sammt  Weib    und  Söhnen   getötet 

4)  [Indes  erscheint  im  Nib.  Lied  Etzel  wenigstens  nicht  als  eine  Helden- 
gestalt.]. 

1)  In  der  Abhandlung:  ..Ueber  den  Ursprung  der  Siegfriedssage-,  in 
Hagens  Germania  II,  S.  203 — 234. 

2)  Alberich  soll  der  von  Chlodwig  besiegte  Westgothenkönig  Alarich, 
Hagen  der  Dämon  des  fluchbeladenen  fränkischen  Königshauses,  die  Namen 
der  Völsungen  und  Nibelungen  von  den  Flüssen  Vahalis  und  NabaHa,  an 
welchen  Civilis  kämpfte,  abgeleitet  sein;  der  von  Siegfried  getödtete  Drache 
ist  die  Bezeichnung  des  römischen  Heeres,  das  sich  gepanzert  durch  Gebirgs- 
schluchten hindurchwindet  und  fremd  redet,  Siegfrieds  Hornhaut  die  römische 
Kriegsrüstung,  welche  Armin  sich  angeeignet  hat,  sein  Verstehen  der  Yögel- 
sprachen  Armins  Kenntnis  der  lateinischen  Sprache;  u.  dgl.  m. 


2.   Dio  Nibeluugensage.    Der  historische  Theil  der  Sage.  101 

hatte.  Cbrodichildc  wurde  von  ihrem  Oheim  trotz  der  Warnung 
eines  gewissen  Acidius^)  und  trotz  ihrer  eigenen  Weigerung') 
dem  noeh  heidniselien^)  Chlodwig  vermählt.  Sehon  bei  ihrem 
Abzug  aus  Burgund  liess  sie  durch  Chlodwigs  Leute  das  Gebiet 
ihres  Oheims  verheeren.  Später  forderte  Chlodwig  die  Schätze 
seines  Schwiegervaters.'')  Als  in  Chrodichilds  hohem  Alter 
Gundobalds  Sohn  Sigmund  seinen  Sohn  Siegerich  ermorden  liess, 
rief  Chrodichilde  ihre  Söhne  zum  Kriege  auf,  der  mit  der  Ver- 
nichtung des  burgundischen  Reiches  im  Jahre  538  endigte.  Die 
Geschichte  der  Chrodichilde  schien  die  Lücke  in  der  Sage  von 
Armin  und  Thusnelda  auszufüllen;  zugleich  aber,  da  mit  ihrer 
Geschichte  der  Untergang  Burgunds  verknüpft  war,  erinnerte 
man  sich  dal)ei  an  die  durch  Attila  vor  einem  Jahrhundert  ge- 
schehene Besiegung  derBurgunden  und  verband  beide  Katastrophen 
mit  einander.  Das  tragische  Ende  des  austrasischen  Siegbert 
(t  575)  frischte  das  Gedächtnis  der  Sage  wider  auf;  vielleicht 
kam  damals  Hagen  von  „Tronege"  herein  durch  die  beiden 
pueri  ^y'araco7ienses''  (d.  h.  von  Tornach),  welche  Fredegunde 
mit  Siegberts  Ermordung  ])eauftragte.  Aus  jener  Zeit  erst  stammt 
der  Zank  der  Schwägerinnen. 

27. 

Karl  Müllenhoff 

hat  Lachmanns  Ansichten  einer  eingehenden  Prüfung  unterworfen 
und  ist  zu  ziemlich  verschiedenen  Resultaten  gelangt.') 

Müllenhotf  weist  nach,  dass,  Worms  als  fränkische  Stadt 
aufzufassen,  die  in  die  burgundische  Geschichte  erst  durch  sagen- 
hafte Verknüpfung  hereingekommen  sei,  kein  Grund  vorliege; 
denn  die  Stärke  der  Burgunden  muste  zu  der  Zeit,  da  Aetius 
sie  schlug,  gerade  etwa  in  der  Gegend  von  Worms  liegen.  Die 
Sage  hat  also  mit  der  Nennung  von  Worms  durchaus  das 
Historische  aufbewahrt.  Ebenso  ist  diss  der  Fall,  wenn  sie 
Günther  von  Worms  aus  ostwärts  Etzeln  entgegenziehen  lässt; 
denn  die  Grenze   zwischen  Burgunden  und  Hünen  fiel  zu  jener 


3)  Wie  Hagen  im  Nib.  Lied  Str.  13ys  ff.  und  schon  Str.  1143  tf. 
■1)  Ebenso  Kriemhild  im  Nibelungenliede,  Str.  11 58  ff. 
5)  Ebenso  Etzel  im  Nib.  Lied. 
Ct)  So  Atli  in  der  riordischep  Sage. 
1)  In  Haupts  Zeitschrift  X,  146 -ISO. 


102  I-    Die  Entstehung  des  Nibelungeuliedes. 

Zeit  etwa  mit  der  heutigen  zwischen  Baiern  imd  Böhmen  zu- 
sammen. Guudiearius,  von  Aetius  geschlagen,  floh  ostwärts  und 
fiel  dem  Hunenheere  in  die  Hände.  AYenn  nun  sicher  erwiesen 
ist,  dass  Günther  eigentlich  zwei  Personen  vereinigt,  den 
nibelungischen  Bruder  der  Gattin  Siegfrieds  und  den  burgundi- 
schen  König,-j  so  gab  diese  Besiegung  des  Gundicarius  einen 
trefflichen  Anlass,  die  poetische  Gerechtigkeit  walten  zu  lassen 
und  beide  Personen  zu  verschmelzen.  Diss  muss  aber  aller 
Wahrscheinlichkeit  nach  unmittelbar  nach  437  geschehen  sein;^) 
dafür  spricht  schon  die  grosse  Theilnahme,  mit  welcher  noch 
das  Nibelungenlied  den  Untergang  der  Burgunden  behandelt. 
Jedenfalls  ist  anzunehmen,  dass  die  Verschmelzung  beider  Theile 
der  Sage  vor  453  vor  sich  gieng,  in  welchem  Jahre  Attila 
starb.  Der  Tod  Attilas  aber  brachte  die  Sage  zum  Abschluss. 
Es  ist  nemlich  an  ein  Bündnis  zwischen  Burgunden  und  Hünen 
um  436  7  nicht  zu  denken,  da  die  historischen  Zeugnisse  dagegen 
sprechen.  Somit  wird  auch  die  Heirat  mit  einer  burgundischen 
Princessin  nicht  als  historisch  zu  betrachten  sein.  Dagegen  kam 
Kriemhild  in  das  Verhältnis,  in  dem  sie  zu  Etzel  steht,  durch 
die  Nachricht  von  Attilas  Tode.  Die  älteren  Quellen  geben  an, 
dass  Attila  in  der  Nacht  nach  seiner  Vermählung  mit  Ildiko 
an  einem  Blutsturze  gestorben  sei,  während  jüngere  Schrift- 
steller als  die  im  Volksmunde  gewöhnliche  Darstellung  angeben, 
Attila  sei  in  der  Brautuacht  von  Ildiko  ermordet  worden.  War 
nun  schon  vor  453  die  Sage  von  den  Nibelungen  mit  dem 
Untergange  des  Gundicarius  verbunden,  so  gieng  ihre  weitere 
Ausbildung,  die  Einflechtung  von  Kriemhilds  Hochzeit  mit  Etzel, 
offenbar  von  Attilas  Tode  aus;  denn  'r/.ör/.w  ist  nach  einem  ganz 
gewöhnlichen  Schwanken  der  Anwendung  des  Spiritus  gleich  mit 
'^Ildi/.iü  und  diss,  Ilildikö^  ist  Deminutiv  von  Hildja ,  Hilde; 
nicht  selten  wurde  von  zusammengesetzten  Namen  nur  der  zweite 
Theil  benutzt.  Diese  Hilde,  diu-ch  die  Attila  nach  der  Volks- 
tradition fiel,  schien  mit  Niemand  besser  zu  vereinigen,  als  mit 
Günthers  Schwester  Kriemhilde,   welche  somit    nach    der    echt 

2)  Müllenhoff  fügt  zu  Lacbmanns  Beweisen  noch  diesen:  Kriemhild  hat 
wie  Brünhild  zwei  Namen;  der  Name  Grimldld  steht  parallel  zu  Bninihild, 
während  Gudrun  (Gundrüu)  offenbar  zu  Günther  gehört:  ebenso  ist  der 
andere  Name  Brünhilds,  Sigurdrlfa .  offenbar  parallel  dem  Namen  Sigufrid. 
Damit  ist  Günthers  Name  als  zur  Siegfriedssage  gehörig  erwiesen. 

3)  Dass  in  noch  kürzerer  Zeit  die  Sagenbildung  sich  an  historische 
Begebenheiten  heftet,  s.  MüUenh.  15G  f. 


2.    Die  Nibelungensage.    Der  historische  Theil  der  Sage.  103 

heidnischen  Anschauung  der  Blutrache,  dass  auch  der  Rächer 
eines  Mordes  selbst  wider  als  Opfer  der  Schuld  füllt,  welche 
auf  ihn  i;ekonimeu  ist,  an  ihrem  Gatten  Etzel  den  freilich  wohl- 
verdienten Untergang  ihres  eigenen  Geschlechtes  rächt.  Dass 
durch  Attilas  Tod  erst  die  Sage  ihre  volle  Ausbildung  erreicht 
hat,  beweist  auch  die  Grösse  des  Weltbeherrschers,  in  welcher 
Attila  in  der"  Sage  dasteht;  nach  dem  Untergang  derBurgunden 
brauchte  nothwendig  die  Sage  noch  ein  weiteres  grosses  Ereignis, 
um  das  Bild  von  Attilas  Weltherrschaft  fest'zuhalten ,  und  diss 
führt  nothwendig  aut  seinen  Tod,  welcher  zugleich  den  jähen 
Untergang  der  hunischen  Macht  bezeichnet. 

In  der  Darstellung  des  Untergangs  der  Burgundeu  durch 
Atlis  Habgier  steht  die  nordische  Fassung  der  Sage  der  Ge- 
schichte näher  als  die  deutsche;  ebenso  damit,  dass  sie  Atli 
durch  Gudrun  fallen  lässt,  wenigstens  der  zeitgenössischen  Volks- 
tradition über  Attilas  Tod.  Es  ist  demnach  mit  Sicherheit  an- 
zunehmen, dass  die  nordische  Darstellung  die  originalere  ist. 
Nun  erscheint  aber  auch  in  der  nordischen  Sage  schon  Dietrich 
^n  Attilas  Hof  und  zwar  in  unzweifelhaft  gut  liezeugter  Weise. 
Die  Wanderung  der  deutschen  Sage  in  den  Korden  war  etwa 
mit  dem  Jahre  üOO  entschieden  abgeschlossen  und  begann  erst 
wider  seit  dem  elften  und  noch  mehr  dem  zwölften  Jahrhundert. 
Somit  muss  Dietrich  in  der  Sage  mit  Attila  verbunden  gewesen 
sein  schon  im  sechsten  Jahrhundert.')  Damit  entstand  aber  eine 
Unzuträglichkeit  in  der  Darstellung  der  burgundischen  Kata- 
strophe. Dietrich  stand  von  Anfang  au  als  einer  der  ersten 
Helden  der  nationalen  Sage  da,  trat  also  in  der  Erzählung  von 
dem  Untergange  der  Bm'gunden  entschieden  in  den  ^'ordergrund 
gegenüber  von  Etzel.  Mit  Dietrichs  Hervortreten  bei  dem 
Kampfe  konnte  aber  die  ursprüngliche  Darstellung  der  Sage, 
dass  Etzel  aus  Habgier  die  Burgundeu  vernichtet  habe,  nicht 
^usammenbestehen ;  vielmehr  muste  damit  das  Hervortreten 
Kriemhilds  als  der  Rächerin  ihren  Gatten  verbunden  sein.  Im 
siebenten  Jahrhundert  war  schon  die  Ansicht  verbreitet,  dass 
mit  dem  Ende  des  sechsten  Jahrhunderts  auch  das  Heldenalter 
zu  Ende  sei.  Die  Heldensage  war  somit  zugleich  mit  dem  An- 
fang des  siebenten  Jahrhunderts  ausgestorben,  bildete  sich  nicht 


4)  S.  auch  Koch,  Nib.  Sage  51  f.:  „Die  Form  Tlijödreh\  ags.  Theodnc, 
weist  noch  auf  die  gothisch-ahd.  Vocalfülle  zurück,  während  au3  dem  mhd. 
Dietrich  im  Nordischen  ein  Thidrik  oder  Tlndrek  wurde." 


104  I.    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

weiter.  Dietrich  nahm  also  schon  um  600  dieselbe  Stellung 
ein  wie  im  Nibelungenliede.  Es  muss  demnach  die  Sage  schon 
vor  600  in  den  Norden  gewandert  sein,  zugleich  aber  muss  für 
die  Umänderung  der  Sage,  nach  welcher  Kriemhild  aus  Rache 
die  Burgunden  vernichtet,  ein  Ereignis  des  sechsten  Jahrhunderts 
den  Anlass  gegeben  haben,  und  als  solches  bietet  sich  die  Ge- 
schichte der  Chrodichilde,  als  mit  der  Vernichtung  Burgimds 
verbunden,  sehr  geschickt  dar.  Wenn  auch  längere  Zeit  ver- 
flossen sein  mag,  bis  diese  neue  Auflassung  der  Burgundensage 
durchbrach,  so  war  doch  dieselbe  durch  das  Hervortreten 
Dietrichs  mitbedingt;  es  kann  also  die  Wanderung  der  Sage  in 
den  Norden  nicht  später  als  600  gesetzt  werden. 

28. 

Die  übrigen  Gelehrten,  welche  noch  über  den  historischen 
Theil  der  Sage  geschrieben  haben,  gehen  wesentlich  nur  in 
ihren  Ansichten  über  die  grössere  Originalität  der  deutschen 
oder  der  nordischen  Darstellung  der  burgundischen  Katastrophe 
auseinander. 

Wilhelm  Müller') 

hat  im  Anschluss  an  Giesebrecht,  die  nordische  Darstellung  be- 
vorzugend, die  Geschichte  der  Chrodichilde  als  Anlass  zu  der 
Umformung  des  letzten  Theils  der  Sage  betrachtet.  Somit  muss 
er  eine  Verpflanzung  der  Sage  in  den  Norden  vor  538  annehmen 
oder  doch  bald  nachher,  zu  einer  Zeit,  wo  die  veränderte  Dar- 
stellung der  Sage  noch  nicht  in  Deutschland  durchgedrungen 
war.  Indes  spricht  für  eine  sehr  frühe  Wanderung  auch  der  Um- 
stand, dass  der  Name  Giselhers,  d.  h.  eines  historischen  Burgunden, 
im  Norden  fehlt,  woraus  geschlossen  werden  mag,  dass  die 
Wanderung  der  Sage  nach  Norden  zu  einer  Zeit  stattlhnd,  wo 
die  Combinierung  von  Burgunden  und  Nibelungen  noch  nicht 
fest  fixiert,  sondern  noch  in  einem  schwankenden  Stadium  be- 
findlich war.  Auch  wären  wohl  bei  einer  späteren  A\'anderung 
der  Sage  die  Namen  „Worms"'  und  „Burgunden"  schon  mehr 
durchgedrungen  gewesen.  Die  Siegfriedssage  hält  Müller  wie 
Lachmann  für  eine  ursprünglich  fränkische. 


1)  W.  Müller,  „Versuch  einer  mythologischen  Erklärung  der  Nibelungen- 
sage", Berlin  1S41. 


2.    Die  Nibelungeiisage.    Der  histurisehe  Theil  der  Sage.  105 

Max  Rieger-) 

hat  sicli  dagegen  an  die  Lachmannisclie  Ansicht  angeschlossen, 
dass  Kriemhilde  als  Rächerin  ihres  Gatten  die  iirsi)riingliclie 
Urheberin  der  hurgundischen  Katastrophe  gewesen  sei.  W.  (Jrimms 
Ansicht,  dass  die  Zahlung  des  Wergeids  von  Seiten  der  Nibel- 
ungen die  Rache  Krienihilds  unmöglich  mache,  beweist  nichts, 
weil  nicht  abzusehen  ist,  warum  im  zwölften  und  dreizehnten 
Jahrhundert  die  Sühne  ohne  Wergeid  weniger  heilig  gewesen 
sein  sollte,  als  in  früherer  Zeit  mit  Wehrgeld.  Die  Sage  wollte 
vielmehr  ursprünglich,  dass  Kriemhild  trotz  der  ihr  aufge- 
drungenen Sühne  ihren  Gatten  rächte.  Diss  konnte  die  Sage 
um  so  mehr  annehmen,  als  der  Mord  der  ursprünglichen  Sage 
nach  —  und  hierin  ist  die  nordische  Sage  originaler  —  wohl 
auf  Anstiften  der  Kriemhild,  aber  nicht  durch  sie  selbst,  sondern 
vielmehr  durch  Etzels  Habgier,,  welche  von  Kriemhild  nur  als 
Werkzeug  benutzt  wurde,  erfolgte.  Auch  darin  ist  dann  die 
nordische  Sage  echter,  dass  Kriemhild  zuletzt  mit  Etzel  stirbt,^) 
nachdem  sie  das  Werkzeug  ihrer  Rache  der  poetischen  Gerechtig- 
keit zu  Liebe  vernichtet  hat,  sich  selbst  den  Tod  gibt;  diesen 
Ausgang  verlangt  schon  die  Parallele  mit  Brünhild,  welche  nach 
Siegfrieds  durch  sie  selbst  veranlasster  Ermordung  sich  selbst 
mit  Siegfrieds  Schwert  ersticht. 

Die  nordische  Darstellung  aber,  nach  welcher  Kriemhild 
unschuldig  ist,  stammt  aus  einer  fehlerhaften  Vermischung  mit 
der  Sage  von  den  älteren  Völsungeu.  Völsung  vermählt  seine 
Tochter  Signy  wider  ihren  Willen  an  Siggeir.  Signy  weissagt 
Unheil.  Siggeir  lädt  Völsung  mit  seinen  zwölf  Söhnen  zu  einem 
Feste.  Signy  warnt  sie  vor  ihrer  Ankunft,  aber  umsonst.  Siggeir 
tödtet  alle;  nur  Völsungs  jüngster  Sohn,  Sigmund,  entrinnt  durch 
Signys  List.  Diese  opfert  der  Rache  an  Siggeir  zu  Liebe  ihre 
beiden  Kinder  auf,  verschafft  dem  lebendig  begrabenen  Signumd 
ein  Schwert,  mit  dem  er  sich  herausscharrt.  Sigmund  zündet 
Siggeirs  Halle  an  und  Signy  stirbt  freiwillig  mit  ihrem  Gatten. 
Die  Aehnlichkeit  dieser  Sage  mit  der  Nibelungen  Untergange 
hat  die  nordische  Darstellung  des  letzteren  veranlasst. 

Chrodichilds  Geschichte  ist  somit  für  die  Nibelungensage 
unwesentlich,   da  die  Darstellung  der  Sage,  welche  Kriemhild 

2)  „Die  Nibeliingensage",  in  Pf.  Germ.  III,  1()3  ff. 

3)  Denn  ihre  Vermählung  mit  Ermanrich  ist  oöcnbar  späterer  Zusatz. 


106  I-    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

zur  Rächerin  Siegfrieds  maclit,  echt  und  daher  schon  älter  ist. 
Wohl  aber  hat  gewiss  die  Ni1)elungensage  die  uns  tiberlieferte 
Gestalt  von  Chrodichilds  Geschichte  hervorgerufen;  denn  Guudo- 
bald  von  Burgund  war  „  eines  der  edelsten  Fürstenbilder  jener  Zeit " 
daher  von  ihm  der  Mord  seines  Bruders  nicht  glaublich  ist;") 
dass  aber  der  katholische  Clerus  ihn  zu  verleumden  trachtete, 
lässt  sich  leicht  begreifen,  da  Gundobald  Arianer  war.') 

E.  Koch^) 

hat  sich  im  allgemeinen  an  Müllenhotf  angeschlossen,  namentlich 
in  der  Frage  nach  Kriemhilds  oder  Etzels  Schuld.  Er  hat  aber 
die  Gescliichte  Chrodichilds  nicht  als  Anlass  der  Umänderung 
in  der  Darstellung  dieses  Punctes  betrachtet,  da  dieselbe  unter 
den  vielen  bei  Gregor  von  Tours  berichteten  Greueln  des  bur- 
gundischen  und  des  fränkischen  Hauses  „nicht  besonders  be- 
deutend hervortrete ",  da  auch  die  burgundischen  Ftirsten,  deren 
Untergang  Chrodichilde  bewirkte,  nicht  ihre  Brüder,  die  von 
Gundobald  Gemordeten  nicht  ihr  Gemahl  gewesen  seien.  Da- 
gegen glaubt  Koch,  dass  diese  Umänderung  der  Sage  nicht  gar 
lange  vor  der  Zeit  des  Nibelungenlieds  vor  sich  gegangen  sei,") 
womit  zugleich  Dietrich  in  den  Vordergrund  getreten  sei.  Die 
Ermordung  Attilas  fiel  weg,  weil  diese  Geschichte,  historisch 
ohnehin  unwahr,  den  Boden  im  Volksbewustseiu  allmählich  verlor. 

29! 
Kritik. 

Mag  die  Siegfriedssage  geschichtlichen  oder  mythologischen 
Ursprungs  sein,  so  viel  ist  gewiss  sicher,  dass  Nibelungen  und 
Burgunden,  Siegfriedssage  und  Burgundensage  ursi)rünglich  voll- 

4)  S.  auch  Avitus :  flebatis  quondani  pietate  ineifabili  funora  germanorum 
(Eieger  S.  19S). 

5)  [S.  dagegen  Müllenhoff.  Nib.  Sage  S.  154.] 

f))  ..lieber  die  Sage  von  den  ISibelungen",  Programm  der  K.  Landes- 
schule zu  Grimma,  ISöS;  im  Eucliliandel  erschienen  in  zweiter,  veränderter 
Auflage  unter  dem  Titel:  „Die  Xibclungcnsage  nach  ihren  ältesten  Ueber- 
lieferungcn  erzählt  und  kritisch  untersucht";  Grimma  1S72. 

7)  [In  der  ersten  Auflage  des  Schriftchens  schreibt  Koch  dieselbe  dem 
Dichter  des  N.  L.  selbst  zu,  was  er  als  jedenfalls  unmöglich  in  der  zweiten 
zurückgenommen  hat,  da  im  Jahre  W.il  schon  ein  Lied  von  der  notissima 
Grimildae  erga  fratres  perfidia  erwähnt  wird  (s.  u.).] 


2.     I>ie  Iv'ibelungensage.    Der  historische  Theil  der  Sage.  l')! 

ständig  getrennt  waren.  Zarncke  liat  zwar,')  vielleicht  mit  Recbt, 
gegen  Lachniann  behauptet,  dass  die  Verschweis.sung  einer 
fränkischen  und  einer  burgundischen  Sage  unbewiesen  sei ; 
Müllenhoti"  hat  allerdings  Worms  als  eine  ehemals  burgundische 
Stadt  nachgewiesen;  allein  so  viel  ist  doch  gewiss  sicher,  dass 
beide  Theile  ursprünglich  disparat  sind.  Diss  beweist  schon  der 
Käme  der  „  Nibelungen ".  Ist  die  Siegfriedssage  (wie  z.  B.  Giese- 
brecht  will)  historisch,  also  auch  der  Name  „Nibelungen"  histo- 
risch, so  weist  letzterer  auf  fränkischen  Ursprung-)  ganz  ent- 
schieden hin.  Ist  aber  die  ganze  Sage  burgundisch,  so  muss 
der  Name  der  Nibelungen  mythologisch  sein,  denn  als  histo- 
rischer Name  der  älteren  Zeit  ist  er  nur  in  Franken  bekannt. 
Dass  die  Zusammenfügung  ijeider  Sagen  sich  an  das  Ereignis 
von  437  anknüpft,  ist  klar.  Aber  die  (Iründe  der  Anknüpfung 
und  ihre  Art  und  Weise  können  verschieden  gedacht  werden. 
Dass  Etzel  und  Atli  gar  Niemand  anders  sind  als  der  historische 
Attila,  hat  gewiss  Müllenhoff  hinlänglich  bewiesen.  Damit  wird 
auch  mehr  als  wahrscheinlich,  dass  der  ganze  zweite  Theil  der 
Sage  in  der  ursprünglichen  Gestalt  der  Nibelungensage  überhaupt 
nicht  vorhanden  war.  Denkbar  wäre  ja  immerhin,  dass  Kriem- 
hilds  zweite  Vermählung  und  das  Strafgericht  über  die  Nibelungen 
schon  in  der  ursprünglichen  Sage  vorhanden  gewesen  und  nur 
durch  das  Ereignis  des  Jahres  437  historisch  gefärbt  und  mit 
den  Namen  Attilas  und  der  Burgunden  versehen  worden  wären. 
Allein  sind  so  viele  der  Züge  aus  dem  zweiten  Theile  der  Sage 
nachweislich  historisch,  tindet  sich  ferner  in  diesem  Theile  kein 
einziger  mythologisch  erklärbarer  oder  nur  so  erklärbarer  Zug 
fvde  sich  deren  im  ersten  Theile  so  viele  finden),  lässt  sich 
ferner  ein  historisches  Ereignis  bestimmt  nachweisen,  welches 
eine  Auschweissung  des  zweiten  Theils  an  den  ersten  möglich, 
ja  wahrscheinlich  macht;  so  wird  der  Schluss  berechtigt,  ja 
einzig  möglich  sein,  dass  kein  dem  zweiten  Theile  der  Nibclungen- 
sage  analoges  und  ähnliches  Element  in  der  ursprünglichen  Sage 
vorhanden  war,^)  dass  vielmehr  der  ganze  zweite  Theil  erst 
aus  der  Auschweissung  eines  historischen  Elements  an  die  alte 
Sage  entstanden  ist. 

1)  Zarncke,  Ausg.  III. 

2)  S.  Lachmann.  Anmerkungen  S    3:U. 

3)  Die  Herstellung  des  mythologischen  Gehalts  der  Siegfriedssage  be- 
weist jedenfalls,  dass  diese  Sage  mit  Siegfrieds  und  ßrünhUds  Tod  schloss; 
8.  daher  unten. 


108  I-    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

Ist  also  der  ganze  zweite  Theil  der  Sage  historischen  Ur- 
sprungs und  historisclier  Art,  so  wird  auch  diejenige  Darstellung 
der  Sage  Ansprach  auf  grössere  Originalität  haben,  welche  der 
geschichtlichen  Wahrheit  näher  steht.  Und  diss  ist  ganz  ent- 
schieden der  Fall  bei  der  nordischen  Sage.  Denn  diese  ist  zwar 
in  der  Hauptsache  ebenso  sagenhaft  wie  die  deutsche,  in  dem 
]\Iorde  der  Schwäger  Attilas,  da  die  Burgunden  jedenfalls  nicht 
Attilas  Schwäger  waren,  auch  nicht  durch  Verrath  an  seinem 
Hofe  tielen,  sondern  in  der  Schlacht.  Allein  die  ganze  Dar- 
stellung, wonach  durch  Attilas  Schuld  die  Katastrophe  herbei- 
geführt wird,  ist  mindestens  dem  Geschichtlichen  näherstehend. 
Ferner  sind  einzebie  Züge  der  nordischen  Sage ,  die  in  der 
deutschen  fehlen,  historisch;  so  die  Gier  Attilas  nach  Günthers 
Hort,  d.  h.  Keich,')  und  die  Eraiordung  Attilas  durch  sein 
eigenes  Wcib.^j  Riegers  Ansicht,  nach  welcher  beide  Sagen- 
darstellungen, die  von  Kriemhilds  Rache  und  die  von  Attilas 
Habgier  und  seiner  Ermordung  durch  Kriemhild  zu  combinieren 
sind,  um  die  ursprüngliche  Gestalt  zu  erhalten,  ist  freilich  nicht 
widersinnig;  allein  Iteide  Darstellungen,  die  deutsche  und  die 
nordische,  sind  jede  in  sich  so  abgeschlossen  und  abgerundet, 
dass  wohl  jede  für  eine  selbständige  Gestaltung  der  Sage  gelten 
muss.  Ist  Etzel  der  Thäter,  so  erheischt  die  })oetische  Gerechtig- 
keit seinen  Tod  durch  einen  Verwandten  der  Nibelungen,  und 
dieser  kann  dann  nur  seine  gezwungene  Gattin  Kriemhild  sein. 
Ist  aber  Kriemliild  die  Thäterin,  so  muss  nothwendig  sie  fallen, 
da  die  Sage  stets  verlaugt,  dass  der,  welcher  die  Blutrache 
ausübt,  selbst  eine  Schuld  auf  sich  lädt  und  an  dieser  zu  Grunde 
gehen  muss.  Mehr  aber,  als  eine  der  beiden  Darstellungen 
bietet,  verlangt  die  Vollständigkeit  der  Sage  nicht;")  wir  haben 
somit  kein  Recht,   beide  zu  combinieren.     Also  muss  eine  der 


4)  Ueber  die  Identität  beider  Begriffe  siehe  Müilenhott'.  Nib.  Sage  S.  155. 

5)  D.  h.  letztere  Darstellung  von  Attilas  Tod  ist  nicht  historisch  wahr; 
aber  sie  wurde  im  Volksmunde  schon  im  sechsten  Jahrhundert  überliefert. 
"Will  man  sie  erst  aus  dfr  Nib. -Sage  stammen  lassen,  so  wird  damit  eben 
die  ürigin;ilität  der  nordischen  Darstellung  der  Sage  zugegeben. 

(il  Gegen  die  Vollständigkeit  der  deutschen  Sage  beweist  es  nicht,  dass 
Hilde brand,  freilich  keine  passende,  auch  keine  dieser  Sage  eigentlich 
zukommende,  Persönlichkeit,  Kriemhild  tötet;  ihr  Mörder  kann  der  über 
den  Bruch  des  Gastrechts  erzürnte  Etzel  gewesen  sein,  an  dessen  Stelle  H. 
trat,  nachdem  die  Nib. -Sage  zu  einer  Episode  in  Dietrichs  Geschichte  herab- 
gesunken war. 


2.    Die  Nibf'lungonsage.     Der  historische  Theil  der  Sage.  109 

beiden  Darstellungen  für  sich  genommen  eclit  sein,  und  wenn 
eine,  alsdann  jedenfalls  die  nordische.  Dass,  damit  die  Sage 
„Hände  und  Fiisse"  habe,  Kriemhild  die  Rächerin  ihres  Mannes 
sein  müsse  (wie  Rieger  S.  196  meint),  ist  falsch;  es  ist  ebenso 
schön  poetisch,  ja  dem  Wesen  der  Sage,  die  das  geheinmisvolle 
Walten  göttlicher  Mächte  darstellen  will,  mehr  angemessen, 
wenn  der  öaliiiov  d/MaTwg  des  Nibelungengeschlechts  sich  einen 
Dritten,  eigentlich  Unbetheiligteu,  als  Werkzeug  der  Rache  er- 
Avählt,  durch  welchen  die  Schuldigen  aus  denselben  Motiven 
wider  fallen,  aus  denen  sie  ihre  Frevelthat  l)egangeuj)  Durch 
diese  Vermittlung  eines  Dritten  wird  die  Sage  gewissermaassen 
ironisch,  ihre  Gerechtigkeit  noch  grausamer,  aber  auch  noch 
gerechter,  als  wenn  der  Schuldige  eben  durch  den  fällt,  den  er 
beleidigt  hat.  Was  Rieger  aber  damit  sagen  will  (S.  1 96),  dass 
„bei  der  nordischen  Ansicht  die  Ehe  des  Rächers  mit  der  Witwe 
des  Gemordeten  ein  zweckloses  Motiv  bleil)e'",  dass  „die  Sache 
ebenso  verlaufen  könnte,  wenn  Atli  eine  andere  Frau  genommen 
hätte",  ist  nicht  abzusehen.  Erstlich  Avurde  eben  einmal  Attila 
als  Schwager  der  Burgunden  betrachtet,  nachdem  die  Nachricht 
von  seinem  Tode  durch  Hildiko  verbreitet  war,  da  Hildiko  mit 
Kriemhild  schon  der  Namensähnlichkeit  wegen  identificiert  werden 
konnte;  und  dann  war  Etzel  zur  Ermordung  der  Burgunden  in 
keiner  Weise  veranlasst,  wenn  er  nicht  in  irgend  einer  Beziehung 
zu  ihnen  stand,  und  Beziehungen  zwischen  den  Helden  der  Sage 
denkt  sich  diese  gemeiniglich  als  verwandtschaftliche. 

Ist  also  die  nordische  Darstellung  der  Sage  zu  bevorzugen, 
wie  kam  dann  die  deutsche  Sage  dazu,  Kriemhild  zur  Rächerin 
ihres  Mannes  zu  machen"?  Müllenhoflf  geht  wohl  zu  weit,  wenn 
er  behauptet,  dass  eine  Umänderung  der  Sage  nur  durch  ein 
Ereignis  des  sechsten  Jahrhunderts  herbeigeführt  werden  konnte, 
weil  mit  dem  siebenten  die  Heldensage  abgeschlossen  war. 
Denn  wurden  auch  keine  Personen  des  siebenten  und  achten 
Jahrhunderts  mehr  in  die  Sage  aufgenommen,  so  ist  damit  doch 
noch  nicht  gegeben,  dass  nach  dem  sechsten  Jahrhundert  eine 
Umwandelung  der  Sage  nicht  mehr  möglich  gewesen  sei.  Aller- 
dings tritt  schon  im  siebenten  Jahrhundert  Dietrich  als  Hau])theld 
der  deutschen  Nationalsage   auf,  war  also   wohl  frühe  mit  dem 


7)  Denn  es  war  jedenfalls  die  ältere  Darstellung  der  Siegfriedssage  die, 
dass  die Kibelungen,  um  Siegfrieds  Hort  zu  erhalten,  ihn  umbrachten;  ebenso 
Etzel  gegenüber  den  Burgunden.     (S.  u.) 


110  I.    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

Untergange  der  Burgunden  als  selbstthätig  verbunden ;  mit  dieser 
Darstellung  aber  war  die  Etzels  als  des  Schuldigen  nicht  ver- 
einbar. Somit  ist  die  Umänderung  des  letzten  Theils  der  Sage 
nicht  nothwendig,  aber  mit  Wahrscheinlichkeit  in  das  sechste  Jahr- 
hundert zu  setzen.  Ist  diss  der  Fall,  so  ist  Chrodichilds  Ge- 
schichte wahrscheinlich  eben  die  Veranlassung  dieser  Umbildung 
gewesen;  tjenn  ihre  Aehnlichkeit  mit  der  Nibelungensage  ist 
nicht  zu  verkennen:  durch  ein  fremdes  Herrscherhaus,  dessen 
Haupte  eine  burgundische  Princessin  vermählt  ist,  wird  das 
burgundische  Herrscherhaus,  das  aus  früheren  Zeiten  mit  Fluch 
beladen  ist,  vernichtet.  Was  Koch  gegen  die  Einmischung  von 
Chrodichilds  Geschichte  beigebracht  hat,  beweist  nicht  dagegen. 
Dass  die  durch  Chrodichilde  Vernichteten  nicht  ihre  Brüder,  die 
durch  Gundobald  Gemordeten  nicht  ihr  Gatte  waren,  sind  un- 
bedeutende Differenzen.  Dass  unter  den  Greueln  des  burgundi- 
schen  Hauses  Chrodichilds  Geschichte  nicht  besonders  hervortritt^ 
beweist  auch  nichts.  Jedenfalls  tritt  doch  der  538  erfolgte 
Untergang  Burgunds  stark  genug  hervor ;  identificierte  die  Sage,^ 
was  bei  ihrem  naiven  Walten  so  einfach  anzunehmen  ist,  diesen 
mit  dem  437  durch  die  Hünen  erfolgten,  so  muste  sie  auch  die 
Veranlassung  desselben  in's  Auge  fassen;  damit  war  also  die 
Vermengung  der  in  Chrodichilds  Geschichte  treibenden  Motive 
mit  der  Nibelungen-  und  Burgundensage  in  ihrer  früheren  Ge- 
stalt gegeben.  Wir  brauchen  somit  diese  Umbildung  der  Sage 
nicht  erst  späteren  Jahrhunderten  zuzuschreiben.  Wohl  m(»glich 
indes,  aber  mit  dem  Gesagten  keineswegs  streitend,  ist,  wie 
Rieger  glaubt,  dass  die  Geschichte  Chrodichilds  erst  durch  die 
Einwirkung  der  Nibelungensage  so  dargestellt  worden  sei,  wie 
sie  uns  bei  Gregor  von  Tours  vorliegt.  Wir  können  diss  an- 
nehmen, wenn  mit  Gundobalds  Charakter  der  ihm  zugeschriebene 
Brudermord  unvereinbar  ist,  ohne  aber  deshalb  die  Ansicht  auf- 
zugeben, dass  Chrodichilds  Geschichte  die  Umänderung  der 
Nibelungensage  verursacht  habe.  Denn  die  wenigen,  aber  be- 
deutenden Aehnlichkeiten  zwischen  beiden  (S.  175  fi,  welche 
jedenfalls  vorhanden  sind,  auch  wenn  Chrodichilds  Geschichte 
nicht  historisch  rein  überliefert  ist,  genügen  vollständig,  um  eine 
Identiticierung  beider  durch  die  Sage  glaublich  zu  machen. 
Ein  Resultat  gewinnen  wir  aber,  wenn  Rieger  mit  seiner  Ansicht 
Recht  hat,  dass  Chrodichilds  (beschichte  durch  die  Darstellung, 
welche  Kriemhild  als  Rächerin  behandelt,  beeiuHusst  worden  sei: 
es  muss  nemlich  in    diesem   Falle,   da  Gregor  von  Tours  die 


2.   Die  Nibelungensage.    Der  historische  Theil  der  Sage.  111 

ersten  Bücher  seiner  fränkischen  Geschichte  um  577  geschrieben 
hat/)  schon  vor  577  diese  Darstellung  der  Nil)clungensage 
gäng  und  gäbe  gewesen  sein;  die  Sage  kann  also  nicht  lange 
nach  538  in  den  Norden  gewandert  sein,  spätestens  um  die 
Mitte  des  sechsten  Jalirhunderts;  Grenzen  für  diese  Wanderung 
der  Sage  sind  also,  wenn  wir  Riegers  Ansicht  in  diesem  einzelnen 
Puncte  uns  aneignen  wollen,  die  Jahre  526  (als  Theodorichs 
Todesjahr)  und  etwa  550  oder  560. 

Kurz  zusammengefasst,  sind  die  Resultate  dieser  Unter- 
suchung etwa  folgende: 

1)  Die  Sage  von  Siegfried  und  den  Nibelungen  ist  voll- 
ständig zu  trennen  von  der  Sage  vom  Untergänge  der  Burgunden 
durch  Attila;  letztere  ist  jedenfalls  unbedingt  historischen 
Ursprungs. 

2)  Die  Combination  beider  ertblg-te  nicht  lange  nach  der 
437  erfolgten  Niederlage  der  Burgunden  unter  Gundicarius  durch 
die  Hünen. 

3)  Sie  erfolgte  vennöge  der  Namensgleichheit  des  nibelungi- 
schen  und  des  burgundischen  Günther,  ferner  vennöge  der  Un- 
vollendetheit, in  welcher  die  Siegii'iedssage,  als  Heroensage 
gefasst,  dastehen  muste. 

4)  Die  Verheiratung  Attilas  mit  der  burgundischen  Kriem- 
hild,  sowie  sein  Tod  durch  dieselbe,  kam  in  die  Sage  erst 
nach  Attilas  Tod  im  J.  453,  den  die  Volkstradition  durch  seine 
Vermählte  Hildiko  herbeigeführt  sein  Hess. 

5)  Da  in  Punct  2)  und  4)  die  nordische  Darstellung  der 
Sage  in  ihrem  zweiten  Theile  der  Geschichte  näher  steht  als 
die  deutsche,  so  ist  jene  älter  und  echter. 

tj)  Die  deutsche  Fassung  der  Sage  ist  aber  vermuthlich 
durch  ein  Ereignis  des  sechsten  Jahrhunderts  bcAvii'kt  worden, 
weil  Dietrich  schon  um  jene  Zeit  die  Hauptfigur  des  deutschen 
Epos  war,  sein  Auftreten  bei  dem  Untergange  der  Burgunden 
aber  mit  der  nordischen  Darstellung  unvereinbar  ist. 

7)  Dieses  Ereignis  war  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  die 
538  erfolg-te  Vernichtung  Burgunds  durch  die  Burgundin  Ch;-odi- 
childe,  Chlodwigs  I.  von  Franken  Witwe. 

8)  Akdann  muss  die  Sage  nicht  lange  nach  538,  jcdcnlälls 
vor  600,  nach  dem  Norden  gewandert  sein. 


8)  S.    W.  S.  Teuf  fei,   Rom.  .Litt.   Gesch.   I.  Aufl.  S.  1013  =  §  454 
not.  4;   die  Geschichte  der  Chrod.  erzählt  Gregor  in  seinem  zweiten  Buche 


112  I.     Die  Entstehung  des  Kibelungenliedes. 

9)  Ist  übrigens  anzunehmen,  was  nicht  unmöglich,  dass 
Chrodichilds  Geschichte,  wie  sie  in  Gregors  Geschichtswerk 
dargestellt  ist,  selbst  durch  die  deutsche  Fassung  der  Mbelungeu- 
sage  gefärbt  erscheint,  so  muss  die  Wandening  der  Sage  vor 
577,  etwa  um  550  oder  560  stattgefunden  haben. 

10)  Andererseits   aber  fällt  dieselbe  nach  520,  da  Dietrich 
in  ihr  bereits  erscheint. 


2.    Die  Siegfriedssage. 

30. 

Wie  jede  Sage,  wenn  sie  nicht,  wie  die  Burgundensage, 
allzu  deutlichen  historischen  Ursprung  zeigt,  entweder  historisch 
oder  rein  mythologisch  erklärt  werden  kann  und  erklärt  worden 
ist,  so  hat  auch  die  Sage  von  Siegfried  und  den  Nibelungen 
bald  eine  euhemeristische  bald  eine  nnthologisierende  Erklärung 
gefunden.  Wir  dürfen  aber  alle  euhemeristischen  Auslegungen 
für  entschieden  veraltet  erklären,  schon  deshalb,  weil  keine 
einzige  historische  Person  sich  findet,  welche  eine  auch  nur 
einigermaassen  scheinbare  Identification  mit  Siegfried  zuliesse. 
Würde  aber  diese  Incongruenz  noch  nicht  gegen  den  geschicht- 
lichen Gehalt  der  Siegfriedssage  beweisen,  da  die  Sage  frei 
schaltet  und  ihre  Charaktere  wie  deren  Schicksale  verändern 
kann;  so  wird  die  rein  mythologische  Xatur  der  Sage  unwider- 
leglich bewiesen  durch  die  vielen  Züge,  welche  rein  mythologi- 
schen Charakter  haben,  wie  der  Drachenkampf,  die  Waberlohe, 
der  Hort  mit  And^■aranaut,  die  Riesen  und  Zwerge,  einzelne 
elbische  Namen,  die  durchgängige  Beziehung,  insbesondere 
Opposition  zwischen  den  Namen  der  Sage.  Das  sind  lauter 
Züge,  die  z.  B.  dem  zweiten  Theil  der  Sage,  der  Burgundensage, 
vollständig  fehlen,  welche  also  auf  rein  mythischen  Gehalt  hin- 
deuten. Damit  soll  nicht  eben  ausgeschlossen  sein,  dass  einzelne, 
al)er  nur  untergeordnete  Züge  der  Siegfriedssage  historischer 
Natur  seien;  so  vielleicht  die  Ermordung  Siegfrieds  auf  der 
Jagd,  welche  wohl  aus  der  Ermordung  des  austrasischen  oder 
ripuarischen  Siegbert  stannncn  mag.  Denn  es  ist  ja  eben  der 
Sage,  gerade  der  rein  mythologischen,  eigen,  sich  stets  den 
Anschauungen  der  Zeit  anzuschmiegen;  daher  wird  sie  im  Lauf 


2.    Die  Nibelungensage.    Die  Siegfriedssage.  11*3 

der  Zeit  stets  liistoriscli  gefärbt,  lehnt  sich  auch  gerne  an  ge- 
schichtliche Personen  an,  deren  Charaktere  und  Schicksale  Ana- 
logieen  mit  denen  sagenhafter  Figuren  haben,  entninnnt  auch  Avohl 
iius  den  Geschicken  dieser  historischen  Persönlichkeiten  diss 
oder  jenes  zur  Moditication  ihrer  Darstellung.  Somit  beweisen 
auch  die  Uebereinstimmungen,  die  die  Siegfi-iedssage  etwa  mit 
der  Geschichte  historischer  Persönlichkeiten  zeigen  mag,  nicht 
für  den  historischen  oder  gegen  den  rein  mythologischen  Ursprung 
dieser  Sage. 

Aber  auch  wenn  wir  nur  die  mythologischen  Erklärungen 
der  Sage  in's  Auge  fassen,  so  sind  hier  noch  beträchtliche 
Differenzen  zwischen  den  Erklärern  vorhanden.  Während  die 
Einen  auf  germanischem  Boden  stehen  blieben  und  eine  ein- 
gehende, sei's  mehr  physikalische,  sei's  mehr  ethische,  Deutung 
der  Sage  versuchten,  haben  sich  andere  über  das  germanische 
Gebiet  hinausgewagt  und  eine  Deutung  der  Sage*  als  eines  indo- 
germanischen Mythus  versucht.  Zunächst  berücksichtigen  wir 
hier  die  Ersteren. 


31, 


Auch  hier  ist 


Karl  Lach  mann 
bahnbrechend  gewesen,  indem  er  zuerst  eine  vollständige  mytho- 
logische Deutung  der  Sage  aufstellte,  welche   in  ihren  Haupt- 
puncten  vielfach  recipiert  wurde.') 

Wenn  die  Gibichuugen  nach  Burguud,  die  Nibelungen,  als 
historischer  Name  gefasst,  an  den  fränkischen  Rhein  weisen,  so 
lässt  sich  dagegen  Siegfrieds  Geschlecht,  die  Völsungen,  historisch 
imd  geographisch  nirgends  unterbringen.  Vielmehr  sind  die 
Völsungen  rein  mythisch.  Dahin  weist  ihr  Name^),  der  in 
bezeichnendem  Gegensatz   zu    den  „Nibelungen'-',   den   „Nebel- 

1)  In  seiner  ..Kritik  der  Sage  von  den  Nibelungen",  Anmerkungen 
S.  339—345.  [S.  dagegen  Wilhelm  Müller,  „Ueber  Lacbmauns  Kritik 
der  Sage  von  den  Nibelungen-,  in  Pfeiffers  Germania  XIV,  S.  257  ff.;  vgl. 
unten  §  38,  not.  S.] 

2)  [Lachmanns  Ableitung  von  vols  ..Pracht"  ist  unrichtig;  nach  Koch, 
Nib.  Sage  75,  u.  a.  kommt  der  Name  von  goth.  ra/is  ..auserwählt" ;  eine 
andere  Erklärung  s.  Holtzmann,  Unters.  195,  welche  aber  keineswegs  über- 
zeugend ist,  da,  gemäss  Holtzraanns  Theorie  von  der  Identität  der  Kelten 
und  Germanen,  Völsung  als  Patronymikon  des  gallischen  Gottes  Bt/.n  be- 
trachtet wird;  s.  darüber  Müllenhof  f.  Zur  Gesch.  der  Nib.  Noth  Seite  949 
(Monatsschrift  f.  W.  u.  L.  1S54  ).  —  Wenn  eine  Erklärung  des  Namens 
möglich  ist,   so  weist  sie  auf  Hoheit  und  Herrlichkeit  des  Geschlechtes  hiu.] 

Fischer,  Nibelungenlied.  8 


114  I.    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

kindern",     ein    Geschlecht    von     göttlicher    Hoheit    bezeichnet. 
Ebenso   weisen   dahin  ihre    diircliwcg    übermenschlichen  Eigen 
Schäften  und  Thaten.^) 

Diesen  gegenüber  weiss  die  .Sage  von  den  Nibelungen 
nichts  Eigenthümliches  und  Charakteristisches  zu  berichten.  Diss 
weist  vielleicht  auf  eine  heilige  Scheu  vor  denselben  hin. 
Nimmt  man  dazu,  dass  Xiflheimr  und  Xiflhel  in  der  nordischen 
Mythologie  den  kalten  Erdtheil  und  das  Totenreich  bezeichnen^ 
dass  ferner  die  deutsche  Sage  verworrener  Weise  ausser  Günther 
und  den  Seinigen  noch  frühere  Besitzer  des  Horts  kennt,  welche 
ebenfalls  Nibelungen  heissen;  so  kann  nicht  bezweifelt  werden^ 
dass  letztere  beide  identisch  sind,  dass  die  Nibelungen  ein 
übermenschliches  Geschlecht  aus  dem  kalten,  neb- 
lichten Totenreiche  sind,  welchem  der  Schatz  ur- 
sprünglich gehört  und  zu  welchem  er  schliesslich 
wider  zurückkehrt/)  Siegfried,  ein  Völsuug  von  götter- 
ähnlicher Kraft,  gewinnt  das  Gold,  das  einst  den  Nibelungen 
geraubt^)  und  von  ihnen  mit  einem  Fluche  für  den  Besitzer 
belastet  war;")  er  geräth  durch  dieses  Gold  in  die  Knechtschaft 
der  unterirdischen  Mächte;  was  er  auch  durch  eigene  Kraft  und 
durch  die  Wundermacht  des  Goldes  ausführen  mag,  alles  wird 
der  ]\Iacht  der  Niljelungen  zinsbar.  Die  Valkyrie  Brünhild,  der 
er  sich  einst  verlobt  und  die  er  für  sieh  erobern  will,  gehört 
nicht  ihm,  sondern  dem  Nibelungenkönige  Günther;  er  selbst 
wird  mit  dessen  Schwester  vermählt.  Durch  Brünhilds  Rache, 
welcher  Kriemhild  selbst,  des  Helden  böser  Engel,')  den  Betrug 
entdeckt,  fällt  Siegfried,  und  der  Schatz  kehrt  zu  seinen  wahren 
Herren  zurück,  die  ihn  in  die  Tiefe  des  Wassers  versenken.') 

3)  Sigmund  erschlägt  nach  dem  Beowulf  einen  Drachen,  er  trinkt  ohne 
Schaden  Gift.  Siegfried  trinkt  das  Elut  des  Drachen,  oder  er  bestreicht 
sich  damit.  Der  Hort,  den  Siegfried  erwirbt,  hat  ebenfalls  besondere  Eigen- 
schaften: die  Tarnkappe  (der  Oegishelm),  der  Fluch,  der  auf  dem  Golde, 
speciell  auf  dem  Ringe  Andvaranaut,  lastet.  —  Auch  Siegfrieds  sonstige  Thaten 
bieten  viel  Merkwürdiges:  seine  Jugendstreiche,  sein  Verhältnis  zu  Hrünhild, 
seine  Dienstbarkeit,  sein  Gestaltentausch  mit  Günther,  die  Gewinnung  Brün- 
hilds für  diesen,  Siegfrieds  Tod  durch  Brünhild;  die  Versenkung  des  Schatzes. 

1)  Dadurch  erklärt  sich,  warum  in  der  Siegfriedssage  der  Tod  Siegfrieds 
nicht  gerächt  erscheint:  das  Fluch  bringende  Gold  gehört  den  Nibelungen 
selbst,  bringt  also  ihnen  kein  Verderben. 

5)  Durch  die  drei  Äsen  Odhiiui,  Hönir  und  Loki. 

())  Der  sich  zuerst  an  Hreidhmars  Geschlecht  äussert. 

Ti  [S.  Rieger,  Nib.  Sage  S.  1!)4.] 

S)  [Woher  derselbe  ursprünglich  stammt;  s.  Kieger  1.  c  S.  IS  1  —  1 83]. 


2.    Die  Nibelungensage.    Die  Siegfriedssage.  115 

Aber  auch  die  so  geläuterte  Sage  ist  noch  nicht  die  ur- 
sprüngliche; es  ist  in  ihr  für  den  Gedanken  des  [Mythus  Vieles 
überliüssig.  .Siegfrieds  und  Brünhilds  Tod  ist  jedenfalls  nicht 
passend  in  die  Sage  verwoben.  Wozu  brauchen  beide  zu  sterben, 
nachdem  sie  schon  in  der  Gewalt  des  Totenreiches  sind,  nach- 
dem durch  sie  der  Hort  wider  seinen  Besitzern  anheimgefallen 
istV  Auch  kommen  bei  ihrem  Tode  sittliche  Motive  herein;  es 
tritt  hier  zuerst  Siegfrieds  Mörder,  Hagen,  auf,  der  vorher  keine 
Rolle  gespielt  hat.  Auch  der  Anfang  der  Sage  bietet  Abweich- 
ungen, indem  der  Beowulf  nicht  Siegfried,  sondern  Sigmund  als 
den  Drachentöter  nennt.  Der  Erwerb  des  Hortes  nach  der 
deutschen  Sage  passt  widerum  nicht  in  das  Ganze;  Nibelungen- 
laud  ist  hier  nicht  willkürlich  mit  dem  kalten,  nördlichen  Nor- 
wegen identiliciert ;  Andvari  ist  selbst  aus  Schwarzalbeuheim, 
welches  hinwiderum  als  Norwegen  erklärt  wird.  Somit  ist  wohl 
die  Sage  von  den  drei  Äsen  in  der  nordischen  Sage  nicht  echt 
überliefert,  vielleicht  auch  ganz  eine  nordische  Umbildung. 
Ferner  kommt  der  Name  Siynfrid  vor  dem  Ende  des  siebeuten 
Jahrhunderts  nicht  vor,  war  also  wohl  ursprünglich  Beiname 
eines  Gottes.  Nimmt  man  diss  au,-  so  ist  wohl  sogleich  an 
Baldr  zu  denken,  welcher  auch  als  gestorben  gedacht  wurde. 
Durch  diese  Erklärung  der  Person  Siegfrieds  lässt  sich  auch 
eine  befriedigende  für  seinen  Mörder  Hagen  finden.  Derselbe 
ist  in  der  nordischen  Sage  selbst  ein  Nibelung;  sein  Vater  ist 
ein  Alb  oder  hat  einen  elbischfen  Namen;  weist  diss  auf  mehr 
als  heroischen  Ursprung  hin,  so  gestattet  Hagens  Name  {hagan  = 
Dorn),  wie  seine  Einäugigkeit  (im  Waltharius),")  ihn  mit  dem 
blinden  Bruder  Baldi's,  Hödr,  zu  identificieren ,  welcher 
Baldr  mit  einer  Mistel  erschiesst. 

Weiter  als  bis  hieher  kann  die  Erklärung  der  Sage  nicht 
vordringen,  und  auch  die  Vergieichuug  mit  Baldr  „soll  keine 
rohe  Identification  sein."'") 

32. 

Lachmanns  Auslegung  der  Siegfriedssage  fand  vielfache 
Zustimmung.    Mit  einzelnen  weniger  wesentlichen  Modificationen') 


9)  [Gegen  beides  s.  Koch,  Nib.  Sage  S.  77  f.] 
10)  Lachmann,  Anm.  S.  iW. 
1 )  Die  besser  unten  ihre  Stelle  finden ,  -vvo  über  die  mehr  oder  minder 
treue  Bewahrung  der  Sage  im  N.  L.  gehandelt  wird. 


116  I.    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

sind  ihm  Max  Kieger  und  E.  Koch  gefolgt,  letzterer  nur  in 
der  ersten  Ausgabe  seiner  Abhandlung. 

Eine  andere,  tiefer  in  das  Reich  der  Göttersage  zurück- 
reichende Erklärung  hat 

Wilhelm  Müller 
gegeben.^) 

Die  erste  Frage  und  auch  die  Cardinalfrage  ül)er  das 
Wesen  des  Siegfriedsmythus  ist  die:  Ist  derselbe  ursprünglich 
schon  eine  Heroen  sage  oder  ist  er  eine  entstellte  und  im 
Christenthum  herabgedrückte  urprüngliche  Göttersage?  Die 
Untersuchung  über  die  Zeit  seiner  Wanderung  nach  dem  Norden 
kann  hierüber  nichts  lehren.^)  Wohl  aber  kann  die  Art,  wie 
die  Götter  in  der  Siegfi'iedssage  auftreten,  uns  in  dieser  Frage 
aufklären.  Gehören  sie  nothwendig  in  dieselbe,  so  muss  die 
Sage  eine  eigentliche  Heroensage  sein,  weil  das  Auftreten  zweier 
Götter  in  derselben  Rolle  in  einer  wirklichen  Göttersage  unmög- 
lich ist.  Es  ist  diss  aber  in  Wirklichkeit  nicht  der  Fall;  das 
Auftreten  Odhins  als  des  Gönners  Siegfrieds  ist  überall  ))edeu- 
tungslos  und  die  Geschichte  von  Odhinn,  Hönir  und  Loki  ist 
ohne  Zusammenhang  mit  dem  Mythus,  also  ein  nordischer  Zu- 
satz zu  demselben.  Es  muss  somit  im  Siegfriedsmythus  nicht 
nothwendig  eine  echte  Heroensage  enthalten  sein;  vielmehr  ist 
die  Annahme,  dass  derselbe  eine  entstellte  Göttersage  sei,  wenn 
anderswoher  bewiesen,  unbedenklich. 

Die  localen  Anknüpfungen  der  Sage  sind  für  die  Frage 
nach  ihrem  Gehalte  werthlos,  da  dieselben  nur  die  fränkisch- 
burgundische  Heimat  der  Sage  beweisen.  Vielfache  Anklänge 
in  anderen  Sagen  und  in  Märchen  beweisen  die  allgemeinere 
Bedeutung  des  Mythus.  El)en  diese  Anklänge  und  noch  mehr 
die  Uebereinstimmungeu  mit  der  Göttersage  müssen  das  Echte 
vom  Unechten  scheiden   helfen.     Der  so  gereinigt  hergestellte 


2)  ..Versuch  einer  mythologischen  P^rklärung  der  Xibelungensage"*; 
Berlin  1S41.  Vgl.  ferner  W.  Müller  ..Siegfried  und  Freyr-,  in  Haupts  Zeit- 
schrift 1S43,  S.  43  ff.  Derselbe  in  Pfeitfers  Germania  XIV  (ls(5i)).  S.  257  S.: 
..Ueber  Lachmanns  Kritik  der  Sage  von  den  Xibelungeu.- 

3)  Götter  treten  in  der  Nibelungcnsage  nur  nach  der  nordischen  Ueber- 
lieferung  auf;  dieselben  können  daher  entweder  ursprünglich  darin  vorhanden 
oder  erst  im  Norden,  wo  das  Heidenthum  sich  vieles  länger  hielt,  als  in 
Deutschland  (vgl.  hierüber  W.  Mannhardt.  die  Götter  der  deutscheu  und 
nordischen  Völker  III.)  hineingekommeu  sein. 


2.    Die  Nibelungensage.    Die  Siegfriedssage.  117 

Mythus  muss  alsdann  nach  seiner  ursprünglichen  Bedeutung 
erforscht  und  diese  durch  die  nordische  Götterlehre  begründet 
werden. 

Mythologischen  Gehalt  hat  anerkanntermaassen  nur  der  erste 
Theil  der  Sage,  die  Siegfriedssage.  Die  einzelnen  Theile  der- 
selben, welche  untersucht  werden  müssen,  sind:  Drachenkanipf, 
Vermählung  mit  Kriemhild,  Ermordung  durch  Hagen,  besonders 
aber  die  Geschichte  von  Brünhild  mit  der  Waberlohe. 

In  der  Darstellung  des  Drachenkampfes  ist  entschieden  die 
nordische  Darstellung  die  bessere.  Drache  und  Hort  gehören 
nothwendig  zusammen.  Der  Riese  im  Nibelungenlied')  ist 
identisch  mit  Fafnir  und  dieser  selbst  mit  dem  Drachen ;  ebenso 
sind  AI  brich  und  Regin  identisch.  Auch  hat  das  Siegfriedslied 
darin  etwas  Echtes,  dass  es  den  Drachen  früher  einen  schönen 
Jüngling  sein  lässt.  Die  übrigen  Accideutien  des  Hortes,  die 
Göttergeschichte  und  Andvaranaut,  sind  nordische  Zusätze. 

Unter  den  Nibelungen,  mit  denen  Siegfried  verschwägert 
\vird,  ragt  Hagen  hervor.  Seine  Abstammung  von  Troja  und 
der  Name  Hnifhlngr  seines  Sohnes  beweisen,  dass  er  als  Mörder 
Siegfrieds  und  Verwandter  Kriemhilds  in  einer  früheren  fränki- 
schen Sage  Aviclitig  war.  Die  dämonische  Natur  Hagens  zeigt 
sich  deutlich  noch  überall;*)  sein  Gegensatz  gegen  Siegfried 
bezeichnet  ihn  als  ein  finsteres  Wesen;  er  ist  daher  als  ein 
iötunn  anzusehen.  Daraus  folgt,  dass  Kriemhild,  als  seine 
Verwandte,  neben  ihrer  freundliehen  Seite  auch  eine  düstere 
gehabt  haben  muss.  Diss  lehrt  die  Betrachtung  der  Person 
Brünhilds.  Auffallend  ist,  dass  die  nordische  Sage  eine  zwei- 
malige Befreiung  Brünhilds  enthält;^)  zuerst  muss  Siegfried 
durch  ihre  Schildburg  brechen,  dann,  in  Günthers  Gestalt,  durch 
die  Waberlohe  reiten.  Dabei  fällt  besonders  auf,  dass  bei  dem 
ersten  Besuche  von  keinen  Hindernissen  des  Eindringens  die 
Rede  ist,  da  doch  Siegfried  der  Einzige  war,  welcher  dasselbe 
ausführen  konnte.  Es  ist  also  gewiss  anzunehmen,  dass  der 
Ritt  durch  die  Wal)erlohe  eigentlich  gleich  nach  dem  Drachen- 
kampfe folgen  muss.     Bei   dem  zweiten  Besuche   begreift   man 


4)  Str.  4rD4  ff.  . 

5)  In  der  Thidrekssaga  ist  sein  Vater  ein  Alb;  im  N.  L.  erscheint 
Hagen  schrecklich  anzusehen;  derWaltharius  nennt  ihn  einäugig;  im  Rosen- 
garten ist  er  ein  Riese. 

(i)  Denn  der  Besuch  bei  Heimir  ist  unecht. 


11g  I.    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

die  Waljerlolie  nicht;  Briinliild  ist  schon  erlöst,  also  das  Hindernis 
des  Eindringeiis  überflüssig.  Allein  doch  darf  man  die  Braut- 
werbung für  Günther  nicht  fallen  lassen,  da  sie  für  das  ganze 
Geschick  ^des  Helden  verhängnisvoll  ist,  sondern  man  muss  an- 
nehmen, dass  die  Begebenheiten  hier  von  der  »Sage  in  einen  falschen 
Zusammenhang  gebracht  sind.  Der  wahre  Mythus  muss  der 
sein,  dass  Siegfried  gleich  nach  dem  Drachenkampfe  durch  die 
Waberlohe  reitet,  Briinliild  erweckt,  sich  mit  ihr  vermählt  ohne 
sie  zu  berühren  oder  sie  mit  Gewalt  zur  Minne  zwingt  und 
darauf  sie  verlässt.  Das  Sträuben  der  Jungfrau  kehrt  in  anderen 
Mythen  wider,'j  und  hat  stets  den  Grund,  dass  der  Held  ver- 
kleidet, d.h.  unter  einer  widerwärtigen  Gestalt  erschehit  und 
deshalb  von  der  Jungfrau  nicht  als  der  von  ihr  erwartete  Gatte 
anerkannt  wird.  Andere  Sagen  stellen  statt  des  in  unangenehm 
veränderter  Gestalt  erscheinenden  Helden  (diss  ist  natürlich  die 
echte  Gestalt  des  Gedankens)  eine  zweite  Person  hin,  ein  häss- 
lichcs  Wesen,  welches  sich  für  den  Helden  selbst  ausgibt.  Das 
ist  der  Fall  fast  in  allen  Erzählungen  von  Drachentötern.  Der 
Held  kommt  entweder  nicht  selbst  zu  der  Jungfrau  oder  er 
verlässt  sie  wider,  nachdem  er  sich  mit  ilir  vermählt  hat.  In 
beiden  Fällen  stellt  sich  statt  seiner  ein  Anderer  ein,  der  sich 
für  den  Drachentöter  ausgi))t;  aber  der  wahre  Held  wird  bald 
gefunden,  oder  kehrt  nach  einem  Jahre  zurück,  und  feiert  seine 
Vermählung.  Aus  dieser  Fassung  des  Gedankens  scheint  das 
Auftreten  Günthers  zu  erklären.  Er  ist  der  falsche  Drachentöter, 
d.  h.  Siegfried  in  seiner  widerwärtigen  Gestalt. 

Warum  aber  verlässt  der  Held  die  Jungfrau  wider  V  Weil 
er  die  Schuld,  die  er  durch  die  Tötung  des  Drachen  auf  sich 
geladen  hat,  abbüssen  muss.**)  Daher  erklärt  sich  auch  Siegfrieds 
Dienstbarkeit,  welche  in  den  Quellen  so  verworren  überliefert  ist. 

Ist  aber  hiemit  hinreichend  begründet,  dass  Siegfried  seine 
Braut  verlässt,  so  ist  noch  das  unl^egreiflich,  warum  er  nach 
abgelaufenem  Dienstjahre  nicht  zu  ihr  zurückkehrt  und  seine 
Vermählung  feiert,  vielmehr  sich  mit  Kriemhild  verheiratet. 
Entweder  muss  Brünhild  auch  die  naclimalige  Gattin  Siegfrieds 
oder   muss   Kriemhild   auch   die   von    ihm   aus    der  Waberlohe 


7)  So  besonders  in  dem  von  Odhian  und  Rindhr  [Freyr  und  Gerdhr]; 
Anklänge  bei  König  Rother,  bei  Rüdiger  und  Ilerka  (Ilelche),  bei  Hugdietrich 
und  Hildegard. 

b)  Ebenso  Kadmos,  und  ApoUon  nach  der  Erlegung  des  Python. 


2.    Die  Nibelungensage.    Die  Siegfriedssage.  119 

befreite  Jungfrau  sein.  Eines  von  beiden  muss  richtig  sein; 
denn  wie  Guntlier  und  Siegfried,  so  sind  auch  Briinliild  und 
Kriembild  nur  zwei  Seiten  desselben  Wesens.'')  Briinliild  zeigt 
sicli  dem  ganzen  Mythus  nach  und  besonders,  weil  sie  Siegfrieds 
Tod  veranlasst,  als  fiiisteres,  rauhes  Wesen,  Kriendiild  als  ihr 
Gegentheil.  Die  Befreiung  Briinhilds  aus  der  Waberlohe  würde 
einen  in  den  analogen  Sagen  nicht  vorhandenen'")  Widerspruch 
in  den  Mythus  bringen.  Es  ist  also  vielmehr  Kriemhild  die  aus 
den  Flammen  geholte  Jungfrau ;  sie  sträubt  sich  gegen  Siegfried, 
weil  er  ihr  in  anderer  Gestalt  erscheint.")  Brünhild  nun,  als 
die  falsche  Kriemhild,  strebt  nach  dem  Besitze  des  Helden 
während  des  Jahrs  seiner  Dienstbarkeit ; '^)  aber  er  berührt  sie 
nicht.  Während  desselben  Jahres  ist  Kriemhild  von  dem  falschen 
Drachentöter,  von  Günther,  umworben,  stösst  ihn  aber  zurück. 
Beide  Fassungen  der  Sage  sind  ganz  parallel. 

Der  einfache  Gang  des  Mythus  ist  also  dieser:  Siegfried 
tötet  Fafnir,  nimmt  den  Hort  an  sich,  fängt  Grani  und  reitet 
auf  demselben  durch  die  Waberlohe;  er  erweckt  Kriemhild, 
bezwingt  sie  trotz  ihres  Sträubens  und  verlässt  sie  dann,  um 
den  Mord  Fafnis  zu  sühnen,  während  welcher  Zeit  Brünhild  sich 
um  ihn  umsonst  bewirbt;  nach  Ablauf  der  Sühnungsfrist  kehrt 
er  zurück  und  vermählt  sich  mit  Kriemhild.'^) 

Wer  ist  aber  Kriemhild  und  was  hat  der  Drachenkampf 
mit  der  Waberlohe  zu  thun?  Odhins  Einmischung  in  den 
Mythus  ist  (s.  o.)  späterer  Zusatz,  ebenso  natürlich,  dass  er 
Brünhild    mit    dem    Schlafdorn    sticht.      Damit    kann    auch    die 


9)  Die  Personification  zweier  Seiten  eines  Wesens  und  somit  die  Ver- 
dopplung desselben  ist  der  Sage  auch  sonst  geläufig. 

10)  Denn  in  den  analogen  Sagen  erscheint  immer  zuerst  die  schöne 
Jungfrau:  Freyr  vermälilt  sich  mit  der  schönen  Gerdhr,  Tristan  mit  der 
schönen  Isolde,  Pipin  mit  der  echten  Bertha. 

11)  So  kommt  auch  die  Darstellung  des  Siegfriedsliedes  zu  ihrem  Kechte. 

12)  Ebenso  bewirbt  sich  die  falsche  Bertha  um  Pipiu,  die  wcissluindige 
Isolde  um  Tristan. 

13)  Es  begreift  sich  aus  dem  Gesagten  auch,  dass  die  Waberlohe  an 
Brünhild  haftete,  zu  welcher  sie  gar  nicht  gehört.  Siegfried  verlusst  Kriem- 
hild, um  sich  zu  reinigen;  er  verlässt  Brünhild,  um  sich  mit  Kriemhild  zu 
vermählen.  Das  zweite  Verlassen,  als  für  den  Fortgang  des  Mythus  folgen- 
reich, behielt  die  Sage  bei  und  theilte  nun  auch  der  Brünhild  die  Waberlohe 
zu.  —  Auch  die  drei  Kampfspiele  des  N.  L.  erklären  sich  nun:  um  Kriem- 
hüd  zu  erhalten,  muss  Siegfried  den  Drachen  töten,  Grani  fangen  und  durch 
die  Waberlohe  reiten. 


120  I.    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

Nachricht  der  Sage  unbeachtet  gelassen  werden,  nach  welcher 
Briinhild  eine  Valkyrie  ist.  Für  Kriemhilds  Wesen  mag  eine 
andere  Andeutung  der  nordischen  Sage  erklärend  sein.  Hreidh- 
niarr,  der  Vater  Fatuis,  hat  zwei  Töchter,  Lyngheidhr  und 
Lotiiheidhr,  von  welchen  die  erstere  bei  dem  Streite  zwischen 
Faluir  und  Regln  zur  Versöhnung  räth.  In  der  späteren  Sage 
verschwinden  die  beiden  Schwestern.  Ihr  Verschwinden,  sonst 
unbegreiflich,  ist  erklärt,  wenn  andere  Wesen  als  im  Mythus  an 
ihre  Stelle  getreten  nachzuweisen  sind.  Es  ist  nicht  unberechtigt, 
anzunehmen,  dass  diss  eben  Kriemhild  und  Briinhild  waren. 
Kriemhild  trat  an  die  Stelle  der  Lofnheidhr,  Briinhild  an  die 
der  Lyngheidhr.'': 

Somit  wäre  Kriemhild  die  Schwester  des  ihr  feindlichen 
Fafnir,  und  ebenso  muss  Hagen  mit  demselben  verwandt  sein. 
Darauf  führt  die  Namensähnlichkeit  zwischen  Oegir,  dessen  Helm 
Hreidhmarr  besass,  mit  dem  dieser  also  identisch  oder  doch 
verwandt  sein  muss,  und  Hagens  Vater,  der  im  Waltharius  Agazi 
heisst.  Wenn  für  Oegir  eine  ältere  Form,  etwa  Oegtir,  ange- 
nommen wird,  so  kann  Agazi  mit  dem  altnordischen  Riesen- 
und  Adler '''-Namen  Egdhir  zusammenhängen;  Hagen  wäre  also 
darnach  der  Sohn  eines  Sturmriesen. 

Diese  Verwandtschaft  lässt  auch  vermuthen,  dass  es  Kriem- 
hilds eigene  Verwandte  waren,  welche  dieselbe  in  die  Waberlohe 
einschlössen,  also  entweder  Hagen  oder  Hreidhmarr.  In  ver- 
wandten Sagen  steht  der  feindliche  Vater  als  Verfolger  der 
Tochter  fest."')  Somit  ist  die  echte  Form  der  Sage  diese: 
Kriemhild,  von  ihrem  Verwandten  (Vater),  einem  ibtuiin^  einge- 
schlossen, wird  von  Siegfried  befreit  und  vermählt  sich  mit  ihm 
nach    Ablauf    des    Jahrs    seiner   Dienstzeit;    aber    ihre    iinstere 


14)  Beide  Paare  stehen  duroli  ihre  N'ameu  im  Gegensatz  zu  einander; 
auch  das  doppelte  —  hilde  (parallel  —  heidhr)  und  die  ähnliche  Bedeutung 
des  ersten  Compositionstheils  bezeugt  die  Schwesterschalt  beider  Frauen. 
So  würde  sich  erklären,  warum  X.  L.  und  Thidrekssaga  gegen  den  sonstigen 
Brauch  Brünhilds  Eltern  nicht  nennen  (die  Schwesterschaft  Atlis  ist  nordischer 
Zusatz,  da  Atli  durchweg  historisch  ist ) 

15)  Ygl.  Kriemhilds  Traum  Mb.  13,  2.  7>\  Lachm  ,  Anm..  S.  10. 

16)  So  in  der  Sage  von  Freyr  und  Gerdhr  der  Vater  Gerdhs,  Gymir; 
der  Vater  Sidrats  in  der  Otnitsage;  der  Ilagen  der  Gudrun  (hier  macht  die 
Namensgleichheit  zugleich  die  Vermuthung  wahrscheinlich,  dass  Hagen  selbst 
Kriemhilds  Vater  ist,  zumal  da  sein  Xame  an  den  Schlafdom  erinnert,  mit 
dem  Briinhild  nach  der  Sage  gestochen  wurde). 


2.    Die  Nibelungensagc.    Die  Siegfriedssage.  121 

Schwester  Brüiiliild   reizt  den  Verwandten  aus  Neid   auf,   dem 
Gotte  den  Tod  zu  i^eben  und  den  Hort  wider  zu  nehmen.'') 

Diese  Herstellung  der  Sage  wird  als  richtig  erwiesen  durch 
mehrere  ganz  nahe  Analogieen,  wie  die  Sage  von  Ortnit,  von 
Hilde  (in  der  Gudrun),  von  Tristan  und  Isolde.'*) 

17)  Unwesentlich  sind  einige  Einzelheiten  des  Mythus.  Regins  Ein- 
greifen ist  mehrfach  zweifelhaft,  besonders  seine  Bruderschaft  mit  Eafiiir,  da 
das  Schmieden  (Regins)  keine  Sache  der  Riesen  ist.  Sicherer  ist  Regln  als 
Siegfrieds  Erzieher.  Etwas  Eigenthümliches  weiss  die  Thidrekssaga  von 
Siegfrieds  Geburt.  Seine  Mutter  Sisilie,  fälschlich  der  Untreue  gegen  Sig- 
mund beschuldigt,  soll  im  Walde  sterben.  Aber  die  mit  dem  Mord  Beauf- 
tragten entzweien  sich,  und  wäbrend  dessen  gebiert  sie  den  Siegfried.  Sie 
legt  ihn  in  ein  Glasgetass,  in  welchem  früher  Meth  gewesen.  Einer  der 
Streitenden  stösst  daran  und  es  rollt  in's  Wasser.  Aus  Schrecken  darüber 
stirbt  Sisilie.  Das  Gefäss  zerschellt  an  einem  Felsen;  der  Knabe  wird  von 
einer  Hindin  gesäugt  und  wird  in  einem  Jahre  so  stark  wie  ein  vierjähriges 
Kind;  Mimir  (=  Regin)  findet  und  erzieht  ihn.  —  Diese  Sage  ist  jedenfalls 
nicht  romanischen  Ursprungs;  da  die  Sage  von  dem  zum  Tode  in  den  Wald 
geführten  Weibe  häutig  ist,  so  mögen  mythologische  Ideen  darin  enthalten  sein. 
Die  Ein  Schliessung  in  ein  Gefäss  ist  bemerkenswerth;  sie  erinnert 
an  Wolfdietrich,  Dionysos  und  Perseus.  Dass  es  ein  Methgefäss  ist,  könnte 
die  segnende  Kraft  des  Gottes  andeuten;  ebenso  wird  Sceäf  auf  einer  Garbe 
an  das  Land  geti'agen. 

IS)  Ortnit  entführt  die  von  ihrem  Vater  Machaol  eingeschlossene  Sidrat 
mit  Hilfe  seines  Vaters  Albrich;  Machaol  sendet  Drachen  in  sein  Land, 
deren  einer  den  Ortnit  verschlingt;  Wolfdietrich  tötet  den  Drachen  und  ver- 
mählt sich  mit  Sidrat.  Offenbar  gebührt  die  Tötung  des  Drachen  dem  Ortnit 
und  muss  vor  dessen  Brautfahrt  fallen.  Dass  Ortnit  von  dem  Drachen  ver- 
schlungen wird,  ist  mythologisch  ebenfalls  richtig. 

Ganz  ähnlich  ist  die  Sage  von  Hilde;  es  fehlt  aber  der  Drachenkampf 
und  der  Tod  des  Helden.  Unbedeutende  Differenz  ist  es,  wenn  Hettel,  der 
Brautwerber,  die  Brautfahrt  nicht  selbst  unternimmt,  sondern  seine  Helden 
zu  Hagen  schickt.  (Merkwürdig  ist  die  nordische  Erzählung,  dass  Hilde 
nach  dem  Kampfe  ihres  Vaters  und  ihres  Geliebten  die  erschlagenen  Krieger 
in  der  Nacht  durch  Zauberei  immer  wider  erweckt;  dieser  Zug  ist  in  der 
deutschen  Gudrun  in  gemilderter  Foi-m  auf  den  arzneikundigen  Wate  über- 
tragen worden;  ähnlich  ist  es,  wenn  in  Set.  Oswalds  Leben,  das  mit  der 
Ortnitssage  in  Berülirung  steht,  durch  Oswalds  Gebet  alle  erschlageneu  Heiden 
wider  lebenchg  werden.) 

