DIE FORSCHUNGEN
ÜBKH r)Ah;
NIBELUNGENLIED
SEIT KARL LACHMANN.
EINE GEKRÖNTE PREISSCHUIFT.
Y.OX
m, HERMAIflf FISCHER.
LEIPZIG,
VERLAG VON F. C. W. VOGEL.
1S74.
j
Vo r w or t.
Die Arbeit, die ich hier als Erstlingsversuch der OeflFent-
lichkeit übergebe, verdankt ihre Entstehung einer von der
philosophischen Facultät zu Tübingen im Jahre 1871 gestellten
Preisaufgabe über folgendes Thema:
„Die neuesten Theorieen über Entstehung und
Verfasser des Nibelungenliedes sollen dargestellt
und kritisch beleuchtet werden."
Ich habe für die Bearbeitung dieser Frage einen Hauptpreis
erhalten, und veröftentliche dieselbe in einer etwas umgearbeiteten
Gestalt, wesentlich zu dem Behuf, eine geordnete, möglichst
vollständige und unparteiische Darstellung des Ganges und
jetzigen Standes der Nibelungenfrage in allen ihren Puncten zu
geben, welche vornehmlich als eine Einleitung in das Studium
der Nibelungen dienen könne.
Die Entstehung der Arbeit mag die Wahl des Behandelten und
die Art und Weise seiner Behandlung rechtfertigen. Als Einleitung
zum Nibelungenliede würden wohl vor allem einige Andeutungen
über die Sprache desselben, über seinen Vers, über die litterar-
historische Stellung des Liedes im Allgemeinen und insbesondere
über seine Geschichte von seiner Widerentdeckung im achtzehnten
Jahrhundert an erwartet werden, sowie von anderer Seite eine
Einführung in die Nibelungensage nach deutscher, nordischer
und angelsächsischer Ueberlieferung. Diese Dinge, soweit sie nicht
nebenbei von der Untersuchung schon berührt waren (wie denn
die Metrik der Nibelungen bei der Darstellung der Bartschischen
Theorie über die Handschriften, die Sage in den sie betreffenden
Abschnitten vielleicht genügend erörtert sind), konnten in den
Gang derselben nicht wohl aufgenommen werden, ohne das
Ganze empfindlich zu alterieren. Es genüge, für dieselben auf
die bekanntesten einschlägigen Werke zu verweisen.
IV
Die Anordimii;^ des Ganzen nach den Theorieen der einzelneu
Autoren glaubte ich nicht ändern zu dürfen. Denn eine einiger-
maassen gründliehe Einleitung in das Lied, das eine von der
homerischen kaum erreichte Litteratur aufzuweisen hat, wird
wohl thun, die Ansichten der würdigsten Bebauer dieses Feldes
in ausführlicher Darstellung zu bringen, um einen Wegweiser
nicht nur zu bilden durch das Labyrinth dieser Litteratur, son-
dern auch eine nähere, nicht wenig zeitrauljende Bekanntschaft
mit derselben unnöthig zu machen. Durch die erwähnte Anord-
nung war zugleich nothwendig gegeben, dass ich in der Dar-
stellung der einzelnen Theorieen mit wenigen Ausnahmen
solcher, die gairz kurz behandelt worden) stets die Autoren,
sogar in den Noten, selbst sprechen Hess, meine eigenen Ehiwände
oder meine Billigung, soweit sie nicht in die Schlussparagraphen
verschoben werden konnten, in den Noten duvcli das Zeichen
der eckigen Kiamnier unterschied.
Nachdem die in manchem Puncte verwandte homerische
Frage mehrere einleitende, den Stand der Frage kürzer oder
ausführlicher darstellende Werke gefunden hat, mag ein ähnlicher,
den Umfang, welchen eine Einleitung zu einer Ausgabe des
Liedes zu haben pflegt, überschreitender Versuch auf dem Gebiet
der ziemlich zum Stillstand gekommenen Nibelungenfrage, wie
ihn Zarnckc (Ausgabe, Aufl. IV, Einleitung LIV) als ein Bedürfnis
der Nibclungcnlitteratur bezeichnet, Billigung finden. Möge diese
Abhandlung als in diesem Sinne veröffentlicht, als unparteiische
Untersuchung, die freilich sich genöthigt sah, in der PLauptfrage
sich einer bestimmten Hypothese anzuschliessen , Anerkennung
und billige Nachsicht finden!
Meinem hochverehrten Lehrer, Herrn Professor Dr. Adel-
bert von Keller in Tübingen, welcher durch die Stellung der
oben genannten Preisaufgabe meine Arbeit ins Leben gerufen
hat, bin ich für manche fruchtbringende Anregung zu grossem
Danke verpflichtet. Herr Geh. Hofrath Profes&or Dr. Karl
Bartsch in Heidelberg hat mich schon vor dem Drucke und
noch mehr während desselben mit der aufoi)ferndsten Freund-
lichkeit unterstützt, indem er mir insbesondere bei der Correctur
wie für die Abfassung des Anhangs mit Ratli und That behilf-
lich war, wofür ihm hier mein herzlichster Dank gesagt sei.
Stuttgart im Juni 1S7L
Uermaiin Fischer.
Erster Theil.
Die Entstehung des Nibelungenliedes.
i'isclier, Nibelungenlied.
Erster Al)scliiiitt.
Sie Handsclirifteiifrage.
A. Einleitung.
1.
Bei einer jeden Untersuchung über das Nibelungenlied muss
die über die Handsclirittcnfrage voranstellen. Denn nicht nur
hat K. Lachmann auf seine Beantwortung dieser Frage seine
ganze Theorie aufgebaut, welche ein Menschenalter laug die
gesammte gerinanistische Philologie beherrschte; auch seine
Nachfolger haben die Wichtigkeit dieser Frage anerkannt, und
der Erste, welcher mit einer ausgedehnteren und eingehenderen
Untersuchung gegen Lachmann aufgetreten ist, A. Holtzmann,
beginnt seine ., Untersuchungen über das Nibelungenlied'' mit den
Worten: „Man mag das Nibelungenlied vom historischen und
l)hilologisclien oder auch vom ästhetischen Standpunct aus be-
trachten, immer Avird es vor allem darauf ankommen, Avclchen
der verschiedenen Texte man zu (Irunde legt.''
Welches aber sind die Gründe, aus welehen die Hand-
schriftenfrage, sonst für Bestimmung der Person und Zeit eines
Dichters tVist glcichgiltig. hier die Priorität vor allen anderen
Momenten in Anspruch zu nehmen hatV Es ist einerseits der
Grund, dass I)ei anderen, wenigstens bei den griechisch-römi-
schen Schriftstellern stets die Niederschreibung der auf uns ge-
kommenen, ihre Werke enthaltenden Codices mindestens um
einige Jahrhunderte später fällt als der Dichter selbst, bei un-
serem Liede aber möglicherweise') die ältesten Handschriften
1) So nach Lachmanns TBeorie, auch nach Zarncke.
4 I. Die Entstehung des Nibelungenliedes.
fast gleichzeitig mit der Abfassung des Gedichts gesetzt werden
können, keinesfalls aber mehr als äu — (30 Jahre später fallen
als die Abfassung oder letzte Redaction des Werkes,^) — Anderer-
seits aber ist die Handschriftenfragc hier von umfassender
Wichtigkeit deshalb, weil die directen äusseren Zeugnisse, die
für die Entscheidung der Kibelungenfrage benutzbar sind, äusserst
spärlich und für sich allein gar nicht entscheidend sind, also
die ganze Frage der Hauptsache nach^) aus inneren, indirccten
Zeugnissen beantwortet werden muss. Dass solche Zeugnisse
bei der relativen Gleichzeitigkeit der Handschriften wesentlich
in diesen liegen, ist an und für sich klar, und wird noch be-
hestätigt dadurch, dass die Handschriften nicht nur in mehr
oder niinder gleichgiltigen Dingen unter einander ditferieren, i;on-
dern auch in solchen, welche für die gesammte Kibelungenfrage
von Belang sind. — Zugleich nimmt aber die Handschriften-
frage auch dadurch einen hohen Rang ein, dass je nach der
verschiedenen Entscheidung derselben auch die anderen in Be-
tracht kommenden Momente verschiedene Bedeutung erhalten.
Liegt schon in dieser gegenseitigen Abhängigkeit zwischen
inneren und äusseren Kriterien eine nicht unbedeutende Sch^vierig-
keit der Entscheidung, so liegt speciell für die Handschriften-
frage eine noch bedeutendere in dem eigenartigen Verhältnisse
der Handschriften unter einander. Diesell)en sind nicht, wie
man es sonst bei handschriftlicher Tradition zu sehen gewohnt
ist, im wesentlichen übereinstinmiend, von ungebildeten oder
halbgebildeten Schreibern geschricl)en, auf einen noch vorhande-
nen oder verlorenen Archetypus deutlich zurückführbar. Sie
sind vielmehr mehr oder minder gleichzeitig und doch weit aus-
einandergehend; die besten unter ihnen sind für fürstliche Höfe
))estimmt gewesen und daher i)rächtig ausgestattet sowie mit
verhältnismässig grosser Sorgfalt geschrieben. Die Verschie-
denheiten al)er, die unter denselben statttinden, sind nicht der
Art, dass eine einheiHiche Ueberlieferung sich n(»ch darin er-
2) So fällt nach Pfeiffer und Bartsch die Handschrift C etwa 60 Jahre
später als der Diclitcr; aber ;\uch nach dieser Theorie enthalten alle Hand-
schriften erst spatere üniarboitungen, die nicht über in Jahre früher zu
setzen sind als die älteste erlialtene Handschrift.
;V) Auch die nach Abfassungszeit und Verfasser.
1. Die Ilandschriftenfrage. Einleitung. 5
kennen Hesse, aus welcher durch Dcpravation oder auch neben-
bei geübte vermeintliche Verbesserung die einzelnen Hand-
schriften entstanden wären; es l)egegnen uns vielmehr im wesent-
lichen zwei geschiedene Gruppen von llandscln-itten, in deren
Abweichungen wir es nicht mit dem unwillkürlichen allmählichen
Auseinandergehen jeder handschrittlichcnTradition zu thun hal)en; ')
vielmehr ist die Verschiedenheit zwischen l)eiden der Art, dass
wir nothwendig eine absichtliche Umarbeitung, sei's der
einen Textesgestalt durch das Original der anderen Gruppe,
sei's eines verlorenen Originals durch beide erhaltenen Redactio-
nen, anzunehmen haben.
Es kommt nun, um die Wichtigkeit und zugleich die Schwie-
rigkeit der Handschriftenfrage zu erhöhen, noch dazu, dass nicht
etwa in gieichgiltigen Ausdrücken und liedensarten , sondern in
wesentlichen Dingen, in Strophenbestand und Umfang des Ganzen,
in der Behandlung des Metrums, in Stil und Darstellung die
beiden Textesbearbeitungen sich bakl mehr bald weniger von
einander entfernen. Es sind diss Verschiedenheiten, welche zu
Gunsten der einen oder der anderen Ueberlieferung gedeutet
werden können und gedeutet worden sind. Ausserdem hat die
verschiedene Wahl zwischen den Mandschriften die verschiede-
nen Auffassungen des Nibelungenliedes als eines Kunstepos
oder als eines Volksepos mit hervorgerufen, so dass auch für
die Entscheidung dieser Streitfrage die der Ilandschriftenfrage
von Wichtigkeit sein muss, und umgekehrt.
o.
In kurzer Zusammenstellung sind nun die Handschriften
des Nibelungenliedes und ihr Verhältnis unter einander folgende.
Das Nibelungenlied ist in zehn vollständigen Handschriften
und achtzehn Fragmenten überliefert. Von den zehn vollstän-
digen Handschriften gehören drei dem dreizehnten Jahrhundert
an, nach Lachmanns Bezeichnung A, J) und C^ eine dem drei-
zehnten oder vierzehnten, D, eine dem vierzehnten, J, vier dem
fünfzehnten, a, h, //, /r, eine dem sechzehnten, <l. Von den Frag-
menten fallen sechs in das dreizehnte Jahrhimdert, E, M, 0, 1\, S, 7',
vier in das dreizehnte oder vierzehnte, F, G,- //, K, vier in das
vierzehnte, />, X, Q, /, drei in das fünfzehnte, ff, /, ;/^ (oder nach
Zarnekes Bezeichnung iv). Ausserdem sind in einem Drucke
1) Das anzunehmen, wird- schon durch die relative Gleichzeitigkeit der
Haupthandschriften unmöglich.
5 1. Die lüitstehung des Nibelungenliedes.
des sechzehnten Jahrhunderts, in dem Werk des W. Lazius
„De gentium nli(iuot niigrationil)US", einige Strophen aus einer
Nibclungenliandsciirit't enthalten, weiche mit c hezeiclmet werden.
Nicht alle diese Handschriften sind aber von eigentlich
kritischer Bedeutung, da einige von den späteren theils Um-
arbeitungen der einen oder anderen Textesbearbeitung sind,')
theils auf solche hinweisen,*) welche aber die Frage nach der
Entstehung des Gedichts nicht mehr I)erühren; da ferner eines
der Bruchstücke, T, eine Uebersetzung des Liedes in das Nie-
derländische, zugleich die einzige alte Uebersetzung desselben
überhaupt, nichts für die Handschriftenfrage l)ietet.
Die I landschriften aber, welche für unsere Frage in Betracht
kommen, vertheilen sich in folgende Gruppen.^)
1) Die eine der beiden Hanptrcdactionen,'} gekennzeichnet,
anch öfters benannt nach dem Schluss des Gedichts, ^^ elcher
dasselbe als ,,(/cr Xi/x'/i/fN/c //ff" bezeichnet, zugleich die voll-
ständigste Gestalt des Liedes hinsichtlich der Stroj)henzahl und
die feinste^) hinsichtlich der Lesarten enthaltend, hat zu ihrem
eigentlichen Repräsentanten die Handschrift f, die schönste und
sorgfältigste Handsclirift unseres Liedes. Ausserdem gehören
zu dieser Gruppe die Handschriften (und Fragmente) /i', F, G, H, n.
2) Der genannten ersteren Bearbeitung tritt gegenüber eine
zAveite,*^) ebenfalls bezeichnet durch den Schluss des (Gedichts,
wo dasselbe „(/er Xi/jr/u/tf/c nöl" genannt wird. In ihr lassen
sich drei Gruppen unterscheiden, welche in Beziehung auf die
Zahl der Strophen sich immer weiter von der ersten Bearbei-
tung entfernen. Die erste Gruppe hat ungetähr achtzig Strui)hen
weniger als jene, und hesteht aus den Handschriften (und Frag-
menten) //, J. K, (>, Q, (/, //, /. Der zweiten Gruppe fehlen
gegenüber der ersten wider zwanzig Strophen;") sie l)esteht
aus den Handschriften />', /K L, M, X. L\ -S, v, ij, /.'j Da aber
1 )- // und /{.
2) m, als ein blosses Aventiurenverzeichnis , dessen Inhalt aber in meh-
reren Puncten nicht ganz der des Liedes ist.
3) Das Folgende im Wesentlichen nach Zarncke, Ausgal»e X— XXIV.
4) Bei Bartsch ..zweite Bearbeitung-; kurz ..Bearbeitung ('-.
.1) Vorerst davon abgesehen, ob zugleich die echteste.
(i) Bei Bartsch ..erste Bearbeitung", kurz ..Bearbeitung ^•' oder ..vulgata".
7) Wogegen dieselbe :iS eigene Strophen mit den beiden anderen (Jrup-
pen dieser Bearbeitung vor der ersten Bearbeitung voraus hat.
^) Unter diesen stimmen />. -V. /', S' bis Strophe 2ö^, 1 zu C, von
da aber zur zweiton Bearbeitung, sind also Mischhandschriften.
1. I>io llaudschriftenfragc. Einleitung. 7
die llaiuUc'hnit J> verhältnisniUssii;- wenige Differenzen den
übrigen Handsehritten der zweiten Bearbeitung gegenüber auf-
weist, an Altertbümlichkeit und Güte aber alle übertrifft, so ist
der engste Kreis von Handsehritten, weleheni />' angehört, als
Repräsentant der zweiten Bearbeitung zu betrachten, welche
wegen der grossen Anzahl der ihr angehörigen Handschriften
kurz als .. vulgata" oder ..gemeine Lesart" l)ezeichnet wird. Die
dritte C4ruppe dieser Bearbeitung l)esteht aus einer einzigen,
al)er in der Geschichte der Nibelungenfrage lange Zeit sehr
wichtig gewesenen Handschrift, .1. welche Ji gegenüber wider
(33 Strophen weniger enthält und im einzelnen, ol)wohl manch-
mal selbständig redigierend, meist sehr flüchtig und fehlerhaft
geschrieben ist.
Von den für die Kritik unwesentlichen Handschriften T, b,
VI, k gehört T der vulgata an; h ist ndt i> verwandt; k stimmt
von Str. l — 433 und von S()2 — S71 zur vulgata, sonst zu der
anderen Bearbeitung; m kisst sich kaum einreihen.'')
B. Die vorliandeiien Tlicorieeu.
4.
Da nach dem oben Gesagten,') das sich auch noch weiter-
hin bestätigen wird, die beiden Bearbeitungen, (' und vulgata,
sich nicht einfach eine auf die andere zurückführen lassen,
sondern eine l inarbeitung irgend welcher Art anzunehmen ist,
so lässt sich diese entweder so denken, dass eine der beiden
Kedactionen im wesentlichen den ursprünglichen Text enthalte,
zu Avelcher sich alsdann die andere als Umarbeitung verhielte,
oder aber so, dass beide Bearbeitungen sich zu einem verlore-
nen Original als Umarbeitungen verhalten.')
Das Erstere haben die Früheren allgemein angenommen,
nicht nur Lachmann und seine Anhänger, sondern auch Holtz-
mann. Zarncke u. a.; das Letztere die Späteren, besonders Bartsch.
9) S. Zarncke. Ausg. XXII -XXIV undLXV; Bartsch, Ausg. XX. XXI;
XXV- XXIX.
1) S. Seite 4 f.
8 I. Die Entstehung des Nibelungenliedes.
Es sollen nun, schon um die zeitliche Keihenfolge einzuhalten,
die älteren Theorieen, welche die ersterc Ansicht vertreten, zu-
nächst hetrachtet werden.
5.
Der Erste, welcher für eigentliche Kritik des Nibelungen-
liedes, insbesondere für Herstellung eines kritischen Apparats
bahnbrechend war, ist
Karl Lach mann.
Vor ihm') existierte das Nibelungenlied nur in der Bodmer-
Myllerischen Ausgabe, welche ohne jede kritische Behandlung
die erste Hälfte des Gedichts nach J, die zweite nach C wider-
gab;-) ferner in Hagens Ausgaben nach B^^) und in Lassbergs
Abdruck von <'.'') Mit Ausnahme von Hagens Ausgaben bot
keine der genannten einen kritischen Apparat. Theils unab-
hängig'^), theils wohl auch in gewisser Abhängigkeit von Laeh-
mann,'"') herrschte in diesen frühesten Zeiten der Nibelungen-
studien die Ansicht vor, dass .1 den ältesten Text enthalte,')
welcher in B ül)erarl)eitet und verbessert sei, wie B widerum
die letzte liedaction in C ertähreu habe. Aber diese Ansicht
war nirgends begründet, und erst Lachmann hat in der Vorrede
zu seiner Ausgabe vom Jahr 182()*') eine kritische Begründung
seiner mit der genannten identischen llandscliriftentheorie ge-
geben, welche noch weiter ausgeführt und im einzelnen be-
gründet wurde in seinem Werke „Zu den Nibelungen und zur
Klage", erschienen 1836; dasselbe enthält zugleich Lachmanns
Ansichten über die Entstehung des Liedes und der zu Grunde
liegenden Sage, seine Einzelkritik und, was das Buch bis heute
1) D. h. vor seiner ersten Ausgabe des N. L. im J. \<1^.
2) D. h. bis 1dS2, 1 nach A, dann nach C. S. die ausführliche Dar-
stellung bei Zarncke, Ausg. .XXV flF.
3) Wozu auchZeunes ..Feld- und Zeltausgabe" (IS !.=•) gehört. S. Zarncke,
Ausg. XXXIV.
4) In dessen ^Liedersaal" l"'21.
5) So in den vor ISIO erschienenen Werken jedenfalls,
t.) Dessen erstes Werk über das N. \j. isit; erschien.
7) Indes kannte man damals das Verhältnis der Hss. noch gar nicht;
s. Zarncke, Ausg. XXXVIII.
8) Welcher noch fünf weitere, im wesentlichen unverändert, nachfolgten.
1. Die IlanJschriftenfrage. Die vorhandenon Tlieorieei!. 9
unentbclirlicli macht,") einen in dem damals bekannten Kreise
von Handscliriften vollständigen Apparat.
In seiner ersten Öehrift über das Nibelungenlied'") bat I.acb-
mann noch keinen oder doch nur äusserst wenigen Bezug auf
die llandschriftenfrage genonnnen. Er wollte in seinem Werke
die Entstehung des Nibelungenliedes aus einzelnen Volksliedern
nachweisen, welche erst durch einen Öannnler") zu einem
(itanzen vereinigt worden seien. Zum Zwecke dieses Nach-
weises benutzte er damals die Handschrift .1, welcher er später
einzig maassgebenden Wertli beilegte, nur für die Kritik des
ersten Theils des Gedichtes, und hier nur obenhin. In Beziehung
auf den zweiten Theil des Liedes, von welchem überhaupt seine
ganze Untersuchung ausgieng, suclite er auf anderen Wegen,
weh'he hieher nieht gehih-en, zum Ziele zu gelangen. Jeden-
talls war also seine Ansicht über die Entstehung des Gedichts
auch öime besondere Berücksichtigung der Handschriftenfrage
schon getasst.
Dagegen tritt in Lachmanns zweitem Werke über das Ni-
belungenlied'-) und in seinen Ausgaben desselben seine Ansicht
über das Verhältnis der Handschriften klar zu Tage.
Lachmanns kritisches Princip, wie auf anderen Gebieten,
so auch hier, w^ar dieses: anstatt der bis auf ihn vorherrschend
geübten compilatorischen Methode der Textkritik, welche aus
jeder Zeile auch wohl der schlechtesten Handschrift das ent-
nahm, was gerade am besten sich in den Context zu schicken
schien, vielmehr eine oder doch nur wenige Handschriften von
hervorragender Güte zu Grunde zu legen, dem dagegen, was
die anderen bieten , wenig Aufmerksamkeit zu schenken, weil
es, wenn besser, mit Wahrscheinlichkeit als alte Conjectur zur
Besserung einer noch älteren Corruptel zu betrachten sei; eine
Conjectur, die wohl an manchen Stellen das Echte widerher-
gestellt haben mag, der aber die Lesart der bevorzugten Hand-
schriften vorzuziehen ist, wenn sich aus derselben auf anderem
Wege, als durch Beiziehung geringerer Handschriften, ein be-
friedigender Sinn gewinnen lässt.
9) Da der zweite Theil von Bartschs grösserer Ausgabe noch nicht er-
schienen ist.
10) ..lieber die nrspningUche Gestalt des (iediclits von der Nibehmgou
Noth"; Berlin, Ferd. Dünimlci- IS 10.
11) ..Diaskeuaston-, ähnlich den homerischen.
12) ,.Zu den Nibelungen und zur Klage", ISSti.
10 I. l'ie Entstehung des Nibelungenliedes.
Dieses entschieden richtige Princip wendet Lachmann auf
das Nibeliuiiienlied tblgendermaassen an. Die einzig niaass-
gebliclie Handsehritt ist ihm .1. deren Kürze, Verderl)thcit und
Lückenhaftigkeit'^) am leichtesten die Aendeningen der andern
Handscln-iiten hegreif lieli macht.'') Alle Lesarten anderer Hand-
schriften haben niciit melir als den Werth von Conjecturen und
Verbesserungen, welche mitunter das Richtige getroffen haben
mr>gen. Allein um die Sunnne von Lachmanns Kritik zu finden,
muss man auf seine L i e d e r t h e o r i e zurückgeben. Zwanzig - ro-
manzenartige Volkslieder", gedichtet etwa in den Jahren 1190 —
1210, zu derselben Zeit auch schon mit einzelnen Zusätzen und
Fortsetzungen versehen, wurden nach Lachmann um 1210 zu
einem Ganzen vereinigt: dieses Oanze ist das Nibelungenlied
in der Gestalt, wie es in A, freilich schlecht genug, erhalten
ist. Aber diese Verbindung litt noch an vielen Mängeln; die
Stellen, wo die echten Lieder an einander geflickt waren, sind
oft noch nicht genügend geglättet, die einzelnen Lieder enthal-
ten von einander abweichende Darstellungen, daher finden sich
noch Widersprüche und Iniehenheiten. die eben für die Zusani-
menschweissung heterogener Kestaiultheile zeugen. Ein zweiter
Bearbeiter, dessen Werk uns in /j. d. h. der vulgata im engsten
Sinn, vorliegt, unternahm daher eine Besserung dieser mangel-
haften Arbeit; es gelang demselben auch wirklich so ziemlich,
ein gutes Ganze herzustellen; aber alle Anstösse sind auch hier
noch nicht heseitigt; '") erst der dritte Bear])eiter, von dem die
Bearbeitung (' herrührt, stellte ein wirklich in sich vollendetes
Ganze her, dem sein erster Ursprung nicht mehr anzufühlen ist.
P^in Mittelglied zwischen J) und C bildet die GrupjjC J, welche
das Machwerk eines gedankenlosen Abschreibers ist, aber den-
noch einige Znsätze enthält. Es bildet sich demnach folgendes
Schema für die Entstehung der liandschriftengruppen:
\:i) Belege dafür s. u. bei lloltzmann und Bartsch.
14) Dieses Aiiiument. von Lachmann selbst nicht gebraucht (er hat über-
haupt eine Itechtfertigung seiner Theorie nicht gegeben), wohl aber von
seinen Schülern, besonders LiHcncron. war doch wohl nicht das, von dem
Lachniann für ./ ausgieng; das richtige ^lotiv liegt vielmehr in der Brauch-
barkeit von ./ für Lachmanns Liedertheorie (>•. oben).
1.'») Als Beispiel mögen die zwei autfallendsten Widersprüche dienen,
welche sich in B finden, in C nicht ; Str. S.j 1 nennt f> den Wüskenwaid als
Ort der Jagd, auf der Siegfried ermordet wird, statt des Odeuwaldes ; Str. 1272
lind 1276 hat (■ Treisenmüre. die vulgata das nnmögliche Zeizeitmürc (s. u.l.
1. Die Handschriftenfrage. Die vorhandcr.en Theorieen. 11
I. Volk.slicder, Zusätze und Fortsetzungen
If. Erste Gesaninitrcdaction A
III. Zweite .. Z-»' u. s. w.
1
I\'. Abschrift von III. J u. s. w.
V. Dritte Gesammtredaetion f u. s. w.
Was die Zeit betrifft, in welcher die verschiedenen Be-
arbeitungen entstanden sein sollen, so setzt Laclnnann .4 um
1210, C um r22(», vor 122:).")
Es ist nun al)er aus der Thatsache, dass Lachmann die
Eigenschaften von /J gegenül)er denen der andern Handschriften
aiis der in .1 geschehenen erstmaligen Zusamnienschweissung
von Volksliedern erklärt, deutlich ersichtlich, dass bei der ganzen
Frage die Voraussetzung stillschweigend mit unterläuft, dass
Lachmanns Liedertheorie bewiesen sei.'') Für uns, die
wir hier nicht von dieser, sondern rein von der Handschriften-
frage allein ausgehen, entsteht dadurch ein Cirkel im Beweis:'^)
.1 muss die echteste Textesgestalt enthalten, wenn die Lieder-
theorie bewiesen ist; '^) aber diese selbst beruht wesentlich"-")
auf der schlechten Beschaffenheit von A, so dass Haupt-') mit
Recht %agt, dass Lachmann aus der „letzten Bearbeitung der
Samndung" die Nibelungenlieder nicht mit Sicherheit und im
einzelnen überzeugend hätte nachweisen können. Wird sich
also im Laufe der Untersuchung .1 wirklich als die beste, d. h.
originalste Handschrift erweisen, so mag die Liedertheorie, die
in der Priorität von .4 ihre festeste Stütze hat, immerhin der
genauen Untersuchung werth sein; ist aber die maassgebende
Bedeutung dieser Handschrift unhaltbar, so wird sich die Lieder-
theorie begnügen müssen, als ihr.-s eigentlichen Fundaments be-
raubt den antiquierten Hypothesen beigezählt uml nur kürzerer
Erwähnung bedürftig erfunden zu werden.
16) Diss jedenfalls falsch; (' fallt kaum nach 1200.
17) Diss zeigt sich schon darin (s. not. N). dass Lachmann seine Hand-
schriftentheorie gar nicht begründet hat.
IS) Nicht der einzige bei Lachmann; s. Iloltzmann, Unters. S. 17;
Fischer, Nib.-Lied oder Nib. -Lieder V 141—143 u. a.
19) S. Holtzmann, Kampf um der Nibelunge Hort u. s. w., S. 55.
20) S. Fischer a. m. 0. .
21) S. Haupts Zeitschrift V, 50.^; Holtzmann. Kampf S. 21.
\2 I. Die Entstehung des Nibelungenliedes.
Lachraaims Handscliriftentheoric, wie überhaupt seine ganze
Ansicht von der Entstehung der Nibchmgen blieb lange unbe-
stritten, und nur Wenige wagten, eine von derselben verschie-
dene Ansiclit über diese Frage zu hegen,') aber auch diese
hüteten sich, dieselbe allzulaut werden zu lassen. Denn als
Lachmanns Gegner sich zu bekennen, war der scharfen Feder
gegenüber, die er führte, keineswegs räthlich. Der Erste, wel-
cher, allerdings erst drei Jahre nach Lachnianns Tode-) (der im
Jahr 1S51 erfolgte), offen und zugleich in ausgedehnterer Unter-
suchung gegen Lachmann in die Schranken trat, war
Adolf Hol t z m a n n
in seinen „Untersuchungen über das Nibelungenlied-', welche
1854 erschienen. Iloltzmann widmet den ersten Theil dieses
Werkes^) der Ilaiidsclü-iftenfrage.
'OAuch er will nur eine handschriftliche Tradition unter
den erhaltenen als Original zu (irunde legen, aber nicht, wie
Lachmann, die Handschrift A, sondern vielmehr die, welche
sich in allen Ijcziehungcn am weitesten von J entfernt, nem-
lich €. War Lachmanus Princip, wenn man es „bitter aus-
drücken" will: ..Je schlechter, desto besser",') so sind hhigegen
Holtzmanns Principien die folgenden:
1) „Je umfangreicher, um so echter;"
2) „Je bosser, um so echter."'")
Den ersten Grundsatz will Holtzmann erhärten durch andere
Beispiele aus mittelalterlichen Handschriften und durch die all-
gemeine Beobachtung, dass die Werke von Dichtern, je mehr
abgeschrieben, um so kürzer geworden seien, was noch ganz
besonders der Fall sei bei deutschen Werken, welche nicht
dieselbe Achtung genossen wie lateinische, mit denen mau daher
1) Z. B. W. Glimm (s. Zarncke, Ausg. XXXIX); Heinr. Kurz (s. Holtz-
mann, L'ntors. 2.); Gervinus; W. Müller („Ueber die Lieder von den
Nibelungen". \'^\ö; vgl. Gott. Gel. Anz. \^bb, S. 691); J. Grimm (selbst
früher Anhänger Lachmanns, entdeckte aber 1>*51 die lleptadengrilie des-
selben, was der erste Scliritt zum Sturze der Lachmannischen Theorie war).
2) Nicht als ob Lachmanns Tod das ]\Iotiv der nunmehrigen Reaction
gewesen wäre, s. Iloltzmann, Unters. VI.
:\) Und zugleicli etwa ein Drittel des Ganzen.
4) S. für das Folgende E. Pasch, A und t', S.ö— 87.
5) IS. Literar. Centralblatt IS.^4, Spalte lir.l
6) [S. E. Pasch, J und C, 85- ST.]
1. I>ie Handschriftenfrage. iJic vorliaiulenen Thcorieen. 13
auch sorgloser iinigieng-.") Den zweiten Grundsatz will Holtz-
mann auch beim Nibelungenlied angewandt wissen, weil er
sonst überall gelte. — Beides mm, gröster Umfang und beste
Lesarten, kommt cntsebieden der Handschrift (' zu. Selbst-
verständlich aber müssen die allgemeinen Princiinen der Hand-
schriftenkritik im concreten Falle jedesmal gejjrüft werden. Für
die Einzeluntersuchung gibt es aber überhaupt eben jene zwei
Gesichtspuncte der Quantität und der Qualität, d.h. 8trophen-
differenz und Lesartenverschiedenh eit. Auf diese bei-
den Gesichtspuncte hin vergleicht lloltzmann die drei Haupt-
gruppen von Handschriften, die in Betracht kommen können,
.1, B und C , und z^yar untersucht er zuerst das Verhältnis von
A zu B, sodann das von l> zu C.
Verhältnis von .1 zu />'. Zunächst sind die beiden
Handschriften ül)erhaupt ihrem ganzen Charakter nach verschieden.
A ist jünger als />,**) ist flüchtiger geschrieben und steht über-
diss mit seinem Text allein gegenüber den vielen Handschriften
der -vulgata". Es finden sich in ^l vielfache Auslassungen von
Wörtern,'-') unbedeutenden und entl)ehrlichen wie auch bedeu-
tenden und unentbehrlichen; daneben auch ganz sinulose ^'er-
schreibungen und Verwechslungen'"), die von Lachmann meist
„stillschweigend geändert" worden sind.") Djese Fehler theilen
die übrigen Handschriften der vulgata, theilt insbesondere B
nicht. Es kann somit B nicht direct von A abstammen.'^) Schon
T) S. lloltzmann, ['nters. 5 f. [Dagegen E. Pasch 1. c. 87; nicht die
Minderachtung deutscher Werke wird es gewesen sein, weshalb sie eher
verkürzt wurden, sondern die Kenntnis der Sprache in denselben, welche
Auslassungen ohne Sinnesstörung erlaubte, willu'end der Schreiber von la-
teinischen Werken nie wissen konnte (wenn er nicht lateinisch verstand),
ob seine Auslassung nicht eine Lücke verursache. Indes konnten aus demselben
Grund auch Zusätze in deutschen Werken leichter gemacht werden, so
dass dieser Grund Holtzmanns sich selbst aufhebt]
S) [B ist etwa um 1240 geschrieben, Ä um r2sO: s. Zarncke, Ausg. XX.
XXI; Bartsch. Ausg. VI. Unters. :H(iS.]
9) S. Hohzmann, Unters. 4. iBartsch, Unters. 75 ö"., 242 ff.]