Tristan,  nach  seiner  Eltern  Tode  in  Abgeschiedenheit  erzogen,  befreit 
das  Land  seines  Oheims  Marke  durch  Zweikampf  mit  Morolt  von  einem 
grausamen  Menschenzins.  Die  in  diesem  Kampfe  ihm  geschlagene  Wunde 
kann  nur  Isolde,  Morolts  Nichte,  heilen.  Unter  dem  Namen  Tantris 
(=  Tan-tris  =  Tris-tan)  geht  er  als  Spielmann  zu  ihr  und  kehrt  geheilt 
zurück.  Als  Brautwerber  für  seinen  Oheim  reist  er  wider  zu  ihr.  Einen 
Drachen,  der  das  Land  verwüstet,  erschlägt  Tristan,  sinkt  aber,  von  dem 
Kampfe  ermattet,  zu  Boden.     Ein  Marschall  gibt  sich  für  den  Sieger  aus 


122  I.    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

Es  handelt  sich  nimmehr  darum,  für  den  dergestalt  ge- 
reinigten und  auf  seine  echteste  Form  zurückgeführten  Mythus 
eine  Bedeutung  und  Erklärung  zu  finden. 

Der  Angelpunct  der  ganzen  Sage  ist  oflfenhar  Brüuhilds 
Befreiung  ans  der  Waherlohe.  Die  Edda  ])ezeichnet  dieselbe 
als  etwas  ganz  Ausserordentliches,  ))ei  dessen  Vollbringung  die 
Erde  erbebt  und  die  Lohe  zum  Himmel  wallt.'") 

Anklänge  an  denselben  Mythus  sind  in  ^Märchen  häufig.^**) 
Ueberall  ist  die  von  der  Waberlohe,  dem  Zaun  oder  Gestrüp]) 
umgebene  oder  unter  dem  Baum  sitzende  Jungfrau  eine  wider 
Willen  in  der  Unterwelt  hausende  Göttin,  welche 
der  Held    befreit.-')      Eine    sichere    Anknüpfung    findet    das 

und  soll  mit  Isolde  vermählt  werden.  Diese  aber  erkennt  in  Tristan  den 
wahren  Dracheutöter,  zugleich  jedoch  den  Mörder  ihres  Oheims.  Ihn  zu 
töten,  wird  sie  von  ihrer  Mutter  verhindert.  Tristan  wirbt  für  seinen  Oheim 
um  ihre  Hand.  Die  Mutter  Isoldes  gibt  einer  Dienerin  einen  Liebestrank, 
um  jener  die  Liebe  Markes  zu  sichern;  aber  Tristan  und  Isolde  gemessen 
unwissend  davon  und  sind  nun  für  immer  an  einander  gekettet.  Tristans 
Liebe  wird  entdeckt  und  er  von  Markes  Hofe  verbannt.  Wider  "Willen  ver- 
mählt er  sich  mit  der  weisshändigen  Isolde,  die  er  aber  nicht  berührt. 
Ihr  Bruder  bittet  ihn  um  Beistand  zur  Ausführung  eines  Liebesabenteuers; 
aber  sie  werden  entdeckt,  der  Bruder  der  weisshändigen  Isolde  getötet  und 
Tristan  mit  einem  vergifteten  Speere  verwundet.  Er  lässt  die  schöne 
Isolde  zu  seiner  Heilung  herbeirufen  und  bittet,  wenn  dieselbe  wirklich 
komme,  ein  weisses,  im  anderen  Falle  ein  schwarzes  Segel  aufzuziehen.  Die 
schöne  Isolde  kommt  wirklich,  aber  die  weisshändige  zieht  aus  Eifersucht 
ein  schwarzes  Segel  auf,  und  Tristan  stirbt  vor  Schmerz.  —  Morolt  ist  nach 
Namen  und  Charakter  ein  Jötunn;  ist  er  mit  dem  Drachen  widerum  identisch, 
so  ergibt  sich  folgender  richtigerer  Zusammenhang:  Tristan  erlegt  den 
Dämon,  kommt  verwundet  unter  verstelltem  Namen  zu  der  schönen  Isolde; 
sie  weist  ihn  als  Mörder  ihres  Verwandten  ab,  wird  aber  nach  einiger  Zeit 
seine  Gemahlin  (ihre  Verbindung  mit  Marke  scheint  Verderbnis).  Die  weiss- 
händige Isolde  ist  hier  als  Gegensatz  der  schönen,  mit  der  sie  identisch  ist, 
klar  gehalten;  ihr  Bruder  führt  im  Bunde  mit  ihr  den  Helden  zum  Tode.  — 
Nicht  zu  verkennen  sind  die  Aehnlichkeiten  mit  der  Theseus-Sage. 
Morolt  ist  =  Minotauros.  auch  der  an  ihn  sich  knüpfende  Menschenzins  ist 
beiderseits  vorhanden.  Neben  Ariadne  steht  eine  Nebenbuhlerin,  Aigle  oder 
Phaidra.  Das  weisse  und  schwarze  Segel  erscheint  beiderseits.  Das  Ein- 
dringen von  Tristan  und  dem  Bruder  der  weisshändigen  Isolde  in  eine  ver- 
schlossene Burg  ist  ähnlich  (vielleicht  mythologisch  gleich i  dem  Raub  der 
Persephone  durch  Theseus  und  Peirithoos. 

l'J)  Aehnlich  in  dem  Mythus,  von  Freyr  und  Gerdhr. 

20)  Dornröschen,  das  Marienkind  unter  dem  Baume,  Sneewittchen  u.a.m. 

21)  Es  erklärt  sich  damit  von  selbst,  warum  die  Thidrekssaga  an  die 
Stelle  der  Waberlohe  eine  feste  Burg  setzt  (ebenso  das  N.  L.i;  das  ist  eben 
die  durch  das  Gitterthor  der  Hei  verschlossene  Unterwelt. 


•2.    Die  Nibelungensage.    Die  Siegfriedssage.  123 

Märchen  von  dem  sieben  Jahre  unter  dem  Baume  sitzenden 
Marienkinde  in  dem  Mythus  von  Idliunn,  welche  von  der 
Weltesche  Yggdrasil  fällt.=^-)  Dieser  Mythus  ist  von  Uhland 
richtig  als  Naturmythus  gedeutet  worden.  Idhunn  ist  die  schöne 
Göttin,  die  im  Sommer  in  der  Pflanzenwelt  herrscht,  im  Herbste 
aber  verschwindet. 

Andere  Züge  in  verwandten  Sagen  bestätigen  diss.'^^)  Vor- 
'/iiglich  kommt  hier  der  Mythus  von  Freyr  und  Gcrdhr  in  Be- 
tracht. Auch  hier  erscheint  die  AVaberlohe,  durch  welche  Skirnir 
für  Freyr  hindurchdringt.  Gerdhr  widersteht  Freys  Werbung, 
nimmt  auch  seine  goldenen  Ae})tel  nicht  an,  wird  aber  durch 
Drohungen  bewogen,  nach  neun  Tagen  mit  ihm  sich  im  Haine 
Barey  zu  vermählen.  Zum  Lohne  erhält  Skirnir  Freys  Schwert; 
Freyr  tötet  mit  der  Faust  den  Beli,  der  wahrscheinlich  Gerdhs 
Bruder  ist.'-')  —  Die  Bedeutung  dieses  Mythus  ergibt  sich  aus 
Freys  Wesen.  Er  ist  ein  milder  Xaturgott,  der  Regen,  Sonnen- 
schein und  Fruchtbarkeit  verleiht.  Gerdhr  dagegen  ist  ein 
doppelseitiges  Wesen,  einerseits  die  schöne  Braut  Freys,  anderer- 
seits aber  die  Tocliter  des  wilden  Gymir  und  die  Schwester 
Belis,  des  winterlichen  Sturmes,'-^)  den  Freyr  im  Frühjahr  erlegt, 
wo  die  Stürme  aufhören.  Auch  Freys  Vermählung  fällt  dem- 
nach in  den  Frühling.  Im  Winter  sind  Freyr  und  Gerdhr  ge- 
trennt; Gerdhr  wohnt  in  der  Unterwelt;  aber  Freyr  lässt  sie 
heraufholen,  vermählt  sich  ihr  in  dem  Haine  Barey,  d.  b.  dem 
,.  grünenden ",  und  die  goldenen  Aepfel  sind  der  Lohn  dieser 
Verbindung.-") 

22)  Unter  der  Esche  Yggdrasil  befindet  sich  die  Unterwelt.  Idhunn  weilt 
unter  derselben  in  Thälern,  wo  es  ihr  nicht  gefällt;  diese  ThiUer,  die  ver- 
wandte Nörwis,  der  Fluss  Gjöll  u.  a.  weisen  bestimmt  auf  Idbuns  Aufenthalt 
in  der  Unterwelt.  Unter  der  Esche  Yggdrasil  hausen  Schlangen,  darunter 
Ofnir  und  Sväfnir,  die  vielleicht  au  Fafnir  erinnern  dürfen.  "Wenn  Siegfried 
den  Drachen  unter  einer  Linde  tötet  und  selbst  unter  einer  solchen  ermordet 
wird,  so  ist  dieser  Baum  vollständig  an  die  Stelle  der  Esche  getreten; 
nordische  Esche  und  deutsche  Linde  entsprechen  sich  auch  sonst. 

23)  Wie  Odhinn  in  die  Unterwelt  reitet,  bebt  die  Erde.  —  Freya  um- 
gibt die  Hyndla  mit  Flammen,  d.  h.  wirft  sie  in  die  Unterwelt,  wohin  die 
Riesen  von  den  Göttern  geworfen  werden. 

24)  Gerdhr  hat  einen  Bruder,  der  erschlagen  wird;  bei  Skirnis  Ankunft 
nimmt  sie  diesen  für  den  Mörder. 

25)  Beli  ist  =  ..der  BriÜlende",  „der  Stier-,  d.  h.  der  Sturmwind,  nach 
einem  gewöhnlichen  Bilde. 

26)  [Auch  Idhunn  besitzt  goldene  Aepfel;  über  ihr  Yerweilen  in  der 
Unterwelt  s.  o.] 


124  I-     Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

Durch  diese  Parallelen  wird  wahrscheinlich,  dass  auch  der 
Siegfriedmythus  ursprünglich  eine  Beziehung  auf  die  Xatur  hatte. 
Siegfried  ist  ein  milder  Naturgott,  der  den  Drachen  oder  Riesen^ 
d.  h.  die  ungebändigte  schädliche  Naturkratt/-')  erlegt.  Der 
Schatz  Siegfrieds  sind  alsdann  nicht  Gold  und  Edelsteine,  sondern 
vielmehr  der  Schatz  der  mütterlichen  Erde,  der  Pflanzensegen. 
In  den  Besitz  dieses  Schatzes  gelangt,  muss  der  Gott  zunächst 
die  schöne,  in  der  Unterwelt  wohnende  Grittin  heraufholen  und 
sich  mit  ihr  vermählen.  Aber  er  besitzt  sie  nur  kurze  Zeit, 
d.  h.  nur  während  des  Sommers;  dann  wird  er  von  dem  finsteren 
Dämon  ermordet,  seiner  Gemahlin  von  demselben  der  Hort 
geraubt,  der  nun  wider  in  die  Tiefe  zurückkehrt;  auch  seine 
Gattin  muss  wider  in  die  Unterwelt  eingehen. 

Diese  Erklärung  der  Sage  wird  durch  mehrere  Einzelheiten 
derselben  bestätigt.  Zwar  treffen  die  Jahreszeiten,  in  welche 
Siegfrieds  Schicksale  fallen,  nicht  ganz  zusammen  mit  denen,  in 
welche  sie  nach  der  Erklärung  der  Sage  eigentlich  fallen  müssen.^*") 
Einiges  bietet  jedoch  die  Etymologie  der  Xamen.^'^) 

Brünhild  tritt  im  Mythus  besonders  hervor  in  der  Zeit 
zwischen  dem  Drachenkampf  und  Siegfrieds  Vermählung.  Fällt 
ersterer  in  den  Anfang,  letztere  in  die  Mitte  des  Frühlings,  so 
ist  der  Sinn  der,    dass  in  der  Zwischenzeit  die   Winterstürme 


Die  gegebene  Erklärung  des  Freyrmythus  ist  gesicliert  dadurch,  dass 
Freyr  im  Frühling  mit  seiner  Gemahlin  in  Schweden  seinen  fruchtbringenden 
Umzug  hielt.  —  Aehnlich  ist  die  meistens  erloschene  Sitte  des  Mairitts; 
auch  die  Austreibung  des  Winters  oder  der  Kampf  zwischen  Winter  und 
Sommer,  wie  diese  an  mehreren  Orten  aufgeführt  wurden. 

27)  Für  diese  sind  Drachen  und  Eiesen  ein  sehr  geläufiges  Bild;  vgl. 
Apollon  und  Python,  Thors  Kämpfe  mit  den  Riesen,  besonders  den  Steinriesen. 

2^1  Dass  Siegfried  zeuien  sune/uenden  (X.  L.  Str.  :i2)  Ritter  wird,  könnte 
auf  die  Erlegung  des  Drachen  zur  Zeit  der  Frühlingssonnenwende  [=  ?] 
hinweisen;  aber  der  Schluss  wäre  zu  kühn.  Dem  Mythus  entsprechender 
ist,  dass  er  Kriemhild  an  einem  Pfingsttag  zuerst  sieht.  Aber  seine  Ermor- 
dung fällt  nicht  in  den  Herbst,  sondern  in  den  Frühling. 

29)  Völstoujar  hängt  nicht  zusammen  mit  vols,  sondern  mit  valis  = 
Yi'r,<jioi.  —  Siegfrieds  Name  bezeichnet  den  nach  dem  Sieg  über  die  Stürme 
des  Winters  der  Natur  Frieden  gebenden  Gott.  Der  nordische  Name  seiner 
Mutter.  Hjördis,  deutet,*'wenn  er  mit  iördh  zusammenhängt,  auf  eine  Erdgott- 
heit [siehe  dagegen  Rieger,  Nib.  Sage  S.  1S3:  Hjördis  gehört  nicht  zu  Sig- 
mund, Siegfried  etc.,  sondern  vielmehr  gehört  hieher  Sigelind;  Hiördis  ist 
offenbar  Gattin  Hjörwardhs,  des  Vaters  von  Helgi].  Brünhild  und  Kriemhild 
sind  an  die  Stelle  von  Lyngheidhr  und  Lofnheidhr  getreten,  ihre  Namen  .be- 
weisen also  nichts. 


2.    Die  Nibelungensage.    Die  Siegfriedssage.  125 

noch  nicht  völlig  gebändigt  sind,  dass  vielmehr,  mythisch  aus- 
gedrückt, der  Gott  noch  den  Joten  dienen  muss  und  von  der 
finsteren  Schwester  seiner  Braut  zum  Gatten  verlangt  wird. 

Aber  beide  Weiber  sind,  wie  oben  bemerkt,  identisch. 
Kriemhild  im  Sommer  ist  Brünhild  im  Winter^  ähnlich,  wie  sich 
Demeter  und  Erinys  verhalten.^'^) 

Ebenso  muss  auch  Siegfried  mit  dem  Drachen,  den  er 
erlegt,  identisch  sein.^')  Aeussere  Beweise  dafür  fehlen  aller- 
dings. Sich  einen  Gott  in  seiner  finsteren  Gestalt  unter  dem 
Bilde  eines  Drachen  zu  denken,  ist  der  nordischen  Mythologie 
keineswegs  fremd.^-)  So  ist  also  der  grollende  Gott  selbst  das 
finstere  Wesen,  welches  den  Menschen  die  Früchte  der  Erde 
entzieht.  Kriemhild,  als  finstere  Göttin  gedacht,  will  ihn  wider 
haben,  wie  Persephone  der  Aphrodite  den  Ares  neidet.  Da  der 
Drache  aber  mit  Fathir  identisch  ist,  so  ist  Siegfried  zugleich 
Kriemhilds  Gemahl  imd  ihr  Bruder.^^j 

Der  Wechsel  der  Xatur  zwischen  Sommer  und  Winter 
wurde  also  als  das  Leben  zweier  innig  mit  einander  verbundenen 
Gatten  und  Geschwister  dargestellt.  JJieselben  sind  im  Sommer 
über  der  Erde,  mild  und  freundlich,  im  AVinter  unter  derselben, 
grollend  und  finster.  Die  freundliche  und  die  finstere  Seite 
dieser  Gottheiten  wurde  dann  von  der  Sage  in  zwei  verschiedene 
Wesen  gespalten.^^) 

30)  Darauf  deutet  noch  ein  Zug  der  Sage.  Nach  N.  L.  Str.  1042—1406  sitzt 
Kriemhild  3' 2  Jahre  einsam  in  einem  fiezimher;  nach  der  nordischen  Sage 
-weilt  sie  3'  2  Jahre  hei  Hjalprekr  und  webt.  Die  sieben  Halbjahre  sind  die 
sieben  "Wintermonate;  das  gezimber  ist  die  Unterwelt.  —  Im  roman  de 
Berte  spinnt  die  echte  Bertha,  wie  Otnits  Gemahlin  nach  dessen  Tode; 
Hildegard  wird  von  dem  als  Frau  verkleideten  Hugdietrich  in  einem  ver- 
schlossenen Gemache  in  weiblicher  Stickerei  unterrichtet.  Dieses  Weben 
könnte  die  still  schatfeude  Thätigkeit  der  Göttin  in  der  Unterwelt  andeuten, 
und  ist  jedenfalls  dem  Schmieden  Siegfrieds  in  seiner  Jugend  analog.  Aber 
auch  die  Nomen  und  Yalkyrien,  welche  die  naturhistorische  Bedeutung  von 
Siegfrieds  Gattin  nicht  haben,  weben;  Kriemhild  führt  also  diese  Thätigkeit 
als  die  finstere  Herrin  der  Unterwelt. 

31)  [S.  W.  Schwartz,  Die  altgriechischen  Schlangengottheiten  (Berliner 
Programm  von  1S5S).] 

32)  Die  Schlangen-Namen  Ofuir  und  Svafnir  (s.  not.  22)  sind  zugleich 
Beinamen  Odhins;  dieser  wurde  bei  den  Langobarden  unter  dem  Bild  einer 
Schlange  verehrt  und  kommt  als  solche  zu  Gunnlöd. 

33)  Wichtig  für  das  Weitere:  s.  daher  unten. 

34)  Grosse  Aehnlichkeit  hat  die  Sage  mit  dem  Mythus  von  Dionysos  und 
Persephone.  Es  zeigen  sich  aber  bei  genauerer  Vergleichung  widerum  Ver- 
schiedenheiten zwischen  beiden. 


126  I.     Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

Für  den  sa  erklärten  Mytlius  muss  nun  noch  eine  Stelle 
in  dem  germanischen  Göttersystem  g-efunden  werden,  damit  die 
Einreihmig  in  dasselbe  die  gegebene  Erklärung  als  richtig 
erweisen  könne. 

Es  finden  sich  in  der  nordischen  Mythologie  alle  die  Ideen, 
welche  der  Siegfriedssage  zu  Grunde  liegen.  Das  Prineip  des 
Gegensatzes,  mythisch  als  Kampf  autgetasst,  ist  eine  Grund- 
anschauung der  gesammten  nordischen  Mythologie.  Analogieen 
der  nordischen  Mythologie  sprechen  dafür,  dass  Siegfi-ieds  Ver- 
mählung richtig  als  die  Verbindung  mit  einer  tellurischen 
Göttin  aufgefasst  ist;  denn  die  Gattinnen  der  bedeutendsten 
nordischen  Götter  sind  tellurische  Wesen.^°)  Das  Heraufholen 
der  schönen  Göttin  aus  der  Unterwelt  tritt  hervor  in  dem 
Mythus  voa  Gerdhr,  das  Bändigen  der  unwilligen 
Braut  in  dem  von  Odhinn  und  Rindhr,  wo  auch  das  Schmieden 
Siegfrieds  seine  Analogie  findet.^")  Eine  treffende  Parallele  zu 
der  Vermählung  Siegfrieds  bietet  ferner  der  Mythus  von  Odhinn 
und  Gunnlöd.^')  —  Der  Tod  eines  Gottes  im  Herbste  ist  der 
nordischen  Mythologie  nicht  fremd;   besonders  hervortretend  ist 


.35)  Odhins  Gattin,  Frigg,  ist  Tochter  des  Fjörgjai,  =  goth.  fairgtmi 
„Berg" ;  Fjörgyn  oder  Jördh  heisst  Thors  Mutter.  Sit",  die  Gattin  Thors,  ist 
tellurisch;  wenn  Loki  derselben  ihr  schönes  Haar  abschneidet,  für  das  ihr 
dann  Zwerge  ein  goldenes  machen,  so  ist  das  deutlich  Bezeichnung  der 
goldenen  Feldfrucht,  die  zur  Zeit  der  Hitze  geschnitten  wird  und  im  Winter 
unterirdisch  wider  emporkommt. 

36)  Odhinn  kommt  als  Schmied  verkleidet  zu  Rindhr,  ihre  Verbindung 
findet  im  Winter  statt.  Parallel  dem  Spinnen  der  Göttinnen,  ist  das 
Schmieden  die  Thätigkeit  des  Gottes  im  Winter. 

37)  Unter  dem  Meth  ist  gewiss  mehr  zu  verstehen  als  der  Dichtertrank. 
Kvasir,  aus  dem  er  gemacht  ist,  scheint  nach  seiner  Etymologie  (=anhelitus) 
das  Lebensprincip  in  der  Natur  darzustellen.  Die  Lebenskraft  der 
Gewächse  dringt  aus  ihnen  im  Herbste  in  die  Erde  zurück  und  kommt  im 
Frühjahr  wider  zum  Vorschein  durch  die  Hilfe  der  Zwerge,  der  im  Ver- 
borgenen schaffenden  Naturkräfte,  welche  die  belebenden  Säfte  wider  neu 
zubereiten.  Allein  die  rauhe  Jahreszeit  hemmt  diesen  Gang;  sie  müssen  den 
Lebenstrank  an  Suttüngr  abgeben,  der  ihn  in  seiner  Höhle  verschUesst. 
Auch  Odhinn  muss  dem  Bruder  des  Riesen  dienen,  die  rauhen  P^lemente  eine 
Zeit  lang  herrschen  lassen,  sich  mit  der  Riesenjungfrau  Gunnlöd  verbinden. 
Diese  Verbindung  dauert  nicht  lange;  nachdem  Odhinn  den  Meth  ausge- 
trunken, die  Lebenskräfte  den  Riesen  wider  genommen  hat,  verlässt  er 
Gunnlöd.  Diese  ist  also  auch  dämonischen,  tellurischeu  Wesens.  Zu  be- 
merken ist  bei  diesem  Mythus  die  Dienstbarkeit  und  die  Schlangengestalt 
des  Gottes. 


2.    Die  Nibelungensage.    Die  Siegfriedssage.  127 

hier  .der  Mythus  von  Baklr,  dem  Siegfriedsmythus  noch  analoger 
der  von  Odhr.^^) 

Wir  kennen  nur  ein  nordisches  Göttersystem,  das  dazu 
noch  aus  der  letzten  Zeit  des  Heidentimms  stammt.  Nach  der 
Analogie  anderer  heidnischer  Religionen  ist  aber  anzunehmen, 
dass  die  Götter  der  einzelnen  Stämme  erst  allmählich  in  ein 
System  vereinigt  wurden  und  dass  erst  dabei  ihr  Wesen  so 
scharf  bestimmt,  ihre  Charaktere  so  fest  gegen  einander  abge- 
grenzt wurden,  während  dieselben  früher  allgemeiner  und  unbe- 
stimmter gehalten  sein  musten.  In  den  vielfachen  Berührungen 
im  Wesen  einzelner  Götter  liegt  dafür  ein  sicherer  Bew^eis. 

Odhiim,  Thörr  und  Freyr  scheinen  ursprünglich  identisch  zu 
seinr'')  alle  sind  Himmelsgötter  und  Gatten  von  telhirischen 
Wesen;  sie  tretfen  in  mehreren  Eigenschaften,  namentlich  in 
der  Verleihung  von  Eegen  und  Sonnenschein,  zusanunen.  Ob 
Odhinn  und  Thorr  zu  einer  gewissen  Zeit  des  Jahres  in  die 
Unterwelt  hinabstiegen,  ist  ungewiss.  Von  Freyr  aber  lässt 
sich  mit  Sicherheit  vermuthen,  dass  er  im  Herbste  starb  und 
im  Winter  als  grollender  Unterweltsgott  gedacht  wnirde,  obgleich 
die  Edden  davon  nichts  berichten.'")  , 

Wenn  nach  dem  Gesagten  keine  der  im  Siegfriedmythus 
enthaltenen  Ideen  der  nordischen  Götterlehre  fremd  ist,  so  fragt 
sich,  mit  welchem  der  nordischen  Götter  Siegfried  zu  identi- 
ficieren  sei. 


;5^)  Freya  war  mit  einem  Manne,  Odhr,  vermählt.  Er  verliess  sie  und 
sie  suchte  ihn  unter  vielen  Mameu,  wie  Aphrodite  ihren  Adonis.  Es  ist  an- 
zunehmen, dass  Odhr  ein  Naturgott  war,  welcher  starb;  daher  wird  er  nicht 
ein  Gott,  sondern  ein  Sterblicher  genannt.  Zweifelhaft  ist,  ob  er  nicht  mit 
einem  anderen  Gotte  identisch  sei.  Freya  ist  durch  ihre  Verbindung  mit 
Freyr  schon  als  milde  Naturgöttin  bezeichnet;  sie  ist  aber  auch  eine  Unter- 
weltsgöttin und  berührt  sich  mit  Hei,  wie  Artemis  u.  a.  mit  Persephone. 

Üil)  Es  ist  z.  B.  die  Scheidung  zwischen  Thorr  und  Odhinn  ganz  un- 
natürlich und  unecht,  nach  welcher  die  gefallenen  Fürsten  zu  Odhinn, 
die  Knechte  zu  Thörr  kommen.  ValhöU  war  früher  eine  allgemeine  Toten- 
behausung; die  Stämme,  welche  Odhinn  verehrten,  behielten  die  Oberhand, 
und  dadurch  entstand  jene  unnatürliche  Scheidung. 

4u)  Darauf  führt  die  Schwesterschaft  P'reyas  als  einer  Unterweltsgöttin; 
der  Mythus  von  Gerdhr  lässt  diese  Auffassung  zu ;  die  Eberopfer  und  Eber- 
gelübde in  J'reys  Cultus  sind  Sühnopfer  für  den  in  der  Unterwelt  wohnenden, 
grollenden  Gott;  ferner  die  eigenthümliche  Erzählung  der  Ynglingasaga  von 
Freys  Tode;  die  Menschenopfer,  die  ihm  nach  der  Olafssaga  gebracht  wurden, 
passen  zu  einem  bloss  freundliche'n  Gotte  nicht. 


128  I-    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

Der  Mythus  tou  Baldr,  an  welchen  Lachmann  gedacht 
hat,  stimmt  in  wichtigen  Puncten  mit  der  Siegti'iedssage  nicht 
tiberein/')  Es  wird  sich  daher  nur  um  Odhinn  oder  Freyr 
handeln  können.  Odhinn  l)ietet  nicht  wenige  Parallelen ;  '^)  aber 
manches  dem  Siegfriedmythus  Eigenthümliche  fehlt  bei  Odhinn. 
Es  bleibt  somit  noch  Freyr  übrig  und  wirklich  stimmt  der 
Mythus  von  Freyr  und  Gerdhr  vollkommen  mit  der  Siegfrieds- 
sage überein. '^) 

Ebenso  handelt  es  sich  darum,  eine  Göttin  zu  finden,  mit 
welcher  Kriemhild  zu  identificieren  wäre.  Ihr  Diener  Eckewart 
ist  offenbar  identisch  mit  dem  treuen  Eck  hart,  welcher  vor 
dem  Heer  der  Frau  Holla  warnt.  Letztere  lässt  sich  ihrem 
allgemeinen  Charakter  nach  (denn  sie  ist  eine  Unterweltsgöttin) 
und  in  einzelneu  Zügen  ganz  wohl  mit  Kriemhild  gleichsetzen.'*^) 
Welcher  nordischen  Göttin  entspricht  aber  Holla  ?  Nach  Grimm 
ist  sie  identisch  mit  Frigg;  wahrscheinlicher  ist,  dass  sie  mit 
Freya    zusammenfällt."^)      Freyr    und    Freya    stimmen    ihrem 


411  Der  blinde  Hödr  erinnert  an  Hagen;  besonders  die  Geschichte  von 
Balderus  und  Hotherus  bei  Saxo  Grammaticus  bietet  viele  Analogieen;  auch 
Baldr  ist  ein  Licht-  und  Naturgott.  Aber  das  Wichtigste,  der  Dracheu- 
kampf  und  die  Vermählung  Siegfrieds,  fehlt  bei  Baldr. 

42)  Siegfried  stammt  von  Odhinn  ab;  Odhinn  führt  mit  sig  zusammen- 
gesetzte Namen ,  wie  Siegfrieds  Familie ;  die  Schlangen  Ofnir  und  Sväfuir 
als  Beinamen  Odhins ;  der  Gunnlödmythus  bietet  verschiedene  Parallelen,  der 
Meth  kommt,  wie  der  Nibelungenhort,  von  den  Zwergen  an  die  Biesen;  die 
verlassene  Gunnlöd  erinnert  an  Brünhild;  das  Bezwingen  der  Jungfrau  im 
Mythus  von  Eindhr,  s.  o. 

43)  Nur  das  ist  abweichend,  dass  Bcli  nicht  als  Drache  auf  dem  Golde 
liegt;  allein  der  Kampf  mit  ihm  ist  überhaupt  nur  kurz  angedeutet.  —  Der 
Kampf  mit  Bcli  ist  Freys  einziger  Kampf,  sonst  ist  er  ein  Gott  des  Friedens; 
ebenso  Siegfried  nach  dem  Siege  über  den  Drachen.  —  Freyr  ertheilt  Orakel; 
Siegfrieds  Geschlecht  hat  die  Gabe  der  '\\'eissaguug.  —  Beide  sind,  wie  es 
scheint.  Söhne  der  mütterlichen  Erdgöttiu. 

44)  Holla  ist  eine  Naturgöttin,  ihr  Hörselberg  =  der  Unterwelt;  sie 
spinnt  im  Winter;  als  die  „Dunkle"  ist  sie  der  Gegensatz  zu  Berchta,  der 
„Glänzenden",  deren  Sage  viel  Analoges  bietet. 

45)  Darauf  führen  zunächst  die  Umzüge  der  Holla,  wie  solche  nur  von 
P>eyr  und  seiner  Mutter  Nerthus  bekannt  sind;  bei  der  nahen  Verwandt- 
schaft mit  Freya  lassen  sie  sich  auch  von  dieser  vermuthen.  Die  Umzüge 
der  Holla  fallen  um  die  Zeit  der  Zwölfnächte  und  der  Fastnacht,  wo  im 
Norden  Freys  Cult  am  meisten  hervortritt.  Dietrich  mit  dem  Eber,  welcher 
mit  Holla  umzieht,  ist  unverkennbar  identisch  mit  Freyr.  Wenn  Grimm  mit 
Recht  die  Isis  des  Tacitus  (Germania  cap.  9)  mit  Holla  identiticiert.  so  führt 
dieselbe  ebenfalls  auf  Freya.    Das  Schiff,  unter  welchem  Isis  verehrt  wurde. 


2.    Die  Kibolungensage.     Die  Siegfriedssage.  129 

Wesen  nach  so  gut  zur  Siegfriedssagc ,  dass  die  Identität 
der  Sagen  und  Personen  höchst  wahrscheinlich  wird.  Aber  jene 
sind  in  der  nordischen  Sage  nur  Gescliwister,  nicht  Gatten.  Es 
ist  also  die  Frage  aufzuwerten,  oh  nicht  früher  oder  bei  anderen 
germanischen  Stämmen  beide,  äluilich  wie  Liber  und  Llljera,''") 
zugleich  als  Gatten  gedacht  worden  seien, 

Freyr  und  Freyja  nebst  ihrem  Vater  Njördhr  waren  urs])riing- 
lich  lycht  Äsen,  sondern  \'anen.  Diss  scheint  eine  Erinnerung 
daran  zu  enthalten,  dass  sie  nicht  so  ursprünglich  sind  wie  die 
anderen  Götter,  sondern  erst  später  in  den  nordischen  Glauben 
eintraten.  Umgekehrt  lässt  Odhinn  die  im  Schöpfiingsmythus 
und  nachher  nicht  mehr  auftretenden  Götter  Vili  und  Ve  in 
Asgard  zurück;  Mimir  und  der  besonders  in  älteren  Mythen 
auftretende  Hönir  werden  den  Vanen  zu  Geiseln  gegeben;  offenbar 
hat  diss  keinen  anderen  Sinn,  als  dass  sie  im  Gült  hinter  den 
neu  aufgetauchten  Göttern  zurücktraten,  was  sich  auch  sonst 
bestätigt. 

Nach  der  Ynglingasaga  kamen  die  Yanen  vom  Don  her; 
auch  andere  Nachrichten  deuten  bestimmt  auf  ihr  Eindringen 
von  Osten  her.  Freys  Cult  deutet, auf  Schweden.  Ebenso  ist 
es  in  Deutschland  der  Osten,  wo  sich  diese  Götter  nach- 
weisen lassen.  Die  Xerthus  des  Tacitus  (Germania  cap.  40), 
die  Verehrung  der  Göttermutter  unter  dem  Bilde  des  Ebers  bei 
den  Aestiern  (ibid.  cap.  45)  weisen  ebenfalls  in  den  Osten.  Ist 
die  Isis  identisch  mit  Freya,  so  bestätigt  diss  den  Freyrcult  als 
Eigenthum  der  Ostgermanen.  Bei  den  nicht  suevischen  Stämmen 
Deutschlands  lässt  sich  derselbe  nicht  nachweisen,  ja  er  ist  bei 


erinnert  an  Freys  Schitf  Skidhbladhnir,  welches  die  Wolken  bezeichnet. 
Dasselbe  erkennt  man  in  verdunkelten  deutschen  Sagen  wider;  der  Gott 
machte  durch  dassellie  die  Aecker  fruchtbar.  Hat  nun  Tacitus  nicht  geirrt,  so 
gebührt  dasselbe  auch  der  Freya.  Der  Hörselberg,  der  die  Unterwelt  bedeutet, 
passt  gut  zu  Freya.  "Wie  die  Yalkyrien  Dienerinnen  der  Freya.  sind  die  Hexen 
Hollas  Dienerinnen.  Yalkyrien  und  Hexen  fallen  vielfach  zusammen;  diss 
beweist  u.  a.  die  Hexenprobe,  dass  die,  welche  auf  dem  Wasser  schwammen, 
ohne  zu  sinken,  Hexen  waren;  denn  diese  waren  alsdann  Schwanjungfrauen, 
d.  h.  Yalkyrien.  Durch  ihre  Künste  führen  die  Hexen  das  Wetter  herbei,  sie 
reiten  in  den  Wolken  durch  die  Luft.  Liegt  nun  den  Hexenfahrten  ein 
orgiastischer  Cult  zu  Grunde,  so  mögen  die  daran  betheiligten  Frauen  geglaubt 
haben,  dass  die  Göttin  selbst  mit  ihren  Yalkyrien  sich  unter  ihnen  eintinde, 
ja  dass  sie  selbst  zu  Yalkyrien  würden. 

4t))  Auch  griechische  Gutterpaare,   die  zugleich  Geschwister  sind,  z.  B. 
Zeus  und  Hera. 

Fischer,  Nibelungenlied.  " 


130  I-    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

diesen  nicht  denkbar;  denn  des  Tacitus  Nachricht  von  der  Bild- 
losigkeit  des  deutschen  Götterdienstes  steht  im  Widerspruch  mit 
den  Götterbildern  der  Nerthiis,  Isis  imd  Göttermutter,  wenn 
diese  nicht  allein  den  Sueven  zuzutheilen  sind;  da  aber  jene 
Götterbilder  bestimmt  auf  Frevr  und  Freya  deuten,  so  sind 
diese  den  Nicht-Sueven  entschieden  ab/Aisprechen.  Auch  lässt 
sich  von  den  drei  Haui)tgöttern ,  welche  Tacitus  den  Germanen 
zuspricht,  Mars,  Mercur  und  Hercules,  keiner  auf  Freyr  deuten, 
während  doch  Odhinn,  Thorr  und  Freyr  im  nordischen  Götter- 
system die  hauptsächlichste  Trilogie  l)ilden. 

Die  suevischen  Stämme  wanderten  später  gegen  Süden  und 
nahmen  das  südliche  und  das  mittlere  Deutschland  ein/')  Freyr 
war  also  besonders  im  südlichen  und  mittleren  Deutschland, 
Wuotan  ist  noch  jetzt  im  nördlichen  besonders  hervortretend. 

Die  Verbindung  von  Geschwistern  galt  im  Asencult  für  an- 
stössig;  daher  wurde  die  zAvischen  Freyr  und  Freya  im  Mythus 
aufgelöst,  als  sie  Äsen  wurden.  Odhr  ist,  wenn  er  ein  Mensch 
ist,  gar  nicht  als  Gemahl  der  Freya  denkbar,  er  muss  also 
Beiname  eines  bekannten  Gottes  in  einem  verdunkelten  Mythus 
gewesen  sein;  er  kann  demnach  einfach  mit  Freyr  identificiert 
werden,  dessen  Mythus  durch  den  seinigen  ganz  passend  ver- 
vollständigt wird. 

Wir  dürfen  also  annehmen,  dass  die  Siegfriedssage  aus 
einem  älteren  deutschen  Mythus  von  dem  Gotte  Freyr  erwachsen 
ist.  Durch  diese  Annahme  erklärt  sich  auch,  warum  der  Sieg- 
friedmythus im  Norden  nicht  vorhanden  war,  und  später  erst, 
als  er  schon  zur  Heldensage  geworden  war,  dorthin  veqiflanzt 
wurde  und  doch  so  grossen  Anklang  fand;  es  wird  sich  dadurch 
auch  seine  Localisierung  am  Rhein  erklären,  weil  die  Burgunden, 
die  früher  an  der  Ostsee  wohnten,  wo  der  Freyr-Cultus  vorzugs- 
weise herrschte,  ihn  in  ihre  neue  Heimat  verpflanzten  und  mit 
ihrer  Königsgeschichte  verflochten. 


33. 

Auf  demselben  Boden  wie  Wilhelm  Müller  weiterarbeitend, 
sind    Neuere    zu    anderen    Resultaten    gekommen.      Namentlich 


47)  Anglier  und  Variuer  (Hermunduren)  sind  Thüringer;  die  Langobarden 
wandten  sich  nach  Süden,  mit  den  Baiern  vielfach  verbunden;  die  üothen 
folgten  nach. 


2.    Die  Nibelungcusage.    Die  Siegfriedssage.  131 

war  hier  der  Nachweis  wichtig,  welchen  W.  Schwartz  in 
seinem  Programm  „über  die  altgriechischen  Schlangengottheiten" 
(Berlin  ISöS)  mit  genügender  Evidenz  geliefert  hat,  dass  nem- 
lich  alle  ^lythen  von  Schlangen  oder  Drachen  ursprünglich 
Gewittermythen  sind,  indem  die  Schlange,  welche  „nicht 
auf  Erden  gezeugt  ist",  das  einfache,  naive  und  treffende  Bild 
des  am  Himmel  sich  „hinschlängelnden"  Blitzes  ist. 

Statt  der  Schlange  oder  des  Drachen  treten  in  den  ]\rythen, 
die  schon  mehr  anthropomorphischen  Charakter  haben,  auch 
menschenartigere  Wesen,  Riesen  oder  Ungethüme  verschiedener 
Art,')  auf.  Gerne  werden  diese  Drachen  oder  ihre  Stellvertreter 
im  Besitz  eines  Schatzes")  oder  einer  von  ihnen  geraubten 
Jungfrau^)  gedacht,  die  sie  entweder  fressen  oder  zur  Liebe 
zwingen  wollen.  Kann  der  Schatz  verschieden  gedeutet  werden,') 
so  ist  die  Deutung  der  Jungfrau,  statt  oder  neben  welcher  mit- 
unter auch  ein  Jüngling  auftritt,  auf  Sonne  oder  Mond,  wie  sie 
Schwartz  gegeben  hat,  mindestens  sehr  plausibel.  Dem  Drachen 
(oder  sonstigen  Ungethüme)  tritt  ein  göttliches  Wesen  gegen- 
über, welches  denselben  tötet,  den  Schatz  ihm  entreisst,  die 
Jungfrau  befreit.^)  Zugleich  lehrt  aber  die  Betrachtung  dieser 
Schlangenmythen,  dass  nach  dem  in  der  Mythologie  fast  stehenden 
Gesetze,  das  auch  die  oben  besprochene  Theorie  W.  Miülers  so 
vielfach  zur  Geltung  gebracht  hat,  der  Gott,  der  das  Ungethüm 
überwindet,  mit  diesem  selbst  identisch  ist,  dass  der 
Schlangentöter  nichts  anderes  ist,  als  die  Schlange,  welche  „im 
eignen  Feuer  stirbt". 

Somit  wäre  Siegfrieds  Drachenkampf  nichts  anderes  als  eine 
mythische  Darstellung  des  Gewitters  nach  seiner  wohlthätigen 
Seite,  die  Vernichtung  der  Verderben  drohenden  Gewitterwolke 

1)  So  die  Gorgo,  die  Cliimaira;  meiischlichere  ^Yesen  Python,  Tityos 
Porphyrion  u.  a.,   die  Riesen,  welche  Thorr  bekämpft. 

2)  Das  goldene  Vliess,  die  goldenen  Aepfel  der  griechischen  Mythen; 
daneben  in  Hellas  wie  in  Deutschland  die  allgemeinere  Vorstellung  von  gold- 
hütendeu  Drachen. 

3)  In  Hellas  Hesione,  Audromeda  u.  a. 

4)  Die  Vorstellung  von  dem  Golde  kann  stammen  aus  dem  Anblick  des 
goldenen  Blitzes  (Schwartz),  des  Wetterleuchtens,  das  die  Wolken  in  goldenen 
Glanz  hüllt  (Koch),  oder  kann  das  Gold  das  von  der  Wolke  bedeckte  Sonnen- 
licht, in  einer  höheren  Anschauung  vielleicht  auch  die  durch  die  Selbst- 
vernichtung des  Gewitters  in  Blitz  und  Regen  erweckten  Schätze  des  Bodens 
bedeuten. 

5)  Herakles  befreit  die  Hesione,  Perseus  die  Andromeda. 

9* 


132  I.    Die  Entstehung  dos  Nibelungenliedes. 

durch  sich  selbst,  durch  den  aus  ihr  zuckenden  Blitz,  und  die 
segensreiche  liefreiung  der  Sonne  durch  die  Entfernung  der  sie 
verhüllenden  Wolke.**)  Aber  der  freundliche,  durch  seinen  Sieg 
über  die  Gewitterwolke  Frieden  spendende  Gott  {sifju-frid)  ist 
sell)st  mit  dem  besiegten  Ungethüm  identisch,  er  fällt,  indem 
er  dasselbe  erlegt.' i 

Bei  dieser  Deutung  des  Siegfriedmythus  können  nicht  alle 
Einzelheiten  der  ausgebildeten  Sage  ihre  Stelle  finden.  Daher 
hat  E.  Koch  in  der  zweiten  Auflage  seines  Schriftchens  die 
verschiedenen  Momente  der  Siegfriedssage  getrennt  und  sie  als 
erst  später  zusammengeschweisst  betrachtet.  Eine  kurze  Dar- 
stellung seiner  Analyse  folge  hier. 

Was  von  Siegfried  erzählt  ist,  lässt  sich  im  Wesentlichen 
unter  die  drei  folgenden  ]\Iomente  zusammenfassen: 

1)  Siegfried  erschlägt  Fafnir  und  gewinnt  dessen  Hort; 

2)  er  durchreitet   die  Waberlohe,   erweckt  Brünhild  und 
verlobt  sich  mit  ihr; 

3)  er  wird  hinterlistig  ermordet. 

1)  Fafiiir,  der  Drache,  ist  die  Gewitterwolke,  welclie  von 
dem  Sonnengotte  Siegfried  vernicbtet  wird.*)  Siegfrieds  strahlende 
Augen  sind  ein  Ueberrest  von  dem  Wesen  des  Lichtgottes; 
Thors  Donnerkeil  ist  zu  einem  von  Zwergeshand  geschmiedeten 
Schwerte  geworden.  Der  von  Siegfried  dem  Riesen  abgenommene 
Schatz  des  Sonnengoldes  wurde  später  nach  Vermenschlichung 
der  Sage  am  Rhein,  welcher  Gold  führte,  localisiert,  da  die 
Sage  in  derselben  Gegend  ihre  Entstehung  gefunden  hatte. 

2)  Ueber  den  Mythus  von  Siegfried  und  Brünhild  geben 
die  Mythen  von  Odhinn  und  Rindhr,  Freyr  und  Gerdhr  Auf- 
schluss:    die  im  Winter  gefesselte,    gefangene   Natur    wird  von 


())  So  kommt  die  Darstellung  des  Siegfriedsliedes  zu  ihrem  Recht, 
welche  die  von  dem  Drachen  geraubte  Kriemhild  von  Siegfried  geraubt 
•werden  lässt.     S.  u. 

7)  Thorr  füllt,  wahrend  er  die  Midgardschlange  erlegt,  zugleich  selbst, 
wird  von  (irüngnir,  den  er  getötet,  zu  Boden  geworfen.  —  Ueber  das  in  der 
ausgebildeten  Sage  dem  Tode  Siegfrieds  Vorausgehende  s.  u. 

8)  Der  rothe  Glanz  der  Wolke  erweckt  die  Vorstellung  von  einem  da- 
hinter verborgenen  Schatze;  das  Gewitter  ist  der  Kampf  des  Sonnengottes 
jnit  dem  Drachen,  welcher  als  Regen  zur  Erde  sinkt  [s.  u.];  der  Schatz 
kommt  in  die  Hände  des  Siegers  und  erscheint  hier  als  das  Gold  der  Sonne. 
Analoge  Mythen:  ludra  und  Vritra:  Thorr  und  die  Midgardschlange;  Thörr 
und  die  Riesen. 


2.    Die  Nibelungensage.    Die  Siegfriedssage.  133 

dem  Sonneiigotte  wider  betreit,  belebt  und  bethiclitet.^j  Im 
Mythus  von  Freyr  ist  Sldniir  nur  eine  Hypostase  des  Guttes 
selbst,  wie  auch  Odhinn  selbst  es  ist,  welcher  in  den  verschie- 
denen Verkleidungen  zu  Rindhr  kommt.  Sobald  aber  der 
Mythus  historisiert  wurde,  übertrug  die  dichterische  Phantasie 
dem  Freunde  des  Gottes  alle  wichtigeren  Functionen,  wie  uns 
denn  diese  Gestaltung  der  Sage  in  der  ausgebildeten  Siegfrieds- 
sage  vorliegt.  Diese  Freuudestreue  ist  Gegenstand  einer  Ijeson- 
deren  Sage  geworden,  der  von  Amicus  und  A melius,'")  — 
Die  Tarnkappe  ist  verhältnismässig  späten  Datums,  in  die  Sage 
gekommen  erst  zu  der  Zeit,  als  man  den  einem  Go'tte  natürlich 
leichten  Gestaltenwechsel  nicht  mehr  für  möglich  hielt.  Diese 
Tarnkappe  muste  aber  irgendwo  gewonnen  sein;  so  kam  es, 
dass  sie  unter  die  dem  Drachen  abgenommenen  Kleinode  ge- 
rechnet wurde.") 

3)  Die  Ermordung  Siegfrieds  ist  identisch  mit  Baldrs  Tod.'-) 
Ein  mythischer  Gegensatz  von  „Nibelungen"  und  „Völsungen" 
ist  nicht  anzunehmen;  „Nibelung"  ist  ein  historischer,  fränkischer 
Name.  Ebenso  ist  Hagen  nicht  mythisch;  Tronia  (Kirchheim) 
ist  eine  historische  Oertlichkeit.  Magens  Name  stammt  von  Ihkj 
„Verhau";  er  ist  also  eigentlich  ein  liiirjestalt  („Hagestolz"),  ein 
im  Grenzwald  angesiedelter  Lehnsmann.  Jedenfalls  ist  diss 
wahrscheinlicher,  als  seine  Identificierung  mit  dem  fränkischen 
Grossen  Eunius  Mummolus. 

AVahrscheinlich  ist  der  zweite  Mythus,  der  von  Siegfried 
und  Brünhild,  der  Grundstock  des  Ganzen.  An  ihn  hat  sich  der 
erste,  zur  Verherrlichung  des  Helden  dienend,  leicht  ange- 
schlossen; schwieriger  war  die  Anschweissung  des  dritten, 
welche  erst  durch  das  Eindringen  der  Freundschaftsage  direct 
veranlasst    war.      Der    Gedanke    von    der    Verderblichkeit    des 


9)  Die  ^Yabel•lohe  ist  die  Glut  des  Scheiterhaufens,  wie  der  griechische 
nioKfkeyi&ioi'  [s.  aber  uuten]. 

lu)  Ueberliefert  bei  Vincentius  Bellovacensis  und  Albericus  trium  foutiuni; 
Deutsch  in  „der  Seele  Trost-;  letztere  Darstellung  s.  bei  Koch  S.  69 — 71. 

1 ! )  Der  Mythus  von  Siegfried  und  Brünhild  ist  selbständig  erhalten  in 
dem  Märchen  vom  Dornröschen;  auch  das  vom  Sneewittcheu  beruht  auf 
demselben.  Die  Freundschaftssage  findet  sich  in  dem  Märchen  von  den 
zwei  Brüdern. 

12)  Baldr  ist  Sonnengott,  Odhins  Sohn,  wie  Siegfried  unverwundbar; 
Hagens  und  Lokis  List,  Nauna  und  Brünhild  sterben  freiwillig  mit  dem 
Gatten. 


134  I-    r>ie  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

Schatzes  ist  specifiscli  nordiscli  und  imurspriiiiglicli ;  daher  ist 
die  ganze  Vorgeschichte  des  Schatzes  als  nordischer  Zusatz  an- 
zusehen, veranlasst  durch  das  Bestreben  der  Nordmänner,  einer- 
seits alle  Einzelheiten  möglichst  zu  concentrieren,  andererseits 
alles  Wichtige  bis  auf  die  Götter  zurückzuführen. 


34. 

Haben  schon  die  bisher  (§§  32.  33)  betrachteten  Deutungen 
der  Sage  in  der  Erklärung  der  einzelnen  sagenhaften  Momente 
den  specitisch  germanischen  Boden  nicht  selten  überschritten, 
so  hat  P.  E.  Müller  seine  allegorisierende  Auslegung  des 
Mythus  zwar  rein  aus  der  germanischen  Tradition  desselben 
geschöpft,  dem  Mythus  selbst  aber  in  seinem  allegorischen 
Charakter  indogermanischen  Ursprung  vindiciert;  Leo  und 
Holtzmann  endlich  haben,  ohne  eine  Deutung  des  Mythus  zu 
geben,  denselben  durch  Parallelisierung  mit  einer  indischen 
Heroensage  in  die  Zeit  der  indogermanischen  YiUkergemein- 
schaft  zurückgerückt. 


35. 

Peter  Erasmus  Müller 

hat  in  seiner  Sagabibliothek  eine  allegorisierende  Auslegung  der 
Sieg'friedssa*ge  gegeben,  welche  in  kurzem  folgende  ist. 

Der  „Rhein",  in  welchen  das  Nibelungengold  geworfen  wird, 
ist  =  „Fluss"  überhaupt.  Das  Gold,  welches  aus  den  Flüssen 
gewonnen  wurde,  ist  wohl  überhaupt  das  älteste.  Die  Frage 
muste  nahe  liegen,  wer  wohl  dasselbe  daselbst  hinein  geworfen 
habe.  Die  Antwort  darauf  war:  die  ]\Iissgunst,  welche  den 
Menschen  diesen  Schatz  zu  entziehen  trachtete.  In  Ueberein- 
stimmung  mit  persischen  und  indischen  Mythen  wurde  die 
Heimat  dieses  in  den  Fluss  geworfenen  Goldes  im  Norden 
gesucht.  Der  dasselbe  holte,  war  ein  Jüngling  von  Götter- 
geschlecht, siegreich  {siipirdr^,  ein  Sohn  der  Gewalt  {Volsümp'), 
der  den  Schatz  durch  Tötung  der  denselben  bewachenden  Un- 
geheuer {Fitfnir  =  finfncr^  ^Schatzes  Inhaber")  gewann.  Das 
Gold  aber  bringt  nur  Unheil  ül)cr  seinen  ersten  Besitzer.  So 
lange  der  Held  seine  Kraft  entfaltet,  indem  er  der  Kriegsjungfrau 
(/?;■//??/' /7./I   dient,   ist    er  siegreich   durch   Stärke   und  Weisheit. 


2.    Die  Nibelungensage.    Die  Siegfriedssage.  135 

Bosheit  {(rrim-hild)  führt  ihn  in  die  Anne  der  Wolhist  {(jiidr 
ru//o),  und  nun  Aerlässt  ihn  sein  Glück.  Die  Sühne  der  Finster- 
nis {Mßihujar)  überwältigen  ihn;  sie  bewahren  das  Gold  in  der 
Tiefe;  aber  auch  sie,  trotzend  auf  ilire  Stärke,  lallen  durch  die 
Blutrache  (J///j. 

Es  ist  aus  dieser  Darstellung  klar,  dass  P.  E.  ]\Iüller  die 
ganze  Nibelungensage  als  ein  Ganzes  zusammcnfasst;  damit  ist 
auch  gegeben,  dass  er  jede  geschichtliche  Anlehnung  ausschliesst. 
Zugleich  verlegt  er  die  ganze  Sage  in  die  vorgermauische  Zeit 
und  in  die  asiatisch-arische  Heimat  der  Germanen  in  der 
Gegend  der  "Wolga. 

36. 
Heinrich  Leo 

hat,  ohne  eine  wirkliche  Auslegung  der  Sage  zu  versuchen,  eine 
Parallele  derselben  mit  einer  altindischen  Heroensage  gezogen 
und  beide  Sagen  als  ureius  dargestellt.')  Die  genannte  indische 
Sage  ist  folgende. 

Das  Mahabharata-)  enthält  als  Episode  die  Geschichte  des 
Kuruingen  Kar  na.  Kunti,  Pandus  spätere  Gemahlin,  gebiert 
dem  Sonnengotte  einen  Sohn,  mit  Namen  Karna,  der,  wie  sein 
Vater  sell)st,  mit  einem  undurchdringlichen  Goldpanzer  zur  "Welt 
kommt.  Das  Kind  wird  ausgesetzt  und  von  Adhirathk,  Dhri- 
tarashtras  "^''agenlenker ,  gefunden  und  erzogen.  Karna  ver- 
schatft  seinen  "\>rwandten,  den  Kauravas  (Kuruingen)  Sieg,  so 
lange  er  lebt.  Kunti  vermählt  sich  mit  König  Pandu  und  gebiert 
ihm  drei  Söhne:  Yudhishthira ,^)  Bhima  und  Ardshuna,^)  von 
welchen  der  letztgenannte  der  Hauptheld  auf  Seiten  der  Panduinge 
ist.  Bei  der  Kampfprobe  zwischen  den  Freiern  Draupadis  ver- 
schmäht diese  den  Karna,  obwohl  er  den  besten  Schuss  thut, 
und  wählt  Ardshuna  zum  Gemahl.  Karna  .  und  Ardshuna 
sind  von  nun  an  Todfeinde.     Ardshuna    muss    aber  die  Braut 


1)  ..Die  alt- arische  Grundlage  des  Nibelungenliedes*',  in  J.  W.  Wolfs 
Zeitschrift  für  deutsche  Mythologie  und  Sittenkunde.  I,  1   (!S5:5). 

2i  Die  Darstellung  des  Kampfes  zwischen  den  Geschlechtern  der  Kau- 
ravas und  der  Panda vas  (vulgo  Kuruinge  und  Panduinge). 

3)  =  „Standhaft  im  Kampf";  ähnlich  Günther  von  yiint  =  pugna. 

4)  A.  bedeutet  zugleich  einen  weissblühendeu  Baum  mit  rothen  Beeren; 
—  Hagen  =  ..Weissdorn". 


136  I.    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

dem  älteren  Bruder  Yudhishthira  abtreten,  und  sie  wird  gemein- 
same Gattin  der  SrJhne  l'andus.  Dhritarashtras^)  Solm,  Duryod- 
hana,  hat  von  Yudhishthira  sein  ganzes  Reich  im  Würfelspiel 
gewonnen,  mitsammt  Draupadi,  welche  er  aber  frei  lässt.  Es 
entbrennt  der  Krieg  zwischen  Panduingen  und  Kuruingen.  Die 
Letzteren  sind  siegreich,  so  lange  Karna  lebt.  Dieser  aber  kann 
nicht  getötet  werden,  so  lange  er  seinen  Goldpanzer  und  die 
kraftverleihenden  Ohrringe  hat.  Indra,  der  Begünstiger  der 
Panduinge,  bittet  ihn  in  Gestalt  eines  Brahmanen  um  beides,, 
und  Karna,  welcher  gelobt  hat,  einem  Brahmanen  keine  Bitte 
abzuschlagen,  gibt  ihm  beides  trotz  der  Warnungen  des  Sonnen- 
gottes, aber  unter  der  Bedingung,  dass  er  als  Pfand  dafür  Indras 
unfehlbar  treffenden  Speer")  erhält.  Sowie  jedoch  Karna  mit 
einem  Speerwurfe  getroffen,  soll  Indra  den  Speer  wider  be- 
kommen. Krishna,  der  Helfer  der  Panduinge,  weiss  Karna  durch 
List  dahin  zu  bringen,  dass  er  den  Speer  Indras  gegen  einen 
Andern  als  Ardshuna  verschiesst.  Ardshuna  erschiesst  den 
Karna  meuchlings,  während  dieser  ein  Rad  seines  festgefahrenen 
Wagens  losmachen  will ;  Karna  ist  noch  nicht  tot  und  verwundet 
seinen  Feind;  aber  Krishna  heilt  Ardshunas  Wunde  schnell 
und  ein  zweiter  Schuss  von  diesem  tötet  den  Karna. 

Die  zahlreichen  Parallelen  dieser  Sage  sind  folgende. 

Karnas  Panzer  entspricht  Sieglrfeds  Hornhaut;  die  kraft- 
verleihenden  Ohrringe  der  Tarnkappe;  wie  dem  Karna  die 
drei  Panduinge  feindlich  gegenüberstehen,  so  dem  Siegfried  die 
drei  Nibelungen;  die  Warnung  Karnas  durch  seinen  Vater  ist 
ähnlich  der  Siegfrieds  durch  Kriemhild;  Siegfried  und  Karna 
werden  von  ihrem  Feinde  meuchlings  erschossen;  der  Grund 
ihres  Hasses  ist  beidemale  ein  Weib,  in  der  indischen  Sage 
Draupadi,  in  der  deutschen  Brünhild.  AVenn  in  der  nordischen 
Sage  nicht  Högni,  sondern  Guttormr  auf  dessen  Rath  den  Mord 
verübt,  so  ist  ^in  ähnliches  Verhältnis  zwischen  Krishna  und 
Ardshuna.  In  beiden  Sagen  steht  ein  Lichtgeschlecht  einem 
Geschlechtc  des  Abgrunds")  gegenüber  und  unterliegt  diesem. 
Karnas  scheinbare  Abstammung  von  einem  Wagenlenker,  wegen 


5)  Dhritarashtra  und  Pandu  sind  Brüder. 

6)  [Welcher  mit  Thors  Hammer  identisch  ist;  s.  W.  Mannhardt, 
Germanische  Mythen  S.  U)5 — 114;  wie  überhaupt  Indra  und  Thörr,  s.  Mann- 
hardt 1.  c.  1—242]. 

7)  Krishna  bedeutet  ..schwarz". 


2.    Die  Nibelungensage.    Die  Siegfriedssage.  \'M 

welcher  ihn  Draupadi  verschmäht,  ist  Siegfrieds  Dienstbarkeit 
analog.  Die  Zeugung  Karnas  durch  einen  Gott  ist  in  der 
Thidrekssaga  von  Siegfried  auf  Hagen  übertragen,  dessen  Mutter 
von  einem  Alb  schwanger  wird;  ein  Bruder  Hügnis  heisst  merk- 
würdigerweise Hjarnar,  ganz  ähnlich  mit  Karna.  Auch  Sieg- 
frieds Geburt  nach  der  Thidrekssaga  ähnelt  der  Karnas. 


37. 

Adolf  Holtzmann 

hat  Leos  Theorie  adoptiert,  weiter  ausgeführt  und  in  einzelnen 
Puncten  abgeändert.') 

Die  Nibelungensage  ist  nach  Holtzmann  rein  auf  mythische 
Elemente  zurückzuführen,  d.  h.  wenigstens  auf  solche,  welche  vor 
der  eigentlich  germanischen  Geschichte  liegen  müssen.  Wir 
haben  also  ein  Recht  zu  der  Vermuthung,  dass  sie  allgemein 
indogermanisch  sei.  Um  so  mehr  wird  diese  Vermuthung 
gerechtfertigt  sein  l)ei  der  Sage  von  Siegfried,  dem  unbestrittenen 
Liebling  der  deutscheu  Sage,  dessen  Person  von  gar  keiner 
geschichtlichen  Anlehnung  ergriffen  worden  ist,  so  dass  zu 
schliesseu  ist,  seine  Gestalt  sei  in  der  Dichtung  zu  feststehend, 
also  zu  alt  gewesen,  um  eine  historische  Anknüpfung  zu  ge- 
statten. Bei  ihm  also  muss  sich  am  ehesten  eine  Parallele  in 
anderen  Mythologieen  indogermanischer  Völker  nachweisen 
lassen. 

Der  innere  Zusammenhang  zwischen  germanischer  und  in- 
discher Mythologie  kann  nicht  bestritten  werden.  Wahrscheinlich 
ist  somit  auch  die  Identität  der  beiderseitigen  Heldensagen, 
mögen  sie  auch  bis  zur  Unkenntlichkeit  verändert  sein.  Leo  hat 
auch  schon  die  richtige  Parallele  zwischen  der  Siegfrieds-  und 
Karua-Sage  gezogen.  / 

Das  Mahabharata,  welches  den  Karna  mit  entschiedener 
Misgunst  behandelt,  ist  offenbar  in  einer  parteiisch  gefärbten 
Umarbeitung  auf  uns  gekommen;  Karna  muss  früher  (und  noch 
später)  eine  weit  bedeutendere  Figur  gewesen  sein,  als  er  im 
Mahabharata  ist.  Die  Parallelen  zwischen  ihm  und  Siegfried 
sind  folgende. 


1)  Holtzmann,  Untersuchungen  S.  187— fin. 


138  I-    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

Beide  werden,  von  ihrer  Mutter  auf  dem  "Wasser  ausgesetzt,  in 
fremdem  Lande  gefunden  und  erzogen.  —  Karna  ist  der  Solm  des 
Sonnengottes ;  dasselbe  muss  auch  Siegfried  sein,  als  Sohn  des  Sig- 
mund, d.  h.  des  Gottes  der  Sequaner,-)  Segemon,  und  als  Völsung; 
denn  Völsung  häug-t  zusammen  mit  dem  keltischen  Gotte  Welis, 
welchen  die  Minerva  Belisana  voraussetzt  und  dessen  Name  als 
bei  den  Gothen  bekannt  durch  den  Xamen  Belisar  erwiesen  ist. 
—  Karna  ist  der  Ilalljljruder  seines  Todfeindes  Ardshuna;  viel- 
leicht ist  auch  Siegft-ieds  Mutter  zugleich  die  Hagens.  Diss 
wird  glaublich  dadurch,  dass  Hjördis,  Siegfrieds  Mutter,  sich 
mit  Hjalprekr  vermählt  und  dass  beide  später  nicht  mehr  ge- 
nannt werden,  so  dass  eine  Verwirrung  der  Sage  in  diesem 
Puncte  anzunehmen  ist;  wahrscheinlich  wird  es  dadurch,  dass 
Siegfried  und  Hagen  nach  der  Sage  sich  Stallbruderschaft 
schwören.  —  Karnas  Panzer  und  Siegirieds  Hornhaut  sind 
identisch.  —  Die  Dienstbarkeit  mit  ihren  Folgen  ist  bei  Karna 
wie  bei  Siegfried  vorhanden.  —  Wie  Siegfried  dem  Günther 
seine  Gemahlin  erwirbt,  so  Karna  dem  Duryodhana  dessen 
Gattin  Kanya.  Da  nun  Kanya  mit  Brünhild  identisch  sein  muss, 
diese  aber  zugleich  mit  Draupadi  zusammenfällt,  so  sind  ge^^'iss 
in  Brünhild  zwei  verschiedene  Personen  vereinigt,  wofür  die 
Unklarheit  des  ganzen  Verhältnisses  zwischen  Siegfried  und 
Brünhild  spricht.  Der  Zusammenhang  der  Sage  erfordert,  dass 
Karna  zum  Lohne  Duryodhanas  Schwager  werde.  Es  wird  uns 
aber  davon  nichts  überliefert.  Duryodhana  hat  eine  Schwester 
Duhsala,  welche  aber  an  König  Jayadratha  verheiratet  ist 
und  nie  bedeutend  hervortritt;  da  mm  ihre  Nennung,  ohne  dass 
sie  zugleich  eine  nennenswerthe  Kolle  spielte,  unsinnig  und  die 
Namenlosigkeit  von  Karnas  Gattin  nicht  episch  ist,  so  ist  die 
Annahme  berechtigt,  dass  Duhsala  eigentlich  Karnas  Gattin  ist, 
welche  aber,  als  die  Ehe  mit  einem  Fuhrmannssohue  ihrer  un- 
würdig schien,  dem  Jayadratha  beigegeben  ward.  —  Karna 
unterwirft  dem  Duryodhana  viele  Könige;  ebenso  ist  Siegfried 
in  der  Thidrekssaga  König  Isungs  Bannerträger,  und  im  Nibe- 
lungenliede standen  gewiss  an  der  Stelle  des  [nach  Holtzmann 
unechten,  s.  u.]  Sachsenkriegs  früher  andere  Siege  Siegfrieds  für 
Günther.  —  Die  Tötimg  des  Drachen  und  die  Erwerbung  des 
Horts  scheinen  im  ^Iahal)harata  zu  fehlen;  allein  die  Tötung 
des     Jarasandh,     eines     übermenschlichen    Wesens,     und     die 

2)  [Nach  Holtzmann  sind  ja  Kelten  und  Germanen  identisch.] 


2.    Die  Nibelungensage.    Die  Siegfriedssage.  139 

Plünderung  seines  reichen  Schatzes,  welche  dem  Pdiinia  zuge- 
schrieben sind,  kommen  nrsi)riinglich  —  mid  dafür  sind  noch 
Zeugnisse  vorhanden  —  vielmehr  seinem  Feinde  Karna  zu.  — 
Karnas  Tod  erfolgt  zwar  in  der  Schlacht,  aber,  wie  der  Sieg- 
frieds, durch  einen  hinterlistigen  Schuss  in  den  Rücken. 

Ein  wesentlicher  Unterschied  zwischen  Karnas  und  Siegfrieds 
Sage,  der  aber  nicht  eimnal  den  Helden  selbst  berührt,  ist  der, 
dass  Ardshuna  und  Duryodhana  Vettern  sind,  welche  sich  um 
die  Herrschaft  streiten,  wovon  die  Nibelungensage  nicht  weiss. 
Es  machen  aber  der  Streit  zwischen  Wolfdietrich  und  seinen 
Brüdern,  zu  dessen  Zeit  Siegfried  nach  der  Sage  lebte,  sowie 
der  von  Hartnit  (=  Ortnit,  Otnit)  mit  Isung  geführte  Streit 
wahrscheinlich,  dass  Siegfried  einst  der  richtigeren  Form  der 
Sage  nach  in  einem  solchen  Kampfe  mitkämpfte.^)  In  Hartnids 
Namen  (=  „streitfest'')  könnte  man  sogar  den  Yudhishthiras 
widerfinden  wollen  (=  „kriegfest").  Ferner  finden  sich  in  der 
Ortnitsage  alle  Elemente  der  Siegfriedssage:  eine  gefahrvolle 
Brautwerbung,  eine  Tarnhaut  und  die  Unverwundljarkeit  des 
Helden  (in  Wolfdietrichs  Set.  Georgen-Hemd  und  Ortnits  Brünne), 
auch  ein  Drachenkampf;  wichtig  ist  besonders,  dass  Alberich  in 
der  Ortnitsage  von  Bedeutung  ist. 

Im  indischen  Epos  sind  Karna  und  Duhsala  zurückgetreten, 
im  deutschen  der  Kampf  der  beiden  Geschlechter;  in  Folge 
davon  fielen  im  deutschen  Epos  die  Gegner  Yudhislitliira  und 
Duryodhana,  sowie  in  Brünhild  zwei  ursprünglich  verschiedene 
Frauen  zusammen. 

38. 

Wollen  wir  die  durchgesprochenen  Theorieen  über  den 
Siegfriedmythus  benrtheilen  und,  soweit  es  bei  der  unbestimmten 
AVeite,  welche  mythologische  Fragen  in  ihrer  Beantwortung 
immer  zulassen  müssen,  möglich  ist,  Resultate  aus  ihnen  zu  ge- 
winnen suchen,  so  müssen  wir  zunächst  untersuchen,  ob  und  in 
wie  weit  diejenigen,  welche  dem  Siegfriedmythus  eine  allge- 
meinere, indogermanische  Bedeutung  zugesprochen  haben,  diss 
mit  Recht  thaten.  Die  Parallelen,  welche  Leo  und  Holtzmann 
zwischen  der  Sage  von  Karna  und   der  von  Siegfried  gezogen 


3)  Isungs  Helden  fallen  durch  Zauberei  des  Feindes;  ebenso  die  tapferen 
Kuruinge  durch  die  List  der  Panduinge. 


140  I.    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

haben,  sind  in  der  That  frappant.  Es  wird  auch  nicht  unrichtig- 
sein,  eine  ziemlich  weitgehende  Parallelisierung,  ja  Identilication, 
beider  Personen  zuzuLissen.  Es  ist  aber  zugleich  zu  bedenken, 
dass  beide  Heroen,  Siegfried  und  Karna,  einem  fertigen  mytho- 
logischen Systeme  angehören,  das  in  beiden  Mythologieen  ein 
verschiedenes  ist,  dass  also  viele  der  Vergleichungspuncte  mög- 
licherweise zufällig  sein  und  wegfallen  können.  Weiterhin  ist 
zu  bedenken,  dass  auch  unter  den  Vergieichungspunctcn,  welche 
die  Personen  beider  Heroen  betreffen,  mancher  insofern  zu- 
fällig mag  genannt  werden  können,  als  nicht  nur  der  Person 
Siegfrieds  mehrere  andere  der  deutschen  Sage  sehr  ähnlich,  d.  h. 
wohl  mit  ihr  identisch  sind,  sondern  auch  der  Parallelen  zu 
Siegfrieds  Geschichte  z.  B.  in  der  griechischen  Mythologie  gar 
manche  sind  und  daher  möglicherweise  auch  in  der  indischen 
Sage  mehrere  Personen  dem  allgemeinen  Gehalt  ihres  Wesens, 
ihrer  mythischen  Bedeutung  nach  mit  Siegfried  gleich  gesetzt 
werden  könnten.  Haben  sich  doch  die  indogermanischen  Völker 
zu  einer  Zeit  getrennt,  da  ihre  Mythologie  noch  wesentlich  in 
einem  sehr  schwankenden,  plastischer,  sicher  begrenzter,  streng 
gesonderter  und  insbesondere  systematisch  geordneter  Figuren 
entbehrenden  Zustande  sich  befand,  wie  sich  derselbe  etwa  noch 
in  den  indischen  Veden,  kaum  mehr  in  den  deutschen  Volks- 
sagen und  Märchen  ältesten  Charakters,  zeigt.  Daher  müssen 
wir  uns  wohl  darauf  beschränken,  vorderhand  die  Möglichkeit, 
ja  Wahrscheinlichkeit  der  Identität  beider  Heldengestalten,  Karnas 
und  Siegfrieds,  zuzugeben,  im  Uebrigen  aber  abzuwarten,  bis 
eine  eigentlich  nnthische,  d.  h.  dem  Standjjunct  der  den  Indo- 
germanen  gemeinsamen  Natur mythologie  angemessene  Deutung 
beider  Figuren,  insbesondere  Karnas,  der  so  wie  er  im  Maha- 
bharata  gezeichnet  ist  vorerst  eine  solche  noch  nicht  erfahren 
hat,  gefunden  ist;')  erst  dann  wird  diese  ganze  Frage  spruchreif 
und  einer  alsdann  vielleicht  immer  noch  nicht  unzweifelhaft 
sicheren  Beantwortung  fähig  sein. 

Gehen  wir  zu    den    bisher  gegebenen  Erklärungen   der 
Nibelmigeusage  über,  so  ist  die  älteste  unter  denselben  die  von 


1 )  Wir  sehen  hier  von  mehreren  kleinlichen  Vergleichungspuncten,  welche 
Leo  und  Iloltzmann  gefunden  haben,  ab;  eine  Menge  von  solchen,  welche 
nur  der  ausgeführten,  detaillierten  Sage  angehören,  z.  B.  der  Geschlechter- 
kampf und  was  mit  demselljcn  zusammenhängt,  können  der  gemeinsamen 
indogermanischen  Mythologie,  welche  (s.  o.i  Xaturmythen  und  nur  solche 
bietet,  noch  gar  nicht  angehören. 


2.     Die  Nibelungensage.    Die  Siegfriedssage.  141 

r.  E.  Müller.  Allein  wir  ^^•erden  ihr  gegenüljcr  Laclimaiin  Recht 
geben  müssen,  wenn  er  sagt:"-)  ,. Seine  Dentiing  mag  als  alle- 
gorisehe  Pliantasie  ])oetische.s  Verdienst  haben,  die  historische 
Begründung  mangelt  ihr."  W.  Müller  hat  ganz  treffend  gegen 
diesell)e  geltend  gemacht,  dass  sehr  selten  ein  Mythus  eine 
allegorische  oder  abstrakt-i)hih)so])hische  Idee  enthalte,  dass  die 
Facta,  welche  ein  Mythus  erzählt,  nur  insofern  verwendet  und 
erzählt  werden,  als  sie  die  Charakteristik  des  betreffenden  Helden 
oder  Gottes  bilden,  dass  aber  dieser  selbst  nie  rein  eine  ab- 
strakte Idee  darstelle,  um  deren  willen  die  Sage  und  ihre 
Personen  erfunden  worden  wären,  sondern  dass  der  Gott  als 
solcher  stets  zuvor  schon  als  der,  welcher  er  ist,  im  menschlichen 
Bewustsein  gelebt  habe.  Auch  in  der  Heldensage  dürfen  wir 
eine  ähnliche  Allegorie,  wie  die  P.  E.  Müllers,  nicht  suchen; 
denn  die  griechische  Heldensage  beweist  uns,  dass  die  Helden 
nicht  Verkörperungen  einer  Idee  waren,  sondern  vielmehr  sei's 
Vermenschlichungen  von  Göttern,  seis  ältere  Darstellungen  eines 
mythischen  Gedankens,  aus  einer  Zeit  stammend,  die  noch  keine 
scharf  bestimmten  Göttergestalten  kannte.'*)  Von  den  übrigen 
Theorieen  mag  die  Lachmanns  zuletzt  berührt  werden. 

Unvereinbar  scheinen  auf  den  ersten  Blick  die  Ansichten 
"\V.  Müllers  und  diejenigen,  welche  Siegfried  als  einen  Gewitter- 
gott betrachten.  Denn  während  die  gesammte  Siegfriedssage 
bei  Müller  ihre  Erklärung  findet,  bleiben  für  die,  welche  die 
Siegfriedssage  als  einen  Gewittermvthus  l)etrachten,  eine  Menge 
Figuren  der  Sage,  insbesondere  die  Nibelungen,  aus  dem  Mythus 
selbst  nicht  erklär])are,  unorganische  Zusätze.  Daher  Kochs 
Bestreben,  die  Sage  zu  zerreissen,  hervorgegangen  offenbar  aus  der 
Wichtigkeit  dieser  Zusätze,  die  als  solche  nicht  wohl  begreiflich 
sind.  Uns  scheint  es  übrigens  sehr  bedenklich,  eine  schön  ge- 
ordnete Sage,  für  die  noch  dazu  Andere  Deutungen  in  ihrer 
Gesammtheit  gesucht,  vielleicht  auch  gefunden  haben,  so  zu  zer- 
reissen, dass  wohl  die  einzelnen  Momente  der  Sage  mythische 
Erklärung  finden  und  die  Möglichkeit  der  Verbindung  dieser 
ursprünglich  disparat  gedachten  Momente  gezeigt,  für  die  ver- 
einigte Sage  aber,  deren  Vereinigung  doch  auch  nach 
Kochs  Theorie  wohl  in  die  Zeit  lebendigen  mythi- 
schen Denkens  fallen  muss,  gar  keinerlei  mythologische 
Deutung  gegeben  wird. 

2)  Anmerkungen  S.  .346. 

'M  Letztere  Auffassung  z.  B.  bei  Scliwartz,  Schlangengottheiten. 


142  I.    Die  Entstehung  des  Xibeluugeuliedes. 

Koch  selbst  hat  uns  den  Weg  gezeigt,  auf  welchem  die 
verschiedenen  Ansichten  sich  begegnen  können.  Er  hat  »Sieg- 
frieds Drachenkampf  für  einen  Gewittermythus,  seine  Braut- 
werbung und  seinen  Tod  für  Jahresmythen  gehalten.  Damit 
hat  er  offen])ar  die  Entstehung  der  beiden  letzteren  Sagen- 
momente in  eine  spätere  Zeit  gerückt  als  die  des  ersten.  Denn 
die  Jahresmythen  sind  anerkanutermaassen  späteren  Ursprungs 
als  die  Tagesmythen.')  Wie  nun,  wenn  es  gelänge,  eine  frühere 
Autiassung  der  Siegfriedssage  als  Tagesmythus,  speciell  als 
Gewittermythus,  und  daraus  entstanden  eine  spätere  als  Jahres- 
mythus nachzuweisen?  und  wenn  vollends  von  den  Momenten, 
welche  Siegfrieds  Brautwerbung  und  Tod  bieten,  die  Haupt- 
sachen schon  in  dem  Mythus  vom  Drachentöter  nachweisbar 
wären?  Wir  hätten  damit  eine  Versöhnung  der  im  Einzelnen 
und  im  Ganzen  so  überzeugenden  W.  Müllerischen  Theorie  und 
der  durch  die  Vergleichung  aller  Mytliologieen  gesicherten 
neueren  Auffassung  der  Sage  gewonnen.  Und  wir  hätten  weiter 
das  gewonnen,  dass  die  Erweiterung  der  Sage  eben  verursacht 
wäre  durch  die  Erweiterung  des  Tagesmythus  zum  Jahresmytluis. 

Die  Ausführung,  welche  dem  Drachenkampfe  im  Einzelnen 
von  den  Auslegern  gegeben  wird,  berührt  uns  hier  nicht;  ob 
der  Drache  als  Regen  zur  Erde  niederfällt  (Koch)  oder  seiner 
ursprünglichsten  Bedeutung  gemäss  als  Blitz  (Schwartz),  wie 
ferner  das  Dracheugold  aufgefasst  werden  mag,  ist  für  unseren 
Zweck  mehr  oder  minder  gieichgiltig.  Wichtig  ist  aber  das 
eine  schon  kurz  Berührte,  aber  von  Koch  Uebersehene,  dass  die 
Drachenkämpfe  der  verschiedenen  Mytliologieen  oft  mit  der  Be- 
freiung einer  von  dem  Drachen  gefangen  gehaltenen  Jungfrau 
verbunden  sind.  Ist  diese  Jungfrau  nicht  deutlich  in  unserer 
Brünhild  noch  erhalten?  Auch  diese  ist  eingeschlossen  und 
verwahrt,  so  dass  nur  ein  Gott  sie  erlösen  kann,  und  die  Waber- 
lohe, die  ihre  Burg  (ein  häufiges  Bild  für  die  hocligethürmten 
AVolkenmassen)  umgibt,  dürfen  wir  gewiss  mit  W.  Schwartz  für 
die  feurige  Gewitterwolke  halten,  welche  der  Gott  durchdringt, 
indem  er  sie  mit  dem  Blitze  spaltet.  Dadurch  entlädt  sich  das 
Gewitter,  sein  Ausbruch  ist  der  Beginn  seines  Endes,  und  mit 
diesem  ist  die  von  den  Wolken  bedeckte  Sonnenjungfrau 
befreit.'*)  —  AVeiterhin    hat  die   ursprüngliche   Sage,   wie  oben 


4)  S.  unter  anderem  Simrock,  Deutsche  Mythologie,  Aufl.  III,  S.  4. 

5)  In  der  ursprünglichen  Sage  hängt  jedenfalls   is.  W.  Müller)  die  Bc- 


2.    Die  Nibelungensage.    Die  Siegfriedssage.  143 

angedeutet  worden,  auch  den  Tod  Siegfrieds,  als  des  im  Blitze 
sich  selbst  verzehrenden  Gewittergottes,  schon  in  sich  enthalten. 
So  waren  also  in  der  Sage  von  dem  Gewittergotte  Drachen- 
tötung, Befreiung  der  Jungfrau  (zugleich  gewiss  auch  Verlobung 
mit  derselben)  und  Tod  des  Gottes  verbunden,  somit  alle  drei 
^Momente,  in  welche  Koch  die  Sage  zerrissen  hat,  schon  iniplicite 
vorhanden. 

Der  Gewittermythus  wurde  sehr  einfach  zum  Jahresmythus, 
Da  der  Gott,  der  im  Gewitter  segnend  thätig  sich  zeigte,  ein 
sommerlicher  Gott,  ein  Gott  der  schönen  Jahreszeit  war,  so  war 
nur  ein  kleiner  Schritt  nöthig,  um  in  dem  von  ihm  vernichteten 
Gegner,  dessen  Identität  mit  dem  Gotte  vergessen  ward  oder 
längst  vergessen  war,  in  dem  finsteren  Gewitterdämon,  der  der 
sommerlichen  Natur  Verderben  droht,  eine  überhaupt  der  schönen 
Jahreszeit  entgegengesetzte,  eine  winterliche  Naturmacht  zu 
erblicken.  Dass  dieser  Uebergaug  einmal  gemacht  worden, 
beweist  die  Thorsage:  wenn  der  Donnergott  das  eiuemal  mit 
der  Macht  des  Gewitters  zu  kämpfen  hat,  so  sind  es  häufig 
auch  andere,  winterliche  Dämonen,  die  Hrimthursen  (Reifriesen), 
die  er  bekämpft.  Dieselbe  Wandlung  hat  auch  der  Siegfried- 
mythus erfahren.  Der  Drachenkampf  wurde  zur  Ueberwiudung 
der  winterlichen  Dämonen  im  Frühjahr,  die  befreite  Jungfrau 
zur  Sommersonue,  zur  Göttin  der  schönen  Jahreszeit  überhaupt,  das 
erbeutete  Gold  entweder  ebenfalls  zu  dem  befreiten,  ueugläuzen- 
den  Gold  der  Sonne  oder  zu  dem  goldenen  Erd-  und. Erntesegen, 
den  der  Frühling  aus  den  winterlichen  Banden  löst.  Bis  dahin 
ist  die  Entwicklung  des  Mythus  eine  sichtlich  leichte,  die  ohne 
viel  Veränderung  am  Bestände  der  Sage  vor  sich  gehen  mochte; 
aber  der  Tod  des  Gottes!  Die  Gewittersage  Hess  diesen  zu- 
sammenfallen mit  der  Besiegung  des  Drachen.  Wurde  aus  dieser 
die  Erneuerung  des  Jahrs  im  Frühling,  so  konnte  mit  dieser 
der  Tod  des  sommerlichen  Gottes  unmöghch  zusammenfallen; 
dieser  muste  vielmehr  in  den  Herbst,  in  den  Widerbeginn  der 
schlimmen  Jahreszeit  gesetzt  Averden.  Und  durch  wen  erfolgte 
dieser  Tod?  Natürlich  durch  dieselben  Mächte,  denen  der 
sommerliche  Gott  selbst  den  Tod  gegeben  hatte,  durch  die 
Mächte  des  Winters  —  und  warum  sollen  diese  nicht  den  Namen 


freiung  Erünhilds  mit  der  Drachentötung  unmittelbar  zusammen ,  wie  denn 
(S.  0.)  das  Siegfriedslied  das  Alte. bewahrt  bat,  wenn  es  die  vom  Drachen 
gefangen  gehaltene  Kriemhild  von  Siegfried  befreit  werden  lässt. 


144  I.    Die  Enstehung  des  Nibelungenliedes. 

der  Nibelungen,  der  Nebeldämonen,  geführt  haben?  So  also 
kamen  die  Nibelungen  in  die  Sage,  so  ist  es  erklärlich,  warum 
wohl  der  Anfang  der  Sage  bis  zu  Brünhilds  Befreiung  und  Sieg- 
frieds Brautwerbung  in  dem  Mythus  von  dem  Gewittcrgotte 
Erklärung  findet,  nicht  aber  der  zweite  Theil  der  Sage,  die 
Sage  von  Siegfried  und  den  Nibelungen:  diese  ist  erst  eine 
Zuthat,  aber  eine  nothwendige,  die  durch  die  Verwandlung  in 
einen  Jahresmythus  erfolgt  ist. 

Damit  stehen  wir  vollständig  auf  dem  Boden  W.  Müllers, 
dessen  Theorie  als  die  Deutung  der  Sage  in  ihrem  zweiten 
Stadium,  dem  des  Jahresmythus,  eine  wirklich  befriedigende  zu 
nennen  ist.  Nur  hüten  wir  uns,  mit  Müller  die  Sage  so  be- 
stimmt an  einen  Gott  der  germanischen  Mythologie  anzuknüpfen. 
Ohnehin,  wenn  diese  Auffassung  des  Mythus,  wie  sie  Müller 
bietet,  nicht  die  älteste  ist,  so  ist  die  Frage  nach  dem  Gott,  an 
den  sich  der  Mythus  in  seinem  zweiten  Stadium  geknüpft  habe, 
ziemlich  gleichgiltig.  Der  Gott,  der  den  Drachen  tötet,  ist  ein 
Himmelsgott  überhaupt;  und  Züge  des  entwickelteren  Sieg- 
friedraythus  passen  auf  mehrere  der  nordischen  Götter,  auf 
Odhinn  und  Freyr  die  Gewinnung  der  unwilligen  Braut,  auf 
Baldr  der  Tod  des  Helden.  Erst  die  spätere,  die  nordische 
Mythologie  in  ihrer  Isolierung  hat  scharf  abgegrenzte  Götter- 
gestalten und  Göttermythen  geschaffen;  die  allgemein  germanische 
und  die  specifisch  deutsche  kennt  solche  nicht.  Und  der  Sieg- 
friedmythus ist  zum  allermindesten  nicht  specifisch  nordisch 
zu  nennen. 

Die  Naturmythen  werden  allmählich  immer  mehr  ver- 
menschlicht und  vergeistigt.  Der  sonunerliche  Gott  wird  ein 
Gott  des  Lebens  überhaupt,  die  Gegner  desselben  Feinde  des 
Lebens,  Dämonen  der  Unterwelt,  des  Todes.  Damit  hängen 
andere  Vermeuschlichungeu  zusammen:  der  Drachenhort  wird 
wirkliches  Gold;  die  treibenden  Motive  des  Ganzen  werden 
mehr  menschliche,  ethische,  der  Gegensatz  der  beiden  kämpfen- 
den Principien  ein  ethischer. 

So  können  wir  auch  der  Lach  mannischen  Theorie  ge- 
recht werden.  So  sehr  sie  von  deu  bisher  angenommenen 
Theorieen  verschieden  ist,  sie  ist  dennoch  neben  denselben  keine 
Unmöglichkeit;  ist  doch  der  Uel)ergang  vom  Naturmythus  in 
den  ethischen  Mythus  in  der  germanischen  Mythologie  so  oft 
noch  an  der  einzelnen  Lage  selbst  nachweisbar,  und  hat  doch 
dieser  Uebergang  nicht   selten   die   grösten   Veränderungen    der 


2.    Die  Nibelungensage.    Die  Siegfriedssage.  145 

Auffassung  zur  nothwendigen  Folge  gclijil)t.  liier  triff"t  Max 
Riegers  Bemerkung*')  /u:  „Ethisclie  und  pliysikalisehe  Auffassung 
eines  Mythus  sind  keine  ausscliliessenden  Gegensätze.  Was  in 
den  uns  vorliegenden  Quellen  ethisch  verstanden  wird,  konnte 
auf  einer  früheren  Stufe  physikalischen  Sinn  haben;  die  ein- 
fachere Gestalt  der  Sage,  welche  dieser  fordert,  kann  der 
complicierteren ,  die  uns  überliefert  ist,  als  Grundlage  voraus- 
gegangen sein/'  Wenn  wir  also  bisher  dem  Siegfriedniythus 
physikalische  Bedeutung  zugesprochen  und  als  erstes  Stadium 
desselben  den  JMythus  vom  Gewittergott,  als  zweites  den  von 
W.  Müller  hergestellten  Jahresmythus  angenommen  haben,  so 
hindert  uns  nichts,  ein  drittes,  ein  ethisches  Stadium  anzunehmen. 
Diese  Annahme  wird  aber  gefordert  durch  die  Darstellung 
unserer  Quellen,  nach  welchen  der  Siegfriedmythus  deutlich  ein 
ethischer  ist.  Sollen  wir  aber  eine  ethische  Deutung  des  Mythus 
suchen,  welche  die  richtige  wäre  „für  die  letzte  Periode,  in  der 
die  Sage  überhaupt  noch  mythisch  verstanden  ward,  für  die 
letzte  Periode  vor  jener  Vermenschung  der  Mörder  Siegfrieds, 
die  es  möglich  machte,  sie  für  eins  mit  den  von  Attila  ver- 
nichteten Burgundionen  zu  nehmen ''): "  so  könnten  wir  kaum  eine 
bessere  finden  als  die  Lachmanns,  modificiert  und  zugleich  be- 
festigt durch  Max  Eiegers  Zusätze.**) 

Auf  die  Einzelheiten  der  verschiedenen  Theorieen  einzugehen, 
verbietet  der  Zweck,  den  diese  Schrift  verfolgt:  genug,  wenn 
die  allgemeinen  Grundsätze  herausgestellt  und  als  richtig  aner- 
kannt sind.  Diese  und  damit  die  Resultate  der  vorliegenden 
Untersuchung  sind  die,  dass  der  Siegfriedmythus  vor  seiner  Ver- 
bindung mit  der  Burgundengeschichte,  somit  vor  440  etwa,  den 
gewöhnlichen  Gang  der  Entwicklung  von  einem  Naturmythus  zu 
einer  ethischen  Sage  durchgemacht  hat,  indem  er,  zuerst  ein 
einfacher  Tagesmythus  von  der  Besiegung  des  Gewitters  durch 
den  Gewittergott,  alsdann  ein  Jahresmythus  von  der  abwechseln- 
den  Ueberwindunij;   des    AVinters   durch    den   Sommer    und    des 


6)  Nibeluiigensage  (S.  103). 

7)  Rieger,  Nibelungensage  1(33. 

8)  Wilhelm  Müller  bat  in  Pfeiffers  Germania  XIV,  S.  254  ff.  Lach- 
manns Beweisführung  (abgesehen  von  Einzelheiten,  die  meist  dem  historischeu 
Theile  der  Sage  augehören)  wesentlich  hinsichtlich  ihrer  Methode  angfgriffen. 
So  wenig  Müjlers  Einwände  zurückzuweisen  sind,  so  wird  der  Werth  der 
Lachmannischen  Erklärung  als  Hypothese  durch  dieselben  nicht  viel 
alteriert,  ihre  Unmöglichkeit  nicht  bewiesen. 

Fisoh  e  r,  Nibelnngenlied.  tl) 


146  I-    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

Sommers  durch  jenen,  schliesslich  zu  der  Sage  von  der  Dienst- 
barkeit des  Licht-  und  Lebensgottes  unter  den  finstern  Mächten   [^ 
der  Unterwelt  sich  ausbildete. 


3.    Die  Sage  im  >ib(>liingen!iede. 

39. 

Im  Folgenden  soll  in  der  Kürze  dargestellt  werden,  inwie- 
weit die  Sage  im  Xibelungenliede  noch  echt  erhalten,  inwieweit 
sie  verdunkelt  ist.  Nicht  immer  wird  sich  auf  diese  Frage  eine 
Antwort  finden  lassen,  und  die  Hauptpuncte  sind  noch  Gegen- 
stand des  Streites.  Natürlich  darf  bei  dieser  Untersuchung  nicht 
hinausgegangen  werden  über  die  nächste  gemeinsame  Gestalt 
der  Sage,  welche  der  nordischen  und  der  deutschen  Darstellung 
unmittelbare  Quelle  war.  Nur  diese  gemeinsame  Gestalt  wird 
herzustellen,  nicht  etwa  ihr  Sinn  alsdann  zu  errathen  sein.  Ob 
nun  in  den  einzelnen  Differenzpuncten  zwischen  deutscher  und 
nordischer  Sage  jene  oder  diese  das  Echtere  bewahrt  habe,  soll 
Gegenstand  der  folgenden  Untersuchung  sein. 


40. 

Zunächst  weniges  über  die  Namen  der  Sage.  Differenzen 
finden  sich  hier  fast  nur  in  Beziehung  auf  die  Namen  der  Nibel- 
ungen und  ihres  Vaters,  sowie  ihrer  Mutter  und  Schwesjter.  Günthers 
Name  ist  gemeinsam;  der  Giselhers  entschieden  erst  durch  Ein- 
mischung der  burgundischen  Geschichte  eingedrungen;  Guttormr 
ist  deutlich  der  burgundische  Godomar,  somit  mag  Gernot  au 
seiner  Stelle  richtiger  sein.  Ist  aber  Hagen  der  echten  Sage 
nach  Günthers  Bruder,  wie  im  Norden,  oder  sein  Vetter  und 
Dienstmann,  wie  in  der  deutschen  Sage'?  War  er  ursprünglich 
der  Bruder  Günthers,  wie  kam  die  deutsche  Sage  dazu,  ihn  aus 
dieser  Stellung  zu  entfernen  V  AVenn  die  Siegfriedssage  fs.  o.) 
erst  nach  Norden  wanderte,  nachdem  die  Identification  von 
Nibelungen  und  Burgunden  schon  stattgefunden  hatte,  so  war 
offenbar  die  Trilogie :  Günther,  Gernot  (Godomar),  Giselher  schon 
vorhanden,  als  die  Sage  in  den  Norden  drang;  dazu  trug  die 
jene  drei  Namen  verbindende  Allitteration,  wie  sie  so  echt  episch 


2.    Die  Nibelungcnsage.    Die  Sage  im  Nibelungenliede.  147 

ist,  das  Ihrige  bei.  Wenn  es  demnach  wahrscheinlich  ist,  dass 
Hagen  nicht  zu  den  drei  lirüdcrn  gehörte,  wie  kam  alsdann  die 
nordische  Sage  dazu,  ihn  zu  Günthers  Bruder  zu  machen?  Koch 
hat  dafür  eine  nicht  unpassende  Erklärung  gegeben.')  Giselher 
verschwand  in  der  nordischen  Sage,  weil  er  in  der  P^ntwicklung 
der  Sage  nichts  zu  thun  hat;'-)  an  Plagen  dagegen,  dem  treuen, 
trotzigen,  wilden  Vasallen  Günthers,  fand  der  Norden  ein  be- 
sonderes Wohlgefallen.  Ferner  kannte  der  Norden  eine  so  aus- 
gebildete Lehensvertassung,  wie  sie  das  fränkische  lleich  schon 
im  sechsten  Jahrhundert  hatte,  gar  nicht;  im  Norden  gab  es 
nur  Edle,  Freie  und  Knechte.  Ein  Knecht  konnte  Hagen  un- 
möglich sein,  und  als  Freier  wäre  er  mit  den  Königen  in  zu 
geringer  Verbindung  gestanden;  daher  machte  ihn  die  nordische 
Sage  zum  Edlen  und  zum  Bruder  der  Könige. 

Dass  der  Vater  der  Nibelungen  nicht  Dancrät,  sondern 
Gibich  ursprünglich  hiess,  beweist  nicht  nur  die  Uebereinstimmung 
aller  Quellen  ausser  Biterolf,  Nibelungen  und  Klage,  welche 
allein  den  Dancrät  nennen,  sondern  noch  mehr  die  Nennung 
Gibicas  in  der  lex  Burgundionum ,  mag  nun  dieser-  Gibica 
historisch^)  oder  mythisch")  sein.  Max  Rieger  hat  darauf  hin- 
gewiesen, dass  ein  freundlicher  Eibenkönig  im  Harz  noch  jetzt 
Gibich  heisst.'^j 

Dass  Uote  bloss  ein  ganz  allgemeiner  Name  für  eine  Helden- 
mutter und  daher  hier  nicht  echt  ist,  s.  Koch,  Nib.-Sage  3&. 
Aber  auch  der  Name  Grimild,  den  der  Norden  der  Mutter  der 
Nibelungen  gibt,  kommt,  wie  der  Name  Gudrun,  nicht  ihr, 
sondern  ihrer  Tochter,  der  Gattin  Siegfrieds,  zu.") 

Auf  die  geographischen  Namen  der  Sage  ist  wenig 
Gewicht  zu  legen.  Der  Norden,  eingedenk  des  deutschen 
Ursprungs  der  Sage,  lässt,  wie  die  deutsche  Sage,  in  Deutsch- 
land, speciell  am  ßliein,  die  Nibelungen  wohnen. 


1)  Nibelungensage  S.  ;5ü  f. 

2)  Ohnehin  war  er  eine  geschichtliche  Figur,  die  also  in  der  Sage  nichts 
Wesentliches  thun  konnte. 

;{)  So  Lachmann,  Zarucke,  Rieger. 

4)  So  Müllenhoff,  Nib.-Sage  S.  154. 

5)  S.  Rieger,  Nib.-Sage  171. 

r.)  S.  Müllenhoff,  Nib.-Sage  S.  155  f.,  und  daher  §  27,  not.  2.  Durch 
Müllenhofifs  Zusammenstellung  von  Gudrun  und  Gunnar  ist  auch  Riegers 
Eehauptung  (S.  17")  widerlegt,  dass.  Günther  nur  historisch  sei. 

•      10* 


14S  I-    Die  Eütstelmnq;  des  Nibehingenlietles. 

41. 

In  Siegfrieds  8eliicksalen  geben  die  Traditionen  mehr 
auseinander.  Ganz  abweieliend  sind  die  Sagen  über  seine 
Geburt.  Dass  hier  die  Nachrichten  des  Nibelungenliedes  ganz 
euhemeristisch  getlirbt  und  daher  unecht  sind,  liegt  auf  der 
Hand.  Darin  aber  hat  das  Nibelungenlied  das  Echte  bewahrt, 
dass  es  Sigelind  als  seine  Mutter  nennt,  nicht  Hjördis,  wie  der 
Norden.')  Von  den  zwei  anderen  Sagen  über  Siegfrieds  Geburt 
scheint  die  der  Thidrekssaga  den  Vorzug  zu  verdienen;  denn 
nicht  nur  ist  die  eddische  Darstellung  alteriert  durch  das  Be- 
streben, Siegfrieds  Geburt  an  die  Sage  von  den  älteren  Völsungen 
anzuknüpfen,  sondern  das  Aussetzen  des  Kindes  in  einem  Gefäss 
und  zwar  auf  dem  Wasser  kommt  bei  Heroen  öfters  vor.^)  Die 
ganze  nordische  Geschichte  von  Sigmund  und  den  Hundings- 
söhnen  geht  die  Siegfriedssage  gar  nichts  an,  sondern  ist  eine 
Zuthat  der  genealogisierenden  nordischen  Sage.  Im  engsten 
Zusammenhange  mit  Siegfrieds  Geburt  steht  seine  Erziehung, 
von  welcher  das  Nibelungenlied  nichts  weiss.  Dieselbe  wäre, 
da  jeder  Held  seineu  Erzieher  hat,  als  unwesentlich  zu  be- 
trachten, wenn  sie  nicht  an  den  Namen  Regins,  also  eines  der 
Besitzer  des  Horts,  geknüpft  wäre.  Wenn  der  Hort,  was  nach 
Lachmanns  und  W.  Müllers  Ansicht  ganz  unumgänglich  ist,  von 
Uranfang  an  den  Nibelungen  gehört,  denen  er  von  den  Äsen 
und  alsdann  von  Hreidhmarr  diesen  genommen  wird,  von  dem 
er  nachher,  sei  es  auf  welche  Weise  es  wolle,  an  dessen  Sohn 
Fafnir  übergeht;  so  ist  hier  Alles  in  bester  Ordnung,  mag  auch 
die  Geschichte  von  den  drei  Äsen  ein  nordischer  Zusatz  sein. 
Wenn  nun  aber  Regln  als  Fafhis  Bruder  mit  diesem  sich  um 
den  Hort  streitet,  so  scheint  diss  nicht  echt  zu  sein^);  dazu 
kommt,  dass  das  Verhältnis  Siegti'ieds  zu  seinem  Stiefvater  Alf, 
Hjalpreks  Sohn,  verwirrt  dargestellt  ist;  so  wird  es  nicht  allzu- 
gewagt sein,  aus  der  Sage  von  Alf  Siegfrieds  Dienstbarkeit,  die 
in  den  Ueberlieferungen  ebenfalls   verwirrt  dargestellt  ist')   und 


1)  S.  Rieger,  Nib.-Sage  183,  und  §  32,  not.  29. 

2)  S.  Koch,  Nib.-Sage  30,  not.  43.  Ebenso  wahrscheinlich  als  Kochs 
Vermuthung,  dass  die  Nachriclit  der  Tliidrekssaga  aus  der  Genovefasage 
stamme,  kann  eine  umgekeiirte  Annahme  genannt  werden. 

3)  Oder  mindestens  in  der  Gesammtheit  der  Sage  ungenügend  begründet 
und  unvermittelt  dargestellt. 

4)  S.  Rieger.  ISPib.-Sage  1S3  f. 


2.    Die  Nibelungeusage.    Die  Sage  im  NibolungenHedc.  1  19 

t'iir  welche  Lachmanns  Erklärung  nicht  genügt'),  herzuleiten,  wie 
liieger  gethan  hat.")  Alsdann  ist  der  Gang  der  Sage,  ganz  klar 
und  einfach  gehalten,  der,  dass  »Siegfried  schon  als  Kind  von 
dem  Ell)eu-  oder  Nibelungenkönige  in  seine  Gewalt  gebracht 
und  dem  Regln  zur  Erziehung  übergeben  wurde,  um  durch 
dessen  Anweisung  den  Nibelungen  ihren  Hort  zurückzugewinnen, 
welchen  nicht  sie  selbst,  wohl  aber  ein  Göttersohn,  wie  Siegfried, 
dem  Riesen  abnelnnen  konnte. 

Dass  die  Tötung  des  Drachen  mit  dem  Erwerb  des  Hortes 
zusammengehört,  ist  hinlänglich  bewiesen;  hierin  hat  also  das 
Nibelungenlied  das  Echte  verloren.  Dass  auch  die  Befreiung 
Kriemhilds,  welche  im  Siegfriedsliede  damit  verbunden  ist, 
ursprünglich  dahin  gehört,  ist  oben  gesagt  worden.  Allein 
Kriemhild  und  Brünhild  hatten  in  der  Gestalt  der  Sage,  wie  sie 
der  nordischen  und  deutschen  Sage  zu  Grunde  lag,  jedenfalls 
schon  ihre  jetzigen  Stellungen  eingenommen;  somit  berührt  uns 
diese  Sache  hier  nicht. 

Weitaus  der  wichtigste  Theil  des  Siegfriedmythus  in  seiner 
jetzigen  Form  ist  das  Verhältnis  Siegfrieds  zu  Brünhild  und 
Kriemhild;  aber  eben  dieser  Theil  der  Sage  ist  so  verdunkelt 
und  so  verschieden  dargestellt,  wie  kein  anderer.  Der  Norden 
weiss  von  den  drei  Kampfspielen  und  von  dem  nächtlichen 
Ringen  nichts,  die  deutsche  Sage  nichts  von  dem  keuschen  Bei- 
lager und  der  Waberlohe.  Mag  W.  Müller  mit  seiner  Ver- 
tauschung von  Brünhild  und  Kriemhild  das  Richtige  getroffen 
haben  oder  nicht,  darin  wird  er  Recht  haben,  dass  die  drei 
Spiele  mit  der  Waberlohe  zusammengehören,  deren  Durchdringung 
neben  der  Draehentötung  und  Granis  Fang  als  das  dritte  der- 
selben dasteht.  Dass  das  nächtliche  Ringen  und  das  keusche 
Beilager  ursprünglich  dasselbe  waren,  das  Mittel,  durch  welches 
Siegfried  dem  Günther  Brünhilds  Hand  gewann,  ist  klar.  Welche 
von  beiden  Darstellungen  echter  ist,  ist  schwer  zu  entscheiden; 
doch  findet  der  Kampf  um  die  Minne  eine  Parallele  in  der 
nordischen  Sage  von  Odhinn  und  Rindhr.     Der  Gang  der  Sage 


5)  Lachmann  leitet  sie  von  der  Erwerbung  des  Horts  ab,  durch  welchen 
Siegfried  in  der  Nibelungen  Gewalt  gekommen  sei;  Rieger  wendet  (S.  184) 
richtig  ein.  dass  alsdann  auch  Fafnir  in  ihrer  Gewalt  sein  müste. 

H)  Hjalprekr  =  Chilpericus,  ..Hilfreich",  daneben  kommt  die  Form 
Halfrek  vor,  welche  =  Elben-Köijig  (statt  Alf  auch  Half)  =  Alberich  ist. 
Hjalprekr  bezeichnet  die  freundliche  Seite  der  Eiben. 


150  I-     t»ie  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

in  ihrer  letzten  Gestaltung  vor  der  Trennung  von  deutscher  und 
nordischer  Sage  ist  also  dieser:  Siegfried  erwirbt  nach  Fatnis 
TiJtung  die  Briinhild  durch  Bestehung  der  zwei  weiteren  Muth- 
proben,  Grauis  Fang  und  das  Durchreiten  der  Waberlohe.  Er 
verlässt  sie  oder  muss  sie  verlassen,  um  Günther  zu  dienen. 
Ihm  muss  er  sie  erwerben  tmd  thut  diss,  entweder  indem  er 
unter  der  widerwärtigen  Gestalt  Günthers  zu  ihr  kommt  und  die 
Widerstrel)ende  bezwingt '\  oder  indem  er  fwohl  unter  seiner 
eigenen  Gestalt)  zu  ihr  kommt,  sie  aber  nicht  beschläft.'^j 

Das  Nibelungenlied  weiss  nichts  mehr  von  Siegfrieds 
früherem  Verhältnis  zu  Briinhild.  Zarncke,  in  seinem  Streben, 
die  deutsche  Sage  zu  isolieren,  hat  sogar  behauptet,'),  dass  es 
nicht  einmal  von  der  Bekanntschaft  mit  ihr  wisse,  auch  nicht 
die  dem  Liede  zu  Grunde  liegende  Gestaltung  der  Sage.  Zarncke 
will  diss  so  beweisen.  Siegfried  hat  sich  (Str.  375)  dem  Günther 
angeboten,  die  Rolle  eines  Vasallen  spielen  zu  wollen;  er  tritt 
daher  hinter  Hagen  und  Dancwart  vollständig  zurück.  Die 
Wahrheit,  dass  Siegfried  ein  reicher  Fürst  sei,  sagt  Günther 
seiner  Gemahlin  erst  bei  der  Hochzeit  (Str.  577).  Brünhild 
kann  daher  den  Siegfried,  den  sie  für  den  Boten  hält,  der  (in 
Av.  Vni)  die  tausend  Vasallen  geholt  habe,  nicht  auszeichnen 
(Str.  4S0:  Sfvrh/e  mit  dorn  (jriiozi'  von  den  andern  si  da  ,sc/tiof), 
vielmehr  grUsst  sie  ihn  entweder  gar  nicht  oder  doch  gering- 
schätziger als  die  Anderen,  Von  dem  früheren  Verhältnis  Sieg- 
frieds zu  ihr  blickt  im  Nibelungenliede  nichts  mehr  durch. 
Auch  kennt  Brünhild  den  Siegfried  gar  nicht  vor  Günthers 
Ankunft;  sondern  es  erkennt  ihn  nur  eine  ihrer  Frauen  (Str.  394), 
was  wohl  denkbar  war,  da  Nibelungenland  und  Niederland  in 
der  Nähe  von  Iseustein  cedacht  wurden.    Brünhild  selbst  brauclit 


7)  In  diesem  Falle  wird  es  wohl  is.  auch  Rieger,  Nib.-Sage  S.  194)  allein 
consequent  sein,  anzunehmen,  dass  Siegfried  ihre  Minne  wirklich  geniesst; 
denn  thut  er  diss  nicht,  so  ist  sie  nicht  bezwungen;  das  Beisein  Günthers 
im  N.  L.  ist  entschieden  verfehlt  und  wirkt  nur  lächerlich  (s.  lloltzmann. 
Unters.  144). 

S)  Man  ist  versucht,  W.  Müllers  Deutung  hiernach  so  zu  ändern:  Im 
Frühling  kommt  Siegfried  zu  Brünhild  —  Kriemhild,  muss  sie  aber  verlassen 
und  zwar  im  Herbst;  im  Winter  verlangt  ihn  die  finstere  Göttin,  aber 
umsonst.  So  ist  tlie  Reihenfolge  der  Ereignisse  in  der  Sage  gewahrt.  Dass  S. 
im  Frühling,  nachdem  er  die  Braut  schon  erlöst,  noch  den  Joten  dienen 
muss,  ist  schief;  warum  nicht  im  Winter? 

9)  Beiträge  No.  IX,  Seite  227—234. 


2.   Die  Nibelungensagc.    Die  Sage  im  Nibelungenliede.  151 

ibu  nicht  als  eiuen  mächtigen  König  und  grossen  Helden  zu 
kennen.  —  An  dieser  ganzen  Darstellung  Zarnckes  ist  nichts 
richtig,  als  die  Erklärung  von  Str.  4S(>,  4. 

Brünhild  glaubt  auf  die  Aeusserung  ihrer  Üienstfrau  hin, 
dass  einer  von  den  vier  Recken  aussehe,  wie  Siegfried,  er  wolle 
sich  um  ihre  Minne  bewerben  (Str.  395:  tint  ist  r/tv  starke  Sivril 
komen  in  dilze  lanil  r/t/r/t  willan  min  er  Jiiinnc,  ez  tjüt  im  an 
den  lijj)-  diss  könnte  sie  nicht  glauben,  wüste  sie  nicht,  dass 
Siegfried  ein  bedeutender  Held  ist;  ohnehin  sagt  sie  selbst:  der 
starke  5//vvV;  braucht  sie  ihn  also  nach  dieser  Stelle  nicht  zu 
kennen,  so  weiss  sie  doch  von  ihm.  Und  wie  kommt  es,  dass 
sie  ihn  nicht  griisst,  wie  er  mit  den  tausend  Vasallen  kommt? 
Sie  wollte  ihn  doch  grüssen,  als  er  mit  Günther  kam  (schon 
diss  deutet  auf  ihre  hohe  Meinung  von  ihmj,  Sie  griisst  ihn 
offenbar  nur  deswegen  nicht  mehr,  weil  sie  erfahren  hat,  dass 
er  nichts  von  ihr  wolle.  Ihr  früheres  Verhältnis  zu  ihm  blickt 
also  noch  durch.  Richtig  ist,  aber  auch  wohl  unbestritten,  dass 
der  Dichter  des  Nibelungenliedes  von  diesem  Verhältnis  nichts 
weiss;  aber  die  genannten  Züge  beweisen,  dass  er  dasselbe  in 
der  Vorlage,  nach  der  er  arbeitete,  angedeutet  fand,  es  aber 
nicht  zu  erklären  wüste.  Diss  zeigt  sich  auch  darin,  dass  die 
im  Nibelungenliede  gegebene  Motivierung  des  Hasses  der  Brün- 
hild gegen  Siegfried  und  Kriemhild  eine  künstliche  ist,  welche 
offenbar  an  die  Stelle  ihrer  Eifersucht  gegen  Kriemhild  treten 
sollte,  als  diese  nicht  mehr  verstanden  wurde. 


42. 

Es  erübrigt  noch,  Weniges  über  die  Nibelungen  und  ihre 
Thaten  und  Schicksale  zu  sagen.  Dass  sie  die  ersten  wie  die 
letzten  Besitzer  des  nach  ihnen  benannten  Hortes  sind,  dass  so- 
mit im  Nibelungenliede,  nicht  der  Sage  gemäss,  dieselben 
Personen  zerrissen  sind  in  die  .Nibelungen"  Schill)ung  und 
Nibeluug,  von  denen  Siegfried  den  Hort  gewinnt,  und  in  die 
Nibelungen-Burgunden,  die  ihn  seiner  Witwe  rauben,  ist  durch 
die  Vergleichung  der  nordischen  Sage,  welche  in  dem  mytliischen 
Theile  der  Sage  durchschnittlich  echter  ist  als  die  deutsche, 
sowie  durch  Lachmanns  und  W.  Müllers  Analyse  der  Sage  ge- 
nügend bewiesen.  Aber  die  Verwirrung  ist  hier  doppelt. 
Schilbung  und  Nibelung  sind  offenbar  die  ersten  Hortbesitzer; 
zugleich  aber  vertreten  sie,  zusammen  mit  dem  Drachen,  Alberich 


152  I-    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

und  dem  (oder  den  zwölf)  Eiesen,  die  Stelle  von  Fafnir  und 
Regln.  —  In  der  Sage  von  Siegfrieds  Ermordung  hat  die  deutsche 
Sage  den  echten  Namen  des  Mörders  bewahrt;  Hagen  ist  stets 
der  eigentliche  Gegner  und  Todfeind  Siegfrieds.  —  Dass  die 
Darstellung  des  Untergangs  der  Burgunden  in  der  nordischen 
Sage  die  echtere  ist,  haben  wir  oben  gesehen.  —  Ein  Unter- 
schied in  der  Sage  findet  in  diesem  Theile  auch  zwischen  C 
und  der  vulgata  statt,  indem  C  statt  der  Str.  1849,  worin  B 
berichtet,  dass  Kriemhild  ihr  Kind  habe  kommen  lassen,  um 
durch  dasselbe  den  Streit  zu  entzünden,  eine  ganz  anders  lautende 
hat.  Die  Erzählung  von  B  ist  allerdings  nicht  gut  an  ihrer 
Stelle'),  aber  sie  ist  sagenmässig  begründet.  Nicht  nur  findet 
sie  sich  in  der  Thidrekssaga  und  dem  Anhange  zum  Helden- 
buche'i,  sondern  sie  hat  auch  ihre  ungefähre  Analogie  in  der 
nordischen  Sage,  wenn  Gudrun  dem  Atli  zur  Strafe  für  den 
Mord  ihrer  Anverwandten  seine  und  ihre  Söhne  Erp  und  Eitill 
als  Atreusmahl  vorsetzt,  mag  dieser  Zug  historisch  '^)  oder  mythisch 
sein.  Die  vulgata  hat  somit  an  jener  Stelle  die  echtere  Lesart, 
die  in  C  entweder,  wie  Bartsch  annimmt,  wegen  alter  Assonanzen, 
oder  auch  wegen  ihres  grässlichen  Inhalts,  geändert  worden  ist.') 


1)  S.  §  Iti,  not.  10  (Seite  TG  f.). 

2)  Wie  Miillenlioff,  Nib.-Sage  S.  175,  will. 

3)  Zu  dem  §§  4U— 42  Ausgeführten  fügt  "W.  Müller  (Ueber  die  Lieder 
von  den  Nibelungen  S.  IS— 3n)  noch  mehreres  theils  Unbedeutendere  theils 
ganz  auf  der  Hand  Liegende,  das  daher  hier  unberücksichtigt  geblieben  ist. 


Dritter  Abschnitt. 

Die  Mstorisclien  Verhältnisse  und  Vorläufer 
des  Nibelungenliedes. 


43. 

Es  wird  uns  im  Folgenden  die  Frage  beschäftigen,  welches 
die  Verhältnisse  gewesen  seien,  unter  denen  und  durch  welche 
bedingt  das  Nibelungenlied  in  der-  uns  erhaltenen  Form,  be- 
ziehungsweise das  Original  der  beiden  uns  erhaltenen  Bearbei- 
tungen, das  um  1170 — IISO  anzusetzen  sein  wird,  entstanden  ist 
und  so  entstanden  ist,  wie  wir  es  haben.  In  dieses  Gebiet  tallen 
alsdann  natürlich  auch  frühere  Darstellungen  der  Nibelungen- 
sage, wenn  etwa  die  Annahme  solcher  sich  als  nothwendig  er- 
weisen sollte.  Durch  die  Ergebnisse  dieser  Untersuchung  wird 
sich,  zusammengenommen  mit  denen  der  Handschriitentrage, 
auch  die  etwaige  Zeit  der  Entstehung  ergeben  und  damit  ein 
Schluss  auf  den  Verfasser  des  Gedichtes,  wenn  er  noch  zu  finden 
sein  sollte,  ermöglicht  werden. 

44. 
Unter  den  Neueren  hat  zuerst 

Adolf  H  0 1 1  z  m  a  n  n 

eigenthümliche  und  ganz  originelle  Ansichten  über  diesen  Punct 
der  Nibelungenfrage  aufgestellt.')  Um  dieselben  kennen  zu  lernen, 
müssen  wir  von  Holtzmanns  Ansicht  über  die  epische  Poesie 
überhaupt  ausgehen. 

1)  Untersuchungen  B,  Seite  60—187. 


154  I.    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

Ein  gebildetes  Volk  —  und  das  waren  die  Arier  jedenfalls 
schon  elie  ihnen  die  Schritt  bekannt  wurde  —  kann  nicht  sein 
ohne  ein  gewisses  System  von  Kenntnissen,  Erinnerungen,  Vor- 
schriften und  Lehrmeinungen,  ohne  Gesetze  von  einer  gewissen 
Dauer,  ohne  Geschichte  und  geschichtliche  Erzählungen,  ohne 
Kunstthätigkeit  und  ohne  Religion  und  religiöse  Lehren  und 
Vorschriften.  Jedes  Volk  muss  also  zu  jeder  Zeit  eine  Summe 
von  Ansichten,  Kenntnissen,  Erinnerungen,  Gesetzen  und  Religions- 
lehren besessen  haben,  die  als  heiliges  Gut  von  einem  Geschlecht 
auf  das  andere  vererbt  wurden.  Vor  der  Einführung  der  Schrift 
muste  diss  durch  das  Gedächtnis  und  die  mündliche  Tradition 
allein  geschehen.  Das  Epos  war  nicht  allein  eine  Sammlung 
nur  von  vereinzelten  Erinnerungen,  sondern  eine  vollständige, 
zusammenhängende  Sagengeschichte  des  Volks  von  der  Götter- 
geschichte bis  auf  die  jeweilige  Gegenwart  herab,  und  ist  in 
diesem  Sinne  alt,  und  el)enso,  wie  die  Sprache,  allen  Ariern 
gemeinsam.  Die  Erhaltung  desselben,  weil  es  das  heiligste 
Eigenthum  des  Volkes  war,  konnte  nicht  dem  Zufall  überlassen 
bleiben;  ein  eigener  Stand  muste  sich  dem  Dienste  des  Epos 
widmen.  Das  Verhältnis  desselben  zu  dem  Priesterstande  konnte 
ein  verschiedenes  sein.  Dieser  konnte  sich  die  heilige  Litteratur 
vorbehalten  und  die  weltliche  den  Sängern  überlassen,  oder  es 
konnten  die  Sänger  von  den  Priestern  abhängig  sein,  oder 
letztere  übernahmen  selbst  das  ganze  Epos  im  weitesten  Sinne. 
Jedenfalls  musten  die  Sänger,  wie  diss  in  Indien  auch  wirklich 
nachweislich  ist,  sich  theilen  in  solche,  welche  sich  die  Ueber- 
sicht  über  das  ganze  Epos  bewahrten,  und  in  solche,  welche  die 
einzelnen  Theile  desselben  auswendig  lernten  und  recitierten, 
die  Rhapsoden.-)  Letztere  bildeten  Schulen  unter  der  Aufsicht 
und  Leitung  je  eines  der  Ersteren. 

Vor  dem  Aufkommen  der  Schritt  trennten  sich  die  A'ölker 
und  die  Sagen,  und  durch  geographische  und  historische  Ver- 
hältnisse wurden  die  letzteren  alteriert. 

Auch  das  deutsche  Volk  besass  eine  vollständige  Sagen- 
geschichte.  Schon  Tacitus  berichtet  von  einer  solchen;  denn 
die  canninu  uiitiqua,  quoil  niiiim  apud  illos  mcmoriw  et  a/i/ia/it/m 
(jenus    est,    durch    welche    oritjo     (/cNf/.f    couditoresque     gefeiert 


2)  Die  Uebersicht  des  ganzen  Epos  nennt  der  Inder  samasas  (=Uhnr<oi\, 
die  Ausführung  der  einzelnen  Theile  vväsas. 


:?.    Die  liistorischen  Verhiiltnisse  u.  Vorläufer  dos  Xihelunt^onliedcs.    ir)5 

wurden  (Germania  cap.  2),  waren  gewiss  keine  blossen  Volks- 
lieder,  sondern  vielmehr  eine  vollständig-c  Sagengeselnclite.  Eine 
solche  setzen  die  Genealogieen  der  Angelsachsen,  der  nordischen 
Skalden,  der  Franken  voraus,  ebenso  die  Nachricht  des  Jordanes, 
dass  noch  zu  seiner  Zeit  die  Gothen  Lieder  iil)er  ihre  früheren 
"Wanderungen  und  lleldenthaten  besassen.  Die  gothische  Ge- 
schichte des  Jordanes  selbst  ist  ein  Auszug  aus  dem  gothischen 
Epos,  ebenso  sind  die  langobardische  Geschichte  des  Paulus,  die 
dänische  des  Saxo,  die  fränkische  Chronik  Hunibalds  Auszüge 
des  alten  Epos^),  von  dem  P^dda  und  Beowulf  Fragmente  sind, 
jene  speciell  nicht  aus  Volksliedern  bestehend,  sondern  viehnehr 
aus  Aufzeichnungen  der  Hauptpuncte  der  Sage  zur  Erleichterung 
für  die  Skalden.') 

Hatten  die  alten  Deutschen  ein  zusammenhängendes  Epos, 
so  müssen  sie  für  dasselbe  auch  einen  l)esonderen  Sängerstand 
besessen  haben.  Diss  beweist  schon  der  Name  des  Helden- 
gesangs scöf/eod,  scöfsa/tf/j  von  scöf  poeta,  gegenüber  dem  Liebes- 
liedchen,  dem  ivinileotl.  Im  Norden  und  bei  den  Angelsachsen, 
bei  Friesen  und  Sachsen  finden  wir  Sänger,  die  von  ihrer 
Kunst  leben.  Solche  hatten  tlie  alten  Deutscheu  also  wirklich, 
analog  den  keltischen  Barden.  Dass  Priester  und  Sänger  ver- 
wandt waren,  beweist  das  Wort  skald ,  welches  hochdeutsche 
Glossen  mit  saver  übersetzen,  sowie  die  Germanisierung  des 
Wortes  episcopus  in  his-scof. 

Von  diesem  Sängerstande  gepflegt,  bestand  das  Epos  bis 
zur  Einführung  des  Christenthums.  Dieses  suchte  die  alte  Poesie 
möglichst  zu  unterdrücken  oder  gar  zu  vernichten.  Aber  das 
Volk  hielt  zäh  an  ihr  fest.  Da  jedoch  kein  eigener  Sängerstand 
mehr  das  Epos  pflegte,  so  verwilderte  es  mehr  und  mehr  und 
sank  zum  Bänkelsängerliede  herab.  .  Die  heidnischen  Gedanken 
wurden  unverständlich,  dem  Epos  war  die  Seele  geraubt;  um 
noch  verständlich  zu  sein,  muste  es  sich  in  christliches  und  zeit- 
genössisches Gewand  kleiden. 

Der  Erste,  welcher  die  erhaltenen  Gesänge  aufzeichnen 
Hess,    war   Karl    der   Grosse^);    er    mag  sich    dazu   seines 


3)  [S.  dagegen  die  berechtigte  Entgegnung  Müllenhoffs,  Zur  Gesch.  der 
N.  N.    S.  945]. 

4)  Ebenso  im  indischen  Epos. 

5)  Nach  Holtzmann  ist  ein  Stück  aus  dieser  Sammlung  das  alte  IliUle- 
brandslied. 


156  I.    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

Gelehrten  Angilbert  bedient  haben/'j  Stücke  aus  Karls  Samm- 
lung waren  gewiss  die  schriftlieli  aufgezeichneten  deutschen  Ge- 
dichte, welche  im  neunten  Jahrhundert  erwähnt  werden. 

Bischof  Piligrira  von  Passau,  der  von  970  —  991')  Bischof 
war,  scheint  ein  grosses  Interesse  an  der  deutschen  Heldensage 
genommen  zu  haben.  Er  war  es  auch,  dem  wir  die  erste  Auf- 
zeichnung unserer  Sage  in  deutscher  Sprache  zu  danken  haben. 
Als  Bischof  von  Oberungarn,  als  ein  Mann,  der  iiberhau])t  viel 
auf  die  Bekehrung  der  Ungarn  verwandte  und  sich  in  häutiger 
Berührung  mit  ihnen  befand,  konnte  er  ein  Interesse  daran  haben, 
die  Geschichte  dieses  Volks  und,  da  dasselbe  im  ganzen  Mittel- 
alter für  identisch  mit  Hünen  und  Avaren  gehalten  wurde,  auch 
die  Geschichte  dieser  aufzeichnen  zu  lassen.  Mit  der  Geschichte 
der  Hünen,  die  schon  damals  ganz  sagenhaft  gefärbt  war,  muste 
zugleich  die  Hereinziehung  eines  Theils  der  deutschen  Helden- 
sage, desjenigen,  der  sich  mit  Dietrich  beschäftigt,  gegeben  sein. 
Die  Aufzeichnung  geschah  im  Auftrage  des  Bischofs  durch  seinen 
Schreiber  Konrad,  dessen  Quellen  wohl  nicht  allein  die  münd- 
lichen Erzählungen,  die  Piligrim  sammelte,  sondern  auch  frühere 
Aufzeichnungen  desselben  Materials  waren,  zwischen  den  Jahren 
970  I richtiger  97 1|  und  9S4,  Diese  Aufzeichnung  Konrads  ge- 
schah in  deutschen  Versen  und  zwar  in  unstro})hisch  gehaltenen 
Langzeilen.  Sie  ist  aber  für  uns  wichtig,  weil  sie  ortenbar  das 
Buch  ist,  dessen  ersten  Theil  unsere  Nibelungensage  bildete; 
und  zwar  w^erden  wir  annehmen  dürfen,  dass  unser  Nibelungen- 
lied nichts  Anderes  ist  als  eine  Ueberarbcitung  oder  besser  Ucber- 
setzung  (aus  dem  Althochdeutschen  in  das  ^littelhochdeutsche) 
des  ersten  Theils  von  Konrads  Epos.  Konrad  war  kein  unbe- 
deutender Dichter.  Seine  Person  lässt  sich  nicht  mehr  fest- 
stellen; classische  Bildung  scheint  er  nicht  besessen  zu  haben; 
möglich,  dass  er  mit  dem  Kürenberger,  dem  Verfasser  der  tünf- 
zehn  in  der  Nibelungenweise  gehaltenen  Strophen,  identisch  ist. 
Er  hat  nicht  nur  zuerst,  so  viel  wir  wissen,  ein  deutsches  (ie- 
dicht  über  die  Nibelungensage  verfasst,  sondern  er  hat  auch  für 
die  Umbildung  der  Sage  sehr  viel  gethan.  Er  hat  die  Volks- 
sage, die  zu  seiner  Zeit  etwa  so  lauten  mochte  wie  die  Darstellung 

6)  Cf.  Alcuin.  epp.  144:  vereor,  ne  Homerus  irascatur  contra  chartam 
prohibentem  spectacula  et  diabolica  tigmenta,  quiP  omnes  sanctae  scriptura'' 
prohibent;  Angilbert  führte  den  Beinamen  Homerus  (vgl.  Wackernagel, 
D.  Litt.  Gesch.    S.  51.). 

7)  [Nach  Dümmler  von  971— '»91.1 


I 


3.    Die  historischen  Verhältnisse  u.  Vorläufer  des  Nibelunf^enliedes.    157 

der  Thidrekssaga ,  veredelt,  indem  er  au  die  Stelle  der  lieid- 
nisclieii  Motive  der  Sage,  durch  deren  Verlöschen  die  Person 
Kriemhilds  zu  einem  Gegenstande  des  Abscheus  werden  muste, 
die  christlich-menschlichen  der  Treue  und  Liebe  zu  setzen  wüste, 
welche  besonders  in  der  Klage,  die  ebenfalls  auf  seinem  Gedicht 
beruht,  hervorteten,  weil  er  hier  frei  schaffen  konnte  und  nicht  an 
einen  so  imd  so  überlieferten  sagenhaften  Stoff  gebunden  war. 
Allein  er  hat  die  Sage  nicht  allein  veredelt  und  sozusagen 
modernisiert,  er  hat  auch  dieselbe  in  ihrer  Gestalt  selbst  frei- 
schaffend verändert.  Von  ihm  erst  rührt  die  Identificierung  von 
Nibelungen  und  Burgunden,  die  des  sagenhaften  und  geschicht- 
lichen Attila  her. 

Allein  das  Gedieht  von  den  Nibelungen,  wie  es  in  Konrads 
Werke  enthalten  war,  ist  nicht  in  dieser  echten  Gestalt  die 
Vorlage  unseres  Nibelungenliedes,  d.  h.  der  Bearbeitung  C, 
gewesen.  Vielmehr  liegen  zwischen  beiden  mehrere  Bearl)eitungen 
von  Konrads  Gedicht,  aus  welchen  allen  der  Dichter  von  C  ge- 
schijpft  hat.  Der  erste  Umarbeiter,  der  etwa  gegen  1 1  öü  gelebt 
und  geschrieben  haben  mag,  hat  mehrere  Interpolationen  in  das 
Werk  Konrads  sich  erlaubt,  die  theils  aus  historischen  theils 
aus  ästhetischen  Gründen  dem  Letzteren  nicht  eigen  gewesen 
sein  können.  Vielleicht  ist  mit  demselben  Bearbeiter  identisch 
der  erste  Dichter  des  Biter olf,  eines  Werkes,  das  uns  in  um- 
gearbeiteter Form  vorliegen  muss  und  dessen  erste  Gestalt  kaum 
später  fallen  kann  als  um  llöO— (30.  Eine  weitere  Bearbeitung 
eines  Theils  von  Konrads  Gedicht  liegt  vor  in  der  Klage, 
deren  Verfasser,  nach  W.  Grimms  und  Lachmanns  Forschungen^) 
identisch  mit  dem  Umarbeiter  des  Biterolf,  wahrscheinlich 
Rudolf  von  Hohcnems  ist.  Die  vierte  Bearbeitung  ist  unser 
Nibelungenlied  nach  der  Gestalt  des  Textes,  wie  sie  in  C 
überliefert  ist. 

Holtzmann  hat  für  diese  Theorie  von  der  Entstehung  des 
Nibelungenlieds  umfassende  Beweise  beigebracht.'') 

Die  Handschriften  des  Nibelungenliedes,  die  Sprache,  der 
Versbau  und  die  Reime  desselben,  weisen  auf  den  Anfang  des 


8)  [W.  Grimm,  Heldensage  S.  150—153;  Lachmann,  Anmerk.  2S7 ;  da- 
gegen s.  Zarncke.  Beitr.  No.  VIII,  Seite  226.] 

'J)  LDie  analytische  Art,  in  welcher  Holtzmann  seine  Ergebnisse,  in 
seinem  ganzen  Werke  zerstreut,  dargelegt  hat,  machte  eine  Zusammenstellung 
derselben  nothwendig;  das  Folgende  kann  sich  ganz  an  den  (iaug  der  Holtz- 
mannischen  t'ntersuchung  binden.] 


158  I-    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

dreizehnten  oder  wohl  eher  das  Ende  des  zwölften  Jahrhunderts 
als  Entstehuiigszeit  der  Redaction  C  hin,  d.  h.  nach  Holtzmann 
der  ältesten  Gestalt  unseres  Nibelungenliedes.  Aber  diese 
älteste  Gestalt  und  ebenso  manchmal  auch  die  anderen  Hand- 
schriften des  Nibelungenliedes  enthalten  in  Reimen,  Versbau  und 
Sprache  viele  Spuren  von  Alterthümlichem. 

Die  Reime  zeigen  im  allgemeinen  die  Strenge  der  Zeit 
um  das  Ende  des  zwölften  Jahrhunderts.  Allein  C  besonders, 
mitunter  auch  die  vulgata  oder  diese  allein  gegenüber  von  C, 
haben  noch  Spuren  der  freieren,  bis  auf  Heinrich  von  Yeldecke 
gestatteten  Reime."*)  Diese  freieren  Reime  beweisen  entweder 
eine  frühere  Abfassung  des  Liedes  oder  aber,  dass  dasselbe 
Umarbeitung  eines  älteren  Liedes  ist.  Das  Letztere  ist  natür- 
licher, da  bei  der  ersten  Annahme  unbegreiflich  wäre,  warum 
der  alterthümlichen  Reime  nicht  noch  mehrere  sind.  Einer  noch 
viel  älteren  Zeit  als  der  von  Veldecke  gehören  die  klingenden 
Reime  an,  welche  zwei  Hebungen  tragen,  was  im  dreizehnten 
Jahrhundert  nie  der  Fall  ist,  Avohl  aber  bei  Otfrid  ganz  regel- 
mässig; ebenso  die  dreisilbigen  Reime.  Diese  alterthümlichen 
Reime  sind  ungleich  über  das  ganze  Gedicht  vertheilt,  sie  linden 
sich  in  grösseren  Abschnitten  namentlich  des  ersten  Tlieils  gar 
nicht,  in  anderen  namentlich  des  zweiten  sind  sie  ziendich  häufig. 
Wahrscheinlich  ist  demnach,  dass  das  Nibelungenlied  theilweise 
die  Umarbeitung  eines  älteren  Werkes  ist,  theilweise  aber  neu 
Hinzugedichtetes  enthält.  Jenes  ältere  Werk  muss  aber  beträcht- 
lich älter  sein  und  kann  kaum  noch  in  das  zwölfte  Jahrhundert 
fallen,  da  es  in  den  Reimen  dem  neunten  viel  näher  steht  als 
dem  dreizehnten.") 

Die  Binnenreime  beweisen  diss  ebenfalls,  da  viele  derselben, 
die  zugleich  nicht  zufällig  sein  können,  sehr  frei  und  alterthüm- 


lU)  Str.  717,  1.  2  di'tjcii  :  leben,  B  nicht;  421,  5.  G  heivam  :  gesivoni; 
2086,  '6.  4  gesivoru  :  car/i,  beides  fehlt  in  B;  42.'3,  5.  6  siul  :  küneyin  (fehlt 
B)\  654,  1.  2  Sigciiaint  :  zehant  [B  nicht);  7iio,  1.2  stat  :  muot  (B  nicht); 
1S51,  3.4  7)ian  :  tuon  (B  sun  :  liioii,  Hm.  vermuthct  fjoinan  :  tuon;  (/.  wäre 
ein  sehr  altes  Wort)  u.  a.  m.  [Die  stärksten  dieser  Fälle  beruhen  auf 
Schreibfehlern  und  sind  von  allen  Editoren,  so  auch  von  Holtzmann  in 
seinen  Ausgaben,  beseitigt  worden.] 

11)  Für  die  Ansicht,  dass  das  Nibelungenlied  in  seiner  jetzigen  Gestalt 
eine  Umarbeitung  sei.  sprechen  auch  die  Klage  uud  der  Biterolf,  in  welchen 
ähnliche  Reime  sich  finden,  welche  sich  aber  beide  selbst  als  Umarbeitungen 
älterer  Werke  bezeichnen. 


3.    Die  historischen  Verbältnisse  u.  Vorläufer  des  Nibelungenliedes.    l'jQ 

lieh  sind.'^)  Auch  das  Reimen  tonloser  oder  tieitoniger  t5ilbcn 
ist  eigenthümlieli  und  spriclit  für  höheres  Alter.'^) 

Wie  hl  den  zuletzt  genannten  Keimen  hauptsäclilich  die 
Hebungsfähigkeit  von  Silben,  die  im  dreizehnten  Jahrhundert 
tonlos  waren,  es  ist,  was  den  Beweis  für  höheres  Alter  derselben 
abgibt,  so  führt  überhaupt  aueh  die  Betrachtung  des  Versbaus 
auf  dasselbe  Ergebnis.  Denn  auch  ausserhalb  des  Reims  finden 
sich  sehr  häufig  Fälle,  wo  Silben  l)etont  sind,  die  das  spätere 
Mhd.  tonlos  sein  lässt.  Damit  hängt  die  NichtausfüUung  der 
Senkungen  zusammen,  durch  welche  viermal  gehobene  Zeilen 
von  nur  vier  Silben  entstehen.  Solche  sind  in  der  höfischen 
Poesie  nur  dann  erlaubt,  wenn  jeder  der  vier  Silben  von  Natur 
der  Hochton  oder  doch  Tiefton  zukommt'');  aber  im  zwölften 
Jahrhundert  finden  sich  nicht  selten,  in  der  älteren  Poesie  ganz 
unbedenklich  viersilbige  Verse '^),  in  denen  nicht  jeder  Silbe 
grammatischer  Ton  zukommt.  Solche  Verse  finden  sich  zuweilen 
noch  in  den  Nibelungen,  ebenso  hintere  lialbzeilen  von  drei 
Silben.'«) 

Die  hinteren  Halbzeilen  sind  für  die  Altersbestimmung  des 
Nibelungenlieds  von  Werth,  sofern  in  ihnen,  besonders  nach  den 
Lesarten  von  C,  nicht  selten  scheinbar  klingende  Reime  vor- 
kommen. Es  finden  sich  nun  mehrere  Fälle  von  derartigen  Halb- 
zeilen, in  welchen  die  Halbzeile  nothwendig  vier  Hebungen 
haben  muss"),  und  daraus  folgt,  dass  die  Halbzeilen  mit  klingendem 

\i)  [Die  unvollständige  Aufzählung  Holtzmanus  hat  Bartsch  (Unters. 
54 — 59)  vervoUstäudigt  und  im  Einzelnen  verbessert]. 

13)  Z.  B.  vie'nden  :  wunden;  vie'/tdai  :  hünde;  eilenden  :  Gotelinde; 
wunder  :  helfende  u.  a.  Holtzmann  vermutliet  hier  in  einigen  Fällen  ältere 
Formen.  ■ 

141  Holtzmann  führt  an:  ErecS2l5  stvdrz,  wk,  tveUtn;  Iw.  915  min  her 
Gäwein. 

15)^otker:  fitodermäze;  shi  bald  ellin  [im  Liede  vom  Eber];  Ludwigs- 
lied: thiot  fiancönö ;  sum  scähäre ;  sum  folluscs\  sang  lioth  fruiid ;  Muspilli: 
eifjan  wirdit;  pu  kiwinnit;  harto  wlse ;  Hildebrandslied:  wnon  molin;  pritt 
in  bare  !  harn  unwahsan. 

16)  Vordere  Halbzeilen:  G54,  2  husten  A'rietnhild ;  69'^,  3  Slvrit  (der)  min 
sun:  hintere  Halbzeilen:  732,  2  C  Prünhilt  nie;  2U7(),  3  C  der  wip  iint 
man,  u.  a.  m.  [S.  aber  gegen  diese  Halbzeilen  ohne  Senkung  Bartsch, 
Unters.  133  f.;  die  Herausgeber  beseitigen  sämmtlich  die  von  Holtzmann  bei- 
gebrachten Fälle.] 

IT)  Str.  13,  1  troümte  Kriemhlld'e,  2  stärc  schien  unt  wilde;  Str.  1S4S'', 
1  zen  herhergen  äzen,  u.  a.  m.  [Soweit  diese  Fälle  sich  nur  in  C  linden 
(wie  z.  B.  1848'",    1),    mögen   wirklich   fehlerhaft  verlängerte  Halbzeilen 


160  I.    Die  Entstellung  des  Nibelungenliedes. 

Keime  stets  vier  Hebungen  lial)en  müssen.'*)  Da  sich  aber  viele 
Fälle  von  solchen  Halbzeilen  finden,  in  denen  nach  den  Lesarten 
der  Handschriften,  welche  eben  mittelhochdeutsche  Sprachtbrmen 
bieten,  nur  drei  Hebungen  gelesen  werden  können''),  so  muss 
man  in  diesen  Fällen  auf  althochdeutsche  Formen  mit  vollerem 
Klange  zurückgehen;  diese  Halbzeilen  also  mindestens  müssen 
gedichtet  sein  zu  einer  Zeit,  da  die  Sprache  noch  auf  dem 
Standpuncte  des  Althochdeutschen  stand.^") 

Die  hinteren  Halbzeilen  mit  vier  Hebungen  beweisen  über- 
haupt ein  höheres  Alter  des  Nibelungenliedes,  wenn  man  die 
Entstehungsgeschichte  des  Nibelungen verses  ))etrachtet.  Derselbe 
ist  nicht,  wie  Lachmann  und  Wackernagel  behaupten,  gegen 
11  SO  als  Nachahmung  des  Alexandiiners  entstanden,  sondern 
nach  J.  Grimms  richtiger  Annahme  aus  dem  alten  epischen  Verse 
ohne  absichtliche  Veränderung  geworden.  Dieser  hat  acht 
Hebungen  mit  der  Cäsur  nach  der  vierten,  und  seine  beiden 
Theiie  waren  in  der  früheren  Zeit  durch  Allitteration  ^  erbunden. 
Ausser  dem  Bande,  das  die  Allitteration  zwischen  den  \  ershälften 
bildete,  wurde  aber  noch  ein  anderes  Mittel  gebraucht,  um  die 
Einheit  des  Verses  nicht  verloren  gehen,  ihn  nicht  in  zwei  Kurz- 
zeilen zerfallen  zu  lassen.  Dieses  Mittel  wurde  überhaui)t  in 
der  epischen  Poesie  aller  Zeiten  angewendet  und  besteht  darin, 
dass  der  zweiten  Hälfte  des  Verses  ein  minder  gewichtiger 
Schluss  gegeben  wird,  als  der  ersten.  Ho  schliesst  die  erste 
Hälfte  des  indischen  Sloka  mit  drei  langen  Silben,  deren  zweite 
die  Senkung  bildet,  die  zweite  mit  einem  Creticus,  so  dass  die 
metrisch-rhythmische  Geltung  dieselbe  ist,  aber  das  Gewicht  der 
Silben    ein   verschiedenes.'-')     Ebenso    finden   sich   in    der    alt- 


vorliegen (s.  Bartsch,  Unters.  160—163);  aber  es  lassen  sich  alle  Fälle  be- 
seitigen, alle  diese  Zeilen  mit  3  Hebungen  lesen,  1)  durch  schwebende  Be- 
tonung, 2)  durch  zweisilbigen  Auftact,  überhaupt  durch  Belastung  der  ersten 
Hebung.] 

18)  [S.  dagegen  Bartsch,  Unters.  163  und  §  13,  not.  60  (Seite  55).] 

19)  Z.  B,  14,  2  nur  bdz  der  yuoten  u.  a. 

20)  Also  wäre  zu  ändern  14,  2  bnz  dero  guötun;  213:f.  1  mit  mhiemo 
sc/illdi'';  22S0,  2  nz  ehie'mo  giideuu\  1362,  2  C  von  mHu'ujaHo  lintdc  u.  a. 
(Dieser  Schluss  fällt  dadurch,  dass  zweite  Halbzeilen  mit  4  Hobungen  nir- 
gends nothwendig  sind,  ja  ihre  Annahme  verfehlt  ist;  s.  not.  17.  IS.] 

21)  [Auch  der  griechische  Hexameter  liesse  sich  anführen,  sofern  dessen 
zweite  Hälfte  ursprünglich  katalektisch  zu  denken  ist: 

1)  —      WW  —      V^Vyl—      N^W  II 

2>---^-^^l-v^Al 


4 


3.   Die  historischen  Verhältnisse  u.  Vorläufer  des  Nibelungenliedes.    IGI 

(leutsehen  allitterierenden  Poesie  nicht  selten  Laiig-zeilcn ,  deren 
Hälften  dadureli  unterseliieden  sind,  dass  die  erste  mit  zwei 
durch  eine  Senliung  getrennten,  die  zweite  mit  zwei  unmittelhnr 
einander  folgenden  Hebungen  scldiesst,  so  dass  beide  zwar  vier 
Hebungen  haben,  die  zweite  aber  schwächer  ausklingt.")  Das 
Nibelungenlied  hat  noch  s  o  1  c  h  c  V e r s  e,  Al)er  allmählich 
verlor  der  Schluss  des  ersten  Halbverses  seine  Senkung;  damit 
nun  der  zweite  noch  immer  von  dem  ersten  verschieden  sei. 
wurde  ihm  die  letzte  Senkung  genommen.  Diss  geschah  schon 
frühe;  in  angelsächsischen  und  altnordischen  Dichtungen  sind 
zweite  Halbverse  von  drei  Hebungen  nicht  selten;  auch  das 
Hildebrandslied  hat  schon  solche.^^)  —  Durch  Noten  lässt  sich 
diese  Entwicklung  etwa  so  darstellen: 

I.  (Sloka):  .     J     /Ol     .:     /    . 

n.  (Althochdeutsch  etc. ;  noch  im  N.  L.) :  J     ^    J     |     J^ 

ni.  (Schon  ahd.,  im  N.  L.  gewöhiilich):     \  '     I       '     *?     i 

Dass  nun  das  Nibelungenlied  noch  Verse  von  der  Form  H 
enthält,  während  die  Form  HI  schon  in  den  ältesten  Denkmälern 
sich  findet,  beweist  genügend  sein  hohes  Alter.'-'^) 

Diese  Entwicklung  ward  gestört  durch  das  Aufkommen  des 
Keims.  Dieser  verlangte  selbstverständlich  metrische  Gleichheit 
des  Schlusses  in  beiden  Kurzzeilen.  Daneben  aber  muss  der 
alte,  ungereimte  Laugvers  fortbestanden  haben;  als  auch  dieser 
gereimt  wurde,  reimte  nicht  Halbzeile  auf  Halbzeile,  sondern 
Langzeile  auf  Langzeile.  Es  ist  daraus  zu  schliessen,  dass  der 
Reim  hier  erst  eindrang,  als  Langzeilen  von  nur  sieben  Hebungen 
schon  die  überwiegende  Mehrzahl  bildeten. 

Auch  die  Sprache  des  Nibelungenliedes  bestätigt  sein 
höheres    Alter.     Im    allgemeinen    ist   dieselbe    die    von    1200; 


22 1  [Ist  diese  Unterscheidung,  die  sich   doch  nicht  immer   findet,   nicht 
eher  Zufall?]     Ein  Beispiel  dafür:   dar   ist   lip   dno  tot,     Höht  ano  finstri 

{==    I    ^    /    l^^l      I      /    A    w    /_/). 

23)  Z.  B.  Häduhi'änt  ghndltd  ■  HUtibrdntes  sunu ;  ddz  er  kötcs  jv/llc'n  j 
ke'rnö  tno. 

24)  [Mit    '  wird  doch  wohl  die  unbetonte  Länge  besser  bezeichnet,  als 

"  \ 

mit  dem  von  Holtzmann  gewählten  Zeichen  ^    ,    das    in    der    Musik    etwas 

V 

anderes  bedeutet.] 

25)  [Dieser  Schluss,  wenn  überhaupt  genügend  sicher,  fällt  weg,  da  das 
N.  L.  stets  3  Hebungen  in  der  zweiten  Halbzeile  hat;  s.  o.  S.  55.] 

Fischer,  Nibelungenlied.  11 


162  I.    Die  Eutstehung  des  Nibeluugeuliedes. 

mehrfach  vorkommende  französische  Ausdrücke  verbieten,  das 
Gedicht  allzuweit  über  12UU  oder  1190  hiuaufzurücken.  Aber 
es  finden  sich  vielfach  Ausdrücke,  Worte  und  Construetionen^ 
die  auf  eine  weit  ältere  Zeit  der  Entstehung  hinw^eisen.  Unter 
den  AV^jrten  ist  besonders  zu  erwähnen  die  alte  Form  des  Zahl- 
worts „neun"  nüvan^^,  da  schon  im  Gothischen  und  Ahd.  das  Wort 
einsilbig  ist.  Dass  niunm  {?u'/re?i)  als  Zahl  gemeint  ist,  beweisen 
andere  Stellen.  Die  Form  niicen  würde  also  ein  sehr  hohes 
Alter  des  Nibelungenlieds  anzeigen.  Aber  7iii('a?i  ist  gewiss  nicht 
das  Zahlwort.  Denn  Blödel  greift,  während  die  Hünen  sonst 
immer  nur  mit  Uebermacht  einen  Angriff  wagen,  die  9000  Knechte 
der  Burgunden  mit  nur  2000  an  und  erschlägt  sie  alle.  Diss 
ist  sehr  auffallend;  ebenso  fällt  sehr  auf,  dass  bei  dem  Zug  in 
das  Huneulaud,  der  doch  kein  Kriegszug  sein  soll,  auf  1000  Kitter 
9000  Knechte  kommen.  Ferner  l)eträgt  im  Sachsenkrieg  (196)  das 
burguudische  Gefolge  nur  1000  Knechte,  über  welchen,  wie  über 
dem  Gesinde  bei  der  Huneniährt,  zwölf  Ritter  stehen.  Wenn 
dort  zwölf  über  tausend  stehen,  so  können  hier  nicht  zwölf  über 
neuntausend  stehen.  Höchst  wahrscheinlich  ist  nun,  dass  der 
Sachsenkrieg  ein  späterer  Zusatz  ist;  sein  Dichter  benutzte  die 
Angaben  des  älteren  Gedichts;  er  lässt  195  den  Volker  die 
Fahne  führen,  was  dieser  1535  thut;  ebenso  wird  er  auch  die 
1000  Knechte  mit  den  zwölf  Rittern  aus  der  Hunenfahrt  entlehnt 
haben.  Wenn  der  Dichter  des  Sachsenkrieges  196,  1  sagt  si 
fuorten  doch  ni/it  mcre  nitran  tüseiit  man,  so  ist  gewiss  dieses 
niivun  tüsenl  „nur  tausend"  genommen  aus  dem  niwan  liiscnl 
1873,  2.  Das  letztere  kann  aber  unmöglich  nisi,  priüter  be- 
deuten, das  verbietet  der  Sinn;  „neun"  kann  es  nach  dem  oben 
Gesagten  auch  nicht  bedeuten.  Es  kann  nichts  anderes  be- 
deuten-') als  „wahrlich"  oder  etwas  Achnliches.  Nun  hat  Ot- 
frid  ein  ähnliches  iiiwdne  in  diesem  Sinne  etwa;  IV  29,  27: 
niträne  deih  dir  (Jidbo  ^  diu  diinichun  spa/i  .si  selho-^  I  23,  64: 
niiväne  deih  dir  yelbo,  druhtiii  ist  iz-  sf///o,  „AVähne  nicht,  dass 
ich  dir  lüge ,  das  Gewand  spann  sie  selbst ",  —  „  der  Herr  ist 
es  selbst."  Wenn  hier  deih  dir  (/e//w  ausgelassen  ward,  so  ist 
niu'une  eine  ganz  passende  Bethcuerung  und  Aufforderung  zum 
Glauben  an  etwas  Wunderbares.    Es  hiesse  also  die  Stelle  1873,  2 


26)  Str.  1S73,  2:  nirvan  tiisent  knehte  die  lägen  tot  erslar/en. 
2")  Nach  einer  Parallelstelle   bei  Dietmar   von  Eist:    min   irnt  du  solt 
dÜi  (jlouheu  aiiderre  /nbe,  ivan  hell  die  soll  du  mldeit. 


3.   Die  historischen  Verhältnisse  u.  Vorläufer  des  Nibelungenliedes,    lö^i 

so:  „Denke  nur!  lO(H)  Knechte  waren  gefallen  und  Dancwart 
stand  allein,"  Dieses  niicäne,  niirun  verstand  der  Dichter  des 
Sacliseukriegs  als  niicun  =  nini ^  der,  welcher  den  lluncn/.ug 
erzählt,  als  niiin  =  „neun".  Diss  beweist  also,  dass  die  Be- 
arbeitung von  1190  nicht  die  erste  war,  die  das  alte  Gedicht 
erfuhr,  sondern  dass  ihr  eine  mit  Interpolation  verbundene  vor- 
hergegangen sein  rauss.  Zugleich  beweist  die  Interjectiou  nitrun 
das  hohe  Alter  der  Vorlage.'^*) 

Unter  den  syntaktischen  Eigenthümlichkeiten  hcl)t  Iloltz- 
inann  hervor  die  Verwendung  des  Adverbs  ird'tUch  mit  dem 
Conjunctiv  als  sclnvache  Negation  und  zwar  nach  einem  nicht 
negativen  Vordersätze.^'^)  Ganz  ähnlich  ist  es,  wenn  statt  wcetl/cft 
das  Verbum  wa'uen  in  einem  Conjunctivsatze  steht,  der  negative 
Bedeutung  haben  soll,  aber  keine  Negation  enthält.  Beide  Fälle 
weisen  wohl  auf  eine  ältere  Formel  hin.  Was  zu  Grunde  liegt, 
dürfte  eine  Zusammensetzung  mit  dem  Worte  irun  ..  iMangel" 
sein;  dazu  gehört  wohl  gothisch  vämei  offt'/.ov,  utinam;  ein 
Wort  mit  der  Bedeutung  von  inultum  ahest  ut  würde  überall 
vortrefflich  passen.      Wun  =  „Mangel"  findet  sich  nur  in   den 

2'^)  [Die  übrigen  Alterthümlichkeiten  in  Wörtern  und  Constructiuiien 
mögen  hier  unerwähnt  bleiben;  Bartsch  hat  dieselben  widerum  angefiihrt, 
nach  ihm  aber  weisen  sie  nicht  weiter  zurück  als  bis  etwa  zur  Mitte  des 
12.  Jahrhunderts.  Allein  dieses  niwänc  würde  viel  weiter  zurückweisen. 
Daher  soll  der  Schluss  Holtzmanns  aus  IS73,  2  hier  besprochen  werden. 
Dass  9000  Knechte  durch  2000  fallen,  die  auch  ganz  wohl  Ritter  sein  können 
(denn  ein  Kitter  darf  im  Epos  wohl  mehr  als  nur  4— ö  Knechte  erschlagen), 
ist  von  keiner  Beweiskraft;  der  Dichter  rechnete  nicht  wie  ein  Stratege. 
Dass  aber  beim  Sachsenkrieg  auf  12  Kitter  lOOO  Knechte  kommen,  bei  der 
Hunenfahrt  auf  12  Ritter  yono  Knechte,  ist  eine  wohlbegründete  Verschieden- 
heit. Zur  Führung  auf  dem  relativ  friedlichen  Marsche  nach  Hunenlaiul 
brauchte  man  weniger  Führer  als  zur  Anführung  der  Gemeinen  im  Sachsen- 
krieg. —  Dass  aber  9  Knechte  auf  einen  Ritter  zu  viel  seien,  ist  subjective 
Anschauung;  s.  übrigens  Hagens  Worte  1411,  3.  4  weit  ir  iuch  bewant ,  so 
so/t  ir  zuo  den  Hinnen  vil  (jewür liehe  varn.  —  Dass  niiven,  wofür 
niwan  einfach  ein  Schreibfehler  ist,  nicht  gar  zu  alt  ist,  beweist  die  Analogie 
von  friunt  und  friment^  welches  letztere  noch  die  Bearbeiter  des  N  L. 
kennen;  auch  von  friunt  behauptet  Holtzmann  fälschlich,  dass  es  nur  eiu- 
silbig  vorkomme  (S.  7o).  —  Dass  der  Sachsenkrieg  in  den  Personen,  die 
dabei  betheiligt  sind,  und  in  ihren  Stellungen  (Volker  als  Fähndrich,  Danc- 
wart als  Vorgesetzter  des  Gesindes)  mit  der  Hunenfahrt  viele  Aehnliclikeit 
hat,  beweist  nicht,  dass  jener  nach  den  Angaben  dieser  verfertigt  sei.] 

29)  Denn  nach  einem  negativen  Vordersatze  ist  rva-llich  c.  conj.  nichts 
Seltenes;  hier  könnte  «•.  fehlen,  der  conj.  aber  ist  durch  den  negativen 
Vordersatz  schon  gegeben;  anders,  wenn  letzterer  positiv  ist. 