10) S. Holtzmann, Unters. 4. [Bartsch, Unters. (j4 ff., 70 ff.J
U) S. Holtzmann. Unters. 3 f. [Bartsch. Unters. 7-5—82. — Die ..still-
schweigende- Aenderuug besteht nur darin, dass Lachmann in seinen Aus-
gaben die wahren Lesarten von A an den betreffenden Stellen niclit mit-
getheilt hat. während er dieselben in seineu Anmerkungen referiert hat.]
12) [Abgesehen davon, dass A jüngeren I)atums ist als B (s. not. 8),
verbietet diss schon die Masse von Fehlern in A. die B nicht hat; ein Ab-
schreiber hätte keinesfalls alle diese Fehler richtig gebessert.]
14 I. Die Entstehung des Nibelungenliedes.
«
damit ist aber die Nothwendigkeit der Annahme, dass .1 die
maassgcbcnde Handschrift sei, mehr als problematisch gemacht.
Denn weist . l im einzelnen eine solche Menge von Fehlern auf,
die in der übrigen vulgata nicht enthalten sind, so liegt die An-
nahme sehr nahe, dass auch die Ijcdeutenderen Abweichungen
von ^4 gegenüber von B solche Fehler seien.
Dazu kommt, dass .1 von bedeutend geringcrem Umfange
ist als /i.'^) Diss ist zwar tiir Lachmann ein lieweis zu Gunsten
von ^1, für Holtzmann al)er umgekehrt. Mriglich wäre nun
immerhin, lloltzmanns erstem Princip entgegen, dass in diesem
besonderen Falle der kürzere Text der echtere wäre, wenn
nemlich bewiesen wäre, dass .1 direct aus dem Volksgesang
stammt, da dieser eine stätige Erweiterung erfahren kann. Allein
diss ist nicht der Fall; -4 stammt vielmehr zunächst jedenfaHs
aus einer anderen (resammthandschrift des Xibeluugeidiedes,")
und bei der Abschrift eines Codex ruft die bei (V^n Abschrei-
bern durchschnittlicli vorliandene Nachlässigkeit weit eher eine
Verkürzung hervor.
Ist sojiiit nach dieser allgemeinen Vergleichung die Prio-
rität von B gegenüber von A wahrscheinlich, so folgt dieselbe
ganz entschieden und zweifellos aus der speciellen Vergleichung
beider nach Stro]ihendiflt'erenz und Lesartenverschiedenheiten.
Die Strophendifferenz') beruht zum Theil auf der
Nachlässigkeit'") des Schreibers von .1, welcher überhaupt aus
Klüngel an Aufmerksamkeit seiner Vorlage gegenüber, besonders
aber öfters durch grajjhische Aehnlichkeiten irre geleitet,'')
wie nach dem Obigen einzelne Wörter und kleinere Wörter-
complexe, so auch ganze Strophen, ja Reihen von Strophen aus-^
Hess. Zum anderen beruht dieselbe auf der Faulheit jenes Ab-
schreibers,") welcher absichtUch, um Zeit zu gewinnen, Strophen
ausliess. Es sind allerdings die in .1 fehlenden Strophen zum
13) [A hat G5 Strophen nicht, die B hat; dagegen 2, welche in B fehlen.]
14) S. not. 12.
\h) [Das Fehlen von Stroiilien in ./ ist ganz besonders häufig in dem
Abschnitt von Str. :J24— tifi", wo M) Lücken auf :<6(i Strophen kommen,
während für den Rest des Gedichtes, etwa 2(iO(l Strophen, nur 7 Lücken
bleiben.!
ir.) [S. auch für das Folgende E. Pasch. .4 und CA
17) Z. B. Nr. 102^'. [s. Bartsch, Unters. :W3.1
1*>) [Dahin sind natürlich, wenn die in A fehlenden Stroiihen echt sind,
alle zwischen :i24 und Oti7 fehlenden zu rechnen, da bei so massenhafter
Auslassung von Unabsichtlichkoit nicht die Rede sein kann.l
! . Die Haiulschrilteufrage. Die vorhandenen Theorieen. 1 5
Thcil cnthcbrlich;'') keineswegs aber ist ihre Entbehrlichkeit
ein Beweis gegen ihre Echtheit;*') denn gerade entl)ehrliche
8troi»ljen konnten am ehesten weggelassen werden^ Ja ihre Hin-
zudichtiing ist noch schwerer dcnki)ar als ihre Auslassung. Zum
Theil aber sind diese in .1 fehlenden .Strophen auch wirklich
unentbehrlich.-') Tlieils wurden diese Strophen in .1 einfach
ausgelassen, so dass mitunter eine Störung der (Vjnstruction ein-
trat;") theils ist in den Fällen, wo eine solche eingetreten wäre,
die Construction in .1 verändert worden,-') freilich nicht zu
Gunsten dieser Handschrift; denn es sind dadurch nicht selten
Feinheiten der echteren Lesart \(n\vischt worden.
Die Mehrzahl dieser Strophen fehlt nur in .i,ihre Aus-
lassung ist also dem Schreiber von .1 selbst zuzuschreiljen; eine
kleinere Anzahl derselben muss schon in der Vorlage von .1
gefehlt haben, weil dieselben auch in ./ fehlen.-') Jedentalls
aber ist erwiesen, dass .1 nicht den Text cuthält, der allen an-
dern Handschriften vorlag, nicht Archetypus für alle Handschriften
und Handschriftengruppen ist.
Den 65 in -1 fehlenden Strojdien gegenüber hat A eine,
die />(^, eine, die BCD fehlt.- ) Beide suid ilircm Inhalte nach
unverdächtig, aber auch vollständig entbehrlich; da sich die-
selben ausser in .1 nur in J, beziehungsweise DJ finden, also
in Handschriften des 14. Jahrhunderts, so beweist diss, dass . I
schon die späteste Ueberarbeitung enthalten muss.-^^i
Die Betrachtung der Lesarten ergibt folgende Verschie-
denheiten zwischen -1 und 13:
19) Besonders eine grössere Anzahl von solclien, welche der Ausma-
lung u. s. w. dienen.
20) [S. auch Bartsch, Unters. M)A.\
21) Z. B. 33S'"-; .589".
22) Z. B. 33N i'^.
23) Z. B. 428 •' [s. auch E. Pasch, ./ und C, [)ti f.]
24) [Die Strophen 102'"^.]
25) Strophe 3 fehlt in B und (', steht inADJ; Strophe 21 felilt in BClf,
steht iu JJ. [Auch sonst linden Holtzmann und Bartsch eine gewisse Ver-
wandtschaft zwischen./ und ./; s. Holtzmann, Unters. '.». 15; Bartsch, Unters.
303 fi'. 323.]
2»i) [Dem Hesse sich, um die Unechtheit beider Strojthen zu erweisen,
etwa beifügen, dass beide nach Inhalt und Umgebung vollständig parallel
stehen (3 sagt dasselbe an gleicher Stelle von Krieujhild aus, was 21 von
Siegfried), so dass die beidemalige Auslassung ein unbegreiflicher Zufall wäre.
Indes hat Bartsch (Unters. 323; vgl. Germania XVII, 431 ff.i wahrschein-
1(5 I. l»ie Entstehung des Nibelungenliedes.
1) A verstellt ältere Wörter und Constructionen, welche B
noch erhalten hat, nicht mehr und ersetzt dieselben durch mo-
dernere.-')
2j A lässt einzelne Wörter häutig- aus oder verwechselt
solche in ganz gedankenloser Weise.-**) Insbesondere sind hier
solche Fälle hervorzuheben, in denen .1 dassell)e Wort zwei-
mal kurz hinter einander hat, während JJ dafür an zweiter Stelle
ein anderes, richtiges Wort hat; dem gedankenlosen Sclireiber
von A lag" hier das erste Wort nocli in den Ohren.-'j
'S) Diesen gedankenlosen Verschreibungen stehen aber auch
bewusste Aenderungen gegenüber, avo .1 vermeintliche
Schönheiten, zumal solche im Stile der ritterlich-h(>tisclien Poesie,
anbringen will.-') Auch metrische Gründe bedingten manchmal
die Aenderung.^") Solche bewusste Aenderungen indes dürfen
nicht wohl dem trägen und ungebildeten Schreiber aou .1 zu-
geschrieben werden, sondern vielmehr dem licdactor seiner Vorlage.
4) Durchweg hat A den flacheren, farbloseren Ausdruck statt
des bestimmten, concreten der Andern; alterthümliche Wörter
oder Wendungen, die der vulgata fehlen würden, hat A gar nie.^')
lieh gemacht, dass Str. ;5 echt ist; denn dieselbe steht in /A welche hier
noch zu 6' gehört, und ilire Auslassung erklärt sich dadurch, dass sowohl
Ütv. 2 als Str. ;i mit dem Keim üp : fvip. oder wip: lip sehliesseu. Ist Str. :<>
echt, so ist die jedenfalls unerhte Str. 21 des l'arallelismus wegen hinzu-
gesetzt.]
27) Wörter: z. h. snj. ;\ A (jcrihlen statt cmpfücrot der andern Hss.:
INS, 4 A IßCÜhcn lau st. nuijevehel län BCJ \ 140, 2 viende. :U2, 2 /jcste st.
ii'ideru'innot der andern; Constructionen : z. B. 175;^. :i.
2S) Ueber die Auslassungen s. not. 1»; über die Verschreibungen s. not. !••:
einige der stärksten und siunverderbendsten sind: 473, 1 rechen statt Ärrcf« ;
123S, 2 hurtjunden st. hurtjccrvn ; 19, 2 ivirser st. wie sere ; 184, 1 suchen
st. Stichen- 1.511,3 7vau der starken ilndcn deheinz in da benam statt 7im)td
in diu starke iinde deheinez da benam. Von falschen Widerholungen des-
selben Worts: (iO, 1 erlwbujen (zuvor einigemal vorgekommen) statt erwer-
ben; 1227, 2 mit ir fjesinde als in ir tjesinde bot statt mit ir (fcsinde als
in ir znht fjebot, w. a. m. [s. Bartsch. Unters. 72 f.j
29) So die Klimax in Str. 949, 3 erst du wart ir leit - Str. 970, 4 ir
ander herzeleit —Str. 973, 4 daz do ir herze rol ditrhsneit : scheinbar schön,
aber keineswegs echt, sondern vielmehr nur auf einem INlisverstäudnis des
erst in Str. 919, 3 beruhend. Auch 292, 1. 2 und 293, 4 sind ganz ritter-
lich-höfisch gehalten. [S. Zarncke, Aus«. XXI f.]
30) So soll 1014, 3. 4 der rührende Reim shi: shi vermieden werden,
ebenso 1433, 1.2 dan : dan : auch bringt./ Binnenreime an, ao 13 und lOM.
31) Denn das allerdings ziemlich ahennsih [doch s.J. Griinm. D.Gramm.
I ', 2S4] in Strophe 177i). 4 steht gar nicht im Text, sondern ist von Lach-
1. Die Ilanclschriftenfrage. Die vorhandenen Theorieen. 17
5) Zu diesen Kemizeiclien eines jüngeren Alters von ^1
kommt noch, dass diese Handschrift, wie in der Stroi)henditle-
renz, so auch in den Lesarten öfters auffallend mit i>J stimmt,^-)
welche Uehereinstimmung" mit zwei Handschriften des vierzehn-
ten Jahrhunderts nicht eben für ^1 spricht,^^)
Fragt man aber endlich, wie Lachmann darauf verfallen
konnte, gerade diesen schlechtesten aller Texte zu bevorzugen,
so kann die Antwort nur die sein: weil derselbe als solcher
Lachmanns Liedertheorie am meisten Vorschub zu leisten an-
gethan war,
Verhältnis von Jj zu CV'')
Fassen wir zunächst wider das ^'erhältnis der l)eiden 15e-
arbeitungen im allgemeinen ins Auge, so ist C anerkannter-
maassen besser, d. h. vollendeter, geschmackvoller und abge-
rundeter. Al)er Lachmanns »Schule bchaui)tet, dass diese Vorzüge
nicht für die grössere Originalität des Textes von C zeugen,
sondern vielmehr dafür, dass in C eine Ueherarbeitung der
vulgata enthalten sei. Allein diese Ansicht, noch nirgends be-
wiesen, stimmt keineswegs mit den sonstigen Grundsätzen der
Textkritik übereiu, nach welchen vielmehr im allgemeinen die
beste Lesart und Handschrift als die echteste zu betrachten ist.
Es soll aber hier eben ein besonderer Fall vorliegen; denn das
Ganze ist ja nach Lachmann aus Volksliedern entstanden, deren
Zusammenschweissung in C am vollendetsten gelungen sein soll.
Allein auch abgesehen von der Frage, ob Lachmanns Lieder-
theorie richtig sei, — die Volkslieder werden gewöhnlich im
Laufe der Zeit nicht besser, sondern vielmehr immer schlechter,
mann eingesetzt worden , um die metrische Rohheit von A zu verdecken ;
denn A hat hier nur 3 Hebungen in der achten Halbzeile. Die A eigene
Partikel end (= c) ist keineswegs alt [auch nicht, wie Lachmann will, thü-
ringisch], sondern vielmehr im 13. Jahrhundert noch unerhört [und dem Sü-
den Deutschlands eigen: s. Zarncke. Beiträge 222 ff.].
32) S. Holtzmann, Unters. 15 f.
33) [Doch macht Holtzmann die Hs. 7> zu schlecht; dieselbe fällt viel-
leicht noch in das 13. .Jahrhundert und ist z. B. von Bartsch eingehend be-
nutzt worden.]
34) [Weit bedeutender, als der Unterschied zwischen ./ und B. ist der
zwischen ß und C, indem sich derselbe auch auf Stil und Darstellung in
einigen Puncten. insbesondere in metrischen Dingen is. u.) bezieht Daher
wird die Entscheidung hier von grösserer Wichtigkeit sein, als die über A
und B, welche beide nach dem. Ganzen ihrer Darstellung einer Bearbei-
tung angehören, zugleich aber auch schwieriger.]
Fische r. Xibelnngenliod. -
1^ I. Die Entstehung des Nibelungenliedes.
so (lass schliesslich oft nur noch die Melodie mit einem ganz
entstellten und sinnlos gewordenen Text übrig ist.^^j
Dazu kommt ferner, dass C die älteste Handschrift des
Nibelungenliedes ist, welche wir kennen, dass überhaupt die
Handschriften der Bearbeitung C verhältnismässig ziemlich
älter sind als die der vulgata.^^) Es ergäbe sich somit nach der
Lachmannischen Ansicht das sonderbare und fa<t unglaubliche
Verhältnis, dass eiue neue und zwar eine vortreffliche Ueber-
arbeitung gerade in den ältesten Handschriften enthalten wäre,
die ältere, noch minder vollkommene Form des Textes aber
in den späteren und spätesten Handschriften sich noch fände.
So unnatürlich aber diese Annahme an und tür sich ist, so ist
sie doch a priori nicht unmöglich; daher muss die Einzelkritik
untersuchen, auf Seiten welcher Bearbeitung das Aeltere,
Echtere zu finden sei, und zwar widerum. nach Strophendiffe-
renz und Lesartenverschiedenheit.
Die Strophendifferenz ergibt Folgendes:
Es finden sich in C verschiedene Strophen, welche in B
aus Unachtsamkeit oder Becpiemlichkeit fortgelassen sind.^') Eine
dieser Auslassungen in ß ist aus graphischen Verhältnissen zu
erklären.^*)
Dreimal^'-*) begegnet die Erscheinung, dass C irgend einen
Gedanken in einer bei B fehlenden Strophe ausspricht, welcher
alsdann nachher, an unpassenderem Orte, von B nachgeholt wird.
Was den Werth der Plusstrophen von C betrifft, so sind
verschiedene derselben unentbehrlich oder doch schwer zu eut-
35) [Hier hat Holtzmann entschieden einen starken Irrthum. Die 20 Volks-
lieder wurden ja nach Lachmann schon in J zu einem Ganzen vereinigt,
und dieses Ganze als solches hat nach ihm die Bearbeitungen in B und
C erfahren. Wie kann also das sonst allgemeine Schicksal des Volksliedes bei
diesem Ganzen überhaujit in Betracht kommen?]
30) [Abgesehen natürlich von a; s. Zarncke, Ausg. X— XIII: Bartsch,
Ausg. VI. VII. XI. XII.]
37) Z. B. Str. 22"; 44'^; 271"; 329 "c; 423'' und mehrere andere.
3S) 491, 4—7; vielleicht auch 105'2'^"^. [Dass dieser Fall hier so selten
ist , bei A häufig, beweist schon , dass das Verhältnis von B zu C ein anderes
ist als das von A z\x B; cf. Bartsch, Unters. 303 fF. 310.]
39) Str. 94b, von B nachgeholt 96; S4S'', von 5 nachgeholt S.5S, welche
Strophe, wie m, in C fehlt; io7ti'', von B nachgeholt KiSd (fehlt 0- Aus
diesen Stellen erhellt zugleich die Unechtheit der Plusstrophen von B; s. u.
I. Die Haudschriftenfrage. Die vorhandenen Theorieeu. 19
behren,'"! viele allerdings entbehrlich, keine aber schlecht und
störend.'')
Zugleich hat nun ein grosser oder der gröstc Tlieil der
Plusstrophen einen ganz bestimmten Charakter, so dass ott'enbar
entweder absichtliche Interpolation oder absichtliche Aus-
lassung anzunehmen ist. Dahin gehören einmal überhaupt die
Strophen, welche eine breitere'-) Ausmalung und Erweiterung
enthalten.'^) Nahe damit verwandt sind die zahlreichen Stro-
phen, welche halbgelehrtc Notizen und Erklärungen über wun-
derbare oder überhaupt bedeutende Puncte der Sage enthalten ^^j ;
insbesondere aber sind hervorzuheben die Notizen geographischer
oder auch historischer Art.'") Sehr häufig hat ferner C gerade
am Schlüsse von Aventiuren eine oder mehrere Strophen, die
der vulgata fehlen.'-)
Sprechen diese für C charakteristischen Arten von Plus-
strophen weder für noch gegen die Echtheit von C', und be-
w^eisen sie nur, dass C eine vollkommnere, abgerundetere Hand-
schrift ist als B, so sind von der grösten Wichtigkeit für die
Handschriftenfrage diejenigen Strophen, welche eine Beziehung,
eine Aehnlichkeit mit Stellen der „Klage'' enthalten.'')
Den ersten Rang unter diesen Strophen nehmen die ein,
401 Z.B. 271''; 491, 4— T; äusserst wüuschenswerth : z. B. 329''«; 423'';
565''; 848"; 1052'"=; 107(1 b. S. dagegen E. Pasch, J und C\ SS— 94, und
s. u. §. U). not. 2.
41) [S. E. Ptisch, A und C, SS— 94; und s. u. §. 19, not. 2.]
42) [Aber dem Stil des N. L. nicht unangemessene, s. Zarncke, Ausg. VIII;
Beitr. 23S.]
43) Z. B. 1755'«^''; 1SS8''; 2094''.
44) Dahin u. a. 22''; 44''; 334'"^; 1201''; 2057 ^
45) Historischer Art sind 10S2''-'; 1201''; nSö"":'' (44''; 565''); geo-
graphisclier Art 942''; 1237''; überhaupt ist V in geographischen Bestim-
mungen weit genauer als 5; s. u. bei den Lesarten.
46) [In vollständigerer Aufzählung, als bei Holtzmann, gehören hieher:
Str. 44''; (324"); 720''; 750'"-; S5'^''; 942''; 1012''«^; 10S2"-'; 1229'"^; 1524''-';
3 Strophen für 1654 und 1655; 1755'"^''; 1S57''; (ISSS''); 1963'' und 2 Stro-
phen für 1964; 2 Strophen für 2316; also die Schlüsse von 16 Aventiuren:
Av. 2. 5. 12. 13. 15. 16. 17. 19. 20. 25. 27. 29. 31. 32. 34. 38 (bzw. 39).]
47 ) Dahin gehören, ausser den Strophen über das Verhältnis von Hagen
und Kriemhild, noch insbesondere Str. 1201'', wo gesagt ist, dass Etzel sich
vermfjieret habe, und 1082''-', die Notizen über Lorsch. Beide Stellen feh-
len im N. L. der vulgata; in der Klage sind von beiden Parallelen in der
vulgata, in C nur von 1082''-'. [S. Bartsch, Unters. 318 f. Nach Bartsch,
Unters. 320, gehört auch 2316'' hierher, s. aber unten §. 13, not. 107.J
•1*
20 I- Die Entstehung des Nibelungenliedes.
in welchen C Kriemliild entschuldigt, Hagen verklagt oder ihre
Absicht, nur Hagen zu töten, hervorhebt/"! Hier muss sich
zeigen, welche Bearbeitung das Echtere hat; denn B hat jene
Strophen nicht, zeigt sich auch sonst gehässig gegen Kriemhild ; ^'')
einer von beiden Texten muss also eine absichtliche Aenderung
enthalten. Und zwar hat nicht C geändert, sondern vielmehr
die vulgata;^j denn die Plusstrophen genannten Inhalts in C
stimmen ganz treflflicli mit dem übrigen Gedichte überein, wäh-
rend dagegen in B noch verschiedene Strophen sich finden,
welche Kriemhilds Sehnsucht nach ihren Verwandten,^') ihre
Mordabsiclit als nur gegen Hagen gerichtet kundgeben und
daher mit der genannten Auffassung der vulgata nicht wohl über-
einstimmen ; ■'^) erst gegen den Schluss des Liedes, nachdem sich
alles in wüstes Morden aufgelöst hat, nachdem alle Verliält-
nisse der Zerrüttung anheimgefallen sind, wütliet Kriemliild auch
gegen Günther und tritt anstatt der Treue und Kache vielmehr
der Raub des Hortes in den Vordergrund.
Ist nun die Auffassung der Rache Kriendiilds in jenen Plus-
strophen von C nicht allein die edlere, sondern auch durch die
Anschauung des Nibelungenliedes im allgemeinen l)estätigt, so
werden jene Plusstrophen unzweifelhaft als echt gelten müssen,^^)
und damit wird auch den übrigen Plusstrophen von C''''} ihre
Echtheit zu vindicieren seiu.''^)
Hatte A der übrigen vulgata gegenüber nur zwei Plusstro-
])hen, so hat dagegen B eine ziemlich bedeutende Anzahl von
Strophen vor C voraus, nendich 3S. Diese müssen daher eben-
falls untersucht werden.
4S) Dahin die 3 Strophen, welche C für 1654 f. hat; ferner 1682";
1775 i-; 1S37''; 2023''.
49) So 1654 f.; 1&4U; 1334; allemal hat C dem gegenüber eine andere,
bessere Lesart. Ganz sinnlos ist 1 334 , wo Kriemhild rein ins blaue liinein
verdächtigt wird. [s. aber not. 69.].
50) Mit deren Charakter (s. u. bes. Zarncke) diese Aenderungen trefi-
lich übereinstimmen; s. Str. 1849, und s. Holtzmanu, Unters. ITT f. 27.
51) 1333; 133T.
52) 1703; 1846; 1962; 2041.
53) [S. dagegen Bartsch. Unters. :U9— 321.]
54) [S. aber unten, wornach Holtzmann selbst nicht ausschliesslich
alle Plusstrophen von C für echt hält.]
55 1 Denn nichts spricht gerade bei den für C charakteristischen Stro-
phen gegen deren Echtheit.
1. Die Handschriftenfrage. Die vorhandenen Theoriccn. 2 t
Im allgemeinen sind dieselben so ziemlich alle entbehrlich.^'')
Im besonderen können drei Arten von Plusstroi)hen der Aulgata
unterschieden werden.^') Erstens sucht B mehrmals einen Ge-
danken, den sie vorher ausgelassen, nachzuholen."^) Zweitens
tinden sich einige Fälle, wo B wegen unverständiger Aende-
rung der Lesart von C eine oder mehrere Stroi)hen eigener
Mache nachschicken muss, um wider ins Geleise zu kommen.^'^)
Drittens aber zeigt sich in einer grossen Anzahl von Plus-
strophen der vulgata deren allgemeiner Charakter deutlich,
der Charakter der ins Maasslose übertreibenden, plumpen, po-
pulären Darstellungsart. Es werden hier von B frappante, aben-
teuerliche, oft komische oder tragisch übertriebene Situationen
eingemengt, Avelche der maassvollen, weisen Oekonomie des
Ganzen zuwiderlaufen.
Doch ist Holtzmann nicht der Ansicht, dass mit rigoroser
Ausschliesslichkeit alle C eigenen und nur diese Strophen
echt seien; z.B. hält er Str. 2305 für zugesetzt von C, weil die-
selbe Hagen zu verdächtigen suche."") Auch ist in C jedenfalls
an einer Stelle eine Strophe ausgefallen, die in B erhalten ist."')
Die Betrachtung der Lesarten Verschiedenheiten zwi-
schen B und C führt auf dasselbe. Durchweg fast hat C nicht
allein die schönere und bessere Lesart,''^) sondern auch die
echtere und alterthümlichere.
56) Z. B. .546; 711 (mag in C ausgefallen sein); 76'^ (hier verwickelte
Verhältnisse); 830; 1594 u. s. w.
57) S. Holtzmann, Unters. 32 ff.
58) S. die not. 3H erwähnten drei Stellen.
5'.l) Dahin besonders Str. 482—489 {C nur 4 Strophen), wo der Geiz der
Brünhild hervorgehoben werden soll, ohne dass diss irgend hergehörte [s. u.] ;
499'' und 50u (C eine Strophe): Siegfrieds unhöfliche Weigerung gegen
Günther; 643 f. soll offenbar, ohne jeden sachlichen Anlass, der (jrund zu
Hagens Feindschaft gegen Siegfried gelegt werden; 994 f. werden täglich
hundert Totenmessen für Siegfried gelesen. [Dass B von Geistlichen verfasst
sei (Holtzmann, Unters. 3.i), beweist die letzte Stelle nicht; denn nach
Str. 1201'* und 1270 konnte man dasselbe von 6' behaupten wollen.]
tiO) [Es ist übrigens an und für sich ein gutes Motiv der dichterischen
Darstellung, wenn Hagen, der alles mordende, schliesslich mit Bedacht auch
noch seinen Herrn in's Verderben stürzt, womit freilich die Echtheit der
Strophe nicht bewiesen ist]
61) 1971, 4—1972, 4 fehlt in Ca [ist aber in k erhalten]; der Schreiber
verirrte von dem Worte //«^tvct' in 1971, 4 auf das nemliche Wort in 1972, 4.
62) Denn das ist allgemein zugegeben [s. auch Bartsch, Unters. 379 unten].
"22 I- Pie Entstehung des Nibelungenliedes.
Im Einzelnen sind die Verscliiedenlieiteu folgender Art:
1) Alterthiiniliche oder seltene . Wörter und Constructiouen
sind in C noch erhalten, in B dagegen verwischt/'')
2) In vielen Fällen ist, ohne dass die Stellen einen be-
stimmten Beweis für die Priorität der einen oder der anderen
63) Wörter:
268, l C peycn {baien), B betten [s. Zarncke. Beitr. 15S und Bartsch,
Unters. 196];
7S&, :J C 7vortherle, B ivortra'ze\ C hat hier ein "Wort von alter-
thümhcher Bildung, das sich nur noch bei Notker findet [diese Erklärung
und die Lesart Holtzmanns überhaupt ist verlassen worden, weil a 7Vortr<isse
hat und die Schreibung in C verwischt ist; s. Zarncke, Ausg. 394];
327, 2 C fjevriesch, B rernum [s. auch Bartsch, Unters. 206];
2278, 1 (' getvühenen, B inuoten ;
718,1; 1747,4; \^%'2, ^ C gedif/ene \ an den ersten zwei Stellen ändAt
Bmijesinde [s. Bartsch, Unters. 190 f.], au der dritten Stelle weicht j5 ganz ab;
149,4; 315,2 V Tvi(ler?vi)inen, B vieiide [s. aber Bartsch, Unters. 230];
B57, 4 V urrvise, B vürwise, die Lesart von ß ist schlecht, die von
C lässt sich aus dem gothischen arrjo = frustra erklären [s. aber Bartsch,
Unters. 194, wornach Holtzmanns Etymologie falsch ist und beide Lesarten
gleich gut und alterthümlich sind: s. auch Zarncke, Ausg. 394];
1119, 1 iniende, B hcrlierge [s. Bartsch, Unters. 191];
1143, 4 C jocli, B in: ähnlich S6. 4 C joch. fehlt B [s. Bartsch,
Unters. 200 f.] ;
1234, 1. 2. V pfuwenkleit von genagelten nehen p feilen, B richiu
kleil von gemalet riehen j) feilen [hier ist 6' jedenfalls echter (s. auch Bartsch,
Unters. 192. 266); aber Holtzmanns Erklärung von genagelte p feile = lu-
niccc clavatce ist gewiss falsch; sinnlos aber ist die Citirung des altn. negl-
dar brynior, denn die Brünnen sind natürlich ganz wörtlich ., genagelt " ] ;
12S0, 4 C unz an die wende, B zuo den tvenden ; beides gibt keinen
guten Sinn, aber C ist relativ echter, weil in die wende wahrscheinlich das
ahd. timwinga, mhd. duwenge ,.der Schlaf-', tempus, verborgen ist [s. aber
Zarncke, Beitr. 166 f. u. m. a.];
17S4, 3 C weit ir schaden riten, B weit ir schachen rUen; in C ist
riten gen. von ahd. rito = febris, ..wollt ihr den Schaden eines Wundtiebers"
[eine gezwungene, auch aufgegebene Erklärung; s. Zarncke, Ausg. 3',i^ f.;
Bartsch. Unters. 203];
Constructiouen:
27. 3 C da begunde er sinnen werben schwnin fVip, B löst diese freie
Construction auf und ändert: er begunde mit sinnen 7verben sclurniu wip
[s. Bartsch, Unters. 203]:
549, 3. 4 V des jach da manec man , daz si den p7-}s an scho:ne in
mancgen landen müesen liän, B des jach man äne lüge ■ oitclt hls man an
ir Übe da deheiner slahte trüge ; B verstand die Beziehung von des auf das
Folgende nicht [dieselbe ist aber gewiss nahe liegend genug] ;
1S90, 3 67//«, B daz ; diu ist Instrumentalis und wurde von B nicht
mehr verstanden [eine aufgegebene l-'.rklärung: s. Zarncke, Ausg. 399].
I. Die Handschriftenirage. Die vorhandenen Theorieen. 23
Handsehi-ift eiitlialtcu, die Lesart von C einlach besser imd
schöner, •*■') daher vorzuziehen; denn sonst ist überall der Grund-
satz der Textkritik, dass das Bessere auch das Echtere sei.
3) B hat melu-ere Verschreibung-eu durch graphische Aehn-
lichkeit aufzuweisen, welche natürlich entschieden für <' be-
weisen.®')
4) Es finden sich mehrere Stellen, wo weder C noch B
das Echte hat, vielmehr beide eine Verderbnis enthalten, wo
aber meistens C mit ihrer Corruptel dem echten Texte näher
steht."«)
5) Der Ausdruck ist in C meist prägnanter, in B flacher
und farbloser."')
6) Wie in der Strophenditferenz, so tritt auch hier die
Genauigkeit und Correctheit der geographischen Angaben in C
gegenüber der üngenauigkeit derselben in B hervor, und zwar
so, dass C zugleich das Echte haben muss."*)
64) So Str. 37, 1; tSl, 1; 194, 4; 230,1; 2S2, 2; 564, 1; 742,4; S97,.3;
1233, 3; 1241,3.4; 1270,2; 1319, 3; 1323, 2 ; 1356, 1 ; 1549,4; 1621,3; 1722,2;
1726, 4; 1739, 2. 3; 1772, 2; 1788, 2; 191S, 1; 2033, 3; 2070, 3; 2094, 3;
2165, 1-3; 2214, 4; 2256, 3. 4.
65) So Str. 725, 2; 8S5, 3; 1143, 4; 1213, 1; 1226, 3; 1236, 2; 2070, 3
[auch gehören einige der nach Holtzmanu unter not. 64 gehörigen Fälle
wohl eher hieher, z. B. 37, 1; 282, 2; 564, 1; 1319, 3; 1323, 2; 1356, 1;
1549,4; 1722,2; 1918, 1 ; 2094, 3^; es sind diss diejenigen Stellen von den unter 64)
aufgeführten, an denen Bartsch in seiner Ausgabe selbst den Text von ß
corrigiert ; Holtzmann hat aber in den Fällen not. 64 und 65 öfters Unrecht].
66) So nach Holtzmann 857, 4 unvise = goth. aravisco (nicht vorhan-
den); 1245, 3 ist C falsch, wahrscheinlich aber ein alter Fehler vorhanden;
12S0, 4 die wende C = duweufje [s. not. 63]; 1583, 4 fehlt in C ein Wort,
ohne das die Strophe keinen Sinn hat; daher ändert 7>; 2073, 4 ist zweifel-
haft, welche Lesart echter; 1597, 2 ist 6' verdorben, B ändert; 1736, 4 ist
C leicht verschrieben, B ändert; 2230, 3. 4 steht B dem Echten näher, das
in B leicht verschrieben ist, weshalb C ganz änderte.
67) Nur drei Beispiele bei Holtzmann:
{1234, 1 C pfäwenkleit, B rlcliiu kleit;
1234, 2 C genagelte lifelle, B gemälet riche i)f.;
1621, 3 6' in gezweictem muote, B in vtrelichem muote [s. Bartsch,
Unters. 209];
1772, 2 C kiiener videhere diu sunne nie beschein, B küener vide-
Icere wart (noch) nie dehein [s. aber Bartsch, Unters. 26].
68) In Str. 682, 3 könnte vielleicht 6' geändert haben, um den geographischen
Verstoss, der in der Nennung von Norwcvge liegt, zu entfernen; nothwendig
ist es aber nicht [s. indes Bartsch, Unters. 301]. 854, 3 dagegen hat C allein
den richtigen Namen Otenwalt, die vulgata IVasketiwalt , was unmöglich,
da auch in B die Nibelungen von Worms über den Rhein auf die Jagd
24 I- Die Entstehung des Nibelungenliedes.
7) Auch in den Lesarten tritt nielirnials die Vorliebe fürKriem-
hild in C und die Gehässigkeit gegen dieselbe in B hervor.''")
Es ist allerdings nicht zu leugnen, dass sich einige Stellen
finden, wo B das Echtere erhalten hat;'°) aber im allgemeinen
fällt die Vergleichung in allen Puncten zu Gunsten von C aus.
Auch in der mit dem Nibelungenliede so eng verlnmdenen
Klage zeigt sich dasselbe Verhältnis von B zu C. Jedenfalls
kann auch hier C keine verbessernde Ueberarbeitung von B
sein; aber auch C hat nicht ganz den ursprünglichen Text, dem
sie jedoch viel näher kommt. Deutlich ist, dass auch hier B
abkürzt; doch ist C nicht vollständig. Die Lesarten von C
sind fast immer besser,''; alterthümUcher'-) und richtiger;''^) auch
differieren die beiden Handschriften widerum hinsichtlich der
Autfassung des letzten Theils, der Hache Kriemhilds, nur dass
hier die vulgata in ihrer Gehässigkeit gegen Kriemhild noch
weniger consequent ist. Die Erweiterungen in B sind meistens
fahren [s. aber Bartsch, Ausg. XXXII.]. Noch deutlicher ist das Verhältnis
in 1272, 3 und 127ti. 1 ; an der ersten von beiden Stellen hat B wie C das
richtige Treiseiimüre , an der zweiten ist wider 6' correct, B dagegen hat
sinnlos Zeizenmure, C ist also hier jedenfalls echt [s. Zarucke, Beitr. 200 ff.;
Bartsch, Unters. 302, und s. u. S. 29 (§. S, not. 12)].
69) So soll z. B. in 1334 nach B an Kriemhild getadelt werden, dass
sie sich freundlich von Giselher getrennt habe, als sie zu Etzel zog; ein
Tadel, der gar keinen Sinn hat. [Holtzmann thut hier doch der vulgata zu
sehr Unrecht. Es ist nach ihrer Darstellung ein ..Rath des Teufels", dass
sich Kriemhild freundlich von ihren Brüdern verabschiedet hat, aber mit
Groll und Rachegedanken im Herzen, dass sie durch ihre angenommene
Freundlichkeit ihre Brüder in das Verderben gestürzt hat. Giselheren gegen-
über ist freilich der freundliche Abschied kein Grund zum Vorwurf; denn
gegen ihn ist Kriemhüd immer aufrichtig gut gesinnt gewesen; s. 1039, 4;
167.5, 3 u. a. Indessen liest £) ..Giinlherc", was Bartsch herstellt.]
701 Z. B. 2230, 3. 4; 2241, 3; 224s, 1. 2.
7!) Z. B. Z. 48 f., wo B die Construction zerreisst; 1720 tf. macht B
aus dem Wort schelt (von schein) misverstäudlich scheiden und ändert da-
nach; die Lesart von C enthält ein durch Freidank bestätigtes Sprichwort,
ist also echt; 322 ff. streut B einen unpassenden Witz ein [ist doch wohl
kein Witz].
72) Z. B. 799 (ähnlich Nib. 1302) V enlrusten , B entn-äfen ; 152 (' die
küenen Rinvranken; küen ist das stehende Attribut der Nibelungen. B aber
ändert in stolz, um zu verschönern. (Ebenso heisst Hildebrand im Nib.-Lied
in (' gleich anfangs meister (sein stehender Beiname), in 7> erst später.)
73) So ist Z.201 nach B Iring von Lothringen (wie im Biterolf), nach 0'
Yon Dänemark, woher er im Nibelungenlied und auch sonst in der Klage ist
[dieser Fall spricht eher gegen C].
1. Die Handschrifteufrage. Die vorhandenen Theorieen. 25
unfreiwillige, iudciu (Inreh eine von B vorgenommene Aende-
rung der Reim iilteriert wurde und daher der Gedanke in B
Ott weiter ausgesponnen werden muste, um wider mit den Rei-
men in's Geleise zu kommen. In C ist nichts willkürlich ge-
ändert; manches wohl aljsichtlich, weil im Nibelungenliede
schon enthalten, weggelassen/')
Das Resultat der Holtzmannischen Untersuchung über das
Verhältnis der Handschriften ist somit folgendes.
C kommt dem Urtext am nächsten, ohne ihn freilich ganz
rein zu geben. Dagegen enthält die vulgata einen abgekürzten,
überarbeiteten und durch viele unabsichtliche Fehler entstellten
Text, von welchem .1 eine nochmalige Abkürzung und Ver-
schlechterung ist. Das Original von B ist nicht C, aber eine C
sehr nahe stehende, sogar in einigen Fehlern mit C überein-
stimmende'") Handschrift. Schematisch stellt dieses Hand-
schriftenverhältnis sich so dar:
Z
X
i
B
I
A
Der Stoss, welchen Holtzmanns Untersuchungen dem Fun-
damente der Lachmaunischen Lehre jedenfalls gegeben hatten,
rief eine lebhafte Reaction von Seiten der Lachmannianer her-
vor, welche sich am heftigsten, aber nicht eben am vortheil-
haftesten äusserte in dem IS55 erschienenen Werke von
Karl Mttllenhoff,
„Zur Geschichte der Xibelunge Not."') Seine Beweisführung,
soweit sie die Handschriftenfrage überhaupt berührt, geht im
74) [S. auch Bartsch, Unters. :MS— 320.]
75) S. not. 66.
1) S. Zarncke, Ausg. XLIV.; ders. im lit. Centr.-Blatt 1S55, Sp. 12S If.;
Gott. Gel.-Anz. 1S.55, S. 6S9 ff. (von W. Müller); Holtzmann, Kampf u. s. w.
26 I- I^ie Entstehung des Nibelungenliedes.
wesentlichen darauf hinaus, dass die Meisterschaft, mit der es
Lachmann gelungen sei, aus A nicht allein seine treffliche Aus-
gabe des Liedes herzustellen, sondern auch aus derselben Hand-
schrift die zwanzig echten Volkslieder herauszuschälen, ganz
entschieden für .1 spreche, ja den Gedanken an die Priorität
irgend einer anderen Handschrift unmöglich mache. Es ist deut-
lich, dass diese Beweisführung nicht allein einen für andere all-
zustarken Autoritätsglauben verräth, sondern auch sachlich auf
der Lachmannischen Liedertheorie als einer ganz bewiesenen
Sache beruht, somit hier nicht näher zu berücksichtigen ist.
Auch war Müllenhoffs Schrift mehr ein Pasquill als eine würdig
gehaltene Streitschrift.
Ernster und sachlicher fasste
Max Rieger
die Frage in seiner Schrift „Zur Kritik der Kiljelunge ",-)
welche noch vor Müllenhoffs Werk erschien. M. ßieger schlägt,
um die Priorität von A zu beweisen, einen ganz anderen Weg
ein als die übrigen Lachmannianer ; obgleich sein Resultat mit
dem Lachmanns übereinstimmt, stellt er sich i)rincipiell gerade
entgegengesetzt zu der Frage. Ihm ist (wie Holtzmanni eine
fortgehende Verbesserung des Textes undenkbar, vielmehr nimmt
er eine fortgehende Verschlechterung an. Hatten aber alle an-
deren Gelehrten C für die beste, A für die schlechteste Bearbei-
tung erklärt, waren sie nur in der Erklärung dieses Verhält-
nisses auseinandergegangen, so erklärt vielmehr Rieger A für
die l)este Handschrift, aus welcher durch Verschlechterung
i>, dann C geworden sei. Das hiess aber nach allgemeinem
Urtheile die Sache auf den Kopf stellen, weshalb es auch hier
nicht nöthig sein wird, länger bei Riegers Schrift stehen zu bleiben.
Entschieden das Beste, was von Lachmannianischer Seite
über die Handschriftenfi*age geschrieben wurde, ist
R. von Liliencrou,
„lieber die Nibelungenhandschrift C", 1856.^) Liliencron stellt
sich wider ganz auf den Boden des Lachraannischen Princips.
2) S. Zarncke, Ausg. XLIV; Holtzmanu, Kampf u. s. w.. S. 65— 6S;
Lit. Centralblatt 1S55, Sp. 59/(30.
3) S. Zarncke, Ausg. XLIV— XLVII: Lit. Centralblatt 1S5G, Sp. 639-
641; Bartsch an vielen Orten seiner ^Untersuchungen-, bes. S. 244—2.5:3.
1. Die Handscliriftenfrage. Die vorhandenen Tlieorieen. 27
Er erkennt nn, dass C den „angemesseneren, correcteren, zier-
licheren nnd feineren" Text lial)e, aber eben diese Vorzüge
sind ihm ein Beweis für Lachmanns Ansiclit. Denn es sei,
meint Liliencron, weit schwerer anzmiehmeu, dass ein guter
Text verschlechtert werde, als dass ein schlecliter verbessert
werde; denn man begnüge sich gewiss am einfachsten mit dem
^'orllandenen, wenn dasselbe gut, also zur Aenderang kein Grund
vorhanden sei.
Im Einzelnen hat Liliencrou verdienstliche Zusammenstel-
lungen der Eigeuthümlichkeiten der verschiedenen Texte ge-
geben; insbesondere sucht er eine grosse Zahl von Lesarten-
verschiedenheiten aus einer Abneigung des Bearbeiters C gegen
gewisse Wörter, Wendungen'') oder Arten der Darstellung^)
zu erklären. Als einen Beweis für die in C enthaltene Ueber-
arbeitung sieht ferner Liliencron den Umstand an, dass die Sen-
kungen in der vulgata*^) häutiger fehlen als in C, das Auslassen
derselben aber ältere Weise sei gegenüber der im dreizehn-
ten Jahrhundert zum Gesetz gewordeneu Ausfüllung aller Sen-
kungen.')
8.
Während Holtzmann sich im allgemeinen damit l)eguügte,
auf Müllenhoffs plebejische Angriffe in einer zwar ebenfalls sehr
derben, aber doch weit anständiger gehaltenen Schrift „Kampf
um der Nibelunge Hort gegen Lachmanns Nachtreter", 1855
erschienen, zu antworten, hat dagegen der Erste, der sich an
ihn anschloss,
Friedrich Z a r n c k e ,
die Ansichten Holtzmanns eingehender begründet in zwei Ab-
handlungen: „Zur Nibelungenfrage'', 1854, und „Beiträge zur
Erklärung und Geschichte des Kibelungenlieds ", in dem Jahr-
gang 1855 der Berichte der K. Sachs. Gesellschaft der Wissen-
schaften (phil.-historische Classe).')
4) S. Bartsch, Unters. 244—253.
5) S. Bartsch, Unters. 275. 2S9. 295.
()) Zumal iu A, wo aber diese Erscheinung jedenfalls aus der nach-
lässigen Schreibart zu erklären ist.
T) S. dagegen Zarucke, Ausg. LI, oben; Bartsch. Unters. 30(3 .'itjT. —
Auf andere Weise benützt Bartsch das häufigere Fehlen der Senkungen zu
Gunsten der vulgata.
1) Von den „Beiträgen" beziehen sich auf die Handschriftenfrage die
Kummern \T;I, VIII, XU, mehr iiidirect auch I, III, V, XI.
28
I. Die Entstehung des Nibelungenliedes.
Nach Zarncke ist, wie nach Holtzmann, die Bearbeitung
und Handschrift C die maassgebende, als Ansgangspimct für die
Kritik allein berechtigte; doch nicht so absolut, dass nicht
Ueberarbeitung in einem kleinen Maassstab darin enthalten
wäre.^) Näher bestimmt sich das Verhältnis zwischen den Hand-
schriften der Gruppe C', schematisch dargestellt so:^)
Original
X
mit einzelnen Lücken u. . w.
c
treueste Abschrift
R
die Lücken wahr-
scheinlich glättend
E F
unbestimmt
k
vollständige
Umarbeitung
anfangs lückenhaft und
roh, später treuer
Der Bearbeitung (,' steht mm die vulgata als eine von einem
„in Sachen des Geschmacks grobkörnigen, aber doch nicht ganz
ungeschickten" Verfasser herstammende Ueberarbeitung gegen-
über.'^ Die Ueberarbeitung als solche und zugleich die Ge-
schmacksrichtung derselben wird bewiesen durch verschiedene
Noch 1^54 theilte Zarucke in einer Receusiou der Iloltzmannischeu
„Untersuchungen'' (Lit. Centr.-BIatt 1S54, Sp. 115) die Handschriften in fol-
gende Abtheilungen:
L 1) BLrjciM -f Db^P,
•1) JhK -ir d H 0,
3) VEFaG;
IL A.
In seinem .zur Nibelungentrage" aber hat er das richtige Verhältnis
der einzelnen Gruppen festgestellt.
Auch schwankt Zarncke in der genannten Recension Holtzmanns noch
zwischen />' und C ; er sagt jedenfalls, dass er vor Holtzmanns Schrift 6'
für eine Umarbeitung von B, A für eine Depravation von B gehalten habe,
vrill aber Holtzmanns Gründen weichen (vgl. zur Nib. -Frage UM.
2) S. Zarncke, Ausg. LH.
3) S. Zarncke, Ausg. 3SI. — G enthält nur Stellen der Klage.
4) S. Zarncke, Ausg. .390.
1. l)ic Handschriftenfrage. Die vorhandenen Theorieen. 29
Umänderiuigcii und Interpolationen, welche ^ nicht unwesentlich
dem bänkelsängei'ischen Stile zuneigen;"'') der Inter))olator geht
darauf aus, ohne feinen Sinn in Auffassung der Charaktere und
Situationen zu verrathen, allerlei Anekdoten einzuflechten , oder
Einzelnes derl)er aufzutragen, mit grelleren oder gröberen Far-
ben zu malen.'')
Auch scheint der Üeberarl)eitcr Anstösse sprachlicher und
technischer Art gefunden zu haben; er entfernt meistens die.
harten Kürzungen des Originals;') auch scheinbar klingender
Reim^^) und zweite Halbzeilen mit scheinbar vier Hebungen^)
sind ihm unangenehm ; ebenso ganz durchgereimte Strophen und
der Reim lauger Vocale auf kurze, ausser beim «.'")
Für die Zeit, in welche die Entstehung dieser Ueberarbei-
tung fällt, l)ietet sich") eine Bestimmung in der fälschlichen
Nennung \o\\ Zeizeiimi'irc statt, wie t' richtig hat, Treiscnmare}-)
Da Zeissenmure ein ärndiches Dorf, Treisenmure aber eine Stadt
und Burg war, da somit an der betreffenden Stelle sachlich nur
die Lesart Treisenmure richtig ist, so kann die Aenderung der
vulgata nicht von einem Oesterreicher herrühren,") denn einem
solchen wären gewiss die wahren geographischen Verhältnisse
5) S. Zarncke, Ausg. XIV.
(i) S. ebenda. — Zu diesen Interpolationen gehört nach Zarncke:
4S2 ff. , wo der Geiz Brünhilds in übertriebener und sachwidriger
Weise berührt wird;
499"^, wo sich Siegfried in plumper und unhötischer "Weise Günthern
gegenüber weigert, die Botschaft nach Worms zu übernehmen:
04.^ f., wo Hagen trotzige Reden gegen Kriemhild führt, ehe noch
irgend eine Feindschaft zwischen beiden Theilen besteht:
15U4, wo Hagen beim Uebersetzeu über die Donau sein Ruder zer-
bricht [diese Stelle steht nach Holtzmann, Unters. 210 in a {C hat dort eine
Lücke); Zarnclce leugnete diss in seiner Schrift von 1S54 wegen des all-
gemeinen Charakterunterschieds zwischen C und vulgata, und — die Strophe
fehlt wirklich in a] ;
andere ähnliche Aenderuugen finden sich 1S49; 2303, 3; 2057'' fehlt
in B. — Vgl. Zarncke, Zur Xib. -Frage S. 16 AT.
7) Wie t(it für tätet, hct für lictet u. a.
8) [S. auch Bartsch. Unters. 8 f.]
9) [S. Bartsch, Unters. 311. 101.]
10) S. Zarncke, Ausg. XVI.
11) S. Zarncke, Beitr. 205—210.
12) Str. 1272, 3 haben rZ> (hiervon einander unabhängig), also beide Be-
arbeitungen J'?-m£'«w?/<?-t', die adn. IIss. Zeiz.: 1276. 1 hat nur C Treis., alle
andern Zeiz. [S. Bartsch, Unters. 3o2 oben, wo aber mehrere Druckfehler.]
13) [S. dagegen Bartsch, Ausg. XXXII.]
30 I. Die Entstehung des Nibelungenliedes.
dazu viel zu wohl bekannt gewesen. Sie ist aber, eben weil
Zeissenmure ein ganz ärmliches Dorf ist, von einem NichS
Oesterreicher nur dann zu begreifen, wenn derselbe aus irgend
einem litterarisehen Werke das Dorf" Zeissenmm*e kannte. Nun
kommt dasselbe in der Tliat in der Litteratur des dreizehn-
ten Jahrhunderts vor, und zwar in Nitharts Gedichten, unter
welchen die österreichischen kaum vor I23(J fallen können.
Dazu, dass die vulgata aus Nithart geschöpft habe, stimmt der
populäre, plumpe und derbe Charakter derselben recht wohl.
Es ist demnach die Entstehung der vulgata etwa um 1240 zu
setzen, wozu die diplomatische Beschaifenhcit ihrer Handschrif-
ten recht wohl stimmt.'")
Die Handschriften der vulgata theilen sich, wie ol)en be-
merkt,'"'), in drei Gruppen:
1) HOd + JKQhl-
2) DNPS + BLMc'ji-
3) A.
Nach Zarncke liegt in diesen drei Gruppen eine stufenweise
Entfernung von dem in C E F G Ra enthaltenen Original vor.
Alle diese Handschriften gehören zur vulgata, haben deren cha-
rakteristische Eigenschaften; aber hinsichtlich der Treue der
Tradition, wesentlich in Beziehung auf die Strophenverhältnisse,
entfernen sich dieselben innner weiter vom Original.
Am nächsten steht demselben die erste Gruppe der vul-
gata, besonders llOdy während JKQhl selbständiger redi-
gieren;'^) weiter entfernt sich die zweite Gruppe; am weitesten
ab steht A.
Ohne besonderen Werth sind im allgemeinen die späteren
Ueberarl)eitungen h ni k ; doch lässt sich Ijesonders /.• für manche
14) [S. dagegen Bartsch, Unters. oO" f., und s. u.]
15) S. Seite 6 und 7.
16) Indes Uisst Zarncke die sonst gewöhnliche Ansicht als möglich be-
stehen, dass nemhcli // / K ^> (> ^/ /< / M i s c h h a n d s c h r i f t e n seien aus einer
Handschrift der vulgata und einer des anderen Textes [dafür spricht insbe-
sondere der (von Zarncke schon in der not. 1 genannten llecension Holtz-
manns erwähnte) Umstand, dass von den C und J gemeinsamen .Strophen
manche in J d an anderer (falscher) Stelle stehen als in ('; es diirtte also
anzunehmen sein, dass / entstanden ist aus einer Handschrift des gemeinen
Textes, in welcher aus 6' eine Anzahl von Strophen (eben jene 20) am Rande
nachgetragen waren, die dann J an falscher Stelle einrückte; s. Zarncke,
Ausg. 365.
1. Die Handschriftenfrage. Die vorhandenen Theorieen. 31
Stelleu des Gedichts kritisch verwerthen.''). — Die Uebersetziing
T gehört zur vulgata |s. o.].
9.
Der Letzte, welcher, und zwar mit siegreichem Erfolge,
sich gegen Laclimaiuis Theorie gewendet hat, mit dessen Auf-
treten wirklich die Streitigkeiten von dieser Seite ein Ende
gefunden haben, ist
Heinrich Fischer
in seiner Schrift: „Nibelungenlied oder Nibelungenlieder?" 1859.
Er geht allerdings nicht von der Handschriftenfragc aus, weil
schon Holtzmanu von diesem Puncto aus Lachmanns Ansichten
bekämpft habe ; sondern er unterzieht vielmehr Lachmanns Theorie
hinsichtlich der zwanzig Lieder, insbesondere aber hinsichtlich
der zahllosen Athetcsen, welche Lachmann seiner Liedertheorie
zu Liebe über grosse Theile des Liedes verhängt hatte, einer
genauen und wirklich vernichtenden Kritik. Nur mehr Ijeiläufig
konnnt Fischer an zwei Puncten auf die Handschriftenfrage zu
sprechen, soll daher hier kurz erwähnt werden. Zuerst berührt
er die Frage bei Gelegenheit der Kritik von 0. Vilmars „Reste
der Allitteration im Nibelungenliede" (1855).') Vilmar wollte
durch Beiziehung dieser Allitterationsreste die Lehre Lachmanns
über die echten und unechten Strophen bekräftigen, indem er
behauptete, dass die von Lachmann als echt bezeichneten Stro-
l)hen zugleich dadurch sich als echt zeigen, dass sehr häufig
sich in denselben noch Allitterationsreste zeigen. Fischer aljer
weist an einigen statistischen Zahlen-) nach, dass diese Allitte-
rationen, wenn sie ül)erhaupt eine kritische Bedeutung hal)en
sollen, weder Lachmanns Handschriftentheorie noch seine Stro-
phenkritik bestätigen, indem sie sich am häufigsten in C und
gleichmässig in „echten" wie „unechten" Strophen vorfinden.
Eingehender kommt Fischer auf die Handschriftenfrage zu
sprechen gelegentlich der von Lachmann so vielfach für seine
IT) S. Zarncke, Ausg. 372— 37(i.
1) S. Fischer, S. s_i2.
2) In Lachmanns erstem ..Lied" sind 5G ..echte-, Sl „Zusatz --Strophen;
die drei regelmässigen ..Stähe'- linden sich in „echten- Sti'ophen 2 mal, in
„unechten" S mal, dazu kommen in C 3—4 weitere; das dritte „Lied-
hat nach den A und C gemeinsamen Lesarten 2, nach C allein 11 regel-
mässige Allitterationen ; das neunte- ..Lied" hat in ..echten- Strophen 5, in
„unechten" nach A 2, nach C 9 Allitterationen.
32 I- iJJe Entstehung des Nibelungenliedes.
Theorie ausgebeuteten „Widersprüche" im Nibelungenliede.
Kiichdem Fischer die meisten derselben weggeräumt hat, ge-
langt er zu dem Resultat, dass die noch übrigen in A sich
findenden Widersprüche^) immer noch nicht zur Annahme von
Lachmanns Liedertheorie l)erechtigen , vielmehr, wenn sie nicht
auf handschriftlichen Fehlern beruhen, nur als lupsus momoriiv
des einen Dichters des Nibelungenliedes zu betrachten seien.
Anstatt also dieselben zur Destruction des Kunstwerks zu be-
nutzen, was das Nibelungenlied seinem ganzen Plan und Bau
nach ist,') soll man dieselben lieber zu beseitigen suchen; und
dafür bietet sich die Handschrift C', welche dieselben, mit Aus-
nahme eines einzigen,^) nicht enthält. Allein die Lachmannianer
erklären das Fehlen dersell)en in C eben für einen BcAveis der
Ueberarbeitung. Aber ganz unbegreiflich ist es jedenfalls, dass
erst die vierte von allen Bearbeitungen die auffallendsten Wider-
sprüche beseitigt, einen aber selbst noch übersehen haben soll.
Es ist somit der einfachste Ausweg, C als Orighial zu l)etrach-
ten, und die Erklärung der Abweichungen der vulgata, wie sie
Zarnckc gegeben hat, ist ganz vollgenügeud. Das Gedicht
stammte aus vornehmen Kreisen, land aber in hütischen Cirkeln
wenig Sympathie, weil dort der Geschmack sich den franzö-
sisch-britischen Sagenkreisen zukehrte, um so mehr jedoch im
Volke. Daher bemächtigten sich die Fahrenden des Liedes
und gaben ihm nicht allein die von Zarncke hervorgeho])eneu
ästhetischen Veränderungen, sondern auch solche, durch welche
die einzelnen Theile, welche für den mündlichen Gebrauch
allein tauglich waren, getrennt, der enge Zusammenhang der
Aventiuren gelockert wurde.
10.
Die bisher behandelten llandschriftentheorieen haben, so-
weit dieselben auch auseinandergehen, das gemein, dass alle
nur eine Handschrift, beziehungsweise Bearbeitung, zu Grunde
legen, die übrigen aber als Ueberarbeitungen dieses Originals
betrachten. Allerdings enthält nach Lachmann auch .1 noch
nicht den ursprünglichen Text, derselbe ist vielmehr in den
3) In Str. S.i4, .3: (i64, :<; 1457, I f.; 1S61, 3: 1417.
4) Diesen einheitlichen Plan hat Fischer eben Lachmann gegenüber zu-
vor überzeugend nachgewiesen; s. u.
5) Str. 1417, wo Volker, der doch schon im Sachsenkrieg genannt war,
neu eingeführt wird.
1. Die Handsclu'iftenfrage. Die vorhandenen Tlicorieen. 33
20 Volksliedern enthalten; Holtzmann nimmt') eine weit ältere"-)
Grundlage des Gedichtes an, von welcher die Bearbeitung C
eine Uebersetzung- oder Umarbeitung- sei. Aber darin sind alle
einig, dass die letzte einheitliche Rcdaction des Liedes, welche
also unmittelbar vor das Auseinandergehen der Handschritten
fällt, in einer der erhaltenen Handschriftengruppen enthalten
sei. Anders diejenig-cn, deren Theorieen nunmelir l)esprochen
werden sollen. iSie nehmen alle an, dass die vorhandenen Nibc-
lungenhandschriften eine gemeinsame Vorlage voraussetzen, zu
Av e 1 c h e r sieh alle e r h a 1 1 e n e n li e a r 1) e i t u n g e n a 1 s U m -
arbeitungeu verhalten; und zwar nicht eine Vorlage der
Art, wie Holtzmanns ,. altes Gedicht'- oder Lachmanns zwanzig
Lieder, welche sich weit von der jetzigen Leberlieferung ent-
fernt hätte, sondern vielmehr eine solche, aus welcher durch
relativ minder bedeutende, d. h. das Ganze des Liedes
nicht alterierende, Aenderungen die jetzigen Traditionen
entstanden seien. Unter den drei Schriftstellern, welche hier
zu nennen sind, stimmen hinsichtlich des Endresultats Pasch
und Bartsch überein, indem beide die Bearbeitung (' und die
vulgata als selbständige, von einander unabhängige, Ueberarbei-
tungen einer gemeinsamen Vorlage betrachten.^) Andererseits
.stimmen hinsichtlich des Motivs, das sie für die Umarbeitung
annehmen, Pfeiffer und Bartsch überein, indem beide als
]\Iotiv der Umarbeitung eines um 1140 verfassten Originals, welche
Umarbeitung in unseren Handschriften erhalten sei, die um 1 1 90
nicht mehr gebräuchlichen Assonanzen des Originals betrachten.
Hinsichtlich der Methode, durch welche sie zu ihrem Ergel)-
nisse gelangen, sind Pasch und Bartsch sich darin ähnlich,
dass sie dasselbe aus der Vergleichung der Handschriften selbst
gewinnen,') während Pfeiffer durch die Herljeiziehung von
äusseren, nicht im Liede selbst gelegenen Beweisgründen-'^) zu
seiner Ansicht gelanü-te.
1) S. u.
2) Der zweiten Hälfte des 1(). Jahrhunderts angehörige.
:i) Während Pfeiffer der Hs. C den Vorrang Hess; s. E. Pasch A und ('. S S:<.
4) Und zwar Pasch nur durch die Vergleichung zweier Puncte. der
Strophendiffereuz und der grammaticalischen Eigenthümlichkeiten l)eider
Hearbeitungen, Bartsch dagegen durch die Herbeiziehung aller kritischen
Hilfsmittel, in erster Linie der Metrik.
.51 Identität der Xibclungeustrophe mit der der Küreubergischen Lieder
und Gesetz der Nichtentlehnung der Töne.
Fischer. Nibelungenlied. 'i
34 I. Die Entstehung des Nibelungenliedes.
11.
E. Pasch
hat seine Ansichten über das Verhältnis der Handschriften dar-
gelegt in der Abhandlung: „ Ueber die Xibelungenhandschriften
A und C'. "') Pasch geht aus 1) von der Strophendifferenz zwi-
schen den beiden erhaltenen Bearbeitungen und 2 ) von den Ab-
weichungen, welche beide gegenüber der gewöhnlichen mittelhoch-
deutschen Grammatik darbieten. Als Repräsentanten der vulgata
w^ählt Pasch die Handschrift .1;-) es können, sagt er,'^) nur.l uudC
in Betracht kommen, da alle andern Handschriften entweder
zwischen denselben liegen oder hinter ihnen, ausserhalb des Be-
reichs der Streitfrage.
Zunächst kritisiert Pasch Holtzmanns kritische l'rincipien
und weist nach, dass mit denselben an und für sich gar nichts
anzufangen sei. Was das Princip der Bevorzugung der umfang-
reicheren Handschrift betrifft, so weist die deutsche Litteratur-
geschichte mehrere Beispiele auf, wo der kürzere Text entschie-
den echter ist;'') das andere Princip Holtzmanns, dass die bessere
Lesart zugleich die echtere sein soll, ist nicht stichhaltig, weil
der Gedanke nicht von vorneherein abzuweisen, dass ein Ueber-
arbeiter, ja ein Abschreiber, wenn auch nicht poetisch befähig-
ter gewesen sei als der Dichter selbst, so doch im einen oder
anderen Falle eine bessere Wendung gefunden habe als dieser,'')
Gelten aber beide Principien Holtzmanns, a priori betrachtet,
1) Erschienen ^^63 als Osterprogramm der Realschule zu Perleberg; ab-
gedruckt in der Berliner Zeitschrift für das Gvmn. Wesen, Febr. 1S64.
•Ji Diss hat bei ihm zu mauchfacheu Verwirrungen geführt, weil J bald
gegenüber von C, bald gegenüber von allen andern Handschriften, also
auch B, gestellt wird.
3) S. Pasch, A und C, S. S.5.
41 Dahin die innerhalb eines Jahrhunderts vor sich gegangene Erwei-
terung des zwei Erzählungen enthaltenden Isegrimus zu 2" Erzählungen
[dieses Beispiel passt nicht, weil es sich dabei um eine Anekdoten Samm-
lung handelt]; dahin die apokryphische Erweiterung von Luthers «Ein'
feste Burg" um eine fünfte Strophe; dahin die Erweiterung von Goethes
„Unter allen Gipfeln ist Ruh" um zwei Strophen durch J.D.Falk (i. J. ISIT).
— Auch ist das von Iloltzmann (Unters. 5 61 für die Verkürzung eines Ge-
dichts durch Abschreiben citierte Alexanderlied Lamprechts ein zweifelhaftes
Beispiel.
5) Von einigen Stellen gibt ja Iloltzmann zu, dass die vulgata den besse-
ren Text habe [s. S. 23 f ].
1. Die Handschriftenfrage. Die vorhandenen Theorieeu. 35
nichts, so ist es doch mögiicli mid daher noch zu untersuchen,
ob sie nicht gerade beim Nibelungenliede zutreffen. Da
Pasch zunächst von der Stroi)hendit!erenz aus<;-cht, so ist zu
untersuchen nur, ob der längere Text hier wirklich der bessere
sei. Wenn diss angenommen wird, aus welchen Ursachen ist
alsdann das Fehlen so vieler Strophen in J zu erklären V Nach
Holtzmann ist es zu erklären aus der einem deutschen Ge-
dichte gegenüber besonders natürlichen Bequemlichkeit und Ge-
dankenlosigkeit des Schreibers. Allein die deutsche Poesie war
im dreizehnten Jahrhundert gewiss hoch angesehen, also ist
lloltznianns Erklärung nicht ganz begründet.*') — Es sind bei
lloltznianns Theorie drei Fälle möglich, wofern als Grund der
Auslassungen in ^l die Faulheit, d, h. die bewuste, absichtliche
Nachlässigkeit und Bequemlichkeit des Schreibers angenommen
wird: 1) entweder war der Abschreiber so träge, dass er auf
das Gerathewohl, unbekümmert, um das Schicksal seines Textes,
ausliess; 2) oder er suchte sich die Strophen heraus, die ohne
Störung des Zusammenhanges ausgelassen werden konnten ;
3) oder er brachte durch Aenderung einiger AVorte die durch
seine Auslassungen zerrissenen Strophenzusammenhänge wider
in's Gleiche.
I) Setzen wir den ersten der drei angenommenen Fälle, so
wäre es gewiss mehr als Zufall, wenn durch das planlose Aus-
lassen so vieler Strophen nicht irgendwo eine Lücke entstanden
Aväre. Eine solche findet sich allerdings in .1,') gehört aber,
weil graphisch zu erklären, nicht hieher.^) Sonst sind alle
Plusstrophen von C für den Zusammenhang entbehrlich, ja mit-
unter störend, was Pasch an einer grösseren Anzahl solcher
Plusstrophen durchführt.') Somit ist die Möglichkeit ausge-
schlossen, dass die Plusstrophen von C m A weggelassen seien
durch die blosse Faulheit eines auf das Gerathewohl auslassen-
den Schreibers.
6) [S. Seite 13 (§. G, not. 7). So unerhört sind eben Abkürzungen und
Verstümmekingen auch in jener Zeit nicht; das beweist A gegenüber von
B\ so gut nach Pasch die Achtung der deutschen Poesie das Abkürzen ver-
bot, hätte sie auch das Zusetzen verbieten sollen; s. aber das Alexanderlied
nach Paschs Ansicht.]
7i Str. 491, 4—7 fs. Seite IS (§. 6, not. 3S)].
s) Denn Versehen aus graphischen Gründen sind nicht Sache der ».Faul-
heit", sondern der «Nachlässigkeit-, d. h. des unbewusten Irrthums.
9) [Diese Strophen s. ausführlich behandelt bei der Kritik Paschs
§. 19, not. 2.).]
3*
36 I t>ie Entstelmng des Nibelungenliedes.
2) Finden sich in ^1 keine Lücken, ist also die erste Mög-
lichkeit ausgeschlossen, so ist die Annahme möglich, dass das
Fehlen von Strophen herrühre von einem Schreiber, der sich
zuvor an jeder bctreftendcn Stelle überlegt habe, ob daselbst
eine Auslassung möglich sei. Dass Strophen, welche ohne Scha-
den ausgelassen werden können, in jedem grösseren Gedichte
vorkonnnen, ist klar. Allein die Mühe, zu untersuchen, ob diese
oder jene Strophe entbehrlich sei, war wohl grösser als die des
Schreibers ; somit könnte hier von ,, Faulheit " nicht die Rede sein.
3j Also bleibt noch der dritte Fall ül)rig, dass nemlich in
den Fällen, wo eine Strophe nicht ohne Zerstörung des Zu-
sammenhangs, inbesondere des Satzbaus, ausgelassen werden
konnte, der Schreiber von . 1, um doch auslassen zu können, ge-
ändert habe. In der That liegt der Fall öfters vor, dassJ, wo
sie eine Strophe weniger hat als (', zugleich in den vorangehen-
den oder nachfolgenden Zeilen eine andere Lesart bietet als C")
Allein dieser Fall ist ebenso zu 1)eurtheilen wie der zweite;
denn die Mühe, zu ändern, wäre doch noch grösser gewesen,
als die, die Entbehrlichkeit einer Strophe zu untersuchen.