11* 


1(34  I.    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

ältesten  deutschen  Denkmälern;  ei  ==  iit  in  väin-ei,  adh.  ?, 
findet  sich  nur  noch  sehr  frühe;  natürlich  also  war,  dass  ein 
aus  beiden  compouiertes  imn-i ,  irc/i-t,  van  ist  i  o.  ä.  sich  in 
späterer  Zeit  an  ein  ähnlich  klingendes  Wort  \Wc  wanien  oder 
irirtlich  anlehnte.^") 

Der  aus  dem  Bisherigen  gezogene  Schluss,  dass  in  dem  um 
1190  verfassten  Nilieluugeuliede  ein  "Werk  von  beträchtlich 
höherem  Alter  benützt,  vielleicht  nur  übersetzt  ist,  so  jedoch, 
dass  eine  Stelle  auf  Interpolation  hinweist,  wird  zunächst  be- 
stätigt durch  einige  äussere  Zeugnisse. 

Dass  das  Gedicht  in  der  Gestalt,  wie  es  C  bietet,  um  1200 
schon    bekannt    war,    beweist    die   |§  13,  not.    123   angeführte) 
Stelle  des  Parcival  über  den  Koch  Rumolt^'),   und  eine  andere 
(121)  desselben  Gedichtes,  Avelche  auf  die  erste  folgt: 
ir  sprecht,  ir  tfft  als  riet  ein  koch 
den  kiteiicn   Xihc/a/if/cn, 
die  sich  unbeticunijen 
iizhuoben,  da  man  an  in  räch, 
daz-  Sivride  du  vor  (jeschach. 
Denn  der  Ausdruck  „rf/>  kiienen  Xibelunge'^  ist  im  Nibelungen- 
liede nicht  selten,  sich  üzheben  aber  ist  ein  um  1200  ungeläufiger 
Ausdruck j   der,   dem  ganzen  Zusammenhange  nach,  gewiss  aus 
Kib.  1462,  1  stammt,  wo  die  Worte  lauten:  die  snellen  Ihirtfonden 
sich  üzhuoben.     Da  nun  Wollram  nur  auf  ein  seinen  Zeitgenossen 
leicht  verständliches  Gedicht  anspielen  konnte,   so   werden   die 
beiden  Stellen  nicht  aus  dem  älteren  Gedicht,  sondern  aus  seiner 
in  C  vorliegenden  Umarbeitung  stammen,  die  also  vor  1205  vor- 
handen war.     Auch  Parc.  206,  29:  der  kezzel  ist  uns  widert  an, 
kann  aus  dem  Nibelungenliede  stammen,  wo  Str.  720, 1 — 3  lauten: 
Rihnolt  der  kuchcnineistcr  wil  traf  berihte  s/t 
die  sinen  nndertänen ^  vil  maneiien  kezzel  wit, 
hävene  iinde  pfannen.     Ilei  icaz-  ?nan  der  da  rant!^^) 

30)  [Dieser  Schluss,  kühn  wie  er  ist,  ist  nicht  uöthig.  Das  Auffallende 
au  jenem  ?va'(/ich  oder  ?va'n  (ich)  ist  nur,  dass  die  Negation  im  Vordersatze 
fehlt;  ähnliche  Analogiebildungen,  bei  denen  logisch  genommen  die  Haupt- 
sache fehlt,  sind  nicht  selten.] 

31)  [Als  Iloltzmann  seine  Untersuchungen  schrieb,  kannte  er  a  noch 
nicht,  also  auch  nicht  die  Str.  1408'';  er  schloss  aber  auf  das  Vorhanden- 
sein einer  ähnlichen  Strophe  in  C  aus  dem  Zusammenhang  und  aus  der  Par- 
civalstelle.] 

32)  [Die  Herausgeber  ziehen  vil  manegeii  etc.,  zu  hei  tvaz  man  etc., 
machen  also  die  Beziehung  Holtzmanns  unmöglich]. 


3.   Die  historischen  Verhältnisse  u.  Vorläufer  des  Nihehmgenliedes.    165 

Aber  aiii"  die  ältere  Form   des  Gedichtes  allein  lässt  sich  be- 
ziehen eine  Stelle  des  Metcllus  von  Tegcrnsee  (um  1100): 
—  —  —  quos  uricnlis  habet  i'i'tjio, 

fluni  ine  nobilis  Erlaßu, 

r  arm  ine   Teilt  an  ibiis  celebri 

inelilu  Roijerri  eomiti.s 

robore  seil  Tetrici  veteris. 
Rogeriiis  mid  Tetricus  sind  offenbar  Rüdiger  und  Dietrich;  der 
Fluss  Erlafia  mündet  bei  Bechclaren.  Der  gelehrte  ]\Iönch  be- 
zieht sich  gewiss  nicht  aufVolkslieder,  sondern  earmen  Tentoni- 
bits  eelebre  kann  nur  ein  schriftliches  deutsches  Gedicht  heissen; 
dieses  aber  war  wohl  kein  anderes  als  die  ältere  Gestalt  des 
Nibelungenliedes.^^) 

Ein  weiteres  Zeugnis  für  diese  ist  eine  Erzählung  von  Saxa 
Grammaticus.  Er  erzählt,  wie  (etwa  um  1131)  ein  sächsischer 
Sänger  den  Herzog  Knut  Lavard  von  Schleswig  durch  Recitation 
von  Versen  über  Kriemhilds  Verrath  umsonst  vor  den  Xach- 
stelliuigen  des  Dänen  Magnus  zu  warnen  gesucht  habe:'  spe- 
eiosissimi  earniinis  contej-tii  nolissimam  (jrimiUUe  enfu  fratres 
perßdiani  de  inihistria  adursus  funwsie  fruudis  exemplo  sintiliiuit 
ei  metum  ingenerare  sludebut.  Jedenfalls  also  hatte  um  1130 
die  Sage  schon  die  Gestalt,  die  sie  im  Nibelungenliede  liat;^') 
die  Nachricht  würde  also  ganz  wohl  auf  die  ältere  Grundlage 
desselben  passen.  Es  ist  die  Annahme,  dass  das  von  dem  Säuger 
Vorgetragene  nur  ein  kurzes  Volkslied  gewesen  sein  könne, 
ganz  falsch.  Denn  Knut  war  Saxoniei  et  ritiis  et  noniinis 
(wumtissiniiis;  Kriemhilds  Rache  ^vird  als  notissina  pei\fidia, 
faniosu  frans  bezeichnet,  somit  war  die  Geschichte  wohl  dem 
Knut  bekannt,  es  konnte  also  das  Vortragen  einiger  Strophen 
genügen.  Carmen  speciosissimuni  kann  nicht  ein  Volkslied, 
sondern  nur  ein  grösseres,  schriftlich  vorhandenes  und  verbreitetes 
Werk  sein;  auch  ist  der  Sänger  bei  Saxo  kein  n/slictis,  sondern 
ein  arte  cantor.  Wahrscheinlich  ist  also,  dass  die  Verse,  die 
derselbe  1131  sang,  aus  dem  älteren  Gedichte  genommen  waren, 
das  unserem  Nibelungenliede  zu  Grunde  liegt.  Somit  ist  dieses 
schon   am   Anfange    des   zwölften   Jahrhunderts    durch   äussere 


33)  Denn  die  Vorlage  des  Biterolf  erwähnt  Bechelären  nie  mit  besonderer 
Vorliebe,  war  auch  schwerlich  je  besonders  verbreitet. 

34)  [Die  Stelle   ist   schon   oben   bei   Besprechung   der   Sage   angeführt 
worden;  s.  S.  106  {§  2S,  not.  7).] 


166  I.    I>ie  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

Zeugnisse  naeliweislieli ,  muss  aber  nach  inneren  Kennzeichen 
noch  beträchtlich  älter  gewesen  sein. 

Ein  weiteres  Zeugnis  für  die  ältere  Gestalt  des  Nibelungen- 
lieds ist  die  Klage,  sofern  sich  dieselbe  ausdrücklich  auf  ein 
deutsches^')  Buch  beruft,  in  welchem  ihr  und  des  Nibelungen- 
lieds Inhalt  enthalten  gewesen.  Dieses  Buch  kann  natürlich 
nicht  das  deutsche  Nibelungenlied  sein,  weil  dieses  etwa  gleich 
alt  mit  der  Klage  ist  und  von  deren  Inlmlt  nichts  enthält.  Wohl 
aber  kann  es  sich  fragen,  ob  nicht  die  ältere  Grundlage  des 
Nibelungenliedes  damit  gemeint  sei.  Die  Gegner  dieser  Ansicht, 
Lachmann,  AV.  Grimm  und  E.  Sommer,  führen  dagegen  an,  dass 
nicht  nur  im  Einzelnen  verschiedene  Aliweichungen  zwischen 
Klage  und  Nibelungenlied  stattfinden,  sondern  dass  auch  die 
ganze  Grundansicht  von  der  Sage  in  beiden  eine  verschiedene 
sei.  Allein  die  Widersprüche  im  Einzelnen  liisen  sich  von  selbst 
auf  oder  sind  nicht  der  Rede  werth;  die  Gesammtanschauung 
hingegen  ist  dieselbe,  zumal  wenn  man  den  Text  von  C  zur 
Vergleichung  benutzt.  Die  Rache  Kriemhilds  tritt  in  beiden 
Gedichten  hervor;  der  Hort  ist  auch  in  der  Klage  keineswegs 
das  über  alle  seine  Besitzer  Fluch  bringende  Gold,  sondern  er 
verursacht  das  Verderben  der  Nibelungen  nur  insofern,  als  sie 
durch  seinen  Raub  Kriemhilds  Rachegier  noch  gesteigert  haljcn. 
Auch  Kriendiilds  Treue  als  Motiv  der  Rache  ist  dem  Nibelungen- 
liede nicht  fremd  und  tritt  besonders  in  C  deutlich  hervor.  Dass 
sie  nur  Hagen  morden  wollte,  ist  in  C  besonders  hervorgehoI)en, 
fehlt  aber  auch  in  der  vulgata  nicht.  Auch  in  untergeordneten 
Dingen  stimmen  beide  Gedichte  überein.  Sind  nun  die  ver- 
meintlichen Widersprüche  nicht  vorhanden,  so  findet  sich  viel- 
mehr die  auffallendste  Uebereinstimmung  l)is  auf  den  wörtlichen 
Ausdruck  hinaus.  Wenn  die  vulgata  mehrfach  ändert,  so  sind 
diese  Aenderungen,  weil  sie  die  nach  der  Klage  volksmässige 
Auffassung  enthalten  (Kl.  27S — 2S4),  als  aus  dem  Volksgesang 
geflossen  zu  betrachten,  was  die  gleichfalls  aus  diesem  geschöj)fte 
Thidrekssaga  bestätigt.  —  Es  ist  somit  erwiesen,  dass  die  Quelle 
der  Sage  und  des  Nibelungenlieds  dasselbe  Gedicht  ist.  Die 
Einzel  vergleichung  der  beiden  jüngeren  Gedichte  gestattet  zu- 
gleich Schlüsse  auf  den  Inhalt  der  gemeinsamen  Vorlage. 

Wichtig  ist  nun,   was   dieselbe  Klage   über  Piligrim  von 

35)  [Diss  ist  eben  der  Streitpunct,  ob  das  (deutsche)  Buch,  aus  dem  die 
Klage  geschöpft,  mit  Konrads  Aufzeichnung  der  Sage  (s.  u.)  identisch  ist.], 


3.    Die  historisclion  Vorluiltnisse  u.  Vorläufer  des  Nibelungenliedes.    167 

Passau  und  seinen  Selireiber  Konrad  zu  berichten  weiss: 
Piligrim,  welchen  ja  Nibehmgen  und  Klage  zum  Oheim  der 
Burgundenfürsten  machen,  habe  sieh  durch  den  n'dpltrrc  8wem- 
melin,  der  ilim  die  Trauerkundc  l)rachte,  die  ganze  Geschichte 
erzählen  lassen;  dazu  habe  er  von  Jedermann,  der  etwas  über 
die  Sache  zu  erzählen  gewust,  Erkundigungen  eingezogen,    und 

hiez  ~  ■  schriben  ditzc  mrvi'e, 

ii'ie  ez  erymujon  wcpre, 

in  Uttlnischpii  hiichstaben. 


daz  iiKvre  briofen  [priicfen   CJh)  dö  began 

sm  schrlbwi'f  meister  Kiionräi. 

(jetihtei  man  ez  sil  hat 

dicke  in  thischor  zunyen. 

daz  dir  alten  mit  den  junfjen 

erkennent  lenl  daz  mtere. 
Dazu  kommen  noch  einige  andere  Stellen,  wo  von  dem  alten 
Gedichte  die  Rede  ist,  besonders  Kl.  10  ff.  ditze  alte  inwre  bat 
ein  tihtwre  an  ein  bnoch  scJuvben.  desn  kund  ez  niht  beliben,  ez 
i'nsi  ovch  noch  davon  bekant  etc. ;  C  weicht  hier  neben  Anderem 
darin  ab,  dass  sie  (nebst  TJa)  nach  tihtau^e  das  Wort  vilen^ 
nach  schriben  das  Wort  laüne  hat.  Das  letztere  ist  offenbar 
nur  eine  Randglosse  des  Abschreibers,  die  Stelle  weist  also 
keineswegs  auf  lateinische  Abfassung  hin.  [Auch  darin  sind 
CJJa  und  ^LB  vel'schieden,  dass  statt  des  tihtwre,  der  nach  AB 
das  Märe  zu  schreiben  aufträgt,  in  CDa  ein  schrtbcere  dasselbe 
schreibt:  sollte  nicht  der  sch/^iba're  in  CDa  am  Ende  aus  dem 
Schreiber  Konrad  erst  entstanden  sein?]  Ebenso  wenig  bedeuten 
die  Worte  mit  latinischen  bvochstaben  so  viel  als  „in  lateinischer 
Sprache",  sondern  sie  bedeuten  nur,  dass  das  Werk  mit  der- 
selben Schrift  geschrieben  wurde,  mit  der  lateinische  Texte 
geschrieben  zu  Averden  pflegten.  Es  kann  somit  die  Nachricht 
über  Piligrim  und  Konrad  unbedenklich  auf  das  alte  Gedieht, 
das  dem  Nibelungenlied  und  der  Klage  zu  Grunde  liegt,  be- 
zogen werden. 

Dass  die  Klage  diese  Nachricht,  wie  überhaupt  die  Person 
Piligrims,  durch  einen  argen  Anachronismus  mit  dem  Burgunden- 
Untergange  von  437  in  Verbindung  bringt,  beweist  nicht  gegen 
diese  Annahme.  Lachmann,  glaubt,  dass  Piligrim  erst  <lurch 
einen  Volksdichter  um  1190  in  die  Sage  gekommen  sei.    Allein 


r  * 


168  I.    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

diss  ist  nicht  denkbar.  Der  Volksgesang  konnte  iinmöglicli  den 
Bischof  des  zehnten  Jahrhunderts  mit  der  Sage  in  Verbindung 
bringen;  denn  bald  nach  seinem  Tode  war  diss  nicht  möglich, 
weil  man  sich  seiner  noch  erinnern  muste,  in  späterer  Zeit  aber 
hat  er  gewiss  im  Volksmunde  nicht  gelebt,  denn  selbst  die 
Historiker  nennen  ihn  fast  nie.  Die  gewaltsame  Einmischung 
seiner  Person  kann  nur  von  einem  Manne  herrühren,  der  ihn 
kannte.  Hiezu  stimmt  die  Nachricht  der  Klage  ganz  wohl. 
Wenn  Piligrim  seinen  Schreiber  Konrad  mit  Abfassung  eines 
Gedichts  über  die  Nibelimgensage  beauftragte,  so  hatte  dieser 
alle  Veranlassung,  seinem  Herrn  und  Gönner  in  seinem  Werke 
ein  Denkmal  zu  setzen.  Diss  geschah  nun  aber  nicht  so,  dass 
er  von  dem  historischen  Piligrim  alles  das  ausgesagt  hätte, 
was  dem  Bischof  in  dem  Nibelungenliede  zugeschrieben  ist; 
vielmehr  er  erzählte  alles  das  nur  von  einem  älteren  Piligrim, 
als  dessen  Abbild  dann  der  jüngere  erscheinen  sollte.  Nannte 
sich  nun  der  Verfasser  selbst  am  Anfang  oder  Ende  des  Buchs 
einen  Schreiber  Piligrims  von  Passau,  so  konnte  ein  Späterer, 
wie  der  Dichter  der  Klage,  der  von  dem  historischen  Bischof 
gewiss  nichts  wüste,  sehr  leicht  die  Sache  so  darstellen,  dass 
Konrad  nach  den  Berichten  Swemmelins  die  Sage  aufgezeichnet 
habe.  Auch  kann  Konrad  selbst  diese  Vermischung  beal)sichtigt 
haben,  durch  w^elche  Piligrim,  der  dadurch  als  Zeitgenosse 
Dietrichs  erschien,  noch  altehrwürdiger  werden  muste.  Auf  eine 
andere  Weise  lässt  sich  die  Einmischung  Piligrims  nicht  erklären, 
es  ist  also  aller  Grund  vorhanden,  das  Zeugnis  der  Klage  für 
vollkommen  bewährt  zu  halten. 

Ueber  den  Umfang  und  Inhalt  des  Konradischen  Gedichts 
gibt  uns  die  Metropolis  Salzburgensis  des  Hund  von  Sulzenmoos 
(1582)  Aufschluss,  Avenn  sie  sagt:  (ri/if/rimu.si  autor  fuil  cuiilatn 
sui  sicculi  versißcatori  Gcrmunico^  ut  in  rhi/thinis  tjesta  Avurunim 
et  Ilunoruvi  Austriani  supra  Anasu/n  tu/ic  tejieniium  et  omnent 
vicininm  Inte  (leprwddnlium  ccichrarct,  et  quoinoilu  luv  hnrharii; 
(fentes  ab  Ottoiie  Miujnu  pro/l/fjattr  sint.  Diese  Nachricht,  die 
Hund  aus  einer  Handschrift  dieses  Gedichtes,  die  er  selbst  ge- 
sehen, geschöpft  hat,  ist  an  sich  ganz  glaublich.  Denn  Piligrim 
hatte  vielfache  Berührung  mit  den  Ungarn,  konnte  also  leicht 
auf  den  Gedanken  kommen,  ihre  Geschichte  zu  verfassen.  Da 
aber  Ungarn,  Hünen  und  Avaren  im  ganzen  jMittelalter  als 
identisch  gedacht  wurden,  so  war  nichts  natürlicher,  als  dass  in 
diese    Geschichte    auch    die    schon    längst    sagenhaft    gefärbte 


*% 


3.    Die  historischen  Verhältnisse  u.  Voriüiifcr  des  Nihclungonh'edes.    1  G9 

Attilas  aufgenommen  wurde.  Dass  ein  Buch  existierte,  welches 
beide  verband,  beweist  Simon  Keza,  der  die  Gescliichte  von 
Attihi,  Dctreh,  Cremiid  und  Chaba,  Attilas  ^(dni  (=  Hagen  V) 
in  verworrener  Weise  mit  der  ungarischen  Geschichte  verbindet. 
Das  Buch  Konrads  enthielt  also  den  Inhalt  der  Nibelungen 
(ohne  die  späteren  Zusätze),  den  der  Klage  und  die  ungarische 
Geschichte  bis  zur  Schlacht  auf  dem  Lechfelde.  Hiezu  stimmt 
der  Schluss  des  Nibelungenliedes,  wo  der  Dichter  erklärt, 
schliessen  und  die  folgenden  Ereignisse  nicht  berühren  zu  wollcn.^^) 
Ebenso  zeigt  der  Schluss  der  Klage,  wo  von  Dietrichs  und  der 
Seinigen  weiterer  Geschichte  nicht  die  Rede  ist,  sondern  der 
Dichter  nur  erklärt,  dass  es  über  Etzels  Tod  verschiedene  un- 
sichere Nachrichten  gebe,  deutlich  die  Absicht  des  Dichters, 
dem  es  nur  darum  zu  thun  ist,  die  Geschichte  der  Hünen  selbst 
fortzusetzen.''') 

Von  dem  letzten  Theile  des  Gedichtes  sind  vielleicht  ein 
Ueberrest  die  vier  Zeilen  bei  Lazius: 

(loch  palt  hat  jm  verkitrczt  sein  slarrkes  leben 

(l.svhlacht,  wie  er  war  von  Khut/ser  Flai/nrirh  veririben 

und  mit  savipt  den  Hujifjern  an  Jn  fjelan, 

war  geschUujen  so  ojf't  der  Ilewnisch  man.^^) 
Lazius   kannte    einen   Codex,    der    ausser  dem  Nibelungenliede 
nach  den  Lesarten   der  vulgata  noch  andere   Gedichte  enthielt. 
Vielleicht   war    eines    davon    eine    Umarbeitung    von    Konrads 
zweitem  Theile. 

Zunächst  sind  Heimat  und  Alter  dieses  älteren  Gedichtes 
festzustellen.  Sprache,  Versbau  und  Reime  wiesen  auf  eine  dem 
neunten  Jahrhundert  mehr  als  dem  zwölften  oder  dreizehnten 
nahe  stehende  Zeit  hin.  Dazu  passt  die  Entstehung  zwischen 
97U  und  990. 

Der  Verfasser  lebte  sicher  an  der  Donau,  in  Passau  oder 
abwärts;  denn  viel  vertrauter  als  mit  der  Gegend  von  Worms, 
die  er  allerdings  auch  ziemlich  gut  kennt,  ist  er  mit  den  Donau- 
gegenden von  Baiern   bis  Ofen.    Auffallend  nun  ist,    dass  das 

36)  [Im  Gegentheil!  Die  Worte  2316,  1:  ihm'  /can  in  (iuch)  niht  hc- 
scheiden  wnz  sider  da  geschach  können  nur  heissen  „Ich  weiss  nicht"'  etc.; 
denselben  Sinn  muss  also  auch  2316,  5  C  haben:  iline  sage  iu  nu  niht 
mere  etc.] 

37)  [Warum  erzählt  er  dann  die  Burgunden-  und  Siegfriedssage  so  genau, 
"wie  Holtzmann  meint?] 

3S)  Lachniaun,  Ausg   VIII. 


170  I     I>ie  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

Nibelungenlied  nur  Orte  nennt,  die  zu  Piligriras  Sprengel  ge- 
hörten und  schon  zu  Piligrims  Zeit  bekannt  waren.  Nur  Wien 
konnte  um  990  noch  nicht  als  eine  reiche  Handelsstadt  genannt 
werden;  aber  seine  Nennung  im  Liede  ist  entschieden  unecht 
und  stört  den  Fortgang  der  Handlung/^)  sie  liindert  also  nicht, 
das  alte  Gedicht  in  das  zehnte  Jahrhundert  zu  setzen. 

In  das  neunte  Jahrhundert  weisen  dagegen  alle  andern, 
wirklich  echten  geographischen  u.  a.  Angaben  des  Nibelungenlieds. 
Das  Land  von  Passau  bis  zur  Enns  ist  noch  nicht  österreichisch, 
sondern  bairisch ;  erst  1 1 56  wurde  dasselbe  an  Oesterreich  förm- 
lich abgetreten.  Erst  unterhalb  Melk  beginnt  Osterland,  eine 
hunische  Mark,  wozu  ein  Dichter  um  1200  dasselbe  unmöglich 
machen  konnte.  Aber  zu  Konrads  Zeit  reichte  die  ungarische 
Herrschaft  bis  an  die  Enns.  Melk  ist  im  Nibelungenlied  eine 
Burg,  was  es  seit  9S4  nicht  mehr  war,  in  Avelchem  Jahre  es 
erobert  und  bald  darauf  in  ein  Kloster  verwandelt  ward;  Kon- 
rads Werk  fällt  also  noch  vor  984.'"}  Auch  historische  Bezüge 
des  Nibelungenliedes  weisen  in  das  zehnte  Jahrhundert.  Die 
Petschenegen  {die  in'lden  Pescmwre  N.  L.  12S0,  2)  bildeten  im 
zehnten  Jahrhundert  die  ungarische  Grenzwache  gegen  Deutsch- 
land. Sie  verschwinden  im  elften;  im  zwölften  war  wohl  ihr 
Name  verschollen'');  das  Nibelungenlied  aber  schildert  sie 
offenbar  nach  Autopsie  des  Dichters.  —  Der  Markgraf  Gere  ist 


:i'.i)  [Doch  kaum  richtig  Dass  in  der  ersten  Stelle,  wo  Wien  erwähnt 
ist,  Rüdiger  sowohl  in  Wien  als  in  Bechelaren  Eeisegewand  bekommt,  spricht 
nicht  gegen  1102  —  1104.  Dass  1094  —  1099  in  ganz  guter  Ordnung  auf  ein- 
ander folgen,  s.  Fischer,  Nib.-Lied  oder  Nib. -Lieder?  S.  loo — 102.  —  Dass 
aber  die  Festlichkeiten  in  Wien  neben  denen  in  Tuln  kein  Pleonasmus  sind, 
beweist  Zarncke  Beitr.  19S  f.,  wonach  Tuln  noch  im  IS.  Jahrhundert  der 
Ort  für  die  festliche  Einholung  der  Braut  eines  österreichischen  Fürsten  war.] 

40)  [Ein  seltsamer  Schluss!  Wenn  zu  Konrads  Lebzeiten  Melk  noch 
eine  ungrische  Burg  war,  wie  ist  dann  der  Schluss  gerechtfertigt,  er  habe 
nach  dessen  Verwandlung  in  ein  Kloster  dasselbe  nicht  mehr  eine  hunische 
Burg  nennen  können,  in  einem  Gedichte,  das  sich  doch  mit  so  ganz  alten 
Dingen  abgibt!  —  Anders  ist  es,  wenn  der  gelehrte  Dichter  des  Biterolf,  der 
Konrads  Werk  nach  Holtzmann  benutzte,  aus  Melk  Mauteru  macht;  denn 
ein  Dichter  um  1150  kannte  Melk  als  Burg  nicht  mehr.  —  Ueber  die  Will- 
kürlichkeit des  Iloltzmannischen  Datums  s.  Dümmler,  Piligrim  etc.  S.  91; 
Zarncke,  Beitr.  is.^  f.]. 

41)  [S.  dagegen  Dümmler,  Piligrim  etc.  S.  191,  und  Müllenhoff,  Nibelungen- 
sage S.  165,  woraus  erhellt,  dass  auch  ein  Dichter  des  12.  und  V-\.  Jahr- 
hunderts noch  ganz  wohl  selbständig  die  Petschenegen  nennen  konnte.] 


'^.    Die  historischen  Verhältnisse  n.VorUiufer  des  Nibelungenliedes.    171 

gewiss  entstanden  aus  dem  historisclieu  Markgrafen  Gero  A'on 
Ostsachsen,  der  sieh  in  Ottos  I.  Slavenkriegen  aus/eicbnete  und 
9()5  starb.  —  Das  Kloster  Lorsch  war  zu  der  Zeit  der  Ottonen 
glänzend,  lirun,  Ottos  des  Grossen  Bruder,  war  Abt  von  Lorsch ; 
das  Kloster  konnte  also  in  Jener  Zeit  besonders  leicht  als  eine 
berühmte  Abtei  genannt  werden.  —  Auch  die  Feindseligkeit  des 
Dichters  des  Nibelungenliedes  gegen  die  Baiern  spricht  für 
Konrads  Autorschaft;  denn  Piligrim  lebte  in  bitterer  Fehde  mit 
dem  Baiernherzog  Heinrich. 

Wenn  demnach  mit  Sicherheit  die  Entstehung  des  Nibelungen- 
liedes in  die  Jahre  071  — 9S4  zu  verlegen  ist,  so  wäre  dadurch 
zugleich  der  unglückliche  Zwiespalt  autgehoben,  welcher  darin 
liegt,  dass  die  Biüthe  der  deutschen  Poesie  nach  der  herkömm- 
lichen Anschauung  stets  in  die  Zeiten  der  politischen  Ohnmacht 
Deutschlands  fällt.^-j  Denn  die  Entstehung  des  grinsten  nationalen 
Epos  fällt  alsdann  zusammen  mit  der  Zeit  des  höchsten  Glanzes 
des  deutschen  Reichs  unter  den  Ottonen  und  bis  zur  Regierung 
Heinrichs  IV.  hin.'")  Gewiss  stand  in  jener  Zeit  das  Nibelungen- 
lied nicht  allein  da  als  Zeugnis  des  deutschen  Geistes. 

Was  können  wir  aber  ausser  der 'Notiz,  dass  der  Dichter 
des  älteren  Gedichtes  Konrad  hiess  und  Schreiber  bei  Piligrim 
war,  über  denselben  noch  erfahren?  Der  eigentliche  Schreiber 
Piligrims,  der  dessen  lateinische  Schriften  und  Urkunden  schriel), 
war  er  wohl  nicht;  er  müste  denn  die  seltene  Enthaltsamkeit 
besessen  haben,  seine  lateinische  Gelehrsamkeit  gar  nicht  durch- 
bhcken  zu  lassen.  Auch  hätte  er,  wäre  er  lateinisch  gebildet 
gewesen,  nicht  sagen  können,  dass  er  über  Attilas  Tod  nichts 
wisse;  denn  Jordanes  und  Marcellinus  enthalten  die  Nachrichten 
über  Attilas  Tod.  Die  historischen  Namen  Helclie  (=  KQä/.a) 
und  Blödel  (=  Bleda)  können  nur  (iudirect)  aus  Priscus 
stammen,  da  sie  vor  Konrad  nicht  erscheinen,  vielmehr  Attilas 
Gemahlin  noch  im  Waltharius  mit  sagenhaftem  Namen  Ospirin 
heisst;^^)  nicht  als  ob  etwa  Konrad  selbst  den  Priscus  gelesen 
hätte,  sondern  die  Nachrichten,  die  Piligrim  von  allen  Seiten 
einzog,^^)  mochten  auch  zum  Theil  von  Griechen  am  ungarischen 
Hofe  stammen.^^) 


42)  [Vgl.  M.  Thausing,  die  Nibelungen  in  der  Geschichte  etc.,  S.  437  fF. 

43)  [S.  dagegen  Müllenhoff.  Nib.-Sage  170—172.] 

44)  S.  Klage  1734  f. 

Ah)  Vgl.  dazu  die  Kriechen  in  Etzels  Heer,  N.  L.  1279  und  Klage  ISO. 


172  I-    Dit  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

Es  fragt  sich  nun,  ob  Konrad  vielleicht  mit  einem  uns  sonst 
woher  bekannten  Namen  sich  identificieren  lässt. 

Ein  Konrad,  der  mit  Altmaim,  Ezzo  und  Günther  von  Bam- 
berg eine  Pilgerfahrt  unternahm,  stellt  in  Berührung  mit  deutscher 
Dichtung;  er  wurde  si)äter  Prälat  von  Göttweih,  also  gerade  in 
der  im  Nibelungenliede  besonders  hervortretenden  Gegend.  Aber 
er  fällt  in  eine  viel  zu  späte  Zeit;  jene  Pilgerfahrt  fand  im  Jahr 
IU65  statt.  Keineswegs  unmöglich  ist  aber,  dass  Konrad  mit 
dem  Küren  berger  identisch  wäre.  Der  Versbau  und  die 
Reime  desselben  sind  ganz  dieselben,  wie  im  Nibelungenliede. 
Lachniann  hat  entschieden  Unrecht,  wenn  er  den  Kürenberger 
nicht  vor  1170  setzen  will;  denn  trotzdem,  dass  die  Handschrift, 
welche  seine  fünfzehn  Strophen  enthält,  aus  dem  vierzehnten 
Jahrhundert  stammt,  so  sind  doch  AlterthümUchkciten  darin 
stehen  geblieben,  welche  sich  nur  mit  Stellen  des  Hildebrandsliedes 
und  der  Psalmen-Uebersetzung  Notkers  vergleichen  lassen.''") 
Dass  der  Kürenberger  im  Breisgau  zu  Hause  sein  müsse,  ist 
eine  Behauptung,  die  durch  nichts  zu  erweisen  ist.  Denn  es 
findet  sich  ein  Kürenberg  bei  Linz  mehrfacli  erwähnt.  Es  er- 
scheint ein  Mdf/cnes  de  (Jhiwejiberij  als  minislerialis  Fataviensis 
erwähnt;  auch  war  der  Name  Konrad  in  der  Familie  gebräuch- 
lich. —  Die  Vermuthung,  dass  Konrad  mit  dem  Kürenberger 
identisch  sei,  ist  demnach  nicht  unmöglich,  doch  unsicher.  Leicht 
möglich  ist  auch,  dass  Konrad  in  der  mit  besonderer  Liebe 
hervorgehobenen  Gestalt  Volkers  von  Alzey,  die  der  Sage  nicht 
angehört,  sich  selbst  schildern  wollte.  Auch  auf  den  Küren- 
berger passt  die  Schilderung  des  lebensfrohen,  jungen  Spiel- 
manns recht  wohl. 

Das  alte  Gedicht  erscheint  im  Nibelungenlied  schon  mit 
Zusätzen  versehen,  wie  der  Sachsenkrieg  beweist.  Um  diese 
auszuscheiden,  gibt  es  zwei  Kennzeichen:  was  in  der  Klage 
fehlt,  ist  verdächtig;  wenn  es  zugleich  in  Reim,  Versbau  und 
Sprache  nichts  Alterthümliches  hat,  ist  es  sicher- unecht.  Einiger- 
maassen  kann  zur  Ausscheidung  auch  der  Biterolf  dienlich  sein, 
der  zwischen    1100    und    1150   verfasst    sein   mag''),   um    1200 

46)  Ich  sluont  mir  lässt  sich  nur  mit  ik  ini  wH  und  du  bist  dir  im 
Hildebiandsliede,  ml  var  du  sam  mir  nur  mit  einer  Stelle  einer  dem  11.  Jahr- 
hundert angehörigen  Abschrift  von  Notkers  Psalmen  vergleichen. 

4")  Nicht  vor  ilOU;  denn  es  kommt  ein  förmliches  Turnier  darin  vor, 
dci'glcichen  vor  1100  unbekannt  waren;  nicht  nach  1150,  denn  es  finden  sich 
altei'thümliche  Reime  und  Ausdrücke. 


3.   I>ie  historischen  Verhältnisse  u.  Vorläufer  des  Nibelungenliedes.    173 

aber  seine  jetzige  Gestalt  erhielt.  Unter  den  Quellen  des 
Biterolf  befand  sich  gewiss  auch  Konrads  AYerk,  da  derselbe 
auttallende  Uebereinstinnnungen  mit  Nibelungen  und  Klage 
zeigt/*)  Sein  Verfasser  kannte  den  Sachsenkrieg  schon,  denn 
er  erwähnt  Liudeger  und  Liudegast  und  gibt  dem  Siegfried  das 
Zeichen  der  Krone  (wie  Nib.  214).  Vielleicht  war  er  selbst 
derjenige,  der  den  Sachsenkrieg  zudichtete.'''') 

Der  Eingang  und  Kriendiilds  Traum  gehörten  gewiss  Konrads 
G^edichte  an;  die  Klage  enthält  Beziehungen  darauf,  auch  finden 
sich  Alterthümlichkeiten  in  Reim  und  Versbau.  Aber  die  Jugend- 
geschichte Siegfrieds  ist  zugesetzt;  sie  zeigt  spätere  Ilittersitte 
und  enthält  französische  Ausdrücke. 

Siegfrieds  Empfang  in  Worms,  Str.  75— SS,  ist  im  Biterolf 
nachgeahmt,  also  echt. 

Ebenso  bezeugt  derselbe  Hagens  Erzählung  von  der  Er- 
werbung des  Schatzes  durch  Siegfried,  Str.  SS — 100,  als  ur- 
sprünglich. 

Das  Folgende  ist  aber  stark  interpoliert.  Der  Sachsenkrieg 
ist  nach  dem  oben  Gesagten  unecht,  ebenso  dann  natürlich  die 
Siegesbotschaft,  deren  Erzählung,  sowie  die  des  Festes,  höfisch- 
sentimental gehalten  ist.  Dann  aber  muss  in  Konrads  Gedicht 
das  erste  Auftreten  Kriemhilds  vor  Siegfried  anders  motiviert 
gewesen  sein.  Es  w\ir  otfenbar  mit  Siegfrieds  erster  Ankunft 
in  Worms  in  Verbindung  gesetzt.  Diss  wird  auch  bewiesen 
durch  das  wunderliche  Durcheinander  in  Siegfrieds  Benehmen 
in  Str.  103 — 126^®),  und  durch  andere  Unebenheiten,  wie  die, 
dass  Giselhers  Aufforderung  an  Siegfried,  da  zu  bleiben,  weil 
man  ihm  die  Frauen  des  Landes  zeigen  wolle  (320),  keinen 
Sinn  mehr  hat,  wenn  Siegfried  die  Kriemhild  schon  gesehen, 
ja  zwölf  Tage  lang  ihren  Umgang  genossen  hat.  Es  folgte 
demnach  in  Kourads  Gedichte  auf  einander  der  Inhalt  von 
Str.  22;  72—100;  103—122,  3;  2SS;  125-126;  320;  2S0— 2S4 
(2S7);  291;  321. 

Ferner  ist  als  unecht  anzusehen  der  nächtliche  Kampf  Sieg- 
frieds und  Brünhilds,   welcher  nicht  allein  das  Gefühl  verletzt, 

4S)  Insbesondere  heisst  nur  in  diesen  drei  Gedichten  Günthers  Vater 
Dancrat  [s.  o.  S.  Wi]. 

49)  Vgl.  Bit.  lOlTö  Sahsen:  ty«  swerten  ivol  gcivalisen  mit  Nib.  IKT 
die  Sahsen  —  mit  swerten  wol  gewahsen. 

50)  [S.  dagegen  Fischer  1.  c.  S.  34.  35,  gegen  dessen  Beweisführung 
nicht  leicht  etwas  einzuwenden  seindürfte]. 


174  I.     Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

sondern  zugleich  weder  durch  Biterolf  oder  Klage  bezeugt  noch 
nothwendig,  vielmehr  mit  Str.  763  f.  unvereinbar  ist."')  Allein 
dieser  Zusatz  ist  nicht  von  einem  Späteren  willkürlich  erfunden^ 
vielmehr  stammt  derselbe,  wie  die  Thidrekssaga  beweist,  aus 
dem  Volksgesange.  Weim  der  nächtliche  Kampf  unecht  ist,  so 
sind  in  dem  Zank  der  Königinnen  einige  auf  ihn  bezügliche 
Stellen  zu  ändern. 

Weder  der  Biterolf,  der  doch  Anlass  dazu  hatte,  noch  die 
Klage  erwähnt  Siegfrieds  Drachenkampt  und  Unverwundbarkeit. 
Auch  die  dahin  gehijrigen  Abschnitte  des  Xibelungenlicds  sind 
also  als  unecht  anzusehen.  Str.  S15  muste  Günther  von  Sieg- 
frieds Unverwundijarkeit  reden;  S94  f.  wird  Siegfrieds  Jagd- 
anzug  beschrieben,  aber  921  schiesst  ihn  Hagen  durch  das 
Kreuz,  das  Kriemhild  auf  das  Kriegsgewand  genäht  hatte."*) 
Kriemhild  schliesst  953  nur  daraus,  dass  Siegfrieds  Schild  nicht 
verhauen  ist,  auf  Mord;  erst  l(>5l  fällt  ihr  ein,  dass  sie  selbst 
die  Verrätherin  sei.  Das  alles  beweist  die  Unechtheit  von 
Str.   101;  SIS;  S34,  3— S4S";  1051. 

Von  Siegfrieds  Tode  an  sind  die  Aenderungen  und  Zusätze 
nicht  mehr  bedeutend.  Der  Widerspruch,  in  dem  Str.  1417  und 
1S61  zu  der  Erwähnung  Volkers  und  Dancwarts  im  Sachsen- 
kriege stehen,  hört  auf,  ein  Widerspruch  innerhall)  desselben 
Gedichts  zu  sein,  wenn  der  Sachsenkrieg  späterer  Zusatz  ist. 

Was  die  Form  von  Konrads  Gedicht  betriift,  so  war  das- 
selbe jedenfalls  in  Xibelungenversen  geschrieben;  ob  aber 
strophische  Abtheilung  vorhanden  war,  ist  zweifelhaft,  ja  nicht 
einmal  wahrscheinlich.'^)  Die  Strophe  ist  eine  durchaus  lyrische, 
dem  Epos  fremde  und  schädliche  Form ;  auch  geht  im  Nibelungen- 
liede, besonders  in  dessen  besten  Handschriften,  oft  der  Satz 
über  das  Ende  einer  Strophe  hinaus,  und  häutig  ist  der  letzte 
Vers  einer  Strophe  ein  blosses  Flickwerk,  das  seine  Unursprüng- 
lichkeit  verräth.  Wahrscheinlich  wandte  erst  der  letzte  Dichter 
die  Strophe  an,  denn  auch  im  Sachsenkrieg  findet  sich  das  Hin- 
überlaufen eines  Satzes  und  finden  sich  Flickverse  am  Ende 
von  Strophen. 

Die  Quellen  Konrads  waren  hauptsächlich  mündliche  Mit- 


51)  [S.  dagegen  Fischer  75  f.;  besonders  ebenda  S.  7i;,  Z.  H  —  Hi.] 

52)  [S.  dagegen  Fischer  87  f.] 

53)  Gebrauchte  Konrad  die  Strophe,  so   muss  er  fast  mit  dem  Küren- 
berger  eine  Person  sein;  wenn  nicht,  so  kann  er  es  dennoch  sein. 


3.   Die  hibtorischen  Verhältnisse  u.  Vorläufer  des  Nibelungenliedes.     17;) 

theiluugeir"),  (laiiebeii  nvoIiI  auch  in  einzeliicn  Puiictcu  scliriit- 
liebe  Autzeicliiiungen,  deren  es  aus  dem  Kix'ise  der  Heldensage 
schon  gegen  das  Ende  des  neunten  Jahrhunderts  gab,  welche 
wahrsehemlich  mit  Stücken  aus  der  Sammlung  Karls  des  Grossen, 
identisch  sind. 

Aus  dem  Volksgesang  schöpfte  Konrad  den  grösten  und 
wichtigsten  Theil  seines  Gedichtes.  Er  behielt  den  alten  ejjischen 
Vers  bei;  ohne  Zweifel  führte  er  auch  den  Reim  ein.  Noch 
häutig  haben  seine  Verse  die  alte  AUitteration,  schon  in  den 
Namen  und  in  einzelnen  stehenden  Wortverbindungen,  Aber 
auch  die  regelmässigen  drei  Stäbe  finden  sich  noch  in  manchen 
Versen  des  Xibelungenlieds.^')  Die  Gestalt  der  Sage  im  Volks- 
munde war  wohl  zu  Konrads  Zeiten  dieselbe,  wie  sie  noch  in 
der  Thidrekssaga  aufbewahrt  ist.  Dieselbe  gibt  an  vielen 
Stellen  noch  das  Vollere,  Ursi)rünglichere  dem  Nibelungenliede 
gegenüber.  Aus  mehreren  wörtlich  übereinstimmenden  Stellen 
scheint  zu  erhellen,  dass  ihr  Verfasser  Konrads  Werk  kannte. 
—  In  Manchem  wich  Konrad  von  der  noch  in  der  Thidreks- 
saga erhalteneu,  durch  den  Bearbeiter  der  vulgata  wider  in  das 
Nibelungenlied  eingedrungenen  Volkssage  ab.  So  in  dem  Ab- 
schnitt über  Brünhilds  Bezwingung,  in  der  Auffassung  Kriemhilds, 
die  mit  dem  Erlöschen  der  heidnischen  Aultässung  zu  einem 
Scheusal  herabsinken  muste.^*^)  —  Auch  eine  noch  weiter  gehende 
Umänderung  der  Sage  rührt  von  Konrad  her:  die  Gleichsetzung 
von  Nibelungen  und  Burgunden,  von  Etzel  (Atli)  und  Attila; 
denn  noch  im  Waltharius  sind  Günther  und  Hagen  Franken,  das 
fränkische  Reich  von  dem  burgundischen  wohl  unterschieden. 
Etzel  aber  ist  der  historische  Hunenkönig  nicht  von  Anfang  au 
gewesen;  er  ist  eine  mythische  Figur,  die  erst  später  mit  der 
historischen  Attilas  gleich  gesetzt  wurde;  auch  diss  ist  Kourads 
Werk.") 

Auch  über  die  jüngeren  Dichter,  die  ümarbeiter  von 
Konrads  Werk,  stellt  Holtzmann  Vermuthungen  auf.     Ueber  den 


54)  S.  Klage  1734  f. 

55)  [Vgl.  aucli  Fischer  S.  S  — 12.] 

50)  [Und  herabsank,  zumal  in  der  späteren  vulgären  Auffassung;  s. 
Dressel,  Char.  Kr.  S.  4.] 

57)  [Diese  Ansicht  Holtzmanns  ist  durch  Mülleuhoös  Forschungen,  be- 
sonders durch  die  Nachrichten  über  Attilas  Tod,  die  so  eng  mit  der  Nib.- 
Sage  zusammenhängen,  genügend  .widerlegt.] 


176  I-    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

des  Sachsenkriegs  und  den  des  Bitcrolf  lässt  sich  nichts  Weiteres 
beibringen,  als  dass  sie  vielleicht  identisch  sind;  mehr  über 
den  Dichter  der  Klage,  der  zugleich  Umarbeiter  des  Biterolf 
ist.  AVie  oben  bemerkt,  vermuthet  Holtzmann  als  Verfasser 
Rudolf  von  Hohenems.  Seine  Beweise  sind  folgende.  Die 
Klage  ist  im  Versbau  so  untadelhaft  wie  die  anerkannten  Ge- 
dichte Rudolfs;  im  Reim  ist  sie  minder  streng.  Diss  lässt  sich 
erklären,  wenn  er  die  Klage  längere  Zeit  vor  seinen  anderen 
Gedichten  schrieb,  ehe  er  durch  Gottfrieds  Darstellungsweise 
beeinflusst  war.  Die  Klage  müste  also  vor  dem  Gerhard  ge- 
dichtet sein,  der  vor  1220  fällt.  Dass  er  schon  vor  dem  Gerhard 
Dichtungen  geschrieben  hatte,  sagt  er  selbst: 

ich  hun  daher  in  mitum  tiujen 

leifler  dicke  vil  (jcloijen 

mit  die  Utile  hetroyen 

mit  triKjelichen  nxvren. 
Rudolfs   erhaltene  Werke  sind  alle  geschichtlichen,   ritterlichen 
oder  kirchlichen  Inhalts;  jene  Andeutung  Hesse   sich   wohl  auf 
deutsche  Heldendichtung  beziehen. 

Spricht  somit  nichts  gegen  Rudolf  als  den  Verfasser  der 
Klage,  so  sprechen  mehrere  Uebereinstimmungen''*)  in  selteneren 
Ausdrücken  für  die  Identität  I)eider,  um  so  mehr,  als  im  All- 
gemeinen der  Stil  der  Klage  von  dem  der  späteren  Werke,  der 
ganz  von  Gottfrieds  Diction  beherrscht  ist,  weit  verschieden  ist.''") 


5S)  Besonders  die  beiderseitige  Benützung  des  Freidank  [s.  dagegen  Franz 
Pfeiffer,  ..Ueber  Freidank-,  in  ,.Freie  Forschung"  S.  1G3  -219]. 

59)  [Nur  in  der  Note  mag  hier  W.  Gärtners  Theorie  (1857)  berührt 
werden,  die  keinen  ■wissenschaftlichen  Werth  und  nur  deswegen  Interesse 
hat,  weU  sie  sich  in  ihrem  Hauptpuncte  an  die  Iloltzmanns  anschhesst.  — 
Gärtner  hält,  wie  Holtzmann,  die  Nachricht  Hunds  für  wahr.  Er  fand  in 
Göttweih  in  ganz  späten  Excerptcn  Bruchstücke  eines  erzählenden  Gedichts 
über  die  Ungarnkämpfe  des  lü.  Jahrhunderts.  Diese  hielt  er  für  Stellen 
aus  Konrads  "Werke,  welche  aber  in  einer  Ueberarbeitung  vorlägen.  Er  be- 
hauptete, dass  diese  Fragmente  aus  einer  dem  N.  L.  entsprechenden  Bearbei- 
tung seien,  dass  somit  das  ganze  Gedicht  Konrads  10(30 — 70  von  Konrad  von 
Göttweih  (S.  Holtzmann,  Unters.  13:5  und  s.  o.  S.  172)  bearbeitet  worden  sei. 
Die  Göttweiher  Fragmeute,  die  Evangelien,  Hartmann  d.  A.  und  das  N.  L. 
lägen  der  Sprache  nach  so  nahe  bei  einander,  dass  sie  öch  nicht  scheiden 
Hessen.  Auch  die  Kaiserchronik  soll  die  im  10.  Jahrhundert  gedichtete,  im 
11.  überarbeitete,  in  den  Göttw.  Fragm.  zum  Theil  erhaltene  Geschichte  der 
Hünen  benutzt  haben.  —  Für  die  Unwissenschaftlichkeit  des  "Werks  beweist 
unter  Anderem  die  Behauptung,  dass  die  beiden  Rüdiger  historisch  seien. 
dass  die  Mark  912  bis  zur  Leitha  gereicht  habe.  —  S.  Lit.  Ctr.  Bl.  1S5R,  S04ff.) 


3.  Die  historischen  Verhältnisse  ii.  Vorläufer  des  Nibelungenliedes.    177 

45. 

Holtzmamis  Untersuchungeu  haben  auch  in  diesem  Pimcte, 
wie  in  der  Handschriftenfrage,  manehfacheu  Anklang  gefimdcu. 
Zwei  der  wesentlicheren  Puncte  jedoch  waren  es,  welche  von 
Anfang  an  eine  fast  allgemeine  Opposition  erregten:  die  lateinische 
Abfassung  von  Konrads  Gedicht  und  der  grössere  Umfang  des- 
selben von  der  Huneusage  bis  zur  Lechschlacht.  Am  schärfsten 
und  präcisesteu  sind  diese  zwei  Puncte  von  * 

Ernst  Ludwig  Dümmler 

untersucht  worden.') 

Dümmler  glaubt,  dass  das  Gedicht  Konrads  vollständig  er- 
wiesen sei,  weil  es  unmöglich  wäre,  die  Einmischung  Piligrims 
in  die  Sage  sich  anders  zu  denken.^) 

Aber  es  ist  falsch,  das  Gedicht  Konrads  zu  einem  deutschen 
stempeln  zu  wollen,  gegenüber  dem  Wortlaut  der  Klage,  welche 
mit  den  latinischen  buochstaben  und  dem  (jetihtet  man  ez  sit 
lud  (liehe  in  tinscher  zvngen  unverkennbar  einen  Gegensatz 
beabsichtigt.  Metellus  von  Tegerusee  und  Saxo  Grammaticus 
bezeugen  allerdings,  dass  es  schon  am  Anfange  des  zwölften 
Jahrhunderts  deutsche  Lieder  von  den  Nibelungen  gab;  aber 
die  Archaismen  des  Nibelungenlieds  verlangen  keineswegs  eine 
Zurückdatierung  bis  in  das  zehnte  Jahrhundert,  und  die  Nach- 
richten des  Metellus  und  Saxo  lassen  sich  auch  auf  Volkslieder 
oder  auf  die  deutschen  Umdichtuugeu  des  lateinischen  Texts 
beziehen,  aus  denen  die  Klage  geschöpft  hat. 

Ebenso  unhaltbar  wie  die  Annahme  eines  deutscheu  Ge- 
dichts ist  die,  dass  dasselbe  die  Geschichte  der  Ungarn  bis  zur 
Lechschlacht  enthalten  habe.  Die  historischen  Zeugnisse  dafür 
gehen  zunächst  von  dem  Markgrafen  Rüdiger  aus.  Derselbe 
wurde  in  der  Sage  allmählich  aus  einem  mythischen  Wesen  eine 
historische  Persönlichkeit,  ein  wirklicher,  aber  seiner  Lebenszeit 
nach  unbestimmbarer  Markgraf  von  Oesterreich.  Daher  melden 
zwei  Schriftsteller  aus  dem  Ende  des  zwölften  Jahrhunderts, 
Leopold,  der  erste  Babenberger,  sei  der  erste  Markgraf  nach 
Rüdiger  gewesen,   worin   über  Rüdigers  Zeit  noch  nichts   liegt. 


1)  Im  Anhang  zu  ..Piligrim  von  Passau".  1S54;  S.  S5 — 9S. 

2)  [S.  dagegen  Zarucke,  Beitr.  192,  not.  27;  doch  wird  Holtzmann  Recht 
behalten  müssen ;  sehr  wichtig  ist  die  Sache  nicht.] 

Fischer,  NibelungenlieJ.  '- 


178  I.    Bie  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

Erst  Thomas  Ebendorffer  von  Haselbach  (f  1404)  lässt  ihn  928 
sterben  und  macht  Leopold  zu  seinem  direeten  Nachfolger;  ebenso 
Vitus  Arnpeckh.  Von  da  an  behauptete  sich  Rüdiger  in  der 
Geschichte.  Johann  Thurmayr  (Aventin)  nennt  ihn  in  seiner 
zwischen  1512  und  1534  verfassten  bairischen  Chronik  einen 
sehr  streitbaren  und  in  deutschen  Liedern  gefeierten  Markgrafen, 
den  Arnulf  von  Baiern  über  das  Land  unter  der  Enns  wider 
die  Ungarn  gesetzt  habe.  Da  Aventin  als  seine  Quelle  Metellus 
von  Tegernsee  nennt  und  da  Arnpeckh  Rüdiger  unter  Heinrich  I. 
setzt,  so  ist  Aventins  Nachricht  als  Conil)ination  aus  Metellus 
und  Arnpeckh  anzusehen;  es  ist  diss  noch  nicht  die  kühnste 
Combination  bei  Aventin.  Kaspar  Bruschius,  ein  unzuverlässiger 
Schriftsteller,  erwähnt  an  zwei  Stellen  seiner  1553  erschienenen 
Geschichte  Lorchs  und  Passaus  den  Rüdiger.  Einmal  schreibt 
er  Arnpeckh  aus,  das  anderemal  hat  er  folgende  Nachricht: 
Autor  fuit  {Pi/efjrhius)  cuidam  sui  s(ecn/(  re/'sijlcalor/  Germaniro, 
ut  is  rhijthmis  (jesta  Avarorum  et  llunorum  ^  Auslriam  supj'ü- 
A?iasiana?n  tum  teiientium  et  omnem  nciniam  late  deprcedantium 
((fuos  Giijantes,  nostrate  l/'nffua  Reckhen  et  Riesen, 
I'  0  car  i  fecit)  celebraret,  et  quumodo  lue  hurbara'  (jenles  ah 
OthoJie  Mcifpio  proßi<)(il(v  et  vicl(e  essent.  —  Dicilur  natus  fiiisse 
Pi'le?'(jmu.s'  ex  familia  Roderici  seu  Rud/fjen  de  Prfcc/ara  hodie 
Pechlani,  ejus  qui  Avar/'s  et  Hunis  in  Germanium  inducenti 
suppetias  tulisse,  in  eodetn  et  similihus  poematihus  leijitur  (der 
letztere  Satz  nach  Hund,  welcher  Bruschius  fast  wörtlich  aus- 
schreibt). —  Der  höchst  unzuverlässige  Lazius,  der  sich  allerlei 
Fälschungen  erlaubt  hat,  benutzte  in  seinem  Buche  de  (jentium 
aliquot  miyruiionibus  (1555)  eine  Pergamenthandschrift  der 
Nibelungen,  die  er  unter  sehr  verschiedenen  wunderliclien  Titeln 
citiert.  Einmal  sagt  er,  dass  darin  der  Krieg  Dietrichs  mit  den 
Hünen  beschrieben  sei,  ein  andermal  lässt  er  darin  Dietrichs 
Thaten  besungen  werden,  ein  drittesmal  die  Geschichte  Attilas 
und  Dietrichs.  Auch  Nachrichten  des  Keza  bringt  er  als  aus 
dem  Nibelungenliede  geschimpft  bei.  Rüdiger  von  Pechlarn  ist 
ihm  der  Sohn  des  um  900  lebenden  Markgrafen  Arbo.  Als 
Heinrich  L  den  Herzog  Arnulf  den  Bösen  von  Baiern  verjagte, 
unterstützte  Rüdiger  diesen  als  treuer  Vasalle.  Er  zog  sich  da- 
durch des  Kaisers  Ungnade  zu,  wurde  vertriel)en  und  starb  mit 
seinem  Herrn  bei  den  Ungarn  in  der  Verbannung.  Aus  seinem 
Stamme  soll  Piligrim  entsprossen  sein.  Lazius  führt  einige  nicht 
zusammengehörige  Verse  aus  dem  Nibelungenlied  an,  sowie  die 


3.  Die  historischeil  Verhältnisse  u.  Vorläufer  des  Nibelungenliedes.    17ü 

schon  erwähnten  vier  Verse,  die  in  demselben  sich  gar  nicht 
finden,  in  welchen,  soweit  sie  verständlich  sind,  Rüdiger  als  ein 
zu  den  Ungarn  vertriebener  Gegner  Heinrichs  erscheint,  Dietrich 
oder  Tetricus  ist  nach  Lazius  Rüdigers  Nachfolger  in  der  Mark, 
und  er  beruft  sich  dafür  auf  Aventinus. 

Lazius  fand  oftenbar  bei  Aventin  die  Einsetzung  Rüdigers 
durch  Arnulf;  daraus  erschloss  er  ihre  Bundesgenossenschaft 
gegen  Heinrich  I.  und  Rüdigers  Flucht  nach  Ungarn,  woraus  er 
es  sich  erklärte,  dass  Rüdiger  in  den  Nibelungen  als  Verbannter 
bei  Etzel  wohnt.  In  diesem  Sinne  dichtete  er  jene  vier  Verse 
hinzu.  Die  Erwähnung  des  „Tetricus"  kann  nur  aus  Metellus 
stammen.  Weil  bei  diesem  Rogerius  und  Tetricus  neben  ein- 
ander genannt  sind,  so  hielt  Lazius  diesen  für  den  Nachfolger 
des  Ersteren.  Die  Verwandtschaft  Piligrims  mit  Rüdiger  stammt 
wohl  aus  den  Nibelungen,  die  Lazius  gröstentheils  nicht  verstand, 
so  dass  er  von  den  Burgunden  leicht  auf  Rüdiger  gerathen 
konnte.  Jedenfalls  dürfen  aus  jenen  vier  Zeilen  keine  histori- 
schen Schlüsse  gezogen  werden. 

Lazius  beschuldigt  seinen  Vorgänger  Bruschius,  dass  der- 
selbe ihm  seine  Abhandlung  über,  Lorch  entwendet  und  mit 
einigen  Zusätzen  vermehrt  unter  eigenem  Namen  herausgegeben 
habe.  Ist  diss  nicht  wörtlich  wahr,  so  ist  doch  wahrscheinlich, 
dass  Bruschius  Vieles  stillschweigend  aus  Lazius  entlehnt  hat. 
Dazu  gehört  ohne  Zweifel  die  angeführte  Stelle  bei  Bruschius. 
Darauf  weist  hin,  dass  Piligrim  Rüdigers  Nachkomme  genannt, 
dieser  als  Bundesgenosse  Arnulfs  bezeichnet  und  auf  das 
Nibelungenlied  Bezug  genommen  wird.  Denn  dieses  ist  offenbar 
mit  den  deutschen  Rhythmen  über  die  Thaten  der  Hünen  ge- 
meint. Lazius  las  in  seiner  Handschrift  die  Schlussworte  der 
Klage,  die  er  nur  hall)  verstand,  und  bildete  sich  aus  ihnen 
jene  Nachricht.  Da  er  unser  Nibelungenlied  für  das  unter 
Piligrim  geschriebene  hielt,  so  muste  dieses  ein  deutsches  Gedicht 
sein;  da  darin  von  der  yiioten  recken  not  die  Rede  war  (Klage 
2150),  so  hielt  er  Recken  und  Hünen  für  identisch,  und  da  er 
Rüdiger  im  Anschluss  an  Aventin  in  das  zehnte  Jahrhundert 
setzt,  so  fügte  er  einige  Phantasieen  aus  eigenem  Kopfe  hinzu  ^), 


?t  Dazu  gehört  besonders  die  Nachricht  von  der  Lechschlacht  als  einer 
in  dem  Gedichte  enthaltenen  Begebenheit.  [Dümmler  (S.  194)  scheint  (nach 
Lachmanu,  Ausg.  VIII)  auf  dieHs.  a  als  Quelle  hinweisen  zu  wollen,  welche 
die  Geschichte  Kriemhilds  unter  Otto  den  Grossen  setzen  „solle";  allein  diss 

12* 


1^0  I.    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

die  ganz   zu  seinem  erwähnten  „Versuche  in   der  Kibelungen- 
strophe"')  passen. 

Hund  von  Sulzenmoos  endlich  benutzte  das  "Werk  des 
Bruschius  und  schrieb  dasselbe  gröstentheils  wörtlich  ab,  so 
auch  die  Notiz  über  Piligrim  und  über  das  Gedicht  von  den  Hünen. 
Er  sagt,  dass  er  dieses  selbst  auf  Prüun  an  der  Altmühl  ge- 
sehen und  1575  an  die  Bibliothek  Alberts  von  Baiern  geschenkt 
habe.  Offenbar  war  dieses  von  ihm  besichtigte  Buch  eine  Hand- 
schrift der  Nibelungen  und  zwar  die  Handschrift  B.'")  Dieselbe 
war  in  einem  für  ihn  gewiss  dunkeln  Deutsch  geschrieben;  da 
von  den  Hünen,  von  Rüdiger  und  Piligrim  darin  die  Rede  war, 
so  zweifelte  er  nicht,  das  von  Bruschius  erwähnte  Gedicht  darin 
zu  besitzen.^) 

Wenn  Holtzmann  für  die  Echtheit  von  Hunds  Nachricht 
anführt,  dass  auch  bei  Simon  Keza  Etzels  Geschichte  mit  der 
ungarischen  vermischt  sei,  so  ist  diss  insofern  unrichtig,  als  Keza 
den  Zwischenraum  eines  halben  Jahrhunderts  zwischen  beiden 
vollständig  anerkennt.') 

Es  muss  mithin  bei  der  Entstehungsfrage  der  Nibelungen 
von  den  späten,  trüben  Quellen  des  sechzehnten  Jahrhunderts 
ganz  abgesehen  werden;  aber  die  Nachrichten  der  Klage  über 
Piligrim  sind  jedenfalls  als  historisch   l)egründet  zu  l)etrachten. 

46. 
'  Auf  einem  anderen  Wege  hat 

Friedrich  Zarncke 

Holtzmanns  Annahme  einer  Aufzeichnung  der  Nibelungensage 
im  zehnten  Jahrhundert  zu  bekräftigen  gesucht'),  aber  auch  er 
nimmt  eine  lateinische  Aufzeichnung  an. 


ist  falsch;  die  Prosaeinleitung  in  a  setzt  die  Sache    in's  achte  Jahrhundert 
und  spricht  von  Otto  nicht.     S.  Dümmler  S.  190.] 

4)  S.  Lachmann,  Ausg.  VIII. 

5)  [S.  Zarncke,  Ausg.  XIX;  Bartsch,  Ausg.  VII.] 

6)  Jedenfalls  fällt  die  Annahme,  dass  Hunds  Nachricht  über  das  alte 
Gedicht  historisch  sei,  dadurch,  dass  Hund  zugleich  den  Piligrim  als  Nach- 
kommen Rüdigers  bezeichnet  [wenn  auch  das  ?ia(iis  ex  familia  B.  diss  nicht 
bestimmt  beweist].    Beide  Angaben  sind  historisch  gleich  werthlos. 

7)  [Die  Frage  ist  für  uns  unwesentlich.] 
l)  Zarncke,  Beiträge  No.  "V^  S.  lOS— 194. 


3.   Die  historischeu  Verhältnisse  u.  Vorläufer  des  Nibelungenliedes.    ISl 

Holtzmanns  historisch-geographische  Beweise  tiir  diese  An- 
nahme sind  unrichtig.  Denn  einmal  wurde  schon  um  950  die 
Ostmark  wider  deutsch,  sodann  konnte  die  Enns  als  Grenze 
zwischen  Deutschland  und  Hunenland  nicht  bloss  in  einer  der 
historischen  Thatsache  noch  näher  stehenden  Zeit  genannt 
werden.  Denn  sie  war  über  150  Jahre  die  Grenze  zwischen 
Avaren  und  Baiern  und  wurde  es  mit  dem  907  erfolgten  Vor- 
dringen der  Ungarn  wider  auf  ein  halbes  Jahrhundert,  konnte 
sich  somit  als  Grenze  zwischen  den  Deutschen  und  den  Asiaten 
(die  ja  alle  als  Hünen  bezeichnet  werden)  lange  in  der  Erinnerung 
behaupten. 

Dennoch  lassen  sich  aus  den  östlichen  Grenzbestimmungen 
des  Nibelungenlieds,  wenn  man  alle  zusammennimmt,  wohl 
Schlüsse  auf  eine  Aufzeichnung  im  zehnten  Jahrhundert  ziehen. 
Das  Xilielungenlied  kennt  im  Osten  folgende  Grenzen: 

1)  an  der  Enns  beginnt,  Etzels  Gebiet  mit  Rüdigers 
Mark; 

2)  bei  Melk  hört  diese  auf  und  beginnt  das  Osterland; 

3)  bei  H  a  i  m  b  u  r  g  beginnt  das  eigentliche  H  u  n  e  n  1  a  n  d.^) 
Diese   drei  Grenzen  haben  miteinander  nie  existiert;    es 

muss  also  hier  eine  Combination  geschichtlicher  Thatsachen 
zu  Grunde  liegen. 

Zur  karolingischen  Zeit  war  der  Wienerwald  die  Grenze 
zwischen  mar-ca  orie/italis  und  Piuinonia.  Eine  Provincial- 
grenze  zwischen  Enns  und  Wienerwald  hat  nie  existiert. 

Das  Nibelungenlied  gibt  uns  genau  die  Grenze  des  Passauer 
Sprengeis  an,  welcher  von  Pledelingen  (nur  in  C)  bis  hinter 
Melk  reicht.  Die  Stelle,  wo  das  Nibelungenlied  das  Osterland 
beginnen  lässt,  war  wirklich  zwischen  950  und  9S3  etwa  die 
Ostgrenze  des  Passauer  Bisthums  und  damit  die  östliche  Grenze 
der  Mark  unter  Burchard  und  den  Bischöfen  Adalbert  und 
Piligrim.  Um  9S5  etwa  w^urde  durch  den  Markgrafen  Luitbold 
(Leopold)  das  Land  zwischen  Melk  und  dem  Wienerwald  zu 
der  Mark  und  damit  zu  dem  Passauer  Sprengel  hinzu  erobert. 
Diss  beweist  eine  Urkunde  aus  den  Jahren  9S3 — 991,  in  welcher 
lauter  Orte  zwischen  Melk  und  Wien  dem  Passauer  Bisthum 
zugerechnet  werden;  somit  war  dieser  Landstrich  die  neue 
Errungenschaft  der  Deutschen.  Jene  Grenze  zwischen  Melk  und 
Mautern  {Müturen)  war  also  nie  eine  Provincialgrenze,  wohl  aber 

2)  [Vgl.  für  das  Folgende  Zarnckes  Karte  zu  den  ..Beiträgen".] 


182  I-     iJie  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

kurze  Zeit  Reielisgrenze.  Sie  wird  in  der  Geschichte  nie  erwähnt 
und  muss  aus  urkundlichen  Belegen  mühsam  erschlossen  werden. 
Es  ist  also  gar  keine  Möglichkeit  vorhanden,  dass  in  s])Uteren 
als  gleichzeitigen  Werken  dieselhe  genannt  werden  konnte.  Es 
muss  also  aus  der  Erwähnung  derselben  im  Nibelungenliede, 
die  durch  den  Biterolf  bestätigt  wird,  die  Abfassung  eines 
Werks  über  die  Nibelungensage  um  98»)  gefolgert  werden,  nur  dass 
dieselbe  nicht  vor  984  gesetzt  zu  werden  braucht,  wie  Holtz- 
mann  glaubt. 

Zugleich  enthält  das  Nibelungenlied  einen  bedeutenden 
Widerspruch  gegen  die  Geschichte.  Der  Verfasser  um  980 
konnte  es  nicht  vergessen  haben,  dass,  vielleicht  noch  zu  seinen 
Lebzeiten,  die  Ungarugrenze  die  Enns  war,  ebenso  war  ihm 
dieser  Fluss  als  alte  Ostgrenze  Deutschlands  bekannt.  Daher 
muste  die  hunische  Landesgrenze  an  diesen  Fluss  gesetzt 
Averden.  Das  Land  zwischen  Enns  und  Mautern  war  aber  schon 
um  SOO  christlich,  und  der  Verfasser  konnte  es  sich  nicht  als 
heidnisch  denken;  daher  das  Unding  einer  hunischen  und  zu- 
gleich christlichen  Mark,  das  Unding  einer  Frovincialgreuze 
zwischen  Melk  und  Mautern. 

Eben  dieses  historische  Unding  scheint  für  den  Dichter  von 
980  Quelle  einer  nochmaligen  Confusion  geworden  zu  sein.  Zu 
der  christlichen  Mark  gehijrte  auch  der  Traungau,  der  schon 
unter  den  Karolingern  mit  ihr  vereinig-t  war.  Bei  dem  Herein- 
brechen der  Ungarn  im  Jahre  9o7  wurde  der  Traungau  nicht 
mit  unterworfen.  Nach  der  Widereroberung  der  jMark  durch  die 
Deutsehen  Ijlieb  wahrscheinlich  der  Traungau  bei  der  Mark.  — 
Diese  Confusion  zeigt  sich  noch  im  Nil)elungenliede.  Die  West- 
grenze der  hunischen  j\Iark  ist  hier  die  Enns,  denn  an  dieser 
wird  Kriemhild  von  Götelind  emi)tangen;  zugleich  aber  hört 
Baiern  schon  an  der  Traun  auf,  da  hier  (Str.  1242)  ein  kurz 
widerholender  Bericht  über  die  Heise  durch  Baiern  gegelien 
wird.  Diss  ist  die  Folge  davon,  dass  die  christliche  Mark  an 
der  Traun,  die  nie  ungarisch  war,  begann,  die  ungarische  Be- 
sitzung von  907  —  950  aber  erst  an  der  Enns. 

Eine  ganz  ähnliche  Accomodation  an  seine  Zeitverhältnisse 
machte  der  letzte  Dichter  des  Nibelungenlieds. 

In  der  lateinischen  Redaction  des  zehnten  Jahrhunderts 
begann  das  eigentliche  llunenland  bei  Mautern;  das  Land 
westlich  von  Mautern  (bezw.  westlich  vom  Wienerwald,  seit 
dieser  Grenze  gegen  Ungarn  war)  hiess  Osfarrk/n  s.  Osterlmit^ 


3.   Die  historischen  Verhältnisse  u.  VorlLuifer  des  Nibelungenliedes.    183 

ein  Name,  der  zuerst  99(5  begegnet,  doch  so,  dass  man  seine 
Gebräuchlichkeit  erkennt.  Was  östlich  davon  lag,  war  dem 
Verfasser  im  zehnten  Jahrhundert  einfach  und  schlechtweg 
hunisch.  Es  lag  aber  seit  1043  die  deutsch-ungarische  Grenze 
östlich  von  Haimburg,  und  seit  1156  war  die  Mark  ein 
Herzogthum  mit  der  Hauptstadt  Wien.  Daher  Hess  der  letzte 
Dichter  des  Nil)elungenliedcs  sein  Hunenland  erst  unterhalb 
Haimburg  beginnen,  schuf  aber  damit  ein  noch  grösseres  histori- 
sches Unding  als  sein  Vorgänger,  einen  Widerspruch,  den  ein 
Dichter  wohl  aus  seiner  Vorlage  herübernehmen,  aber  nicht 
selbst  erfinden  konnte. 

Es  finden  sich  also  in  den  geographischen  Bestimmungen 
des  Nibelungenlieds  Spuren  von  zwei  Redactionen^),  einer  aus 
dem  Ende  des  zehnten  und  einer  aus  dem  zwölften  Jahrhundert) 

47. 
Moriz  Thausing 

hat  einen  anderen  Weg  eingeschlagen'),  um  für  das  ältere 
deutsche  Gedicht,  das  dem  Nibelungenliede  zu  Grunde  liegt, 
eine  genaue  Datierung  zu  finden.  Ausgehend  von  der  Beobach- 
tung, dass  die  Sage  stets  ihren  Charakter  verändere  je  nach 
den  Zeitverhältnissen,  unter  denen  sie  el)en  Pflege  finde,  fragt 
er,  welches  wohl  die  grossen  Ereignisse  seien,  welche  in  Deutsch- 
land die  Sage  aus  den  patriarchalischen  Verhältnissen,  die  sie  im 
Norden  noch  habe,  emporgehoben  haben  zu  den  welthistorischen, 
in  denen  wir  sie  im  Nibelungenliede  sehen.-j  Diese  historischen 
Ereignisse  findet  Thausing  in  den  Ungarnkriegen  Hein- 
richs HL,  dessen  Grösse  bereits  von  seinen  Zeitgenossen  hin- 
länglich gewürdigt  wurde. 

Für  diese  These  bringt  Thausing  mehrere  Parallelen  zwischen 
dem  Nibelungenlied  und  den  Ereignissen  der  Ungarnkriege 
Heinrichs  HL  bei. 


3)  Abgesehen  von  einer,   die  im  5.  Jahrhundert  anzusetzen  ist.  weil  im 
N.  L.  die  Burgunden  noch  zu  beiden  Seiten  des  Rheins  erscheinen. 

4)  Die  letztgenannte  wird  mit  unserem  N.  L.  identisch  sein. 

1)  ..Die  Nibelungen  in  der  Geschichte  und  Dichtung",  in  Pfeiffers  Ger- 
mania VI,  S.  435—4.56. 

2)  [Allein  Attila  war  (s.  o.)  von  Anfang  an  auch  in  der  Sage  nur  der 
historische  Hunenkönig.l 


184  T-    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

Dass  die  Nibehmgen  die  Donau  hinabzieben,  kam  gewiss 
erst  in  die  Sage,  nachdem  die  grossen  Scliaaren  der  bistoriscben 
Ungarnstreiter  diesen  Weg  gemacht  hatten;  es  war  ein  junger 
Burgundenkönig,  der  diese  führte,  und  bei  einer  Waffenthat 
werden  die  Burgunden  vor  allen  genannt.  —  Aus  der  Hand- 
schrift a  wissen  wir,  dass  Etzelenhnrc  =  Gran  ist^),  avo  der 
heilige  Stephan  seinen  politischen  und  geistlichen  Hauptsitz 
hatte.  —  Etzels  Fest  findet  an  Pfingsten  statt;  an  Pfingsten 
(26  Mai)  1045  fand  das  einzige  unblutige  Fest  statt,  zu  welchem 
Heinrich  HI.  nach  Stuhl weissenburg  kam.  —  Wenn  aber  zeinen 
sune iretulen  der  gröze  jnort  (jpsc/iach,  so  erinnert  das  deutlich 
an  die  sehr  bedeutende  Schlacht  von  Menfö  vom  4  auf  den 
5  Juli  1044,  die  einzige  Schlacht  jener  Ungarnkriege,  deren 
Datum  wir  besitzen.")  — 

Der  feige  Charakter  der  Hünen  im  Nibelungenliede  passt 
weder  auf  die  Hünen  Attilas,  noch  auf  die  Ungarn  der  Lech- 
schlacht,  wohl  aber  vollständig  auf  die  Ungarn  des  elften  Jahr- 
hunderts, die  in  ihrem  Verfall  noch  alle  Schwächen  und  Laster 
der  Halbcultur  an  sich  tragen  und  weder  Heiden  noch  Christen 
sind".  —  Wenige  Deutsche  leisteten  oft  vielen  Ungarn  siegreiclien 
Widerstand.  So  wollte  1044  König  Ovo  Heinrichs  kleines  Heer 
in  sein  Land  einziehen  lassen,  um  es  da  zu  verderben;  allein 
Heinrich  hielt  Ovos  Gesandten  lange  auf,  und  so  gewann  er 
den  Kampf  Aehnlich  ist  es,  wenn  Günther  auf  Hagens  Kath 
die  Boten  Etzels  aufhält.  —  Der  Graf  der  Ostmark  spielt  im 
Nibelungenliede  wie  in  der  Geschichte  die  Vermittlerrolle; 
Adalbert  von  Babenberg  führte  1041  den  entthronten  Peter  von 
Ungarn  an  Heinrichs  Hof;  er  schloss  1051  den  Reichsfrieden  mit 
Andreas,  welcher  1060  seine  gefährdete  Familie  zu  ihm  nach 
Melk  flüchtete.  Es  ist  jedoch  im  Nibelungenliede  die  Stellung 
des  Markgrafen  versehol)en,  indem  die  Mark  hunisch  ist,  als  was 
sie  dem  unterrichteten  Dichter  wohl  erscheinen  konnte;  denn 
die  Grenze  schritt  damals  nach  Osten  vor.  Uebrigens  reicht 
die  Mark  offenbar  von  Wien  (Haimburg)  bis  zur  Enns,  wie  die 
historische  Mark  vor  1043.  —  Dass  dem  Nibelungendichter  die 
Ostmark  in  zwei  Theile  zerfällt,  von  denen  bloss  der  östliche 
Osterlant  heisst,  weist  ebenfalls  auf  das  elfte  Jahrhundert  hin. 


3)  [S.  aber  Zarncke,  Ausg.  407  (sub  ..Gran-).] 

4)  [Leider  passt  der  Vergleich  in  der  Hauptsache  nicht:   die  Schlacht 
bei  Menfö  war  lür  die  Deutschen  siegreich.] 