Darf also das Fehlen von Strophen in .1 nicht auf Rech-
nung der Faulheit des Abschreil)ers gesetzt werden, so konnut
es vielleicht auf Rechnung seiner Nachlässigkeit und Flüchtig-
keit, ist also ein unabsichtliches? Diss ist auch ziemlich schein-
bar. Vor allem sprechen dafür die vielen nachweislichen Schreib-
fehler und Auslassungen von -1 in Beziehung auf einzelne Buch-
staben und Worte ; es ist natürlich an sich ebenso denkbar, dass
auch in Beziehung auf ganze Strophen dieselbe Nachlässigkeit
in ^1 geherrscht hätte. AVirklich hat auch .1 einmal erweislich
aus Nachlässigkeit eine Strophe ausgelassen.") Aber starke
Gründe machen doch die allgemeine Anwendung dieses Gesichts-
punctes unmöglich. Denn die Anzahl der in einem kleineren
Abschnitt fehlenden Strophen '-j ist manchmal doch gar zu gross,
ebenso auch manchmal die Anzahl der unmittelbar hinter ein-
10) So führt Pasch an die Str. 42!); 442, 4; 602, 1; 60S, 1; «2.3, l;
040, 4; 1053, 1; 1077, 1; 1202, 1; i:3.V2, 4; 140S; 1^41»
11) 4111, 4—7. [Die Strophe fehlt indes nicht in A allein, wie es dem
Zusammenhange bei Pasch nach scheinen könnte, wo von der nachlässigen
Schreibung von J die Rede ist, sondern in .i undiP; s. Bartsch, Unters. :_303.]
12) In Av. X fehlen IS Strophen von 104, in Av. VI IG von 4"5, in
Av. YII 23 von 94. [S. dazu §. (i, not. 15. IS. und unten bei der Kritik.]
1. Die Handschriftenfrage. Die vorhandenen Theorieeu. 37
ander fehlenden Strophen,") um den Glauben möglich zu machen,
dass ein Abi^chrciber, unabsichtlich und ohne es zu bemerken,
so viele Strophen in .so kurzen Zwischenräumen ausgelassen habe.
Ausserdem fehlen gerade am Ende von Aventiuren sehr häufig
Strophen in ^1,") also an einem Orte, wo ein Uebersehen nicht
denkbar ist. Dazu konmit noch, dass die Plusstrophen von C
tast alle denselben ausgeprägten Charakter der erweiternden
Schilderung oder glosscnartiger Notizen haben,'") Da diss nicht
zufällig sein kann, da ferner das Fehleu von Strophen in . l last
nie eine Lücke verursacht hat, so kann von Auslassung aus
Nachlässigkeit nicht die Rede sein.
Eine dritte Möglichkeit wäre die, dass das Deficit in .1 die
Folge einer Uebcrarbeitu ng wäre; diese Möglichkeit ist aber
weder von Zarncke uocli von Holtzmann berührt worden, i>raucht
also nicht berücksichtigt zu werden.'*)
Somit kann das Deficit von ^1 überhaupt nicht entstan-
den sein, d, h. die Plusstro})hen von C, wenigstens deren grosse
Mehrzahl, können in der Vorlage von ^1 nicht gestanden haben,
C kann nicht unmittelbare Quelle von ^1 sein.
Holtzmann selbst gesteht zu, dass einzelne Plusstrophen von
(' hinzugedichtet seien, da ein Abschreiber wohl mitunter sich
auch Zusätze erlaubt haben könne.'') Aber ein solcher Ab-
schreiber ist vielmehr schon ein lieber arbeit er. Und wirk-
lich bietet die Annahme, dass in C eine Ueberarbeitung vor-
liege, keine Schwierigkeit; das Zunehmen eines Gedichts an
Umfang ist ebenso möglich als das Abnehmen. Die in .1 etwa
vorhandenen Lücken "") beweisen nur die Echtheit ganz weniger
Plusstrophen von C. Ausserdem ist an und für sich einem
Ueberarbeiter weit eher ein Hinzusetzen zuzutrauen als ein Ab-
kürzen; denn das Unternehmen einer Ueberarbeitung beweist ja
schon eine gewisse Achtung und Pietät gegen das Werk, das
man bearbeitet, das man also wohl nicht für schlecht, sondern
für gut halten wird; diese Pietät wird aber wohl dem Ueber-
13) 68 mal fehlt eine Str., is mal 2, *i mal 3, 3 mal A, 1 mal 5, 1 mal 8.
14) [S. §. 6, not. 4H.]
15) [S. §. 6, not. 42—45.]
Ki) [Und doch rührt, wenn C als echt angenommen wird, das Deficit
in der vulgata sicher von Ueherarheitung her.]
ITi S. Seite 21 [auch Zarncke will nicht alle Plusstrophen von C halten,
s. Ausg. LH].
iS) Wenn deren mehrere sind; s. not. ' und 11.
38 I- I>ie Entstehung des Nibelungenliedes.
arbeiter verbieten, seine Vorlage durch Kürzungen, zu verstüm-
meln.'^) Zumal Strophen am Ende von Aventiuren, erweiternde
Schilderungen u. dgl. einzufügen, konnte einem Bearbeiter leicht
einfallen, und der Art sind ja so viele der Plusstrophen von
Cr'*) Es werden denniach die Plusstrophen von C wohl als Er-
zeugnisse späterer Ueberarbeitung gelten müssen. Da aber nicht
alle dieses Ursprungs sein können, vielmehr eine oder einige
wenige echt sein müssen, weil sie Lücken von ^1 ausfüllen, so
kann auch .1 nicht der absolut echte Text, die directe Vorlage
von C sein; vielmehr sind beide aus einem gemein-
samen Grundtext hervorgegangen, zu welchem sich
C als Ueberarbeitung verhält.
Wie sich .1 zu diesem Grundtexte verhält, zeigt die Be-
trachtung der Plusstrophen von J. Dieselben sind entweder
1) alle echt, oder 2) alle unecht, oder 3) theils echt theils
unecht.
1) Sind sie sämmtlich echt, so müssen sie von C aus Faul-
heit oder aus Nachlässigkeit ausgelassen sein. Ersteres ist un-
möglich, weil einmal-'} C die Construction bei Auslassung
einer Strophe verändert haben muss;") letzteres ist ebenfalls
unmöglich, weil sich in C keine Lücken tinden, und wegen der
eben erwähnten Stelle. Ferner können dieselben in C auch
durch Ueberarbeitung fehlen; eine Verkürzung durch Ueberarbei-
tung ist zwar (s. o.) minder wahrscheinlich als das Gegen-
theil, al)er doch nicht unmiiglich. Allein auch diss ist nicht
glaublich.-')
19) [Pasch arbeitet auch hier, wie meistens, mit allgemeinen Sätzen, die
im concreten Falle ebensogut falsch als wahr sein können. So auch hier,
sogar wenn der Satz allgemein bleibt. In verzerrender Gestaltung des Ein-
zelnen (./) und in entstellenden Zusätzen liegt auch wenig ..Pietät", wenn
überhaupt im Mittelalter viel von Pietät des Schreibers gegen das Werk die
Rede sein kann.]
20) Als besonders eclatante Beispiele führt Pasch an: 475'". die Notiz
über die Tarnkappe, und 1()S2'*-', die Notizen über das Kloster Lorsch.
21) (i42. 4 B Kriemliilt (h) senden heyan 643, 1 n/ich Haijenen von
Tronerje u. s. w. ; C 042. 4 daz was ir liehe getan, 64-3 und 644 fehlen in C
22) Denn das Acndern von Lesarten lässt sich (s. Seite 36) nicht mit der
Faulheit des Abschreibers vereinigen.
2:5) Liliencron behauptet das "Weglassen in C durch Ueberarbeitung
sicher nur von Str. 3: .346; 610; 1S2.5; bei 12 andern ist es ihm wahr-
scheinlich, bei 1594 gesteht er das Gegentheil zu. Aber bei mehreren der
Strophen ist ein Weglassen durch Ueberarbeitung unbegründet.
1. r)ie Ilandschriftenfiage. Die vorhandenen Theorieen. 39
2) Als zweite Mög-lichkeit wäre dcukbar, dass alle Pliis-
stropheu von .1 unecht wären, also erst durch Ueberarbeitung
in den Text gekommen. Diss ist aber auch keineswegs der
Fall.") Auch nach Holtzmann ist die Zudichtung bei einer
ganzen Anzahl ^•on Plusstrophen der vulgata nur wahrschein-
lich; einige sind nach seinem Zugeständnisse in C ausgetallen.")
Es sind also nicht sämmtliche Plusstrophen von ^1 unecht, so-
mit ist
3) ein Theil derselben echt, der andere unecht.-^) Sind
aber einige echt, andere unecht, so muss auch -1 sich zu
dem Gruudtexte als Ueber arbeitung verhalten.
Dasselbe Resultat ergibt sich aus der Vergleichung von A
und f hinsichtlich der granima ticali scheu EigenthUm-
lichkeiten beider Handschriften. Beide stimmen manchmal
nicht ndt den Regeln des Mhd. im dreizehnten Jahrhundert
überein, und noch häufiger weichen nicht beide, sondern nur
eine von beiden davon ab, durch Anwendung einer älteren oder
späteren Form sowohl in der Schreiljung einzelner "Wörter als
in Flexion und Syntax.-") Daraus, dass die höhere Alterthüm-
lichkeit bald auf der einen, bald auf der anderen Seite ist,
folgt, dass beide Handschriften aus einem älteren Grundtext
als Ueberarbeitungen hervorgegangen sind.
12.
Franz Pfeiffer
gehört nicht eigentlich zu Denen, welche in der Handschriften-
frage thätig waren; er hat, im Anschluss an Holtzmann, der Hand-
schrift C den Vorzug gegeben. Aber seine Schrift : „ Der Dichter
des Nibelungenlieds", 1S62, ist darum auch fiir diese Frage
nicht unwichtig, weil sie den ersten Anstoss zu der neuesten,
24) Z. B. die von Holtzmann (Unters. 32) als Beweis der Ueberarbeitung
benutzten Str. 4S2 — 4^9 sind vielmehr in der vulgata echter als die vier da-
für in C stehenden Strophen ; von Geiz der Brünhild kann auch iu Ä nicht
die Rede sein, denn auch nach der Darstellung von A will sie ihr Gold mit
nach Burgund nehmen, um es dort zu vertheilen [s. u. bei der Kritik.J
2.5) Jedenfalls 1971, 4—1972, 4; wohl auch 711.
26) Echt z. B. 76S; unecht 1193 f.
27) [Paschs zahlreiche Beispiele anzuführen, ist werthlos: dieselben sind
von gar keiner Beweiskraft ; am, wenigsten kann die Orthographie einzelner
Wörter hier etwas beweisen, denn C und Ä liegen fast ein Jahrhundert aus-
40 I. Die Entstehung des Nibelungenliedes.
(lureli Bartsch weiter ausgeführten Theorie gegehen hat, dass
neralich im Xibelungenliede, auch nacli seiner besten Redaction,
eine Umarbeitung eines um 1 1 40 vertassten Gedichtes enthalten
sei, und weil Pfeiffer als Beweis für diese Ansicht ausser ande-
ren, nicht im Liede selbst gelegenen Gründen') besonders auch
die in demselben noch vorkommenden alterthümlichen Reime-)
benutzt und die Entfernung dieser in dem alten Original weit
zahlreicher vorhandenen Reime als Motiv der Umarbeitung be-
trachtet,
13.
Karl Bartsch
ist wohl unter den Neueren der Bedeutendste, der sich mit der
Nibeluugenfrage, insbesondere mit der Handschriftenfrage, be-
fasst hat. Zeichnete sich Holtzmann durch Originalität der An-
schauungen, Fülle der Phantasie und Geneigtheit zu neuen, weit-
greifeuden Schlüssen und Problemen aus,') so zeigt Bartsch
scharfe Betrachtung des Einzelnen und besonders grossen Fleiss
im Sammeln der einzelnsten Einzelheiten. Seine Ansichten über
die Nibelungenfrage überhaupt, die aber bei ihm so ziemlich
ganz von der Handschriftenfrage abhängig ist, hat Bartsch zuerst
1S62 auf der Augsburger Philologenversannnlung vorgetragen,
sodann aber eingehend ausgeführt und begründet in seinen
„ Untersuchungen über das Nibelungenlied ", 1S65, kurz dargelegt,
endlich in seinen zwei verschiedenen Ausgaben des Liedes.-)
Bartsch legt, wie Holtzmann, der Handschrift ^1 gar keinen
maassgebenden Werth bei. A hatte allerdings eine sehr alte
Vorlage,^) ist aber selbst zugegebenermaassen sehr nachlässig
einander, und kein Schreiber hat alterthümliche Züge seiner Vodage beibe-
halten (s. Bartsch, Unters. 365); ferner ist hier A wider einmal als einzelne
Handsclirift gefasst; und endlich führt Pasch Beispiele von älterem und
jüngerem Gebrauch an, die, vor- oder rückwärts, fast über die Grenzen des
Mhd. hinausfallen, somit als zufällige Abweichungen zu betrachten sind.]
1) S. §. 10, not. 5.
2) Von denen Bartschs Untersuchung ihren Ausgangspunct nimmt.
U Diss tritt in dem zweiten Theile seiner ..Uaitersuchungen" noch weit
mehr hervor als in dem ersten, wo allerdings in einzelnen Conjecturen viel
Kühnheit ist; am meisten aber iu seinen „Kelten und Germanen".
2) Die kleinere erschien 1866, 1869 und IS72 in Pfeitfers „Deutsche
Classiker des Mittelalters"; von der grösseren ist bis jetzt erst der erste
Band (1S70) erschienen.
3) Diss beweisen die Schreibungen sc und irrthümlich a' = .■ic/i. a = (c,
o = oe, uo ==' üe, uu = w, v nach einem Consonanten = iv.
1. Die Handschriftenfrage. Die vorhandenen Theorieen. 41
geschrieben. Manche Fehler von .1 erklären sich durch die
Schriftzüge der Vorlage.') Die Nachlässigkeit der Schreibung
von .1 wird auch dadurch bestätigt, dass in .1 oft ein Wort
fälschlich steht, das in der Nähe schon einmal vorkam. Weiter-
hin zeigt sich der jüngere Charakter von .1 darin, dass sie statt
veralteter Wörter neuere setzt. Besonders aber linden sich in
.1 Versetzungen von Wörtern in einer Art, aus welcher erhellt,
dass - 1 1 ) die prosaische Wortstellung anstatt der um des Verses
willen gewählten und in den Vers allein passenden wählt, 2) nicht
das mindeste Gefühl für die Feinheiten des Rhythmus hat.'') —
Lachmann hat diesen Fehlern von .1 gegenüber einen ganz fal-
schen Weg eingeschlagen. Er ergänzt viele ausgelassene Wörter,
deren Auslassung nur als Nachlässigkeit zu erklären ist; er hat
auch Ergänzungen aufgenommen, die nur für den Vers noth-
wendig sind, war aber gerade hierin vollständig inconsequent,
sein Verfahren subjectiv. Ebenso verfuhr er inconsequent gegen-
über von den in -1 fehlerhaft zugefügten Wörtern.
Wenn auch von den Fehlern von -1 manche schon der Vor-
lage von .1 eigen sind, indem sie von B oder -D, seltener von
J, getheilt werden, so kommen doch die meisten allein auf
Rechnung von A. Es ist somit diese Handschrift keineswegs
auch nur als Repräsentant der vulgata anzusehen, was vielmehr
unter allen am meisten B ist; es kann sich also bei der Unter-
suchung über die Handschriften wesentlich nur um B und C
handeln, als die Repräsentanten der beiden Bearbeitungen.')
Bartsch beginnt seine Untersuchung mit der Frage, ob im
Nibelungenliede die Reime auf eine Umänderung aus freieren
Reimen hinweisen oder nicht. Diese Frage ist eine Cardinal-
frage der Lachmannischen Kritik gegenüber, denn Lachmann
nahm keine Umarbeitung der Reime beim Uebergange von den
Volksliedern zum Sammler an. Er wäre aber widerlegt, sobald
4) So Consonanten- und Vocalvertauschungea, Vertauschung und zu-
gleich Auswerfung von Buchstaben, Wegfall von Buchstaben und Silben,
HJnzufügung, Verwechselung von Buchstaben, Verwechselung von Wörtern;
s. dafür und für das Folgende Bartsch, Unters. 63—^.3.
5i Dahin gehören besonders, was für die Metrik wichtig ist, Wörter mit
kurzer Penultima in der Cäsur; am. besten wird das junge Alter von ./ in
metrischen Dingen dadurch bewiesen, dass A häutig achte Halbzeilen von
nur 3 Hebungen hat, wie solche von 12.=)0 an üblich wurden.
t>) Die Bearbeitung B (vulgata: bezeichnet Bartsch als ..erste Bearbei-
tung", kurz ..I", die Bearbeitung C als ..zweite Bearbeitung", kurz „11".
42 I- Die Entstehung des Nibelungenliedes.
sich eine solelie Umarbeitung nachweisen Hesse, weil alsdann
jedes Kriterium der „Echtheit" der einzelnen Strophen wegfallen
müste; denn die Aenderung der Reime muste uoth wendig auch
eine grössere oder kleinere Aenderung im Innern der Verse mit
sich bringen.
Es führen aber wirklich die Reime des Nibelungenliedes
auf eine solche Umarbeitung. Die Besonderheiten des Reims,
welche zu dem Schlüsse auf eine solche l)erechtigen, sind
1) die ungenauen und alterthümlichcn Reime,
welche im Nibelungenliede noch erhalten sind,
2) die Abweichungen der beiden Bearbeitungen
im Reime auch wo beide genau reimen.
1) Zu den erhaltenen Alterthümlichkeiten in den
Reimen gehören:
a) Die stumpfen Reime, in denen die eigentliche
Reimsilbe nicht die letzte, sondern die drittletzte
ist, wie Ilätjenc, siujene u. ä. ; dieselben sind theils genau,') theils
ungenau,^) letzteres an den meisten Stellen nur in einer von
beiden Bearbeitungen. Die grössere Schwere der Endsilben, die
sich in diesen Reimen zeigt, ist im dreizehnten Jahrhundert
nicht mehr vorhanden. Die ungenauen Reime dieser Art sind
bald consonantisch, bald vocaliseh ungenau. In den meisten
Fällen lässt sich nicht erklären, wie eine der beiden Bearbei-
tungen dazu gekommen sein sollte, den genauen Reim der an-
dern in den ungenauen eigenen zu verwandeln. Es ist vielmehr
die einzig mögliche Erklärung dieser Ditferenzen die, dass
beiden Bearbeitern ein noch in freieren Reimen ver-
fasstes Original zu Grunde lag, dass beide Bearbei-
ter diese freien Reime beseitigen wollten, dass je-
doch beide diss nicht consequent t baten.
b) Die zweisilbigen, scheinbar klingenden Reime,
wie md'rv : irdju"^ in der strophischen erzählenden Poesie des
dreizehnten Jahrhunderts bilden dieselben nur eine Hebung,
im Nibelungenliede noch, wie früher, zwei Hebungen. Doch
ist dieser Beweis für das höhere Alter desselben nicht stringent,
') So Hntjenc : trdijenc , : (hnjeite, : jäyene, : sdyciie, : ersbigcni,
: kldijenc; degen'c : engcgene, : zegegeni'.
8) So Hägcnl: : hdhen'c , : gddeini' . : de'genc, : zes/hnetii', : menegi';
also in beiden Fallen fast lauter Reime auf den Namen Hdgenc.
1. Die Handschrifteufrage. Die vorhandenen Theorieeu. 43
da in der volksthüralicheii lyrischen Poesie der klingende Reim
auch später noch als zwei Hebungen zählte.')
Jene ungenauen Reime weisen in eine Zeit zurück, wo über-
haupt die Reimfreiheiten noch häutiger waren; es ist nicht denk-
bar, dass nicht noch mehr solche im Original gestanden wären.
Dieselben blieben, während sonst die Reime geglättet wurden,
unverändert stehen, weil auf den häutigen Namen Ihujenc '") ge-
naue Reime nicht immer zu finden waren.
c) Auch an den gewöhnlichen stumpfen Reimen zeigen
sich Spuren der Alterthümlichkeit. Hieher gehören vollere For-
men der Flexionsendungen,") auch ungenaue Reime, welch
letztere aber nie in beiden Bearbeitungen stehen.'-) Es ist ganz
wohl denkbar, dass noch ein Dichter der späteren, genau reimen-
den Zeit auf einen freien Reim verfiel; aber undenbkar ist, dass
ein Bearbeiter einen ihm vorliegenden genauen Reim in einen
9) Besonders häufig sind diese klingenden Reime in C, namentlich in
den Plusstrophen von C (\\ mal gemeinsam, S mal \nL\ worunter 7 Plus-
strophen); diss könnte einen Beweis für die Echtheit derselben abgelien,
wenn nicht sonst deren Unechtheit wahrscheinlicher wäre. C brachte diese
klingenden Reime in seinen Plusstrophen an, weil der Bearbeiter V sie in
seiner Vorlage schon fand; „er hielt sie eben für unanstössig und suchte
durch sie eine Abwechselung hineinzubringen, wie sie die gewöhnlichen Reim-
paare, bei denen das Verhältnis von stumpfen und klingenden ein ganz
gleiches wie im Nibelungenlied ist, ebenfalls haben- (Bartsch, Unters. 9).
10) Auf den (s. not. 7. S.) sich diese dreisilbigen Reime fast alle be-
schränken.
11) Partie, prft-ter. in-(>? — 953, 3 ; lü'-d, 3 —kommen allerdings bei öster-
reichischen Dichtern noch später vor. noch viel später bei alemannischen;
aber wo, wie beim N. L. , alles auf das 12. Jahrhundert weist, dürfen sie
mit als Zeugnisse für höheres Alter gelten. Superl. m-dst ( I4()f), 1 ; 19.57, 2j ; kom-
men bei österreichischen Dichtern im 13. Jahrhundert nicht mehr vor, bei ale-
mannischen noch im 13. 14. [S. dagegen Zarncke, Ausg. CXIII ** und ***;
auch Beitr. VIII, wo überhaupt die österreichische Abstammung des Liedes
bestritten wird.]
12) Vocalische Ungenauigkeiten: Genial : t not -lO'So, 1, eine im
12. Jahrhundert nicht seltene Bindung; C änderte. Cons onan tische (im
13.— 15. Jahrhundert noch vorkommend, hier aber Zeugnisse für höheres
Alter): wi : H (13. Jahrhundert nicht selten) in si/n : fnun, und sonst i22b, 1
(nicht in ('/); 1637. 2 in a\ 1511. \ va. B allein gegen alle andern, welche
unabhängig von einander auf einen genauen Reim kommen konnten [doch
hat Bartsch in seiner Ausgabe die Lesart von CA aufgenommen]: 327 in /;
h:g 717, 1 in C\ 2118, 2 AJ gegen BCD, aber falsch; einmal falsch in Z>;
c : t 769, 4 in A, 2209. 1 /, beidejnal entstellt : aber echt sind ganz sicher
die Stelleu 717, i (C echt) und I22t3. 1 [AB DJ echt.
44 I- Die Entstehung des Nibelungenliedes.
ungenauen geändert hätte, was man annehmen muss, wenn man
eine Bearbeitung direct aus der anderen stammen lässt.
2) Auf dasselbe Resultat führt die Ijetrachtung der vielen
Fälle, wo beide Bearbeitungen im Reime abweichen
und beide genau reimen. Meist weicht nur der Ausdruck
ab, während der Sinn derselbe ist, so dass ein Grund zur Aen-
derung aus der einen Lesart in die andere nicht abzusehen wäre.
Besonders die Anhänger von .1 lassen Ueberarbeitmigen am
Nibelungenliede statttinden, wie sie in der ganzen udttelalter-
lichen Litteratur unerhört sind. Denn bei allen uns bekannten
Umarbeitungen sind Gründe der Form ,'^) nicht des Inhalts, gel-
tend, vor allem aber die ungenauen Reime der Originaldich-
tungen. Es wäre ein grosser Theil der Schwierigkeiten gehoben,
wenn man auch für das Nibelungenlied formale Gründe der
vielfachen Aenderungen annähme. Dieselben werden, nach den
Fingerzeigen, welche die noch erhaltenen Assonanzen
geben, wesentlich in Assonanzen der Vorlage zu suchen sein.
Die Reimabweichungen classificieren sich unter folgende Fälle :
1) Der in die Augen springendste Fall'') ist der, dass beide
Bearbeitungen für sich genau reimen, dass aber ein Vers der
einen auf einen der anderen assoziiert. '^) In diesem Fall ist am
einfachsten anzunehmen, dass eben diese Assonanz den ur-
sprünglichen Reim darstellt.'^)
13) Entweder die ungenauen Reime des Originals, welche zum Theil
noch im 12., zum Theil im 13. Jahrhundert entfernt wurden; oder mund-
artliche Eigenheiten; oder veraltete Ausdrücke im Reim, diss besonders in
den Abschriften des 1.5. -Jahrhunderts.
14) 16 Beispiele.
15) S c h e m a [rt ; rt = genauer Reim ;«:// = Assonanz ; a^ .- a, und a„ .■ a,,
= zwei Reime von gleichem Klang, aber mit verschiedenen Reimwörtern]:
I. {AB) II. iC)
a b
a b
Z.B. Str. 133(j, l B Des willen in ir herzen kom si vil selten abe,
si (/edaltt •ich bin so riche und hän so gruze habe.
C Daz si <laz rechen muhte, des wunschtes alle tage:
'ich bin nu wol so riche, stvem iz auch missehage.
U>) Somit Schema für das Original:
•{ , oder {
\b \a
In dem angeführten Beispiel 1330, 1. 2. also:
Daz si daz rechen möhte, des wunschtes alle tage.
si gedähl 'ich bin so riche und hän so grdze habe'.
1. Die Ilandschriftenfrage. Die vorhandenen Theorieen. 45
2) Ein weiterer, einfacher, aber minder sicherer Fall'") ist
der, dass beide Bearbeitungen in dem einen Reimworte stim-
men, in dem anderen nicht. In dem Fall,'*) wo das erste Reim-
wort gleich ist, wird natürlich am wahrscheinlichsten sein, dass
dieses Reimwort im Original stand, das aber ungenau darauf
gereimt war.'^j Ebenso in dem Fall,-**) wo das zweite Reim-
wort gleich ist.-')
3) Selten") ist der Fall, dass beide Reimwörter in den
Bearbeitungen verschieden sind, al)er denselben Reimklang ha-
ben;"^) hier ist die Herstellung des Originals noch schwieriger,
da kein gemeinsames Reim wort vorhanden; als wahrscheinlich
17) 159 Beispiele.
1^) 117 Beispiele; Schema:
I. II.
a a
a, a,,
Z. B. Str. 32, 3 B Der wirt der hiez dd sidelen vil manegen küenen man
ze einen sune/renden, dd Sifrit ritters namen r/ewan.
C ze einen simewenden. dd er die hdcJtzil tvolde htm.
19) Schema für das Original:
\l
In dem angeführten Beispiel 32, 3. 4:
Der ivirt der hiez dd sidelen vil manegen küenen man
ze einen suneweudcn, dd sin sime stvert genam.
20) 42 Beispiele.
21) Schema:
I. IL
a, a„
a a
Z. B. Str. 213, 3 B An den küenen Sahsen, der man vil ?vunder sach;
hei 7vaz da lichter ringe der küene Dancwart zehrach:
C 3: An den küenen Sahsen, die dolten ungemach.
4 wie B.
Schema für das Original:
In dem angeführten Beispiel:
An den küenen Sahsen, swie vil der was ;
hei 7vaz dd lichter ringe der küene Dancwart zebrach !
22) 7 Beispiele.
23) Schema:
I. IL
a,' a„
a, a„
46 I. Die Entstehung des Nibelungenliedes.
ist aber doch anzunehmen, dass der Klang beider oder eines
Reimwortes derselbe war."-')
4) Weit häutiger ist es, dass beide Reimwörter verschieden
sind und zugleich verschiedenen Klang haben.-'^) Hier ist die
Herstellung am leichtesten, wenn der Gedanke nach beiden
Lesarten dersell)e ist;--) weicht derselbe ab, so ist sie schwie-
riger, doch nicht unmöglich.^')
Z E. Str. S7, .3 B So 9vil ich rvol yeloubeit, swie cz dar umhe stät,
daz ez si der recke, der dort so her/ichen gut.
C sd wil ich wol (jetrouwen, swiez sich yefüeget hat,
so ist ez der recke, der dort so haiichen stat.
Str. 532, 1 B Sehs und ahzec frourven such man für gm,
die gehende iruogen. zuo Kriemhilde dan
körnen die vil schöne.
V Sehs und ahzec frourven hiez man komen dan,
die gehende truogen, zuo Kriemhilde st an;
dö körnen die vil schoenen.
Str. 6SS, .'{ B Mit shien hergesellen, Guntheres man.
Geren den vil riehen hat man an den sedel gdn.
C und sine hergesellen, hl der hende dan
KricinhiU fuorte Geren: daz was durch liehe getan.
24) Mögliche Schemata für das Original:
a, a,, j a, j a„ ) b ) h
a„ a, \h \h ]a,\ a„
Von diesen möglichen Schematen hat indessen Bartsch nur das erste, zweite
und sechste angewendet , indem er ST, 3. 4. stat : stat, 532, 1 . 2. dan : dan
reimen lässt und OSS, 3. 4. so herstellt:
mit sinen hergesellen, hl der hende nam
Kriemhilt den riehen Geren: daz was durch liehe getan.
25) Schema:
1. II.
a h
a h
Von den vielen Beispielen sei nur Str. 8", 1. 2. angeführt:
B Also sprach dö Hagene u'ih wil des wol verjehen,
swie ich Sifriden nie mere hau gesehen''.
C Also sprach dö Hagene 'als ich mich kan verstan,
swie ich Sifriden noch nie gesehen hau' ;
wo Bartsch so restituiert:
A/sö sprach dö Ilagene 'ich muc daz wol sagen,
swie ich Sifriden nie gesehen hahe.
26) So Beispiele.
27) 46 Beispiele; in 19 Fällen will hier Bartsch das Original mit Sicher-
heit herstellen, in 27 nur mit einiger Wahrscheinlichkeit errathen können,
zumal da hier nicht mehr zu entscheiden ist, inwieweit bei den Aenderungen
der Bearbeitungen die Rücksicht auf den Inhalt mitwirkend (oder allein
wirkend) war. Im Wesen der Assonanz als eines freien Reims liegt es
1. Die Haiidschriftenfrage. Die vorhandenen Theorieen. 47
Dass mit der Entferining: der alten Assonanzen die beiden
Bearbeiter auch in der Darstellung des Gedankens aiiseinander-
giengen, ist nicht zu verwundern. Bei anderen Fällen dopjjelter
Umdiehtung findet sieh dieselbe Erscheinung. Eine solche Ana-
logie bieten unter verschiedenen anderen die Umdichtungen von
des rtaffen Konrad Karl einerseits durch den Stricker, an-
dererseits durch den niederrheinischen Dichter, dessen Werk in
die Compilation des Karlmeinet autgenommen wurde.-*) Ein
anderes Beispiel ist die Kaiserchronik mit ihren beiden Um-
diclitungen aus dem dreizehnten Jahrhundert. Die im Nibelungen-
liede erhaltenen und die aus den Reimditferenzen mit Sicherheit
folgenden Assonanzen weisen auf eine Zeit, die dem Jahre 1150
näher liegt nh dem Jahre 1 19(). In dieselbe Zeit etwa weisen
auch die im Liede noch besonders häufig erhaltenen, weil von
den Bearbeitern nicht beachteten, ungenauen Cäsur reime;
solche sind auch in anderen Gedichten des zwölften Jahrhun-
derts nachweislich.-^) Gereimt wnirde die Cäsur in der Kegel
nicht; wo sich aber von selbst ein Reim ergab, wurde derselbe
nicht vermieden. Obgleich sich daher auch in späteren Ge-
dichten zufällig noch ungenaue Cäsurreime finden, so werden
dieselben doch im Nibelungenliede nicht für zufällig, sondern
für Zeugnisse einer älteren Form gelten dürfen. Auch die ge-
nauen Mittelreime, soweit sie beiden Bearbeitungen gemeinsam
sind, sind als ursprünglich zu betrachten ; sind sie nicht gemein-
sam, so gehören sie mit Wahrscheinlichkeit dem betr. Bearbeiter
an, da die späteren Bearbeitungen, w^ie überhaupt die spätere
Zeit, den Cäsurreim als einen Schmuck der Darstellung lieben
und häufiger anwenden. Darauf weist auch hin, dass die Zahl
der nur in den einzelnen Bearbeitungen vorkommenden genauen
Cäsurreime die der beiden gemeinsamen weit überwiegt.^")
überdiss. dass auf einen Eeimklang eine Menge von ähnlichen Klängen
assonieren können; daher ist die Herstellung der Assonanzen nie ganz sicher;
da aber der Sinn [und, kann man hinzusetzen, der an "Wortreichthum arme
Stil des Volksepos] eine Menge von Wörtern ausschliesst, so ist eine zu
grosse Abweichung vom Original für die Conjecturalkritik nicht zu befürchten.
2S) Der Stricker dichtet freier um, der nrh. Dichter getreuer; ähnlich
ist das Verhältnis zwischen (' und der vulgata.
29) Kürenberg; Meinloh von Sevelingen.
Mii) Beiden Bearbeitungen gemeinsam sind die genauen Cäsurreime
etwa 41 mal; in I allein linden sich IS, in 11 allein bis '22, in den Plus-
strophen von C -15 ; somit sind die nicht gemeinsamen mehr als das Doppelte
48 I- Die Entstehung des Nibelungenliedes.
Das Ergebnis der Untersucliuiig über die Reime ist also
dieses. Weder die eine noch die andere Bearbeitnng- repräsen-
tiert das Original, sondern beide enthalten eine wegen der nn-
genauen Reimformeu des Originals, das aus dem zwölften Jahr-
hundert stammt, vorgenommene Ueberarbeitung. Beide Bearbei-
tungen fallen so ziemlich in dieselbe Zeit, beide Bearbeiter
waren inconsequent, indem beide mitunter eine Alterthümlichkeit
im Reime stehen Hessen; eine Ineonsequenz, welche auch bei
den meisten analogen Umarbeitungen jener Zeit^'j hervortritt.^-)
Als Grundsatz der weiteren Vergleichung beider Be-
arbeitungen unter sich und mit dem Original muss
natürlich gelten, dass, Avas der zweiten Bearbeitung mit der
ersten, namentlich mit BD, gemeinsam ist, in der ursprünglichen
Form erhalten sei. Weniger wichtig ist die Uebereinstimmung
der Bearl)eitung C mit J und den dieser verwandten Hand-
schriften, da diese von dem Einflüsse jener Bearbeitung nicht
ganz fi-ei sind.
AVeiterhin sucht Bartsch das Verhältnis der Bearbeitungen
unter einander und zu ihrem Original festzustellen durch die Be-
trachtung der metrischen Gesetze des Kibelimgcnliedes,
welche hinwiderum wesentlich auf das schon erkannte Verhältnis
der Handschriften gebaut werden. In diesem Theile der „ Unter-
suchungen'' werden sehr schöne und eingehende metrisch-rhyth-
mische Bemerkungen dargeboten; aber relativ wenig bietet der-
selbe in seinen ersten Abschnitten für die Erkenntnis des Hand-
schriftenverhältnisses, Dagegen sind die letzten Ai)schnitte der
metrischen Untersuchungen in dieser Beziehung um so wichtiger,
da in deusell)en derjenige Punct der ]\Ietrik besprochen wird,
welcher einen wesentlichen Unterschied zwischen den Bearbei-
tungen bildet, das Vorhandensein oder Fehlen der Senkungen.
Das Verhältnis der jüngeren Texte zum Original zu ergrün-
den, gibt es kein besseres Mittel, als die Betrachtung ihrer metri-
schen Beschaffenheit, welche zwar bei den Dichtern jener Zeit
der genieiusameu. Dagegen ist die ZaLl der gemeinsamen ungenauen
Cäsurreime mehr als das l'ifache der nicht gemeinsamen.
31) S. Bartsch in Pf. Germ. XIII. Seite 217 tf.
32) Bei diesem Verhältnis der Bearbeitungen begreift es sich auch leicht,
dass beide bisher einander gegenüberstehenden Parteien. Lachmaunianer und
Holtzmannianer, genug Beweisgründe für sich aufbringen konnten, da wirk-
lich jede Bearbeitung manchmal das Echte erhalten hat.
1. Die Handschriftenfrage. Die vorhandenen Theorieen. 49
im allgemeinen den gleichen Gesetzen folgt, deren Anwendung
aber und deren Ausl)ildung im Einzelnen doch von dem feine-
pen oder gröberen Getiihlc der einzelnen Dichter abhängig sind.
Ein den hochdeutschen Dichtern jener Zeit gemeinsames
Gesetz ist das der Einsilbigkeit der Senkung. Von dieser
Einsilbigkeit darf nur der Auftact eine Ausnahme machen,
ihm ist Zweisilbigkeit, ja Dreisilbigkeit gestattet; an den an-
deren Stellen des Verses werden stets zweisilbige Senkungen
entfernt. Der Betrachtung der Mittel, durch welche diss ge-
schieht, und der Betrachtung des Auftacts widmet Bartsch die
Abschnitte a) — n) seiner metrischen Untersuchungen.
Die einfachsten Mittel zur Entfernung zweisilbiger Senkun-
gen sind die Ausweifung a) eines kurzen, unbetonten Vocals (e)
am Ende eines "Wortes, d. h. Apokope, b) die eines solchen
in der Mitte des Wortes, d. h. Synkope.
c) Verschleif uug zweier e. in der Senkung zu einer
Sillje soll nach Lachmann erlaubt sein; eine Behau])tung, welche
sich nur auf den rohen, zu keinen metrischen Schlüssen berech-
tigenden Text von ^1 gründet ; vielmehr sind Wörter von der
Form - ^^ (wie krpftef/e u. ä.) stets rhythmisch zu lesen '\ -J^^)
d) Werden zwei unbetonte e durch eine Liquida ge-
trennt, so ist im gewöhnlichen Mhd. des dreizehnten Jahrhun-
derts das zweite e stets stumm; im Nibelungenliede dagegen
finden sich noch vielfache Spuren des älteren, noch im zwölften
Jahrhundert herrschenden Gebrauchs, beide e lauten und das
erste hebungsfähig sein zu lassen.^^)
e) Verse hie ifung auf der Hebung ist ganz unbedenk-
lich hei zwei kurzen Sill)en, deren erste den Hochton und deren
zweite unbetontes (stummes) e hat; auch hier ist im gewöhn-
lichen Mhd. die Auswerfung dieses e Kegel, wenn eine Liquida,
namtlich / oder r, vorhergeht; im Nibelungenliede ist diss noch
nicht der Fall.'"')
33) C sucht bei solchenWörtern die Senkung zwischen der hochbetonten und
der tiefbetonten Silbe nicht selten auszufüllen (s. u ). Schon hier zeigt sich
beträchtliche Verschiedenheit zwischen Bearbeitungen und Original, wie zwi-
schen den Bearbeitungen unter sich. Der Dichter selbst ist am strengsten;
A ist am laxesten.
34) Im gewöhnlichen Mhd. z. B. andern = / w; im 1 2. Jahrhundert und
noch im N. L. anderen = /\ -.
35) Liliencrons Behauptung, däss C die Verschleifung auf der Hebung
nicht liebe, ist falsch; denn V hat sie mitunter, wo sie in I fehlt.
Fischer, Nibelungenlied. 4
50 I- Die Entstehung des Nibelungenliedes.
f) Weiterhin dient zur Einsilbigmaeliung der Senkung- die
Anlehnung kurzer Pronomina an betontere Wörter.^^)
g) Ein weiteres Mittel für diesen Zweck ist die Elision,
welcher h) der Hiatus gegenübersteht; oft ist zweifelhaft, ob
auf der Hebung zu elidieren oder Hiatus anzunehmen sei; im
allgemeinen spricht der Gebrauch der guten Dichter mehr für
das Erstere.^')
i) Unter den Fällen, wo Elision eintritt, ist besonders her-
vorzuheben der, dass dadurch ein einsilbiges Wort Auttact, erste
Hebung und erste Senkung vertritt, was bei wirklich einsilbigen
Wörtern häufig ist, unter gewissen Bedingungen, welche aus
dem logischen Werth des Wortes sich ergeben.^**)
k) Von der Regel der einsilbigen Senkung macht, wie be-
merkt, der Auftact eine Ausnahme, indem hier Zweisilbigkeit
unter gewissen Bedingungen gestattet ist; dreisilbiger Auftact ist
sehr selten.^') 1) Der Auftact der zweiten Vershälfte hat im
Wesentlichen dieselbe Behandlung, wie der der ersten. Bei
vocalischem Auslaut der ersten und vocalischem Aidaut der
zweiten Vershälfte tritt häufig Synalöphe ein, wodurch zweisil-
biger Auftact vermieden wird. Es finden sich aber auch wirk-
lich zweisilbige Auftacte in der zweiten Vershälfte. '*)
m) Zur Herstellung des richtigen Verhältnisses zwischen
Hebungen und Senkungen dient ferner die logisch und gramma-
ticalisch unrichtige Betonung nicht nur einzelner Wörter
(z. B. z- irischen der wende ujid einen schrin 620, 4). sondern
auch kleinerer Wortgruppen (z. B. duz sin sun körnen irölde
36) C hat meistens das Richtige.
37) Den Hiatus auf der Cäsur scheint C einigemal zu entfernen.
3S) Ä hat auch gegen diese Eegel die meisten Verstösse.
39) Einige Fälle von schwerfälligem Auftact werden meistens in C ver-
mieden, der z. B., dass der Auftact durch 2 einsilbige Wörter gebildet wird,
von denen das erste besonders starkes logisches Gewicht oder das zweite
stärkeres als das erste oder dritte hat. Dagegen hat C allein einige schwe-
rere Fälle des Auftacts, wie den, dass ein zweisilbiges ^Yort den Auftact
bildet, dessen zweite Silbe stärker betont ist als die erste; ebenso findet
sich ein dreisilbiges Wort mit Elision der dritten Silbe im Auftact in einer
Plusstrophe von C (ISIT''), und endlich zwei fehlerhafte Fälle von dreisilbi-
gem Auftacte (1597, 2; S76, 1).
40) Die Bearbeiter suchen, gegen den Gebrauch des Dichters, der hier
zwischen erster und zweiter Vershälfte keinen Unterschied macht, die Un-
regelmässigkeiten in der zweiten einzuschränken, offenbar damit nicht der
Unterschied zwischen der 2. 4. 6. und der ^. Halbzeile durch zu grosse Aus-
dehnung der drei ersteren verwischt werde.
1. Die Haudschriftenfrage. Die vorhandenen Theorieen. 51
648, 2 BD] su'd diu tier hine (jänt 857, 3; Kürenb. 8, 7 er
müoz mir diu laut ri/mhi), nach Lachmann „schwebende Be-
tonung" genannt/')
n) In die letzte Senkung des Verses können nur solche
zweisilbige Wörter lallen, die im Mlid. des dreizehnten Jahrhun-
derts der Regel nach einsilbig sind.'-)
Die zweite Hälfte der metrischen Untersuchungen ist weit
wichtiger tiir die Erkenntnis des Handschriftenverhältnisses, und
soll daher hier eingehender behandelt werden. Sie beschäftigt
sich mit denjenigen Fällen und Stellen des Verses, wo eine
Senkung fehlen darf; Bartschs Resultat ist, dass beide Be-
arbeitungen, im höchsten Grade aber C, die Senkungen auszu-
füllen suchen,^^) die im Original unausgeftillt waren.
o) An und für sich kann die Senkung an jeder Stelle des
Verses fehlen; aber einige besonders charakteristische Fälle sind
hervorzuheben. Alle Senkungen einer Halbzeile fehlen im ge-
meinsamen Texte nicht, die meisten Stellen dafür finden sich
nur in A, und zwar meist fehlerhaft. Zweifelhaft ist auch, ob
bei vorhandenem Auftacte die Senkungen alle fehlen dürfen.
Dagegen ist häufig, dass der Halbvers nur eine einzige
Senkung hat. Es gibt dafür zwei Fälle: entweder die Sen-
kung steht nach der zweiten Hebung^') oder sie steht nach der
ersten.'^) Im letzteren Falle liebt es der Dichter namentlich
dreisilbige, antibacchische Wörter vor die Cäsur zu setzen.'^)
Erwähnung verdienen dreisilbige an dieser Stelle stehende Wör-
ter, deren zweite Silbe ein e hat, so namentlich participia praj-
sentis, welche seit dem Ende des zwölften Jahrhunderts nicht
mehr als klingende Reime verwendet werden.^') Schliesst die
411 Die Hss. entfernen diese Freiheit gern; namentlich entfernte häufig
die schwebende Betonung solcher Wörter, deren zweite Silbe kein ton-
loses e hat.
42) Die Bearbeitungen unterschieden sich hier kaum merklich vom Ori-
ginal; nur A zeigt wider ihre Unkenntnis der metrischen Gesetze.
43) Hieher Nr. o — q der metrischen Untersuchungen.
44 1 Vordere Vershälfte = //\-/;;
hintere Vershälfte = / / ^ / .
45) Vordere Vershälfte = /^///;
hintere Vershälfte = / -^ / /.
4(1) Vor allem Namen von der Form — ^ ; von Appellativen besonders
oii junc fr oxüve; adjj. auf -liehe und Zusammensetzungen mit un-.
47) [S. Holtzmann. Unters. 71;- Bartsch, Unters. 136, not. 2. Eine Alter-
thümlichkeit sind diese Formen allerdings, insofern sie in das zwölfte Jahr-
4*
52 I- I'ie Entstehung des Nibelungenliedes.
vordere Vershälfte mit einem zweisilbigen Worte, so darf ein
demselben vorangehendes einsilbiges betont werden, wenn es
mindestens gleich hohen Ton mit dem folgenden hat,'^) so dass
hier grammaticalisch und logisch tonlose Wörter vor einer höher
betonten Silbe ausgeschlossen sind. In der zweiten Vershälfte'")
stehen, wenn die einzige Senkimg nach der ersten Hebung steht,
zwei Hebungen am Schlüsse; diss ergibt, wenn dieselben durch
ein zweisilbiges Wort mit betonter Penultima gebildet werden,
die schein])ar klingenden Reime.'°) Schliesst aber der Vers
mit einem einsilbigen Worte, so muss die vorangehende Silbe,
um ohne dazwischentretende Senkung an dieser Stelle stehen
zu können, einen mit der folgenden mindestens gleich hohen
logischen Ton haben.
p) Noch in viel hJiherem Grade als bei allen anderen Halb-
zeilen zeigt sich das Bestreben, die Senkung zwischen der zwei-
ten und der dritten Hebung auszulassen, in der achten Hall)-
zeile, deren Behandlung, wenigstens für die Handschriften-
frage, weitaus der wichtigste Punct von Bartschs metrischen
Beobachtungen ist. Auch hier besteht das Verhältnis, dass, wenn
zwischen zweiter und dritter Hebung die Senkung fehlt, die
zweite Hebung mindestens gleich hohen logischen Ton mit der
dritten haben muss ; so dass ein ungemein häufiger Fall der ist,
dass diese beiden Hebungen auf ein Wort fallen. Die Structur
verändert sich je nach der Silbenzahl des Wortes, das den Vers-
schluss bildet. Häufig ist, dass ein einsilbiges Wort am Schlüsse
steht, welchem ein dreisilbiges mit der Betonung A ^ vorangeht,
dessen zweite Silbe jedoch auch ein unbetontes e sein kann,
das durch den Versbau Betonung erhält.^') Ferner kann der Vers
hundert zurückweisen, und in dieser Hinsicht ist Müllenhotfs Heispiel der
Betonung vHcrjcnde unrichtig: aber eine grössere Alterthümlichkeit als die,
welche in der Behandlung später klingender Reime als zweimal gehoben
liegt, sind sie nicht; und vielleicht hat Müllenhoff das gemeint.]
48) Ueberhaupt ist nach Bartsch Regel, dass eine Senkung zwischen
zwei Silben nur dann fehlen darf, wenn die erste logisch mindestens ebenso
betont ist wie die zweite.
49) Abgesehen von der des vierten Verses.
50) Welche aber vielmehr 2 Hebungen bUden; dieselben erscheinen im
dritten und vierten Verse nicht, s. Bartsch, Unters. 149 150.
51) Somit ist zu lesen (Str. .3, 4):
zierten (indcriu fvip , nicht wie Lachmann wollte: zierte» nnden'u ivtp. —
Ausserdem stehen an dieser Stelle sehr häutig adjj. auf liehe, wo C gegen-
1. Die Handschriftenfrage. Die vorhandenen Thcorieen- 5S
mit einem zweisilbigen, jambisch betonten Worte schliessen,
dem ein zweisilbiges, trochäisch betontes mit langer Penultima
vorangeht. C weicht hier öfters von der Form mit fehlender
Senkung ab,'^) auch die andere Bearbeitung manclnnal.
In allen diesen Fällen kann über den Rhythmus kein Zweifel
sein : es fehlt deutlich die Senkung zwischen zweiter und dritter
Hebung. Schon die miter die beiden aufgezählten Fälle gehö-
renden zahlreichen Stellen würden darlegen, dass, wenn über-
haupt eine Senkung ausgelassen werden soll, die Auslassung
an dieser Stelle als Regel gilt. Es wird auch dann über
diese Betonung kein Zweifel herrschen können, wenn die zweite
Hebung auf ein einsilbiges Wort fällt, Avelches logisch höher
betont ist als das folgende.'^)
Es fragt sich aber, ob die Senkung nicht auch an einer^
anderen Stelle des achten Halbverses fehlen könne. Wäre das
Fehlen derselben zAvischen erster und zweiter Hebung
erlaubt, so Avürden sich ohne Zweifel solche Fälle finden, in
welchen auf ein die erste Hebung allein einnehmendes Substantiv
oder Adjectiv die Partikel iinde folgen würde.^^j Diss ist auch
der Fall in A 264; allein da dort die besseren Handschriften
abweichen, so ist die Lesart von .4 als durch blosse Nachlässig-
keit entstanden zu betrachten. Auch sonst finden sich die
meisten Fälle nur in .4, und alle Fälle dieses unerlaubten Ge-
brauches lassen sich beseitigen. Zwischen dritter und
vierter Hebung, wo in der zweiten, vierten und sechsten Halb-
zeile die Senkung fehlt,'' ) fehlt sie in der achten Halbzeile nie ; ^'^j
darum sind auch die klingenden Reime auf die erste und zweite
Zeile beschränkt.
über von 111 gemeinsamen Fällen 51 mal glättet oder die Bearbeitungen
stärker abweichen (s. auch Bartsch in Pf. Germ. XIII, 227); auch adjj. auf
—ige\ ferner sehr häutig Namen von' der Form i\ w.
52) An S9 Stellen gegenüber von 300 gemeinsamen.
h'.\) Z. B. gab er ros ünt gewünt; überhaupt diejenigen Fälle, in denen
auf die zweite Hebung ein einsilbiges Substantiv (oder Adjectiv) fällt, dem
die Partikel unde nachfolgt.
54i Was in den anderen Halbzeilen häufig der Fall ist.
55) D. h. in zweiter, dritter und sechster Halbzeile zwischen der zwei-
ten und dritten Hebung, so dass am Schluss sich zwei Hebungen folgen.
•5ti) Allerdings finden sich am Schluss der achten Halbzeile in C die
Worte Dietrich und spthuän; aber diese sind dreisilbig zu lesen [s. die Con-
troverse zwischen Bartsch und Zarncke, Pf. Germ. XIII, 231 und 447 f.];
in/ steht falsch ivhjanl; mABD helmhant, was aber zu lesen hi hehnebant.
54 !• Die Entstehung des Nibelungenliedes.
Kanu aber eine einzige Senkung nur an einer Stelle dieser
Halbzeile fehlen, so gibt es nur einen Fall, in welchem das
Fehlen mehrerer Senkungen erlaubt ist, wenn nemlieh die drei
ersten Hebungen der achten Halbzeile auf ein Wort fallen,
dessen Betonung in absteigender Linie geht (z. B. Str. 1997, 4:
der 7nört(irrmtn)(je mdn)-^ aber keiner der Fälle ist gemeinsam.
Das Resultat dieser Untersuchung ist, dass für den achten
Halbvers nur zwei Formen zulässig sind: entweder
werden alle Senkungen ausgefüllt oder wird die
zwischen zweiter und dritter Hebung ausgelassen.
Wichtig ist aber dieser Punct für die Handschriftenfrage da-
durch , dass nach Bartsch der Dichter die entschiedene
Neigung hat, jene Senkung auszulassen, die Be-
.arbeiter aber, und ganz besonders C, dieselbe aus-
zufüllen suchen.") Es hat aber die Erscheinung, dass die
Senkung gerade nur an dieser Stelle fehlen darf, ihren Grund
in der musicalischen Wirkung des Strophenschlusses, welcher
durch diese Form etwas feierlich Verhallendes erhält.
Die Untersuchung, welche Lachmanns Metrik in einem
wesentlichen Puncte als falsch darstellt, beweist zugleich die Roh-
[Das Mhd. 'Wörterbuch führt nur hehnbant , nicht helmehant an; da aber
auch helme, als schwaches subst., vorkommt, so ist letztere Form be-
rechtigt; sie wird ausserdem durch andere Compositionen mit hebne-
gestützt.]
57) Bartsch sucht diss an einigen statistischen Zahlen nachzuweisen:
Beide Bearbeitungen haben die Senkung nicht 913 mal;
Dazu die Fälle, wo ein e zu elidieren hl mal;
C füllt aus etwa 210 mal;
Beide Bearbeitungen weichen im Texte ab. füllen aber nicht aus 5."J mal;
I füllt aus. C nicht 33 mal;
Dasselbe bei abweichendem Reim 20 mal;
I füllt nicht aus bei abweichendem Reim 71 mal;
Zusammen 1352
Fälle, wo für das Original die Form mit fehlender Senkung vorausgesetzt
werden darf; wahrscheinlich ist nun, dass, wo die Originalform verloren ist,
dieselbe die Form mit fehlender Senkung gehabt habe. Bei abweichendem
Reime haben grossentheils beide Bearbeitungen die Senkung ausgefüllt, nem-
lieh S7 mal, wobei die Form mit fehlender Senkung für das Original höchst
wahrscheinlich ist; dasselbe wird auch gelten, wenn die Bearbeitungen bei
beiderseits ausgefüllter Senkung anderswo als im Reime abweichen, was
S6 mal der Fall ist. die Addition dieser S7 -}- S6 = 173 Stelleu zu den
obigen 1352 ergibt 1525 Stelleu. wo die Senkung im Original gefehlt haben
wird, also etwa zwei Drittel aller Strophen.
1. Die Handschriftenfrage. Die vorhandenen Theoriccn. 55
lieit der Handschrift A, welche auch noch besonders hervortritt
in dem in .1 häufigen Erscheinen von nur drei Hebungen
in der achten Halbzeile. Dieser Fehler findet sich indes
vereinzelt auch in besseren Handschriften, wobei oft die Halb-
zeiie scheinbar vier Hebungen hat, deren erste al)er zu schwach
ist, um ohne die (fehlende) nachfolgende Senkung eine Hebung
bilden zu können. Gemeinsam ist aber keiner dieser Fälle. Die
Fehler in .4 sind zum grösten Theile durch Auslassung von
Wörtern zu erklären.
Den fehlerhaft verkürzten Halbzeilen stehen auch fehler-
haft verlängerte gegenüber. So vordere Vershälften in .1
und -ß; weit häufiger aber sind die hinteren Vershälften ver-
längert."*) Simrocks Annahme, dass diese Fälle Ueberreste
einer älteren Form seien, welche in allen Halbzeilen vier He-
bungen gehabt habe, ist unrichtig; ebenso die Holtzmanns''),
dass alle Halbzeilen mit klingendem Reim vier Hebungen haben ;
denn wenn so die achte Halbzeile nicht ganz streng von der
zweiten, vierten und sechsten geschieden wäre, so wäre kein
Orund vorhanden, das Vorhandensein von nur drei Hel)ungen
für die achte Halbzeile auszuschliessen ; beides miteinander aber
miiste jeden regelmässigen Strophenbau zerstören.®") Die An-
nahme von vier Hebungen muss also auf einzelnen handschrift-
lichen Fehlern beruhen, was auch durch die Vergleichung der
Lesarten an den betreffenden Stellen bewiesen wird.
9) Der letzte Punct , welcher bei der Untersuchung über das
Fehlen der Senkungen in Betracht kommt, ist die Behandlung
der Cäsur. Dieselbe ist meistens klingend, d. h. zwischen der
dritten und vierten Hebung der ersten Vershälfte fehlt die Sen-
kung in der Regel. Doch ist diss keineswegs immer der Fall,
öS) Der letztere Fall ist nur einmal gemeinsam, Str. 22üit, 2, wo wahr-
scheinlich durch die Annahme einer etwas freiereu Construction im Original,
welche die Bearbeiter zu entfernen suchten, die fehlerhafte Verlängerung
zu erklären ist [s. Bartsch, Unters. 161; anders emendiert Holtzmann, wäh-
rend Zarncke die La. von C beibehält]. Sonst finden sich diese Fälle nur
in einzelnen Hss., bald in einer einzigen (C, .5, /)), bald in mehreren (6'ö, ^^Z>).
59) Holtzmann, Unters. 74.
60) [Holtzmanns Ansicht ist besonders verkehrt; denn auch die klingen-
den Yersausgänge werden im Nibelungenliede zwei Hebungen gleich ge-
rechnet, unterscheiden sich also gar nicht von den stumpfen; somit miiste
Holtzmann consequenter "Weise da-s Vorhandensein von vier Hebungen auch
für die stumpf reimenden HalbzeUen gelten lassen.]
56 I- PJe Entstehuni des Xibelungenliedes. ■
und die Fälle, wo diese Senkung ausgefüllt ist, beweisen, dass
der vordere Halbvers immer vier Hebungen haben muss.'")
Laclimanns Regeln über die Behandlung der Cäsur sind
total verkehrt und beruhen nur auf Fehlem der Handsqhrift ^1.
(Dieselben sind: 1) es können in der Cäsur die dritte und vierte
Hebung auf ein Wort von zwei kurzen Silben fallen;^'-) 2) ein
Wort von zwei verschleiften kurzen Silben kann die vierte Hebung
nur dann bilden, wenn es in Composition als Grundwort steht.)")
— Denn beide Kegeln widersprechen sich in ihren Grundlagen: darf*
komen als einzelnes Wort nur gleich zwei Hebungen gebraucht
werden, wozu unorganische Verlängerung des o nöthig ist, so
ist nicht einzusehen, warum dasselbe Wort in der Zusammen-
setzung, in dem Worte irülekomen etwa, nur eine Hebung
bilden soll. Beide Regeln Lachmanns beruhen, wie bemerkt,
auf den Fehlern von A, welche oft Wörter mit kurzer Penul-
tima in Cäsur setzt, was fehlerhaft auch andere Handschriften,
aber nur vereinzelt, thun.®')
Allerdings gibt es gewisse, aber auch nur gewisse ganz
bestimmte Wörter, deren Penultima verlängert werden darf, um
dieselben in Cäsur setzen zu können; diss sind:
1) Die Namen Günther, Giselher, Sk-rit, wo in der Cäsur
gelesen werden darf: Günthere, Giselhere^. Sivride-/'^) 2) das
GM Abgesehen von den gewöhnlichen klingenden Cäsaren sind hier zu
unterscheiden folgende Fälle:
1) Die Senkung fehlt, aber die letzte Silbe hat einen > betonten Vocab
also stampfe Cäsur: so am häutigsten bei Xamen: Slrrit, Gxnther u. ä. ;
auch die Adjectivendung -iu, welche im zwölften Jahrlmndert noch keinen
klingenden Reim bildet, im dreizehnten nur vereinzelt; ausserdem noch ver-
schiedene andere "VV ortformen an dieser Stelle;
2) die Senkung ist zwar ausgefüllt, aber die letzte Silbe hat tonloses
e: Hagen'e, körnende^ da solche Wörter als klingende Reime verwendet wer-
den, so werden diese Cäsuren als klingend bezeichnet werden dürfen;
3| die Senkung ist ausgefüllt, die letzte Silbe hat kein tonloses e.
Dahin besonders Namen, wie Sujemünt, BUcdelhi u. a. ; auch andere Wör-
ter, besonders solche, die im dreizehnten Jakrhuudert einsilbig sind, im
zwölften aber noch zweisilbig [areheit , spUenum). Dabei darf die letzte
Silbe aus zwei verschleifteu bestehen iivUlekomen), was auch erlaubt ist,
wenn die Senkung vor der vierten Hebung fehlt {vrith6ve)\
4) die letzte Hebung ist ein einsilbiges AVort.
(32) Also z. ß. sihi'H = /\ u. ä. m.
63) Also sivesterstme , aber nicht Hannen sxnxe.
64) BD einmal , D achtmal, J dreimal, C dreimal durch Schreibfehler.
65) C entfernt h — 7 mal gegenüber von über 10 gemeinsamen Fällen
das Wort Sivride aus der Cäsur. [Vgl. Germania XIH, 24o.]
1. Die Haiidschriftenfrage. Die vorhaiKleiicn Theorieen. 57
im Mhd. allgemein so behandelte Wort pälas, ohnehin ein
Fremdwort; 3i das Wort hlttcn,'^^} in welchem die Verdoppelung
des t organisch ist;*'") 4) die Formen //(^tf^ u. s. w. gehören
eigentlich nicht daher, weil fast allen Dichtern mehrere FouBien
des })r}iet. von /tahe/i geläufig sind. Aber diese wenigen Asis-
nahmen bestätigen nur die Regel, nach welcher als dritte und
vierte Hebung der ersten Vershälfte nur ein AVort mit langer
Penultima dienen kann.'")
Das Enjambement in der Cäsur, eigentlich dem Wesen
derselben, als eines Ruliepunctes, zuwider, ist nicht selten, auch
im gemeinsamen Texte. Es fehlt öfters in C, manchmal mit
Recht; am häufigsten ist es in ^4."")
r) Den letzten Theil der metrischen Beobachtungen bei
Bartsch bildet die Behandlung des Reims, soweit sich der-
selbe innerhalb der in der Zeit des genauen Reims erlaubten
Freiheiten hält. Der Reim eines kurzen Vocals auf den ent-
sprechenden langen ist nicht selten ,'°) auch der eines kurzen
Vocals auf einen verwandten Diphthong.'') Nicht unwichtig für
die Handschriftenfrage ist der rührende Reim. Da derselbe
von den guten Dichtern der classischen Zeit meist sorglältig
gemieden wird, so ist er auch im Nibelungenliede nicht häufig.
(')t)) 1193, 1, von CD entfernt.
07) Das Mhd. W. B. (I 16S'') sagt: ..Wenn auch in den Hss. häufig tt
neben einfachem t stellen mag, so entscheidet der Reim doch durchaus für
das einfache ^". ,,Im Präsens ist, wie schon ahd., die schwache Form
eingetreten; es lautet aber nicht mehr, = ahd. p/tjt<, .bitte', sondern viel-
mehr ,bite''\ [S. dagegen Germania XIII, 2o5.]
OS) Den besten Beweis dafür liefert der häufige Fall, dass das zu einem
Substantiv gehörige Adjectiv nachgestellt wird und in die Cäsur tritt, wenn
das Substantiv kurze Penultima hat (so 1078, 2: Kriemhilt ir schaden grdzi'u),
wobei alsdann A aus Vorliebe für die prosaische Wortstellung (s. ö. 41)
das Adjectiv voranzustellen liebt (a. a. 0.: KriemhUl ir grözi:n schaden). Es
ist bekannt, dass das Gefühl für Quantität immer mehr abstarb; daraus,
dass A die Verletzung dieser am häufigsten hat, geht deutlich das junge
Alter und die Unbrauchbarkeit dieser Hs. hervor.
69) Die noch stärkere Verletzung der Abschnitte durcli Hinüberziehen
des Satzes über das Strophenende s. u.
70) Besonders a:a, was auch sonst ganz unanstössig ist, aber von V
2 mal entfernt wird, jedoch sich in einer Plusstrophe von C findet; e : e
i mal in I, 1 mal in C; o ■■ o nur in einer Plusstrophe von C.
71) i:ie ist österreichisch ganz ohne Anstoss; u:uo in sun-.tuon ist
h mal gemeinsam, 5 mal in L\ 2 mal in I.
58 I- Die Entstehung des Nibelungenliedes.
Gemeinsam allen Texten sind nur wenige Beispiele;""^) ziemlich
viele aber finden sieh, wo bald die eine bald die andere Be-
arbeitung den rührenden Reim hat. Durchschnittlich wird der-
selJie als das UrsprüngHche anzusehen sein, das die Bearbei-
tungen änderten, um dem strengeren Gebrauche ihrer Zeit zu
folgen.")
Neben den metrischen Eigenthümlichkeiten der einzelnen
Texte benutzt Bartsch noch verschiedene andere Hilfsmittel, um
das Verliältnis derselben zu bestimmen. Dahin gehören zunächst
die s p r a c h 1 i c h e n E i g e n t h ü m 1 i c h k e i t e n , soweit sie durch
Reime gesichert sind. Es ist indes, schon weil das Nibelungen-
lied rein oberdeutsche Sprache hat, hier nicht viel zu gewinnen.'')
Manches weist auf österreichischen Ursprung hin."')
Wichtiger für die Kritik ist der Wort bestand des Liedes.
Auch in diesem Puncte ist, wie in den metrischen und Reim-
72) Gar kein Fall, wo Wörter von ganz gleichem Klang reimen würden,
sondern nur Composita auf Simplicia, Namen auf Appellativa.
73) In I 14, in II 9 P'älle; in B und C -1 mal, entschieden echt; einige-
male A, aber unrichtig. Instructiv ist 1433, l. 2, wo ßJ den rührenden
Reim haben, den C und AD, unabhängig von einander, beseitigen.
74) a steht statt o einmal gemeinsam, einmal echt in C; e reimt öfters
auf t''; Abwerfung von e im Reim kommt nach langem Vocal nur vor in
miU und klein, nach kurzem in den "Wörtern, M-elche auf S]):ril reimen;
0 statt %i haben Cd einmal; ei = arje oder ege ist sehr häufig; ou für iu
kann nicht bewiesen werden; xio statt u findet sich in duo-.fruo 2 mal,
wahrscheinlich alterthümlich, da 2.w(i\i Gcrndl : iuot vorkommt (s. not. 12) und
owio eine im 12. Jahrhundert nicht seltene Bindung ist. ch steht einige-
mal im Auslaut statt c, aber nur nach / und r\ h wird nur iu iahen aus-
geworfen; vor l steht h statt c im partic. und prtet. schwacher Verba mit
Rückumlaut. Flexion: ob si lang gebraucht wird, ist nicht sicher; nieman
nur in A, aber falsch, sonst -en\ gen. -annes von 6' geändert; kein ist nicht
gemeinsam, sondern nur dehein; neben dri auch drie ; II. pl. vom Verbum
hat -t, nicht -nl; UI. sg. von werden lautet ?virdet und fvi?-t; prjet. von
schrien ist schre , nicht schrei; (jän und st an sind häufiger als die Formen
mit «'. im conj. nur t'; gie ist häufig, lie häufiger als liez, welches 5 mal
vorkommt, worunter einmal nur C\ gegangen im Cäsurreim. gegan im End-
reim; ebenso gestanden und geslän; gesin und gewesen als inf. neben s)n
und tvesen, II. pl. ir sil und irhirt; megen inf. 6' unecht, der Dichter brauchte
wohl die Formen mit J, ü und die mit a, e promiscue: wellen: du wil, ir
weit, 7vellet, I. und III. pl. einsilbig 1 mal C, 1 mal BDJ, sonst zweisilbig.
Partikeln: tner und m^ öfters; mere 4 mal im Binnenreim (darunter
2 Plusstr. von C); sit, sinf, sider sind alle drei durch Reime belegt; ebenso
sä und siin.
75) So der Reim von a auf o [s. aber Zarncke. Ausg. CXIII], d h a
statt o; duo ist österreichisch häufig
1. Die Handschriftentrage. Die vorhandenen Theorieen. 59
Gesetzen zwischen dem zwölften und dem dreizehnten Jahr-
hundert ein beträchtlicher Initerschied. Es erloschen im drei-
zehnten verschiedene dem zwölften noch ganz geläufige Wörter;
dieses Symptom zeigt sich zuerst im ritterlichen Epos, im
höfischen Volksepos erhielt sich manches Alte noch länger.
Si)ätere Handschriften entfernen dann dasselbe häutig, und diss
ist, wie es bei anderen Dichtern nachweislich ist, so auch beim
Nibelungenliede anzunehmen.') Dabei kommt aber nicht bloss
die Alterthümlichkeit in Betracht, sondern auch metrische
Rücksichten.