3.   Die  historischen  Verhältnisse  u.  Vorläufer  des  Nibehingenliedes.    1S5 

Die  Provincialgrenze  bei  Mautern  hat  nie  existiert,  wohl  aber 
gab  es  von  iOA'A — lOöo  eine  besondere  neuere  Mark  zwischen 
Fischament,  Thaya  und  Marcli  nördlich,  zwischen  Fischa  und 
Leitha  südlich  von  der  Donau.'^)  —  Pechlarn  spielt  in  der  Ge- 
schichte eine  ähnliche  Rolle,  wie  im  Nil)clungenliede;  Heinrich  III. 
hielt  sich  1043  auf  seinem  Ungarnzuge  daselbst  auf.  —  1045 
entgieng-  Heinrieh  mit  Noth  einer  Lebensgefahr,  indem  der  Ööllcr 
eines  Hauses  einstürzte  und  u.  a.  auch  liischof  Bruno  von  Würz- 
burg umkam,  dem  zuvor  auf  der  Donau  ein  Gespenst  seinen 
Tod  prophezeit  hatte.  Diss  erinnert  an  die  Meerweiber  und  den 
Kaplan  des  Xibehmgenliedes.*')  —  Auch  das  viele  Gold  der 
Nibelungensage  findet  sich  in  den  Ungarnkriegen  Heinrichs  HI. 
wider.')  —  Eine  Parallele  zu  dem  Saalbrande  des  Nil^elungen- 
lieds,  der  den  anderen  Darstellungen  der  Sage  fehlt,  bietet  z.  B. 
die  Beschiessung  Haimburgs  durch  Brandgeschosse  von  Seiten 
der  Ungarn.  —  Von  der  Ueberlegenheit  der  Deutschen  über  die 
Ungarn  ist  ein  Beispiel  die  Schlacht  an  den  Klausen  zwischen 
Bela  und  dem  in  Heinrichs  Schutze  stehenden  Andreas.  Für 
das  Ueberleben  Günthers  und  Hagens  bietet  sich  eine  Parallele 
in  der  uemlichen  Schlacht,  indem  Wilhelm  von  Thüringen  und 
Boto  von  Baiern  sich  nach  Vernichtung  des  ganzen  Heeres 
allein  kämpfend  auf  einem  Hügel  hielten,  bis  die  Ungarn  unver- 
richteter  »Sache  abzogen.  Volkslieder,  welche  in  jener  Zeit 
über  solche  Helden,  wie  z.  B.  über  Aribo,  Botos  Ahn  gesungen 
wurden,  mochten  auf  den  Dichter  des  Nibelungenlieds  mit  ein- 
wirken.**) 

Dem  allem  nach  kann  dass  Nibelungenlied  nicht  vor  die 
Ungarnkriege  Heinrichs  des  Dritten  gerückt  werden.  Anderer- 
seits ergibt  sich  ein  terminus  ad  quem  aus  der  Stelle  des  Metellus 
von  Tegernsee,  da   man  die  Erzählung  Saxos  eher  als  Fiction 


5)  [Trotzdem  war  Zarncke  berechtigt,  aus  der  im  Nibelungenliede  vor- 
handenen Provincialgrenze  bei  Mautern  auf  eine  Abfassung  im  10.  Jahr- 
hundert zu  schliessen;  denn  nicht  nur  gibt  das  N.  L.  diese  Gi'enze  als 
Grenze  des  Passauer  Sprengeis,  sondern  die  Westgrenze  der  neueren  Mark 
fällt  keineswegs  mit  der  von  Mautern  zusammen.] 

6)  [Aber  der  Ausgang  ist  ein  verschiedener,  wie  oben  not.  4.1 

7)  [Doch  hat  das  Nibelungengold  entschieden  mythischen  Charakter.] 
S)  [Auch  die  4  Verse  bei  Lazius  lässt  Thausing  echt  sein  und  aus  dem 

Volksgesang  in  das  N.  L.  eindringen;  der  hewnisch  )nan  sei  der  Empörer 
Konrad  von  Baiern,  Kaiser  Heinrich  natürlich  Heinrich  HI.  Die  Ansicht^ 
dass  Lazius  die  Zeilen  gefertigt  habe,  scheint  doch  mehr  plausibel.] 


186  I.    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

betrachten  mag.  Sichere  Grenzen  smd  also  1050  und  11 .")(». 
Diese  können  verengert  werden,  wenn  man,  was  ganz  berechtigt 
ist,  das  Nibelungenlied  erst  nach  der  vollständigen  Beendigung 
der  Ungarnkriege  setzt  und  Saxos  Nachricht  als  echt  anerkennt^); 
dadurch  ergibt  sich  ein  Spielraum  von  1070 — 1130.  Da  aber 
die  Einwirkung  der  Heldenzeit  auf  Volk,  Sage  und  Dichter 
kaum  eine  unmittelbare  sein  kann  und  da  Saxos  Nachricht  doch 
sehr  zweifelhaft  ist,  so  wird  das  Nibelungenlied  bald  nach  110(» 
entstanden  zu  denken  sein,  angeregt  durch  die  grosse  Bewegung 
der  Ungarnkriege,  wie  die  romanische  und  die  romanisierende 
deutsche  Poesie  durch  die  der  Kreuzzüge. 


48. 
Kritik  und  Resultate. 

Was  Holtzmann  über  das  alte  Gedicht  von  den  Nibelungen 
gesagt  hat,  dürfen  wir  der  Hauptsache  nach  acceptieren,  dass 
nemlich  eine  erste  Aufzeichnung  des  Stoffes  auf  Veranlassung 
Piligrims  von  Passau  durch  dessen  Schreiber  Konrad  in  dem 
letzten  Viertel  des  zehnten  Jahrhunders  erfolgt  sei.  Die  Angabe 
der  Klage  darül)er  ist  an  sich  unverdächtig,  ihr  widerspricht 
nichts,  ja  sie  bietet,  wie  Zarncke  nachgewiesen  hat,  eine  treff- 
liche Erklärung  für  die  Verworrenheit  der  Grenzbestimmungen 
des  Hunenlands  im  Nibelungenliede.  Da  ausserdem  Piligrim 
und  Gero,  letzterer  wenigstens  wahrscheinlich,  in  das  Gedicht 
verflochten  sind,  so  bestätigt  diss  eine  Abfassung  im  zehnten 
Jahrhundert,  da  beide  Männer  jedenfalls  nicht  berühmt  genug 
waren,  um  später  noch  Eingang   in  die  Sage  finden  zu  können. 

Aber  die  Ansichten  Holtzmanns  über  die  B  e  s  c  h  a  f f  e  n  h  e  i  t 
dieses  Gedichts  aus  dem  zehnten  Jahrhundert  sind  ebenso  ver- 
fehlt, als  die  Annahme  einer  Aufzeichnung  im  zehnten  Jahr- 
hundert gesichert  ist. 

Dass  es  überhaupt  ein  Gedicht  gewesen,  was  Konrad 
schrieb,  nicht  Prosa,  wie  Thausing  imd  Pfeiffer  glauben,  ist 
nicht  bewiesen ;  doch  ist  diese  Frage  von  untergeordneter  Natur. 


9)  [Saxos  Nachricht,  auch  wenn  sie  historisch  ist,  ist  keine  Instanz;  es 
konnte  noch  andere  Aufzeichnungen  geben.] 


3.   Die  liistorischeu  Verhältnisse  u.  Vorlaufer  des  Nibelungenliedes.   187 

Dagegen  ist  eine  Cardinalfrage  die,  oh  das  Werk  wirklich, 
wie  Holtzmann  will,  deutsch  verfasst  gewesen  sei.  Zu  den 
Gründen,  welche  Dümmler  dagegen  ])eibringt,  kihnite  noch  der 
hinzugefügt  werden,  dass  wir  aus  dem  zehnten  Jahrhundert  kein 
deutsches  Ei)os  kennen,  wohl  aber  ein  lateinisches,  den  Wal- 
tharius;  doch  ist  dieser  Beweis  ungenügend.  Aber  die  Annahme 
eines  deutschen  Werks  aus  dem  zehnten  Jahrhundert  ist  auch 
durch  gar  nichts  wünschenswerth  gemacht  oder  gar  gefordert. 
Die  von  Holtzmann  angenommenen  Verschiedenheiten  in  Versbau, 
Reim  und  Sprache  weisen,  soweit  sie  wirklich  vorhanden  sind, 
nicht  über  das  zwölfte  Jahrhundert  zurück'.)  Die  Nachricht  des 
Saxo  Grammaticus  beweist  nichts,  da  sie  sich  auch  auf  ein 
anderes  deutsches  Gedicht  aus  späterer  Zeit  beziehen  kann; 
ebenso  wenig  bezieht  sich  die  Stelle  bei  Metellus  uothwendig 
auf  eine  ältere  Gestalt  des  Nibelungenliedes.")  Ist  somit  kein 
Grund  vorhanden,  ein  deutsches  Gedicht  Konrads  anzunehmen, 
spricht  -vielmehr  alles  für  ein  lateinisches,  so  fallen  auch  die 
Untersuchungen  über  die  Strophe  und  ihre  Anwendung  oder 
Nichtanwendung  durch  Konrad  als  werthlos  weg. 

Was  den  Inhalt  des  Konradisch'en  Werks  betrifft,  so  hat 
Dümmler  wohl  vollständig  genügend  nachgewiesen,  dass  der 
Nachricht  des  Bruschius  und  Hund  keine  historische  Glaub- 
würdigkeit beizumessen  ist.  Die  Ausscheidungen  im  Einzelnen 
des  Gedichts  sind  ziemlich  schlecht  begründet.  In  den  Noten 
50,  51,  52  zu  §  44  sind  die  Stellen  aus  Fischers  „Nibelungen- 
lied oder  Nibelungenlieder?"  citiert,  welche  nach  unserer  Meinung 
die  stärksten  Anstände  Holtzmanns  befriedigend  gehoben  haben; 
die  ü])rigen  Ausscheidungen  sind  schwach  genug  begründet. 

Damit  fiele  für  uns  der  Dichter  des  Sachsenkriegs  als  un- 
uöthig  weg.  Was  die  Identification  des  Verfassers  der  Klage  mit 
dem  Umarbeiter  des  Biterolfs  betrifft,  so  hat  dieselbe  für  die 
Nibelungenfrage  keine  Bedeutung;  ebenso  wenig  die  Ansiclit, 
dass  Rudolf  von  Ems  Verfasser  beider  sei,  welche  ohnehin 
schwach  begründet  ist  und  dadurch  zweifelhaft  oder  vielmehr 
unmöglich  wird,  dass,  wie  die  Haudschriftenfrage  beweist,   das 


1)  Heber  n/wan  und  wa'tüch  s.  schon  oben,  §  44,  not.  2S.  30.  S.  im 
Ganzen  die  Notizen  Bartschs.  -  üeber  Holtzmanns  Ableitung  des  Kibelungen- 
verses  s.  u.  Pfeiffer. 

2)  Wohl  aber  kann  sie,  wenn  aus  anderen  G-ründen  das  N.  L.  vor  1160 
gesetzt  wird,  darauf  bezogen  werden;  so  Bartsch,  Unters.  363. 


188  I-    Die  Entstehung  des  Nibelungenliedes. 

Original  der  beiden  Bearbeitungen  der  Klage  um  11  SO  fallen 
riiuss,  so  dass  Rudolf,  der  nach  1250  starb,  auch  wenn  er  die 
Klage  mit  nur  20  Jahren  gedichtet  hätte  —  ein  für  ein  solches 
Gedicht  doch  gewiss  zu  junges  Alter  — ,  über  90  Jahre  alt 
geworden  sein  müste. 

Was  Holtzmann  über  das  Epos  und  seine  Fortpflanzung 
sagt,  geht  die  Xibelungenfrage  direct  nichts  an;  wohl  aber  die 
P>ehauptung,  dass  Konrad  zuerst  Xibehmgen  und  Burgunden 
identificiert  habe.  Die  Her])eiziehung  des  Waltharius  beweist 
nichts;  dass  dieser  die  Nibelungen  Franken  nennt,  mag  daher 
rühren,  dass  sich  der  Verfasser  einen  Burgunden  nicht  in  Worms 
denken  konnte.    Im  Uebrigen  s.  Müllenhoft',  Nibeluugensage  (§  27). 

Was  Zarnckes  Ausführungen  betriflt"t,  so  scheinen  uns  seine 
Beweise  ganz  treffend  zu  sein,  und  seine  Resultate  stimmen  mit 
den  sonst  vorhandenen  Uberein. 

Thausing  endlich  hat  allerdings  mit  Recht  bemerkt,  dass 
eine  Wideraufnahme  des  Xibelungenstofifs  gerade  nach  den 
Ungarnkriegen  Heinrichs  III.  am  besten  zu  begreifen  sei.  Wir 
müssen  vorderhand  dahingestellt  sein  lassen,  ob  seine  ungefähre 
Datierung  des  Nibelungenlieds,  aus  dem  das  unsere  geschöpft 
hat,  richtig  sei,  weil  wir  noch  nicht  entscheiden  können,  ob 
nicht  gerade  unser  Nibelungenlied  in  eine  ziemlich  höliere  Zeit 
hinaufreicht,  als  um  1170  wohin  wir  die  Vorlage  der  beiden  Text- 
})earbeitungen  setzten.  Nur  einen  schon  von  Zarncke  berührten 
Punct  können  wir  schon  hier  berühren:  unser  Nibelungenlied 
muss  jedenfalls  nach  1130  verfasst  sein,  denn  im  Liede  tritt 
(Str.  2008;  2009;  in  C  auch  1968)  Irnfrit  von  Thüringen  als 
Landgraf  auf ,  wozu  die  Herren  von  Thüringen  im  Jahre  1130 
zuerst  feierlich  erklärt  wurden.  Da  nun  nach  Thausings  An- 
nahme die  ältere  Vorlage  des  Nibelungenlieds  nach  11  Od  anzu- 
setzen ist,  so  wii'd  dieselbe,  wenn  das  Nibelungenlied  selbst 
nicht  lange  nach  1130  fällt,  mit  diesem  in  eins  zusammenfallen. 

Die  Öpecialvergleichung  der  Ungarnkriege  Heinrichs  HI.  mit 
den  Begebenheiten  des  Nibelungenlieds  ist  zwar  in  einzelnen  i 
Puncten  frappant,  beweist  aber  jedenfalls  nichts  direct;  sie  mag  | 
ein  wirkliches,  genetisches  Verhältnis  zwischen  Ungarnkriegen  J 
und  Nibelungenlied  darstellen,  aber  diss  wird  nur  dann  anzu-  \ 
nehmen  sein,  wenn  die  übrigen  sichergestellten  Zeitverhältnisse  i 
dazu  stimmen  (was  allerdings  der  Fall  ist).  ^ 

Ein  Punct  in   Thausings  Untersuchung  ist  jedenfalls  ver-    ;J 
fehlt:  die  Annahme,  dass  erst  die  Ungarnkriege  des  elften  Jahr-    '\ 


3.  Die  historischen  Verhältnisse  u.  Vorläufer  des  Nibelungenliedes.    189 

liunderts  die  Nibelimgeiisage  in  ihre  welthistorischcu  Verhältnisse 
emporgehoben  hätten.  Denn  nicht  nur  ist  tiir  uns  bewiesen,  dass 
Attihi  von  Anfang-  an  auch  in  der  Sage  der  welthistorische 
Huuenkönig  war;  die  Anregung  der  Sage  durch  die  Ungarnkriege 
ist  schwer  zu  begreifen,  wenn  nicht  schon  vor  diesen  die  Sage 
von  einem  Vernichtuugskampfe  zwischen  Burgunden  und  Hünen 
berichtete.  War  diss  aber  der  Fall,  so  war  damit  die  Sage 
schon  von  Anfang  an  in  welthistorischen  Verhältnissen  gestanden, 
und  nur  das  lebendige,  der  Gegenwart  entlehnte  Colorit,  einzelne 
grosse  Züge  des  Vernichtungskampfes,  sowie  das  ganze  warme 
Interesse  des  Dichters  an  seiner  Sage,  besonders  seine  Meister- 
schaft in  der  Schilderung  der  letzten  Mordscenen,  dürfen  wir 
als  eine  Erwerbung  aus  der  nationalen  Erhebung  des  elften 
Jahrhunderts  betrachten. 


f 


Zweiter  Tlieil. 

Der  Verfasser  des  Mteliiiigenliedes. 


A.    Die  vorhandenen  Theorieen. 

49. 

Nicht  lauge  war  das  Nibelung-eiilied  aufgefunden,  so  fragte 
man  von  verschiedenen  Seiten  nach  dem  Verfasser  desselben. 
Das  gröste  deutsche  Epos  wollte  man  nicht  herrenlos  lassen. 
Man  rieth  daher  auf  verschiedene  mittelalterliche  Dichter  als 
Verfasser,  auf  Heinrich  von  Ofterdingen,  Wolfram  von  Eschen- 
bach,  AValther  von   der  Vogelweide,   Rudolf  von  Ems  u.  m.  a.') 

Aber  man  kam  auf  diesem  Wege  nicht  weit.  Wissenschaft- 
liche Begründung  hatte  keine  dieser  Muthmassungen,  welche  alle 
auf  den  Verfasser  des  Liedes  mehr  gerathen  als  geschlossen 
haben.  Der  Grund  aber,  warum  man  darüber  nicht  hinauskam, 
war  der,  dass  durch  Lachmanns  Theorie  überhaupt  der  Ge- 
danke an  eine  einheitliche  Abfassung,  einen  wirklichen  Verfasser 
des  Gedichts  für  längere  Zeit  aus  der  wissenschaftlichen  Welt 
verbannt  war. 

50. 

Lachmanns  Theorie  haben  wir  oben  bei  Gelegenheit  der 
Handschriftenfrage')  kurz  berührt;  hier  soll  eine  etwas  ausführ- 
lichere Darstellung  derselben  gegeben  werden.  Schon  im  Jahr 
1816,  als  die  Handschrift  Ä  durch  die  Myllerische  Ausgabe  nur 
für  den  ersten  Theil  des  Liedes  publiciert  war,  schrieb  Lach- 
mauu  seine  gi'undlegende  kleme  Schrift  „  Ueber  die  ursprüngliche 
Gestalt  des  Gedichts  von  der  Nibelungen  Noth".^)  Diese  sucht 
die  von  Friedrich  August  Wolf  für  die  homerischen  Gedichte 


1)  S.  die  Zusammenstellung  bei  K.  Vollmöller,  Küreuberg  und  die 
Nibelungen  S.  5  f. 

1)  S.  §  5  (S.  8—11). 

2)  Berlin,  bei  Ferdinand  Dümmler  ISlü. 

Fischer,  Nibelungenlied.  13 


194  n.   Der  Verfasser  des  Nibeluiigeuliedes. 

angebahnte  höhere  Kritik,  welche  Lachmann  selbst  nach  Abscliluss 
seiner  Nibelungenstudien  tiir  die  Ilias  im  Einzelnen  ausführte^), 
auch  beim  Nibelungenliede  in  Anwendung  zu  bringen,  die  Ent- 
stehung dieses  aus  einzelnen  balladenartigen  Volksliedern  nach- 
zuweisen. Das  Werk  ist  für  die  Darstellung  der  Lachraannischen 
Theorie  auch  jetzt  noch,  da  die  Anmerkungen  Lachmanns  diese 
in  einer  weit  mehr  ins  Einzelne  ausgeführten  Gestalt  gegeben 
haben,  von  Wichtigkeit,  weil  es  allein  eine  systematische 
Darstellung  von  Lachmanns  Ansicht  bietet,  allein  den  Weg 
zeigt,  auf  welchem  er  zu  derselben  gelangt  ist.  Sein  Inhalt  ist, 
kurz  dargestellt,  folgender. 

Ob  das  Gedicht  in  seiner  jetzigen  Gestalt  ein  künstliches 
oder  ein  Volkslied  sei,  soll  dahingestellt  bleiben.  Manches 
deutet  auf  einen  einzigen  Verfasser,  statt  dessen  freilich  eben- 
sowohl ein  Ordner,  LTeberarbeiter,  Redactor  angenommen  werden 
kann.  Die  Sprache,  die  Reinheit  und  zugleich  Armut  der  Reime, 
die  schmucklosere  Darstellung,  die  im  ganzen  Gedicht  zer- 
streuten Andeutungen  der  Zukunft,  alles  das  beweist  die  ein- 
heitliche Redaction  des  Ganzen,  welches  sich  selbst  als  eins 
gibt.  Der  gesammte  Charakter  des  Gedichts  gibt  somit  für  die 
Annahme  mehrerer  Verfasser  keinen  Anhalt,  wohl  aber  die  Unter- 
suchung nach  gewissen  bestimmten  kritischen  Grundsätzen.  — 
Lachmann  geht  bei  dieser  Untersuchung  von  dem  zweiten  Theile 
des  Liedes  aus. 

Hier  tinden  sich  einige  Namen  erwähnt,  die  nicht  in  das 
Gedicht  gehören^) ;  es  finden  sich  deutliche  Anfänge  von  Liedern ^)^ 


3)  Karl  Lachmann,  Betrachtungen  über  Homers  Ilias.  Mit  Zusätzen  von 
M.  Haupt.    1S47. 

4)  Lachmauu  will  alle  Stelleu  streichen,  in  welchen  l'iligrim  erwähnt 
ist,  s.  auch  seine  Anm.  S.  163;  ebenso  will  er  Volker  erst  da  auftreten  lassen, 
wo  er  bedeutender  in  die  Handlung  eingreife  [natürlich  weil  er  da  nicht  so 
leicht  entfernt  werden  kann];  die  Erwähnung  des  erst  11  (j2  erbauten  AVieu 
will  Lachmann  ebenfalls  ausmerzen  [s.  dagegen  Holtzmann,  Unters.  127; 
dass  Wien  erst  1162  erbaut  worden  sei,  ist  jedenfalls  unrichtig]. 

5)  So  Str.  10S3;  1363;  15S2.  ..Wir  sind  gewohnt  dergleichen  Anfänge 
mitten  in  der  Erzählung  gerade  für  eine  epische  Manier  zu  halten;  allein 
man  muss  gestehen,  dass  diese  Ansicht  nur  aus  den  Homerischen  Gesängen 
genommen  ist,  in  denen  gerade  dasselbe  neue  Anheben  und  ein  neues  Ein- 
führen schon  bekannter  Personen  am  Anfang  der  einzelneu  Lieder  sehr  ge- 
wöhnlich ist",  Urspr.  Gest.  S.  25.  [S.  dagegen  Fischer,  Xib-Lied  oder  Nib.- 
Lieder?  S.  HS.] 


A.   Die  vorhandenen  Theorieen,  195 

daneben  Widersprüche  zwischen  verschiedenen  Stellen.')  Wenn 
alles  dieses  auf  die  Entstehung  ans  einzelnen  Liedern  deutet, 
so  wird  dieser  Schluss  verstärkt  durch  die  Vergleichung  der 
Klage.  Dieselbe  spricht  von  einem  Buch,  aus  welchem  sie 
geschöpft  habe;  dieses  Buch  war  aber  nicht  unser  Nibelungen- 
lied, welchem  ja  der  ganze  eigentliche  Inhalt  der  Klage  fehlt.') 
Und  nicht  bloss  der  Inhalt  derselben,  sondern  auch  zwei  wesentliche 
ethische  Motive  der  Klage  gehen  dem  Liede  ab;  das  eine,  dass 
nemlich  die  Katastrophe  der  Burgunden  die  Strate  für  den  Raub 
des  Hortes  gewesen  sei,  gehört  allerdings  der  Erfindung  des 
Verfassers  der  Klage  selbst  an,  das  andere  dagegen,  dass  Kriem- 
hilds  Treue  gegen  Siegfried  ihre  Handlungsweise  bestimmt  habe, 
liat  derselbe  nach  eigenem  Geständnisse  seiner  schriftlichen 
Quelle  entnommen.**)  Umgekehrt  fehlt  der  Klage  die  Grund- 
anschauung des  Nibelungenliedes,  wie  liebe  mit  leide  ze  juiujest 
Ionen  kan  (Nib.  Str.  17,  3).  Neben  diesen  Widersprüchen  steht 
aber  eine  bemerkbare  Uebereinstimmung  mehrerer  Ausdrücke 
und  Gedanken  in  beiden  Gedichten.^)  Die  Beziehungen  der 
Klage  auf  einzelne  Lieder  des  zweiten  Theils  werden  erst  von 
da  an  bestimmter  und  auf  einzelne  Puncte  bezüglich,  wo  Etzel 
die  Burgunden  empfängt.  Mit  Hilfe  der  Klage  lassen  sich  nun 
in  diesem  Theile  des  Nibelungenliedes  Lieder  ausscheiden,  in- 
dem, was  der  Klage  unbekannt  erscheint,  ein  eigenes  Lied 
gebildet  haben  muss,  das  aber,  was  sie  kennt,  auf  Benutzung 
theils  der  im  Nibelungenliede  selbst  enthaltenen  theils  —  wo 
Einzelheiten  in  beiden  Gedichten  verschieden  berichtet  sind  — 
verwandter  Lieder  von  Seiten  des  Verfassers  der  Klage  hin- 
deutet."')  —   Kennt  aber  diese  weitaus  den  grösseren  Theil  von 

6)  So  zwischen  Str.  1575  und  1661.  16(;5.  zwischen  1354-1359  und 
13S0— 1396.  1725.    1726;  auch  Widerho hingen,  wie  1402  und  1452.| 

7)  [Ein  keineswegs  stichhaltiger  Grund;  wir  werden  unten  sehen,  dass 
Lachmann  aus  den  allergeringsten  Quisquilien,  in  denen  vermöge  der  jedem 
Dichter  zu  vindicierenden  Freiheit  N.  L.  und  Klage  abweichen,  Schlüsse  zu 
ziehen  sucht.] 

S)  Klage  (Lm.)  2'>5:  des  buoches  meiste 7'  sprach  daz  e  :  dem  ge- 
triiven  tuot  untriwc  ive  u.  s.  w. 

9)  [Das  Lachmannische  Verzeichnis  ist  von  Holtzmann  (Unters.  106  if.) 
und  noch  mehr  von  Bartsch  (Unters.  339  if.)  vervollständigt  worden.) 

10)  [Ueber  dieses  Argument  s.  Fischer  S.  114  f.  Auch  hier  geht  Lach- 
raann  kleinlich  zu  Werke,  indem  er  vollständig  bedeutungslose  Differenzen 
benützt,  um  dem  Verfasser  der  Klage  die  Benutzung  von  einigen  ..Liedern- 
unseres  N.  L.  abzusprechen;  s.  Holtzmann.  Unters.  103  ff.] 

13* 


196  II-   Der  Verfasser  des  Nibelungenliedes. 

dem  Inhalte  der  zweiten  Hälfte  des  Nibelungenlieds,  so  bat  sie 
von  der  ersten  nur  einen  Auszug  gekannt") 

Aucb  der  erste  Tbeil  des  Liedes,  für  dessen  Composition 
die  Klage  kein  Zeugnis  ablegt,  ist  aus  mehreren  unabhängigen 
Liedern  zusammengesetzt.  Hier  kommt  der  Kritik  zu  Hilfe 
neben  dem  Umstände,  dass  hier  die  alte  Form  strenger  beibe- 
halten ist,  hauptsächlich  die  Handschrift  .1.'-)  B  hat  dieselbe 
überarbeitet  und  mit  Zusätzen  versehen,  deren  in  den  verschie- 
denen Theilen  des  Gedichts  verschieden  viele  sind,  so  zwar, 
dass  da,  wo  diese  Zusätze  minder  zahlreich  sind,  sich  dafür  die 
Hand  des  Ordners  in  ^i  selbst  um  so  deutlicher  zeigt.'^)  Ohne 
näher  auf  das  Einzelne  einzugehen,  sucht  Lachmann  auch  hier 
die  einzelnen  Lieder  auszuscheiden.'^) 

Was  hier  in  den  allgemeinsten  Umrissen  angedeutet  war, 
das  suchte  Lachmann  in  seinen  Anmerkungen  zum  Nibelungen- 
liede'^) im  Einzelnen  durchzuführen,  ohne  hier  widerum  auf  die 
allgemeinen  Gesichtspuncte  einzugehen.  In  diesen  Anmerkungen 
und  in  der  1841  erschienenen  zweiten  Auflage  seiner  Ausgabe 
des  Gedichts  gab  Lachmann  die  Resultate  seiner  Einzelkritik. 
Dieselbe  besteht  im  Wesentlichen  in  der  Zerlegung  des  Nibe- 
lungenliedes in  einzelne  Lieder  und  in  der  Ausscheidung  einer 
grossen  Anzahl  von  Strophen.  AVas  die  Herstellung  der  Einzel- 
lieder betrifft,  welche  Lachmann  um  1190 — 1210  gedichtet  sein 
lässt,  so  hat  er  deren  zwanzig  gefunden,  die  er  alle  mit  ziemlich 
evidenter    Sicherheit    ausgeschieden    und    gereinigt    zu    haben 


11)  [Auch  hier  verkennt  Lacbmann,  dass  ein  Dichter,  der  einen  sagen- 
mässigen  Stoff  behandelt,  keineswegs  so  an  denselben  gebunden  ist,  dass  er 
alle  Einzelheiten,  die  er  kennt,  in  seiner  Dichtung  anzubringen  hätte  und 
so  anzubringen  hätte,  wie  seine  Vorlage  dieselben  geboten ;  Lachmann  begeht 
den  schon  not.  '  und  10  berührten  Fehler,  die  Sage  als  eine  ihre  Bearbeiter 
sklavenmässig  beherrschende  darzustellen,  worüber  s.  Fischer  S.  3U  f.  — 
Ueber  Nibelungenlied  und  Klage  überhaupt,  mit  Beziehung  auf  Lachmann, 
s.  Holtzmann,  Unters.  97  if.  und  Bartsch,  Unters.  334  ff.] 

12)  [S.  den  Anfang  dieses  §,  S.  193.] 

13)  [Offenbar  meint  Lachmann  nichts  anderes  als  die  Menge  in  A 
fehlender  Strophen  von  Str.  32 1  -  OGG  und  die  Seltenheit  dieser  Differenz  in 
den  anderen  Theilen  des  Gedichts;  daher  s.  o.  §  15,  S.  73.] 

14)  [Die  Einzelausführung  dieser  Untersuchung  kann  hier  um  so  mehr 
wegbleiben,  als  sie  mit  den  für  Lachmauns  Theorie  und  für  die  seiner  Schule 
maassgebendeu  Resultaten  der   ..Anmerkungen"  nicht  immer  übereinstimmt.] 

\'r>)  Zu  den  Nibelungen  und  zur  Klage.  Anmerkungen  von  Karl  Lach- 
mann.   (Wörterbuch  von  Wilhelm  Wackeruagel).    Berlin,  ßeimer  1S36. 


A.   Die  vorhandenen  Theorieen.  197 

glaubt;  die  meisten  derselben  sind  vollständig  erhalten.  An 
eine  Umarbeitung  etwa  der  Reime  durch  denjenigen,  welcher 
diese  Lieder  zusammenschweisste ,  ist  nicht  7a\  denken.'*)  Dem 
Alter  nach  stehen  sieh  alle  zwanzig  Lieder  ziemlich  nahe  (s.  o.); 
doch  sind  in  dieser  Beziehung  Unterschiede  zu  erkennen,  deren 
sich  in  Beziehung  auf  den  dichterischen  Werth  und  die  i)oetische 
Färbung  der  einzelnen  Lieder  nicht  unerhebliche  finden. ''') 
Einige  Lieder  haben,  schon  ehe  sie  zu  dem  Ganzen  vereinigt 
wurden,  das  uns  vorliegt,  Zusätze  und  Fortsetzungen  erhalten; 
manche  sind  mit  Bezug  auf  andere  unserer  Sammlung  gedichtet, 
einige  mögen  auch  einen  Verfasser  haben.  Die  Sammlung  der 
Lieder  und  ihre  Verbindung  geschah  um  1210;  sie  ist  das  Werk 
eines  ziemlich  ungeschickten  Mannes,  welcher  neben  der  Zu- 
sammenstellung der  Lieder  sich  auch  noch  Einschaltungen  von 
verschiedenem  Umfonge  gestattet  hat,  theils  eben  zum  Zweck 
der  Verbindung  der  einzelnen  Lieder  unter  einander,  der  Aus- 
gleichung von  Unebenheiten  und  Widersprüchen,  theils  ohne 
diese  Gründe,  nur  von  dem  Streben  nach  ausführlicherer  und  dem 
Geiste  der  neuen,  höfischen  Poesie  mehr  entsprechender  Dar- 
stellung geleitet.'*) 


16)  Anmerkungen  S.  5  oben.  [Noch  stärker  Müllenhoff,  Zur  Gesch.  der 
Nib.  Not  8.  901  f.:  „Die  einzelnen  Lieder  sind  in  ihrer  pjigenthümlichkeit 
so  wohl  erhalten,  dass  zu  dem  Verdacht,  die  Lieder  wie  sie  uns  vorliegen 
möchten  ihrer  ursprünglichen  Fassung  ferner  stehen  als  etwa  ein  Lied 
Walthers  oder  ein  höfisches  Märe  oder  sonst  ein  schi'iftlich  überliefertes 
"Werk,  auch  gar  kein  Grund  vorhanden  ist  und  er  gerade  zu  thöricht 
heissen  muss."] 

17)  Kennzeichen  jüngeren  Alters  sind  etwa  folgende:  breitere,  minder 
springende  Darstellungsweise,  weicher,  lyrischer  Ton,  Vorliebe  für  Schilde- 
rungen, insbesondere  von  Hoffesten  u.  dgl. ;  Binnenreime ,  drei  Hebungen  in 
der  achten  Halbzeile,  Hinüberlaufen  der  Periode  aus  einer  Strophe  in  die 
andere  (obwohl  die  drei  letzteren  Eigenschaften  bei  Lachmann  mehr  Kriterien 
der  Unechtheit  sind).  [Weiter  ausgeführt  sind  diese  Dinge  bei  Müllenhoft", 
1.  c.  S.  901—931  (No.  n.);  s.  auch  W.  Müller,  üeber  die  Lieder  von  den 
Nibelungen,  S.  .36— .iO.] 

18)  [Seine  Kriterien  der  Unechtheit  hat  Lachmann  in  seinen  Anmerkungen 
zerstreut  angedeutet;  Müllenhoft"  hat  sie  zusammengestellt  (S.  '»TS  f.),  und 
mit  seinen  Worten  mögen  sie  hier  Platz  finden;  bemerkt  sei  nur,  dass 
Lachmann  dieselben  keineswegs  consequent  angewendet  hat.    Sie  sind: 

1)  Zweisilbiger  Auftact,    wo   sonst   entschieden    echte   Strophen   in 
einem  Liede  oder  Abschnitt  ihn  nicht  kennen. 

2)  Gereimte  Cäsuren. 

3)  Uebergang  der  Construction  aus  einer  Strophe  in  die  andere. 


198  n.    Der  Verfasser  des  Nibelungenliedes. 

Von  diesen  Gesiehtspuucteu  ausgehend,  hat  Lachmann  seine 
zwanzig  Lieder  folgendermaas.sen  ausgeschieden. 

Das  erste  Lied'^)  umfasst  die  Strophen  13 — IG.  20 — 22. 
45—47.  49.  51—60.  68.  71—87.  102—109.  118—121.  123.  124. 
126.  127.  129  und  erzählt  in  denselben  Kriemhilds  Traum,  Sieg- 
frieds Jugend  und  seinen  Entschluss  zur  Brautwerbung,  seine 
Ankunft  in  Worms,  seinen  Streit  mit  den  Burgunden,  dessen 
Beilegung  und  Siegfrieds  Unterhaltung  am  Wormser  Hofe. 

Das  zweite  Lied-°)  erzählt  in  den  Strophen  13S— 146. 
151—158.  160.  162—169.  17.3—175.  178.  180—186.  188.  190. 
191.  193.  194.  196.  198.  201  —  204.  206.  207.  209.  214  —  217. 
219.  220.  222.  224.  226.  229.  235  —  237.  241  —  250.  257  —  259 
den  Sachsenkrieg  und  die  Botschaft  in  Worms,  sowie  Siegfiieds 
von  den  Burgunden  vereitelten  ^^ersuch  zur  Abreise. 

Das  dritte  Lied^')  beschreibt  in  den  Strophen  264 — 268. 
270—275.  277—290.  292—322  das  Fest  in  Worms,  die  erste 
Begegnung  zwischen  Siegfried  und  Kriemhild,  die  Entlassung 
der  Gefangenen;  Siegfried,  abermals  willens  abzureisen,  bleibt 
abermals  um  Kriemhilds  willen  in  Worms. 

Das  vierte  Lied  hat .  Zusätze  verschiedenen  Alters  und 
zwei  Fortsetzungen  erhalten.-^)    Das  Lied  selbst  gibt  in  Str.  325. 

4)  Verwirrung  und  Regellosigkeit  im  Gebrauch  der  Anrede,  des 
ihrzen  und  duzen. 

ö)  Nichtigkeit  der  vierten  Zeile  der  Strophen. 

fi)  Armseliges  Zusammenbetteln  der  Ausdrücke  aus  den  nächst  vor- 
hergehenden oder  nächst  folgenden  Strophen. 

7)  Massiges  Anbringen  der  burgundischen  Helden  bloss  in  der  Ab- 
sicht damit  sie  nicht  vergessen  werden. 

5)  Wohlfeile  Beschreibungen  von  Kleidern  und  Ritterfesten. 

S.  über  diese  Kriterien  und  ihre  Anwendung  durch  Lachmann:  Holtzmann, 
Kampf  etc.  S.  ;i5— 41;  Fischer  S.  i;i— 20.  —  Ein  weiteres  Kriterium  Lach- 
manns, aber  ebenfalls  inconsequent  angewendet,  hat  Holtzmann  (Kampf  etc.  41) 
entdeckt:  vier  gleiche  Reime  in  einer  Strophe.] 

19)  Dasselbe  kennzeichnet  ein  rascher  und  etwas  herber  Ton,  kurze, 
lebhafte  Weise;  mehrere  Stellen  deuten  auf  eine  Fortsetzung,  die  aber  fehlt. 

20)  Drei  Hebungen  in  der  achten  Halbzeile  und  zweisilbigen  Auftact 
haben  die  echten  Strophen  nicht,  ebenso  wenig  Constructionsübergänge. 

21)  Dieses  in  der  Form  sehr  ausgebildete  Lied  (das  aber  drei  Hebungen 
in  der  letzten  Halbzeile  gestattet)  hat  um  so  weniger  Gehalt,  es  ist  ein 
trauriges  Beispiel  entarteter  Volkspoesie.  Sein  Verfasser  kannte  den  Sachsen- 
krieg, vielleicht  auch  das  zweite  Lied;  dagegen  fehlt  jede Vorausdeutuug  auf 
Siegfrieds  Tod. 

22)  Kein  Lied  hat  so  viele  Zusätze  erhalten  wie  dieses.  Das  Lied  selbst 
hat  keinen  Cäsurreim.    Die  Beziehungen  auf  die  Zukunft  reichen  nicht  weit. 


A.   Die  vorhandenen  Theorieen.  199 

ri26.  328.  331—335.  365.  366.  368.  369.  371.  388.  389.  398.  401. 
402.  404  —  407.  410.  411.  418.  425.  427  —  440.  442.  443  die 
Erzählung  der  Gewinnung  Brünhilds.  Die  erste  Fortsetzun,»-, 
Str.  444—480.  4SI— 494,  erzählt,  wie  Brünhild  ihre  Mannen 
beruft,  Siegfried  die  seiuigen  holt  und  wie  alle  zusammen  von 
Island  abfahren.  Die  zweite  Fortsetzung,  Str.  496  —  538.  540. 
542 — 552.  554 — 563.  566—570,  l)ericlitct  Siegfrieds  Botschaft  zu 
Worms,  Brünhilds  Empfang,  Siegfrieds  und  Kriemhilds  Verlo])ung. 

Im  fünften  Liede"^),  welches    die  Strophen    572 575. 

581—585.  587—589.  592—604.  608—613.  616.  617.  619—622.' 
625—629  umfasst,  wird  erzählt,  wie  Brünhild,  durch  Günthers 
Aufschlüsse  über  Siegfried  nicht  befriedigt,  ihm  ihre  Minne  ver- 
sagt, aber  von  Siegfried  bezwungen  wird. 

Das  sechste  Lied'');  Str.  663—674.  676—689.  693.  694. 
696—718.  721—726.  728.  730—733.  735—738.  740—742.  744— 
770.  773—775.  777—801.  804.  805,  erzählt  die  Einladung  Sieg- 
frieds und  Kriemhilds  nach  Worrns,  den  Zank  der  Königinnen 
Siegfrieds  und  Günthers  Auseinandersetzung. 

Das  siebente  Lied-')  umfasst  die  Strophen  806.  808—810. 
812.  813.  815—819.  '820—836.  838—858  und  erzählt  Hagens 
Verrath  an  Siegfried  und  die  Verabredung  der  Jagd. 

Das  achte  Lied-")  erzählt  in  den  Strophen  859.  871 — 876. 
881  —  891.    899  —  904.    906.    909.    910.    913  —  922.    924  — 93o! 


Die  Verfasser  der  Zusätze  beeifern  sich,  auf  Siegfrieds  frühere  Bekanntschaft 
mit  Brünhild  zu  deuten,  ohne  von  derselben  etwas  Bestimmtes  sagen  zu 
können;  der  alte  Dichter  setzt  dieselbe  bloss  voraus.  Die  Zusätze  sind 
verschiedenen  Alters;  die  älteren  sind  Str.  327.  33ü.  338 — 341.  358.  360.  367. 
370.  3b6.  387.  392-39.3.  399.  408.  409.  412—417.  419.  420-424.  426.  441;" 
die  jüngeren:  329.  336.  337.  342  —  3.57.  359.  361  -364.  372  — 3S5.  391.  SOß! 
397.  Die  erste  Fortsetzung  setzt  das  Lied  schon  mit  einigen  der  älteren 
Zusätze  bereichert  voraus.  Sie  besteht  aus  zwei  Theilen,  444  —  4S0  und 
481 — 494,  deren  zweiter  keine  Beziehung  auf  den  ersten  hat  und  ebensowohl 
auf  den  Schluss  des  vierten  Lieds  folgen  könnte.  Die  zweite  Fort- 
setzung, zum  vierten  oder  einem  anderen  Liede  ähnlichen  Inhalts  gedichtet, 
gehört  weder  einem  der  Verfasser  der  Zusätze  noch  auch  dem  der  ersten 
Fortsetzung  an;  die  Form  ist  in  diesem  subjectiv  zugespitzten  Liede  ausge- 
bildet, der  Gehalt  unbedeutend,  wie  beim  dritten  Liede. 

23)  Der  Verfasser  dieses  Liedes  hat  überall  Siegfrieds  früheres  Verhältnis 
zu  Brünhild  im  Auge;  diese  lässt  er  von  Siegfried  nur  bezwungen  werden. 

24)  Steht  mit  dem  vierten  und  fünften  Liede  im  "Widerspruch,  insofern 
diese  Siegfrieds  Verlobung  mit  Brünhild  voraussetzen. 

25)  Dessen  Anfang  fehlt. 

26)  Welches  den  Inhalt  des  siebenten  im  Allgemeiaen  voraussetzt. 


200  n.   Der  Verfasser  des  Nibelungenliedes. 

932—943  die  Jagd  und  Siegfrieds  Ermordung,  das  neunte^') 
in  Str.  944— 94S.  951,  i.  2.  952,  3.  4.  953  —  956.  958-962.  964 
—980.  993  —  996.  998.  1000—1002.  1004—1012  Klage,  Be- 
gräbnis und  Trauer  um  Siegfried. 

Im  zelinten  Liede^'«),  Str.  1013.1015—1020.  1023—1030. 
1032—1035.  1039.  1043.  1046.  1055.  1056.  1058  —  1061.  1065. 
1066.  1068—1073.  1075—1079.  lOSl,  wird  von  KriemMlds 
Witwenschaft,  von  der  Verbringung  des  Nibelungenhorts  nach 
Burgund  und  dessen  Versenkung  in  den  Rhein  gehandelt. 

Das  elfte  Lied'')  besteht  aus  Str.  1083.  1087.1089—1093. 
1100.  HOL  1103—1105.  1107—1110.  1114.  1115,  1.2.  1116,3.4. 
1117.  1120—1123.  1125.  1127.  1130—1134.  1138—1140.  1142 
—1146.  1148.  1152—1158.  1160—1167.1169—1181.1183—1185. 
1189.  1191,  1.2.  3\  1192,  3'.  4.  1193.  1195—1200.  1204—1209. 
1220.  1222—1225,1.2.  1226,3.4.  1232;  es  erzählt  Etzels  Wer- 
bung um  Kriemhild,  ihre  anfängliche  Weigerung,  dann  Zustim- 
mung und  ihren  Abschied  von  Worms.  Das  Lied  hat  eine 
Fortsetzung  erhalten,  welche  in  Str.  1242—1251.  1253—1260. 
1262—1269.  1271  von  Kriemhilds  Reise  bis  an  die  Treisem 
berichtet. 

Das  zwölfte  Lied'°),  bestehend  aus  Str.  1277—1280. 
1282—1285.  1287.  1289.  1290.  1293.  1295.  1296.  1299—1302. 
1305—1311.  1315—1322.  1325.  1326,  berichtet  über  den  Empfang 
Kriemhilds  bei  Etzel  und  ihr  Leben  am  hunischen  Hofe. 

Das  dreizehnte  Lied^')  umfasst  die  Strophen  1329,  1.2. 
1338,3.4.  1339.  1341.  1343.  1345.  1347.  1348.  1350—1357.  136L 
1364.  1369.  1370,1.2.  1373,3.4.  1378— 1380.  1385—1387.  1390. 
1397—1399.  1401.  1402.  1405—1407.  1409—1411.  1413.  1415 
—1417.    1419  —  1424.  1427.1433.1434.1436—1438.1443—1445 

27)  Möglicherweise  von  demselben  Verfasser  wie  das  achte.  W^eder 
Kriemhild  noch  sonst  Jemand  kennt  den  Mörder  Siegfrieds. 

28)  Für  dessen  Trennung  vom  neunten  Lachmann  keinen  Grund  an- 
gegeben hat. 

29)  Aus  diesem  wie  aus  den  folgenden  hat  Lachmann  sämmtliche  Strophen 
ausgeschieden,  welche  von  Piligrim  handeln.     [S.  den  nächsten  §.] 

3Ü)  Der  Anfang  des  Liedes  ist  verloren;  vielleicht  gehörten  zu  demselben 
Str.  1274.  1275.  Von  einer  bösen  Ahnung  findet  sich  in  dem  ganzen  Liede 
keine  Spur. 

31)  Dieses  Lied  beruht  ganz  auf  Kriemhilds  Groll,  im  Gegensatz  zum 
zwölften.  Die  Zusätze  sind  meist  gross  und  geschickt  gemacht.  Von  den 
Burgundenkönigeu  kennt  das  Lied  nur  Günther  und  Gernot.  Cäsurreime  hat 
dasselbe  nicht. 


A.   Die  vorhandenen  Theorieen.  201 

und  erzählt  hier  Kriemhilds  Vorbereitungen  zur  Radie,  die 
Sendung  nach  und  von  Worms,  die  Vorbereitungen  der  Bur- 
gunden  zum  Feste. 

Das  vierzehnte  Lied^-),  Str.  1447  —  1453.  1456  — 1462. 
1464— 1467.  1471— 14S0.  14S8— 1485,3'.  1486,3'.4.  1487—1489. 
1492—1494.  1496.  1497.  1500.  1502—1504.  1500.  1508—1513. 
1527.  1530.  1567.  1571.  1573  —  1581,  erzälilt  die  Abfahrt  der 
Burgunden  von  Worms,  die  Abenteuer  mit  den  Meerweibern, 
dem  Fährmanne  und  Eckewart,  die  Meldung  in  Bechelaren  von 
der  Burgunden  Ankunft. 

Das  fünfzehnte,  sechszehnte  und  siebenzchnte 
Lied  sind  in  dem  Werke  des  Ordners  vollständig  in  einander 
verwirrt.^^)  Zusammen  erzählen  diese  drei  Lieder  die  Ereignisse 
vom  Empfange  zu  Bechelaren  bis  zur  Schild  wacht  Hagens  und 
Volkers;  und  zwar  weist  Lachmanu  dem  fünfzehnten  Liede  zu: 
Str.  1582—1608.  1610—1614.  1616.  1617.  1621  —  1633.  1636— 
1640.  1642—1652.  1656— 1669;  dem  seehszehnten :  Str.  1653— 
1655.  1670—1674.  1688.  1690.  1704.  1708—1739;  dem  sieben- 
zehnten: Str.  1675— 1680.  1682—1687.  1742—1744.1746—1786. 
Eine  Fortsetzung  zum  siebenzehnten  Liede  sind  die  Strophen 
1787.  1790  —  1792.  1795.  1797—1807.  1809—1815.  1817—1823. 
1826.  1829.  1831.  1833.  1835  —  1845.  184.7  —  1857^');  dieselbe 
erzählt  den  Kirchgang,  den  Buhurt,  die  Ermordung  des  ersten 
Hünen  durch  Volker,  Blödeis  Aufreizung  durch  Kriemhild,  Ort- 
liebs Verspottung  von  Seiten  Hagens, 

Das  achtzehnte  Lied'')  erzählt  in  Str.  1858  —  1891. 
1894—1901.  1903—1916,  wie  aus  dem  Kampfe  Blödeis  mit 
Dankwart  und  aus  der  Ermordung  Ortliebs  durch  Hagen  sich 
der  allgemeine  Kampf  entspinnt.  In  einer  zu  diesem  Liede  ge- 
dichteten   Fortsetzung^*),    Str.    1917 — 1956,     entfernen    sich 


:vl)  Dasselbe  stellt  nur  die  Ahnungen  und  Vorzeichen  des  unseligen 
Ausgangs  dar.     So  gehört  insbesondere  die  Baiernschlacht  nicht  hieher. 

33)  Der  Hauptgrund,  weshalb  Lachmann  diese  Verwirrung  angenommen 
hat,  ist  der.  dass  nach  der  uns  vorliegenden  Anordnung  der  Erzähking  die 
Burgunden  in  Etzelnburg  viel  zu  lange  auf  dem  Hofe  stehen. 

34)  Diese  Fortsetzung  fehlt  in  der  Klage;  sie  ist  von  gebildeter  Form 
und  unbedeutendem  Inhalte. 

35)  Das  ..Dankwartslied'';  nach  ..Urspr.  Gestalt"  etc.  S.  101  wegen  des 
Zeugnisses  der  Klage  vom  Vorhergehenden  getrennt. 

36)  Diese  Fortsetzung  ist  vom  achtzehnten  Liede  selbst  zu  trennen,  weil 
in  ihr  Dankwart  auf  einmal  gänzlich  vergessen  ist. 


202  II-    Der  Verfasser  des  Nibelungenliedes. 

Dietrich,  Etzel  und  Kriemliild  aus  dem  Gedränge,  der  Kampf 
geht  weiter,  die  Toten  werden  aus  dem  Saale  entfernt,  Volker 
wehrt  die  Feinde  ab. 

Das  neunzehnte  Lied^^)  umfasst  Str.  1957—1963.  196.5 
—1970.  1972—2020.  2022,  in  welchen  die  Gegenreden  Hagens, 
Volkers  und  Etzels,  der  Kampf  und  Tod  Irings,  der  Schluss 
des  Tages  und  des  Kampfes  enthalten  sind. 

Das  zwanzigste  Lied^^)  besteht  aus  den  Strophen  2023 
—2043.  2045—2150.  2152  —  2161.  2163  —  2216.  2218  —  2227. 
2229 — 2316,  und  berichtet  von  dem  vergeblichen  Versuch  einer 
Sühne,  von  dem  Saalbrand,  von  ßüdigers  Tod,  von  der  Vernichtung 
der  Mannen  Dietrichs  und  von  dem  Tode  Günthers,  Hagens  und 
Kriemhilds. 

51. 

Bei  der  gegebenen  Darstellung  von  Lachmanns  Theorie  ist 
ein  wesentlicher  Punct  desselben  unberührt  geblieben,  weil  der- 
selbe einmal  von  Lachmann  selbst  gar  nicht  berührt  worden 
ist  und  anderntheils  eine  abgesonderte  Darstellung  erfordert. 

Noch  ehe  Holtzmann  durch  die  Bekämpfung  der  Hand- 
schriftenfrage Lachmanns  dessen  Anschauung  den  Boden  zu 
rauben  versuchte,  machte  Jacob  Grimm')  eine  Entdeckung, 
welche  der  Kritik  Lachmanns  das  Zutrauen  der  wissenschaftlichen 
Welt  vielleicht  noch  in  höherem  Grade  zu  entziehen  geeignet 
war  als  Holtzmanns  ziemlich  ungenügende  Untersuchung  über 
die  Handschriften.  Diese  Entdeckung,  die  der  Lachmannischen 
sogenannten  Heptaden,  steht  im  Zusammenhang  mit  Anderem 
ähnlicher  Art  und  mag  in  diesem  Zusammenhange  hier  ihre 
Stelle  finden. 

In  der  Anmerkung  zu  Nib.  Str.  1235 — 1239  führt  Lachmami 
Folgendes  aus.  Wie  verschiedene  mittelhochdeutsche  E])en  in 
Abschnitte  von  etwa  dreissig  Zeilen  zerfallen,   so   scheint  die 

37)  Das  „Iringslied". 

38)  ,.Der  Niheliinge  not"  ist  eigentlich  der  Name  dieses  Liedes,  das 
Lachmann  in  den  Anmerkungen  als  eines  gibt,  während  er  es  früher  in 
mehrere  Lieder  getheilt  hatte.  Das  Gedicht  war  ^ielleicht  mehr  für  das 
Vorlesen  als  für  den  freien  Vortrag  bestimmt;  es  geniesst  mehrere  den 
anderen  Liedern  versagte  Freiheiten:  Strophen  mit  vier  gleichen  Reimen, 
Uebergang  der  Construction  und  Cäsurreime  sind  hier  gestattet. 

1)  S.  Göttingische  gelehrte  Anzeigen  1^51,  No.  175,  S.  1747  f. 


A.    Die  vorhandenen  Theoriecn.  203 

Klage-)  in  Absclinitte  von  je  2S  Kurz  Zeilen  getlieilt  gewesen  zu 
sein;  man  erhält  lö'S  solcker  Abschnitte,  wenn  man  die  Zeilen 
1747 — 17(32  weglässt,  in  welchen  von  Piligrim  die  Rede  ist. 

Auch  für  das  Nibelungenlied  macht  ein  grosser  Antangsbuch- 
stab,  welchen  .1  7  X  2b  Zeilen  vor  dem  Schlüsse  hat  (Str.  22G8)  an 
einer  Stelle,  wo  keine  Sinnespause  stattfindet,  es  wahrscheinlich, 
dass  Absätze  von  2S  Langzeilen  zu  machen  sind.  329  solcher 
Abschnitte  ergeben  sich,  wenn  man  auch  im  Nibelungenliede 
die  52  Zeilen  (d.  h.  dreizehn  Strophen)  ausscheidet,  welche  von 
Piligrim  handeln.^)  Somit  ist  anzunehmen ,  dass  diese  32  -f-  52 
Zeilen ')  zugesetzt  wurden  erst  bei  der  \'ereinigung  der  Klage 
mit  dem  Nibelungenliede  und  zwar  mit  der  Absicht,  aus  beiden 
ein  Ganzes  zu  machen,  dessen  Zeilenzahl  durch  28  theilbar  sei.'j 

Diese  Theorie  hat  Lachmann  später  autgegeben;  Vollmer 
machte  die  Entdeckung,  dass  Lachmann  sich  in  der  Klage  um 
vier  Kurzzeilen  geirrt  hatte,  worauf  Lachmann ^)  die  Klage  in 
144X30  Zeilen  theilte.«) 

SoAveit  geht  das,  was  Lachmami  selbst  über  die  Siebenzahl 
geäussert  hat.  "Wichtiger  als  diss  ist  J.  Grimms  Bemerkung, 
dass  auch  die  Lachmannischen  Lieder^)  je  eine  mit  7  theilbare 
Stropheuzahl ,  d.  h.  Abschnitte  zu  je  2S  Zeilen,  besitzen.  Es 
leuchtet  ein,  dass  eine  solche  Entdeckung  um  so  mehr,  als 
Lachmann  von  diesen  Heptaden  nirgends  geredet  hatte,  das 
Zutrauen  in  seine  Kritik  erschüttern  muste;  denn  der  Verdacht 
wurde  dadurch  nahe  gelegt,  dass  bei  der  Ausscheidung  der 
einzelnen  Strophen,  bei  der  Herstellung  der  einzelnen  Lieder, 
ihn  häufig  die  Rücksicht  auf  die  Herstellung  dieser  Heptaden 
geleitet  haben  möchte.**)     Nicht  nur  die  Einzelkritik  Lachmanns 


2)  Natürlich  nach  der  Tradition  in  J. 

3)  Diese  sind:  Str.  1235— 1239.  1252.   1270.   1367.   136s.  1435.  156S— 1570. 

4)  [Unbegreiflich  ist,  dass  Lachraann  hier  die  Ungereimtheit  nicht  be- 
merkt hat,  welche  in  der  Annahme  liegt,  ein  Interjrolator  habe  zwei  Gedichte 
in  dieser  "Weise  verbinden  wollen,  indem  er  die  Zeilenzahl  des  einen  nach 
Langzeilen,  die  des  andern  nach  Kurzzeilen  berechnet  habe.] 

5)  S.  Lachmanns  Ausgabe  von  1S51,  S.  XII. 

6i  [Mit  dieser  Moditication  muste  La chmauu  folgerichtig  die  ganze  Theorie 
von  den  2S  Zeilen,  nach  welchen  der  Vereiniger  von  Klage  und  Lied  die 
beiden  Gedichte  geordnet  habe,  aufgeben,  wovon  er  aber  nirgends  geredet  hat.] 

7)  Abgesehen  von  dem  nach  Lachmann  unvollständigen  zwölften  Liede, 
das  aber,  von  Str.  1277  an  gerechnet,  5X7  Strophen  hat. 

S)  Zumal,  da  sich  Lachmann  von  der  Annahme  von  Heptaden  auch  sonst 
leiten  Hess;  s.  Fischer  S.  23;  Zarncke,  Ausg.  S.  XLIII  (not.  **  zu  S.  XLII). 


204  n.   Der  Verfasser  des  Nibelungenliedes. 

war  durch  Grimms  Entdeckung  verdächtig  geworden;  es  muste 
überhaupt  fast  unglaublich  erscheinen,  dass  zwanzig  Sänger  von 
Volksliedern  —  und  seien  es  auch,  da  Lachmann  für  manche  Lieder 
die  Möglichkeit  eines  und  desselben  Verfassers  offen  Hess, 
etliche  weniger  —  lauter  Lieder  in  Heptaden  gedichtet  hätten 
und  dass  ein  Sammler  gerade  solche  Lieder  und  nur  solche  in 
seine  Sammlung  aufgenommen  haben  sollte.  Wer  also  Lach- 
manns Kritik,  wer  überhaupt  die  Liedertheorie  in  der  ihr  von 
ihm  gegebenen  Form  halten  wollte,  muste  für  die  Heptaden  der 
„echten"  Lieder  eine  sachliche  Erklärung  beibringen.  Diss  hat 
denn  auch  Moriz  Haupt  folgendermaassen  versucht.') 

Die  Nibelungenlieder  werden  ursprünglich  nicht  einfach  vor- 
getragen, sondern  recitiert  oder  gesungen  worden  sein.'")  Schon 
ein  Lied  von  42  Strophen  (und  weniger  hat  keines  der  voll- 
ständig erhaltenen  Lachmannischen  Lieder)  muste  aber,  in 
einem  Tone  fortgesungen,  ermüden.  Daher  ist  es  natürlich, 
dass  man  kleinere  Abschnitte  heraushob,  innerhalb  welcher  dann 
die  Melodie  oder  auch  nur  die  Begleitung  wechselte.  Eine  in 
der  Dichtung  mehrerer  Völker")  durchgeführte,  sehr  einfache 
Theilung  ist  die  in  drei  Theile,  welche  sich  in  der  mittelhoch- 
deutschen Poesie  zeigt  als  die  Eintheilung  der  Strophe  in  die 
zwei  Stollen  und  den  Abgesang.  Die  Strophe  ist  nun 
zwar  in  den  Nibelungenliedern  nicht  dreitheilig,  wohl  aber  jene 
kleineren,  durch  den  musicalischen  Vortrag  bedingten  Strophen- 
gruppen. Diese  Dreitheilung  pflegt  aber  keine  Gleichheit 
aller  drei  Theile  zu  sein;  vielmehr,  wie  die  griechische  oTgorpi] 
und  avTioToocff].  so  sind  die  beiden  Stollen  unter  sich  gleich  und 
von  dem  Abgesang,  Avelcher  der  griechischen  Irriodög  entspricht, 
verschieden.  So  ist  es  auch  bei  den  Strophengruppen  der 
Nibelungenlieder,  und  für  eine  solche  Theilung  in  zwei  gleiche 
und  eine  von  diesen  verschiedene  Grösse  eignet  sich  unter  den 
Zahlen,  welche  überhaupt  als  weder  zu  klein  noch  zu  gross  in 
Betracht  kommen  können,  vortrefflich   die  Zahl  7,   welche  sich 


9)  Seine  Erklärung  ist  zu  finden  bei  Müllenhotf,  Zur  Gescb.  der  X.  N.  S.  SSöf. 

10)  Die  Beweise  s.  Miillenboft"  a.  a.  0. 

11)  S.  Müllenboff  a  a.  0.;  ausser  der  von  ihm  nach  W.  Wackernagels 
Vorgang  beigezogenen  altfranzösiscben  Lyrik  ist  vor  allem  die  ebenfalls  von 
M.  erwähnte  altgriechiscbe  Chorlyrik  mit  den  roin  ^Tt^ar/ooor  zu  erwähnen, 
deshalb,  weil  hier,  wie  bei  den  Lachmann-Hauptischen  Heptaden,  nicht  die 
Strophe  selbst  dreitheilig  ist,  sondern  grössere  Strophengruppen. 


A.    Die  vorhandenen  Theorieen.  205 

naturgemäss  tlieilt  iu  (2  +  2)  -+-  3.")  So  entsprechen  in  einer 
Stroplienheptade  die  vier  ersten  Strophen  den  beiden  Stollen,  die 
drei  letzten  dem  Abgesaug. 

Dass  diese  Erklärung  sehr  geistreich  und,  wenn  von  an- 
deren Gesichtspuncten  aus  Lachmanns  Kritik  sieh  l)ewährt, 
wirklich  als  die  richtige  anzusehen  ist,  wird  nicht  zweifelhaft 
sein.  Keineswegs  aber  ist  Müllenhoff  im  Rechte,  wenn  er 
behauptet'^),  durch  die  gegebene  Erklärung  der  Heptaden  seien 
diese  bewiesen  und  Lachmanns  Kritik  wesentlich  unterstützt. 
Denn  vorher  müssen  die  Gedichte,  welche  in  Heptaden  veiiasst 
sein  sollen,  bewiesen  sein,  ehe  die  Heptaden  als  bewiesen  gelten 
können.'') 

Haben  so  Lachmanns  Anhänger  versucht,  die  Heptaden  zu 
sichern  und  Lachmann  von  einem  Vorwurfe  zu  retten,  welcher 
dem  der  Unredlichkeit  ziemlich  nahe  kommen  muste,  so  hat 
Heinrich  Fischer  iu  der  bei  Gelegenheit  der  Handschrifteu- 
frage  schon  kurz  berührten'^)  Schrift:  „Nibelungenlied  oder 
Nibelungenlieder?"  Lachmann  in  dieser  Richtung  neu  bekämpft. 
Er  weist  nach,  dass  Lachmann  nicht  etwa  die  Theilung  des 
Nibelungenliedes  (nach  A)  in  Abschnitte  zu  28  Langzeilen,  wie 
er  sie  schon  iu  der  Ausgabe  von  1826  angedeutet,  habe  fallen 
lassen,  nachdem  er  die  Heptaden  der  echten  Lieder  entdeckt, 
da  ja  die  „  Anmerkungen ",  welche  die  Kritik  der  echten  Lieder, 
somit  die  Herstellung  ihrer  Heptaden,  enthalten,  ausdrücklich 
von  der  Theilbarkeit  des  ganzen  Liedes  in  Heptaden  reden. 
Dass  die  Heptaden  der  echten  Lieder  nicht  zufällig,  sondern 
von  Lachmann  beabsichtigt  waren  und  von  ihm  nur  verschwiegen 
wurden,  weist  Fischer  an  dem  Wechsel  in  Lachmanns  Ansichten 
über  die  Strophen  1274 — 1277  nach.  Somit  hat  Lachmann 
gleichzeitig  an  die  Theilbarkeit  des  ganzen  Gedichts  und 
der  echten  Lieder  in  Heptaden  geglaubt.  Aber  nicht  nur  die 
echten  Lieder  haben  Heptaden,  auch  die  Dichter  der  Zusätze 

12)  Dasselbe  Gesetz  liegt  dem  Bau  des  Sonnetts  zu  Orunde: 

Zeile     1.  2.  3.  4.        5.  G.  T.  S.  9.   lU.  U.         12.  Vi.   H. 

=  Stolleu  =  Abgesang 

=  2  •  2  -j-  2  •  2  ReimzeUen  =  3  •  2  oder  2  •  3  Reimzeileu. 

13)  Müllenhoff.  a.  a.  0.  SS(?. 

14)  Holtzmaun  hat  freilich  Haupts  Erklärung  nicht  verstanden  und 
in  seiner  Replik  auf  MüUenhoffs  betreffende  Schrift  (Kampf  um  derNibelunge 
Hort  S.  25  f.)  sich  in  ziemlich  schaaler  Weise  über  dieselbe  lustig  gemacht. 

15)  S.  §  9  (S.  31  f.). 


206  II.   Der  Verfasser  des  Nibelungenliedes. 

lind  Fortsetzungen  zum  vierten,  der  Fortsetzungen  zum  elften 
und  siebenzehnten  Liede  haben  in  Heptaden  gedichtet.  Die 
Interpolatoren  kennen  das  Gesetz  nicht,  wohl  aber  der  Sammler, 
der  so  viel  Strophen  hinzudichtet,  dass  sein  Werk  329  X  28  Zeilen 
enthält.  Wider  ein  Anderer  vereinigt  diese  329  X  28  Langzeilen 
mit  den  153  X  28  Kurzzeilen  der  Klage;  statt  jedoch  über  diese 
schöne  Uebereinstimmung  des  Baus  in  beiden  Gedichten  sich  zu 
freuen,  verbindet  er  beide  Gedichte  noch  enger  mit  einander, 
indem  er  Strophen  in  beide  einschiebt,  die  sich  alle  mit  demselben 
Gegenstande  beschäftigen.  Er  will  aber  die  Theilbarkeit  durch 
28  nicht  verloren  gehen  lassen;  somit  setzt  er  3x28  Zeilen  ein, 
aber  nicht  etwa  m  das  eine  Gedicht  2  X  28,  in  das  andere 
1  /  28,  sondern  in  das  eine  52,  in  das  andere  32,  so  dass  beide 
Gedichte  nicht  mehr  einzehi,  sondern  nur  in  ihrer  Verbindung 
miteinander  durch  28  theilbar  sind.'^) 

„  Da  hievet  oiich  tje/oitöe  zuo\  sagt  der  Dichter",  so 
schliesst  Fischer  seine  Darstellung  der  Lachmannischen  Zahlen- 
tlieorie;  wir  werden  damit  übereinstimmen  dürfen,  indem  wir 
die  Heptaden  der  echten  Lieder  für  eine  Möglichkeit  (deren 
Wirklichkeit  aber  erst  durch  Erweisung  der  Wahrheit  der 
Lachmannischen  Kritik  bewiesen  werden  muss)  und  tür  etwas 
sachlich  Erklärbares,  die  andern  Zahlenverhältnisse  aber,  die 
Lachmann  entdeckt  zu  haben  und  mit  denen  er  seine  Theorie 
stützen  zu  können  glaubte,  tiir  Unmöglichkeiten  und  Spielereien 
erklären. 

52. 

Karl  Müllenhoff,  den  wir  schon  oben  als  unbedingten 
Anhänger  der  Lachmanuischen  Theorie  kennen  gelernt  haben, 
hat  diese,  bei  vollständiger  Anerkennung  der  Lachmaimischen 
Resultate  im  Einzelnen,  weiterzuführen  gesucht.')  Es  lohnt  sich, 
die  Art,  in  der  er  diss  versucht  hat,  kennen  zu  lernen. 

Er  beginnt  seine  Untersuchung  mit  einer  Erörterung  über 
die  Pfleger  und  Pflegestätten  des  deutschen  Nationalepos,  der 
deutschen  Heldensage.  Die  epische  Poesie  findet  sich  in  ihren 
ersten  Zeiten  im  nächsten  Zusammenhange  mit  dem  höfischen 
Heldenleben.  In  diesem  muss  sie  ^uch  im  zwölften  Jahrhundert 
gestanden  haben;  jedenfalls  war  sie  damals   noch  nicht  so   tief 

16)  S.  überdiss  das  not.  4  dieses  §  Bemerkte. 
1)  Zur  Geschichte  der  Nibelunge  Not.  Seite  bS7 — 942. 


A.   Die  vorhandenen  Theorieen.  '207 

gesunken,  wie  im  vierzehnten  bis  seehszehnten  Jahrhundert.  Die 
gewöhnlich  so  genannte  höfisch«  oder  ritterliche  Poesie  war  nur 
eine  neue  Form  liöfischer  Poesie,  deren  Entwicklung  durch  die 
Verbreitung  französischer  Stoffe  und  französischer  Bildung  be- 
dingt war.  Noch  vor  der  Ausbildung  derselben  entstand  unter 
den  Händen  fahrender,  nicht  ungebildeter  Leute  für  die  höfische 
Unterhaltung  die  Spielmannspoesie.-)  Die  Nibelungenstrophe 
selbst  findet  sich  im  ritterlich  en  Minnesang  als  Kürenberges 
wine  im  Gebrauch,  daneben  auch  Variationen  derselben. 

Was  die  Pflegestätte  des  Volksepos,  d.  h.  desjenigen,  das 
sich  nationalen  Stoffen  zuwandte,  betrifft,  so  ist  dieselbe  jeden- 
falls in  Schwaben  und  am  Oberrhein  nicht  zu  suchen,  da  sich 
diese  Länder  entschieden  dem  neuen  höfischen  Epos  zuwandten. 
In  einem  näheren  Verhältnis  zur  nationalen  Poesie  stehen  die 
fränkischen  und  bairischen  Dichter,  voran  Wolfram  von  Eschen- 
bach. Die  eigentliche  Heimat  unserer  Volksepen  ist  aber 
0 esterreich,  wo  die  neuhöfische  Litteratur  nie  recht  zur 
Geltung  kam.  In  Oesterreich  entstanden  sind  Biterolf,  Klage, 
Kudrun,  Alphart,  Walthcr  und  Hildegunde,  die  Rabenschlacht; 
Ortnit  und  Wolfdietrich  A  gehören  nach  Oesterreich,  nach  Tirol 
oder  in  eine  benachbarte  Landschaft,  Wolfdietrich  B  etwas 
nördlicher.  Die  südöstlichen  Grenzgebiete  Deutschlands  also, 
von  Anfang  an  für  die  Ausbildung  der  Heldensage  von  Bedeu- 
tung, haben  die  letzte  Blüthe  des  nationalen  Epos  erzeugt,  zu 
derselben  Zeit,  da  im  Westen  die  neuhöfische  Poesie  ihre  höchste 
Ausbildung  erlangte.  Eben  dahin,  in  das  Land  unter  der  Enns, 
ist  auch  die  Entstehung  der  Nibelungenlieder  zu  verlegen; 
ja  die  meisten  mögen  am  Hofe  zu  Wien  entstanden  sein.  Die 
Sprache  beweist  diese  Heimat  der  Lieder,  ebenso  wie  sie  ihre 
Entstehung  in  den  höchsten  Kreisen  beweist.  Die  Sammlung 
und  letzte  Einrichtung  geschah  allerdings  nicht  in  Oesterreich, 
nach  Lachmann ^)  vielmehr  in  Thüringen,  d.  h.  am  Hofe  zu 
Eisenach. 

Zum  Gebrauche  der  Fahrenden  nun,  welche  sich  den  Vortrag 
solcher  Gedichte  zum  Geschäfte  machten,  finden  wir  mehrfach 
Liederbücher    aus    mehreren    getrennten    Liedern    zusammeu- 


2)  Die  Verworrenheit  dieses  Theils  von  MüUenhoffs  Untersuchung,  die 
auch  Holtzmanu  bemerkte  (Kampf  etc.  S.  27  ff.),  hat  uns  zu  ganz  summari- 
scher Darstellung  veranlasst. 

::i)  y.  Lachraann,  Anm.  zu  Str.  2u4,  4.  9:54,2.   1272,3.  1277,  1. 


21)8  n.    Der  Verfasser  des  Nibelungenliedes. 

geschrieben.  Dahin  sind  unsere  Minnesingerhandschrit'ten  zu 
zählen,  welche  eben  aus  solchen  Fahrenden-Biichern  entstanden 
sind  und  deren  Namen  nicht  die  Dichter,  sondern  die  Inhaber 
der  verschiedenen  Liederbücher  bezeichnen,  welche  als  Fahrende 
sich  nur  mit  dem  Vortrag  und  der  Verbreitung  der  Lieder  be- 
schäftigten. Innerhalb  der  einzelnen  IJücher  finden  sich  daher 
Lieder  von  verschiedenen  Verfassern  zusammengestellt. 

Sänger  und  Spielleute  hatten  die  Schule  der  Geistlichen 
nicht  verschmäht;  Kunde  des  Lesens  und  Schreibens  war 
jedenfalls  häufig  bei  ihnen.')  Die  Gedichte  wurden  von  den 
Fahrenden  selbst  vorgelesen,  und  daraus,  dass  sie  sich  fort- 
während im  Gebrauch  derselben  erhielten,  sind  ihre  Umge- 
staltungen und  Veränderungen  zu  erklären. 

Wie  lässt  das  Gesagte  sich  auf  das  Nibelungenlied  an- 
wenden? Dem  Verfasser  der  Klage  lag  eine  Sammlung  älterer, 
schon  interpolierter,  Lieder  vor.  Die  eigentliche  Nibelungen- 
Noth,  d.  h.  Lachmanns  zwanzigstes  Lied,  war  gewiss  von  Anfang 
an  aufgeschrieben  und  mehr  für  das  Vorlesen  als  für  den  freien 
Vortrag  bestimmt.*)  Die  Heptadcn  freilich  beweisen,  dass  die 
Verfasser  der  Lieder  noch  an  die  Recitation  nach  alter  Weise 
dachten;  die  Aufzeichnung  einzelner  Stücke  konnte  anfangs 
nur  den  Zweck  haben,  dem  Gedächtnis  zu  Hilfe  zu  kommen. 
Solche  Aufzeichnungen  waren  aber  häufig  und  wurden  dann 
auch  zum  Vorlesen  benutzt.  Um  jedes  aufgezeichnete  Lied 
konnten  sich  leicht  kleine  zusammenhängende  Cyklen  bilden, 
welche  alsdann  ein  Sammler  nur  zu  vereinigen  brauchte,  um 
ein  nach  Art  der  höfischen  Aventiuren  fortlaufendes  Gedicht 
herzustellen. 

Die  Einzeluntersuchung  bestätigt  eine  solche  Entstehung  des 
Nibelungenliedes.  Die  ersten  zehn  Lieder  bilden  drei  Gruppen, 
deren  jede  ein  Liederbuch  gebildet  hat.  Zur  ersten 
Gruppe  gehören  die  Lieder  I  —  III,  so  zwar,  dass  sich  II  an  I, 
III  an  II  anschloss.") 

Die  zweite  Gruppe  besteht  aus  Lied  IV  und  V,  von  denen 
das  letztere  zum   ersteren   ähnlich  hinzugedichtet  wurde,  wie  II 

4)  Das  Auftreten  der  vagicrenden  Kleriker,  die  im  Zusammenhang  mit 
den  fahrenden  Spielleuten  stehen,  fallt  in  das  zw("tlfte  Jahrhundert. 

5)  8.  oben,  §  50,  not  38  (S.  202). 

6)  Somit  ist  I  das  älteste,  III  das  jüngste  Lied  dieser  Gruppe;  der  Ver- 
fasser vou  11  kannte  I;  der  von  III  hat  II  gekannt,  aber  die  Interpolationen 
dieses  Liedes  nicht,  in  welchen  Volker,  Daukwart  u.  a.  genannt  sind. 


A.    Die  voiiiandonen  Tliporifpii.  209 

zu  I;  eil)  Rliapsf.de,  der  l\  uml  A'  kannte,  scli(»l»  I\'''  (Forts.) 
ein.')  Die  dritte  Oruiti»'  iiiiithsst  die  Lieder  VI— X;  an  das 
älteste  dieser  Lieder,  \'lll,  sehloss  sich  IX,  daran  X,  wclelies 
mit  L\  einen  Verfasser  hat,  daran  VI  und  zur  Verbindung 
dieses  mit  VIII  zuletzt  VTI.') 

Aehnliehe  Erselieinungen  widerliolen  sieh  in  den  Liedern 
XI — XX.®)  Die  Untersuchung  dieser'";  muss  lehren,  «di  der 
Ordner  diesen  zweiten  Theil  nicht  vielleicht  im  Wesentlichen  in 
seiner  jetzigen  Gestalt  vortarftl,  so  dass  dieser  Theil  die  eigent- 
liche Grundlage  des  Gedichts  und  dessen  viertes  Liederbuch 
bilden  würde. 

Anderer  Art  ist  W  i  1  h  c  1  ni  Müllers  Liedertheorie.') 
Gegenüber  der  unverkennbaren  inneren  poetischen  Einheit 
des  Nibelungenliedes  stehen  häufige,  schwer  zu  hebende  Wider- 
sprüche, auffallendes  Vergessen  solcher  Personen,  die  eine  Zeit 
lang  mit  Liebe  geschildert  waren,  eine  Menge  von  weitschweifigen 
und  schlechten  Strojjhen  neben  den  kräftigsten  und  schönsten, 
endhcli  der  verschiedene  Ton  in  mehreren  Partieen  des  Gedichts. 
Diss  beweist,  dass  dasselbe  sich  aufgebaut  hat  auf  einer  Grund- 
lage von  früher  einzeln  gesungenen  Liedern,  dass  ältere  und 
jüngere  Theile  unterschieden  werden  müssen.  Allein  das  Ge- 
dicht ist  doch  nicht  eine  blosse  Sammlung  von  Liedern,  an 
einen  oder  mehrere  Ordner  ist  nicht  zu  denken.  Vielmehr  ist 
das  (ianze  aus  früher  vereinzelt  gesungenen  Liedern  zusammen- 
gesungen worden  durch  das  Wandern  von  einem  Sänger  zum 
anderen,  durch  Veränderungen  und  Zusätze. 

Will  man  die  einzelnen  ursprünglichen  Lieder  herausfinden, 
so  muss  man  sich  an  die  natürlichen  Abtheilnngen  und  Abschnitte 

' )  Lied  IV,  eines  der  schönsten,  das  noch  in  den  SOer  Jahren  entstanden 
sein  könnte,  hat  mit  I— m  nichts  zu  schaffen ,  auch  kennen  diese  hin- 
widerum  das  vierte  nicht.  Eine  vage  Möglichkeit  wäre,  dass  es  derselbe 
sei,  der  III  andichtete  und  IV '' einschob.    V  ist  edel  und  alterthimilicli. 