Zunächst werden betrachtet a 1 1 c r t li ü m 1 i c h e Worte u n d
Wort f 0 r m e n. Die Synkopierung von dreisilbigen Superlativen,
wie /jczzisic', r/u'-sfe, (//-(/'z-fs/f, ist etwa seit 1200 erfolgt") In
manchen Fällen, wo die Bearbeitungen von einander abweichen,
werden diese Formen wohl von denselben entfernt worden und
daher in den Text zu restituieren sein.'**) Ebenso werden noch
andere alte Formen zu erschliessen sein aus den Abweichungen
der Bearbeitungen, welche eben zur Vermeidung der Alterthüm-
lichkeiten den Text änderten.") Neben diesen Altcrthümlich-
keiten, welche nur zu vermutheu sind, haben sich al)er auch
noch solche in den Bearbeitungen erhalten, bald in der ersten,
bald in der zweiten,^") bald, doch seltener, in beiden.*')
7(5) So entfernen z. B. die späteren Bearbeitungen der Maria und des
Roland neben den Alterthiimlichkeiten im Reim auch viele im Wortbestande.
77) Bei beste schon früher: crest findet sich noch in Hss. des 13. Jahr-
hunderts; (jro?zisie haben sogar die Bearbeiter meist beibehalten. Es sind
aber im zwölften Jahrhundert diese Formen noch zum Iteime auf -iste tauglich.
78) So z. B. 15S(), 4 ÄBDJrj: so ich aller beste kau, a (Lücke von C):
mit triwen so ich beste kan; offenbar ursprünglich : so ich bezziste km;
ähnlich 226, 1 ABJ : ze ernest iint ze strite, C: ze vorder st an dem strite ;
offenbar ursprünglich: ze er est an dem strite: die vulgata verschrieb, wäh-
rend C, die dem Gebrauch ihrer Zeit gemäss ze erst an dem strite las,
ändert, um die Senkung auszufüllen [doch ist ^ I ' <^ 1 1 auch in C keine seltene
Form].
79) So s»me statt satn , sainet statt samt ; von tviii ist zu erschliessen
aus den handschriftlichen Lesarten dxrh waz , war umbe, wä von (a hat
einmal von wen); ebenso nach fviit aus ähnlichen Lesartenverschiedenheiten.
So erschliesst Bartsch an ganzen Wörtern das Wort taren = „schaden" zur
Herstellung von Assonanzen (s. auch Bartsch in Pf. Gei-m. XIII, S. 224).
50) [C hat entschieden den Vorzug, die meisten derselben aufzuweisen ;
s. das Verzeichnis- not. Sl und s. o. §. 6, not. 63].
51) Bartsch führt an: berjfgene statt enfjefjene , meist in C; zegcfjene
einmal I, einmal II; ei<jendiu \im' BÜ; (/edi'jene nur einmal gemeinsam, sonst
60 I- Die Entstehung des ^'ibelungenliedes.
]\Iiiider sicher ist die Entscheidung über den ursprünglichen
Wortlaut in den Fällen, wo es sich nur um seltene Worte
oder seltenen Wort gebrauch handelt. Auch hier war
öfters eben die Seltenheit Grund zur Aenderung, welche bald
von der einen bald von der andern Bearbeitung vorgenommen
wurde; ötters aber waren auch andere Gründe zur Aenderung
vorhanden/-) Abgesehen von den beiden Bearbeitungen gemein-
samen seltenen Wfirtern tinden sich dieselben in beiden einzeln
ungefähr in gleicher Zahl.
Auch darin weichen die Bearbeitungen nicht selten von
einander ab, dass dieselben Wörter von ähnlicher Bedeu-
tung unter e i n a n d e r v e r t a u s c h e n , welche weder als selten
noch als eigenthümlich gebraucht erscheinen können. Mitunter
mag hier der Grund der Abweichung darin liegen, dass das
Original einen älteren, im dreizehnten Jahrhundert obsoleten
Ausdruck enthielt, welcher von beiden Bearl)eitungen, unabhängig
von einander, in die Sprache von 1100 — 12(i(i übersetzt wurde.*'^)
Wo diese Annahme nicht statthaft ist, ist natürlich zwischen den
abweichenden Lesarten zu wählen und der minder gewöhnlichen,
der prägnanteren, mehr episch gefärbten der Vorzug zu geben.'"')
in C, in dem Sinne wie im Xib. Lied kommt das Wort nur noch im 12. Jahr-
hundert vor; ^t'r/i')i c. gen. (nur noch einmal im Rother [s. Holtzmann,
Unters. 53 f.]); herte = ..Schulterblatt" in C, im 13. Jahrhundert veraltet;
hiint = hundert, was von Lachmann für A angenommen wurde, ist falsch,
weil viel zu alt; iniende, (', ist im 13. Jahrhundert veraltet; ilenixuve. \ on AJ
einigemal entfernt; <jena(jclte pfelle C ; niemanne, acc, gesichert, meist in 6';
ob die 2 silbige Form von niht dem Dichter geläufig war, ist unsicher; statt
niun noch niivcn, was der Schreibfehler niivan beweist; riUer ist in den
Hss. 2 silbig, es finden sich aber noch Spuren der im 13. Jahrhundert ver-
alteten dreisilbigen Form; tai-en = ..schaden" (s. not. SO), zur Gewinnung
von Assonanzen zu vermuthen, handschriftlich nicht erhalten; vürwisc I. tir-
ivise II beweisen , welches nun echt sein möge , beide das hohe Alter des
N. L.; wine = „Gattin" ist im 13. Jahrhundert obsolet, findet sich im N. L.
2 mal, als masc. l mal gemeinsam, sonst in einzelne^, Hss.
S2) Besonders metrische oder Assonanzen des Originals.
83) So nimmt Bartsch das alte Wort magen an für die handschriftlichen
Abweichungen zwischen kraß, eilen, slerke; so ruochen [was indes ein im
X. L. häufiges Wort ist] für die Abweichungen zwischen wellen und (fern ;
so liehen für die zwischen fjevallen und behaijen.
S4) Von besonderer Wichtigkeit für die Hss.-Frage ist hier nur der Wechsel
der Wörter helt, degen, rilter, herre und rceke. recke, deyen und helt wur-
den in der höfischen Poesie des 13. Jahrhunderts fast gar nicht mehr oder
doch meist nur in bestimmten Bedeutungen und Beziehungen, nicht wie im
N. L. als blosse epitheta ornantia, gebraucht. Es lässt sich bei der ver-
1. Die Handschriftenfrage. Die vorhandenen Tlieorieen 61
Unwesentlich sind diejenigen Wortvertauscbimgen , welche
graphischer Natur sind'*''); von grösserer Wichtigkeit dagegen
sind die Vertauschungen von Wörtern aus metrischen
Or linden. Hier war von dem grösten Einflüsse das Bestreben
die Senkungen auszufüllen, besonders in C, was sich am deut-
lichsten zeigt an den Adjectiven auf -lieh und auf -ic (ec),
welche von C wegen des in ihnen häufigen Zusammeustossens
zweier Hebungen oft vermieden werden. Die Aenderungsversuche
sind aber auch hier keineswegs einseitig auf Seiten von <'; nur
ändert C consequenter. Sonst hat C noch manche Vertauschungen
zu Gunsten der Ausfüllung von Senkungen aufzuweisen.
Ebenfalls dieser Ausfüllung dient die Einschiebung von
Worten, welcher auf der anderen Seite die Auslassung von
Worten gegenübersteht. Auch hier steht C nicht einseitig da.
Natürlich werden meist einsilbige Wörter eingeschoben und
solche von unwichtiger Art, wie besonders Partikeln, doch auch
einige zweisilbige; oder es werden statt eines Wortes zwei
andere gesetzt, welche denselben Sinn geben. Das Auslassen
von Wörtern lässt sich am sichersten von A behaupten, welche
davon die zahlreichsten Beispiele bietet. -
Liliencrou hat^") der Handschrift C eine „Abneigung"
gegen gewisse Wörter und Wendungen zugeschrieben, aus welcher
er verschiedene Abweichungen zwischen den Bearbeitungen zu
erklären sucht. Diese Annahme ist schon priucipiell unwahr-
scheinlich und wird es noch mehr dadurch, dass unter den Aus-
drücken, gegen welche die Abneigung von C gerichtet sein soll,
sciiiedenen metrischen Beschaffenheit der fünf Wörter (' oder ^^, ^^, /w,
/ '-'. / ^ ) aus dem Bestreben , die Senkungen auszufüllen, welches besonders
in (' herrscht, manche Variation des Ausdrucks erklären. So setzt C statt
des im 13. Jahrhundert einsilbigen /le/t nicht selten einen der andern vier Aus-
drücke ; doch fehlt es an Belegen des Gegentheils nicht. Metrische Gründe kön-
nen auch bei der Yertauschung \on drffrn und ntlcr, dcocn und rucki, gewaltet
haben. In einem Fall wird sich das Erste sicher finden lassen, wenn nem-
lich die (uralte) AUitteration von hell und haut sich findet, und C statt hell
ein anderes Wort setzt. In solchen Fällen ist natürlich helt die echte Les-
art; aber abgesehen von diesen Fällen und von denjenigen, wo metrische
Gesichtspuncte ins Spiel kommen, lässt sich das Echte nicht mehr entscheiden.
>5) Dahin besonders der Wechsel von mit und unt, wobei C meistens
imt hat; am meisten tritt in diesem Abschnitte hervor die häutige Ver-
wechselung von tür und turn, wo immer Metrum und Sinn das letztere
Wort verlangen und wo nur /> immer das Echte bewahrt hat (das Nähere
s. Bartsch, Unters. 223, 224).
S6) [S. Seite 27].
62 I. Die Entstellung des Nibelungenliedes.
fast lauter ganz gewöhnliche und gebräuchliche sind; begreiflich
und häufig ist die Vorliebe eines Dichters für gewisse Wen-
dungen. Aber Lilieucrons Behauptung wird durch den That-
bestaud vollständig widerlegt. Von allen bei ihm aufgeführten
"Wörtern und Redensarten hat C mehrfache Beispiele, ja C hat
viele derselben mitunter an Stellen, wo dieselben in den andern
Handschriften fehlen.*') Etwas anderes ist es natürlich, wenn
aus metrisciien Gründen in C gewisse Wcirter. in denen zwei
Hebungen zusammenstossen, seltener sind.
Umgekehrt aber ist es natürlich, dass auch in den Ausdrücken
der Bearbeitungen, denen ja die Umänderung der alten Asso-
nanzen vielfach noch weiter gehende Veränderungen der Verse
nothwendig machte, manches vom Sprachgebrauche des Dichters^
wie er aus den gemeinsamen Partieen sich ergibt, Abweichende
begegnet, in welchem sich die Vorliebe jedes Bearbeiters für
gewisse Ausdrücke manifestiert.^**)
Ebenso werden auch viele den Bearbeitern mit dem Original
gemeinsame Wörter von den Bearbeitungen in einem beson-
deren Sinne gebraucht. Diese Abweichungen sind nicht
so aufzufassen, als ob die betreifenden Wendungen dem Dichter
unmöglich gewesen wären; ihr Nichtvorkommen im Original ist
87) Die bei Liliencron angeführten Ausdrücke sind folgende: al , aller
vor Superlativen; hcginneii c. inf. als blosse Umschreibung des verb. finit. ;
edele, liep, gxiot als auszeichnende Epitheta; küene als Epitheton von Sieg-
fried; nche = „kostbar"; die'Vw/t;. harte, rehte, sere . starke bei Häufung
von Adverbien; das Adjectiv künde; vritint = tnan oder mac : pflegen =
,.handeln", ..verfahren"; ^Mon in gewissen Verbindungen. Alle diese Aus-
drücke sind C ganz geläufig. Eine einzige Behauptung Liliencrons hat einen
gewissen Grund, die nemlich, dass C die Bezeichnung schcene , auf ältere
Frauen bezüglich, entferne; allein an den betr. Stellen ändert öfters nicht
allein 6', sondern auch J oder D; A hat zweimal allein diese Bezeichnung.
Verliert schon dadurch die Behauptung Liliencrons an Werth, so kommt
dazu, dass C auch da, wo dieser specielle Anlass, das adj. schcene zu ent-
fernen, nicht vorlag, das Wort nicht hat, so dass Liliencrons Satz sich selbst
aufhebt.
&S) So hat z. B. C eine besondere Vorliebe für folgende Wörter: angesl
und angestllcli (weil = / ^, /^'); behagen (gemeinsam 3nial, A imal, I Imal,
C 4mal; doch wohl nicht echt, vielmehr [s. not. S3] das alte Wort liehen zu
vermuthenj; gar (Ausfüllwort); ger (Imal gemeinsam, C 3mal, aber nicht
echt); jänier MnH jamerhaft (weil = /w, /^ ; gemeinsam Utmal, C ISmal);
lohesum (gemeinsam Imal, I Imal, C 4mal); riuwe (gemeinsam Imal, C'2mal);
?r/M/i'f (metrische Rücksichten, = / o) ; mit vrüuden ; zu/it (zum Theil metrische
Pdicksichten) ; Umschreibungen durch mit; tvert als ehrendes Epitheton.
1. Die Handschriftenfrage. Die vorhandenen Tlieoriccn. 63
ein Zufall, aber immerhin ein charakteristisclier.''') Ausserdem
findet sich in den Bearbeitungen noch eine ziemliche Anzahl von
Wörtern, welche dem Original fehlen."") Mit wenigen
Ausnahmen sind jedoch dieselben nicht besonders selten oder
auffallend. Manche mögen dem Original zu vindicieren sein, die
meisten aber sind durch selbständige Aenderung der Bearbeiter
in den Text gekommen.
Verschiedene Abweichungen zwischen den Handschriften
zeigen sich ferner in der kSyntax.'-") Das Verhältnis der Hand-
schriften ist hier dasselbe, wie in den anderen Puncten : das Echte
ist nicht auf Seiten einer einzigen Bearbeitung, sondern es hat
sich, aus dem Original herüber, bald in der einen bald in der
anderen erhalten. C", durch planmässigere Glättung als vollkom-
menere und geschmackvollere Handschritt sich darstellend, steht
doch im allgemeinen dem Original ferner, als die vulgata.
-1 bietet wideruni den nachlässigsten Text, doch nicbt ohne ab-
sichtliche Aenderungen. Auch von einigen syntaktischen Eigcn-
thinnlichkeiten behaujjtet Liliencron eine Abneigung bei C] diss
sind 1) die Setzung des pron. er und seiner Formen, um pleo-
nastisch einen folgenden Begriff im voraus anzudeuten; 2) Tau-
tologieen und Widerholungen , 3) die Sätze mit „ leichter Ironie ",
welche gerade eine Eigenthüinlichkeit des Nibelungenliedes seien.
Alle diese Behauptungen sind falsch; denn pleonastisches er
findet sich ohne metrische NothAvendigkeit in einer Plusstrophe
von C; Tautologieen und Widerholungen, welche in der vulgata
fehlen, hat C in ziemlicher Zahl; die ironischen Sätze finden
sich vielfach nur in C.'^)
Auch in der Behandlung der Namen des Nibelungenliedes
89) Manches Singulare im AVortgeb rauch tiudet sich in beiden Be-
arbeitungen, nur nicht gemeinsam, noch mehr nur in beiden einzeln ; Bartsch
zählt für i? II, für C 35 dem Original fremde Wortgebriuiche auf.
90 1 Gemeinsam sind beiden Bearbeitungen 5 solche Wörter, der ersten
Bearbeitung eigen 3, der zweiten 7. Noch zahlreicher sind die «rr«! alot^utm
beider Texte, d. h. die Wörter, welcher nur in einer Bearlieitung vor-
kommen und auch in dieser nur einmal; in I überhaupt tinden sich 42
HTial ei^r,utya, in mehr als einer Hs. von IS, in /^ allein 3, in Jf und /
mehrere, in A allein 27 (was von der moderneren P'ärbung dieser Hs. her-
rührt, welche jüngere, lyrische Ausdrucksweisen und Formen, was die ott.
iiQ. von A meist sind, liebt); in H tinden sich a7T. eio. 44, in CJ 2.
91) Vieles bieher Gehörige lässt sich noch unter den besonderen Wort-
gebrauch der einzelnen Bearbeitungen subsumieren.
92) S. auch Dresse], Charakter Kriemh. etc. S. S.
64 I. Die Entstehung des Nibelungenliedes.
zeigt sich gewissermaasseii das Verhältnis der Dichtungsgattung
des Originals zu der der Bear])eititugen. Denn in der ritter-
lichen Poesie des dreizehnten Jahrhunderts wurden die Namen
weit sparsamer verwendet, als im Volksepos, und eine Spur
dieser Verschiedenheit findet sich auch in dem Verhältnis des
Nibelungen-Originals zu seinen Bearbeitungen, In den letzteren
sind öfters Namen entfenit, die wohl im Original standen, doch
nicht allein aus jenem sozusagen ästhetischen Grunde, sondern
häufig auch aus anderen, vorzugsweise metrischen Gründen,
zumal bei den zahlreichen Nameu,"^) in welchen zwei Hebungen
zusammenstossen.''^) Zugleich aber finden sich einzelne Namen
in den Bearl)eituugen, welche das Original nicht keunt.''^)
Von grosser, ja von der grössten Wichtigkeit für das Hand-
schriftenverhältnis ist endlich die Verschiedenheit des .S t r o -
p h e n b e s t a n d e s. Es sind hier zwei Hauptgruppen von Strophen
zu unterscheiden:
1) solche, welche alle Handschriften ausser ^4 haben ;^^)
2) solche, welche die Bearbeitung C allein hat.
Die ersteren werden nach dem Bisherigen, nach welchem
Uebereinstimmung von B und C Zeichen der Echtheit ist, als
echt gelten müssen. Die Betrachtung ihres Inhalts führt zu nichts;
93) So die Namen Däiicrvärt, Etzel (in den cas. obliq.), Gernöt, Hdriene,
Kriemhilt, Sivrit , Völker, Wölfhärt . Dietrich, G>'oit/ia\ Ortnnn. PninhUt,
Bi'irgdiideu u. a. m.
94 ) Beide Bearbeitungen entfernen sich manchmal ohne einen anderen denk-
baren Grund als die allgemeine Abneigung gegen oftmalige Nennung von Namen.
Aus metrischen (xründen werden dieselben natürlich von C am häufigsten
entfernt. Auch stehende epische Formeln und Verbindungen von Namen
entfernen die Bearbeiter; z. B. die Formel Hagene von Tronege ist in C
öfters entfernt. Ersichtlich wird ein Name von den Bearbeitern getilgt, wenn
der Redende sich selbst nennt oder der Name des Angeredeten in einem
anderen Casus als im Vocativ steht: ebenso wird ein Name entfernt, wenn
schon vorher Bezug auf ihn genommen ist.
9.5) Dieselben sind: Dancrät (nur in Str. 7 gemeinsam, sonst nur in C\\
Lörse (in C); Plcaelingen (C)\ Otenhein iC'l; Olemvalt (C): WincUnt (C.
Sigelint B: in C wohl geändert, weil Sigclint schon der Name von Siegfrieds
Mutter war); /// (nicht in C); ^ider/ende [A); yortvcrge i nicht in C\;
Tre'isenmiire und Zeizenmüre (Treis. ist offenbar das Richtige und auch das
Echte, was Zarncke treffend nachgewiesen hat; aber Z.s Schlüsse auf das
Alter der vulgata sind falsch, weil diese aus anderen Gründen älter als
Nitharts Gedichte ist [s. o. S. lo. 24. 20 f.]).
9b) [Ueber die ungleichmässige Vertheilung dieser Lücken über das Ge-
dicht s. Seite 14 (§ ti, not. 15)]. Sodann fehlen in AJ 2 Strophen, in B AJ
eine, alle diese echt und durch graphische Verseheu ausgelassen.
1. Die Handscliriftenfrage. Die vorhandenen Theoriecn. 65
denn die Hiiizufiig'ung entbehrlicher Strojjhen ist ebenso denkbar
wie deren Auslassung-. Gegen die Pk-htheit der in A fehlenden
Stro])hon l)cwcist die Entbehrlichkeit derselben nichts.'^" i Grai)hi-
sclie Erklärung der Auslassung passt auf etwa ein Drittel der
in .1 fehlenden Stro])heu.'") Zweimal führt eine von A weg-
jrelassene Strophe den Satz weiter. Hier ist natürlich l)eabsich-
tigte Auslassung in .1 wahrscheinlich; denn auch sonst vermeidet
A dieses Hinüberlaufen des Sinnes. Ein weiterer Grund für
die Echtheit dieser Stroi)hen ist, dass dieselben in jeder Hin-
sicht ganz vollkommen mit dem Gebrauch in den gemeinsamen
Strophen übereinstimmen. Insl)esondere finden sich in denselben
g-anz die nendichen üifit'erenzen zwischen den Bearbeitungen, W'ie
in den allen Handschriften gemeinsamen Strophen. Die metrische
Behandlung, besonders die der letzten Halbzeile, ist ganz die-
selbe, ebenso die der Namen und des Reims. Einiges Abweichende
zeigt sich allerdings im Wortbestande °^), ist aber zu unbedeutend
gegenüber der sonstigen vollkommenen Uebereinstimmung.
Ganz anders verhält es sich mit den Strophen, welche nur
der Bearbeitung C eigen sind. Nur einmal ist eine graphische
Erklärung möglich, v»arum eine Plusstrophe von C in der vul-
gata ausgetallen sein könnte.'"") Dabei ist der Charakter der
Plusstrophen von C und der der gemeinsamen sehr verschieden.
Die Senkung zwischen zweiter und dritter Hebung der achten
Halbzeile fehlt nur in \<j der Plusstrophen von C"") Daneben
zeigt sich unverkennbare Vorliebe für den Cäsurreim.'"-) Die
Verschiedenheiten im Wortbestande gegenüber den gemeinsamen
Strophen sind nicht unbedeutend.'"*) Es ist daher kein Grund
97) Denn gerade da, wo in A die meisten Strophen fehlen, hat A auch
die meisten Fehler.
9s) Bald -war es gleicher Strophenanfang, bald gleiches Strophenende,
vas den Schreiber irreleitete.
99) Zwanzig /<.t«| noi^utva, aber nur 2 mal abweichender Gebrauch von
auch sonst vorkommenden Wörtern.
100) Str. 423''.
101) Auch sonst ist das Fehlen von Senkungen selten; drei liebungen
ohne Senkung vor der Cäsur linden sich in den 320 Zeilen S mal, in den
A fehlenden Strophen dagegen (= 256 Zeilen) 14 mal; sonst fehlende
Senkungen in 25 Zeilen; also etwa ' is. Eine andere metrische Abweichung
sind die geraden Halbzeilen zu 4 Hebungen.
102) Derselbe kommt 19 — 20 mal vor, worunter 4 ganz durchgereimte
Strophen.
103) 34 rcTit^ ttorjifi n und 39 sonstige Abweichungen von dem gemein-
samen Wortgebrauche.
Fisclier, Nibelungenlied. 5
CO I- I)ie Entstehung des Nibelungenliedes.
vorhanden, dem Prineip gegenüber, dass nur das beiden Bearbei-
tungen Gemeinsame echt sei, die Echtlieit dieser Plusstrophen
zu behaupten.
Am nächsten in Beziehung auf die Behandlung des Metrums
und den Sprachgebrauch stehen den Plusstrophen von C die-
jenigen 20 Stroi)hen, welche sich neben C auch in der Gruppe
J finden. Diese Grappe gehört aber der vulgata an; es ist
somit nur die Annahme möglich, dass der Schreiber des
Originals dieser Grupi)e neben dem Text der vulgata auch
einen nach der Eedaction C vor sich hatte. Ob derselbe nun
diese 80 + 20 = 100 Strophen alle in dieser Handschrift
vorfand, oder ob seine Vorlage bloss eben die 20 enthielt,
die er in seinen Text aufnahm, lässt sich nicht mehr entscheiden.
Im letzteren Falle wäre eine Doppelredaction der Bear-
beitung (' anzimehmen, indem der Bearbeiter erst eine kleinere
Anzahl (20), dann eine grössere Menge (80) von Strophen zu-
gedichtet hätte. Für diese Annahme sjjricht eine wirklich vor-
handene formelle Verschiedenheit zwischen den Plusstro])hen
von C und denen von C J : den in den ersteren so häufigen
Cäsurreim haben die letzteren gar nicht. "'^)
Ergeben somit die äusseren Gründe die Unechtheit
der Plusstro])hen von C und J, was waren dann wohl die
inneren Gründe, aus welchen diese Strophen zugesetzt worden
sind? Bei den meisten derselben lässt sicji nur im allgemeinen
die seit dem Ende des zAvölfteu Jahrhunderts herrschende Neigung
zu ausmalenden, erweiternden Schilderungen anführen. Daneben
wurden Un Wahrscheinlichkeiten der Darstellung entfernt,
zum Theil selbständig, zum Theil aus der wirklichen Sage und
ihrer damaligen Gestaltung heraus.'"') Es lässt sich aber auch
104) I Dieses Argument beweist nichts; denn / scheint überhaupt eine
Abneigung gegen den Cäsurreim zu haben, da sie alle durchgereimten Strophen
entfernt (s. Zarncke, Ausg. CXVIII); es können also Casurreime in den
Plusstrophen von / auch deshalb fehlen, weil / keine Strophen mit Cäsur-
reim aus C aufnahm. Eigenthümlich ist jedenfalls die Annaiime. dass der
Bearbeiter von C zuerst 20 Strophen ohne jeden Cäsurreim gedichtet habe,
dann 80 mit vielen solchen Keimen. Der Bearbeiter C soll doch nach
Bartsch sonst in metrischen Dingen so consequent sein; woher hier diese
Inconsequenz ? — Es ist also wohl besser anzunehmen, dass die 20 Strophen
von J aus C ausgewählt sind.]
10.5) So hat C UnWahrscheinlichkeiten beseitigt durch die Plusstrophen
475''<^; 2057 "^ [s. aber über diese Str. Zarncke, Beitr. S. 240 ff. und Zarncke
in Pf Germania IV, S. 4.37 ff.]; 22 '\
1. Die Ilaudschriftenfrage. Die vorliaiidcncn Theoriccn. 07
noch eine positive Quelle anführen, aus welcher C geschöpft
hat. Diss ist dii' Klage. C sucht nemlich die Angaben dieser
mit den nianchmnl etwas abweichenden des Liedes zu ver-
einigen, iibcrliaui)t beide Gedichte in näheren Contact zu bringen.
Daher sind aus der Klage mehrere einzelne Züge in den Text
des Liedes nach C gekommen, welche dann C als hier schon
vorhanden in der Klage ausliess.'"*') Insbesondere aber ist nicht
nur Manches im Stile des Liedes durch den Einfiuss der Klage
gefärbt,'"^) sondern die ganze Auftassungsweise von Kriemhilds
Verfahren, ihre Absicht, die Brüder zu schonen und nur Hagen
an das Leben zu gehen, die Idee ihrer Treue gegen Siegfried
als des Motivs ihrer Rache, stammt aus der Klage.'"')
Gegenüber den Plusstrophen von C stehen die 38, welche
die vulgata vor C voraus hat. Dieselben stehen in Hinsicht des
Metrums und Wortgebrauchs auf demselben Standpuncte wie die
in .1 fehlenden, wären also darnach als echt zu betrachten,
wenn nicht dem eben das Fehlen in C widerspräche, da ja nur
das Gemehisame echt sein soll. Auch geht das Bestreben von
C sichtlich dahin, das Gedicht zu bereichern; es ist also un-
wahrscheinlich, dass C diese Strophen, wären sie im Original
vorhanden gewesen, getilgt haben würde.
1()6) So hat C die Notiz, dass Etzel Renegat gewesen, aus Kl. 4*)1 ff.
in das N. L. Str. 1201'' gebracht, jene Stelle der Klage sodann auslassend;
ebenso hat C die Stelle Kl. 1^40 ff., wo Lorsch als Utes Wohnsitz genannt
wird, gekürzt, weil sie diese Xotiz in das X. L. Str. 10S2''"' anfgenommcn
hatte; ebenso wurde Kl. 1953— lOO:} ausgelassen, weil N. L. 222S anticipiert.
— Eine Parallele für dieses voru-zusetzen und hinten-weglassen s Bartsch
in Pf. Germania XIII, 229.
lOI) [Dahin zählt Bartsch u. a. den Schluss des X. L. : daz ist der
Xibiiioiffc lü-l, welcher aus dem Schlüsse der Klage entlehnt sei. Diss will
nicht recht einleuchten. Wie brauchte C, um diesen einfachsten und ge-
wöhnlichsten aller Liederschlüsse anzubringen, ihn aus der Klage zu ent-
lehnen? Gewiss leuchtet W. Grimms Ansicht mehr ein, nach welcher C
änderte, weil N. not nur auf den zweiten Theil zu passen schien.]
lOS) So stammen aus der Klage die Str. 1775''; 2023''; 1S37''. —
[Schematisch lässt sich das Verhältniss zwischen Kl. und N. L. nach Bartschs
Ansicht etwa so darstellen:
Orig.-Xib. Orig.-Kl.
I.-Xib. II.-Nib^^-,^ I.-KI.
11. Kl.]
ßS I- Die Entstehung dos Nibelungenliedes.
Unwesentlich ist die Betrachtung der in einzelnen anderen
Handschriften fehlenden oder nur in einzelnen stehenden Strophen.
Das Resultat der Untersuchung ist also: 1) Die nur in ^4
fehlenden Strophen sind echt. 2) Die nur in C stehenden
Strophen sind unecht. 3) Die in C fehlenden Strophen sind
uneclit.
Für das Gesammtverhältnis der Texte folgt auch hieraus
wider, dass B dem Original näher steht als C; ebenso auch,
dass der Titel des Originals de?' Xibehirnje not war, da die
letzte Strophe von C aus der Klage stammt. '°'')
Hatte schon die Betrachtung der Stroplienditfercnz auf die
Klage und ihr Verhältnis zum Nibelungenliede getiihrt, so
zieht Bartsch jenes Gedicht noch besonders und ausdrücklich in
den Kreis seiner Forschung. Auch die Klage ist in C anders
überliefert als in der vulgata, und die Unterschiede zwischen
den Bearbeitungen sind im wesentlichen dieselben wie im
Nibelungenliede. Es finden sich noch, bald in C bald in Z>',
alterthümliche "°) und ungenaue'") Reime; ebenso häufige Ab-
weichungen der Bearbeitungen im Reime, die aber grösser und
schwerer auf das Echte zurückzuführen sind als beim Nibelungen-
lied, weil die freiere Form der Reimpaare, welche leicht zu
handhaben war, umfassendere Aenderungen möglich machte und
wirklich hervorgerufen hat, als die schwerfällige Strophenform.
Diese Verhältnisse führen auch hier auf die Annahme einer
doppelten, s e 1 b s t ä n d i g e n U m a r b e i t u n g a u s f o r m e 1 1 e n
Gründen; so dass das Verhältnis der Bearbeitungen hier das-
selbe ist wie im Nibelungenliede."') Dieses Verhältnis wird
109) [S. not. 107; nach Bartsch sollen überhaui^t die Ausdrücke dieser
letzten Strophe in C der Reilio nach aus denen des Schlusses der Klage ge-
nommen sein. Und doch soll C einen nicht unfähigen Mann zum Verfasser
haben; wie soll einem solchen zuzutrauen sein, dass er ganze Strophen aus
Worten eines anderen Gedichts zusammengesetzt habe?]
11(1) So die Heime ä : «', no : iie, welche beweisen, dass zur Zeit der
Abfassung, wenigstens in den betr. Wörtern, noch a und lio gesprochen
wurde; ferner partic. praet. auf — dt, ptc. pra?t. auf — unde ; superl.
iJiiniiist u. ä.
111) So die Reime ougen : rjclouhen; TVicnen : niemen C; darinne :
(jrimme ABT); srvester : laster ABD; Itenden : tvinden a; tagen : begrabe»
BDJ (A und C ändern) u a.
112) [Und natürlich wird, da die Unterschiede von B und ('hier die-
selben sind wie im Nibelungenliede, diese dopi'.elte Umarbeitung denselben
Bearbeitern zuzuschreiben sein, welche das Nibelungenlied umarbeiteten; die
1. Die Handschriftenfrage. Die vorhauJeuen Theorieen. OU
bestätigt durch die noch nach 12(10 erlaubten lieimfreiheiten."^)
Weisen so beide Bearbeitungen auf ein älteres, gemeinsames
Original hin, st) weist der gemeinsame Text beider Bearl)citungen
auf ein noch älteres Buch hin, aus dem der Dichter der Klage
geschöpft habe. Diese'fe Buch ist offenbar das alte Nibelungen-
lied; die dagegen vorgebrachten Gründe sind nichtig,"'; hin-
gegen sprechen zahlreiche Uebereinstimmungen auch in ganz
einzelnen Dingen, Avie im Wortlaut vieler Stellen, dafür. Die
umtängreiche Zusammenstellung, welche Bartsch von diesen
gibt,"^) beweist, 1) dass auch der erste Theil des Liedes dem
Verfasser der Klage vorlag,"") 2) dass auch die nach Laehmaun
unechten Strophen in demselben enthalten waren, ehe die Klage
gedichtet wurde; dass also das Nibelungenlied vor 1180 ver-
fasst sein muss, da das Verhältnis der Bearbeitungen in der
Klage das Original derselben etwa in das Jahr 1180 verweist.
Es fällt aber auf, dass die Ausdrücke des Nibelungenliedes in
C genauer zu denen der Klage stimmen, als die in der vulgata.
Daraus würde die Priorität von C für das Lied folgen, wenn
nicht die nachgewiesene Unechtheit der Plusstrophen von C
bewiese, dass diese Bearbeitung für das Nibelungenlied mehrfach
aus der Klage geschöpft hat. Ueberhaupt steht auch in der
Klage C dem Original ferner als B.
Nachdem somit alles auf das von Bartsch aufgestellte Ver-
hältnis zwischen Bearbeitungen und Original bestätigend hin-
gewiesen, fragt sich noch schliesslich, welcher Zeit das
Original, welcher seine Bearbeitungen angehören.
Die im Liede erhaltenen Assonanzen weisen auf die Zeit vor
1150,"') wii- erhalten aber, wenn wir auch an allen Stellen,
wo die Reime der Bearbeitungen auseinandergehen, Assonanzen
Klage war also mit dem N. L. schon verbunden, ehe die Doi)pelbearbeitung
stattfand, d. h. vor 1190; s. u.].
113) a : ä unangefochten; e : c von jedem Bearbeiter einmal beseitigt;
/ : /; t» .• (5 C, einmal I. Rührender Eeim häufig, doch nur ein gemein-
samer Fall, in welchem dasselbe Wort reimt.
114) [Gehört in die Frage nach den historischen Autecedenzien; s. daher
unten.]
115) S. Untersuchungen S. 339 ff.
116) [Gegen Lachmauns Ansicht; s. Lachmann, Ueber die ursprüngliche
Gestalt etc. § 12 tf. ; Anmerkungen S. 2SS ff.]
117) [Dahin weist auch, was aber in die Handschriftenfrage nicht gehört, die
Identität des Verfassers des N. L. mit dem der kürenbergischen Strophen, welche
Bartsch behauptet (s. u. ) ; s. über die Frage bei der Kritik und im Nachtrage.]
70 I- Die Entstehung des Nibelungenliedes.
annehmen,"*) doch noch bei weitem nicht so viele, als ein nm
oder vor 1150 verfasstes deutsches Gedicht durchschnittlich auf-
zuweisen pflegt."") Diese Incongrnenz weist mit Nothwendigkeit
darauf hin, dass zwischen der Originaldichtung und
den beiden uns erhaltenen Bearbeitungen eine erste
Umarbeitung stattgefunden hat; dieselbe mag etwa um
1170, auch 1180, anzusetzen sein, vielleicht auch sich über die
Reime hinaus auf die Zudichtung von Strophen erstreckt haben.'-")
Dass in noch kürzerer Zeit das Bedürfnis einer Umarbeitung
empfunden wurde, in jener Zeit, wo sich die strengeren An-
sprüche an die poetische Form rasch steigerten, zeigt die
Litteraturgeschichte des zwölften Jahrhunderts.'-')
Was die Zeit betrifft, in welche die beiden letzten, parallelen
Umarbeitungen fallen, so ist dieselbe nicht später, als
1100 — 1200 anzusetzen. Die Bearbeitung C setzt die Klage
voraus, die in der Gestalt, welche ihren Bearbeitern vorlag, nicht
nach 11 SO fällt. Diss der tcrmimis a quo] der terminus ad qucin
lässt sich schärfer bestimmen 1) durch die Sprachformen der
Lassbergischen Handschrift (C);'--) 2) dadurch, dass Wolfram von
US) [Euie übertriebene Annahme; denn nach Bartsch lag der Grund
der Abweichungen nicht selten in Anderem , manchmal wohl in Sinnesver-
schiedenheiten, in alterthümlichen Ausdrücken im Keim und ausserhalb
desselben, öfters auch iu einem rührenden Reim, der entweder in einer
Bearbeitung erhalten oder für das Original anzunehmen ist.]
119) [Werden überall, wo die ReimMorte abweichen, Assonanzen ange-
nommen, so fallen auf das ganze Lied (mit den noch erhaltenen) etwa 360
Assonanzen auf etwa 4S00 Reimpaare, also eine Assonanz etwa auf 12—13
genaue Reime. (Einige willkürlich gewählte Beispiele bestätigen ungefähr
dieses Verhältnis. In Avent. II kommen (bei allen Reimverschiedenheiten
Assonanzen angenommen) auf 46 Reimpaare 2 Assonanzen, in Av. XIII auf
72 Reimpaare 2 Assonanzen, in Av. XXIII auf 70 Reimpaare S — 9 Asso-
nanzen, in Av. XXYIII auf 176 Reimpaare 10 — 12 Assonanzen. In dem
unter den genaimten Fällen also , wo am meisten Assonanzen anzunehmen
wären, kommt eine Assonanz auf etwa 7 genaue Reime.) Dagegen kommen
iu den 30 Reimpaaren des Kürenbergcrs auf 13 Assonanzen 17 genaue Reime;
der Küreubergcr hat also etwa zelin mal so viel Assonanzen im Verhältnis
zu den genauen Reimen, als das Original der beiden Bearbeitungen des X. L.]
120) Woraus sich mehrere kleinere Widersprüche des Gedichts einfach
erklären Hessen.
121) Es wurde z. B. Wernhers Maria, um 1170 gedichtet, schon zwischen
11 SO und 1190 umgearbeitet.
122) Z. B. habete, helet, welche schon im ersten Viertel des 13. Jahr-
hunderts obsolet waren. Diese Formen lassen sich nicht so erklären , dass
C sie aus ihrer Vorlage herübergenommeu hätte; denn jeder Schreiber über-
1. Die Hamlschriltenfrage. Die vorhaiuleneii Thcorioen. 71
Esclienbaeh im achten Buche des Parcival eine unverkennbare
Bozieliunii' auf eine l^lusstrophe von a (d. h. C) hat.'") Das
achte Buch des Parcival ist etwa um 1205 geschrieben, und um
die Anspielung möglich und verständlich zu machen, musste die
Bearbeitung (' damals schon einigermaassen vcrl)reitet, also
doch ein paar Jahre alt sein.'-') Was man gegen dieses Alter
von C gesagt und für eine spätere Entstehung geltend gemacht
hat, ist nicht stichhaltig. Das Kloster Lorsch konnte um 1 1 90
eher als bedeutende Abtei'") genannt werden als um 1220'-");
seine Nennung spricht, wenn der Ausdruck des diiic n'l Jioke an (Ten
stüt nicht blosses, müssiges Beiwort ist,'-') gerade für ein hohes
Alter der Bearbeitung C. Der Beweis, den Liliencron aus der
trug ohne weiteres solche Worte in die ihm geläufigen Formen. Es muss
also C in einer Zeit geschrieben sein , wo jene Formen noch nicht veraltet
waren, d. h. um 1200; die diplomatische Bestimmung lässt als möglich er-
scheinen, dass die Handschrift 6'. noch dem 12. Jahrhundert angehöre
[s. Holtzmanu, Unters. S. 61].
\Ti\ Die vielgenannte Stelle des Parcival (VIII; 420, 25) lautet:
wurdet ir mirs nimmer' holt,
ich Uete e als Rümolt,
derm künic Gunthere riet,
do er ron Wormze gein den Hiunen sohlet:
er hat in lange sniten hccn
nnd inme Kezzel umhe dram-.
Diese Stelle kann sich nur beziehen auf Nib. 1408'"^, wo a (Lücke von C) hat:
Oh ir niht anders lictet des ir müht geleben,
ich ivolde iu einer splse den vollen immer geben,
sniden in öl gehrouwen : de ist Ru/noldes rat,
slt ez sns angestlichen erhaben da zen Hiunen stät.
Ich ?»eiz , daz min frou Kriemhilt iu nimmer wirdet holt.
124) [Zwingend ist dieser Schluss nicht; möglich, dass die ausführliche
Erzählung bei Wolfram eben beweist, dass das Gedicht um 120.5 noch nicht
besonders bekannt war.]
125) S. Nib. 10S2^ 4:
des dinc vil hohe an eren stät.
126) [In welche Zeit etwa Lachmann C versetzt (schon wegen der diplo-
matischen Bestimmung von C als Handschrift unmöglich). Die Daten
für die Geschichte von Lorsch sind folgende:
Früher eine mächtige Abtei (Brun, Ottos I. Bruder, war Abt von Lorsch ;
s. Holtzmann, Unters. 129), verlor Lorsch 1125 seine besten Ländereieu und
seit 1167 alle Bedeutung, nachdem es sich unter Heinrich VI (1153 — 1167)
etwas gehohen hatte; 1229 verlor es sogar seine Selbständigkeit, indem
Gregor IX. Verwaltung und Reform des Klosters dem Erzbischof Siegfried
von Mainz übertrug; s. Lachmanu, Anmerkungen S. 51; Holtzmanu, Unters.
S. 129.]
127) [Wie so viele im Epos überhaupt und iu den Nibelungen speciell]
72 I- Die Entstehung des Nibelungenliedes.
metrischen Beschaffenheit von C führen will, class nemlicli für
die Zeit um oder vor 1200 in C der Versbau schon zu sehr
geglättet, zu viele Senkungen ausgefüllt seien, ist ebenfalls
nichtig; denn schon in Gedichten aus den Jahren 1190 — 1200
werden die Senkungen in umfassendem Maasse ausgefüllt.'-**)
Da nach dem Obigen Wolfram in seinem Parcival C benutzt hat,
so kann auch Aziujouc (Nib. 417'*, 2) und Zazamanc (Nib. 353, 2)
nicht, wie Lachmann will, aus dem Parcival in die Nibelungen
gekommen sein, sondern nur umgekehrt.
Auch die Bearbeitung AßDJ ist nicht jünger als C. Diss
beweist die Str. 1292, 4 noch gebrauchte Form des Wortes
riter s. ritter,^^^) auch die durch das Metrum geforderten Formen
heh't, samet, Giinthere, heidere^ niemenne, ('riste u. a.'^°) Jeden-
falls macht Zarncke '^') die Bearbeitung zu jung ; seiner Annahme
widerspricht schon die diplomatische Bestimmung der Hand-
schrift i>, welche diese eher vor als nach 12 40 weist.
14.
Bartschs Untersuchungen sind die letzte über die Hand-
schriftenfrage erschienene Schrift.') Er hat mit denselben viel-
fach Anklang gefunden,"-; und keine grössere Arbeit ist gegen
seine Theorie erschienen. Zarncke ist der Einzige, der sich
mehrmals gegen ihn gewendet hat;^) seine Einwände werden
unten bei der Kritik Bartschs Erwähnung und Betrachtung finden.
128) In dem in diese Zeit fallenden Gedicht „Athis und Profilias "
kommen S. 433 auf 33 Reimzeilen nur 3, denen eine Senkung fehlt; der
niederrheinische Morant, zwischen 1190 und 1210 verfasst, hat weitaus mehr
Verse ohne fehlende Senkungen als solche mit fehlenden. [S. auch Zarncke,
Ausg. LI.]
129) Nur B hat dort das Echte, A und C füllen den Vers aus durch
Einschiebuug eines Adjectivs. 'Mag nun nlwre oder W/i';-i' (so B) das Echte
sein, jedenfalls sind beide Formen im 13. Jahrhundert obsolet.
130) S. Bartsch, Ausg. XXV.
131) S. § S, not. 11—14 (Seite 29 f.).
1) Das Werk von Karl und Nikola Mos 1er, „Der Nibeluuge Noth.
Heldengedicht des 12. Jahrhunderts etc." (Leipzig 1S04), dessen Verfasser eine
noch über -J zurückgehende Textgestalt annehmen, aus welcher A erweitert
sei, wird nicht als wissenschaftliche Arbeit bezeichnet werden und daher
mit der blossen Nennung abgethan werden können. S. die Kritik in Pf.
Germania, Band IX.
2) S. Bartsch in Pf. Germania Xlll, 216.
3) Zarncke, Ausg. XLVIII — LI; dagegen Bartsch in Pf. Germ. XIII,
216—240; Zarnckes Antwort ebenda S. 415 flf.
1. Die Handschriftenfrage. Kritik und Resultate. 73
r. Kritik und Resultate.
Kritik.
Bei Lachmanns Theorie lange stehen zu bleiben, wäre
verlorene Arl)cit g-egenüber den vollständigen Widerlegungen,
welche derselben durch Holtzmann und besonders durch Bartschs
erschöi)tcnde Zusammenstellung der Mängel der Handschrift .1
geworden sind. Eines nur wurde bisher nicht genügend zur
Kritik von .1 verwendet, obwohl es Zarncke in seiner Recension
über Holtzmanns Untersuchungen als kritisches Hilfsmittel
hervorhob; nemlich die ungleiche Vertheilung der in ^4 sich
findenden Lücken über das Gedicht hin, da sich von Av. VI — XI
(= Str. :324 — 1)66) 50 Lücken, im übrigen Liede nur 7 finden.
Diese Thatsache ist allein schon genügend, die Echtheit
der in .1 fehlenden Strophen und damit die kritische ünbrauch-
barkcit dieser Handschrift zu beweisen. Denn es ist wohl
denkbar, dass der Schreiber von .1 bei der Xiederschreibung
von Av. VI — XI gerade besonders wenig Fleiss zeigte (dieselben
können etwa an einem Tage geschrieben sein), was auch da-
durch sich bestätigt, dass in VI — XI .1 die meisten andersartigen
Fehler aufzuweisen hat.') Undenkbar aber ist, dass ein Um-
arbeiter gerade mitten im Gedichte so eminent viel mehr
Zusätze gemacht hätte als sonst; diss wäre etwa denkbar am
Anfang des Gedichtes, wo noch die Kraft des Bearbeiters am
frischesten sein muste.-)
1(3.
Anders steht es mit der Frage über B oder C. Hatte
Holtzmann hinsichtlich der Vergleichuug von ^4. und B un-
streitig das Richtige getroffen (obgleich Holtzmanns Beweisführang
ungenügend und lückenhaft ist), so ist diss entschieden weniger
1) S. Bartsch, Unters. 304. Die Bemerkungen MüUenhoffs (Zur Ge-
schichte der Nibelunge Not S. 965 f.) werden unseren Schluss nicht um-
stossen können, da vorher bewiesen sein müsste. dass in dieser Partie des
Gedichts gerade besonders viel Anlass zu Einschiebungen gewesen sei; M.
stützt sich wesentlich auf Lachmanns Textkritik.
2) S. Bartsch, Unters. 3.
74 I. r>ie Entstehung des Nibelungenliedes.
der Fall bei der Verg-leiclimig von B und C. An die Stelle der
kritischen Betrachtung tritt hier nicht selten das blosse
ästhetische Gefühl.') Dass C vollendeter, schöner, besser sei
als B, hat Holtzmann nachgewiesen, wenn diss überhaupt dem
allgemeinen Zugeständnisse der Gegner gegenüber noch noth-
wendig war; dass an vielen Stellen C zugleich das Echtere
biete, ist nach Holtzmanns Untersuchungen gar nicht mehr zu
bezweifeln. Al)er dass mitunter auch C hinter Ji zurücksteht,
an Güte oder auch an Originalität,^) hat Holtzmann selbst widerum
deutlich dargethan, und es Hessen sich den von ihm beigezogenen
Stellen noch viele beifügen.^) AYie ist nun diss zu erklären?
Wie ist, und diese Frage ist weit wichtiger, ferner zu erklären
die grosse Entfernung der vulgata von C? Denn der Einwurf
der Lachmanniauer, vor allem Liliencrons, dass aus einer guten,
durchaus l)efriedigcuden Lesart nicht Avohl eine schlechte durch
be wüste Aenderung entstehen könne, ist doch nicht so unge-
gründet, als Zarncke meint.^) Die von Zarncke für eine solche
1) Welches (s. auch Bartsch, Unters. :5^4 ) in kritischen Dingen keine
Stimme hat.
2) S. die Zusammenstellung bei Rieger.
3) Falsche Erklärungen und Misverständnisse finden sich bei Holtzmann
nicht selten; er hat z. B. Str. 2214, 4 die Worte du sluoc er Woipmrteu,
daz er stieben began B nicht verstanden und ihnen die LA. von 6': daz
er struclioi hegan vorgezogen ; mit Recht haben Rieger S. 54 und Bartsch
S. 2(t3 f. darauf hingewiesen, dass slicben hier gebraucht ist von dem Manne,
der den Funken sprühenden Panzer trägt, statt von diesem selbst — eine
sehr unbedeutende Licenz — , und dass (', weil sie diss nicht verstand, daraus
strncken machte, was nicht einmal in den Context passt. So noch verschie-
dene Stellen, wo eher B das Echte hat; z. B. I".t4, 4; 742, 4; 1233, 3. u. a.
4) Ausg. XLV ö- und Lit Centr. Bl. is.jO, Sp. 639 ff. Wenn Zarncke
insbesondere an der erstgenannten Stelle (S. XLVII) sagt: ..Offenbar hat
,.Liliencron einen richtigen philologischen Grundsatz unrichtig angewandt. Es
„ist eine wohlbegründete Annahme der Kritik .... dass von zwei Lesarten die
„schwierigere und dunklere die grössere Wahrscheinlichkeit für sich habe;
„aber nimmermehr darf dieser Satz so gewandt werden, als ob die schlechtere,
„die unpassendere sich dieses günstigen Vorurtheils zu erfreuen habe-, so
hat hierin doch wohl Liliencron Recht. Denn der Grund des difficilior
lectio rccipienda ist doch nur der, dass aus der schwierigeren LA. die
leichtere gemacht werden konnte, der Verständlichkeit zu Liebe, nicht um-
gekehrt; und dasselbe wird auch bei gut und schlecht gelten dürfen. Dass
Zarncke a. a. 0. in Parenthese setzt: „ — Annahme der Kritik (die natür-
lich*auch nicht ohne Ausnahme gilt)-, beweist nur, dass er die
principielle Identität beider Sätze stillschweigend anerkannt hat.
1. Die Handscliriftenfrage. Kritik und Resultate. 75
Versehlei'htenuig des Textes aus der mittelalterlichen Litteratiir
angefiilirten Beispiele/') die Klage Sebastian Brants über die
Corrujjtelen seines ^Narrenschitfs", sowie die Feifalikisehe Hand-
schrift (k) des Nil)eliuig'enliedes selbst, fallen viel später, als
die vulgata entstanden ist;'') sie fallen in die Zeit der Form-
verwilderiing, der Poetasterei und Meistersingerei, wo jeder Un-
begabte dichten zu müssen meinte; diss war aber im dreizehnten
Jahrhundert und ])esonders zu Antang desselben ganz anders.
Insbesondere aber kann der Text von C, welcher /.• zu Grunde
lag, durch Schreibfehler u. dgl. so entstellt gewesen sein (was
im Lauf von zwei bis drei Jahrhunderten wohl denkbar ist),
dass sich daraus die Aenderungen in /.• ergaben; auch diss ist
bei der vulgata anders, welche kaum ein paar Jahre, höchstens
Jahrzehute,') später als C entstand. Die grosse Verschiedenheit
im ganzen Wortlaut grösserer und kleinerer Stellen, die zwischen
Ji und C herrscht, hat nothwendigerweise die Anhänger von C
5) Denn die Beispiele Veldeckes und Heslers beweisen nichts. Veldecke
sagt nur, dass das Gedicht, weil es ihm entwendet worden, in anderer Ge-
stalt erschienen sei, als wenn es ihm geblieben wäre; er braucht also nicht
nothwendig von Umarbeitungen zu reden, sondern er spricht wohl gerade
von der Abschrift des Gedicbts in dem unvollendeten Zustande, in dem
es bei dem Diebstahl sich befand und an den er sonst noch Hand gelegt
hätte. Hesler aber spricht von nüsseschnbeji; diss ist wohl nichts anderes,
als wenn ein Autor unserer Zeit sich über Druckfehler in seinem Werke
beklagt, die entstanden seien, weil er die Correctur nicht geleitet habe. Am
ehesten hätte Zarucke den Schluss der Kindheit Jesu des Konrad von
Fussesbrunnen für seinen Beweis benutzen können:
Swer sich nu dar an richet
wit ez baz oder anders sprichet
(al. stver ir uns me berihtet
unt si baz oder anders tihtet) '
iint setzet siniu spei dar zuo,
des dunket mich, er missetuo,
wan er 'ntcrt selbe sich
(al. unt välschet selbe sich).
Der ir begunde daz bin ich u. s. w.
(S. Hahn, Gedichte des XII. und XIII. Jahrhunderts, Seite 102 und 146).
Doch auch dieses Beispiel deckt sich mit dem, was Zarncke für die Nibe-
lungen annimmt, nicht völlig; Konrad scheint mehr von Eindichtuugen und
Erweiterungen in der Art, wie sie etwa bei den Reinhartserzählungen statt-
fanden, als von blosser Ueberarbeitung zu reden. Ueberhaupt ist diese eine
Beispiel nicht beweisend.
fi) Xarrenschitf 14'J4; k ebenfalls 1-5. Jahrhundert.
") S. u.
76 I. r)ie Entstehung des Nibelungenliedes.
dazu getrieben,. B als aus C überarbeitet anzusehen. Auch
ein Motiv der Ueberarbeitung ist gefunden worden: es war die
Zustutzung des Liedes zum Geljrauche der varnden, um welcher
willen nun verschiedene Zusätze und Aenderungen gemacht
wurden, • welche theils den Zusammenhang der Aventiuren
lockern theils durch populär gehaltene Uebertreibungen „im
bänkelsängerischen Stile'", durch ., arge Eifecthaschereien " u. dgl.
die für höfischen Gaumen berechnete Speise dem derberen Ge-
schmacke des Publicums der Jahrmärkte und Kirchweihen
geniessbar machen sollten. Beides ist entschieden nicht über-
zeugend. Dass der Zusammenhang der Aventiuren durch das
vielfache Fehlen von Strophen am Schluss von Aventiuren ^
gelockert würde, lässt sich nicht sagen. Was aber die Ver-
änderungen und Zusätze der vulgata betrifft, welche einen derb
auftragenden, plumpen Ton und Charakter haben sollen, so ist
häufig dieser Ton gar nicht zu finden oder jedenfalls nicht
störend gegenüber dem Ganzen des Gedichts; „verkehrt"") sind
diese Aenderungen und Zusätze mindestens nicht.'") Was aber
S) S. oben § 6, not. 46.
9) So Zarncke, Ausg. XV, 6 v. u.: „wenn auch nicht Alles gleich ver-
kehrt ist."'
10) Die von Zarncke (Ausg. XIV. XV.) für die plumpe Geschmacksrichtung
der vulgata angeführten Stellen beweisen eine solche nicht. 4S2 If. enthält,
wie Rieger S. 4 und Pasch S. 104 richtig bemerken, keine Andeutung über
Brünhilds Geiz, sondern nur einen leichten Spott über Dankwarts ..belustigende
reckenhafte oder jugendhche Maasslosigkeit"; dieser Spass ist wohl nicht
eben fein und steht an sonderbarer Stelle, aber eben deshalb mag C geändert
haben; Zarncke selbst nennt (Lit. Centr. Bl. 1S54, Sp. ll.i ff.) Dancwart
einen „Grünschnabel"', wird also gegen Riegers Erklärung nichts einwenden
können. — Str. 499"^ (fehlt merkwürdigerweise, doch gewiss zufällig, auch
in A) ist allerdings ufihötisch und unhöüich, aber „plump"? Ebenso gut
kann C ausgelassen haben, um den Anstoss zu beseitigen. — Str. 643 ü44
ist allerdings auffallend; aber was Zarncke darin findet, liegt nicht noth-
wendig darin; Hagen sagt: tvan ir wol bekennet der Tronegare site, beruft
sich also darauf, dass die Herren von Tronege nie in fremden Dienst ge-
treten seien; trotz der Worte ()4:], 3: do (/ewan dar umhe Hayene ein
zornlickez leben, ist seine Rede weder „trotzig"" noch „spottend"". — Str. 1504,
wo Hagen bei der Ueberfahrt über die Donau sein Ruder bricht und er es
mit seinem Schildfesscl binden muss, ist nach Zarncke, Ausg. 370, ein
,.geschmackloscr Einfall"", nach Lachmann, Anmerkungen S. 19.5, ein ..sehr
schöner und ohne Zweifel aus der Sage genommener Zug". Wer hat hier
Recht? — Dass die Lesart der vulgata "2303, 3 um si ir bruoder houbct hin
für Ilagenen irouc, eine „arge Effecthascherei" sei, ist nicht wahr: sie thut
das hier Gesagte nachher auch in C (s. auch Dressel S. 22 j. — Str. 1S49
1. Die Handschriftenfrage Kntil<; und Eesultate. 77
den Hauptpunct 1)etrifft, in Avelcheni B und C auseinandergehen
sollen, dass nemlidi ( ' Kriemliiid entschuldige, B sie 7A\ verdäch-
tigen suche, so hat wohl Dressel nachgewiesen, dass auch JJ die-
jenigen Gesinnungen kennt, welche C der Kriemhild zuschreibt, dass
ferner auch (' derselben einen F)itteren Hass gegen Günther als
den Helfershelter des Mordes an Siegfried nachsagt. Die hier
in Betracht kommenden Verschiedenheiten sind somit unbedeutend,
berühren jedenfalls den Charakter der beiderseitigen Texte nicht.
Die betreffenden Strophen und Lesarten von Cund von Z> beweisen
somit weder für C noch für B, und ihr Schicksal wird von der
sonstigen Ansicht eines Jeden über das Verhältnis der Bearbei-
tungen abhängig sein müssen.
Aber selbst, wenn wirklich die durchgreifende Geschmacks-
verschiedenheit zwischen B und C herrschen sollte, die Zarncke
hauptsächlich behauptet, so würde die Annahme, dass die vul-
gata eine Umarbeitung aus wesentlich ästhetischen Motiven sei,
die Schwierigkeiten noch lange nicht beseitigen, welche die
grossen Abweichungen beider Texte an einzelnen Stellen der
Al)leitung der vulgata aus der Bearbeitung C nothwendig be-
reiten müssen. "Wenn nachgewiesen wäre (was es nicht einmal
ist), dass die vulgata eine Umarbeitung aus ästhetischen Gründen
enthalte, so würden sich dadurch Zusätze, Auslassungen und
Aenderungen, wie die not. 10) berührten, begreifen, auch wohl
Entfernung mancher unpopulären Wörter und Wendungen. Aber
so indifferente und doch nothwendig absichtliche Abweichungen
und Aenderungen, wie sie sich in Hunderten von Versen zAvischen
wird die Lesart von B bestätigt durcfi die Thidrekssaga und durch das bei
Dressel S. 19 aus dem Anhange zum Heldenbuch Mitgetheilte. Mögen auch
diese beiden Quellen von der vulgata abhängig sein, so ist doch vielleicht
dieser beiderseits überlieferte Zug sagenmässig. Dass die Darstellung in
B nicht recht passt, ist dabei leicht erklärlich; ebenso ist durch die Weg-
lassung des früheren Verhältnisses zwischen Siegfried und Brünhild Manches
darauf Bezügliche verwirrt und unverständlich geworden. — Str. 205"'', wo
das Gewölbe des von Ivriemhild angezündeten Saales erwähnt ist, fehlt in
der vulgata vielleicht mit L'nrecht; dass diss aber Folge übertreibender Efiect-
hascherei sei, ist unbeweisbar.
Dass es gefährlich ist ästhetische Puucte in die Textkritik liereinzu-
ziehen, zeigt Str. 140S'*, wo die Erwähnung der Oelschnitten in C gewiss
auch recht wohl einer ..verschnörkelnden Ueberarbeitung- (Zarncke, Ausg. XIV)
zugeschrieben werden könnte; ferner könnten auch Str. 622''-« füglich als
eine plumpe Erweiterung des in B kürzer erzählten nächtlichen Ringens
gelten.
78 I- Die Entstehung des Xibelungenliedes.
B und C finden, können weder aus der Nachlässigkeit und
Unbildung des Verfassers der vulgata, noch aus der Geschmacks-
richtung derselben erklärt werden.
Es bleibt somit Liliencrons Einwurf in seinem vollen Rechte,
und damit ist die Mrjglichkeit aufgehoben, dass B (d. h. die
vulgata) aus C stammen könne, auch wenn Ueberarbeituug von
Seiten der vulgata angenommen wird.
17.
War so Holtzmann mit seinen Resultaten keineswegs glück-
lich, so waren doch auch die Repliken, die er von Lach-
mannianischcr Seite fand, keineswegs dazu angethan, ihn zu
widerlegen, noch weniger, Lachmanns Theorie der seinigen
gegenüber wider plausibel zu machen.
Von Müllenhoffs Schrift kann hier abgesehen werden;
denn was sie für die Handschriftenfrage Ijietet, ist gleich Null;
darauf recurrieren, dass Lachmanns Text als der beste vor-
handene zugleich tiir A als die Handschrift, aus welcher er
geschöpft sei, beweise, hiess, wie Holtzmann (Kampf etc. 5-4 flf.)
bitter, aber wahr entwickelt hat, den Kampf mit den Waffen
der Wissenschaft aufgeben und an deren Stelle die der Autorität
setzen.
Auch Liliencrons und Riegers Repliken haben ent-
schieden nicht für ^4 bewiesen. Denn wenn Holtzmanns und
Zarnckes Schriften noch nicht genug bewiesen hatten, dass A
aus B verderbt ist, so hat es für u n s Bartschs Werk be^viesen.
Auch hat bei den beiden Vertheidigern der Lachmannischen
Lehre das kritische Princip, das jeder von ihnen anwandte, ihre
eigene Ansicht widerlegt. Liliencrons richtiger Einwand, dass
man aus dem Vorhandenen nicht wohl etwas Schlechteres mache,
beweist nicht die Entstehung von C aus i>; denn auch B hat
an vielen Stellen eine bessere Lesart als C,') und die zahlreichen
Stellen, wo beide eine gleich gute und doch wesentlich ver-
schiedene Lesart bieten, bleiben unerklärt. Wird also Lilien-
crons Princip an dem wirklichen Handschriftenverhältnis durch-
geführt, so beweist es nur die Unmöglichkeit, irgend eine der
beiden Bearbeitungen aus der anderen entstehen zu lassen.
Rieger aber hat nicht nur darin gefehlt, dass er A für die
beste Handschrift hielt, C für die schlechteste, sondern auch
1) S. schon Holtzmann; noch mehr Rieger.
1. Die Ilaudschrifteufrage. Kritik und Resultate. 79
(lariu, dass er, der selbst eine Reihe von Stellen angeführt
hatte, wo (' besser sei als ^if), dennoch schliesslich nach dem
Grimdsatze, dass das Bessere stets das Echtere sei, .1 den Vorzug
gab. Consequenterweise konnte er nur an den betreffenden ein-
zelnen Stellen B oder C für echt halten. Er hat also einen
ni ö g 1 i c h e r w e i s e falschen G rundsatz auf ein im Ganzen jeden-
talls falsch aufgefasstes Verhältnis inconsequent angewendet,
18.
Zarnckes Theorie hat wegen ihres vollständigen An-
schlusses an die Holtzmannische für das Wesentliche und All-
gemeine nichts oder nicht viel Neues gebracht, ist daher auch
oben (§ K)) zugleich mit der Holtzmannischen behandelt worden.
Verdienstlich waren Zarnckes Leistungen mehr für das Einzelne,
und hier verdienen zwei Puncte kritische Betrachtimg.
1) Zarncke hat die Gruppe J als Mittelglied zwisclien C
und B beti'achtet. Das oben Bemerkte') wird wohl die
gegnerische Ansicht mehr plausibel machen, dass die Gruppe J
aus einer Mischhandschrift stamme. Auch die Weglassuug
aller durchgereimten Strophen in J, i«owie einige Aenderungen
im ritterlich- höfischen Stile"-) beweisen das jüngere Alter dieser
Gruppe.
2) Die Zeitbestimmung der vulgata bei Zarncke ist
gewiss geistreich, aber nicht zwingend. Es ist wahr, dass wir
über die Schwierigkeiten des Schreibfehlers in 1272 und 1276
hinauskommen könnten, wenn wir berechtigt wären, die vulgata
später anzusetzen als Nitharts Gedichte, Diese Frage soll unten
eingehender erörtert werden; zunächst lässt sich aber gegen
Zarncke Folgendes wohl mit Recht einwenden. Die Schwierig-
keit, wie ein ortskundiger Oesterreicher hätte dazu kommen
sollen, Zeisselmauer als Ort eines dreitägigen Aufenthaltes einer
Fürstin zu nennen, ist nicht viel grösser, als die, wie Jemand
hätte darauf verfallen sollen, aus Nitharts Gedichten, wo Zeissel-
mauer als Wohnort von Schweinehirten mid anderem Gesindel
mit Spott Übergossen wird, eben dasselbe Zeisselmauer in der ge-
nannten Weise im Nibelungenliede zu verwenden. Die ganze Frage
mag also unentschieden bleiben bis zur Discutierung der Theorie
Bartschs, welcher der Ansicht Zarnckes entgegengetreten ist.
1) S. § «, not. 16.
■2) S. Bartsch, Unters. 3S2; Ausg. XXII.
so I- I'ie Entstehung des Nibelungenliedes.
19.
Paschs Handschriftenuntersuchung wurde etwas ausführlieh
behandelt, weil sie von einem ganz anderen Gesichtspuucte aus
zu einem ähnlichen Resultate gelangt, wie die Bartschische.
Denn im Einzelnen ist Paschs Arljeit wohl nicht von grosser
Bedeutung. Sie ist jedenfalls sehr flüchtig gemacht und ent-
hält starke Verstösse.') Die Kritik der Holtzmannischen Prin-
cipien wäre gelungen zu nennen, wenn nur Holtzmann von
denselben überhaupt umfänglichen Gebrauch gemacht hätte.
Holtzmann hat dieselben zwar ausgesprochen, und seine Resultate
stehen in Uebereinstimmung mit denselben; aber zu diesen Re-
sultaten gelangte er auf Grund der Einzeluntersuchung. Pasch
hat die letztere nur in einem Punctc zu widerlegen versucht,
in Beziehung auf die Plusstrophen von C, welche er ihrem
grösten Theile nach für überflüssig hält. Es ist ihm indes sein
Xachweis nicht gelungen; unentbehrlich ist freilich keine der
Strophen, die er für überflüssig hält, aber als schlecht und
störend hat er keine davon nachzuweisen vermocht.-) Dazu
kommt al)er, was die Hauptsache ist, dass Pasch A und die
1) S. Pasch S. 97: „Rechnen ^vil• dazu, dass bei A sogar am Anfange
des ganzen Liedes eine Strophe fehlt, die 3!", als ob nicht vielmehr Str. 3
in A stände, in BC aber fehlte! S. 99 hat Pasch bei Holtzmann „unwahr-
scheinlich- gefunden und druckt so ab, scheint aber zu meinen, es heisse
„wahrscheinlich" !
2) Str. 94 ** ist nach Pasch überfliissig , Holtzmauns Gründe für diese
Str. nichtig. Die Str. wird nicht eben vermisst; allein ganz richtig ist. was
Holtzmann zu dieser Strophe bemerkt, Pasch aber nicht berührt hat, dass
nemlich das Schwert Balmunc in C 94 '' steht, von der vulgata erst in
Str. 90 , welche C fehlt . nachgeholt wird, was eher für als gegen C spricht.
S. Eieger S. 6.
Str. 271 wird gesagt, dass Günther von der stillen Liebe Siegfrieds zu
Kriemhild wohl gewust habe; 272 sagt Ortwin, dass, wenn Günther das
Siegesfest (nach dem Sachsenkriege) recht feiern wolle, er die Jungfrauen
seines Hofes öffentlich dazu beiziehen müsse, besonders auch Kriemhild.
Zwischen beiden Str. steht in C eine dritte (271'>), worin Günther seine
Mannen auffordert, ihm über die rechte Art, das Fest zu halten, Rath zu
ertheilen. Pasch behauptet, dass durch diese Str. ein feiner Gedanke ver-
wischt werde: Günther weiss, dass Siegfried Kriemhild liebt und denkt des-
halb, er wolle sie zum Feste beiziehen; Ortwin hat denselben Gedanken und
spricht ihn 272 aus. — Allein wie dieser ..feine Gedanke" durch die
Str. 271'' verwischt werden soll, ist nicht abzusehen. 271'' spricht
Günther keineswegs aus, dass er Kriemhild um Siegfrieds willen beiziehen
1. Die Handschriftenfrage. Kritik und Resultate. 81
vulg-ata fortwährend verwechselt, l)ald solche Strophen anführt,
die /j mit C gemein hat, bald solche, welche nur in C stehen;
■wolle; er fragt nur, wie es sich gehört, seine Magen um Rath wegen des
Festes; Kriemhild oder überhaupt die Frauen werden 271'' mit keinem
"Worte erwähnt. Ob Ortwin überhaupt denselben Gedanken hat wie Günther,
ist zweifelhaft. Das Beiziehen der Damen gehörte wohl zu jedem solchen
Hoffeste; Ortwin kann also seinen Rath auch aus Schicklichkeitsgründen
geben. Will aber wirklich der Dichter Ortwin jenen Gedanken haben lassen,
so ist iliese Auffassung nach C ebenso möglich wie nach B. — S. Rieger S. 6.