S)  "VT^I  ist  vollständig,  ein  Zwischenstück  wie  IV'\  aber  vielleicht  von 
demselben  Verfasser  mit  V.  —  VII  kennt  ü.  —  VIII  hat  vielleicht  denselben 
Verfasser  wie  IV,  ist  aber  jünger. 

9)  [Die  Abhandlung  MüUenhoffs  dll)  über  den  Ursprung  der  Inter- 
polationen in  Lied  I — X  ist  hier  ohne  AVerth.] 

10)  [Welche  aber  Müllenhoff  nicht  unternommen  hat] 

1)  Wilhelm  Müller,  Ueber  die  Lieder  von  den  Nibelungen.  Aus  den 
Göttinger  Studien  1S4.').     Göttingen,  Vandenhoeck  u.  Ruprecht,  1S45. 

Fischer,  Nibelungenlied.  14 


210  n.    Der  Verfasser  des  Nibelungenliedes. 

der  Sage  halten,  soweit  diese  entweder  durch  ausdrückliche 
Zeugnisse^)  als  einzeln  gesungen  constatiert  sind  oder,  ohne 
solche  Zeugnisse,  sich  zu  abgeschlossenen  Einzelgesängen  ihrem 
Inhalte  nach  eignen.  Solcher  Abschnitte  ergeben  sich  nach  den 
beiden  angegebenen  Kriterien  acht:  1)  Siegfrieds  Geburt  und 
Erziehung;  2)  Autstiftung  zum  ürachenkampf  durch  Regln, 
Drachenkampf  und  Regjns  Ermordung^);  3)  Erlösung  Brünhilds 
und  Verlobung  mit  ihr;  4)  die  Nibelungen  und  Kriemhild,  Siegfrieds 
Vermählung;  5)  Erwerbung  Brünhilds  für  Günther;  tij  Zank  der 
Königinnen  und  Siegfrieds  Ermordung;  7)  Versöhnung  zwischen 
Kriemhild  und  den  Burgunden,  Vermählung  mit  Etzel;  8)  Ein- 
ladung und  Untergang  der  Burgunden.  —  In  diesen  acht  Liedern 
ist,  abgesehen  von  den  nordischen  Anhängseln,  die  ganze  Sage 
erschöpft;  es  sind  eher  zu  \ie\G  als  zu  wenige  Lieder  ange- 
nommen. Die  drei  ersten  können  verbunden  werden,  ebenso  die 
zwei  letzten.')  Durch  bestimmte  Zeugnisse  gesichert  sind  die 
Lieder  IL  VI.  VIII. ^)  Im  Nibelungenliede,  zumal  in  den 
Lachmannischen  Liedern,  findet  sich  nur  der  Inhalt  von  IV — VIII, 
nicht  der  von  I — III.  Die  Verfasser  des  Gedichts  haben  allem 
Anschein  nach  I  nicht  gekannt;  sie  kannten  II  und  III,  nahmen 
sie  aber  nicht  auf.  Das  Lied  vom  Drachenkampfe  war  schon  von 
dem  über  die  Horterwerbung  getrennt.  Dem  Licde  IV  entspricht 
Lachmanns  erstes  Lied,  dem  aber  der  Schluss,  Siegfrieds  Ver- 
mählung, fehlt.  Lachmann  IL  III.  finden  sich  sonst  nicht  wider. 
Dem  fünften  Liede  entsprechen  Lachmann  IV.  V®),  dem  sechsten 


2)  Müllert  führt  als  solche  an:  den  Marner,  Hugo  von  Trimberg,  Saxo 
Grammaticus ,  das  Siegfriedslied,  die  drei  färöischen  und  die  zwei  dänischen 
Volkslieder. 

3)  In  Deutschland  hat  sich  dieses  Lied,  wohl  schon  im  zwölften  Jahr- 
hundert, in  zwei  2;espalten,  in  eines  vom  Drachenkampf  und  eines  von  der 
Uorterwerbung;  beide  sind  im  Siegfriedsliede  wider  zusammengesungen,  doch 
so,  dass  man  die  frühere  zeitweilige  Trennung  noch  erkennt. 

4)  Auch  die  Thidrekssaga  einzahlt  die  drei  ersten  Lieder  fortlaufend, 
wahrend  sie  die  anderen  alle  einzeln  erzählt,  d.  h.  jedesmal  eine  neue  Erzählung 
einflicht,  ehe  sie  von  einem  Licde  zu  einem  anderen  übergeht. 

5)  11:  Marner  von  ..Siegfrieds  Wurm"  und  dem  "Ymelunge  Hort"*; 
VI:  Marner  von  ..Siegfrieds  !Mord" ;  VIII:  Marner  .jven  Kriemhild  verriet', 
Hugo  von  Trimberg  „Kriemhilde  mort",  Saxos  ..speciosissimii/n  carme7V'  über 
.Mrimildcc  cr<ia  fralres i^erfidia.'^  Die  drei  färöischen  Volkslieder  enthalten: 
h  I.  H,  2)  III^VI,  .3)  VII.  VIU;  die  zwei  dänischen:  1)  V.  VI,  2)  VHI. 

G)  [Müller  sagt  (S.  13.  Z.  1.  2.):  „Unser  fünftes 'Lied  würde  Lachmanns 
fünftem  und  sechstem   entsprechen";  was  aber  dem  Sinne  und  Zusammen- 


A.    Die  vorhandenen  Theorioen.  211 

Lachmann  VI — IX,  dem  siebenten  Laclnuann  X  —  XII,  dem 
achten  Lacliniann  XIII — XX. 

Woiterliiu  beschäftigt  sich  Müller  mit  den  Veränderungen, 
die  die  Lieder  durch  die  Zeit  erfahren  musten  und  erfahren  haben. 

Die  eine  derselben  bezieht  sieb  auf  die  Form,  die  andere 
auf  den  Inhalt. 

In  formeller  Beziehung  ninmit  Müller  Entwicklung  der 
vierzeiligen  Strophe  aus  einer  älteren  zweizeiligen  an;  diese 
Entwicklung  lalle  zusammen  mit  der  durch  den  Einfluss  der 
höfischen  Poesie  hervorgerufenen  Veränderung  des  volksthüm- 
liehen,  springenden,  objectiven  Tons  in  einen  künstlichen,  lang- 
sameren, subjectiven.  In  Beziehung  auf  den  Inhalt  findet  sich 
die  alte  Sage  im  Xlbelungenliede  mehrfach  alteriert');  insbe- 
sondere hat  dasselbe  mehrere  Personen,  welche  entweder  gar 
nicht  hergehören  oder  doch  nicht  ü])erall  da  am  Platze  sind,  wo 
sie  genannt  werden.^) 

Durch  die  erwähnten  Veränderungen  wurde  das  epische 
Lied  immer  grösser  an  Umfang ;  eine  ähnliche  Erweiterung  haben 
ausser  dem  Nibelungenlied  auch  andere  Gesänge  der  deutschen 
Heldensage  ertahren.  Das  Streben,  kürzere  Lieder  zu  erweitern, 
muss  schon  ziemlich  frühe  angefangen  haben.'')  Neben  dem 
Fortsingeu  einzelner  Lieder  muste  man  im  dreizehnten  Jahr- 
hundert jedenfalls  bald  anfangen,  an  das  eine  ein  anderes  und 
ein  drittes  zu  fügen,  so  dass  alle  drei  ein  Ganzes  bildeten. 
Dabei  war  Umdichtung  noth wendig,  welche  freilich  auch  ohnediss 
anzunehmen  wäre. 

Die  Grundlage  des  Nibelungenliedes  —  damit  geht  Müller  zu 
der  Entstehung  desselben  —  über  mögen  etwa  4 — 5  Lieder  sein. 
Das  Lied  von  Kriemlulds  Verrath  hatte  sich  wohl    vor  seiner 


hange  nach  nur  ein  Schreib-  oder  Druckfehler  anstatt  ..viertem  und  iiinftein" 
sein  kann.] 

7)  [Ausser  dem  in  unserer  Abhandlung  §§  39  —  42  Erwäliiitcn  liihrt 
^liillor  noch  verschiedenes  Andere  von  geringerem  Belaug  an.] 

s)  Piligrim,  Gere,  Sindolt  und  Ilunolt  gehören  weg;  Volker  und  Danc- 
wart  sind  an  ihrem  Platze  nur  in  der  zweiten  Hälfte  des  Gedichts,  Rumolt 
nur  da,  wo  er  vom  Zuge  nach  Hunenland  abräth,  Eckewart  nur  da,  wo  er 
auf  der  Mark  schlafend  gefunden  wird  und  die  Burgundcu  warnt,  Uote  mir 
da,  wo  sie  Kriemhüds  Traum  deutet  und  da,  wo  sie  die  Brüder  durch  f]r- 
zähluug  ihres  eigenen  Traums  warnt;  Sigmund  ist  nach  der  sonstigen  Sage 
längst  tot. 

9)  [Wofür  Müller  den  König  ßuother  anführt.] 

14* 


21  2  n.    Der  Verfasser  des  Nibelungenliedes. 

Einfügung  in  das  Ganze  der  Form  schon  genähert,  die  es  als 
zweiter  Theil  des  Xihehmgeiiliedes  hat.  Lachmanns  Eintheihnig 
ist  nicht  ganz  ungcgründet ;  meist  aber  shid  seine  Abtheihmgen 
keine  ursprünglichen  Lieder,  sondern  nur  Abschnitte  eines 
grösseren  Ganzen.'") 

Hat  die  Ansicht  vom  Wachsen  und  Zusammensingen  der 
Lieder  Grund,  so  muss  auch  für  einzelne  grössere  Partieen  des 
Gedichts,  namentlich  liir  mehrere  Lachmanuische  Lieder,  ein 
Verfasser  nachgemesen  werden  können.  So  rührt  denn  der 
erste  Theil  des  Gedichts,  Lachmann  I — YIU,  von  zwei 
Verfassern  her,  deren  zweiter  das  Werk  des  ersten  tiber- 
arbeitete. Dem  ersten  Verfasser  gehören  Lachmanns  e r s t e s 
und  viertes  Lied  an;  er  dichtete  in  alterthtimlich  schmuckloser 
Manier.")  Seine  Dichtung  zerfällt  augenscheinlich  in  kleinere 
Abschnitte,  die  für  sich  gewissermaassen  Ganze  bilden,  „Rha- 
])Sodieen'"-);  zwei  Abschnitte  fehlen,  die  Vermählung  Siegfrieds 
und  Günthers,  sowie  Brünhilds  Bändigung  enthaltend.  —  Die 
Dichtung  in  Rhapsodieeu  war  wohl  diejenige  Form  des  deutscheu 
Nationalepos,  in  welcher  es  zuerst  aus  dem  Bereich  des  im 
strengsten  Simie  diesen  Namen  verdienenden  Volksliedes  heraustrat. 


10)  Gegen  Lachmanns  Lieder  spricht:  I)  dass  sie  meistens  keine  abge- 
schlossene Handhing  haben;  2)  dass  die  Anfange  in  der  Regel  Einzelgesängen 
niclit  gemäss  sind;  3)  dass  sich-  mehrere  Lieder  auf  einander  bezichen  und 
;;o  die  bestehende  Keihenfolgc  voraussetzen,  1)  dass  Personen,  die  zum 
erstenmal  eingeführt  werden,  sonst  in  der  Regel  näher  charakterisiert  werden, 
als  in  Lachmanns  Liedern  der  Fall  ist.  Demnach  müste  jedenfalls  bei  der 
Annahme  von  Lachmanns  Eintheilung  eine  grosse  Veränderung  der  Lieder  an- 
genommen werden,  und  die  Ausscheidung  von  Zusätzen  würde  nicht  genügen. 

11)  Die  Manier  ist  herb,  der  Ton  der  Volkspoesie  noch  näher  stehend. 
Die  Handlang  sclireitet  rasch  vorwärts;  die  Beiwörter  sind  einfach,  kräftig, 
sich  [oft  widorholend ;  es  linden  sich  alterthümlich  formelhafte  Verse  mit 
:!  1  Ikiwörteni,  dagegen  keine  weiter  ausgeführten  Vergleichungen.  In 
Reim  und  Ausdruck  stimmen  Lm.  I  und  IV  zusammen. 

12)  Solche  sind:  Str.  1-16.  20— 60.  72— 79.  SO— lO:^.  32.5— 334.  371  — 130; 
für  das  erste  Lied  Lachmanns  hat  Müller  diese  Rhapsodieen  genauer  so  her- 
gestellt [wobei  die  eckige  Klammer  Strophen  bedeutet,  welche  dem  ersten 
Dichter  nicht  angehören,  an  deren  Stelle  aber  früher  andere  von  ähnlichem 
Inhalte  gestanden  zu  haben  scheinen]: 

Rhaps.     I:  Str.  [2.  4.  7.]  13—16. 

Rhaps.    II:  Str.  20.  22.  45.  49.  .")1.  .')3.  .-)l.  .-)(;— 60. 

Rhaps.  III:  Str.  72-74.  76     79. 

Rhaps.  IV:  Str.  SO.  S2— 87.  [88,1.   101,2—4.]   102.   103. 

Rhaps.    V:  Str.   105-107.   109.   118  —  121.   123.  124.   126.  127.   129. 


A.    Die  vurhauik'acu  Tlicuriccu.  2  Di 

Diese  Mittelstiilc  des  Epos  ciitsprung-  natiirgeuiäss  ziig-lcicli  mit 
der  Kniistdichtiing;  sie  war  für  den  mündliclicii  Vortrag  g'uiiz 
besonders  passend,  gal)  Ruliepuncte  und  erleichterte  das  I>elialtcii 
der  Lieder,  wich  aber  in  der  Folge  einem  anderen  Einth(nluiigs- 
princip. 

Dieses  war  die  Einthciimig  in  ,, A ventiuren",  welche  nur 
die  Abschnitte  eines  zusaunnenhängenden,  wie  die  Ritterepen 
l'ür's  Lesen  bestimmten,  Gedichts  andeuten  sollen.  Die  Sprünge 
zwischen  den  Rhapsodicen  schliesst  diese  Eintheilung  aus;  daher 
die  Fülle  von  interpolierten  Strophen  im  Nibelungenliede,  die 
sich  besonders  am  Anfang  und  Ende  alter  Rhapsodieen  linden. '"'j 

Die  Lachmannischen  Lieder  IL  IIL  V — VlII  shid  ganz 
deutlich  von  einem  andern  Verfasser,  der  jünger  als  der  erste  ist 
und  deshalb  der  zweite  heisst.'*)  Die  Begebenheiten  dieses  Theils 
hangen  eng  zusammen  und  setzen  immer  einander  voraus.'"') 
\'iel leicht  ist  es  eben  dieser  Dichter,  welcher  die  Eintheilung  in 
Aventinren  in  das  Gedicht  eingeführt  hat'");  wenigstens  hat 
sein  Werk  die  kleinen  Rhapsodieen  nicht,  auch  hat  es  wenig 
sjjätere  Zusätze  erfahren.  Der  Stil  dieses  Dichters  ist  sichtlich 
weicher,    höfischer,  jünger  als  der  des  ersten.'")     Dieser  selbe 


i:<)  All  einigen  Stellen  ist  eine  Rhapsodie  in  eine  Avcntiurc  verwandelt, 
wie  Lni.  I,  Rh.  1;  Lm.  IV,  Rh.  1.  2;  am  Schlüsse  linden  sicji  bedeutende 
Zusätze.  Aus  den  drei  oder  vier  letzten  Rhapsodieen  von  Lni.  I  sind  2 
Aventiuren  geworden. 

14)  Er  sang  die  nicht  sagengemässeu  Abschnitte,  Lni.  11. 111,  einen  grossen 
l'heil  von  VI.  VII  wahrscheinlich  ohne  eine  ältere  Grundlage,  welche  er  für 
die  mehr  sagengemässeu  Stellen  sicher  hatte. 

15)  Siegfried  ist  hier  immer  aus  Niederlaud.  was  er,  ausser  Str.  2o  [N.  B.I], 
beim  ersten  Verfasser  nicht  ist. 

l(j)  Die  Abtheilung  in  Lieder,  welche  Lachmann  gemacht  hat,  schliesst 
sich  in  dieser  Partie  mehr  der  überlieferten  in  Aventiuren  an. 

17)  Der  Ton  ist  oft  weich,  weniger  kurz  und  scbraiicklos.  Das  Fort- 
schreiten der  Handlung  ist  langsamer,  es  finden  sich  keine  Sprünge;  (li<; 
Manier  ist  breiter,  der  Stil  geschmückt,  dem  höfischen  sick  nähernd;  die 
Darstellung  subjectiv,  lobend  oder  tadelnd,  ethisch  gefärbt,  mit  allgemeinen 
Sentenzen  verbrämt.  Von  alle  dem  hat  der  erste  Dichter  gar  nichts.  Bei 
dem  zweiten  Dichter  treten  die  Charaktere  deutlicher  und  bestimmter  hervor; 
Gedanken  und  Gesinnungen  werden  erwähnt  und  gerne  zu  den  Begebenheiten 
in  Contrast  gesetzt.  Der  Verfasser  ist  mit  höfischem  Wesen  bekannt,  schildert 
höfische  Dinge  mit  Vorliebe,  ist  dem  Frauencultus  ergeben.  Er  hat  einige 
specitische  Wendungen  und  Ausdrücke.  Die  J'orm  ist  bei  ihm  viel  ausge- 
bildeter als  beiden!  ersten  Dichter, -der  Satzbau  manchfacher  und  gewandter, 
der  Ausdruck  geschmückter;  es  finden  sich  weniger  althergebrachte  epische 


214  II.    L)er  Verfasser  des  Nibelungenliedes. 

zweite  Dichter  hat  Einiges  von  dem  verfasst,  was  Lachniann 
Fortsetzungen  oder  Zusätze  nennt.  Die  Zusätze  in  der  Arbeit 
des  ersten  Dichters  entsprechen  im  Allgemeinen  dem  Ton  des 
zweiten  sehr.'*)  Inwieweit  dieser  ausserdem  das  Werk  seines  Jf 
Vorgängers  verändert  haben  mag  oder  ob  er  es  sonst  unverändert 
gelassen,  muss  dahingestellt  bleiben.  Es  finden  sich  aber  auch 
Liederfortsetzungen,  die  nicht  von  dem  zweiten  Dichter  her- 
rühren können;'-')  ausserdem  mehrere  ganz  müssige  und  schlechte 
Strophen. 

Vom  neunten  Lied  Lachmanns  an  bricht  wider  eine  ältere 
Grundlage  bald  mehr  bald  minder  deutlich  hervor,  bald  fehlt 
sie  ganz.  Die  Abweichungen  in  der  Sage  zeigen  aber,  dass 
dieselbe  jedenfalls  nicht  von  dem  ersten  Dichter  des  ersten 
Theils  herrührt."")  Diese  ältere  Grundlage  hatte  allem  Anschein 
nach  wider  kleine  Rhapsodieen.^')  Daneben  findet  sich  im 
zweiten  Theil  des  Gedichts  widerum  eine  ne^uere  Bearbei- 
tung, in  welcher  wohl  der  zweite  Verfasser  des  ersten  Theils 
zu  erkennen  ist.^"^)  Bisweilen  liegt  Aelteres  und  Neueres  un- 
vereint neben  einander. 

54.  I 

Die  Liedertheorie,  sei  es  in  der  Form,  welche  ihr  Lacli- 
mann,  oder  in  der,  welche  ihr  W.  Müller  gegeben  hat,  verdankt 
ihren  Ursprnug  deutlich   der   von  F.  A.  Wolf  angeregten  Unter- 


Formeln.  Der  Constructionsübergang,  den  der  erste  Dichter  nicht  hat,  ist 
vielleicht  dem  zweiten  erlaubt.  Die  Reime  beider  Dichter  zeigen  auf  den 
ersten  Blick  grosse  Uebereinstimmung;  doch  sind  bei  dem  ersten  Verfasser 
die  Keimworte  voller  und  gewichtiger,  indem  er  einsilbi^je  Partikeln,  überhaupt 
kleinere  Wörter,  im  Reime  meidet,  was  der  zweite  nicht  tluit. 

IS)  So  gehört  4'.)()  —  5TU  dem  zweiten  Verfasser  an;  die  von  Ladimanu 
aus  seinem  vierten  Liede  ausgestosscneu  Strophen,  in  denen  Hagen  genannt 
ist,  werden,  wenn  auch  nicht  alle,  von  demselben  Verfasser  stammen. 

19)  So  Str.  451—480,  eine  Stelle  ohne  sagenhaften  Gelialt,  mit  einem 
dem  zweiten  Dichter  fremden  Humor,  noch  jünger  als  dieser. 

20)  Diese  Abweichungen  in  der  Sage  stimmen  mit  der  Thidrekssaga 
übereiu,  mit  der  sich  von  jetzt  an  überhaupt  oft  wörtliche  Uebereinstimmung 
findet. 

21)  Z.  B.  Str.  '.111-1)54.  iii.TC)— lOT'.i.  1571  — l.")M;  besonders  stark  tritt 
die  Eintheilung  in  Rhapsodieen  liervor  in  Lm.  XV— XVII;  diss  erklärt  dort 
auch  die  Verwirrung  der  Reihenfolge. 

22)  So  z.  B.  Str.  1242—132»).  ITbT— isa5. 


A.    Die  vorhandenen  Theoriceu.  215 

siK'liuiig-  Über  die  bomcrisclicn  Gesäng-e.')  Auch  in  der  Be- 
traclituiij^'  dieser  zeigen  dieselben  drei  Standi)unctc  vertreten, 
welche  sich  in  der  Nibclungenfrage  geltend  gcnuicht.  haben :  der 
der  ünitarier'-),  ihm  entgegengesetzt  derjenige  der  „Kleinlieder- 
jäger""*)  und  zwischen  beiden  derjenige,  dessen  Vertreter  mehr 
eine  Verschmelzung,  ein  allmähliches  Zusammenwachsen  aus 
grösseren  Bestandtheilen  annehmen.')  Es  wäre  aber  verkehrt, 
deshalb,  weil  in  der  homerischen  Frage  eine  dieser  Anschauungen 
gegenwärtig  so  ziemlich  die  Oberhand  gewonnen  hat,  diese 
Anschauung,  die  von  dem  Zusammenwachsen  aus  verschiedenen 
Bestandtheilen,  eben  deswegen  in  apriorischer  Weise  sofort  auf 
die  Xibelungeufrage  zu  übertragen.  Denn  bei  aller  Verwandt- 
schaft beider  Fragen  ist  doch  die  historische  Stellung  des 
Xil)elungenliedcs  eine  ganz  andere  als  die  der  homerischen  Ge- 
sänge. Die  Stellung  zu  Anlaug  aller  nationalen  Litteratur,  in  einer 
Zeit,  in  der  die  litterarische  Verwendung  der  Schrift  gegründeten 
Zweifeln  unterliegt,  diese  Stellung  des  homerischen  Epos  hat  das 
Nibelungenlied  nicht.  Die  bestimmten  Notizen  über  den  getrennten 
Vortrag  der  homerischen  Gesänge  durch  die  Rhapsoden,  über 
eine  Zeit,  da  diese  Gedichte  nur  in  der  Form  getrennter  Ab- 
schnitte bestanden"),  endlich  der  Angelpunct  der  homerischen 
Frage,  die  Peisistratidenreceusion,  —  das  sind  alles  Dinge,  die 
auf  das  Nibelungenlied  keine  Anwendung  finden,  da  sich  von 
ähnlichen  Zeugnissen  für  dasselbe  keine  Spur  findet.  Unrichtig 
wäre  es  aber,  wegen  des  Mangels  'solcher  Zeugnisse,  welche 
freilich  die  Liedertheorie  in  der  homerischen  Frage  sehr  wesentlich 


1)  Diss  hat  ja  Lachmann  selbst  (Urspr.  Gestalt  S.  3)  unumwunden  zu- 
gegeben. 

2)  Unter  den  Homerikern  vor  allem  Nitzsch  und  Bäumlein. 

3)  Lachmaun  auf  beiden  Gebieten,  neben  ihm  in  der  homerischen  Frage 
insbesondere  Köchly  für  die  Jlias,  La  Roche  für  die  Odyssee. 

4)  Dahin  für  die  Nibelungen  W.  Müller,  auch  Müllenhotf  mehr  oder 
minder;  in  der  homerischen  Frage  ist  diese  Anschauung  vertreten  und  sehr 
verbreitet  geworden  durch  G.  Grote,  Friedländer  und  Düntzer  für  die  Ilias. 
durch  A.  Kirchhoff  für  die  Odyssee.  (Mit  Müllei'fe  Theorie  von  den  Nibelungen- 
liedern Hesse  sich  am  genausten  wohl  die  moderne  Anschauung  von  der 
Entstehung  des  Pentateuch  vergleichen.) 

h)  Selbst  der  strengste  aller  Unitarier,  W.  Bäum  lein,  gibt  in  seiner 
conuneidatio  de  Homer o  eiusque  canninibus  (seiner  Ausgabe  Homers,  Leipzig, 
bei  B.  Tauchnitz,  \^h\,  vorgedruckt),  S.  XII,  §  7,  zu:  FuU  ujilur  leiupus, 
(/HO  Iliadls  et  Odijsscm  solukc  rhapsodko  in  vul/jus  cogniUe  erant,  ipsa 
poemata  i'jnorahantur. 


210  II.   Der  Verfasser  des  Nibeluugenliedes. 

uuterstützt  habcu,  uuu  .sogleicb  dem  Nibelungeulicde  die  Ent- 
stehung aus  Liedern  abzusprechen.  Es  hängt  Ider  alles  von  der 
genauen  Betraclitung  des  Gedichts  sell)st  ab. 

Zu  unterscheiden  ist  hier,  wie  Heinrich  Fischer  richtig  be- 
merkt'^),  zwischen  der  Liedertheorie  überhaupt  und  deren  ver- 
scliiedenen  Gestaltungen.  Ist  die  erstere  unrichtig,  so  sind 
natürlich  die  letzteren  es  auch ;  erweisen  sich  diese  als  falsch,  so 
wird  die  Ansicht  von  der  Entstehung  aus  Liedern  vielleicht  er- 
schüttert, aber  immer  noch  möglich  sein.  Wir  betrachten  zuerst 
Lachmanns  Theorie.  Sie  lässt  sich  kurz  abfinden,  da  Heinrich 
Fischer  in  seinem  „Nibelungenli^  oder  XibelungenliederV" 
eine  gründliche  Kritik  derselben  gegeben  hat. 

Ehe  Fischer  Lachmanns  Kritik  selbst  untersucht,  weist  er 
(s.  0.  §  9j  Vilmars  Versuch,  durch  einen  Xachweis  alter  Allittera- 
tionen  Lachmanns  Theorie  zu  stützen,  zurück,  weil  derselbe  erstens 
Lachmanns  eigenen  Sätzen  widerspricht,  nach  welchen  die 
zwanzig  Lieder  nicht  \oy  1 190  gedichtet  und  in  ihrer  ursprüng- 
lichen metrischen  Form  auf  uns  gekommen  sind,  und  weil 
zweitens  das  Gegentheil  von  dem,  was  Vilmar  erhärten  will, 
sich  ergibt,  sobald  man  einzelne  Theile  des  Gedichts  auf 
Allitterationen  hin  betrachtet.') 

In  der  Prüfung  von  Lachmanns  Theorie  berücksiciitigt 
Fischer  zugleich  die  Einzelkritik  Müllenhoffs.**j  Er  untersucht 
zunächst  Lachmanns  Kriterien,  wie  sie  Müllenliotf  heraus- 
gestellt haf'j,  und  beweist  in  genauer  Untersuchung'"),  dass  die 
vier  ersten  derselben")  von  Lachmann  mit  nichten  consequent 
angewendet  worden  sind.'-)    Die  vier  letzten")  sind  subjectiver 


ß)  Nibeluugenlied  oder  Nibelungeulieder "■'   S.  141  ff. 
7)  Die  Sache  ist  von  uuerheblicbem  Belang  und  sclion  >; '.»etwas  genauer 
erwähnt  worden  (S.  31). 

S'  Abgesehen  von  seiner  Theorie  von  den  Liederbüchern. 

'.j)  s.  §  -jo,  not.  1^  (S.  r.n  f.). 

lUj  Nachdem  Iloltzmann  (Kampf  etc.  S.  ii.j  — 4<i)  eine  unvollständigere 
Kritik  dieser  Dinge  gegeben^ hatte. 

Hl  D.  h.  zweisilbiger  Auftact,  Cäsurreiin.  Constructiuosübcrgang  und 
Kegeiii;sigkeit  der  Anrede. 

12)  Besonders  die  Xichtanwendung  mehrerer  l\ritcrien  auf  das  zwanzigste 
Lied,  das  doch,  weil  zum  Lesen  bestimmt,  mehr  iStrengc  in  diesen  Puncteu 
zeigen  sollte,  kommt  hier  in  Betracht. 

l;5i  „Nichtigkeit  der  Schlusszeilen,  armseliges  Zusammenbetteln  der 
Ausdrücke,  müssiges  Anbringen  der  burgundischen  Helden,  wohlfeile  Be- 
schreibungen." 


A.    Die  vorliaiuk'iioii  Tlicdriocn.  217 

Art  und  hei  jeder  ein/.elueii  Stelle,  wo  sie  Lacliiii;niii  :inj;e\v;nuH 
hat,  /u  prüfen.  Die  darauf  folgende  Kritik  vun  Laclnn;inns 
Zablenverliältnissen  lial)en  wir  sehon  i?  51  erwähnt. 

Den  Haupttheil  von  Fischers  Untersuchung  bildet  die  Be- 
trachtung von  Lachnianns  Kritik  der  einzelnen  Lieder.  Hievon 
einen  ausführlichen  Bericht  zu  geben,  ist  übertlüssig  und  würde 
>iel  zu  weit  führen.  Die  drei  Gründe,  mit  denen  hier  gegen 
Lachmann  oi)eriert  wird,  sind  die,  dass  1)  die  Laclimannischen 
Lieder  keine  Lieder  sind,  sondern  sämmtlich  Abschnitte  eines 
grösseren  Ganzen,  indem  sie  auf  einander  voraus-  und  zurück- 
deuten''j;  2)  dass  die  Athetesen  LachniMuns  unbegründet  sind, 
indem  sie  auf  den  erwähnten  theils  inconsequent  ange>vandteii 
theils  rein  subjectivcn  Kriterien  beruhen;  dass  3)  Lachmann 
sich  stets  in  einem  Cirkel  bewegt,  indem  er  den  einzelnen 
Liedern  einen  bestimmten  Charakter  zuspricht,  der  sich  erst  nach 
Auswerfung  gewisser  Strophen  ergiltt,  und  sodann  um  dieses 
Charakters  willen  die  betreöenden  Strophen  athetiert. 

Den  folgenden  Abschnitt  in  Fiachers  Werke,  „die  Lieder- 
theorie", werden  wir  unten  berühren;  der  letzte,  ., die  Hand- 
schriftenfrage",  ist  sclioii  v<  •)  erwähnt  worden. 

Fischer  scheint  uns  in  der  That  mit  Erfolg  bewiesen  zu 
haben,  dass  Lachmauns  Theorie  ungegründet  und  unhaltbar  ist. 
Schon  durch  die  Umstossung  der  Autorität  von  .1  war  diese 
Theorie  heftig  erschüttert.  Der  endgiltig  geführte  Beweis  aber, 
dass  die  Anstösse,  welche  in  dem  Gedicht  vorhanden  sein  sollten 
und  welche  Anlass  der  Liedertheorie  wurden,  nicht  vorhandcii 
oder  doch  unbedeutend  genug  sind,  der  Beweis,  dass  die  ganze 
Kritik,  welche  zur  Herstellung  der  Lieder  tiihrte,  inconsequent 
und  oft  genug  willkürlich  Avar,  dieser  Beweis  muss  Lachmanns 
Theorie  völlig  vernichten.  Wenn  Lachmann  oftmals  mit  feinem 
Geschmack  schlechte  Strophen  herausgefühlt  hat,  wenn  seine 
Lieder  in  der  That  im  allgemeinen  die  schönsten  Strophen  ent- 
halten, so  ist  das  kein  Beweis  iür  seine  Theorie.  Die  poetische 
Begabung  des  Dichters  ist  ül)crhaupt,  soweit  sie  sich  auf  die 
Darstellung  selbst,  nicht  auf  den  Gegenstand  bezieht,  keine  sehr 
hochstehende.  Vieles  Schöne  mag  der  Dichter  aus  älteren 
Liedern  entlehnt  haben ;  dass  es  ihm  selbst  an  Darstellungsgabe 
im  Einzelnen  fehlte,  ist  kaum  bestritten.  Auch  eine  gewisse 
Verschiedenheit  des  Tons  in  einzelnen  Partieen  des  Gedichts  mag 

lli  Das  bat  «cliou  AV.  Müllt-r  bemerkt;  s.  §  5;;.  not.   10  (S.  ■_M2). 


218  n.   Der  Verfasser  des  Nibelungenliedes. 

vielleicht  weniger  auf  der  Verschiedenheit  des  Erzählten  beruhen 
als  auf  der  der  Vorlagen,  welche  der  Dichter  benutzte.  Jedenfalls 
ist  es  nicht  möglich,  mit  Laclimann  um  dieser  Verschiedenheiten 
willen  anzunehmen,  dass  uns  verschiedene  Lieder  in  ihrer  ur- 
sprünglichen Form  vorliegen.  Der  Beweis,  den  Bartsch  (s.  o.) 
geführt  hat,  dass  in  allen  Aveseutlichen  Dingen  der  Form  alle  Theilc 
des  Gedichtes  gleich  sind,  ist  zu  sicher,  als  dass  man  nicht  das 
ganze  Gedicht  in  der  Form,  wie  es  uns  aus  der  Vergleichung 
der  Handschriften  sich  ergibt,  für  das  Werk  e  i  n  e  s  V  e  r  f a  s  s  e  r s, 
d.  h.  eines  solchen  halten  müste,  der  nicht  bloss  vorhandene 
Stücke  in  ihrer  vorhandenen  Form  zusammengesetzt  und  durch 
►Strophen  eigener  Mache  verbunden  hat,  sondern  der  alle  Strophen, 
welche  die  Handschriftenuntersuchung  als  echt  gelten  lässt.  ver- 
fasst,  jedenfalls  allen  ihre  Form  gegeben  hat,  mag  er  nun  an 
ältere  Lieder,  die  er  benutzte,  sich  auch  vielleicht  ziemlich 
wörtlich  angeschlossen  haben.  P^in  solcher  ist  aber  nicht  mehr 
ein  Sammler  und  Ordner  von  Liedern,  sondern  er  ist  ein  Dichter, 
wenn  auch  vielleicht  ein  solcher,  der  auf  bedeutende  Originalität 
keinen  Anspruch  machen  darf  Von  einer  Liedertheorie  kann 
so  keine  Rede  mehr  sein. 

Damit  haben  wir  bereits  den  Boden  der  S])eciell  Lach- 
mannische^i  Liedertheorie '■")  verlassen  und  unsere  Untersuchung 
dreht  sich  um  die  Liedertheorie  im  Allgemeinen.  W.  Müller  hat 
zu  Anfang  seines  Schriftchens  "*)  mehrere  Gründe  geltend  ge- 
macht, ^velche  die  Verschiedenheit  der  Verfasser  beweisen 
sollen.  Heinrich  Fischer  hat  in  dem  Abschnitt  „die  Lieder- 
tiieorie"  diese  Gründe  berücksichtigt  und  zurückgewiesen.  Zwei 
derselben,  diejenigen,  welche  rein  ästhetischer  Natur  sind,  haben 
wir  schon  betrachtet.  Einen  weiteren  Grund,  das  Vergessen 
früher  hervorgehobener  Personen,  hat  Fischer'")  genügend  be- 
sprochen: die  betretfenden  Personen  verschwinden  einfach,  sobald 
sie  nichts  mehr  zu  thun  haben.'*) 


15)  Mit  dieser  ist  auch  Mülleuhofts  Theorie  erledigt;  diese  hält  sich 
ja  in  der  Einzelkritik  ganz  auf  dem  Boden  Lachmanns  und  operiert  fast 
einzig  mit  den  iistliotisclien  (iosichtspuncten,  die  wir  berührt  haben;  die 
Tlieorie  von  den  Liederbüclu'rn  geht  uns  niclits  an;  sie  mag  auf  andere 
Gedichte  Anwendung  linden  (wenn  sie  überhaujjt  einigermassen  bewiesen 
ist),  auf  das  Nibelungenlied  rindet  sie  keine;  s.  auch  unten  not.  25. 

16)  S.  auch  oben,  §  yi  zu  Anfang. 

17)  L.  c.    S.  142. 

18)  Besonders   auffallend   ist  dieses  Argument  aus  dem  Verschwinden 


A.    Die  vüiluiiulcuen  Tlieorieeii.  210 

Die  Widcrsprüclic,  die  sich  im  (jodiciitc  tiiideii  solllcn,  hat 
Fischer  auf  sieben  reduciert"');  von  diesen  zieht  er  zwei  als 
uiclitssagend  ab-");  um  die  anderen  zu  entfernen,  recurriert  er 
auf  C,  weiclic  vier  derselben  entfernt.^')  Das  Letztere  können 
wir  nicht  thun,  da  wir  eher  anzunehmen  i;-eneigt  werden, 
dass  C  mit  Bewustsein  diese  Widersprüche  entfernt  habe.  Aber 
wir  werden  nach  dem  Obengesagten  annehmen  dürfen"),  dass 
diese  AVidersi)rüclie  aus  den  jeAveiligen  Vorlagen  des  Dichters 
stammen,  die  derselbe  ein  wenig  allzutreu  benutzte.-^) 

Noch  ein  Grund  könnte  vielleicht  für  die  Liedertheorie  im 
Allgemeinen  geltend  gemacht  werden:  die  Anonymität  des 
Verfassers,  der  nicht  nur  selbst  seinen  Namen  (im  Zusanmien- 
hang  mit  dem  vollständigen  Zurücktreten  des  Dichters  im  ganzen 
Liede)  verschwiegen  hat,  sondern  auch  von  keiner  anderen  Seite 
überliefert  ist.  Es  ist  dieses  Verschweigen  des  Dichternamens 
in  der  höfischen  Epik  freilich  nicht  Sitte,  wohl  aber  finden  wir 
es  in  den  Dichtungen,  welche  nationale  Stoffe  be- 
handelt haben.  Man  könnte  allerdings  von  Lachmannische r 
Seite  und  vielleicht  mit  Recht  einwenden,  dass  diss  eine  durch 
den  Vorgang  des  Nibelungenlieds  veranlasste  Gewohnheit  ge- 
wesen sei"-');  allein  gerade  diss  spricht  nicht  eben  zu  Gunsten  der 
Liedertheorie.  Denn  die  Verfasser  jener  nationalen  Dichtungen 
musten,  wenn  sie  diese  Eigenthümlicbkeit  des  Verfassers  unseres 
Gedichtes  nachahmten,  dasselbe  doch  offenbar  als  ein  Ganzes, 
als  das  Werk  eines  Verfassers  ansehen;  wüsten  sie,  dass  das 
Gedicht  ursprünglich  aus  vereinzelten  Liedern  bestand,  so  konnte 
ihnen  unmöglich  in  den  Sinn  kommen,  etwas  nachzuahmen,  was 


einer  Person  bei  Lat-limann;  denn  ein  Dichter,  welcher  eine  Person,  die 
doch  nichts  zu  thun  hat,  überall  wider  nennen  sollte,  thäte  gei'ade  das,  was 
Müllenhoff  den  luterpulatoren  zuschreibt:  müssiges  Anbringen  der  Heiden, 
nur  damit  sie  nicht  vergessen  werden! 

1!))  Str.  7r)3,:<;  921  f.;  854,3;  H(jl,3;   I  tr,",  1  f. ;   lstil,3;   1417. 

20)  Stf.  763,3  und  '.121  f. 

2!)  C  hat  nur  den  ^Yidersl)ruch  Str.  1417. 

22)  Wenn  wir  nicht  diese  "Widersprüche,  die  ohne  grossen  Belang  sind, 
für  zufällige  Verseheu  des  Dichters  halten  wollen;  s.  Fischer  S.  Ss  und 
Bartsch,  Unters.  S.  376  f. 

23)  Diss  ist  auch  Bartschs  Ansicht;  s.  Unters    S.  375. 

24)  Pfeiö'er  hat,  freilich  nicht  in  Lachmannischem  Sinne,  auf  jene  Sitte 
aufmerksam  gemacht  und  sie  ebcij  als  Nachahmung  des  Nibelungenlieds  be- 
zeichnet; ..Der  Dichter  des  Nibelungenliedes"  sab  tin. 


220  11.    Der  Verfasser  des  Kibeliuigeuliedes. 

aas  einem  Umstände  zu  erklären  war,  der  in  ihren  eigenen 
Dichtungen  ganz  fehlte.-*"') 

Die  Annahme  also,  dass  die  Hitte  der  Anonynutät  in  den 
nationalen  Epen  aus  dem  Vorgange  des  Nibelungenliedes  zu  er- 
klären sei,  spricht  entschieden  tiir  die  Einheitlichkeit  seiner 
Abfassung.  Nehmen  wir  aber  an,  dass  das  Nibelungenlied  hier 
einer  schon  vorhandenen  Sitte  folge,  so  ist  die  Anonymität  des 
Verfassers  sehr  einfach  erklärt,  und  es  kann  somit  aus  derselben 
in  keiner  Weise  ein  Sclduss  auf  eine  .Mehrheit  der  Verfasser 
gezogen  werden.-") 

So  sehen  wir,  dass  alle  Gründe  für  die  Liedertheorie  fallen 
müssen;  auf  der  anderen  Seite  streiten  starke  positive  Gründe 
gegen  dieselbe.  Ausser  den  schon  angeführten,  der  Umstossung 
der  Autorität  der  Handschrift  .1  und  dem  Nachweise  von  der 
Gleichheit  der  Formbehandlung  im  ganzen  Gedichte,  mag  noch 
auf  den  Beweis  aus  der  ästhetischen  Einheit  des  Gedichts, 
wenn  er  auch  von  minderer  Stärke   ist,    hingewiesen   werden.''') 

Fällt  die  Berechtigung  der  Liedertheorie  überhaupt,  so  ist 
damit  auch  AV.  Müllers  Theorie  hinfällig.  In  der  Einzelkritik, 
wie  z.  B.  in  der  Stropheuathetese,  steht  Müller  doch  auf  demselben 
Boden  mit  Lachmann;  die  Unterschiede  zwischen  der  Dichtung 
des  ersten  und  der  des  zweiten  Dichters  fallen  in  eine  Kategorie 
von  Gründen,  die  wir  schon  berücksichtigt  und  als  beweis- 
unkräftig  dargestellt  haben.  Was  Müller  über  die  Einzellieder 
sagt,  die  sich  aus  der  Betrachtung  der  Sage  ergeben  sollen,  das 
beruht  theilweise  auf  derselben  Anschauung  von  der  sklavischen 


2.T|  Diss  beweist  auch  gegen  Müllenhoffs  Theorie  von  den  Liederbüchern  ; 
diese  hatten  sich  doch  wohl  in  dem  Kreise  der  Fahrenden,  dem  die  Dichter 
jener  jüngeren  Epen  angehören,  etwas  länger  erhalten  müssen;  oder  Mülleu- 
lioH'  wird  doch  nicht  annehmen  wuUcn,  dass  der  Sammler  der  zwanzig  Lieder 
sicii  nun  zugieicli  alle  erdeiikliclic  Mühe  gegeben  habe,  die  Liederbücher,  die 
er  cuinpiliert  hatte,  aus  der  Welt  zu  schaffen? 

'2ti)  Ohnehin  könnte  die  Anonymität  des  Verfassers,  wäre  sie  auch  nicht 
Gemeingut  der  nationalen  Epik,  einen  Schluss  auf  IMehrht'it  der  Verfasser, 
der  von  anderswoher  stanunte ,  verstärken ,  nicht  al)er  für  sich  allein  einen 
solchen  möglich  machen. 

21)  Es  sei  hier  kurz  auf  den  treffliclien  Aufsatz  von  Ludwig  Bauer, 
..  l>as  Lied  der  Nibelungen,  ein  Kunstwerk"  (Ludwig  Hauers  Schriften,  nach 
seinem  Tode  in  (dner  Auswahl  herausgegeben  von  seinen  P'reunden;  Stutt- 
gart 1847),  verwiesen,  welcher  in  einer  wohl  mandimal  ins  Ucbcrschwäng- 
liche  geratheuden  Darlegung  des  Inhalts  der  Nibelungen  deren  poetische 
Einheit  nachzuweisen  bemüht  ist. 


A.    Dir»  vorliandonon  Thooripen.  22t 

BelieiTScliung  der  Dicliter  diircli  die  Sage,  wie  sie  bei  Lacbmann 
uns  entgeg-entritt,  als  ob  an  die  v(»rliandenen  Abscbnitte  einer 
grösseren  Sage  ein  Dicbter  sieb  notbwendig  bätte  binden  müssen; 
andererseits  ist  diese  Tbeiiung  der  Sage  in  ibre  Abselniitte  von 
wenig  Einfluss  auf  den  Kern  der  ]\riilleriscben  Tlieorie  geblieben. 


O.). 

Sind  wir  naeb  dem  Ausgefiibrten  berecbtigt,  eine  einbeitlicbe 
Abfassung  des  Xibelungeidiedes  anzunelnnen,  so  sind  wir  aueb 
berecbtigt,  naeb  dem  Namen  oder  docb  der  Person  seines  \'er- 
fassers  zu  fragen.  Und  vm  dieser  Frage  bat  die  Forscbung  nielit 
nur  das  Reelit,  sondern  aueb  die  Ptiicbt,  weil  das  Nil)elungenlied 
ein  bedeutendes  Werk  ist,  dessen  Verfasser  zu  erforseben  niebt 
allein  das  Getübl  wobltbätig  anregen,  niebt  allein  die  wissen- 
scbaftlicbe  Akribie  befriedigen,  sondern  aueb,  bei  der  singulären 
Stellung,  die  das  Nibelungenlied  (nebst  der  Kudrun)  gegenüber 
der  ritterlicben  Dicbtung  als  ein  nationales  Dicbterwerk  ein- 
ninnnt,  uns  Aufkbirungen  geben  muss  ül)cr  das  Verbältniss, 
insbesondere  das  zeitliebe,  zwiscben  der  nationalen  und  der 
romanisiereiulen  Hofdicbtung.  üass  das  Nibelungenlied  keines- 
wegs als  ein  Volksepos  in  dem  Sinne  aufzufassen  ist,  in  welcbeni 
Lacbmann  es  fasste,  dürfte  erwiesen  sein.  Vielmehr  ist  es  — 
das  baben  auch  Lacbmanns  Anbänger,  freiwillig  oder  gezwungen, 
zugestanden  —  ebensogut  ein  Werk  bötiscber  Dicbtung,  als  die 
Werke  Hartmanns,  Wolframs  und  ibrer  Nachfolger');  nur  dass 
der  nationale  Inhalt  desselben  den  Verfasser  vor  überfeiner 
Manieriertheit  bewahrt  und  ihm  den  Sinn  für  stoffliche  Be 
deutendheit  wach  erbalten  bat,  den  die  ritterlichen  Epiker  und 
Lyriker  so  vielfach  über  dem  romanisierenden  Frauendienst  des 
dreizehnten  Jahrhunderts  und  dem  fast  übertriebenen  Streben 
nach  formaler  Glätte  und  Reinheit  verloren;  wie  umgekehrt  zu 
der  Formvollendung  der  romanisierenden  Dichter  die  Unbeholfen- 
heit des  Dichters  der  Nibelungen,  wie  sie  in  mancben  Dingen 
sich  zeigt,  in  deutlichem  Gegensatze  steht. 


1)  S.  Zarncke,  Nibelungentrage,  Anhang  I;  Beiträge  216  ff.;  Pfeiffer, 
Freie  Forschung  S.  37.  51  f.;  Müllenhoff,  Zur  Gesch.  der  N.  N.  I.  insbe- 
sondere S.  893  f. 


222  IL    Der  Verfasser  des  Nibelungenliedes. 

Durch  diesen  Gegensatz  zwischen  der  Poesie  des  Nibelungen- 
liedes und  der  der  ritterlichen  Epo])<»ic  wird  nun  Jiuch  die  Frage 
nach  der  Entstehungszeit  des  Nibelungenliedes  wichtig, 
welche  natürlicherweise  mit  der  Frage  nach  dem  Verfasser  zu- 
samiiient'ällt;  denn  durch  die  Beantwortung  jener  Frage  erhalten  wir 
Aufschluss  über  die  Entwicklung  des  Geschmacks  in  jener  Zeit, 
darüber,  ob  die  nationale  Richtung  als  verdrängt  durch  die  so- 
zusagen classische  romanisierende  betrachtet  werden  muss  oder 
als  gleichzeitig  mit  derselben ;  denn  dass  die  nationale  Richtung 
des  Geschmacks  aus  einer  Reaction  gegen  die  romanisierende 
entstanden-),  somit  später  als  diese  wäre,  diese  Annahme  wird 
durch  die  Altersbestimmung  der  Handschriften  unseres  Liedes 
von  vornherein  unmöglich  gemacht.  —  Zugleich  Avird  dadurch, 
dass  auch  das  Nibelungenlied  als  Erzeugnis  höfischer  Poesie  zu 
betrachten  ist,  die  Frage  nach  seiner  Heimat  wichtig,  welche 
ebenfalls  mit  der  nach  dem  Dichter  zusammenfällt;  denn  alsdann 
können  wir  l>eurtheilen,  Avelches  Land,  welcher  Plof  etwa  es  war, 
der,  gegenüber  der  fremdländischen  Richtung  der  meisten  deutschen 
Höfe  und  Fürsten,  die  nationale  Richtung  gepflegt  hat.^) 


56. 

Es  gibt  nur  eine  Theorie  über  den  Verfasser  unseres 
Liedes,  Avelche  wirklich  wissenschaftlichen  Wertli  noch  jetzt 
besitzt,  die  Theorie  von  Pfeiffer  und  Bartsch.  Alle  voran- 
gegangenen dürfen  als  veraltet  betrachtet  werden.  Es  lohnt  sich 
aber,  von  den  früheren  Ansichten  über  diesen  Punct  zwei  zu 
betrachten,  die  eine,  die  von  Spann,  weil  sie  sich  auf  die 
breite  Basis  eines  eigenen  Buches  über  diesen  Gegenstand  stützte 
und  ausserdem  in  früheren  Jahren  mehrere  Anhänger  hatte, 
die  andere,  weil  sie  von  einem  Manne  ausgcsj)r(K'hen  wurde, 
der  in  der  Geschichte  der  Nibelungenfrage  epochemachend  war, 
v(»n    Holtzmann. 


2)  Wie  etwa  im  1^.  .lalirlumdert  die  Sturm-  und  Drang-Poesie  reagierte 
gegen  die  alexandrinisierenden  Anakreontiker  des  17.  und  IS.  Jahrhunderts; 
wie  im  19.  Jahrhundert  die  Befreiungskriege  eine  nationale  Reaction  hervor- 
riefen, die  gegen  den  idealen  Kosmopolitismus  der  reinen  Schönheit  in  die 
Schranken  trat. 

3)  lieber  Zeit  und  Heimat  s.  erst  bei  der  Kritik. 


A.    Dio  vorhandonon  'J'hcorioon.  223 

57. 

Anton,  Ritter  von  Spann 

hat')  die  Antorscliat't  des  Nibelungenliedes  einem  Manne  zuge- 
wiesen, der  uns  dureli  kein  litterariselies  Erzeugnis  bekannt  ist, 
sondern  vielmehr  in  der  Geschichte  der  deutschen  Poesie  des 
Mittelalters  fast  die  dunkelste  Rolle  spielt,  dem  Heinrieh  von 
Ofterdingeu. 

Der  herrschenden  Ansicht  gegenüber,  dass  der  Wartburg- 
krieg eine  Fiction  und  die  beiden  verbündet  darin  gegen  die 
anderen  auftretenden  Sänger,  Heinrich  von  Ofterdingen  und 
Klinsor  von  Ungerland,  nur  mythische  Personen  seien,  will  S])ann 
l)eiden  historische  Bedeutung  zumessen.  Er  setzt  sich  Ofter- 
dingens  Leben  dergestalt  zusammen.  Heinrich  war  aus  der 
Familie  derer  von  Ofterdingen  .oder  Oftheringen  im  Traungau 
geboren  etwa  1160,  wahrscheinlich  der  Sohn  Adelrams  von 
Oftheringen.  Er  gehörte  als  ritterlicher  Säuger  zu  der  Umgebung 
der  österreichischen  Herzöge  Leopolds  VI.,  Friedrichs  des  Ka- 
tholischen und  Leopolds  VU.,  von  denen  der  letztgenannte  am 
28.  Juli  1230  starb.  Der  Wartbm-gkrieg,  bei  welchem  Heinrich 
gegen  die  übrigen  Sänger,  welche  den  Landgrafen  Hermann  von 
Thüringen  erheben,  seinen  Herzog  Leopold  YH.  preist,  fällt 
noch  vor  die  Abfassung  des  Parcival  und  Titurel.  Dass  Ofter- 
dingen hier  für  Leopold  von  Oesterreich  Partei  nimmt,  hängt  mit 
der  mehr  nationalen  Richtung  des  österreichischen  Hofes  zu- 
sammen. Der  Gesichtskreis  des  Nibelungenliedes  —  dessen  Einheit 
Spaun  mit  warmen  Worten  verficht^)  —  beweist,  dass  dieses  aus 
Oesterreich  stammt,  dessen  Gegenden  darin  mit  einem  sicht- 
lichen localen  Interesse  behandelt  sind;  auch  die  historischen 
Erinnerungen  des  Nibelungenliedes  weisen  auf  Oesterreich,  ebenso 
alle  Namen  desselben,  welche  im  zwölften  und  den  folgenden 
Jahrhunderten  häufig  als  österreichische  Personennamen  vor- 
kommen. Die  Sprache  des  Nibelungenliedes  ist  offenbar  öster- 
reichisch; denn  noch  heute  ist  eine  Menge  von  Ausdrücken 
des  Nibelungenliedes  im  österreichischen  Volksdialekt  erhalten.^) 


1)  „Heinrich  von  Ofterdingen  und  das  Nibelungenlied •',  Linz  IS40. 

2)  Seite  4:^  tt'. 

:5)  [Spann  citiert  eine  grosse  Zahl  von  allgemein  rahd.  Worten  ;  wenn  sich 
diese  in  Oesterreich  besonders  lange  erhalten  haben,  so  Ijeweist  das  nichts.] 


224 


11.    Der  Verfasser  des  Nibelungenliedes. 


In  mehreren  Gegenden  Oesterreiehs  haben  sicli  noch  Volks- 
weisen erhalten,  welche  mit  der  Xibehingenstroplie  offenbar 
identisch  sind.') 

Aus  allen  diesen  Gründen  schreibt  Spann  nach  A.  W. 
Schlegels  Vorgange  dem  Heinrich  von  Ot'terdingcn  die  Autor- 
schaft des  Nibelungenliedes  zu,  ebenso  die  des  kleinen  Rosen- 
gartens, des  Biterolf  und  der  Klage,  welche  in  ihrem  Gesichts- 
kreise viele  Aehnlichkeit  mit  dem  Xil)elungenliede  zeigen  sollen, 
insbesondere  in  dem  Hasse  ihres  Verfassers  gegen  Baiern, 
welcher  Hass  von  einem  Oesterreicher  bei  den  beständigen 
Fehden  zwischen  Baiern  und  Oesterreich  wohl  zu  begreifen  sei. 

In  mehreren  glänzenden  Festen  der  österreichischen  Herzöge, 
wie  dem  Empfange  Friedrichs  I.  zu  Wien  durch  Leopold  VI. 
f  1 1 S9) ,  der  Verlobung  Kaiser  Ottos  mit  Beatrix ,  der  Tochter 
Pliili})ps  von  Staufen,  in  Würzburg,  welcher  Leopold  VII.  an- 
wohnte (1209),  findet  Si)aun  die  Gelegenheiten,  bei  denen  der 
Dichter  des  Nibelungenliedes  Stoff  zur  Schilderung  seiner  Feste 
gefunden  habe. 

58. 

Adolf  Holtzmann 

bat  (s.  0.)  eine  umfassend  begründete  Theorie  über  den  ursprüng- 
licheu  Verfasser  des  Nibelungenliedes  aufgestellt.  Da  «r  das 
Gedicht  Konrads  fäl,schlich  für  ein  deutsches  hielt,  so  war  ihm 
natürlich  Konrad  der  wahre  \'erfasser  des  Liedes,  welchem 
gegenüber  der  Verfasse)-  des  uns  erhaltenen  Liedes,  auch  wenn 


4)  [S.  dagegen  Zeune  in  Ilagons  Germ.  IV,  S.  117.  DieLiodonnolndieen 
Spanns  haben  nicht  den  Rhythmus  der  Nibelungenstrophe,  welcher  gegenüber 
den  verschiedenen  Rhythmen  in  den  von  Spauu  überlieferten  Liedern  stets 
folgend(!r  ist: 

>  I   >  I  1   iN  r  ij^        > 


A.   Die  vorhandenen  Theorieen.  225 

wir  gemäss  unserem  bei  der  Handschriftenfrage  gewonnenen 
Resultate  über  die  beiden  Bearbeitungen  auf  eine  trübere  Gestalt 
zurückgehen,  nur  als  Umarbeiter  dasteht. 

Nachdem  wir  nun  oben  uns  dafür  entschieden  haben,  dass 
das  Werk  Konrads  ein  lateinisches  gewesen  sei,  ist  er  für 
uns  nicht  mehr  der  ^'erfasser  unseres  Gedichts,  die  Untersuchung 
über  seine  Person  fällt  somit  ausserhalb  des  Rahmens  unserer 
Frage.  Einen  Punct  aber  müssen  wir  kurz  hervorheben.  Holtz- 
mann  hat  seinen  Konrad  mit  dem  Kürenb erger  verglichen 
und  die  Identität  beider  wahrscheinlich  gefunden.  Wenn  Konrad 
lateinisch  geschrieben  hat,  so  fällt  diese  Parallele  natürlich  weg. 
Sie  ist  aber  ohnehin  fehlerhaft;  wir  haben  gar  kein  Recht,  den 
Kürenberger  über  das  zwölfte  Jahrhundert  hinaufzurücken;  Sprache 
und  Reime  verbieten  das,  und  schon  der  ganze  dichterische 
Charakter  der  Kürenbergischen  Strophen  macht  es  unmöglich. 
Ein  Minnesinger   von   dieser. Art   im   zehnten  Jahrhundertl 

Wichtiger  ist  für  uns,  was  Holtzmann  über  die  Person 
des  letzten  Redactors,  d.  h.  für  ihn  des  Verfassers  von  C, 
sagt.  K.  Roth  hat  auf  Rudolf  v  o  n  Hohe  n  e  m  s  als  Verfasser 
des  Nibelungenliedes  geratheu.  Holtzmann  will  diese  Ansicht 
nicht  theilen,  weil  er  Rudolf  für  den  Verfasser  der  Klage  hält 
und  nicht  glaul)en  kann,  dass  derselbe  Mann  beide  Gedichte 
verfasst  habe;  doch  führt  er  Einiges  an,  was  sich  zur  Unter- 
stützung der  Rothischen  Ansicht  beibringen  Hesse.') 

Wahrscheinlicher  erscheint  Holtzmann  die  Vermuthuug  v.  d. 
Magens,  dass  Walther  von  der  Vogelweide  das  Nibe- 
lungenlied gedichtet  habe.  Der  Dichter  war  ohne  Zweifel  ein 
Oesterreicher,  da  das  alte  Gedicht  in  Oesterreich  entstanden  und 
ohne  Zweifel  daselbst  auch  am  bekanntesten  war;  wahrschein- 
licher wird  diese  Ansicht  noch  dadurch,  dass  der  jüngere  Dichter 
an  zwei  Stellen,  die  in  Konrads  Gedicht  eingeschoben  sind, 
Wien  hervorhebt.-)  Auch  aus  der  Sprache  lässt  sich  Manches 
für  österreichischen  Ursprung  beibringen^);  nur  ist  hier  die 
Schwierigkeit  vorhanden,  dass  österreichische  Provincialismen, 
da  schon  Konrad  in  Oesterreich  schrieb,  ebenso  gut  von  diesem 


1)  S.  Holtzmann  S.  IS4  f.  [die  Gründe  sind  sehr  unerheblich]. 

2)  [S.  Seite  170;  §  44,  not.  39.   Der  Grund  fallt  natürlich  für  uns  weg.] 

3)  Der  Reim  20^6,1.2  gestvorn  :  tarn  lässt  sich  entweder  als  archaistisch 
oder  als  österreichisch  betrachten;,  auch  Walther  reimt  verworren  :  pfarren, 
woraus  Lachmann  auf  seine  österreichische  Heimat  schliesst. 

Fischer,  Nibelungenlied.  15 


226  II.    Der  Verfasser  des  Nibelungenliedes. 

herstammen  können/)  —  Wenn  der  Verfasser  des  Nibelungen- 
liedes zu  finden  ist,  so  kann  nur  die  Form  seiner  Strophe 
auf  denselben  führen.  Es  gibt  aber  um  1200  keinen  Dichter, 
der  sich  der  Nibelungenstrophe  bedient  hätte.  Walt  her  von 
der  Vogel  weide  allein  kennt  die  Strophe;  es  findet  sich  im 
Cod.  Pal.  unter  seinen  Gedichten  ein  Liedchen  aus  fünf  Zeilen, 
von  denen  die  erste,  zweite,  dritte  und  fünfte  mit  einander  die 
Nibelungenstrophe  bilden,  während  die  vierte  in  der  Form 
w/^/v>/w/^/  vom  Dichter  eingeschoben  wurde.^j  Auch  die 
sechs  oder  zehn  Nibelungenverse,  die  Walther  in  seinem  Leich 
anwendet,  beweisen,  dass  er  neben  dem  Nibelungen vers,  den 
er  oft  anwendet,  auch  die  Nibelungen  sti'ophe  kannte.®)  Doch 
genügt  diss  und  die  Uebereinstimmung  in  manchen  anderen 
Dingen  nicht,  um  Waither  für  den  Autor  des  Nibelungenliedes 
halten  zu  dürfen,  da  dieser  Annahme  manches  Andere  entgegen 
steht.  Holtzmann  will  daher  eine  eingehende  Untersuchung 
über  den  Verfasser  überhaupt  nicht  wagen,  bis  eine  kritische 
Ausgabe  von  C  existiere. 

59. 

Ausser  den  beiden  bis  jetzt  kurz  betrachteten  Theorieen 
Spanns  und  Holtzmanns'),  welche  schon  oben  als  antiquiert  be- 
zeichnet wurden,  betrachten  wir  nur  noch  eine  gegenwärtig  sehr 
ausgedehnter  Anerkennung  und  Beistimmung  sich  erfreuende 
Theorie  über  den  Verfasser  unseres  Liedes,  die  von 

Franz  Pfeiffer, 

welcher  Bartsch,  sie  mit  mehreren  wesentlichen  kritischen  Hilfs- 
mitteln unterstützend,  beigetreten  ist.-) 

Den   Ausgangs-   und  Mittelpunct  in  Pfeiffers  Untersuchung 

4)  [Diese  Schwierigkeit  fällt  natürlich  mit  der  Annahme  eines  lateini- 
schen Wei-kes  Konrads  vollständig  weg.] 

5)  [Gerade,  dass  Walther  in  diesem  Liedchen  eine  weitere  Zeile  ein- 
schiebt, beweist  dagegen,  dass  er  der  Verfasser  unseres  Liedes  sein  könne; 
dieses  Einschiebsel  ist  offenbar  gemacht,  um  nicht  gegen  das  Verbot  des 
Gebrauches  fremder  Weisen  zu  Verstössen;  s.  Pfeiffer  und  Bartsch.] 

6)  [Die  Zeilen  des  Leichs  sind  vielmehr  gerade  im  Ilildebrandstone  ge- 
halten, d.  h.  CS  finden  sich  nur  7  mal  gehobene  Langzeilcn;  der  einzige  Dichter, 
der  wirklich  die  Nib. -Strophe  anwendet,  der  Kürenberger,  ist  für  Holtzmann 
zu  alt.] 

1)  Von  denen  die  Holtzmanns  gar  nicht  als  solche  ausgeführt  ist. 

2)  Pfeiffer,  Freie  Forschung  1-52;  Bartsch,  Unters.  IV  (352—363). 


A.    Die  vorhanden^  Theorieen.  227 

bildet  die  metrische  Form.  Die  Cardinalfragc  hinsiclitlich 
der  metrischen  Form  des  Nibelungenliedes  bildet  das  bislier 
immer  übersehene  Dilemma :  entweder  ist  d  i  e  X  i  b  e  1  u  n  g  c  n  - 
Strophe  eine  aus  dem  Geiste  des  Volkes  selbst  her- 
vorgegangene, althergebrachte,  zu  gewisser  Zeit 
allgemein  übliche  ])oetische  Form  für  das  Volksepos 
oder  doch  einzelne  Theile  desselben;  oder  ist  sie 
das  Werk  bewuster  vorgeschrittener  Kunst,  das 
Kunstwerk  eines  Einzelnen.  Im  letzteren  Falle  fragt 
es  sich  dann:  Wer  war  ihr  Urheber  oder  Erfinder? 

In  ältester  Zeit  kannten  alle  Völker  nur  eine  Art  der 
Poesie,  die  epische,  und  diese  war  unstrophisch.  Im 
deutschen  Epos  herrschte  die  achtmal  gehobene  Lang- 
zeile, deren  Hälften  durch  Allitteration,- später  durch  den  Reim 
(die  vierfüssigen  kurzzeiligeu  Reimpaare)  verbunden  waren.  Diese 
FoiTn  blieb  bis  auf  Opitz,  der  den  Alexandriner  in  die  deutsche 
Dichtung  einführte,    die  vorherrschende  Form   deutscher  Poesie. 

Von  einer  strophischen  Verbindung  dagegen  weiss 
die  deutsche  Poesie  vor  dem  zwölften  Jahrhundert  nichts  [die 
Leiche  sind  übrigens  strophisch  |.  Erst  im  Beginne  dieses  Jahr- 
hunderts taucht  dieselbe  auf,  und  zw^ar  in  Begleitung  der  Lyrik. 
Die  lyrische  Volkspoesie  vor  jener  Zeit  war  gewiss  mehr  episch 
als  lyrisch  [wie  es  unsere  Volkslieder  noch  heute  sind].  Erst  die 
gewaltige  sociale  und  sittengeschichtliche  Umwälzung  der  Kreuz- 
züge brachte  die  E  i  n  z  e  1 1  y  r  i  k  u  n  d  m  i  t  ihr  d  i  e  s  t  r  o  p  h  i  s  c  h  e 
Form  auf,  wie  Lyrik  und  Strophe  auch  in  der  Geschichte  der 
griechischen  Poesie  in  ihrer  Entstehung  zusammenfallen. 

In  Deutschland  herrschte  nun  das  Gesetz,  dass  derjenige, 
welcher  einen  neuen  „Ton",  eine  neue  Weise  fand,  im 
ausschliesslichen  Besitze  derselben  blieb,  dass 
seine  Weise  von  Anderen  zwar  nachgeahmt,  d.  h.  um- 
gestaltet und  erweitert,  nicht  aber  unverändert  an- 
gewandt werden  durfte.  Unter  der  ungeheuren  Masse 
lyrischer  Gedichte  vom  zwölften  Jahrhundert  bis  gegen  das 
Ende  des  dreizehnten  ist  die  widerrechtliche  Aneignung 
eines  fremden  Tons  ohne  Beispiel;  ja  die  öftere  Widerholung 
desselben  Tons  durch  einen  Dichter  galt  als  ein  Zeichen  von 
Unkunst.^)     Noch   die  Meisterschulen   des  vierzehnten   und  der 

3)  So  hat  Walther  v.  d.  V.  unter  zweihundert  Sprüchen  und  Liedern 
100  Weisen;  Nithart  sagt,  dass  er  zum  Lobe  seiner  Herrin  SO  neue  Weisen 
gesungen  habe. 


228  U.   Dtr  Yerfass«r  des  Nibelungenliedes. 

folgenden  Jahrhunderte  beobachteten  das  genannte  Gesetz  inso- 
fern, als  Niemand  Meister  werden  konnte,  der  nicht  eine  neue 
Weise  erfunden  hatte. 

Die  strophische  Gliederung  drang  aus  der  Lyrik  alsbald 
auch  in  die  Epik  ein,  zunächst  und  vorzugsweise  in  den  Ge- 
dichten, welche  dem  Kreise  der  deutschen  Heldensage  an- 
gehörten. Auch  in  der  Epik  wird  eine  bestimmte 
Strophenform  stets  als  das  Eigenthum  ihres  Erfin- 
ders angesehen. 

Die  älteste  unter  allen  Strophenformen  der  Heldendichtung 
ist  unstreitig  die  N  i  b  e  1  u  n  g  e  n  s  t  r  o  ])  h  e.  Wackernagels  Ansicht 
von  ihrem  Ursprung  aus  dem  Alexandriner  ist  veraltet;  auch 
die  J.  Grimms  und  Holtzmanns,  dass  sie  aus  der  altepischen 
Langzeile  entstanden  s6i,  ist  unrichtig.  Denn  der  epische  Vers 
zerfällt  in  zwei  Hälften  von  je  vier  Hebungen,  die  unter  sich 
durch  den  Reim  verbunden  sind,  während  der  Nil)elungenvers 
4  +  3  Hebungen  hat  und  hier  die  Langzeilen  durch  Reime 
verbunden  sind.^)  Wäre  nun  die  Xibelungenstrophe  als  solche 
aus  dem  Volke  hervorgegangen,  so  wäre  sie  gewiss  als  Gemein- 
gut Aller  betrachtet  worden,  so  gut  wie  die  epische  Langzeile. 
Aber  diss  ist  nicht  der  Fall.  Im  Gegentheil  —  es  ist  bis  zur 
Mitte  des  dreizehnten  Jahrhunderts  kein  Gedicbt  in  dieser 
Strophe  geschrieben.  Erst  nach  1250,  als  in  allen  Kreisen  des 
Lebens  sich  die  Begriffe  von  Mein  und  Dein  zu  verwirren  be- 
gannen, gelangte  die  Nibelungenstrophe,  aber  nicht  unversehrt, 
sondern  in  der  Verkürzung  zu  dem  sogenannten  Hildebrandstone, 
zu  allgemeiner  Anwendung,  und  zwar  in  solchen  Gedichten, 
welche  auch  sonst  den  Verfall  der  Kunst  zu  erkennen  geben. 
Aber  aus  der  früheren  Zeit,  auf  die  es  hier  allein  ankommt,  ist 
kein  Beispiel  der  Entlehnung  bekannt.") 

Ueberall  also,  in  der  Epik  A\äe  in  der  Lyrik,  findet  sich 
dieselbe  Erscheinung.  Daraus  erhellt  deutlich,  dass  die  Nibe- 
luugenstrophe  kein  Nationaleigenthum,  sondern  Erfindung  und 


4)  Das  sporadische  Vorkommen  7  mal  gehobener  Verse  in  der  alten 
epischen  Dichtung  bestätigt  nur  die  Regol. 

5)  Aus  der  Nib.-Str.  zum  Theil  entstanden,  aber  sammtlich  von  ihr  ver- 
schieden sind  die  epischen  Strophen  dieser  Zeit,  die  von  Walt  her  und 
Hildeguud,  Kudrun.  Rabcns  chlacht  (altl,  Titurel  (nach  Wolframs 
und  seines  Bearbeiters  Strophenbau).  Zwei  weitere,  wohl  aus  den  kurzen 
Reimpaaren  entstandene  Strophen  sind  die  von  Salman  und  Morolt 
(12.  Jahrh.)  und  König  Tirol  (13.  Jahrh.). 


A.   Die  vorhandenen  Theoriecn.  229 

Eigenthum  eines  Einzelnen  war  und  als  solches  von  den 
Zeitgenossen  anerkannt  und  geachtet  wurde.  Dass  bei  diesem 
Verhältnis  von  Öpielleuten,  die  alle  unabhängig  und  gleichzeitig 
auf  die  Strophe  gekommen  wären  und  sie  in  ihren  Liedern  an- 
gewandt hätten,  von  vornherein  nicht  die  Rede  sein  kann,  ist 
vollständig  klar. 

Wer  war  nun  der  Erfinder  der  Nibelungen- 
Strophe? 

Unbestrittenermaassen  ist  der  älteste  deutsche  Lyriker  der 
Kürenb erger.  Seine  Lebenszeit  ist  nicht  genau  bestimmbar, 
sie  mag  etwa  in  die  Jahre  1120 — 1140  fallen,  da  er  jedenfalls 
älter  ist  als  Dietmar  von  Eist,  der  urkundlich  von  1143 — 1171 
nachgewiesen  werden  kann.  Leider  sind  von  Kürenbergs  Liedern 
nur  wenige  auf  uns  gelangt,  im  Ganzen  fünfzehn  Strophen.  Ihre 
Form  ist  durchweg  die  der  Nibelungen  Strophe.  Da  nun 
der  Kürenberger  der  einzige  Dichter  ist,  der  dieselbe  gebraucht, 
und  diese  Weise  die  einzige,  die  er  anwendet  (nicht  richtig],  so 
muss  er  auch  ihr  Erfinder  sein.  Zum  Ueberfluss  wird  diss  be- 
stätigt durch  eine  seiner  Strophen,  worin  er  durch  den  ]Mund 
seiner  Dame  sagt,  dass  er  in  Kiirenberyes  wise  gesungen  habe.") 

Wunderbarer  Weise  bildet  diese  Strophenform  im  südwest- 
lichen Deutschland  ebenso  in  der  Lyrik  wie  in  der  Epik  den 
vielfach  variierten,  aber  nie  unverändert  entlehnten  Grundton. 
Daher  wird  es  kein  Fehlgi'iflf  sein,  den  Kürenberger  mit 
dem  Dichter  des  Nibelungenliedes  zu  identificieren. 

Zur  Unterstützung  dieser  Ansicht  dient  noch  eine  Anzahl 
weiterer  Momente');  gegen  dieselbe  scheint  nur  Eines  zu 
sprechen,  nemlich  der  beträchtliche  Zwischenraum  von 
50 — 60  Jahren  zwischen  den  Strophen  des  Kürenbergers  und. 
dem  Nibelungenliede,  der  sich  besonders  in  den  dort  ungenauen, 
hier  genauen  Reimen  zu  erkennen  gibt.  Dieses  Hindernis  muss 
zuerst  aus  dem  Wege  geräumt  werden. 

Dass  das  Nibelungenlied  in  seiner  jetzigen  Gestalt  nicht 
vor  1190  entstanden  sein  kann,  ist  unbestiitten.  1185 — 1190 
dichtete  Veldecke  seine  Aeneide,  in  welcher  er  zum  erstenmale 
die  vollständige  Genauigkeit  des  Reims  zum  Princip 
erhob.    Vor  ihm  waren  ungenaue  Reime  etwas  ganz  Gewöhnliches 


6)  Beiläutig  ist  diss  vor  dem   14.  Jahrhundert   das   einzige  Beispiel  der 
Benennung  einer  Weise  nach  ihrem  Erfinder. 

7)  Dieselben  s.  u. 


230  11-   Der  Verfasser  des  Nibelungenliedes. 

uiul  hei  allen  Dicliteni  Häufiges.  Wäre  also  das  Nibelungenlied 
vor  1190  gedichtet,  so  müste  es  mehr  ungenaue  Reime  aufweisen, 
als  die  wenigen,  sporadischen,  die  es  enthält.  Aber  das  Nibe- 
lungenlied hat  ebenso  genaue  Reime  wie  die  höfische  Poesie  vom 
Ende  des  zwölften  bis  zur  Mitte  des  dreizehnten  Jahrhunderts. 
—  Dagegen  finden  sich  bei  dem  Kürenberger  ungenaue  Reime 
noch  in  grosser  Menge. 

Diese  Kluft  zwischen  Kiirenbergs  Strophen  und  dem  Xibc- 
lungeuliede  ist  jedoch  sofort  überbrückt,  wenn  nachgewiesen 
wird,  dass  das  Nibelungenlied  in  seiner  jetzigen  Ge- 
stalt die  Umarbeitung  eines  älteren  Gedichts  ist. 
Und  den  Beweis  dafür  hat  Holtzmann  in  der  That  geführt. 
Einen  Punct  hat  derselbe  aber  nicht  genügend  betont.  Das 
Nibelungenlied  kennt  nur  stumpfe  Reime;  es  finden  sich  aber 
in  demselben  sehr  häufig  Reime  auf  zwei  Silben  mit  langer 
Penultima,  welche  stumpf  gebraucht  sind,  da  sie  zwei  Hebungen 
bilden.  Wie  kommen  nun  diese  Reime  in  das  Nibelungenlied, 
während  schon  vor  Veldecke  solche  Reime  durchweg  als  klingende 
gelten?     Hiefür  ist  nur  eine  Erklärung  möglich. 

Von  Otfrid  bis  in  das  zwölfte  Jahrhundert  gab  es  nur  ein- 
silbige Reime.  Der  klingende  Reim  kam  erst  auf  nach  Ver- 
flüchtigung der  Endsilben.  Noch  Kürenberg,  Dietmar  von  Eist, 
der  Spervogel  gebrauchen  iciume  :  kinide  u.  ä.  stumpf,  wie  Otfrid; 
Dietmar  und  der  Spervogel  zugleich  auch  schon  klingend.  Von 
Dietmar  bis  Veldecke  ist  der  klingende  Reim  völlig  durchge- 
drungen.*) In  der  strophischen  Epik  ist  es  ebenso  wie  bei  den 
Lyrikern.  Nur  das  Nibelungenlied,  obwohl  später  als  die  Aeneis, 
macht  davon  eine  Ausnahme.  Daher  setzte  Lachmann,  der  Ge- 
schichte zum  Trotz,  alle  die  genannten  Lyriker  nach  1170,  weil 
bei  dieser  Annahme  das  Vorhandensein  von  stumpf  behandelten 
zweisilbigen  Reimen  um  1190  nicht  auffallend  sein  konnte.  Aber 
auch  diese  seine  Auskunft  war  eine  trügerische;  denn  in  Salman 
und  Morolt,  einem  echt  volksthümlichen  Gedichte,  das  seine 
unvollkommenen  Reime  in  eine  weit  frühere  Zeit  weisen  als 
die  Aeneis,  finden  sich  die  zweisilbigen  Reime  stets  klingend 
behandelt. 

Für   diese   auffallende  Erscheinung   gibt   es    nur   eine  Er- 


st In  diese  Zeit  fallen  die  Lyriker:  Meinloh  von  Sevelingen;  Burggraf 
von  Regensburg;  Friedrich  von  Hausen;  Ulrich  von  Gutenburg:  Rudolf  von 
Fenis;  Albrecht  von  Johannsdorf;  Heinrich  von  Rugge. 


A.    Die  vorhandenen  Theorieen.  231 

klärung,  die  iiemlich,  dass  das  Nibelungenlied  die  Um- 
arbeitung- eines  älteren  Gedichtes  sei.") 

Beispiele  von  solchen  Umarbeitungen  bietet  unsere  ältere 
Litteraturgeschichte  in  Menge.'")  Grossentheils  fallen  dieselben 
noch  in  das  zwölfte  Jahrhundert,  und  überall  gibt  sich  das  Be- 
streben kund,  genaue  Keime  an  die  Stelle  der  älteren,  unge- 
naueren zu  setzen. 

Aehnlich  beim  Nibelungenliede.  Hier  wurden  die  reinen 
Reime  zwar  durchgetiihrt,  aber  von  jenen  scheinbar  klingenden 
diejenigen,  Avelche  wenigstens  genau  waren,  ])eibehalten.  Dabei 
liegt  die  Vermuthung  nahe,  dass  sich  die  Umarbeitung  nicht  auf 
den  Reim  beschränkt,  sondern  auf  das  Ganze  des  Gedichts  be- 
zogen habe,  welches  im  Sinne  der  erwachten  höfischen  Poesie 
umgearbeitet  und,  wie  bei  jenen  anderen  Umarbeitungen,  mit 
Zusätzen  versehen  wurde.") 

Ist  damit  der  einzige  Grund  gegen  die  Identität  des  Küren- 
bergers  mit  dem  Dichter  des  Nibelungenliedes  gehoben,  so  unter- 
stützen mehrere  Momente  die  Annahme  derselben. 

Die  Gedichte  des  Kürenbergers ,  einfach  und  schmucklos, 
sind  zugleich  nicht  Liebeslieder  gewöhnlichen  Schlags,  sondern 
romanzenartige  Gedichte.  Aehnliche  Erscheinungen  von 
lyrisch  gefärbter  Epik  und  epischer  Lyrik  gewähren  die  Anfänge 
der  Lyrik  bei  anderen  Völkern.  Namentlich  frappiert  die  Aehn- 
lichkeit  zwischen  Stesichoros  und  dem  Kürenberger.  Einem 
Dichter,  dessen  lyrische  Gedichte  so  ganz  epische  Färbung 
tragen,  ist  auch  die  Kraft  zu  einem  grösseren  erzählenden 
Gedichte  zuzutrauen. 

Die  Vergleichung  der  Sprache  ergibt,  so  wenig  Ver- 
gleichungspuncte  man  auch  bei  einer  Sammlung  von  tiinfzehn 
Strophen  gegenüber  einem  Gedichte  von  2400  erwarten  sollte, 
doch  mancherlei  Aehnliches,  weit  mehr,  als  sich  zwischen  ver- 
schiedenen Dichtern  zu  finden  pflegt.'-) 


v^)  [Ein  zwingender  Beweis  sind  diese  zweisilbigen  Reime  nicht;  in  den 
viermal  gehobenen  Reimpaaren  z.  B.,  die  freilich  nicht  strophisch  gebunden 
sind,  gelten  die  klingenden  Reime  stets  für  zwei  Hebungen.  S.  auch  Bartsch. 
Unters.  S.  7  und  s.  o.  S.  42  f.] 

lUj  S.  Pfeitfer  S.  23;  Bartsch  a.  m.  0. 

1!)  [Damit  könnten  Holtzmanns  Athetesen,  welche  oben  (S.  14:H'.  IsT» 
als  unnöthig  verworfen  wurden,  vertheidigt  und  gestützt  werden.] 

12)  Das  Bild  des  Falken,  den  die  Geliebte  erzieht:  die  in  der  höfi- 
schen Poesie  verpönten  Reime  von  —  üch  auf  —  Uch :   ebien  h'/(fes  nmnen  \ 


232  n.   Der  Verfasser  des  Nibelungenliedes. 

Insbesondere  finden  sich  im  Nibelungenliede  Stellen'^),  wo 
der  lyrische  Ton  noch  ebenso  hörljar  durch  das  Epos  hindurch- 
klingt,  wie  der  epische  Ton  durch  die  Lyrik  Kürenberg'S. 

Gleicherweise  stehen  die  Notizen  über  Kürenljerg  und  seine 
Heimat  im  Einklang  mit  der  Annahme  der  Identität.  Dass  das 
Nibelungenlied  an  der  Donau,  in  OesteiTeich  verfasst  ist,  ist  er- 
wiesen.'^) Ebenda,  westlich  von  Linz,  ist  auch  der  Kürenl)erger 
zu  Haus.  Unter  den  von  1100 — IIGO  urkundlich  erscheinenden 
Mitgliedern  der  Familie  ist  es  wahrscheinlich  der  in  einer  Ur- 
kunde des  Bischofs  Regiumar  von  Passau  erscheinende  Magen  es 
von  Kiirenberg,  der  als  Verfasser  der  15  lyrischen  Strophen 
und  des  Nibelungenliedes  zu  betrachten  ist.  Denn  gerade  Re- 
ginmar  von  Passau  (1121  —  1138)  war,  seinem  unmittelbaren  Vor- 
gänger sehr  unähnlich,  ein  mehr  weltlich  als  geistlich  gesinnter 
Herr,  der  einen  glänzenden  Hotstaat  hielt  und  insbesondere,  wie 
vor  ihm  schon  andere  Kirchenfürsten,  wahrscheinlich  die  deutsche 
Poesie  begünstigte  oder  pflegte.'^)  Zur  Entfaltung  dieses  bewegten 
Lebens  mochte  beitragen,  dass  Passau  in  erster  Linie  zu  den 
Städten  gehörte,  üj^er  welche  die  Kreuzfahrer  ihren  "Weg  zu 
nehmen  pflegten. 

In  Passau  hatte  Magenes  auch  die  beste  Gelegenheit,  das 
Werk  Konrads  kennen  zu  lernen;  denn  gegen  die  Angabe 
der  Klage  von  dem  lateinischen  Buche  Konrads  ist  nichts  ein- 
zuwenden.'") Ebenso  unzweifelhaft,  als  die  Existenz  dieses 
lateinischen  Buchs  ist,  dass  es  eine  der  Quellen  Kürenbergs 
war;  denn  anders  lässt  sich  die  Einführung  Piligrims  in  das 
Nibelungenlied  nicht  begreifen.  Dazu  kommt,  dass  die  Klage 
die  Nibelungensage  im  Ganzen  genau  so  kennt,  wie  dieselbe  im 
Nibelungenliede  dargestellt   ist.     Daneben   muss   allerdings   die 

gelehen  =  ..erleben";  einen  trüregen  mitot  gewinnen^  daz  lant  rionen  [s. 
aber  Bartsch.  Unters.  362];  sich  eines  dinfjes  genieten  =  „sich  mit  etwas 
i^erne  beschäftigen";  vil  wol  versüenen ;  einem  ein  dinc  beninten  von 
Menschen  gebraucht";  eines  künde  gewinnen:  eines  varwe  erhiüet  (=  ..er 
erröthet"). 

13)  Z.  B.  Str.  239  f.;  291;  besonders  aber  2S0— 2s2. 

14)  [S.  darüber  unten.] 

15)  S.  die  Notiz  in  dem  Passauer  Katalog  von  12-54:  item  Attilam 
rersifice. 

16)  Beispiele  der  Aufzeichnung  deutscher  Heldensage  in  lateinischer 
Prosa:  Jordanes,  Paulus  Diaconus.  die  Vita  Caroli  Magni  et  Rnlandi  des 
Pseudoturpinus.  [Will  man  Konrads  Werk  als  ein  poetisches  ansehen, 
so  bietet  sich  aus  der  Zeit  Konrads  der  "Waltharius  als  Parallele;  s.  o.] 


A.    Die  vorhandenen  Theorieen.  2153 

Klaice  auch  dieses  selbst  in  deutscher  Sprache  gekannt  hal)en; 
darauf  weisen  die  Worte:  (iflihtct  man  c:-  sii  hül  divUc  in  linscln-r 
zunycn. 

Die  Einzelheiten  des  Verhältnisses  zwisclien  Kiirenherg 
und  seinem  lateinischen  Original  lassen  sich  nicht  mehr  ermitteln. 
So  viel  aber  ist  sicher,  dass  die  ganze  Art,  der  ganze  Geist  der 
Schilderung  das  Eigenthum  des  Dichters  selbst  ist,  da  sich  in 
diesen  Dingen  überall  das  zwölfte  Jahrlnindert  abspiegelt. 

Dass  auch  die  grossen  politisch-liistorischen  Ereignisse  dem 
Liede  als  Grundlage  nicht  fehlten,  hat  Moriz  Thausing  l)ewiesen. 

Daneben  fehlte  es  dem  Kürenberger  auch  nicht  an  den  für 
jeden  grossen  Dichter  nothwendigen  Vorgängern.  Denn  dass  es 
vor  dem  zwölften  Jahrhundert  keine  grosseren  Epen  gegeben 
liabe,  ist  eine  grundlose  Beliaui)tung  Lachmanns,  welche  widerlegt 
wird  durch  das  lateinische  Waltharilied,  das  deutlich  auf  einem 
deutschen  Gedicht  als  seiner  Grundlage  ruht. 

Viele  einzelne  Züge  hat  dasselbe  mit  dem  Nibelungenliede 
gemein.  Die  gefährliche  Flucht  Walthers  und  Hildegunds  ver- 
gleicht sich  dem  Zuge  der  Burgunden  durch  Baiern,  die  Nacht- 
wache der  Geliebten  der  Volkers  und  Hagcns;  in  l)eiden  Ge- 
dichten fällt  die  meisterhafte  Schilderung  der  Einzelkämpfe  auf; 
auch  der  Schluss  des  AValtharius:  /uec  est  Wa/t/iar/i  poesis 
stimmt  wörtlich  überein  mit  dem  der  Nibelungen:  daz-  i.st  der 
Xibchniiie  liet.^')  Natürlich  ist  die  Einzelausführung  im  Nibe- 
lungenliede von  diesem  Vorbilde  ganz  unabhängig. 

Für  freie  Schöpfungen  des  Dichters  sind  auch  die  wunder- 
vollen Gestalten  Rüdigers  und  Volkers  zu  halten.  Holtzmann 
hat'^)  ganz  richtig  bemerkt,  dass  gewiss  der  Dichter  in  dem 
Letzteren  nur  sich  selbst  geschildert  habe,  und  diese  Vernnithung 
wird  durch  die  Stellung  Kürenbergs  in  der  deutschen  Litteratur- 
geschichte  bestätigt.  In  der  ältesten  Zeit  deutscher  Dichtung 
waren  die  Dichter  hochangesehen.  Schon  seit  der  karolingischen 
Zeit  jedoch  zogen  sich  die  höheren  Stände  mehr  und  mehr  von 
der  Pflege  der  vaterländischen  Poesie  zurück.  Die  Geistlichen 
aber,    von    da    an   die   einzigen  Pfleger  der  Litteratur,    wollten 


IT)  iStr.  2316''  ist  eine  Plusstroplie  von  6';  da  aber  2:<1()  und  23 Iß''  in 
('  dasselbe  enthalten,  vrie  23 lü  in  AB,  so  fragt  sich  noch  immer,  ob  nicht 
der  Schluss  von  C  der  echtere  sein  könne.  Unwesentlich  ist  die  Sache 
jedenfalls ;  auch  die  L,  A.  von  AB  lässt  sich  mit  dem  Schluss  des  W.  vergleichen.] 

18)  S.  Holtzmann,  Untersuchungen  Seite  135  und  s.  o.  S.  172. 


234  11.   Der  Verfasser  des  Nibelungenliedes. 

(wenigstens  vorherrschend)  nichts  von  der  national  deutschen 
Dichtung  wissen,  welche  daher  in  den  Händen  des  niederen  Volkes 
blieb  und  um  dessen  willen  von  den  höheren  Ständen  verachtet 
wurde.  Der  Kürenberger  ist  der  erste  adliche  Dichter, 
der  nach  langer  Zeit  wider  erstand;  Avas  war  natürlicher,  als 
dass  er  in  dem  ritterlichen  Spielmann  Volker,  dessen  Fidel  sein 
Schwert  ist,  sich  selbst  schildern  wollte? 

Dass  die  Nibelungen  auf  höfischem  Boden  entstanden 
sind,  musten  ja  selbst  die  Schüler  Lachmanns,  in  erster  Linie 
Müllenhoff,  zugeben,  und  ein  Blick  auf  diejenigen  Gedichte, 
welche  wirklich  das  Erzeugnis  des  niederen  Volkes  sind''),  be- 
stätigt es  auf  das  Deutlichste. 

Entsprechend  dem  in  dem  Nibelungenliede  strenge  be- 
obachteten Zurücktreten  der  Person  des  Dichters  hat  uns  dieser 
seinen  Namen  verschwiegen;  und  diss  blieb,  im  Gegensatze 
zu  den  höfisch  -  ritterlichen  Gedichten,  deren  Verfasser  fast  nie 
mit  der  Nennung  ihres  Namens  zurückhielten,  maassgebend  für 
alle  Gedichte  aus  dem  nationalen  Sagenkreise ;  ein  Beweis  dafür, 
welche  Spuren  der  Vorgang  des  Nibelungendichters  zurück- 
gelassen hat  |s.  darüber  oben  S.  219  f.]. 

60. 

Pfeiffers  Theorie  wurde  vielfach  mit  Freuden  aufgenommen. 
Zarncke  versuchte,  einige  Einwände  gegen  dieselbe  geltend  zu 
machen,  doch  mit  wenig  Glück.')  Moriz  Thausing  hat")  die 
Theorie  zu  bekräftigen  gesucht,  zugleich  aber  anstatt  des  Magenes 
von  Kürenberg,  den  Pfeiffer  als  Verfasser  annahm,  vielmehr  den 
in  den  Jahren  1140 — 1147  erscheinenden  Konrad  von  Küren- 
berg für  den  Verfasser  gehalten,  aus  dessen  Namen  vielleicht 
der  des  Schreibers  Konrad  in  der  Klage  zu  erklären  sei,  weil 
urkundlich  Konrad  von  Kürenberg  in  der  Nähe  von  Pa.ssau 
vorkomme.^) 


liO  So:   Ruother,   Salman   und  Morolt,  Oswald.    Orendel,  Rosengarten. 
Ortnit,  Wolfdietrich  etc. 

1)  Liter.  Centralblatt  lS6:i,  Spalte  'M  f.     Wir  werden  unten  auf  Zarnckes 
Einwände  zurückkommen. 

2)  M.   Thausing,    Nibelnngonstudien.      Beiträge    zur   Frage    nach   dem 
Dichter  des  alten  Liedes;  Wien  lSt34. 

3)  S.  Bartsch,  Unters.  3.55. 


A.   Die  vorhandenen  Theorieeu.  235 

Umfassendere  Unterstützuiigsgründe  für  Pfeiffers  Theorie 
hat  aber 

Karl  Bartsch 
beigebracht.') 

Schon  (las  ganze  Ergebnis  der  Handschriften- Untersuchung 
Bartschs  bestätigt  Pfeiffers  Theorie.  Denn  wenn  die  erstere  die 
Entstehung  des  Nibelungenliedes  vor  das  Jahr  1150  verweist,  so 
stimmt  diese  Zeit  auf  das  beste  mit  der  Theorie  Pfeiffers  überein. 
Auch  dass  in  dem  Nibelungenliede,  wie  es  uns  vorliegt,  die 
Umarbeitung  eines  älteren  Gedichtes  enthalten  sei,  hat  Bartsch 
zwingender  bewiesen,  als  Pfeiffer.  Auch  im  Einzelnen  hat 
Bartsch  Pfeiffers  Theorie  zu  befestigen  und  besser  zu  begründen 
gesucht. 

Das  Gebot  der  Nichtentlehuung  der  Töne  galt  schon  im 
zwölften  Jahrhundert;  die  zwei  ältesten  Lyriker,  Kürenberg-  und 
Dietmar  von  Eist,  der  Zeit  nach  nur  Avenig  verschieden,  haben 
verschiedene  Töne.  Dass  der  Kürenberger  durchgängig  |fast|  die- 
selbe Form  gebraucht,  ist  ein  Beweis  für  sein  hohes  Alter.  Seine 
Lieder  tragen  noch  das  Gewand  des  Epos  an  sich  und  bekunden 
damit  eine  Zeit,  wo  Epik  und  Lyrik  sich  noch  nicht  formell 
von  einander  unterschieden.  Mehrere  Strophen  Kürenbergs  sind 
ganz  erzählend  gehalten,  und  das  Nibelungenlied  enthält  hin- 
widerum  viel  Lyrisches.  So  kann  es  nicht  auffallen,  wenn  ein 
Dichter  dieselbe  Form  für  ein  Epos  wie  für  kleine  lyrische 
Lieder  anwandte. 

Wäre  die  Nibelungenstrophe  eine  Volksweise,  so  wäre  nicht 
begreiflich,  wie  andere  Dichter  sich  scheuten,  sie  anzuwenden. 
Das  einzige  Gedicht,  das  vor  der  Mitte  des  dreizehnten  Jahr- 
hunderts schon  neben  dem  Nibelungenlied  und  den  Kttrenbergi- 
schen  Liedern  in  der  Nibelungcnstrophe  verfasst  ist,  ist  Al})harts 
Tod,  welcher  entschieden  noch  dem  zwölften  Jahrhundert  an- 
gehört, wenn  er  uns  auch  in  jüngerer  Umarbeitung  erhalten  ist. 
Für  die  Identität  des  Dichters  des  Nibelungenliedes  und  des 
von  Alpharts  Tod  sprechen  noch  einige  Uebereinstimmungen  im 
Einzelnen. 

Die  Zeit  des  Kürenbergers  fällt  jedenfalls  etwas  vor  die 
Dietmars  von  Eist,  also  etwa  nicht  lange  vor  1150.  Auf  diese 
Zeit  weisen  sämmtliche  freieren  Assonanzen  seiner  Lieder,  weisen 
auch  die  Assonanzen   des  Nibelungenliedes.")    Von  den  Cäsur- 

4)  S.  Bartsch,  Unters.  IV  (S.  352-363). 

5)  [Ueber  das  Letztere  s.  jedoch  Seite  S6  f.] 


236  n.   Der  Verfasser  des  Nibelungenliedes. 

Assonanzen  kommt  eine,  hetiwde  :  erlele,  Nib.  Str.  584,  1,  in 
den  Kttrenbergischen  Strophen  als  Endreim  vor;  es  sind  diese 
beiden  Stellen  die  einzigen,  an  denen  sich  dieser  Reim  über- 
haupt findet. 

Die  Metrik  des  Kürenbergers  ist  ganz  dieselbe  wie  die 
des  Nibekmgenliedes.  Insbesondere  liebt  auch  jener  die  Nicht- 
ausfüUung  der  Senkung  zwischen  zweiter  und  dritter  Hebung 
der  achten  Halbzeile,  während  andere  strophische  Gedichte, 
deren  letzte  Halbzeile  dieselbe  Zahl  von  Hebungen  hat,  diese 
Form  weit  seltener  haben.*')  Auch  sonst  stimmt  der  metrische 
Gebrauch  Kürenbergs  mit  dem  des  Nibelungenliedes  überein. 

Zu  den  Anklängen  in  der  Sprache  zwischen  Kürenberg 
und  Nibelungenlied,  die  Pteiifer  (und  Thausing)  gefunden  hatte, 
fügt  Bartsch  noch  einige  weitere  hinzu.') 

Ist  das  Nibelungenlied  vor  1150  entstanden,  so  lässt  sich 
nicht  nur  die  oben  genannte  Stelle  des  jNfetellus  von  Tegernsee  auf 
dasselbe  beziehen,  sondern  auch  eine  beim  Spervogel  (MF.  26,  2  ff.) : 

(lo  (jewan  er  Rhedpiji'ves  viiiot, 

der  saz-  z-e  Bechelare 

unt  pßuc  der  marke  ma/ief/en  lac: 

der  wart  von  siner  frumekeit  so  inure. 
Dadurch,   dass  der  Kürenberger  als  Verfasser  des  Nibelungen- 
liedes nachgewiesen  ist,    wird   auch   der   Schluss   bestätigt,   zu 
welchem  einige  Formen  des  Nibelungenliedes  führten,   dass  die 
Heimat  dieses  Liedes  Oesterreich  sei. 


B.   Kritik  und  Resiiltiite. 

61. 

Bevor  die  Theorieen  über  den  Verfasser  kritisch  betrachtet 
werden  können,  muss  Einiges  über  das  Alter  und  die  Heimat 
des  Liedes  vorausgeschickt  werden. 


6)  7—10  mal  fehlt  beim  Kür.  au  jener  Stelle  die  Senkung;  bei  Mein  loh 
unter  74  Zeilen  nur  2ß  mal;  in  den  90  Nib. -Strophen  der  Gudrun  42  mal; 
in  Walther  und  Hildegund  unter  37  Fällen  12  mal;  im  Ortnit,  der 
noch  meist  in  der  S.  Ilalbzeile  4  Hebungen  hat,  fehlt  diese  Senkung  in  den 
100  ersten  Strophen  h  mal. 

7)  S.  Bartsch,  Unters.  3<j2  f.;  einige  Wendungen  finden  sich  zugleich  in 
Alpharts  Tod,  was  die  Vermuthung  bestätigt,  dass  auch  dieser  ein  Werk 
Kürenbergs  sei. 


B.    Kritik  und  Resultate.  237 

Hinsichtlich  des  Alters  haben  wir  bei  Betrachtung  der 
Haudschriftcnfrao-e  uns  für  l^artschs  Ansicht  entschieden,  nach 
welcher  die  Ablassung-  derjenigen  Gestaltung  des  Gedichtes, 
welche  den  Bearbeitern  B  und  C  vorlag,  ungefähr  in  das  Jahr 
1170  zu  setzen  ist.  Einen  kleineren  oder  grösseren  Spielraum 
hinsichtlich  dieser  Zeit  kann  man  immerhin  zugeben;  nur  wird 
es  gewagt  sein,  dieselbe  weit  über  1170  rückwärts  zu  setzen; 
demi  das  würde  die  verhältnismässig  kleine  Zahl  der  freien 
Reime,  welche  aus  den  Abweichungen  der  Bearbeitungen  er- 
schlossen werden  können,  verbieten.') 

Es  sind  aber  nach  Holtzmann  und  Bartsch  Spuren  vor- 
handen, welche  auf  eine  noch  frühere  Abfassung  des  Gedichtes 
schliessen  lassen. 

Die  beiden  ConjecturenHoltzmanns,  welche  das  Nibelungenlied 
von  Seiten  seines  AVortbestandes  noch  über  das  zwölfte  Jahrhundert 
zurückweisen  würden,  haben  wir  oben  verworfen-);  was  Holtzmann 
sonst  noch  an  Alterthümlichkeiten  des  Wortbestandes  gefunden  hat, 
hat  Bartsch  alles  aufgezeichnet.  Das  Vorkommen  hinterer  llalb- 
zeilen  zu  vier  Hebungen,  welches  Holtzmann  annahm,  ist  oben 
zurückgewiesen  worden^);  die  alterthümlichsten  unter  den  Heimen, 
die  er  in  seinen  „Untersuchungen"  noch  annhm,  hat  er  selbst  in 
seineu  Ausgaben  als  Schreibfehler  einzelner  Handschriften  entfernt.^ ) 

Denjenigen  Punct  der  Metrik,  welchen  Bartsch  als  beweisend 
für  die  Abfassung  vor  1 1 50  ansieht,  das  Reimen  von  dreisilbigen 
Wörtern  zu  ungenauen  Reimen,  haben  wir  oben  als  nicht  ge- 
nügend beweisend  bezeichnet/)  Die  sprachlichen  Alterthüm- 
lichkeiten findet  Bartsch  mit  der  Abfassung  um  1140 — 1150 
vereinbar;  da  aber  in  solchen  Dingen  doch  nie  sicher  wird  ent- 
schieden werden  können,  ob  etwas,  das  als  in  einer  gewissen 
Zeit  gebräuchlich  nachgewiesen  ist,  es  20  —  30  Jahre  nachher 
noch  war  oder  nicht ''),  so  werden  auch  diese  Alterthümlichkeiten 
uns  noch  nicht  nöthigen,  das  Nibelungenlied  über  das  Jahr  1170 
hinaufzurücken. 


1)  S.  Seite  70  (§  i:^,  not.  119). 

2)  S.  Seite  103  f.  IST  (§  44,  not.  28.  .30;  §  48.  not.  1.). 

3)  S.  Seite  160  (§  44,  not.  IS.  20.). 

4)  S.  Seite  158  (§  44,  not.  10.). 

5)  S.  Seite  86  f.' 

6)  IVIit  Recht  sagt  Holtzmann  (Unters.  S.  83):  „man  kann  mit  Bestimmt- 
heit behaupten,  dass  ein  Wort  in  einer  gewissen  Zeit  gebräuchlich  war,  aber 
nie  mit  Sicherheit,  dass  es  nicht  mehr  gebräuchlich  war." 


23S  II.   Der  Verfasser  des  Nibelungenliedes. 

Wir  gelangen  mithin  in  diesem  Puncte  noch  zu  keiner 
weiteren  Bestimmung,  als  die  ist,  welche  das  Verhältnis  der 
Handschriften  uns  ergah, 

G2. 

Die  Frage  über  die  Heimat  des  Nibelungenliedes  brauchte 
hier  nicht  besonders  erörtert  zu  werden,  wenn  nicht,  gegenüber 
wohl  allen  anderen  Gelehrten  (welche  sämmtlich  Oesterreich  als 
seine  Heimat  ansehen)  Zarncke  eine  ganz  andere  Theorie 
darüber  aufgestellt  hätte.')  Zarncke  behauptet,  dass  „für  Oester- 
reich auch  nicht  der  Schatten  eines  Beweises  vorhanden  sei"-;, 
glaubt  vielmehr,  dass  das  Lied  in  Tirol  entstanden  sei  oder 
wenigstens  in  einem  angrenzenden  Gebiete.  Seine  Beweise  da- 
für sind  folgende. 

Auffallender  Weise  ist  bei  der  Frage  nach  der  Heimat  des 
Nibelungenliedes  der  Umstand  nie  erwogen  worden,  dass  fast 
alle  Handschriften  desselben  aus  Tirol  oder  doch 
aus  der  Gegend  südöstlich  vom  Bodensee  stammen.^) 
Dieses  Zusammensein  auf  einem  so  kleinen  Räume  und  das 
Fehlen  im  übrigen  Deutschland  lassen  doch  wohl  einen  Schluss 
auf  ihre  höhere  Bedeutung  zu. 

Noch  mehr  aber  wird  der  Blick  auf  Südwest -Deutschland 
und  vor  Allem  wider  auf  Tirol  festgehalten,  wenn  man  auch  die 
Handschriften  der  übrigen  Gedichte  aus  dem  Kreise 
unserer  Heldensage  in  Betrachtung  zieht.^)     Alle  weisen  für 


1)  Zarncke,  Beiträge  VIII  (S.  211-227)  v 

2)  Zarncke,  Ausg.  VI. 

3j  ('  und  A  waren  noch  gegen  ISdd  in  Ilohenems;  B  gehörte,  ehe  sie 
Tschudi  erwarb,  den  Grafen  von  Werdenberg;  /  war  noch  1799  Eigenthum 
der  Grafen  von  Mohr  (in  Tirol  und  Graubünden);  von  /  ist  h  eine  alte 
Copie;  d  stammt  aus  Ambras,  ihre  Vorlage,  das  .,Heldenbuch  an  der  Etsch-, 
weist  auf  Tirol;  in  a  findet  sich  das  Wappen  von  Montfort  gemalt:  nur  D 
ist  mit  Sicherheit  nicht  weiter  als  bis  Prünn  an  der  Altmühl  verfolgbar.  Von 
den  Fragmenten  stammen  einige  nachweislich  aus  Tirol,  die  meisten  aus 
Südwestdeutschland. 

4)  Von  der  Klage  gilt  natürlich  dasselbe,  wie  vom  N.  L.;  Biter olf 
und  Gudrun  sind  nur  in  der  Nib.-Hs.  d  enthalten;  Dietrichs  Flucht 
weist  entweder  nach  Ambras  (Ils.  d),  nach  Steiermark  (Windhager  Hs.)  oder 
nach  Heidelberg  (über  die  Abkunft  der  Ileid.  Hs.  ist  nichts  bekannt);  von 
Alpharts  Tod,  von  Walt  her  und  Ilildegund  wissen  wir  nichts  Näheres. 
Von  Waltharius,  Ortnit  und  den  Wolfdietrichen,  sowie  vom 
kleinen  Kos  engarten  weisen  die  älteren  IIss.  in  jene  Gegend;  es  ist  kein 


B.   Kritik  und  Resultate.  230 

die  ältere  Zeit  fast  ausschliesslich  an  den  Bodensee,  nach  Tirol 
lind  den  angrenzenden  Gegenden   der  Sclnvciz  nnd  Steit-rniarks. 

Dieselben  Gegenden  nun,  wo  die  hauiitsäclilichsten  Hand- 
schriften gefunden  sind,  sind  zugleich  diejenigen,  in  denen  der 
Hauptstock  der  Dictrichssage  wurzeln  muss.  Freilich  war 
diese  Sage  auch  anderwärts  verl)reitet  genug,  aber  go})flegt 
wurde  sie  sicher  ganz  besonders  in  jenen  Gegenden.  Zugleich 
ist  der  Erwähnung  werth,  dass  Piligrim  von  Passan  wahr- 
scheinlich ein  Tiroler  war. 

Das  Nibelungenlied,  wie  die  meisten,  mindestens  alle  älteren 
Gedichte  der  Heldensage,  war  offenbar  für  vornehme  Kreise 
bestimmt.  Diss  beweisen  nicht  nur  die  kostbaren  Handschriften 
und  ihre  Fundorte,  sondern  noch  mehr  das  Gedicht  selbst, 
welches  überall  eine  Kenntnis  der  ganzen  Hof-Etikette  und  In- 
teresse an  Aeusserlichkeiten  bekundet. 

Kaum  aber  wird  man  sich  solche  nationale  Ej)en  in  denselben 
Gegenden  ausgebildet  und  beliebt  denken  dürfen,  in  denen  die 
höfischen,  romanisierenden  Epen  entstanden  und  tonangebend 
waren.  Die  Gedichte  aus  dem  Kreise  der  deutschen  Heldensage 
zeigen  nicht  nur  eine  Keihe  von  übereinstimmenden  Eigenthüm- 
lichkeiten,  sondern  sie  sind  auch  in  jenen  Kreisen  augenschein- 
lich wenig  bekannt  geworden.  Wir  müssen  also  für  sie  eine 
von  dem  Verkehr  der  deutschen  Höfe  und  Dichter  abgelegenere 
Heimat  annehmen.  Diese  wird  weder  der  Rhein,  noch  Thüringen, 
iioch  Oesterreich  sein;  somit  bietet  sich  keine  Gegend  mit 
grösserer  Wahrscheinlichkeit,  als  jene  in  den  südlichen  Bergen 
Deutschlands,  in  f/ionlanis,  welche  von  jeher,  wie  auch  beinahe 
noch  jetzt,  eine  isolierte  Stellung  einnahm. 

Es  ward  aber  gewöhnlich  die  Heimat  des  Liedes  nicht  in 
Tirol,  sondern  in  Oesterreich,  d.  h.  in  den  Donaugegenden 
unterhalb  ßaierns,  gesucht. 

Lachmann  lässt  in  Oesterreich  nur  einen  Theil  des  Gedichtes 
entstanden  sein,  den  nemlich,  welcher  die  Reise  Kriendiilds  und 
die  der  Burgunden  enthält,  weil  sich  hier  eine  locale  Kenntnis 
der  Donaugegenden  verräth. 

Seine  Schule  hat  dieses  Resultat  auf  das  ganze  Gedicht  als 
wahrscheinlich  ausgedehnt.    Aber  der  genannte  Grund  Lachmanns 

Grund  zu  zweifeln,  dass  alle  (vom  Waltharius  weiss  man  es)  dort  entstanden 
sind.  Ebenso  Sigenot,  Ecke,  Drachenkämpfe  und  Goldemar. 
Dem  König  Ruother,  allerdings  nicht  seiner  Hs.,  ist  Tirol  als  Heimat 
nicht  abzusprechen  [?] 


240  II.   I>er  Verfasser  des  Nibelungenliedes. 

ist  nicht  von  durchschlagendem  Gewichte.  Denn  der  Dichter 
zeigt  sich  überall  wohl  zu  Hause,  wo  er  die  Localitäten  genauer 
schildert;  w^o  er  diss  nicht  thut,  muss  das  nicht  aus  Localun- 
kenntnis  stammen.  Dass  die  Geographie  des  Niederrheins  unklar 
gelassen  ist,  ist  kein  Wunder:  dieses  ganze  Land  erscheint  in 
der  Sage  als  ein  fabelhaftes,  und  überdiss  konnte  ein  deutscher 
Dichter  ganz  wohl  am  Niederrhein  gänzlich  unbekannt  sein. 
Alle  Dichter  fast  ohne  Ausnahme  gehören  zu  den  vurnden  liuten^ 
und  so  musten  ihnen  die  Hauptstrassen  wenigstens  Oberdeutsch- 
lands wohl  bekannt  sein. 

Dagegen  lässt  Lachmann  die  Zusammensetzung  seiner 
Lieder  am  thüringischen  Hofe  zu  Eisenach  vor  sich 
gehen;  es  soll  aber  die  erste  Strophe  des  Gedichtes  österreichi- 
schen Ursprungs  sein  und  ebenso  die  „Ueberarbeitung"  C. 

Was  spricht  nun  etwa  für  Thüringen? 

Nach  Lachmann  das  in  ^4  bäufig  erscheinende")  Wort  end 
für  Cy  die  Form  her  für  er  und  die  Form  uns  statt  unser,  die 
noch  heute  plattdeutsch  ist.  Allein  die  beiden  ersten  Formen 
sind  nicht  speciell  thüringisch'^),  sondern  ebensogut  oberdeutsch, 
die  Form  uns  dagegen  hat  Lachmann  selbst  erst  ohne  alle  Noth 
in  den  Text  gesetzt.') 

Die  Sprache  des  Nibelungenliedes  gewährt  überhaupt  sehr 
wenige  Anknüpfungspuncte  für  Dialectfragen,  da  das  Fehlen  von 
klingenden  Reimen  viele  Gelegenheiten  dafür  entzieht.  Soweit 
wir  aber  die  Sache  beurtheilen  können,  entspricht  sie  vollständig 
der  (schwäbischen)  Schrift-  und  Hofsprache,  die  sich  gegen  120») 
gebildet  hatte.**)  Für  die  Anknüpfung  an  Oester reich  dagegen 
finden  sich  gar  keine  Gründe.  Dagegen  wollte  man  solche 
für  einen  grossen  Theil  der  anderen  Heldengedichte  finden, 
namentlich  in  der  Setzung  von  ou  statt  rein  mhd.  //,  auch  schon 
von  ei  statt  /.     Diese  Abweichuu£-  kommt   dem  österreichischen 


5)  [S.  Seite  16  f.  (§  6.  not.  31).] 

ü)  e/nl  begegnet  im  Mitteldeutschen  gar  nie,  weist  vielmehr  eher  auf 
Süddeutschland;  /ler  für  er  kommt  ebenso  wohl  im  Oberdeutschen  vor,  auch 
ist  in  A  an  den  betreffenden  2  Stellen  wahrscheinlich  ein  Schreibfehler  vor- 
handen. 

7)  934,  2  BC:  ez  hat  nu  alle:  ende  unser  sorge  unt  unser  leit,  A:  e. 
h.  n.  a.  e.  an  uns,  sorge  unde  leit,  Lachmanu:  e.  h.  n.  a.  e.  uns  sorge  unde 
leit;  15S0,  3  ist  tins  entstanden  aus  der  Abbreviatur  uns^  =  unser. 

8)  Das  Wort  heie  ist  nur  in  Schwaben  nachzuweisen;  die  Form  end 
=  e-end  weist  auf  Tirol  oder  Steiermark. 


B.    Kritik  und  Resultate.  241 

Dialecte  f>eit  dem  elften  und  zwölften  Jahrhundert  entschieden 
zu,  ist  al)er  nicht  specitisch  österreichisch,  sondern  vichnehr  all- 
gemein 1) airisch,  spricht  also  nicht  gegen  die  Ahstamnmng 
jener  Gedichte  aus  Tirol,  da  Tirol  sowohl  bairische  als 
schwäbische  Bevölkerung  hatte,^)  Dem  Dichter  des  Biterolf  ist 
seine  steicrniärkische  Heimat  nicht  abzusprechen;  die  Eigen- 
thündichkeiten  der  Sprache,  wegen  welcher  er  nnt  dem  der 
Klage  ideutiticiert  worden  ist'"),  erstrecken  sich  auf  alle  Gedichte 
dieses  ganzen  Kreises.  Sie  werden  auch  von  allen  Xibelungen- 
handschriften  getheilt;  Tirol  ist  also  als  Heimat  auch  der  Ueber- 
arbeitung  in  der  vulgata  zuzuweisen.  Denn  der  Verfasser  der 
vulgata  ist,  wie  die  Fehler  Waskemralt  statt  Otenwalt,  Zeizen- 
vifirc  statt  Tre/senmüre  ])eweiseu,  weder  am  Rhein  noch  an 
der  Donau  bekannt*'];  der  von  ('  dagegen  weiss  an  beiden 
Orten  Bescheid,  ist  also  keinem  von  beiden  zuzuweisen. 


63. 

Die  Gründe  Zarnckes,  mit  so  viel  Geschick  dieselben  auch 
vorgebracht  sind,  beweisen  doch  nicht  zwingend. 

Das  Vorkommen  der  Handschriften  des  Nibelungenliedes 
und  der  anderen  Gedichte  der  deutschen  Heldensage  ist  doch 
niclit  gerade  auf  Tirol  und  seine  Umgegenden  beschränkt; 
auch  das  lieber  wiegen  der  süddeutschen  Fundorte  kann  nicht 
allzuviel  beweisen.  Wie  viele  Beispiele  haben  wir  davon,  dass 
Handschriften,  besonders  solche  von  grösserem  Werthe,  von 
ihrem  Besitzer  ausgeliehen  nnd  so  an  mehreren  anderen  Orten 
abgeschrieben  und  vervielfältigt  wurden!  Dabei  mochte  nicht 
selten  —  und  auch  davon  liegen  Beispiele  vor  —  ehie 
Handschrift  an  einem  Orte  liegen  bleiben,  vielleicht  aus  Zufall, 
"\'ielleicht  auch  aus  Absicht  ihrem  ersten  Besitzer  für  immer  ent- 
fremdet werden.  Dem  Schlüsse,  den  Zarncke  aus  den  Fund- 
orten der  Handschriften  zieht,  dass  die  südlichen  Gegenden 
Schwabens  und  Baiern,   durch  ihre   gebirgige  Lage   schon  dem 


9)  Die  Grenze  zwischen  beiden  bildeten  Lech  und  Etsch. 

10)  e  :  c,  u  :  iio,  c  :  ch,  g  :  b,  m  :  n,  Hagene  :  dl-tjcne ;  kleit  =  klaget  : 
rührende  Reime;  sttn,  gen;  pte.  prs.  auf  nnde ;  der  Wechsel  der  Formen 
lianden  und  henden.  snone  und  siiene,  mähte  und  molttc ;  schwaukende 
Declination  der  Eigennamen. 

11)  [S.  aber  Seite  92.] 

Fischer,  Nibelungenlied.  1 1> 


242  11.   Der  Verfasser  des  Niheluiigenliedes. 

grossen  Weltverkehr  ferne  stehend,  die  Pflegstätten  nationaler 
Dichtung  gewesen  seien,  lassen  sich  nicht  allein  die  Behaujjtnngen 
Spanns,  Miillenhoffs  und  Pfeitfers  einfach  gegeniiherstellen,  dass 
der  österreichische  Hof  es  gewesen  sei,  der  die  nationale 
Epik  mit  warmer  Theilnahme  gepflegt  habe;  es  lässt  sich  auch, 
und  wohl  nicht  mit  Unrecht,  behaupten,  dass  Oesterreich,  als 
der  Schauplatz  oder  wenigstens  der  Vorhof  des  grossen  nationalen 
Dramas  der  Ungarnkriege  des  elften  Jahrhunderts,  mindestens 
ebenso  gut  zur  Pflege  nationaler  Dichtung  angethan  gewesen 
sei,  als  Tirol,  der  Durchzugspass  der  nicht  eben  in  nationalem 
Sinne  unternommenen  und  ausgeführten  Riimerzüge  und  die 
nächste  Berührungsstätte  zwischen  italiänischem  und  deutschem 
Wesen,  das  in  dem  Etschtlialc,  einer  alten  und  neuen  Yölker- 
strasse,  in  einander  überspielte.  Ja,  wenn  wir  oi)cn  mit  Recht 
das  Nibelungenlied  in  der  ältesten  für  uns  nachweislichen 
Gestalt  etwa  in  das  Jahr  1170  gesetzt  haben,  so  ist  diss  eine 
Zeit,  wo  die  romanisierende  Dichtung  kaum  im  Entstehen  be- 
griffen war,  welche  nachher  die  Höfe  des  Rheinlands,  Thüringens 
und  Oesterreichs')  beherrschte,  wo  also  ganz  wohl  eine  echt 
nationale  Richtung,  angeregt  durch  die  Ungarnkriege  des  \ev- 
gaugenen  Jahrhunderts,  die  ihre  Spuren  noch  lauge  in  gegen- 
seitigem Xationalhass  zurückliesscn,  am  Hofe  zu  Wien  tonangebend 
sein  konnte. 

Ist  nun  von  dieser  sozusagen  culturgeschichtlichen  Seite  gegen 
die  Entstehung  des  Gedichtes  in  Oesterreich  gar  nichts  beizu- 
bringen, so  lässt  sich  von  Seiten  der  Sprache  des  Xi])elungen- 
liedes,  die  ein  sehr  reines  Mhd.  ist,  von  unserem  Standpunct 
aus  schon  deswegen  nicht  viel  beweisen,  weil  uns  das  Xibe- 
lungenlied  nur  in  Ueberarbeitungen  enthalten  ist,  etwaige  Pro- 
vincialismen  desselben  also  auch  den  Bearbeitern  zukommen 
könnten.  Aber  auch  die  Sprache  der  Bearbeitungen  gibt  nach 
keiner  Seite  hin  einen  Ausschlag;  die  Meisten  sehen  sie  als 
österreichisch,  Zarncke  als  schwäbisch  (oder  bairisch)  an;  die 
Wahrheit  wird  darin  liegen,  dass  sie  keines  von  l^eiden  ist, 
sondern  ein  reines  Mhd.,  wie  es  sich,  sei's  nun  aus  dem 
Schwäbischen,  Fränkischen  oder  Desterreichischen,  gegen  1200 
hin  als  Schriftsprache  der  Gebildten  entwickelte.'') 


1)  Gegeu  das  letztere  s.  jedoch  Miillenhoffs  Ausführnngen. 

2)  Interessant  ist.  was  A.  Zeune  sagt  („Ist  Heinrich  von  Ofterdingfn 
Verfasser  der  Nibelungen-Xoth",  in  Hagens  Germ.  IV.  141  — 147):   ..Was  dii^ 


B.    Kritik  niul  Resultate.  241} 

Die  Untersuchung  über  die  Heimat  des  Nibelungenliedes 
jührt  somit  an  sieh  zu  keinem  })Ositiven  Ergebnis;  wir  dürfen 
also  im  Folgenden  die  Untersuchung  über  den  Verfasser  ohne 
Rücksicht  auf  diese  Frage  aufnehmen. 

(U. 

Die  vor  Pfeiffer  versuchten  Theorieen  über  den  Verfasser 
des  Nibelungenliedes  dürfen  wir  als  auti(iuiert  und  mit  unserem 
aus  der  Handschriftenfrage  gewoinienen  Ergebnis  unvereinljar 
kurz  abhandeln. 

Merkwürdig  ist,  warum,  so  lange  man  das  Nibelungenlied 
um  120(1  entstanden  glaubte,  so  selten  auf  Wolfram  von 
Eschenbach  gerathen  wurde.  "Wolfram  ist  van  allen  hiifischen 
Dichtern  derjenige,  der  auf  inneren  Gehalt  der  Dichtung  und 
des  Stoffes  am  meisten  sieht,  die  äussere  Form  am  meisten 
vernachlässigt:  ebenso  ist  die  Grösse  des  Nibelungenliedes  ge- 
gründet nicht  auf  seine  häufig  unbeholfene  Form'),  sondern  auf 
die  Colossalität  seines  Stoffs.  Wolfram  war  überdiss  (s.  IJartsch, 
Unters.  36S)  ein  Kenner  und  Verehrer  der  deutschen  Helden- 
sage-'), war  es  also  nicht  naheliegend,  ihm  die  Autorschaft  des 
Nibelungenliedes  zuzuschreiben"?  —  Natürlich  scheitert  diese 
Annahme  von  vornherein  an  unserer  Zeitbestimmung;  ist  das 
Nibelungenlied  spätestens  um  1170 — 1  ISO  (jedenfalls  noch  vor 
i  1  So)  gedichtet,  so  müste  Wolfram,  wenn  wir  ihn  auch  das  Lied 
schon  mit  20 — -lO  Jahren  dichten  Hessen,  seinen  AVillehalm  mit 
()0 — SO  Jahren,  ja  am  wahrscheinlichsten  mit  über  7o  Jahren 
gedichtet  haben. 

Nicht  besser  steht  es  mit  der  Theorie  Spanns.  Ganz  ab- 
gesehen von  der  Frage,  ob  Ofterdingen  eine  historische  oder  eine 
mythische  Person  sei^),  ob  der  Wartburgkrieg  wahr  oder  erdichtet 

Sprache  unseres  Liedes  betrifft,  welche  Ritter  v.  Spaun  [dessen  Buch  Zeuue 
1.  c.  recensiert]  ganz  für  Oesterreichisch  erkennt,  so  hat  dieselbe  Braun 
ganz  für  Mainzisch  erklärt,  und  Herr  A.  W.  v  Schlegel  erzahlte  mir. 
dass  ein  Mädchen  in  Solothurn  im  Xib.-Liede,  das  er  immer  bei  sich  geführt, 
gelesen  und  alles  für  gut  Schweizerisch  gehalten  habe.  Wo  ist  nun  das 
echte  Schiboleth?" 

1 )  Dahin  auch  die  häutigen  unreinen  Reime  Wolframs  parallel  denen 
des  N    L. 

2)  Spaun  macht  ihn  (S.  22— 24)  unbegreiflicher  Weise  zu  einem  Gegner 
derselben,  nur  um  Ofterdingen  und  Klinsor,  denen  Wolfram  im  Wartburg- 
kriege feindlich  gegeilübertritt,  als  historische  Personen  halten  zu  können. 

3i  Das  Letztere  ist  denn  doch  das  Recipierte. 

IG* 


244  II-   I>er  Verfasser  des  Xibelungeuliedes. 

8ei,  ist  Ofterdingen  jedenfalls  für  den  Dichter  des  Niljelungen- 
liedes  zu  jnng.  Spann  setzt  seine  Geburt  um  1160,  und  weiter 
zurückzugeben,  verbietet  schon  Spanns  Datierung  des  Wartl)urg- 
krieges,  welcher  jedenfalls  in  Leopolds  VII.  Zeit  fallen  miLSS 
(also  nach  1198),  wenn  er  überhaupt  historisch  ist.  Spaun  aber 
will  selbst  Heinrich  von  Ofterdingen  als  jungen  Mann  dabei  auf- 
treten lassen.  Entweder  also  hat  Ofterdingen  das  Nibelungen- 
lied gedichtet:  dann  müste  er  bei  dem  Wartburgkriege  über 
60  Jahre  alt  gewesen  sein ;  oder  war  er  bei  dem  letzteren  nicht 
über  40  —  50  Jahre  alt,  so  müste  er  das  Nibelungenlied  mit 
10 — 12  Jahren  gedichtet  haben! 

Auch  was  Holtzmann  ])eigebracht,  freilich  selbst  als  sehr 
problematisch  l)ezeichnet  hat,  ist  unmöglich.  Denn  Rudolf  von 
Ems  und  Walther  sind  beide  viel  zu  jung,  als  dass  sie  schon 
um  1 170  gedichtet  haben  könnten. 

65. 

Pfeiffers  Theorie  ist  demnach  die  einzige,  die  uns  noch 
übrig  bleibt;  und  sie  ist  auch  eine  entschieden  befriedigende, 
in  sich  selbst  an  keinem  Widerspruche  leidende.  Von  zwei 
Seiten  sind  Einwände  gegen  dieselbe  erhoben  worden,  von 
Zarncke  im  „Literarischen  Centralblatt "  1S63,  Spalte  37  f., 
von  Julius  Zupitza  in  einem  Programm  von  Oppeln,  „Ueber 
Franz  Pfeiffers  Versuch,  den  Kürnberger  als  den  Dichter  der 
Nibelungen  zu  erweisen",  1S67,  Zupitzas  Schrift,  hat  eine  ein- 
gehende Erwiderung  gefunden  durch  Bartsch  in  Pfeiffers 
Germania  XIII,  241 — 244,  —  Die  Betrachtung  der  Einwände 
Zarnckes  und  Zupitzas  wird  uns  zugleich  Gelegenheit  geben,  die 
Hauptpuucte  der  Frage  und  Theorie  selbst   ins  Auge  zu  fassen. 

Zarncke  stellt  Pfeiffers  Theorie  -nicht  als  unhaltbar, 
sondern  nur  als  eine  Reilie  nicht  unmöglicher  ^Möglichkeiten'- 
hin.     Sieben  Punctc  findet  Zarncke  von  Pfeiffer  nicht  bewiesen. 

1)  „Hat  Pfeiffer  nicht  bewiesen,  dass  das  Nibelungenlied 
eine  Umar])eitung  sei."  —  Holtzmanns  und  Pfeiffers  Gründe 
dafür  waren  allerdings  nicht  die  stärksten,  allein  Bartsch 
scheint  uns  denn  doch  diese  Umarbeitung  unwiderleglich  bewiesen 
zu  haljen.'j    Daher  fällt  dieser  Einwand  Zarnckes  für  uns  weg. 

1)  S.  auch  Bartsch  in  Pf.  Germ.  XIII,  229,  wo  er  mit  Recht  Zarncke 
vorhält,  dass  derselbe  nach  dem  Erscheinen  von  Bartschs  „üntersuchiingen- 
seine  Einwände  von  1SG:3  unverändert  geltend  gemacht  habe.   . 


B.   Kritik  und  Resultate.  245 

■2)  „Hat  Pfeiffer  nicht  bewiesen,  dass  das  Nibelungenlied 
in  Oesterreicli  entstanden  sei."  —  JJicse  Frage  haben  wir  oben 
selbst  als  nicht  sicher  zu  entscheiden  bezeichnet;  sie  wird  daher 
erst  beantwortet  werden  können,  wenn  über  den  Verfasser  etwas 
entschieden  sein  wird. 

:>)  „Hat  Pfeiffer  nicht  bewiesen,  dass  in  der  ersten  Hälfte 
des  zwölften  Jahrhunderts  dieselbe  Pedanterie  in  Beziehung  auf 
die  Töne  geherrscht  habe,  wie  später."  —  Pfeiffer  hat  seinen 
Dichter  in  die  Jahre  1 120—  1 140,  Bartsch  in  die  Jahre  li4(»— 11  öo 
versetzt;  nehmen  wir  das  Letztere  an,  so  ist  die  Entstehung  des 
Nibelungenliedes  in  eine  Zeit  gerückt,  wo  wir  neben  und  gleich 
nach  dem  Kürenberger  schon  Dietmar  von  Eist  in  einem  anderen 
Tone  dichten  sehen.  —  Und  ist  nicht  a  prior/'  wahrscheinlich,  dass 
in  der  Zeit,  wo  die  kunstreiche  Stro})lienform  erst  aufkam,  das 
Eigenthum  eines  Dichters,  sein  Anrecht  auf  eine  Strophenform,  die 
noch  dazu  in  jener  Zeit  häufig  die  einzige  war,  die  derselbe 
Dichter  anwandte,  die  noch  dazu  zugleich  eine  besondere,  vom 
Dichter  selbst  zu  erfindende,  Melodie  hatte,  noch  strenger  ge- 
wahrt worden  sei,  als  später?  Auch  dieser  Einwand  Zarnckes 
daif  fallen. 

4)  „Hat  Pfeiffer  nicht  bewiesen,  dass  die  Sitte  der  Nicht- 
entlehnung  auch  in  der  Epik  geherrscht  habe. "  —  Nun,  Pfeiffer 
hat  dafür  genug  Beispiele  aus  früher  Zeit  angeführt;  wenn  wir 
den  Alphart  ebenfalls  dem  Dichter  des  Nibelungenliedes  zu- 
schreiben"-), so  können  Avir  Zarnckes  Einwurf  als  völlig  unbe- 
rechtigt zurückweisen. 

5)  „Hat  Pfeiffer  nicht  bewiesen,  dass  diese  Sitte  auch  bei 
dem'Uebergang  von  der  Lyrik  in  das  Epos  geherrscht  habe. "  — 
Wir  werden  sagen  müssen  (s.  Punct  3),  in  der  ersten  Zeit,  v^o 
die  Strophenform ,  bisher  nur  lyrisch,  auch  für  das  Epos  ver- 
wendet wurde,  werde  sie  gewiss  noch  mehr  als  Erfindung,  als 
Eigenthum  des  Dichters  betrachtet  und  geachtet  worden  sein. 

Meint  aber  Zarncke  diesen  Einwurf  so,  dass  es  nicht  zu  be- 
weisen sei,  dass  ein  Dichter  zum  Behuf  epischer  Dichtung  eine 
von  einem  anderen  für  lyrische  Gedichte  benutzte  Strophe  nicht 
habe  entlehnen  dürfen,  so  wird  zuzugestehen  sein,  dass  diss 
nicht  bewiesen  ist,  dass  es  überhaupt  schwer  beweisbar  ist;  doch 
darf  darauf  liingeAviesen  werden,   dass  in  der  That  ausser  der 


2)  S.  oben  §  tJO,  not.  7.    S.  übrigens  den  Nachtrag. 


246  II.      l'er  Verfasser  des  Nibelungenliedes. 

Nibelungeiistrophe  sich  keine  ejjische  Strophe  in  der  Lyrik  ver- 
wendet tindet  oder  umgekelirt. 

6)  ..Hat  Pfeiffer  nicht  bewiesen,  dass  die  Kiiienhcriit's  irhe 
die  Nibeliingenstrophe  sei;  denn  die  Uebersclirift  der  Pariser 
Handschrift,  welche  die  fünfzehn  Strophen  dem  Kiirenberger  zu- 
schreibt, ist  gewiss  nicht  echt,  sondern  wohl  aus  der  Nennung 
von  Kürcnlxuujes  irise  in  einer  dieser  Strophen  entstanden."  — 
Ueber  diesen  Punct  s.  u.  bei  Zupitza. 

7)  „Hat  Pfeiffer  nicht  bewiesen,  dass  Küren))erg,  ähnlich 
wie  Stesichoros  zugleich  Lyriker  und  Epiker,  der  Begründer  des 
h()fischen  Gesanges  gewesen  sei."  —  Das  ist  mm  eben  der 
wesentliche  Inhalt  der  Pfeiflferischen  Untersuchung.  Dass  Küren- 
berg  der  erste  Lyriker  und  zugleich  der  erste  höfische  Dichter  ist, 
den  wir  kennen,  steht  einmal  fest:  so  lange  Zarncke  keinen 
Vorgänger  dc;-  Kürenbergers  nachweisen  kann,  wird  auch  gelten 
münsen,  dass  er  für  uns  der  Begründer  der  höfischen  Poesie  ist. 

Will  Zarncke  etwa  darin  eine  Schwierigkeit  finden,  dass 
ein  Dichter  dieselbe  Form  für  Epik  und  Lyrik  verwendet  haben 
soll,  während  doch  innerhalb  der  höfischen  Lyrik  selbst  derselbe 
Dichter  sich  so  vieler  und  verschiedener  Stroi)lienfbrmen  bedient 
habe,  so  ist  zu  entgegnen:  die  erste  Zeit  stroiihisclier  Dichtung 
hatte  noch  nicht  den  Reichthum  an  metrischen  Gebilden  erzeugt, 
noch  nicht  die  Beweglichkeit  in  der  Handhal)ung  solcher  ge- 
wonnen, welche  die  Lyrik  eines  Walther  schon  im  höchsten 
Grade  entwickelt  zeigt.  Kürenberg  hat  mit  einer  leichten  Mo- 
dification  immer  einen  und  denselben  Ton.  So  mochte  in  jener 
Zeit  ein  Dichter  füglich  dazu  kommen,  eine  von  ihm  in  lyrischer 
Dichtung  verwendete  Form  auch  auf  das  E])os  zu  übertragen. 
Und  davon  abgesehen,  —  auch  unsere  grossen  Dichter  des  acht- 
zehnten Jahrhunderts,  denen  der  Weisen  genug  zu  Gebote  standen, 
hal)en  dieselben  Formen,  die  sie  für  epische  Dichtung  l)enutzten, 
auch  in  der  Lyrik  mehrfach  verwendet;  und  was  sie  getlian, 
sollte  einem  Dichter  des  zwölften  Jahrhunders  abzusprechen  sein? 

So  erledigen  sich,  wie  uns  scheint,  alle  Einwände  Zarnckes 
ganz  einfach.     Ebenso  die  Einwände  Zujtitzas. 

Zupitza  ist  Lachmannianer.^)  Da  er  also  das  Nibelungen- 
lied für  eine  Sammlung  von  Volksliedern,  seine  Stroi)he  für 
eine  Volksweise  halten  muss,  so  gibt  er  zwar  vollständig  zu, 
dass  schon  im  zwölften  Jahrhundert   die  Entlehnung  eines  Tons 


:i)  S.  z.  B.  Pfeiifers  Germania  XIII,  455.  4">(3. 


B.    Kritik  uiul  Resultate.  247 

imerlaubt  gewesen  sei,  will  aber  Aon  diesem  Gesetze  die  Nibe- 
luiigenstrophc  aiisi;-ciionmien  wissen  ,.  aus  iri^-end  einem  Grunde, 
der  uns  nicht  zu  Iviinnnern  braucht''.  Ais  licweis  dafür,  dass 
die  Nil)i'luni;'enstr()})he  jenem  Gesetze  niclit  unterworfen  gewesen, 
führt  Zupit'/a  den  Alphart  und  den  Ortnit  an,  welche  beide  in 
der  Nibelung'cnstrophe  vcrfasst  sind  und  von  denen  der  letztere 
um  1220 — I2:;o,  der  erstere  aber,  nur  in  einer  späten  Umarbei- 
tung erhalten,  noch  im  zwölften  Jahrhundert  geschrieben  sein  soll. 

Bartsch  hat  in  seiner  oben  genannten  Recension  von  Zupitzas 
Schriftchen   auf  diesen  Einwand   mit  licclit  Folgeiulcs   erwidert. 

Für  die  Behaui»tung,  dass  die  jS'ibelungeustrophe  von  dem 
Gesetze  der  Nichtentlehnung  ausgenommen  gewesen  sei,  ist  es 
zuuächst  nothwendig,  den  (Jrund  dieser  Ausnahme  zu  finden; 
das  hat  aber  Zu])itza  nicht  gethan.  Ueberhaupt  ist  es  eine  leere 
Behauptung  der  Lachmannischen  Schule,  dass  die  Nibelungen- 
stro))he  im  zwölften  Jahrhundert  die  herrschende  Form  des 
epischen  Volksliedes  gewesen  sei.  Denn  diese  Behauptung,  die 
sich  auf  gar  nichts  gründet,  als  auf  die  Liedertheorie  Lachmanns, 
ist  in  keiner  Weise  zu  belegen.  Der  Alphart  gehört  allerdings 
in  seiner  ursprünglichen  Gestalt  dem  zwölften  Jahrhundert  an; 
allein  er  ist  uns  nur  in  einer  späten  Umarbeitung  erhalten,  und 
so  gut  als  Lachmann  die  Klage  als  Umarbeitung  eines  strophi- 
schen Gedichtes  betrachtet),  ebenso  gut  kann  der  Al})hart  als 
Umarbeitung  eines  ursprünglich  in  anderer  Form  aljgetässten 
Gedichtes  betrachtet  werden.  Aber  wenn  der  Al})hart  (was 
Bartsch  glaubt)  in  derselben  Form  mit  dem  Nibelungenliede 
verfasst  war,  so  beweist  diss  nichts  weiter  als  die  Identität  der 
Verfasser,  welche  durch  nichts  widerlegt,  ja  durch  einige  trotz 
der  l)eiderseitigen  Umarbeitung  noch  erhaltene  Aehnlichkeiten 
nahe  gelegt  wird.  Der  Ortnit  beweist  nichts;  denn  mag  er  auch 
um  1220 — 12:>0  schon  verfasst  sein,  so  würde  damit  die  Zeit, 
in  welcher  die  Entlehnung  von  Weisen  begonnen,  um  etwa 
20  Jahre  rückwärts  geschoben,  aber  nicht  bewiesen,  dass,  was 
nm  1230  galt,  auch  um  liuo  oder  früher  gegolten  hal)e. 

Ein  zweiter  Einwand  Zupitzas  ist  der,  dass  die  Küren- 
bergischen  Strophen  niclit  von  einem,  sondern  von  drei  Verfassern 
herrühren.  Diss  gründet  sich  darauf,  dass  in  mehreren  der 
15  Strophen  eine  (nach  Zupitza  mehrere)  Dame  redend  eingeführt 


4)  Worin    Bartsch    nicht    mit    Lachmami    übereinstimmt;    s.    Bartsch, 
Unters.  :vu  ff. 


248  II-    Der  Verfasser  des  Nibekmgenliedes. 

wird.  Allein,  erwidert  Bartsch  mit  Kecht,  dieses  Einführen  einer 
anderen  Person  als  redender  ist  hei  der  epischen  Art  der  älteren 
Liederdichtung  in  den  Gedichten  der  Lyriker  des  zwölften  Jahr- 
hunderts nicht  selten,  damit  also  die  Einheit  des  Verfassers  der 
15  Strophen  nicht  widerlegt. 

Ferner  behauptet  Zupitza,  dass  gar  keine  Nöthigung  vor- 
handen sei,  aus  dem  Titel  der  Pariser  Handschrift  auf  den  Küren- 
berger  als  Verfasser  zu  schliessen;  vielmehr  habe  der  Schreiber 
jener  Handschrift  diesen  Namen  nur  aus  der  Nennung  der  Küren- 
bergsweise in  einer  der  Strophen  entnommen.  Letzteres,  ent- 
gegnet Bartsch,  ist  möglich,  aber  nicht  noth wendig,  ja  es  ist 
gezwungen.    Die  betreffende  Strophe  lautet: 

Ich  stuonl  mir  nehtint  späte  an  einer  zinne(n): 

t/o  horte  ich  einen  ritter  vil  wol  sirnjen 

in  Kürenberges  wise  al  //:?  der  meneipn. 

er  nmoz-  mir  diu  lunt  riimen,  ald  ich  rjeniete  mich  sin. 

Dass  die  Dame,  die  hier  spricht,  eine  un:sithi  begehe,  indem 
sie  ihres  Geliebten  Namen  nennt,  wie  Zupitza  meint,  ist  falsch; 
denn  der  Dichter  spricht  ja  durch  den  Mund  eines  Anderen,  legt 
die  Strophe  in  den  Mund  seiner  Geliebten;  und  seinen  eigenen 
Namen  in  einer  einem  Anderen  in  den  Mund  gelegten  Kede  zu 
nennen,  galt  nie  für  unschicklich.  Auch  ist  die  einzig  richtige 
Auffassung  der  Strophe  die,  dass  die  Dame  mit  Kiirenherfjes 
wise  wirklich  die  ihres  Geliebten  meint.  „Die  Frau  steht",  sagt 
Bartsch,  „bei  später  Nachtzeit  an  der  Zinne  und  hört  einen 
Eitter  singen;  der  Ritter  ist,  wie  aus  der  vierten  Zeile  sich  er- 
gibt, der  Mann,  den  sie  liebt.  Sie  kann  ihn  nicht  sehen,  aber 
sie  erkennt  ihn  an  der  Weise,  die  er  singt,  und  diese  Weise  ist 
Kürenbergs  Weise;  die  einzig  natürliche  Auffassung  der  Stelle 
ist  also:  der  Ritter,  den  sie  singen  L'-rt,  niuss  der  Kürenberger 
sein,  die  Liebende  erkennt  ihn  an  der  von  ihm  gesungenen  Weise. 
Welchen  Sinn  hätte  sonst  überhaupt  hier  die  Nennung  einer 
bestimmten  Weise,  wenn  es  nicht  die  Weise  des  geliebten  Ritters 
ist,  die  sie  nicht  zum  ersten  Male  heute  vernimmt,  die  sie  im 
Dunkel  der  Nacht  ihn  aus  der  Menge  heraus  erkennen  lässt! 
Es  wäre  sonst  wahrlich  die  Situation  wenig  geeignet  für  die 
liebende  Frau,  ihre  litterarischen  und  musikalischen  Kenntnisse 
anzubringen."  Ist  aber  der  Ritter,  den  die  Dame  meint,  wirk- 
lich der  Kürenberger,  so  ist  aller  Grund  vorhanden,  die  in  K» 
unter  den  15  Strophen  erhaltene,  in  2  nur  durch  Einfügung  einer 


B.    Kritik  uiul  llesnltate.  2-11) 

Halbzeile  luodilicicrte  Strophent'orni  unter  der  Kiirenbcrgsweise 
zu  verstehen. 

Der  Gegner  der  Pfeiticrischen  Hypothese,  sagt  liartsch,  hat 
also,  um  diese  zu  widerlegen,  nachzuweisen, 

1)  dass  die  Nibelnngenstrophe  im  zwölften  Jahrhundert  die 
herrsehende  Form  des  Volksliedes  gewesen, 

2)  warum  sie  gerade  von  dem  Gesetze  der  Nichtentlehnung 
ausgenommen  geAvesen, 

o)  wie  die  auftauende  Aehnlichkeit  in  Einzeldingen  zwischen 
den  Kürenbergischen  Strophen  und  dem  Nibelungenliede  zu 
erklären, 

4)  dass  Bartschs  Theorie,  nach  Avelcher  das  Nibelungenlied 
aus  einer  um  die  Mitte  des  zwölften  Jahrhunderts  entstandenen 
Gestalt  umgearbeitet  ist,  falsch,  und 

5)  dass  das  Nibelungenlied  nicht  in  Oesterreich  entstanden  sei. 
Ist  diss  alles  nicht  nachzuweisen,   so   sind   die  Gründe  für 

die  Identität  des  Kürenbergers  mit  dem  Verfasser  des  Nibelungen- 
liedes zu  stark,  als  dass  nicht  Pfeiffers  Theorie  als  höchst  wahr- 
scheinlich anzunehmen  wäre. 

66. 

Wollen  wir  in  der  Kürze  den  Versuch  machen,  die  Beweise, 
welche  Bartsch  seinen  Gegnern  zugeschoben  hat,  zu  führen, 
so  wird  sich  zeigen,  dass  sich  dieselben  nicht  führen  lassen, 
dass  somit  Pfeiffers  Theorie  mindestens  nicht  widerlegbar  ist. 

Punct  1)  und  2)  fallen  zusammen:  wenn  die  Nibclungen- 
stroi)he  eine  Volksweise  war,  so  war  es  wohl  unbedingt  Jeder- 
mann erlaubt,  von  ihr  Gebrauch  zu  machen. 

Aber  war  sie  das"?  IMan  kann  dafür  anführen,  dass  nicht 
nur  die  vielen  Variationen  der  epischen  Strophen  grossentheils  aut 
die  Nibelungenstrophe  zur'Jckgehen,  welcher  somit  eine  grosse  Be- 
kanntheit im  zwidften  und  dreizehnten  Jahrhundert  zuzuschreiben 
ist,  sondern  dass  die  einfachste  aller  dieser  Variationen,  der 
Hildebrandston,  im  dreizehnten  Jahrhundert  und  später  wirklich 
als  Volksweise  auftritt.  Allein  sicher  ist  daraus  nicht  zu  schliessen, 
dass  schon  die  Nibelungenstrophe  dem  Volksgesang  entstanmie. 
Denn  es  lässt  sich  die  Bekanntheit  der  Strophe  einlach  al)leiten 
aus  dem  bedeutenden  Gehalte  des  Liedes,  dessen  Verbreitung 
die  grosse  Zahl  seiner  Handschriften  schon  in  früher  Zeit  be- 
weist. Pfeiffers  und  Bartschs  Beweisführung,  dass,  wenn  die 
Nibelungenstrophe  eine   Völksweise  gewesen  wäre,    sie   gewiss 


250  II-     I>ei'  Verfasser  des  Nibelungenliedes. 

mehrfach  unveränderte  Anwendung  gefunden  hätte,  ist  um  so 
.stichhaltiger,  als  die  Verfasser  der  Gedichte,  in  welchen  die 
Strophe  modiliciert  erscheint,  mit  nichten  lauter  Heroen  der 
Dichtkunst  sind.  So  glauben  wir,  dass  der  Beweis  für  den 
volksthümlichen  Ursprung  der  Strophe  nicht  zu  erbringen  ist.  — 
Punct  3j  vollends  spricht  gewiss  deutlich  für  Pfeiffers  Theorie 
und  bildet  die  positive  Ergänzung  zu  der  negativen  Beweis- 
führung aus  dem  Xichteutlehnungsgesetzc,  talls  die  letztere  nicht 
stichhaltig  erscheinen  sollte.  —  4)  Bartschs  Handschrittentheorie 
zu  widerlegen  ist  bis  jetzt  Niemand  gelungen,  ebensowenig  5) 
einen  nichtösterreichischen  Ursprung  des  Liedes  zu  erweisen. 

Mit  dem  Angeführten  sind,  so  scheint  uns,  alle  Gründe 
gegen  Pfeiffers  Theorie  aufgehoben.  AVir  ha1)en  dagegen  alle 
Ursache,  diese  Theorie  als  eine  mit  allen  bis  jetzt  gewonnenen 
Resultaten  treiflicli  übereinstimmende  vollkommen  zu  adoptieren. 
Schon  die  Annahme,  dass  das  Xibelnngenlied  in  der  Gestalt, 
die  den  Bearbeitern  AB  und  (J  vorlag,  um  1 17(i  entstanden  sein 
muss,  weist  dasselbe  in  eine  Zeit,  die  der  des  Kürenberges  nahe 
steht.  Wenn  Pfeiffer  Magenes,  Bartseh  Konrad  von  Küren  berg 
als  Verfasser  nennt,  so  glauben  wir,  dass  es  unwesentlich  ist, 
ob  ein  l)estiramter  anderweitig  bekannter  Kürenberger  als  "\'er- 
tasser  angenommen  oder  ob  diese  Frage  offen  gelassen  wird; 
sichere  Beweise  fehlen  ja  hier  gänzlich. 

Es  erhebt  sich  nun  die  Frage:  ist  jene  von  Bartsch  ange- 
nommene erste  Umarbeitung  um  1170  nothwendig,  oder  kann 
das  Nibelungenlied  selbst  in  dieser  Zeit  entstanden  sein?  Es 
wird  die  Beantwortung  dieser  Frage  keine  sichere  sein,  weil 
nicht  zu  erweisen  ist,  ob  Magenes  von  Kürenberg  oder  Konrad 
oder  keiner  von  beiden  als  Verfasser  des  Nibelungenliedes  an- 
zusehen ist.  Nähmen  wir  das  Erstere  an,  so  würden  wir  über 
Bartschs  Annahme  nicht  hinwegkommen  können;  nehmen  wir 
das  Letztere  an  oder  überhaupt  die  Abfassung  der  lyrischen 
Stroidien  um  11 40— 1150,  so  wird  dieselbe  inuner  noch  möglich, 
aber  nicht  nothwendig  geboten  und  der  Einfach  lieit  der  Lösung 
wegen  eher  zu  verwerfen  sein;  denn  der  Dichter,  der  um  oder 
vor  1150  lyrische  Gedichte  sang,  kann  gar  wohl  um  1170  (viel- 
leicht dürfen  wir  das  Nibelungenlied  etwas  früher  setzen)  im 
Mannesalter  ein  grosses  Epos  verfasst  haben.  Sicher  ^vird  die 
Sache  nicht  zu  entscheiden  sein. 


,B.   Kritik  uiul  Resultate.  251 

(17. 

Resultate. 

In  gedräiig-ter  Uebersiclit  sind  die  Resultate  dieser  letzten 
Untersuchung  folgende : 

1)  Der  Verfasser  der  1.')  unter  dem  Namen  des  Kiirenbergers 
auf  uns  gekommenen  Strophen  und  der  des  Xil)elungenliedes  sind 
identisch;  denn  es  ist  kein  Grund  v.n  tinden,  warum  die  Xibe- 
lungenstrophe  von  dem  schon  im  zwölften  Jahrhundert  allgemein 
giltigen  Gesetze  der  Nichtentlehnung  der  Töne  eine  Ausnahme 
gemacht  haben  sollte. 

■2i  Ob  der  Dichter  Magenes  oder  Konrad  von  Kürenberg 
oder  keiner  der  historisch  bezeugten  Kürenl)erger  ist,  lässt  sich 
nicht  nachweisen. 

3)  Im  erstereu  Falle  ist  eine  um  llTi)  gefertigte  erste  Um- 
arbeitung des  Gedichtes  anzunehmen,  im  zweiten  Falle  ist  diese 
Annahme  nicht  uothwendig;  das  Letztere  ist  wohl  zu  bevorzugen. 

4)  Der  Dichter  benutzte  zu  seinem  AVerke  das  im  zehnten 
Jahrhundert  lateinisch  verfasste  Buch  des  Schreibers  Konrad. 

5)  Der  Wohnsitz  des  Dichters  ist  wohl  der  Kürenberg  ober- 
halb Wilhering,  westlich  von  Linz ;  das  Gedicht  ist  also  in  Oester- 
reich  entstanden,  wo  die  nationale  Sage,  ehe  die  romanisierende 
Richtung  gegen  das  Ende  des  zwölften  Jahrhunderts  eindrang, 
Pflege  gefunden  hat,  angeregt  durch  die  Ungarnkriege  des  elften 
Jahrhunderts. 

6)  Die  Zeit  der  Abfassung  des  Nibelungenliedes  sind,  wenn 
Magenes  der  Verfasser  ist,  die  Jahre  1120 — 1140,  wenn  Kourad 
der  Verfasser  ist,  die  Jahre  1140—1150,  vielleicht  11(50—1170; 
jene  früheste  Datierung  hat  am  wenigsten  Wahrscheinlichkeit 
für  sich. 


S(  HLUSS. 


0  e  s  a  m  in  t  -  R  e  s  II 1 1  a  t  e. 

üb. 

Zum   Schlüsse    dieser  Abhandlung  mögen   hier   die   Haupt- 
punete  unserer  Resultate  zusammengestellt  werden. 


252  11.   Der  Verfasser  im  Nibelungenliede. 

Die  Siegfrieds  sage,  eine  altgermanische  Göttersage, 
jedenfalls  in  der  letzten  Zeit,  da  sie  noch  mythisch  verstanden 
wurde,  ein  ethischer  Mythus,  wurde  bald  nach  437,  jedenfalls 
vor  453,  mit  der  historischen  Burgund  enge  schichte  von 
dem  Untergange  Günthers  durch  Attila  verbunden,  und  der  ganze 
Mythus  hat  seit  538  etwa  diejenige  Gestaltung  in  den  Haupt- 
sachen erhalten,  in  der  er  uns  im  Nibelungenliede  vorliegt. 
Bald  nach  538,  wohl  noch  vor  600,  wanderte  die  Sage  in  den 
Norden  und  fand  dort  selbständige  Pflege  und  Ausbildung.  In 
der  zweiten  Hälfte  des  zehnten  Jahrhunderts  wurde  die  Sage 
durch  Konrad,  den  Schreiber  Piligrims  von  Passau  (971  —  901)^ 
in  lateinischer  Sprache  schriftlich  fixiert;  ob  in  metrischer  oder 
prosaischer  Form,  lässt  sich  nicht  errathen.  In  Deutschland 
wurde  das  Interesse  wider  neu  erweckt  durch  die  nationale 
Erhebung  in  den  Ungarnkriegen  Heinrichs  III.  Um 
die  Mitte  des  zwölften  Jahrhunderts  ungefähr  bearbeitete  der 
Verfasser  der  Kürenbergischen  Strophen,  mit  Benutzung 
des  Werkes  Konrads,  die  Sage  in  einem  grossen  Gedichte.  Dieses 
wurde  vielleicht  um  1170  einer  Umarbeitung  zum  Zwecke 
der  formalen  Glättung  unterworfen;  jedenfalls  aber  hat  das 
Gedicht  selbst  oder  diese  erste  Umarbeitung  um  1190 — 1200 
zwei  von  einander  unabhängige  Umarbeitungen  zu 
demselben  Zwecke  erfahren,  welche  uns  in  den  beiden 
Bearbeitungen  des  Nibelungenliedes  vorliegen.  Die 
eine  dieser  Umarbeitungen,  die  sogenannte  vulgata,  entstand, 
wie  auch  das  Gedicht  Kürenl)ergs  selbst,  in  Oesterreich; 
wo  die  Heimat  der  anderen  zu  suchen  ist,  kann  nicht  sicher 
ermittelt  werden.  Das  Nibelungenlied  ist,  in  der  ältesten  Form, 
wie  sie  ihm  der  von  Kürenberg  gab,  in  adlichem  Kreise 
und  für  adliche  Kreise  verfasst;  es  wurde  aber  bald,  mit  dem 
Ueberwuchern  der  roraani  sierenden  Richtung  an  den  deutschen 
Höfen,  zum  Eigen  th  um  desVölkes,  und  welches  Ansehen  es 
schon  zu  Ende  des  zwölften  Jahrhunderts  sowie  im  ganzen  drei- 
zehnten im  Volke  genoss,  beweisen  die  zahlreichen  Gedichte,  die 
in  jenem  Jahrhundert  aus  populären  Kreisen  mit  Benutzung  der 
metrischen  Form  des  Nibelungenliedes  hervorgegangen  sind. 


Verzeichnis 

der    in    der    vorliegciuleu   Schritt    angegebenen    und    l)cnutzten 

Werke,  zugleicli  ein  Index  für  die  wichtigsten  Werke  über  die 

Nibelungenfrage. 

(Die  unter  die  letztere  Rubrik  nicht  geliörigen  Werke  in  Klammern.) 

Karl  Laclimaun,  l'eber  die  ursprüngliche  Gestalt  des  Gedichtes  von  der 
Nibelungen  Noth;  Berlin  ISIG. 

AVilhelm  Grimm,  Die  deutsche  Heldensage:  Göttingen  1S29. 

Karl  Lachmann,  Zu  den  Nibelungen  und  zur  Klage;  Berlin  ISiJli. 

Anton  von  Spaun,  Heinrich  von  Ofterdingen  und  das  Nibelungenlied; 
Linz  1S4Ü. 

Wilhelm  Müller,  Versuch  einer  mythologischen  Erklärung  der  Nibelungen- 
sage; Berlin  1841. 

{August  Zeune,  Ist  Heinrich  von  Ofterdingen  Verfasser  der  Nibelungen- 
Noth,  in  Hagens  Germania  IV;  1S41.I 

Wilhelm  Müller,  Siegfried  undFreyr;  in  Haupts  Zeitschrift  für  deutsches 
Alterthum  III,  1S43. 

Derselbe,  üeber  die  Lieder  von  den  Nibelungen;  Göttingen  1S45. 

Ludwig  Bauer,  Das  Lied  der  Nibelungen,  ein  Kunstwerk;  in  desselben 
Schriften,  nach  seinem  Tode  herausgegeben;  Stuttgart  1S47. 

H.  Leo,  Die  altarische  Grundlage  des  Nibelungenliedes;  in  J.  W.  "Wolfs 
Zeitschrift  für  deutsche  Mythologie  und  Sittenkunde:  1853. 

Adolf  Holtzraaun,  Untersuchungen  über  das  Nibelungenlied;  Stuttgart  1854. 

Karl  Müllenhoff,  Zur  Geschichte  der  Nibelunge  Not;  Decemberheft  der 
Allg.  Monatsschr.  f.  W.  und  L.  1S54.  (Ist  auch  getrennt  gedruckt  [Brauu- 
schweig  1855],  aber  in  der  vorliegenden  Abhandlung  liegen  die  Seitenzahlen 
der  Allgemeinen  Monatsschr.  zu  Grunde.) 

E.  L.  Dümmler,  Piligrim  von  Passau  und  das  Erzbisthum  Lorch; 
Leipzig  1854. 

Friedrich  Zarncke,  Zur  Nibelungenfrage;  Leipzig  1854. 

Max  Rieger,  Zur  Kritik  der  Nibelunge;  Giessen  l'^öS. 

Adolf  Holtzmann,  Kampf  um  der  Nibelunge  Hort  gegen  Lachmanns 
Nachtreter;  Stuttgart  1855. 

Karl  Müllenhoff,  Zur  Geschichte  der  Nibelungensage;  in  Haupts  Zeit- 
schrift für  deutsches  Alterthum  X.  1855. 


254  yerzeichnis  etc. 

Friedrich  Zarncke,  Beiträge  zur  Erklärung  und  Geschichte  des  Nibe- 
lungenliedes; in  den  Ber.  der  Sachs.  Ges.  der  "Wiss.,  1^5(). 

Eduard  D  res  sei.  Ueher  den  Charakter  Kriemhildens  in  dem  Nibelungen- 
liede und  der  Nibelungennoth  (Programm);  Coburg  1*^57. 

Max  Rieger,  Die  Nibelungensage:  in  Pfeiffers  Germania  III,  l'^5S. 

(\V.  S  c  h  w  a  r  t  z ,  Die  altgriechischen  Schlangengottheiten ;  Progr. ;  Berlin  1  S.58.) 

(Wilhelm  Mannhardt,  Germanische  Mythen;  Berlin  1S5S.1 

Heinrich  Fischer,  Nibelungenlied  oder  Nibelungenlieder?  Hannover  1S59. 

Moriz  T  hau  sing.  Die  Nibelungen  in  der  Geschichte  und  Dichtung;  in 
Pfeiffers  Germania  VI,  l'^t^il. 

Franz  Pfeiffer,  Der  Dichter  des  Nibelungenliedes  1 1*>(32);  in  dess.  ..Freie 
Forschung";  1867. 

Eduard  Pasch,  Die  Nibelungenhandschriften  .i  und  C;  in  der  Preussischen 
Gymnasialzeitung.  1864. 

Karl  Bartsch,  Untersuchungen  über  das  Nibelungenlied;  Wien  l'^li.ö. 

Julius  Zupitza,  L'eber  Franz  Pfeiffers  Versuch,  den  Kürnberger  als  den 
Dichter  der  Nibelungen  zu  erweisen;  Programm;  Oppeln  l*>r)7. 

Karl  Bartsch,  Ueber  Zarnckes  dritte  Auflage  des  Nibelungenliedes:  in 
Pfeiffers  Germania  XIII.  IS^>. 

Derselbe  über:  J.  Zupitza,  ..über  Franz  Pfeiffers  Versuch  etc.-', 
ebenda  1  %8. 

Wilhelm  Müller,  Ueber  Lachmanns  Kritik  der  Sage  von  den  Nibelungen; 
in  Pfeiffers  Germania  XIV,  1SH9. 

(Karl  Simrock,  Handbuch  der  deutschen  Mythologie;  Auti.:*;  Bonn  1869.) 

Ernst  Koch,  Die  Nibelungensage  nach  ihren  ältesten  Ueberlieferungen 
erzählt  und  kritisch  untersucht;  Grimma  1*>72. 

Karl  Vollmöller,  Kürenberg  und  die  Nibelungen.  Eine  gekrönte  Preis- 
schrift. Nebst  einem  Anhang:  Der  von  Kürenberc.  Herausgegeben  von 
Karl  Simrock;  Stuttgart  1874. 

Wilhelm  Scherer.  Der  Kürenberger;  in  Haupts  (Müllenhoffs  und  Stein- 
meyers) Zeitschrift  für  deutsches  Alterthum,  Neue  Folge,  Band  V  (XVII), 
1^74. 

Ausgaben: 

Karl  Lachmann,  Der  Nibelunge  Noth  und  die  Klage;  Ausg.  H,  Berlin  18.51. 
Karl  Bartsch,  Der  Nibelunge  Not.  erster  Theil;  Leipzig  187*). 
Friedrich  Zarncke,  Das  Nibelungenlied;  AuH.  4;  Leipzig  I*>71. 


Bemerkung:  Die  Strophenzählung  des  Nibelungenliedes  ist  die  Lachmanns; 
die  auf  eine  Strophe  bei  Lachmann  folgende,    welche   in  Lachmanns 

Text  fehlt,  ist  mit ''.  die  nächstfolgende  mit '',  u.  s.  f. 

bezeichnet  worden. 


Nachträge  und  Berichtigungen. 


Seite  14,  Zeile  8  und  2  v.  u.  lies   „666"  statt  ^GGl-'    und    Zeile  8 

V.  u.  „etwa  34(1"  statt  „360". 

Seite  27,  Zeile  11   v.  n.  lies  .,1856"  statt  „1855". 

Seite  75,  Zeile     4  v.  u.  lies  „dieses"  statt  „diese". 

Seite  76,  Zeile     2  v.  u.  lies  „triioc"  statt  ^irouc". 

Seite  105,  Zeile     9  v.  o.  lies  „Wergeld"  statt  „Welirgeld". 

Seite  132,  Zeile     S  v.  n.  lies  „Hriin^nir"  statt  „Grüngnir". 

Seite  144,  Zeile     2  v.  u.  lies  „Sage"  statt  „Lage". 

Seite  165,  Zeile     6  v.  o.  lies  „Bogerii"  statt  ^Rogerri^. 

Seite  178,  Zeile  22  v,  o.  lies  ^Pilegi'inus^  statt  „Pilergijius". 


Zu  Seite  8(5  f.   Excurs. 

Wenn  Herr  Professor  Dr.  Bartsch  für  die  dreisilbigen  Keime 
ein  höheres  Alter  in  Anspruch  nimmt,  als  für  die  zweisilbigen,  aber 
stumpf  behandelten,  d.  h.  wenn  er  Reime  wie  insbesondere  den 
allerungenauesten  dieser  Art,  Hugeni'  :  menege.,  )uir  vor  llöfi  an- 
nehmen will  (Unters.  356  f. i,  so  hat  er  dabei  vor  allem  das  historisch 
nachweisliche  Vorkommen  solcher  Reime  im  Auge  gehabt.  Wir  liaben 
S.  86  f.  versucht,  von  anderen  mehr  apriorischen  Gesichtspuncten 
den  von  ihm  daraus  gezogenen  Beweis  anzufechten ;  und  es  soll  hier 
das  noch  etwas  genauer  geschehen,  als  es  der  Context  oben  erlaubte. 

Zunächst  sind  unter  diesen  dreisilbigen  Reimen  einige  auszu- 
scheiden, welche  für  den  Schluss  auf  eine  Entstehung  vor  1150 
niclit  in  Betracht  kommen.  Dahin  gehören  jedenfalls  die  genauen, 
wie  Hngene  :  sagen/'  u.  ä. ,"da   diese    is.  Bartsch,  Unters.  2  f.)   im 


256  Nacliträse  und  Berichtigimgen. 

13.  Jahrliiiiidei-t  klingend  vorkommen,  somit  ihre  Verwendung  zum 
stumpfen  Keime  nicht  altertliümlicher  sein  kann  als  die  stumpfe  Be- 
handlung aller  genauen  zweisilbigen  Keime.  Einfache  Ungenauigkeit 
und  zwar  consonantische  (wie  Hagenl'  :  sümene)  hat  die  Kaiserchronik 
und  Kuother  f Unters.  357;;  vocalische  (wie  Hägen'e  :  dcgenc)  hat 
noch  Wernhers  Maria  aus  dem  Jahre  1172  fs.  ebendaselbst).  Doppelte 
Ungenauigkeit  (wie  Hugenc  :  gddeni'c)  haben  widerum  die  Kaiser- 
chronik und  Kuother  (Unters.  356),  und  aus  denselben  Gedichten 
ist  auch  der  dreifach  ungenaue  Keim  Hägene  :  mcnege  belegt 
(Unters.  357).  Es  gehen  somit  die  Keime  von  der  Form  Hägene  : 
säge7ie  und  Hägene  :  degene  jedenfalls  ab.  Mit  den  letzteren  werden 
wir  die  einfach  und  zwar  consonantisch  ujigenauen  gleichstellen 
dürfen,  da  allen  Analogieen  zu  Folge  vocalische  Ungleichheit  schwerer 
wiegen  wird  als  consonantische.  So  bleiben  nur  noch  die  doppelt 
und  dreifach  ungenauen  Keime  übrig,  welche  mit  einander  durch 
vier  (oder  wenn  mau  Str.  1942  die  Lesart  der  einen  /und  Str.  1SS9 
die  der  einen  J)  annehmen  will)  sechs  Stellen  der  Nibelungen  ver- 
treten sind:  Str.  1S9C,  1.2.  224S,  1.2.  2280,1.2.  (1SS«J,  1.  2. 
1942,  1.  2.);   1916,  1.  2. 

Man  könnte  versucht  sein,  diese  Zahl  von  Stellen  als  eine  ver- 
hältnismässig kleine  (denn  die  genauen  und  einfach  ungenauen  Keime 
finden  sich  zusammen  an  52  Stellen)  für  beweisunkräftig  zu  halten. 
Doch  wird  diese  Erklärung,  auch  abgesehen  davon,  dass  es  besser 
sein  wird,  hier  mit  Zahlen  nicht  zu  rechnen,  abgesclinitten  dadurch, 
dass  alle  diese  grösseren  Ungenauigkeiten  sich  in  dem  letzten  Fünftel 
des  Gedichts  finden,  was  man  leicht  aus  dem  Nachlassen  der  Ueber- 
arbeiter  ableiten  könnte.  Eher  könnte  man  sich,  um  Bartschs  Schluss 
zu  entkräften,  auf  die  Kaiserchronik  und  noch  mehr  auf  den  Kuother 
berufen,  insofern  erstere  wohl  nach  1147  zu  setzen  ist  (s.  Kober- 
stein  —  Bartsch  I,  S.  156),  dieser  aber  (s.  ebenda  S.  157)  wahr- 
scheinlich d(Mi  Kreuzzug  von  1147 — 1149  voraussetzt.  Wir  hätten 
also  jedenfalls  in  dem  Letzteren  ein  Werk,  das  zum  mindesten  nur 
wenig  vor  1150  verfasst  sein  kann.  Aus  denselben  beiden  Werken 
belegt  aber  Bartsch  auch  (Unters.  357)  die  beiden  anderen  ältesten 
Keime  des  N.  L.,  vorderost  :  tröst  (worüber  aber  s.  Zarncke,  Aus- 
gabe S.  CXIIl***j  und   Gernut  :  luot. 

Doch  diese  historischen  Betrachtungen  möchten  wir  lieber  in 
den  Hintergrund  stellen.  Was  wir  ihne]i  entnehmen  möchten,  ist 
höchstens,  dass  Keime,  den  ältesten  des  N.  L.  entsprechend,  um  115<) 
sich  jedenfalls  linden  und  dass  es  gewagt  sein  dürfte,  um  solcher 
Keime  willen  eine  neue  Bearbeitung  um  1170  anzunehmen.  Denn 
beide  Zahlen,  jedenfalls  die  von  1150,  Hessen  sich  wohl  einander 
noch  so  weit  nähern,  dass  ein  allzugrosser  Zeitunterschied  nicht  mehr 
vorhanden  wäre. 

Wichtiger  ist  wohl  die  schon  oben  S.  S6  angestellte  Betrachtung, 
dass  an  sich,  ihrem  Wesen  nach,  diese  Keime  kaum  viel  auffallender 
und  freier  erscheinen  dürften,  als  andere  Keimbindungen  späterer  Zeit. 


Anhang.  257 

Diese  dreisilbigen  Reime  sind  oftenbav  pnncipiell  den  zwei- 
silbigen gleichzusetzen.  Was  somit  an  ilinen  besonders  alterthünilich 
ist,  das  ist  nur  die  mehrfache  Ungenauigkeit  des  Keims  in  Keimen 
•wie  Hagenh  :  gädemi',  Hdgeyie  :  menegl'.  Allein  der  erstere  von 
beiden  Reimen  ist  gewiss  nicht  schwerer  als  zweisilbige  Reime  wie 
bringen  :  rinden,  gimme  :  ininne  oder  gar  mit  ganz  unähnlichen 
Lauten  Uclmihniti  :  lagin  u.  ä.,  welche  (s.  Pfeiffer,  Freie  Forschung 
S.  45  f.  und  Bartsch,  Unters.  356)  noch  nach  1170  vorkommen. 
Denn  der  Unterschied  von  ti  und  m  ist  ja  kein  so  bedeutender,  dass 
«in  Reim  gn  :  dm  nothwendig  volle  zwei  Jahrzehnte  älter  sein 
müste  als  einer  von  der  Form  ng  :  nd;  vollends  in  :  g  oder  z  :  f 
(Pfeiffer  1.  c.  S.  45)  sind  doch  viel  ferner  liegende  Klänge  und  ihre 
Bindung  im  Reime  muss  dass  Ohr  mehr  verletzen,  als  ein  Keim,  in 
<lem  doch  Media  auf  Media,  Liquida  auf  Liquida  reimt.  Bartsch 
selbst  nennt  (Unters.  S.  5)  Keime  wie  wagene  :  geladetw  imv  ,,  etwas 
genauer"  als  Hagene  :  gademe. 

So  würde  uns  noch  der  Reim  Hagenh  :  menege  bleiben,  welcher 
allerdings  sehr  frei  ist.  Doch  kommen  wir  darauf  zurück,  dass 
(s.  S.  S6)  die  letzte  Silbe  wenigstens  gleichen  Klang  hat  und  des- 
lialb  die  Ungleichheit  der  vorhergehenden  minder  ins  Gewicht  fällt. 
Wir  haben  hier  gleichsam  das  Gegenstück  zu  Reimen  wie  \)ette  : 
trecken,  geweine  :  scheiden  beim  Kürenberger;  denn  liier  ist  die 
Penultima  in  Beziehung  auf  den  Vocal  gleich,  die  Ultima  dagegen 
verschieden.  Denken  wir  nun  daran,  dass  die  Nibelungen  von 
klingendem  Reim  noch  nichts  wissen,  dass  somit  die  eigentliche 
Reimsilbe ,  d.  h.  die,  deren  Reinheit  am  meisten  gefordert  werden 
muss,  doch  wohl  die  letzte  ist,  so  wird  uns,  wenn  ein  Dichter  um 
oder  vor  1150  in  fünfzehn  Strophen  zwei  bis  dreimal  (denn  MF.  S,  2 
hat  die  Hs.  wenigstens  zinne  :  singen,  was  auch  Simrock  bei  Voll- 
möller, Kürenberg  und  die  Nibelungen,  S.  45  angenommen  hat)  eine 
Ungenauigkeit  in  der  letzten  Silbe  sich  erlaubt  hat  (e  :  en),  zugleich 
aber  jedesmal  eine  solche  in  der  vorletzten  (//  :  ck,  n  :  d,  nn  :  ng), 
der  einmalige  Gebrauch  eines  in  der  letzten  Silbe  reinen  Reims  wie 
Hagene  :  menege  um  1170  nicht  als  Unmöglichkeit  erscheinen  können. 
Wir  werden  also  um  dieser  einen  Stelle  willen  nicht  eine  Annahme 
für  nothwendig  halten,  welche,  wie  die  Bartschs,  durch  nichts  un- 
möglich gemacht,  aber  auch  sonst  durch  nichts  gestützt  ist,  als  durch 
die  beiden  oben  berührten  Reime  vorderöst :  Irösf  und  Crernot  :  tuot 
deren  Beweiskraft  keine  zweifellose  ist. 


Zu  Seite  244—250.    Anhang. 

Die  vorliegende  Abhandlung  war  schon  zum  grösten  Theile 
gedruckt,  als  mir  zwei  neu  erschienene  Abhandlungen  bekannt  wurden, 
welche  beide  die  Pfeifter-Bartschische  Theorie  von  der  Identität  des 
Kürenbergers   mit   dem   Yerfas'ser    des   Nibelungenliedes   bekämpfen. 

Fischer,  Nibelungenlied.  l' 


258  Nachträge  und  Berichtigungen. 

• 
Es  sind  diss:  Kürenberg  und  die  Nibelungen.  Eine  gekrönte 
Preisschrift  von  Dr,  Karl  Vollmöller.  Nebst  einem  Anhang: 
Der  von  Kürenberc.  Herausgegeben  von  Karl  Simrock.  Stutt- 
gart, Meyer  und  Zeller's  Verlag,  1S74;  und  Wilhelm  Scherers 
Abhandlung  -Der  Kürenberger"  in  Haupts  Zeitschrift, 
Neue  Folge,  Band  V  iXVHj,  Seite  oGl — 5S1.  —  Beider  Argumente 
vermochten  mich  nicht  ganz  zu  überzeugen,  und  so  finde  hier  eine 
Besprechung  derselben  Raum. 

Es  sind  hier  fs.  Scherer  S.  561)  vier  Puncte  zu  unterscheiden: 
1)  war  die  Entstehung  fremder  Strophen  in  der  Lyrik  des  12.  Jahr- 
hunderts, 2)  war  sie  in  der  Epik  jener  Zeit  gestattet;  3;  zeigen  die 
Nibelungen  und  Kürenbergs  Lieder  gewisse  Aehnlichkeitsmomente 
oder  nicht;  4)  ist  die  Kürenberges  w/se  die  Nibelungenstrophe ? 
Unter  diese  vier  Puncte  lässt  sich  in  der  That  die  ganze  Streitfrage 
subsumieren.  Denn  wenn  Scherer  S.  562  Pfeiffers  Theorie  schon  im 
Voraus  unAvahrscheinlich  zu  machen  sucht  durch  allgemein  historische 
Einwände  sowie  durch  die  Bemerkung,  dass  von  allen  anderen  Gedichten, 
welche  eine  Umarbeitung  erfahren  haben,  das  Original  wenigstens 
bruchstückweise  erhalten,  bei  den  Nibelungen  aber  „auch  nicht  der 
Schatten  eines  altertümlichen  Fragmentes  in  ungenauen  Reimen  zu 
Tage  gekommen"  sei:  so  werden  wir  das  Erstere  füglich  ganz  über- 
gehen dürfen,  das  Zweite  aber  halten  wir  durch  Bartschs  Unter- 
suchungen, die  denn  doch  die  Umarbeitungen  im  N.  L.  evident 
nachgewiesen  haben,  für  beseitigt;  doch  s.  u.  Wenn  weiterhin 
S.  562  f.  Scherer  die  Gefühlswelt  des  N.  L.  von  der  Kürenbergs 
so  sehr  verschieden  glaubt,  so  sei  erstens  darauf  verwiesen,  dass 
Nib.  292,  2  si  trvanc  gim  einander  des  setienden  minne  nöi  nur  in 
A  steht;  zweitens  aber  bitte  ich  jeden  Unbefangenen,  Scherer  S.  562, 
L.  3.  2  V.  u.  mit  S.  5S1,  Z.  3 — 5  v.  o.  zu  vergleichen;  denn  beide 
Stellen  widersprechen  sich  geradezu.  S.  562  heisst  es:  „Nib.  Str. 
294  verkettet  Natur-  und  Liebesgefühl",  und  das  ist  neben  dem 
„  Conventionellen  Frauendienst "  als  Zeichen  späterer  Zeit  bezeichnet ; 
S.  5S1  heisst  es:  „Das  Gedicht  [MF.  3,  17—25]  ist  —  durch  diese 
Combination  von  Natur  und  Liebe  volkstümlicher  als  irgend  eines 
der  dem  Kürenberger  zugeschriebenen  Sammlung. "  Wenn  volks- 
thümlicher,  so  doch  wohl  auch  altertümlicher;  denn  der  conventionelle 
Frauendienst  der  Nibelungen  ist  nach  Scherer  Zeichen  jüngerer  Zeit, 
und  S.  5S1  sucht  er  eben  das  hohe  Alter  jenes  Liedchens  zu  er- 
erweisen.  Man  sieht,  wohin  solch  überfeines  AestJjetisieren  führen 
kann  und  muss. 

Gehen  wir  zu  den  vier  Hauptpuncten  in  Scherers  und  Voll- 
möllers Kritik  über. 

W^as  den  ersten  Punct,  die  Entlehnung  oder  Nichtentlehnung  in 
der  Lyrik,  anlangt,  so  haben  sich  Scherer  wie  Vollmöller  der  von 
Wilmanns,  Walther  S.  30,  beigebrachten  Beispiele  für  die  Ent- 
lehnung von  Strophen  bedient. 

Vollmöller  hat  freilich  S.  11  — 13  noch  einige  weitere  Beispiele 


Anhang.  259 

hinzugefügt,  aber  ohne  Glück.  Denn  MF.  3,  17  —  25  hat  nicht 
denselben  Ton  wie  MF.  7,  1  —  9.  10 — 18  (die  beiden  Kürenberg- 
strophen  mit  einer  zwischen  zweite  und  dritte  Laiigzeile  eingeschobenen 
Zeile),  sondern  MF.  3,  21  lautet:  diu  kleinen  vogellhi  ==  ^i^i^i 
MF.  7,  5  aber  die  site  wil  ich  mitinen,  7,  14  vcrliuse  ich  dine 
minne,  beide  =  w/w/w/\;  also  das  eine  drei-,  das  andere  viermal 
gehoben;  und  das  ist  denn  doch  ein  Unterschied.  (Auch  Scherer 
hat  S.  570.  580  beide  Strophenformen  fälschlicherweise  für  gleich 
gehalten.)  Die  Conjectur  aber,  die  Vollmöller  S.  12  versucht,  um 
MF.  3,  17 — 25  in  das  Gewand  der  Nibelungenstrophe  zu  hüllen, 
hat  keinerlei  Nothwendigkeit,  also  auch  keine  Berechtigung.  Auch 
MF.  3,  7 — 11;  3,  12  —  Ki  ist  mit  der  Moroltstrophe  insofern  nicht 
ganz  gleich,  als  diese  im  3.  und  5.  Vers  stumpf,  jene  Liedchen 
aber  beide  klingend  (mit  zwei  Hebungen)  reimen:  Sdlmuns  man  : 
leben  (jun  (PfeiÖer,  Freie  Forschung  S.  15),  dagegen  darben  : 
armen,  vlizen  :  venvi'zen.  So  klein  dieser  Unterschied  ist,  so  genügt 
er  doch,  um  die  Instanz  dieses  Beispiels  zurückzuweisen.  Jedenfalls 
aber  hätte  MF.  16,  15  —  17,  (5  nicht  beigezogen  und  mit  der 
Strophe  von  Walther  und  Ilildegund  gleich  gesetzt  werden  sollen; 
jene  Strophe  hat  in  der  vierten  Kurzzeile  vier  Hebungen  (vielleicht 
auch  schon  in  der  zweiten),  diese  dagegen  in  der  zweiten  und  vierten 
nur  drei.  Die  Art,  wie  Vollmöller  S.  13  den  Unterschied  in  der 
4.,  vielleicht  auch  2.,  Kurzzeile  wegschaften  will,  ist  ganz  mislungen. 
Denn  erstlich  ist  nocli  keineswegs  erwiesen,  ja,  wie  ich  glaube, 
durch  Bartsch  gründlich  widerlegt,  dass  die  Nib.-Str.  früher  viermal 
gehobene  Reimkurzzeilen  gehabt  habe  (s.  Bartsch,  Unters.  S.  163 
und  s.  0.  S.  55  [§  13,  not.  G0|);  zum  zweiten  aber,  geben  wir  für 
einen  Augenblick  Simrocks  Ansicht  zu ,  so  ist  die  Strophe  voii  Walther 
und  Hildegund  doch  jedenfalls  aus  der  Nib.-Str.  mit  7  Hebungen 
in  den  drei  ersten  Langzeilen  entstanden;  für  sie  kommt  also  eine 
etwaige  ältere  8  mal  gehobene  Form  des  Nibelungenverses  gar  nicht 
in  Betracht. 

Was  die  Beispiele  bei  Wilmanns  betrift't,  so  glaube  ich,  dass 
nur  das  von  Reinmar  d.  A.  (MF.  17  7,  10 — 39)  und  Walther«  v.  d.  V. 
(No,  68  bei  Wilmanns)  bestehen  bleiben  muss.  Hier  haben  wir  in 
der  That  ein  Beispiel  einer  Entlehnung  einer  kunstreichen  Strophe, 
auf  die  nicht  wohl  zwei  Dichter  unabhängig  von  einander  gekommen 
sein  werden.  S.  jedoch  Pfeifter,  Freie  Forschung  S.  41,  wo  der  Be- 
weis versucht  ist,  dass  das  Lied  junger  man,  nis  hohes  muotes  nicht 
Walthern,  sondern  Keinmarn  zugehöre,  in  einer  Weise,  die  man  nicht 
ohne  weiteres  wird  verwerfen  können.  Jedenfalls  aber  nur  ein  Beispiel 
gegenüber  so  vielen  lyrischen  Gedichten,  die  keine  Strophenentlehnung 
zeigen.  Denn  die  andern  Beispiele  bei  Wilmanns  erledigen  sich  eben 
dadurch,  dass  ganz  sicher  die  betreflenden  Dichter  unabhängig  von 
einander  auf  die  ihnen  gemeinsamen  Strophenformen  gekommen  sind. 
Diss  ist  anzunehmen,  wenn  diese  Strophenformen  selir  einfach  sind. 
Ein  ähnlicher  Fall  ist  es,  wehn  eine  von  Mehreren  gebrauchte  Strophe 

17* 


260  Nachträge  und  Berichtigungen. 

fremdländischen  Ursprungs  ist ;  denn  der  Dichter,  der  eine  ausländische 
Form  benutzt,  ist  selbst  nicht  mehr  Original,  hat  also  auf  Wahrung  seines 
Eigenthums  keinen  Anspruch.  Unter  diese  beiden  Kategorieen  fallen 
denn  auch  wirklich  die  Strophen  bei  Wilmanns;  abgesehen  von  den 
Strophen  Heinrichs  von  Morungen  und  Reinmars  (MF.  137,  17  und 
203,10),  welche  ganz  und  gar  verschieden  sind.  Scherer  vermuthet 
S.  564,  dass  statt  MF.  137,  17  vielmehr  137,  10  stehen  sollte,  setzt 
aber  selbst  hinzu,  dass  auch  diese  Strophe  von  203,  10  verschieden 
sei.  Betrachten  wir  die  andern,  wirklich  gleichen  Strophenformen. 
Albrecht  von  Johannsdorf  und  Reinmar  haben  dieselbe  Strophe 
(MF.  93,  5.   193,  2)  von  dieser  Form; 

4  a 
3^b 
4  a 
B^b 
4  c 
4  c 
3^b; 

wir  werden  alles  Recht  haben,  statt  3  ^  hier  4  zu  setzen ,  indem 
alsdann  die  Zeile  genau  der  4  mal  gehobenen  epischen  Reimzeile 
entspricht.  Also  einer  allgemein  gebrauchten  Form,  der  altherge- 
brachten des  Epos  (s.  Pfeiffer,  Freie  Forschung  S.  S) ;  nur  die  Reime 
sind  frei  gestellt,  aber  in  ziemlich  einfacher  Anordnung.  Dass  a  b 
n  h  überschlagende  Reime  sind,  kann  nichts  Auffallendes,  nichts  In- 
dividuelles sein,  da  die  älteste  Lyrik  sie  schon  kennt,  wenn  wir  vom 
Kürenberger  absehen.  Nur  der  Abgesang  cch  hat  etwas  Freieres 
an  sich ;  aber  dass  auf  die  gesammte  Strophenform  nicht  zwei  Dichter 
von  einander  unabhängig  hätten  kommen  können,  das  wäre  zu  gewagt 
zu  behaupten. 

Engelhart  von  Adelnburc,  Reinmar  und  Hartmann  von  Aue 
haben  (MF.    148,  25.   191,  34.  211,  20)  folgende  Strophe: 

4a 

4& 

4« 

4^ 

4c 

4rf 

4cV 
also  wiederum  die  viermal  gehobene,  ganz  gewöhnliche  Reimzeile 
mit  vier  Zeilen  von  überschlagenden  Reimen  und  zwei  Abgesangs- 
zeilen,  die  auf  einander  reimen  und  deren  zweite  durcli  eine  Waise 
(4  d)  von  derselben  metrischen  Form  -verlängert  ist.  Diese  Form 
ist  gewiss  ebenso  einfach  als  die  erste. 

Vollends  ganz  einfach  ist  die  dritte  Form,  bei  Dietmar  von 
Eist,  Heinrich  von  Veldecke  und  Heinrich  von  Rngge  (MF.  35,  16 
(nicht  36,   16,  wie  Wilmanns  hat)  65,   13.   87,  9.   103,  3): 


Anhang.  261 

4  a 
4  b 
4« 
4/> 
4  c 

4c 

Ad; 
noclimals  die  viermal  gehobene  Zeile  mit  regelmässig  überschlagenden 
Keimen,  also  eine  Form,   auf  welche  solche  Dichter,   die  nicht  eben 
eine  künstliche  Form  wollten,  verfallen  musten. 

So  haben  wir  unter  den  mehreren  Dichtern  eigenen  Formen 
drei  sehr  einfache  gefunden,  auf  welche  Jedermann  verfallen  konnte. 
Es  lohnt  sich  wohl,  diesen  gegenüber  ein  entsprechendes  Schema 
der  Nib.-Str.  zu  geben :  4  a 

3& 

4  c 

3/> 
•    4</ 

3e 

4/- 

4e; 
das  ist  nun  doch  ein  weit  weniger  einfaches  Maass  !  Nehmen  wir 
hinzu,  dass  die  Waisen  (4  u,  4  c,  4  d,  4  /')  der  Regel  nach  zwischen 
dritter  und  vierter  Hebung  keine  Senkung  haben,  also  scheinbar  klin- 
gend sind,  dass  dasselbe  bei  den  Zeilen  3  h  gestattet,  bei  den  Zeilen 
3  c,  4  c  aber  (wenigstens  bei  Kürenberg  und  in  den  Nibelungen, 
also  in  den  ältesten  Gedichten  dieser  Form)  verboten  ist:  so  sieht 
man  deutlich,  dass  die  Nib.-Str.  eine  Form  ist,  welche  nicht  Melirere 
unabhängig  von  einander  erfinden  konnten.  Also  niuss  sie  entweder 
in  den  verschiedenen  Gedichten,  die  sie  haben,  entlehnt  oder  aber 
müssen  die  Verfasser  dieser  Gedichte  einer  sein.  Beispiele  wirk- 
licher Entlehnung  haben  wir  aber  ausser  dem  einen  Walthers  und 
Reinmars,  das  nicht  zweifellos  ist  (s.  o.),  keine  gefunden. 

Ein  fremdes  und  zwar  romanisches  Maass  haben  Rudolf  von 
Fenis  (s.  Koberstein-Bartsch  I,  S.  222j,  Bligger  von  Steinacli  und 
Hartwic  von  Rute  (MF.   Sl,  30.   118,   19.   1  Tc,    1): 

b-  a 
5     b 

5  -  <:i 

5     b 

5     b 

b^  a 

5     b 
Dass,  wer  ein  solches  ausländisches  Maass  benutzt,  kein  Eigenthums- 
recht  auf  dasselbe  haben  kann,  ist  oben  bemerkt  worden. 

Aber  auch  von  einem  rein  principiellen  Gesichtspuncte  aus  hat 


262  Nachträge  und  Berichtigungen. 

man  versucht  (Wilmanns,  Walther  S.  29  f.;  VoUüiöller  S.  10  f.), 
die  Möglichkeit  von  Strophenentlehnnngen  zu  erweisen.  Man  hat 
gesagt,  dass  nur  die  Melodie  Eigenthum  des  Dichters  gewesen  sei, 
die  Strophenform  aber,  vorausgesetzt,  dass  eine  andere  Melodie  damit 
verbunden  worden,  als  Gemeingut  gegolten  habe.  Die  Entgegnung 
hierauf  ist  einfach  :  Wie  kommt  es  alsdann,  dass  unter  der  Unmasse 
lyrischer  Strophen,  die  uns  erhalten  ist,  von  einer  Strophenentlehnung 
—  wir  werden  sagen,  so  gut  wie  kein  Beispiel,  unsere  Gegner 
werden  zugeben,  sehr  wenige  —  sich  finden?  Das  beweist  denn 
doch,  dass  das  Gesetz  der  Nichtentlehnung  gerade  für  die  metrische 
Form  galt  (natürlich  für  die  Melodie  ebenso). 

Gehen  wir  zu  dem  zweiten  Puncte  über,  dem  Eigenthumsgesetz 
in  der  Epik.  Hier  kann  es  sich  natürlich  nur  um  die  Nibelungen- 
strophe selbst  handeln.  Pfeiffer  hat  gesagt  (Freie  Forschung  S.  13. 
43 — 45),  dass  vor  1250,  zu  der  Zeit  als  man  noch  auf  Wahrung 
des  litterarischen  Eigenthums  hielt,  ausser  den  Nibelungen  kein  Epos 
in  der  Nib.-Str.  gehalten  sei.  Diss  sucht  man  durch  Alphart  und 
Ortnit,  Scherer  auch  durch  die  Wolfdietriche  A,  B,  C  zu  wider- 
legen (Scherer  S.  565,  VoUmoller  S.  14 — 16).  Ich  will  die  Datie- 
rung des  Ortnit  um  1225  1226,  die  der  Wolfdietriche  zwischen  1220 
und  1240  zugeben.  So  viel  steht  fest,  ist  aber  merkwürdigerweise 
von  beiden  Parteien  nicht  beachtet  worden  :  falle  die  Abfassung  des 
Ortnit  und  der  Wolfdietriche  wann  sie  wolle,  diese  Gedichte  fallen 
jedenfalls  in  eine  Zeit,  da  die  Reinheit  der  Strophe  schon  ganz  be- 
deutend verletzt  wurde,  können  also  für  das  Entlehnungsverbot  über- 
haupt nicht  in  Betraclit  kommen.  Denn  (s.  Jänicke  im  Deutschen 
Heldenbuch  HI,  S.  XXHI  f.  LXHI)  Ortnit  und  die  Wolfsdietriche 
haben  die  achte  Halbzeile  mit  drei  und  vier  Hebungen,  häufiger 
sogar  mit  nur  dreien.  Wenn  auch  Jänicke  (l.  c.  S.  XXIII)  nicht 
ganz  Recht  haben  mag,  wenn  er  sagt,  dass  in  Ortnit  und  Wolfdiet- 
rich A  kaum  ein  Zwölftel  aller  Strophen  vier  Hebungen  habe  (icli 
selbst  habe  im  Ortnit  etwa  120  Strophen  mit  sicheren  vier,  etwa  270 
mit  sicheren  drei  Hebungen  und  ungefähr  2 !  0  mit  zweifelhaftem 
Rhythmus  gefunden,  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  etwa  400  dreimal 
gegen  etwa  200  viermal  gehobenen  Schlusszeilen I,  so  ist  doch  das  sicher, 
was  er  eben  dort  sagt,  dass  „die  Verkürzung  der  achten  Halbzeile 
nicht  mehr  eine  Ausnahme  von  der  Regel,  sondern  durch  den  Ge- 
brauch vollkomen  legitimiert"  sei.  Also  zeigen  alle  diese  Gedichte 
eine  metrische  Verwilderung,  welche  verbietet,  aus  ihnen  für  oder 
gegen  die  Strophenentlehnung  einen  Schluss  zu  ziehen,  da  diese 
Verwilderung  auf  eine  Zeit  hinweist,  der  die  Strophenform  überhaupt 
nichts  mehr  galt.  (Vgl.  auch  Heldenbuch  HI,  S.  XIV  oben.)  Und 
sollte  aus  anderweitigen  Gründen  die  Zeit  zwischen  122o  und  1230 
nicht  als  eine  Zeit  der  Formverwilderung  angesehen  werden :  so 
werden  wir  sagen,  Ortnit  und  die  Wolfdietriche  stammen  aus  den 
niedrigen  Kreisen  der  Fahrenden,  während  die  Kürenberglieder  wie  die 
Nibelungen  aus  ritterlichen  Kreisen  stammen,  in  welchen  der  für  Sinn 


A'iha:-.?.  263 

die  Form  rein  und  fein  ausgebildet  und  so  auch  das  Entlelinungsverbot 
bekannt  und  befolgt  war;  oder  —  fallen  die  Gedichte  in  spätere  Zeit. 
Anders  steht  es  freilich  mit  Alpharts  Tod.  Auch  Bartscli  gibt 
a.  m.  0.  seine  Entstehung  im  zwölften  Jahrhundert  zu ;  und  ich  will 
mich  nicht  auf  Pfeifers  Ausführung  gegen  diese  frühe  Datierung 
des  Gedichtes  berufen  (s.  Pfeifter,  Freie  Forschung  S.  44  W).  Eher 
möchte  man  wider  die  Benutzung  des  Alphart  als  Moment  gegen 
Pfeiffer  das  einwenden,  dass  wir  mit  diesem  Gedichte  doch  ziemlich 
im  Dunkeln  stehen.  Es  ist  allerdings  das  Verhältniss  dreimal  und 
viermal  gehobener  Schlusszeilen  ein  ganz  anderes  als  im  Ortnit  (s.  o.); 
ich  habe  im  Alphart  50 — 60  dreimal  gehobene,  etwa  30o  sicher 
viermal  gehobene  und  etwa  90  zweifelhafte  Sclilusszeilen  gezählt; 
im  Ganzen  werden  der  viermal    gehobenen    etwa  400    sein,    also   -^  u 

—  f'T.  Dass  die  späte  Ueberarbeitung  noch  so  viele  alte  Halbzeilen 
erhalten  h:it.  deutet  doch  gewiss  auf  eine  Entstehung  zur  Zeit  der 
reinen  Strophenbehandlung  hin.  Aber  immerhin,  ein  sicheres  Resul- 
tat, das  selbst  Grundlage  sicherer  Schlüsse  werden  könnte,  wird  sich 
für  den  Alphart  nicht  gewinnen  lassen.  Schon  Pfeiffer  hat  (S.  45) 
geäussert:  „Wäre  —  das  alte  lief  in  der  Nibelungenstrophe  ge- 
dichtet gewesen,  so  würden  wir  ein  zweites  Epos  des  Kürenbergers 
zu  verzeichnen  haben."  Dass  es  wirklich  in  der  Nib.-Str.  verfesst 
gewesen,  macht  die  grosse  Zahl  viermal  gehobener  Schlusszeilen  im 
Alphart  sehr  wahrscheinlich.  Daher  hat  Bartsch  auch  gesucht,  die 
Autorschaft  Kürenbergs  wahrscheinlich  zu  machen  (Unters.  362j. 
Vollmöller  ficht  diss  an,  S.  14  f.  24.  Die  Gleichheit  zweier  Stellen 
genügt  allerdings  nicht,  um  die  Identität  des  Verfassers  zu  erweisen. 
Doch  hat  Vollmöller  übersehen,  dass  es  etwas  Anderes  ist,  ob  zwei 
(Lang-  oder  Kurz)  Zeilen  in  zwei  Gedichten  fast  (oder  ganz)  wört- 
lich gleich  lauten,  wie  Alphart  Str.  404,  4  :  vruüitschaft  kmh  suofie 
sol  im  gar  versaget  sin,  mit  Xib.  Str.  2027,  4  :  vride  unde  suone 
sol  iu  vil  gar  versaget  sin  und  Alphart  Str.  59,  2.  64,  4  :  er  imwz 
?}iir  diu  laut  rinnen  mit  MF.  S,  7,  wozu  im  letzteren  Falle  noch 
die  beiderseitige  schwebende  Betonung  diu  laut  kommt;  oder  ob  die 
betr.  Ausdrücke  auch  sonst  einzeln  nachgewiesen  werden  können. 
Das  Erstere  hat  Bartsch  gemeint,  das  Letztere  gewiss  nie  bezweifelt. 

—  Indessen  mag  man  der  Identität  der  Dichter  gegenüberstellen, 
dass  unter  den  sicher  viermal  gehobenen  Strophen  des  Alphart  nur 
54  den  gewöhnlichen  kretischen  Rhythmus  Kürenbergs  und  des  N.L. 
haben  (l^il^l),  wozu  unter  den  zweifelhaften  wohl  noch  9  weitere 
kommen;  sowie,  dass  die  Behandlung  der  achten  Halbzeile  den  von 
Bartsch  für  die  Nibelungen  gefundenen  Gesetzen  nicht  immer  ent- 
spricht. Allein  man  mag  das  auf  die  Umarbeitung  schieben;  hätten 
wir  von  den  Nibelungen  nur  C,  so  würde  sich  der  kretische  Rh^'th- 
mus  in  weniger  als  der  Hälfte  der  Strophen  linden.  —  Wir  werden 
schliessen  dürfen,  dass  der  aus  dem  Alphart  abgeleitete  Einwand 
gegen  Pfeiffer  nicht  abzuweisen,  aber  auch  nicht  für  sicher  zu  achten 
ist,  da  Gewissheit  nach  kehier  Seite  hin  sich  zeigt. 


264  Nachträge  und  Berichtigungen. 

Jedenfalls,  glaube  ich,  wird  das  Beweismoment  des  Alphart  hin- 
länglich aufgewogen  durch  die  von  Bartsch  (Unters.  354)  angestellte 
Betrachtung:  „Wäre  sie  [die  Nib.-Str.]  das  [eine  alte  Volksweise^ 
also  allseitiger  Benutzung  offen  stehend]  gewesen,  so  würden  andere 
Dichter  sich  nicht  gesclieut  haben,  sie  anzuwenden,  so  würden  nament- 
lich epische  Diclitungen,  wie  Walther  und  Hildegunde,  Kudrun, 
Rabenschlacht  nicht  alle  die  Stroplie  mit  kleinen  Modificationen  um- 
gebildet haben.'' 

,,Alle  übrigen  Thatsachen  bestätigen  die  Identität  des  Nibelungen- 
dichters und  des  Kürenbergers",  sagt  Bartsch  a.  a,  0.  weiter. 
Zu  diesen  Thatsachen  gehören  nun  die  positiven  Aehnlichkeiten 
zwischen  Kürenberg  und  den  Nibelungen,  welche  das  negative  Mo- 
ment des  Entlehnungsverbots  ergänzen  und  theils  subsidiärer,  tlieils 
aber  auch  recht  wesejitlicher  Natur  sind.  Auch  diese  aber  sind  von 
Vollmöller  und  Scherer  (wie  zum  Theil  auch  schon  von  Zupitza; 
s.  0.  S.  247  f.)  angefochten  worden.  Wir  können  folgende  vier 
Puncte  unterscheiden.  1)  Kürenbergstrophen  und  Nibelungen  sind 
jedes  das  Werk  eines  Dichters;  2)  die  Entstehungszeit  beider  ist, 
wenn  nicht  gleich  (s.  o.  Nachtrag  zu  S.  86  f.),  so  doch  nicht  viel 
verschieden;  weiter  als  20  Jahre  sind  beide  kaum  auseinander  zu 
rücken;  3)  beide  haben  metrisch  gleiche  Strophenbehandlung  und  4j 
beide  zeigen  in  ihrem  Sprachschatz  viel  Gleiches. 

Dass  die  Nibelungen  das  Werk  eines  Dichters  sind,  brauche 
ich  hier  nicht  mehr  auseinanderzusetzen,  um  so  mehr,  als  weder 
Vollmöller  noch  Scherer  das  Argument  der  Liedertheorie  wirklich 
verwerthet  haben,  wenn  auch  dieser  seinen  Lachmannischen  Stand- 
punct  mehrmals  deutlich  herausgekehrt  und  jener  S.  6  f.  in  nicht 
ganz  khirer  Weise  davon  geredet  hat,  dass  „ein  Volksepos  keinen 
Verfasser  in  dem  Sinne  habe,  in  welchem  wir  das  Wort  jetzt  zu 
nehmen  gewohnt  sind".  S.  7,  not.  t  gibt  Vollmöller  selbst  die  Ein- 
lieit  des  Verfassers  zu.  Von  der  Einheit  des  Dichters  der  Küren- 
bergstrophen wird  unten  bei  der  vierten  Hauptfrage  (,,Ist  die  Küren- 
beryes  tvise  die  Nibelungenstrophe?")  die  Rede  sein. 

Wenn  Vollmöller  —  um  auf  das  Alter  des  N.  L.  zu  kommen 
—  S.  43  sagt :  „Auf  die  Umarbeitungen  einzugehen,  welche  nach 
Pfeiffers  und  Bartschs  Annahme  die  Nibelungen  erfahren  haben  sollen, 
ist  nicht  nöthig"',  so  hat  er  damit  denselben  Fehler  begangen,  den 
Bartsch  in  Pf.  Germ.  XIII  229  mit  Recht  der  Kritik  Zarnckes  zum 
Vorwurfe  gemacht  (s.  o.  S.  244  f.,  §  H5,  not.  1):  die  Nichtberück- 
sichtigung eines  wesentlichen  —  und,  setzen  wir  hinzu,  eines  ganz^ 
feststehenden  —  Beweismomentes  für  die  Kürenbergertheorie.  Auch 
Scherer  will  S.  5ßG  f.  Bartschs  Beweise  für  die  ältere  Gestalt  der 
Nibelungen  umstossen;  aber  es  ist  ihm  diss  nicht  gelungen.  Er  sagt: 
,,Wenn  Bartsch  den  ersten  Langvers  einer  beliebigen  Strophe  des 
Nibelungenliedes  aus  der  Recension  A  und  den  welcher  darauf  reimen 
soll  ans  der  Recension  B  nimmt  und  dann  ein  ungenauer  Reim 
lierauskommt,  —   wenn    es   also   möglich    ist,   durch    Vermischung 


Anhang.  265 

zweier  Recensionen  ungenaue  Reime  lierzustellen,  so  folgt  daraus 
docli  wohl  nicht,  dass  diese  ungenauen  Reime  würklich  gewesen 
sein  müssen.'*  Man  wird  mir  erlassen,  auf  diesen  Satz,  der  doch 
nichts  weiter  ist  als  eine  leicht  hingeworfene  recht  Laclimannische 
Verurtheilung  und  Entstellung  einer  wohl  begründeten,  durch  die 
scliarfsten  Untersuchungen  festgestellten  Theorie,  überliaupt  weiter 
einzugehen.  Wenn  Scherer  weiter  die  Beweiskraft  der  Reime  Uötcn  : 
(jüoten  oder  Hägenc.  menege  für  nichtig  erklärt,  so  ist,  abgesehen 
von  dem  im  Nachtrage  zu  S.  86  f.  Gesagten,  zu  entgegnen:  diese 
Reime  sind  bei  Bartsch  für  die  Thatsache  der  Umarbeitung  über- 
haupt ein  wenig  wesentliches  Motiv  fs.  auch  oben  S.  86 — 89); 
fällt  also  ihre  Beweiskraft  (obwohl  diss  Scherer  nicht  bewiesen),  so 
fällt  damit  Bartschs  Umarbeitungstheorie  noch  keineswegs.  Diese 
setzt  das  N.  L.  jedenfalls  um  UlTO,  und  die  Kürenbergstrophen  fallen 
um  1150;  beide  sind  also  nicht  soweit  auseinanderliegend,  dass  die 
Identität  des  Verfassers  irgendwie  auch  nur  unwahrscheinlich  würde; 
s.  übrigens  oben  S.  250. 

Gegen  die  metrischen  Uebereinstimmungen  zwischen  Kür.  und 
N.  L.  hat  Scherer  S.  567  f.  gehandelt;  denn  was  VollmöUei*  S.  34, 
not.  1  sagt,  ist  doch  kein  Beweis,  auch  nicht  als  solcher  gemeint, 
abgesehen  davon,  dass  es  gar  nicht  unanfechtbar  ist.  Scherer  will 
a.  a.  0.  die  Betonung  Uebe  mit  leide,  zierten  ämhrlu  n/p  als  un- 
richtig darstellen  und  Lachmanns  Betonung  /lebe  mit  leide,  zierten 
dnderiu  wip  aufrecht  erhalten.  Ich  will  davon  schweigen,  dass 
Bartsch  auch  in  seinen  metrischen  Gesetzen  mit  grosser  Sicherheit 
verfahren  ist  und  sie  meiner  Ansicht  nach  bewiesen  hat  (vgl.  auch 
Zarncke,  Ausgabe  S.  CI,  Bem.).  Das  aber  ist  zu  bemerken,  dass, 
wenn  wir  je  jenes  Betonungsgesetz  Bartschs  fallen  Hessen,  es  dann 
auch  für  Kürenberg  fällt,  so  dass  zwischen  seinen  Strophen  und  dem 
N.  L.  hierin  jedenfalls  kein  Unterschied  ist.  Und  besonders  ist  zu 
bemerken,  dass  der  kretische  Rhythmus  der  Schlusszeile,  also  gerade 
die  Hauptsache,  immer  noch  in  Kür.  und  N.  L.  überwiegt  und  zwar 
bei. Kürenberg  weitaus.  —  Etwas  Anderes  wäre  es  allerdings,  woll- 
ten wir  Simrocks  „Herstellung  der  s.  g.  Kürenbergschen  Lieder'* 
(bei  Vollmöller  S.  45 — 48)  adoptieren.  Denn  Simrock  nimmt  zweite 
und  vierte  Halbzeilen  mit  vier  Hebungen  (doch  ohne  jede  Xoth)  an; 
er  liest  ferner  vil  lieber  vriimt,  m/n  vil  liep,  des  gelidzze,  so 
sprach  daz  tvfp,  nie  vr'd  werden  si't,  mir  wart  nie  ivip  als  liep 
(wie  er  die  letztgenannte  Halbzeile  gelesen  haben  will,  kann  ich 
nicht  sicher  errathen).  Aber  diese  Lesarten  widersprechen  schon 
der  allgemeinen  Ansicht  von  dem  Wesen  des  Nib  -Verses,  daher  sie 
auch  MF.  (ausser  nie  vrö  werden  sit)  nicht  hat;  auch  lassen  sich 
alle  diese  Stellen  weit  leichter  und  besser,  zum  Tlieil  der  Hs.  ge- 
mässer,  so  lesen,  dass  sie  mit  Bartschs  Gesetzen  übereinstimmen. 
Statt  weiterer  Ausführung  verweise  ich  auf  den  hier  gewiss  ganz 
unparteiischen  Haupt  in  MF.  S.  230  f.  und  auf  Bartsch,  Unters.  S.  358  f., 
sowie  auf  die  Recension  der  Vollmöllerischen  Schrift  im  Lit.  Central- 


26(3  Nachträge  und  Berichtigungen. 

blatt  1874  No.  20.  Auch  Vollmöller  hat  S.  40  f.  nach  Simrock  in  metri- 
schen Dingen  eine  Verschiedenheit  zwischen  Nibelungen  und  Kürenberg- 
strophen  gefunden,  die  nemlich,  dass  diese  sechsmal  scheinbar  klingende 
Reime  haben,  das  N.L.  dagegen  in  mehr  als  150  mal  so  vielen  Strophen 
nur  1  2  beiden  Bearbeitungen  gemeinsame  zeige.  Diss  weise  darauf  hin, 
dass  die  scheinbar  klingenden  Reime  „in  noch  früherer  Zeit  das  Gesetz 
der  ursprünglichen  Nibelungenstrophe  für  die  beiden  ersten  Lang- 
zeilen gebildet  haben".  Ein  geistreicher,  aber  nicht  zwingender 
Schluss;  denn  es  handelt  sich  hier  nicht  um  ein  Gesetz,  sondern 
um  eine  Freiheit,  die  allmählich  aufgehört  hat.  Dass  die  erwälmten 
Zahlen  eine  Verschiedenheit  zwischen  Kür.  und  N.-L.  bilden,  ist 
nicht  zu  leugnen;  aber  ihr  steht  die  entschiedene  Uebereinstimmung 
im  Bau  der  achten  Halbzeile  gegenüber.  Die  ungenauen  klingenden 
Reime  sind  gewiss  von  den  Bearbeitern  beseitigt  worden. 

Vollmöller  hat  S.  16 — 37  seiner  Schrift  auf  die  Entkräftung 
des  Beweises  verwendet,  den  bei  Pfeiffer,  Thausing  und  Bartsch  die 
Uebereinstimmungen  im  Wortgebrauch  zwischen  Kür.  und  N.L.  bilden. 
Er  hat  dabei  übersehen,  dass  das  Hauptgewicht  hier  auf  die  verhält- 
nismässig grosse  Zahl  dieser  übereinstimmenden  Wendungen  fällt, 
deren  es  mit  dem  Bilde  des  Falken  2(i  sind  (in  15  Strophen  oder 
62  Zeilen),  und  dass  kein  Mensch  beabsichtigt  hat,  die  betr.  Wen- 
dungen anderen  Gedichten  ganz  abzusprechen.  Weiter  hat  er,  was 
schon  oben  zum  Alphart  bemerkt  wurde,  übersehen,  dass  auch  die 
wörtliche  Uebereinstimmung  ein  Moment  bildet.  Aber  auch  im  Ein- 
zelnen hat  er  genügende  Parallelen  aus  anderen  Werken  nicht  immer 
beigebracht.  Gehen  wir  daher  etwas  ins  Einzelne  !  Das  Bild  des 
Falken  mag  billich  fallen.  Nur  ist  S.  18  zu  tadeln,  dass  von  einem 
„Liede"  über  Krierahilds  Traum  die  Rede  ist,  und  ebenso  dass 
von  AUitteratioii  in  demselben  gesprochen  wird.  Denn  ausser  den 
ganz  zufälligen  AUitterationen  in  Nib.  Str.  13 — 19,  deren  sich  aus 
anderen  Theilen  des  N.L.  ebenso  viele  beibringen  Hessen  (s.  o.  S. 
31,  not.  2),  findet  sich  dort  nur  das  wie  liehe  mit  leide  ze  jungest 
Innen  kan  (in  einer  von  Lachmann  athetierten  Stroplie !  i ,  und  Voll- 
möller selbst  hat  (s.  u.)  S.  30  f.  die  Häufigkeit  der  Antithese  liehe 
— leit  nachgewiesen.     Doch  thut  diss  nichts  zur  Sache. 

Ebenso  mögen  die  Reime  lieh:  lieh,  die  Ausdrücke  einen  leides 
manen,  geleiten  =  „erleben''  fallen. 

Zu  einen  Irürigen  muot  gewinnen  sagt  V.  selbst :  „ist  allerdings 
in  dieser  Weise  bis  jetzt  nicht  weiter  nachzuweisen".  Eine  ,,strin- 
gente  Kraft"  (S.  23)  hat  auch  solchen  Dingen  Niemand  beigelegt. 

Duz  lant  rümen,  was  besonders  den  Alphart  angeht,  ist  schon 
besprochen. 

Sich  eines  ding  es  genieten  hat  (was  V.  leugnet)  in  Kür.  und 
N.  L.  dieselbe  Bedeutung  „sich  ersättigen  an";  auch  hat  V.  eine 
Stelle,  wo  ein  persönlicher  Genetiv  in  dieser  Wendung  stünde, 
nicht  nachgewiesen. 

l'il  n'ol  versüenen  ist  mit   diesem   adverbiellen  Zusätze    von  V. 


Anhang.  267 

nicht  nachgewiesen.    Zu  bemerken  ist  auch,  dass  es  Nib.  620,  2  und 
MF,  !),   19  beidemal  unmittelbar  vor  der  Cäsur  steht. 

Einem  ein  dinc  benemen  und  eines  künde  f/eninnen  mag  fallen. 

Erhlüejen  mit  dem  Subst.  v(irn-e  ist  von  V.  nur  Titurel  lo9,  4 
nachgewiesen,  wo  aber  erhl.  transitiv  und  varn'e  Object  ist. 

Gelich  mit  der  Bedeutung  der  Identität  und  mit  einem  sinnlichen 
Begriffe  verbunden,  wie  es  in  den  beiden  Stellen  Nib.  172.3,  2  f. 
und  MF.  8,  32  so  eigenthümlich  und  individuell  gebraucht  ist,  findet 
sich  sonst  nirgends. 

Megeihij  liehe  —  leit,  höher  muol,  teilen  ?nit  (sa7ne()  einem, 
können  preisgegeben  werden. 

Zu  daz  (Jsen  —  gewant  bringen  könnte,  wäre  es  nicht  vielleicht 
zu  unbedeutend,  bemerkt  werden,  dass  es  MF.  9,  29  f.  Nib.  395,  1 
(1965,  4)  Imperativisch  steht. 

Die  Anrede  rilter  edele  mag  wegfallen.  Doch  s.  Bartsch, 
Unters.  35S,  Z.   10—12  v.  o. 

Wir  haben  gefunden,  dass  eine  grosse  Anzahl  von  Wendungen 
dem  Kür.  und  dem  N.  L.  gemeinsam  sind,  von  denen  gegen  die 
Hälfte  sonst  nicht  genau  ebenso  nachzuweisen  ist.  Vor  allem  ist  es 
die  Zahl  dieser  Parallelen,  sodann  auch  die  wörtliche  Uebereinstim- 
mung  einiger  Wenc^ungen  in  zwei  Denkmälern,  deren  eines  nur  15 
Strophen  umfasst,  was  den  Schluss  als  berechtigt  erscheinen  lässt, 
dass  wir  hier  den  Sprachgebrauch  eines  Dichters  vor  uns  haben, 
der  sich  einmal  in  gewissen  Wendungen  gefallen  mochte.  Wenn 
also  Vollmöller  S.  34  sagt,  dass  ,, manche  Ausdrücke  eben  überhaupt 
seltener  gebraucht  werden  als  andere",  so  werden  wir  solche  Aus- 
drücke in  unserem  Falle  mit  Fug  als  Eigenthum  eines  Dichters  in 
Anspruch  nehmen  dürfen.  Dass  es  Niemandem  sonst  möglich  gewesen, 
sie  zu  brauchen,  hat  Niemand  behauptet;  daher  ist,  was  V.  S.  35 
— 37  an  gemeinsamem  Sprachgebrauch  unter  anderen  Dichtern  noch 
beigebracht  hat,  ganz  unnütz,  weil  es  den  Gegner  nicht  triflft. 

Eine  Hauptfrage  ist  aber  endlich  die  vierte,  ob  Nibelungen- 
strophe und  Kilrenberges  ?v/se  dasselbe  sei ;  insofern  besonders  Scherer 
an  dieselbe  Erörterungen  geknüpft  hat,  welche,  wenn  sie  richtig 
sind,  der  Pfeifferischen  Theorie  den  Boden  rauben  müssten. 

Dass  die  Kürenbergsweise  die  Nibelungenstrophe  sei,  gibt  Scherer 
568  f.  unumwunden  zu,  während  Vollmöller  es  S.  39  f.  nach  Zu- 
pitzas  Vorgang  mit  unzureichenden  Gründen  bekämpft.  Der  Grund, 
welchen  Scherer  beibringt,  genügt,  um  die  Identität  beider  Weisen 
zu  sichern:  daraus,  dass  MF.  8,  1 — 8  die  Dame  in  dem  Metrum 
der  Nib. -Str.  davon  redet,  dass  ein  Ritter  in  Kürenberges  rrise  vor 
ihren  Fenstern  gesungen,  folgt  mit  sehr  grosser  Wahrscheinlichkeit, 
dass  auch  die  Weise,  in  der  sie  davon  redet,  die  Kürenbergsweise  sei. 

Wenn  Scherer  weiter  S.  509  f.  eine  systematische  Entstehungs- 
geschichte der  Nibelungenstrophe  gibt,  so  kann  gegen  dieselbe  liier 
nichts  eingewendet  werden^  es  ist  das  Ganze  aber  für  unsere  Frage 
von  gar  keinem  Belang. 


268  Nachträge  und  Berichtigungen. 

Wichtiger  ist,  was  Scherer  S.  571  vorbringt.  Der  Name  des 
Kiirenbergers  ist  ihm  in  der  Hs.  gefolgert  aus  MF.  8,  5 ;  wie  denn 
diese  Ansicht  bei  allen  Gegnern  Pfeiffers  widerkehrt.  Die  Analogie- 
beweise, welche  Vollmöller  S.  37 — 39  dafür  vorbringt,  beweisen  nur 
die  Möglichkeit,  d.  h.  das  sonstige  Vorkommen  der  falschen  Nen- 
nung eines  Autors,  aber  nicht  die  Wirklichkeit  oder  Nothwendigkeit 
derselben  im  gegebenen  Falle.  Weiterhin  bringt  Vollmöller,  um  die 
Unmöglichkeit  zu  beweisen,  dass  Kürenberg  derselbe  mit  dem  ritter 
im  MF.  8,  3  sei,  das  Argument  Zupitzas  wider  bei,  das  schon  von 
Bartsch  widerlegt  ist  (s.  o.  S.  248):  damit  würde  die  Dame,  die 
in  MF.  8,  1  —  8  redet,  eine  unzuht  begehen.  Im  Uebrigen  sagt  V.  nichts 
weiter,   als   dass   die  Autorschaft   Kürenbergs   nicht   notlnvendig  sei. 

Scherers  Gründe  gegen  dieselbe  8.  571  ff.  sind  scheinbarer. 
Er  sagt,  aus  der  schlechthinigen  Benennung  Kürenberges  ?iise  folge, 
dass  Kürenberg  sich  nur  einer  Strophenform  bedient  habe.  Der 
Schluss  ist  nicht  zwingend.  Die  Nib.-Str.  mochte  eben  die  be- 
kannteste Weise  Kürenbergs  sein,  und  ähnliche  Brachylogieen 
kommen,  wo  nicht  in  iermmis  technicis  geredet  werden  soll,  häufig 
genug  vor,  wie  ein  flüchtiger  Blick  noch  für  unsere  Zeit  sofort 
lehren  kann.  Dass  die  Nib.-Str.  diejenige  Form  ist,  welche  der 
anderen  Kür.-Weise  zu  Grunde  liegt,  dass  sie  die  primäre  Form 
der  secundären  gegenüber  darstellt,  ist  ja  ganz  unbezweifelt. 

Wichtiger  ist  8.  572:  „Nehmen  wir  einmal  an,  wir  hätten  in 
der  neueren  Zeit  eine  ähnliche  Verbindung  zwischen  Musik  und 
Dichtkunst,  wie  sie  im  Mittelalter  bestand.  Nehmen  wir  ferner  an, 
die  Melodie  des  Liedes  "^Freut  euch  des  Lebens',  die  wie  man  weiss 
von  Hans  Georg  Nägeli  herrührt,  sei  unter  dem  Namen  'die  Nägelische 
Melodie'  ganz  allgemein  bekannt.  Und  nun  läge  uns  ein  Gedicht 
vor,  worin  eine  Dame  redend  eingeführt  wäre  und  uns  einzahlte: 
'Gestern  Abend  hörte  ich  einen  Herrn  sehr  schön  singen  in  der 
Nägelischen  Melodie'.  Würden  wir  daraus  schliessen,  dass  der  Herr, 
den  die  Dame  singen  hörte,  Nägeli  geheissen  habe?  Vielmehr  wir 
würden  das  GegentJieil  daraus  schliessen:  jener  Sänger  hat  niclit 
Nägeli  geheissen.  Und  so  hat  jener  Ritter,  der  Verfasser  von  MF. 
9,  29  nicht  Kürenberg  geheissen."' 

Ein  sehr  bestechender  Schluss;  aber  er  ist  nicht  stichhaltig. 
Vor  allem  liegt  eine  petitio  principii  in  den  Worten  „ganz  allgemein 
bekannt".  Woher  wissen  wir,  dass  die  Nib.-Str.  unter  dem  Namen 
Kürenberges  fvise,  der  uns  doch  nur  hier  begegnet,  ganz  allgemein 
bekannt  gewesen  ist?  Und  so  lange  wir  das  nicht  wissen,  ist  nicht 
die  andere  Erklärung  ebenso  möglich:  dass  die  Weise  nur  deshalb 
mit  dem  Namen  des  Erfinders  bezeichnet  sei,  weil  er  zugleich  der 
Sänger  des  betreffenden  Liedes  gewesen?  Und  nicht  bloss  ebenso 
möglich,  sondern  fast  allein  möglich.  Denn,  was  Scherer  zur  Ver- 
gleichung  beibringt,  ist  pure  Prosa,  und  Bartsch  hatte  ganz  Recht 
(s.  0.  S.  248),  im  Namen  der  Poesie  seine  Auffassung  zu  postulieren 
und   der   gegnerischen   Auffassung   entgegeji    zu   halten,    dass    „die 


Anhang.  269 

Situation  wenig  geeignet  sei,  litterarisclie  und  musikalisclie  Kenntnisse 
anzubringen/'  Nacli  Bartsclis  Deutung  liat  die  betrelfende  Zeile  eine 
schöne,  zart  andeutende,  prägnant  geheimnisvolle  Färbung;  und  alle 
Poesie  schwindet  mit  Scherers  Auffassung.  —  Was  dieser  weiterliin 
sagt  (S.  573):  Bartschs  Erklärung  sei  nur  dann  nothwendig,  ,,wenn 
es  unmöglich  war  dass  ein  beliebiger  liitter  ohne  litterarische  Prä- 
tensionen sich  der  Kürenbergsweise  bediente'^,  das  ist  tlieils  durch 
das  eben  Gesagte,  tlieils  durch  den  Ausdruck  Kürenherges  irise  be- 
seitigt. Uebrigens  konnten  es  auch  andere ,  handgreiflichere  Rück- 
sichten als  die  litterarischer  Prätensionen  sein,  was  einen  ständchen- 
bringenden Kitter  bewog.  Anderer  Weise  nicht  anzuwenden. 

Weiterhin  sucht  Scherer  (S.  573  —  578)  die  Kürenberglieder 
Acrschiedenen  Autoren,  bezw.  Autorinnen  zuzuschreiben,  wie  schon 
Zupitza,  der  freilich  keine  Begründung  dafür  gegeben  hatte,  wenig- 
stens keine  genügende.  Sein  Beweis  ist  hergenommen  von  einer 
angeblichen  ,,nnausfüllbaren  Kluft'',  welche  zwischen  der  männlichen 
und  weiblichen  Empfindung  gähnen  soll.  Ich  habe,  als  ich  das  ge- 
lesen hatte,  die  Kürenbergstrophen  widerholt  darauf  hin  angesehen  und 
gestehe,  von  dieser  Kluft  nichts  bemerkt  zu  Jiaben.  Die  Strophen 
sind  ohne  Ausnahme  mit  einer  so  frischen  sinnlichen  Kraft  und  einer 
gewissen  Derbheit  an  manchen  Stellen  gedichtet,  dass  sich  ein  Unter- 
schied kaum  finden  lässt.  Es  sei,  nm  zu  beweisen,  dass  jene  Kluft 
zwischen  dem  rohen  Manne  und  dem  sehnsüchtigen  Weibe  nicht 
existiert,  verwiesen  auf  die  derb  leidenschaftliche  Zeile  MF.  S,  7.  S, 
sowie  auf  9,  21 — 28,  wo  der  Mann  in  ganz  weichem  Tone  spricht. 
Am  meisten  spricht  aber  gegen  Scherer  MF.  8,  9 — 16,  wo  die  Dame 
sagt:  ja  emvas  ich  nicht  ein  her  {eher)  wilde.  Deshalb  hat  Scherer 
auch  vorsichtigerweise  diese  Strophe  entfernt  (S.  576),  weil  sie  das 
„Princip"  der  Anordnung  schädige,  in  welcher  die  Frauenstrophen 
den  Männerstrophen  vorangehen.  Als  ob  dieses  „Princip"  nicht  den 
Schreiber  zum  Urheber  haben  könnte !  Schreibt  doch  Scherer  diesem 
auch  die  Namengebung   aller   1 5  Strophen  zu ! 

Wir  sehen,  es  ist  für  eine  Mehrheit  von  Verfassern  kein  Beweis 
zu  erbringen.  Vielmehr  gibt  uns  Scherers  eigene  Ausführung 
{S.  574  f.)  über  die  epische,  romanartige  Zusammenstellung  lyrischer 
Strophen  bei  anderen  Dichtern  das  Recht,  diss  auch  bei  Kürenberg 
anzunehmen.  Gerade  die  ältere  Lyrik  des  12.  Jahrhunderts  führt 
ja  öfters  das  Weib  redend  ein  (s.  auch  oben  S.  248)  und  steht  da- 
mit eben  dem  Volksliede  noch  sehr  nahe,  welches  diese  Sitte  in 
einem  solchen  Maasse  hat,  dass  es  überflüssig  ist  davon  zu  reden. 
Dass  ,, naive  Künstler,  von  der  Gelegenheit  ergriflen,  vom  Augenblick 
befangen ,  inneres  Leben  ohne  Wahl  gestaltend ,  unmöglich  Gefühle 
besingen  können ,  die  sie  niemals  gehabt  haben" :  dieses  Argument 
Scherers  (S,  577)  scheitert  schon  daran,  dass  eben  ein  solcher  Unter- 
schied in  der  Gefühlswelt  zwischen  den  Kürenbergischen  Mannes- 
und Frauenstrophen  nicht  existiert.  Uebrigens  steht  Kürenberg  wohl 
so  hoch,  dass  man  ihm  jen'e  Fähigkeit  der  Versetzung  in  ein  fremdes 


270  Nachträge  und  Berichtigungen. 

Gefühl  zutrauen  kann,  der  das  Volkslied  selbst  mit  nichten  entbehrt. 

Scherer  S.  578  —  581  zu  betrachten,  ist  nach  dem  Gesagten 
nicht  mehr  nöthig.  Zum  Schlüsse  kommen  noch  die  Heptaden  zur 
Sprache  (denn  ohne  MF.  8,  9 — IG  hat  Kürenberg  vierzehn  Strophen), 
liier  aber  auf  Liederbücher  mit  Seiten  zu  28  Zeilen  umgedeutet. 

Mein  Resultat  ist  also:  Pfeiffers  Theorie  ist  nicht,  wie  Pfeiffer 
selbst  es  meinte,  eine  absolut  gesicherte  Nothwendigkeit;  sie  lässt 
sich  „nicht  über  die  Wahrscheinlichkeit  hinaus  erheben",  wie  Bartsch 
in  seinem  Koberstein  I,  199  selbst  sagt;  aber  ihre  Wahrs(;lieinlich- 
keit  ist  eine  grosse,  und  die  Gründe  ihrer  Gegner  sind  nicht  stich- 
haltig genug,  um  eine  durch  mehrere  Wahrscheinlichkeitsbeweise 
gestützte  Theorie  umzustürzen. 

Zum  Schlüsse:  Wer  war  Kürenberg?  Woher  stammte  er?  Voll- 
möller hat  S.  4 1  f.  mit  grossem  Fleisse  eine  Menge  von  Kürenbergen 
aufgezählt,  die  aber  zum  Theil  Kürenburg  heissen.  Dass  der  Name 
(■=  „Mühlberg")  häufig  sein  muss,  ist  ja  natürlich.  Von  Vollmöllers 
Kürenbergen  gehen  sogleich  alle  die  ab,  die  nicht  als  Rittersitze 
(cf.  MF,  8,  3)  nachweislich  sind;  so  bleiben  ohnehin  wenige  übrig. 
Für  den  österreichischen  Ursprung  des  Dichters  spricht  in  den 
Liedern  selbst  nichts,  aber  auch  nichts  dagegen.  Ich  könnte  an- 
führen, dass  MüUenhoffs  Forschungen  über  die  Heimat  des  deutschen 
Volksepos  und  die  wenigen  Spuren  in  der  Sprache,  die  Bartsch 
(Unters.  S.  180  ff.)  angeführt  hat  (doch  s.  o.  S.  242|,  das  Nibe- 
lungenlied mit  grosser  Wahrscheinlichkeit  nach  Oesterreich  ver- 
weisen. Doch  ich  will  die  Identität  des  Verfassers  bei  Seite  lassen 
und  nur  das  anführen  (worauf  aufmerksam  gemacht  worden  zu  sein, 
ich  Herrn  Professor  Dr.  Bartsch  verdanke),  dass  die  Hs.  die  Küren- 
berglieder  unmittelbar  neben  die  des  Oesterreichers  Dietmar  von 
Eist  (s.  MF.  S.  245)  stellt.  So  hätten  wir  die  Wahl  zwischen  dem 
Kürenberg  in  Oberösterreich  (bei  Linz)  und  dem  in  Unterösterreich 
(südlich  von  Melk);  was  Haupt  MF.  S.  229,  Z.  6-— 4  v.  u.  sagt, 
lässt  vielleicht  das  oberösterreichische  Kürenberg  als  das  wahrschein- 
lichere ei'scheinen. 


Inhalts -Verzeichnis. 


Seite 

Erster  Theil:  Die  Entstehung  dos  Nibelung-enliedes 1 

Erster  Abschnitt:  Die  Handschriftenfrage 3 

A.  Einleitung — 

§  t.  Wichtigkeit  der  Ilandschriftenfrage — 

2.  Schwierigkeit  der  Ilandschriftenfrage 4 

3.  Aufzählung  der  Handschriften 5 

B.  Die  vorhandenen  Theorieen 7 

§  4.  Einleitung — 

5.  Lachmann b 

6.  Holtzmann. 12 

7.  Die  Lachmanuianer 25 

8.  Zarncke 27 

9.  Fischer 31 

10.  Die  Späteren  (üebersicht) 32 

11.  Pasch 34 

12.  Pfeiffer 39 

13.  Bartsch 40 

14.  Nachbemerkung 72 

C.  Kritik  und  Resultate 73 

§  15.  Lachmann — 

16.  Holtzmann  (und  Zarncke) — 

17.  Die  Lachmannianer 78 

15.  Zarncke  (einzelne  Momente) 79 

19.  Pasch SO 

20.  Bartsch S4 

21.  Resultate 93 

Zweiter  Abschnitt:  Die  Nibelungensage 95 

1.  Der  historische  Theil  der  Sage — 

§  23.  Einleitung — 

24.  Lachmann 96 

25.  Wilhelm  Grimm 99 

26.  Giesebrecht 100 

27.  Müllenhoff 101 

28.  W.  Müller,  Rieger,  Koch 104 

29.  Resuhate 1  Oti 

2.  Die  Siegfriedssage 112 

§  30.  Euheraeristische  und  mythologische  Deutung  .    .    .  — 

31.  Lachmann 113 

32.  Wilhelm  Müller 115 

33.  Neuere  Ansichten 130 


272  Iiihalts-Verzeichnis. 

Seite 

§  34.  Vergleichend-mythologische  Deutungen t34 

35.  P.  E.  Müller    .' — 

36.  Leo.     . 135 

37.  Holtzmaun 137 

38.  Kritik  und  Resultate 13<) 

3.  DieSageimNibelungenliede 14ti 

§  39.  I]iuleitung — 

40.  Namen — 

41.  Siegfriedssage 14S 

42.  Nibelungen-  und  Burgundensage 151 

Dritter  Abschnitt :  Die  historischen  Verhältnisse  und  Vor- 

lävifer  des  Nibelungenliedes 153 

§  43.  Einleitung — 

44.  Holtzmaun — 

45.  Dümmler 177 

46.  Zarncke ISO 

47.  Thausing 1S3 

48.  Kritik  und  Resultate 186 

Zweiter  Theil:  Der  Terfasser  des  Nibeluug-euliedes 191 

A.  DievorhandenenTheorieen 193 

§  49.  Einleitung — ^ 

50.  Lachmann — 

51.  Die  Heptaden 202 

52.  Mülleuhoff 206 

53.  W.  Müller 209 

54.  Kritik  der  Liedertheorieen 214 

55.  Die  Einheit  des  Liedes 221 

56.  Die  älteren  Tnitarier 222 

57.  Spann 223 

5S.  Holtzmaun 224 

59.  Pfeiffer 226 

60.  (Thausing  und)  Bartsch 234 

B.  Kritik  und  Resultate 236 


§61.  Alter  des  Nibelungenliedes.     .   i  i 

62.  Zarncke  (über  die  Heimat  des         „    ,  ; 

/     Vorbem.    .    .    ( 


Nibelungenliedes)    .    .     .     .  ^     Vorbem.    .    .    .     2hs 

63.  Kritik  Zarnckes ]  (241 

64.  Die  Theorieen  vor  Pfeiffer .243 

65.  Pfeiffers  Theorie;  Einwände  dagegen 244 

66.  Unwiderleglichkeit  dieser  Theorie  und  Modiöcierungen 

derselben 249 

67.  Resultate 251 

Schlnss:  §  68.  Gesammt-Resultate 252 

Verzeichnis  der  angegebenen  Werke 254 

Naehtiüge  und  Berichtigruugen 255 

Allhang:  zu  S.  244—250 257 


Druck  von  .1.  I!.  Hirschfeld    in  Leipzig 


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