Str. 329 widerräth Siegfried den Zug nach Island mit den Worten : ja
hat diu küncQinne sd vreisUcIte sitc, swer nmhe ir ininne ivirbet, daz ez im
höhe stät; darauf räth 330 Hagen dem Könige, Siegfried zur Theilnahme an
dem Zuge aufzufordern, sft im daz ist so kändec, wiez umhe Prünhikle stät.
Zwischen diesen beiden Str. hat C 2 weitere und dk eine dritte, in welchen
drei Str. Siegfried auseinandersetzt, dass 4 Männer nicht gegen Brünhild
aufkommen könnten, und Günthern räth, wenn ihm sein Leben lieb sei, nicht
hinzugehen. Pasch hält diese Strophen für überflüssig, während Holtzmann
meinte, die Worte sU im daz ist sd kündcc etc. könnten sich nicht auf 32*>
allein beziehen. Dennoch dürften die 3 Strophen zu halten sein (wenn auch
beide Gründe dafür nicht eben zwingende sind) . 1 ) um des Sinnes willen.
Denn wenn Siegfried einmal mit so vagen. Worten wie 329 von Brünhilds
Gefährlichkeit geredet hat, so hat Hagens Yermuthung, dass Siegfried genau
um Brünhild wisse, keine besonders genügende Begründung. Allerdings hat
Pasch darin Recht, dass, was Siegfried 329'^ über Brünhild sagt, nicht
stärker ist oder auf nähere Bekanntschaft mit ihr deutet als 329; aber die
mehrmalige Warnung Siegfrieds in Cdk gibt Hagen erst genügende Veran-
lassung zu der Yermuthung, dass Siegfried genau um Brünhild wisse (denn
ihre frühere Bekanntschaft kennt Hagen nicht, da er Str. ST — 102 nichts
davon erzählt) 2) Sind die 3 Strophen festzuhalten wegen ihrer handschrift-
lichen Ueberlieferung. Dass d und k dieselben haben, während diese Hand-
schriften sonst {k jedenfalls in diesem Theile) zur vulgata gehören, macht
ihre Echtheit nicht unwahrscheinlich. In / stehen die 3 Strophen nicht,
sie fanden sich wohl in 0, dem Original von d, und stammen alsdann jeden-
falls aus dem 13. Jahrhundert, wenn sie nicht älter sind. — S. Rieger 16.
Str. 338 fragt Günther, ob er nicht Recken in Brünhilds Land mitführen
solle; 30000 [C 2000) könne er bald zusammenbringen. Darauf entgegnet
Siegfried 339: der fjesellen hin ich einer, der ander soltu wesen, der dritte
daz sl Hagene {wir mügen wol genesen], der vierde daz si Dancwart, der
vU küene man; ttns endurfen ander tüsent mit stnte nimmer hestan. Da-
zwischen stehen in C und B noch zwei Str., worin Siegfried sagt, wenn sie
auch noch so viel Volkes mitnähmen, so würden doch alle vor dem ühermuot
Brünhilds sterben. Daher soll Günther nur selb riert in recken ?vise nach'
Island fahren. — Pasch behauptet, diese 2 Str. seien störend. Auf 338, 4
könne Siegfried nicht entgegnen: ..Nicht 30000, sondern 4 wollen wir mit-
nehmen", sondern er könne nur sagen „Du und ich und 2 andere wollen
gehen". [Was das heissen soll,, ist nicht zu verstehen.] Nach 33S'' sollen
keine 30000 mitgenommen werden, weil doch alle umkommen würden; diss
Fischer, NibeIungenli>Hl. "
82 I- Die Enstehung des Nibelungenliedes.
ohne die Verschiedenheit dieser beiden Verhältnisse irgend gewahr
zu werden.
stehe im Widerspruche mit 339, 4. Allein auch hier hat Pasch ganz falsch
gesehen. Abgesehen davon, dass Siegfried gar nicht ausdrücklich als redend
eingeführt wird, wenn die beiden Strophen fehlen, so ist doch ganz undenkbar,
wie er auf die Frage i33S) Günthers antworten sollte: der gesellen etc.,
damit weist er ja die 30000 gar nicht ausdrücklich zurück, gibt auf Günthers
Frage gar keine Antwort. Was aber den Widerspruch betrifft, der zwischen
338'' und 339, 4 stattfinden soll, so ist derselbe gar nicht vorhanden, und
wenn vorhanden, sehr unbedeutend. Liisst sich nicht denken, dass Siegfried
abräth. Mannen mitzunehmen, weil diese doch alle umkommen würden? und
lässt sich damit nicht vereinigen, dass er sagt, gegen sie vier als besonders
tapfere Helden werden 1000 nichts ausrichten? Diss ist eine im Epos jener
Zeit nicht unerhörte Prahlerei. — Ohnehin stehen die 2 Str. in B, müssen
also echt sein. — S. Rieger 21 f.
Str, 42S'' steht in B, ist also echt. Die Gründe für und gegen, sofern
sie aus dem Sinn und Zusammenhang genommen sind, sind unbedeutend. —
S. Rieger 26.
iStr. 491, 4 — 491'', 3 ist wirklich durch graphisches Verfahren in A
[und B] ausgefallen.)
Str. 565'' wird der altgermanischen Sitte gedacht, nach welcher vor
einer Verlobung die Verwandten um ihre Zustimmung befragt wurden. Die
Str. wurde nach Holtzmann in der vulgata ausgelassen, weil diese jene Sitte
nicht mehr kannte. Allein es berechtigt nichts zu der Annahme, dass im
13. Jahrhundert diese Sitte nicht mehr bekannt gewesen sei. Im Gegentheil
konnte sie der Dichter leichter zu erwälinen vergessen als der Bearbeiter C,
welcher überhaupt liebt, solche erweiternde Strophen einzufügen. — Man
wird diesem Einwand Paschs nicht widersprechen können; aber er beweist
nur die Entbehrlichkeit, damit aber nicht auch die Unechtheit der Strophe.
S. Rieger 7.
Str. 589 1» wird erzählt, dass Brünhild in der Rrautnacht den Günther
bis an den Tag habe hängen lassen; nach Holtzmann wird diese Str. durch
Str. 600 gefordert, wo Günther eben diss erzählt. Allein die Str. ist nach
Pasch nicht nothwendig; A setzt eben voraus, dass Günther bis an den
Tag gehangen sei; diss erhellt aus Brünhilds Frage 590. — Auch hier ist
Paschs Argumentation falsch. Entweder hängt Günther bis an den Tag
(nach 600 nothwendig), dann ist in A ungeschickt erzählt; denn die ganze
Darstellung in A, besonders das dd 589, l macht den Eindruck, als ob
Günthers Bitte in 5S9 gleich nach dem Aufhängen geschehen sei, und Brün-
hilds Frage 590 ist gleich nach dem Aufliängen ebenso möglich wie am
Morgen; denn wenn sie ihn nicht löst, so finden ihn seine Kämmerer jeden-
falls gebunden. Oder aber, Günther hängt nach A nicht bis an den
Tag; dann Widerspruch mit 600. Die Strophe ist also echt, zumal da sie
auch in B steht. — S. Rieger 25.
Str. 848 •> . Auf die Verabredung und Ankündigung des falschen Sachsen-
kriegs hin geht Hagen zu Kriemhild, welche zu Siegfrieds Sicherung im
Kampfe auf sein Gewand ein Kreuz näht und Hagen bittet, diese einzig ver-
1. Die Haiidschriftenfrage. Kritik und Resultate. 83
Mit dem ganzen Spielen mit den Begriffen von „Faulheit"
und „Nachlässigkeit" ist nicht viel zu erreichen; der Schreiber
wundbare Stelle Siegfrieds zu beschirmen. Ilagen verspricht diss in Str. 848
und geht irw/ic/ie dan. 849 fährt fort: des kiateges inyesindc (= Hagen;
s. Zarncke, Beitr. 161) was allez wol tjetmiol etc. Darauf folgt die falsche
Heerfahrt und wird durch Boten Hagens wieder vereitelt; Günther ladet
Siegfried zur Jagd ein. Nach 84S hat nun C allein eine Str., worin gesagt
wird, dass Hagen dem Könige den unfreiwilligen Verrath Siegfrieds durch
dessen Weib und seinen darauf gegründeten Plan mitgetheilt habe, der König
aber damit einverstanden gewesen sei. Denselben Inhalt hat Str. 858, welche
in ('fehlt. — Pasch folgert hier ganz falsch : „Hagen sei fröhlich, weil,
nachdem er Siegfrieds verwundbare Stelle erfahren, die Heerfahrt unnöthig
sei." Es ist aber gar nicht denkbar, dass dieselbe jemals nöthig, jemals
ernstlich gemeint gewesen wäre; wie sollte man einen Kampf veranstalten,
in dem Siegfried vielleicht gar nicht fallen, sondern nur den verkappten
Burgunden recht viel schaden konnte I Der einzige Zweck, um dessen willen
der Scheinkrieg überhaupt angekündigt und vorbereitet wird, ist offenbar
kein anderer, als, wie es auch hernach geschieht, durch KriemhUd Siegfrieds
verwundbare Stelle zu erfahren. Ganz genau dieser Zweck der Scheiufahrt
ist bei der ersten Verabredung derselben Str. 818. 4 erwähnt, in C deutlich,
in AB minder klar, aber unzweideutig. — Die Str. 848^' kann also unecht
sein; aber Paschs Bemerkung dazu ist unsinnig. — S. Rieger 17.
Str. 1614 sagt an Rüdigers Hofe Volker, wenn er ein Weib wollte, so
würde er ohne Bedenken Rüdigers Tochter wählen; 1615 „antwortet" Geruot,
sein Sinn wäre derselbe. Dazwischen haben 6' und B eine Str., worin
Rüdiger sagt, ein König würde ja doch eines Verbannten Tochter nicht zum
Weibe nehmen wollen. Nach C, in welcher sich mehrere Ausdrücke von
1615 auf 1614'' beziehen, ist letztere unentbehrlich, nach dem Wortlaut der
vulgata nicht. Die Str. kann allerdings fehlen, ist aber jedenfalls echt,
weil in BC stehend. S. dazu die schöne Auseinandersetzung bei Zarncke,
Nib.-Frage 29-32. S. Rieger 23.
Str. 1835'"^. Volker hat im Turnier einen Hünen getödtet; es erhebt
sich ein Streit, den Etzel abbricht. Man geht zu Tische, Str. 1835, und
Z. 4 wird gesagt: da heten die von Eine starker viende gemioc. Es dauert
(1836) lange, bis mau sich gesetzt hat; inzwischen bespricht sich Kriemhild
mit Dietrich über ihr Vorhaben u. s. w. Nach . Str. 1835 haben nun CJ
2 Strophen, welche eine Erläuterung zu 1835, 4 bilden, indem sie aussagen,
dass sich aus Hass viele bewatfuet an die Tische gedrängt haben und dass
Etzel allen Unfug verboten habe. Diese Str. sind nach Pasch entbehrlich.
Allerdings, doch damit noch nicht unecht. — S. Rieger 17.
Str. 1939'"^^. Die Unparteiischen, Etzel, Dietrich und Rüdiger verlassen
den Saal. Volker tötet einen Hünen und Etzel klagt (1938/1939) über
diesen Mann, der ihm alles tot schlage. Nachdem sich die drei Genannten
entfernt, geht der Kampf weiter. Nach 1939 hat C 2 Strophen, worin gesagt
wird, dass Dietrich und Rüdiger in ihre Herberge gegangen seien. Diese
2 Strophen sind nach Holtzmann .unentbehrlich, weil beide nachher aus ihrer
Herberge kommen und man sonst nicht wisse, dass sie überhaupt dort
6*
84 I. Die Entstehung des Nibelungenliedes.
von ^4 war jedenfalls sowohl faul als nachlässig. Der ganze
Hanpt-Schluss des ersten Theils beweist nicht viel oder gar
nichts; der zweite Theil noch weniger, da das meiste hier als
„ grammaticalische Eigenthttmlichkeiten " Erwähnte — ortho-
graphische Besonderheiten sind, die keinen Schluss gestatten
(s. oben § 11, not. 27).
20.
Ganz anders Bartsch. Seine Theorie bietet vor allem das
Wohlthuende einer in sich ruhenden, abgeschlossenen und ein-
heitlichen, auf Grund sämmtlicher in Betracht kommenden Ver-
hältnisse autgel)auten Totalanschauung. Es sind, und man kann
sagen durchweg mit Glück, alle kritischen Handhaben, sogar
mit peinlicher Genauigkeit, verwendet und auf das Endresultat
des Ganzen bezogen. Dem allem kommt eine ausgedehnte
Kenntnis der zeitgenössischen Litteraturgeschichte zu Hilfe,
welche den Verfasser vor kühnen und haltlosen Schlüssen')
bewahrt; so dass Bartschs Theorie mindestens — und das werden
auch alle ihre Gegner von ihr zugeben müssen — als keines-
wegs unmöglich, vielmeihr als sehr plausibel und, wenn bewiesen,
als höchst willkommen und befriedigend erscheinen muss, nament-
lich da diese Theorie eine versöhnende Vermittlung zwischen
den beiden extremen Parteien zu bilden trefflich geeignet ist.
Es kommt aber darauf an, die Beweise Bartschs näherer
Betrachtung zu unterwerfen. Was gegen dieselben vorzu-
bringen war, hat Zarncke in der dritten Auflage seiner Ausgabe
(S. XXXIX — XLHI) beigebracht; Bartsch antwortete, nicht eben
fein, in Pfeiffers Germania (Band XIII, 217—240), damit zugleich
eine Kritik des Textes von Zarnckes Ausgabe verbindend, auf
welche letztere Zarncke in derselben Zeitschrift (Band XHI, 445 ff.)
antwortete. In der vierten Auflage seines Nibelungenliedes
(1871) dmekte Zarncke das in der dritten gegen Bartsch Vor-
gewesen. — Pasch wendet richtig ein, dass sie ja schon 1932 und 1935 ge-
gangen seien, so dass nicht uothwendig dazustehen brauche, wohin. Ausserdem
seien 1939'"^ störend, 1939'', 3 sei zu wenig innerlich [wie soV ^sine wolden
mit dem stritc niht ze schaffen häiv], und es seien AViderholungen in den
Versen enthalten. — Die Strophen sind allerdings entbehrlich ; aber inwiefern
sie schlecht oder störend sein sollen, ist nicht einzusehen; sie stehen an ganz
guter Stelle. S. Rieger 10.
1) Wie etwa die Holtzmanns in dem zweiten (und dritten) Theile seiner
„Untersuchungen".
1. Die Handschriftenfrage. Kritik und Resultate. 85
gebrachte wider ab (S. XLVIII— LI). Es soll im Folgenden
auf Zarnckes Einwände Rücksicht genommen werden.
Bartschs Theorie war gewissermaasscn durch die vorher
allein vorhandenen Theorieen geboten. Beide streitenden Parteien
hatten sich und ihren Stoff zum Ueberdruss erschöpft; ])eide
hatten einander trotz alles angewandten Schaifsinns, der freilich
nicht selten mit einer minder wünschenswerthen Zugabe von
Grobheit und beissenden Ausfällen auf den Gegner versetzt war,
nicht überzeugen können. Man hat in der That bei der Lcctüre
der Untersuchungen Holtzmanns. Zarnckes und ihrer Gegner
das Gefühl, dass beide Theile Recht haben, d. h. richtiger keiner
von beiden. Im Gebiete der Strophendiflferenz und der Lesarten,
auch in dem Wenigen von Metrik, was Holtzmann (Unters.
S. G2 — Sl) und Rieger (Nibelungen S. 91 — 100) beibringen,
haben beide Parteien Hunderte von Stellen tiir sich beigebracht,
jede mit demselben Recht und an einzelnen Stellen beide über-
zeugend. Daraus muste sich dem Unparteiischen die Folge
ergeben, dass wohl keiner der bis dahin einseitig vertreteneu
Texte das absolut Echte, d. h. die Quelle der anderen darstelle,
dass vielmehr alle Texte mit einarider auf ein von allen ver-
schiedenes Original hinweisen." Und diese Verschiedenheit des
Originals von seinen Bearbeitungen kann nicht als eine so un-
bedeutende erscheinen, wie auch die extremsten Vertreter einer
der feindlichen Ansichten eine solche annehmen musten und
annahmen, sondern sie muss eine durchgreifendere gewesen sein,
will mau aus ihr die manchfachen, nicht unbedeutenden Einzel-
verscbiedenheiten der beiden Haupttexte genügend ableiten
können. Ferner aber muss natürlich an den Stellen, wo die
Texte abweichen, ein Wortlaut im Original angenommen werden,
welcher die beiderseitigen Aenderungen begreiflich macht und
erklärt.
Auf diesen Gesichtspunct hin hat denn auch Bartsch wirk-
lich alle in Betracht kommenden Puncte und alle eine Les-
artenverschiedenheit enthaltenen Stellen des Gedichtes betrachtet
und wirklich bewiesen, dass in allen Puncten beide Bearbeitungen
des Gedichts abwechslungsweise echtere Gestaltungen des Textes
der einzelnen Stellen darbieten, dass sich kein Punct findet, in
welchem wirklich eine Bearbeitung absolut echter wäre als
die andere.
Aus allen den vielen Gesichtspuncten, die Bartsch der Text-
kritik zu Grunde legt, ragen durch Wichtigkeit zwei hervor:
S6 I. Die Entstehung des Nibelungenliedes.
1) Die freien Reime, 2) die Senkuugsgesetze , namentlich
die Beliandliing der achten Halbzeile.
1) Durch die Betrachtmig der freien Reime gewinnt Bartsch
das Verhältnis der Bearbeitungen unter sich und zu dem ver-
lorenen Original. Zarncke glaubt vielleicht nicht mit Unrecht,
dass in den freien Reimen, die noch im Nibelungenlied erhalten
sind, kein Beweis liege. Denn solche Reime finden sich noch
bei späteren Dichtern und in grösserer Anzahl als im Nibelungen-
liede. Ausserdem beschränkt sich weitaus der grösste Theil
dieser Reimfreiheiten auf Reime auf den Namen //o^^«^; Bartsch
bemerkt (Pf Germ. XIII, 221) zwar mit Recht, dass auf diesen
Namen genug genaue Reime möglich gewesen wären ; aber sollte
nicht der Name als solcher (denn Namen gemessen ja stets
gewisse metrische Freiheiten, wenn auch sonst nicht eben im
Reime) vielleicht auch noch in einer Zeit genauerer Reime einen
ungenauen Reim gestattet haben? Dass nun gerade die auf-
fallendsten, alterthümlichsten mid freiesten Reime sich durch
zwei formelle Umarbeitungen hindurch sollten erhalten haben,
ist auffallend und schwer glaul)licli. Allein sind denn wirklich
jene von Bartsch als besonders alterthümlich bezeichneten Reime,
w^ie Hageyie : fjademe, Hagene : menege^ so ganz besonders frei
mid ungenau"? Bartsch sagt, dass sich solche doppelt -con-
sonantisch und dazu vocalisch ungenaue Reime, deren Reimsilbe
die drittletzte sei, nur vor 1150 noch finden. Das mag sein;
aber es ist vielleicht ein Zufall. Bartsch sagt selbst, dass gewiss
ursprünglich in solchen Wörtern die letzte Silbe gereimt habe,^)
dass aber im zwölften Jahrhundert die drittletzte Silbe die Reim-
silbe gewesen sei. Das letztere mag wahr sein; aber wie soll
dann eine Unregelmässigkeit des Reims hi dieser Silbe, die in-
mitten des Verses steht, schwerer wiegen als eine solche in der
letzten Silbe des Verses, d. h. eine Ungeuauigkeit im stumpfen
Reime? Das Nibelungenlied kennt noch keine klingenden Reime,
somit reimt, genau genommen, in jenen Wörtern die letzte Silbe
— e, welche in allen jenen Wörtern gleich ist; Gleichklang der
vorhergehenden Silben muss natürlich wegen des Worttons
schon gewünscht werden, damit nicht diesem zuwider der Accent
zu einseitig auf die km'ze letzte Silbe falle; aber gefordert
werden kann gewiss der Gleichklaug der vorhergehenden Silben
2) Bartsch, Unters. 2.
1. Die Handschriftenfrage. Kritik und Resultate. 87
nicht. Es ist also gewiss ein Zufall wenn solche freie Reime
nur vor 1150 sich finden/)
Sind also jene dreisilbigen Reime nicht als freier zu be-
trachten als die freien stumpfen Reime, die das Nibelungenlied
enthält, so fallt jener Einwand gegen Bartsch weg, dass sich
gerade die allerfreiesten Reime sollten erhalten haben. Es
lallt aber auch der Schluss weg, den Bartsch aus diesen er-
haltenen freien Reimen auf das hohe Alter des Liedes ziehen
w^ollte.
Beweisen somit die erhaltenen Reimfreiheiten kein höheres.
Alter des Liedes, also keine Noth wendigkeit, über* die hand-
schriftliche Tradition auf eine ältere Gestalt zurückzugehen; so
würde wohl auch der Umstand, dass gerade an allen Stellen,
wo sich ungenaue Reime linden, nur eine Bearbeitung einen
solchen aufweist, noch nicht genügen, um das von Bartsch auf-
gestellte Verhältnis der Bearbeitungen zu beweisen. Denn aucli
wer einer einzelnen Bearbeitung absoluten Vorrang zuerkennt,
wird, ohne seinen Standpunct noch verlassen zu müssen, zu-
geben können, dass an den wenigen Stellen, wo die andere
Bearbeitung einen freien Reim aufweist, diese das Echte erhalten
habe; denn das auf diese Weise sich ergebende Original wird
von der als echtest erwählten Handschrift nicht sehr viel ver-
schieden sein, die letztere also immer noch so ziemlich das
Original darstellen, — Die erhaltenen Assonanzen werden
also das von Bartsch aufgestellte Handschriftenverhältnis noch
nicht beweisen, wohl aber, wenn es anderswoher wahrscheinlich
gemacht wird, den Beweis wesentlich unterstützen kömien.
Und diss ist auch wirklich der Fall. An den Stellen, wo
noch eine Bearbeitung einen freien Reim erhalten hat, war
glaublich, dass die andere Bear1)eitung eben die Lesart der
ersten geändert habe, um des Reimes willen; hier also brauchte
man im einzelnen Falle — und der Fälle sind wenige — noch
nicht über eine von beiden Bearbeitungen hinauszugehen.
Anders an den Stellen, wo die Bearbeitungen im Reime von
einander abweichen und beide genau reimen. Hier hat keine
von beiden etwas Auftallendes oder Alterthümliches, keine etwas,
was Anlass zur Aenderung gegeben haben könnte. Somit kann
keine Originaltext sein; dieser muss vielmehr, um die Aender-
ungen begreiflich zu machen, irgend etwas Auffallendes, etwas
3) S. auch Zarncke. Ausg. CXIII f. S. über die ganze Frage im Nachtrag.
88 I- Die Entstehung des Nibelungenliedes.
Alterthtimliches gehabt haben. Für dieses Etwas nun bieten
sich bei einem Gedicht, dessen erhaltene Redactiouen an den
Schhiss des zwölften Jahrhunderts weisen, die freien Reime
fast von selbst, für deren Entfernung durch Ueberarbeitungen
älterer Gedichte es ja an Parallelen gerade aus jener Zeit
nicht fehlt. Und sind die noch im Nibelungenliede erhaltenen
Keime nicht als besonders alterthümlich anzusehen, so wml
auch (s. 0.) der Einwand fallen müssen, dass ein Stehenbleiben
gerade der freiesten Reime nicht denkbar sei. Fällt nun dieses
Moment weg, so wird auch, wenigstens vom Standpuncte der
Handschriftenfrage aus,^) jene erste von Bartsch angenommene
und um 1170 angesetzte Umarbeitung nicht mehr nöthig sein.
Jedenfalls aber fällt Zarnckes Einwurf,') dass „das beiden Be-
arbeitungen gemeinsam Verbleibende einen Stil und eine Dar-
stellungsweise zeige, wie sie vor 1190 nicht möglieh seien. "^
Denn nicht nur macht die Persönlichkeit des Dichters, welche
beim Nibelungenliede doch entschieden eine bedeutendere ist
als bei den andern Epikern der Zeit um 1170, eine grosse Ver-
schiedenheit des Stils möglich; nicht nur muss der Stil eines
strophisch gehaltenen Gedichtes nothwendig ein anderer sein*)
als der eines in Reimpaaren verfassten; sondern es ist überhaupt
gewagt, in der Diction einen solchen zeitlichen Unterschied
statuiren zu wollen. Des Kürenbergers Lieder werden in die
Zeit um 1140 gesetzt; wie viele Anklänge an die S})rache des
Nibelungenliedes haben darin Franz Pfeiffer,') Thausing*) und
Bartsch^) nachgewiesen! Wenn endlich Zarncke die Versart
und den Stil des Liedes mehrfach lyrisch sein lässt,'") so darf
hier nur wider an den Kürenberger erinnert werden, dessen
Lyiik wohl nicht für minder modern gelten darf" als die des
Nibelungenliedes, trotz der nach Zarncke vorhandenen zeitlichen
Distanz von einem halben Jahrhundert.
Wir dürfen also gewiss ohne Bedenken Bartschs Ansichten
über die doppelte Umarbeitung einer um 1 170 anzusetzenden
4) Denn die Kürenberger-Theorie verlangt nach Bartsch diese Mittelstufe.
5) Zarncke, Ausg. XLVIII.
6) S. Zarncke, Ausg. VIII; 3S9 f.; Beitr. 239 f.
7) S. Freie Forschung S. "iö— 2S.
8) S. Bartsch, Unters. 30:5.
9) S. Bartsch, Unters. 362 f.
10) S. Zarncke, Beitr. 240.
1. Die Ilaiulschriftenfrage. Kritik und Resultate. 81)
Gestaltung;- des Gedichts, welche noch wesentlich in ireion
Reimen gehalten war, adoptieren, umsomchr als Bartsch zugleich
für alle Fälle der Kcimdiflterenzen ") und für alle Arten von
Assonanzen, die er dafür annimmt,"^) hinreichend viele Parallelen
aus den Umarbeitungen der zweiten Hälfte des zwölften Jahr-
hunderts beigebracht hat. Neben den freien Reimen des Originals
hat jedoch Bartsch auch andersartige Altcrthümlichkeiten an-
genommen und auch dafür Parallelen angeführt.'^)
Für das hohe Alter des Nibelungenliedes führt Bartsch'')
ferner noch die ungenauen Cäsur reime derselben an. Die-
selben wurden von den Bearbeitern selten entfernt, jedenfalls
nicht um ihrer selbst willen, weil auf diese Reime nicht geachtet
wurde. Allein wenn Bartsch sagt, dass „sie überhaupt für zu-
fällig zu halten, ihr häufiges Vorkommen verbiete",") so ist das
doch nicht streng beweisend. Es sind etwa 132 Stellen des
Liedes, die Bartsch anführt und deren Binnenreime er durch-
ähnliche Endreime des zwölften Jahrhunderts als beglaubigte
Reimfreiheiten documentiert. Wie viele von diesen Reimen mögen
rein zufällig sein, umsomehr als Bartsch darunter Reimwörter
von sehr unähnlichem Klange aufgeführt hat ! Können also diese
„freien Cäsurreime", nachdem das hohe Alter des Liedes er-
wiesen, als Reste älterer Form gelten, so ist jedenfalls an und
für sich ebenso möglich die Annahme, dass dieselben ganz zu-
fällig seien; jedenfalls also kann aus denselben kein Schluss
auf höheres Alter gezogen noch auch ein solcher verstärkt werden.
2) Durch die Betrachtung der Senkungsgesetze und ihrer
Beobachtung an den gemeinsamen Stellen und an den jeder Be-
arbeitung eigenen, hat Bartsch das Verhältnis der Bearbeitungen
ihrer grösseren oder geringeren Treue gegen das Original nach
festzustellen gesucht. Auch die hier von Bartsch gezogenen
Schlüsse hat Zarncke a. a. 0. bekämpft. Wenn wir'") aus
ästhetischen Gründen, die in der Auffassung des Ganzen, in der
gesammten Stilart und Darstellung liegen, einer von beiden Be-
arbeitungen den Vorzug nicht geben können, vielmehr beide als
wesentlich gleich und gleichberechtigt betrachten müssen, so
11) S. Pf. Germ. XHI, 2-2 1—223.
12) S. Bartsch, Unters.
13) S. Pf. Genn. XIII, 224; Unters. 4.5 f.
14) Wie schon Holtzmauu, Unters. 67 — 70.
15) S. Bartsch, Unters. 53.
16) S. oben, Seite 76 f.
90 I- Die Entstehung des Nibelungenliedes.
wird der letzte Grund geschwunden sein, C irgend einen kritisch in
Betracht kommenden *') Vorzug vor der vulgata zu geben. Bartsch
hat wohl auch hier richtig gesehen, wenn er C, weil sie den
Versbau möglichst zu glätten sucht, den geringeren Anspruch
auf Originalität zuerkannte. Am deutlichsten ist diss bei der
Behandlung der achten Halbzeile. Zarncke hat hier Bartschs
Beweise nicht zu entkräften vermocht, Dass der kretische
Khythmus des Strophenschlusses nicht gewollt, sondern noth-
wendig herbeigeführt sei durch die in der letzten Halbzeile
häufigsten Worte,'*) hat Bartsch durch Verweisung auf den
Kürenberger, bei dem nothwendig meist andere Worte, als im
Epos, den Schluss der Strophen bilden müssen und der doch
den kretischen Strophenschluss vorwiegend anwendet, genügend
widerlegt.''') Dass C so sehr oft im letzten Halbverse nichts-
sagende Aenderungen ( die also nicht um des Sinnes willen
unternommen sein können) anbringt, durch welche der Rhythmus
jambisch wird, beweist wohl deutlich, dass C den kretischen
Rhythmus mehr oder minder vermied, um die Senkung aus-
zufüllen.
Mit der Behandlung der achten Halbzeile hängt das Schicksal
der Plusstrophen von C eng zusammen. Hat der Bearbeiter
C eine deutlich ausgeprägte Individualität in der Behandlung
des Textes verrathen, deren Haui)tzug das Streben nach Glättung
ist, so wird diese Individualität in den Plusstrophen derselben
besonders deutlich heraustreten müssen, wenn dieselben sein
eigenes Machwerk sind. Diss ist auch wirklich der Fall:
metrische Behandlung und Wortgebrauch weisen wesentliche
1 T) Etwas anderes ist es, wenn C mit Recht in ästhetischen Dingen, als
Grundlage zu Uebersetzungen, Vorlesungen u. ä., bevorzugt wird als der
umfangreichste und im allgemeinen auch beste und feinste Text.
16) Zarncke führt folgende Fälle an, wo kretischer Rhythmus noth-
wendig sei und neben denen freiwillige Kretici ganz selten seien:
1) Die Doppelhebung liegt auf einem Eigennamen von der Form
/\ (^)» wohin die meisten des N. L. gehören: Bnrijnnden u. a. [s. § 13,
not. 93.];
2) Sie ruht auf Appellativen oder Adjectiven von dieser Form, wie
herlicher, bluotirjer, tiatn/e u. ä.; auch diese waren nur bei kretischer Form
an dieser Stelle unterzubringen;
3) Sie ruht auf einem trochäischen Wort, dem ein jambisches folgt:
ri'tlir gemeit, rvöldc gesUni u. ä. Auch hier musste nothweudiger Weise
kretischer Rhythmus eintreten.
19) S. Pf. Germ. XIH, 22^.
1. Die Handschriftenfrage. Kritik und Resultate. 91
Unterschiede auf geg-eiiübcr der Metrik und dem Wortgebrauche
des gemeinsamen Textes. Kretisclier Khythmus der achten
Halbzeile tindet sich unter den &<> atrophen nur neunmal, also
ist das Verhältnis der jambischen Schlüsse zu den kretischen
das von S:l, während iii den Strophen, die ('mit B gemein
hat, das Verhältnis das von (> : 5 ist.'") Auch sonst ist das
Fehlen der Senkungen selten. Der Wortgebrauch Aveist ebenfalls
manchtache Besonderheiten auf; doch sind dieselben wohl nicht
der Art, dass sich aus ihnen allein ein Scliluss ziehen Hesse. —
Die Erklärung, welche Zarncke für diese auffallend grosse
Minderheit der kretischen Schlüsse in den Plusstrophen von C
gegeben hat, dass nemlich diese Strophen fast alle der Betrach-
tung und Reflexion dienen und dass für diese der jambische
Rhythmus mehr geeignet sei, weil die den kretischen Rhythmus
hervorrufenden Wörter meist nur in der epischen Erzählung vor-
kommen, genügt otfen])ar nicht, und Bartsch haf-'j mit Recht
darauf hingewiesen, dass einmal kein Grund vorhanden sei,
warum die Betrachtung und Reflexion die betreffenden Wörter und
AVendungen weniger anwenden sollte als die epische Erzählung,
und dass zweitens auch in den gemeinsamen Strophen die
Schlusszeile sehr häufig eine Reflexion des Diclrters enthalte,
ohne dass deswegen hier der jambische Rhythmus, auch in C,
vorwiegen würde.
Es wird demnach nichts dagegen beizuljringen sein, dass
die Plussstrophen von C eigenes Machwerk dieses Bearbeiters
seien (ebenso auch die denselben metrischen Charakter tragen-
den von CJ), worauf auch schon der gemeinsame Charakter
aller dieser Strophen einigermaassen hinweist. Mehrere dieser
Strophen können allerdings sehr erwünscht erscheinen; aber
nothwendig ist deren keine;'") manche stören durch ihren
glossenmässigen Charakter sehr. Was am meisten für diese
Strophen sprechen könnte, sind die vielen klingenden Reime;
aber Bartschs Erklärung datür dürfte genügen.-^)
Ebenso werden aber auch nach dem Grundsatze, dass nur
das beiden Bearbeitungen Gemeinsame echt ist, die Plus-
strophen der vulgata als unecht gelten dürfen.
20) S. § i:{, not. 57.
21) S. Pf. Germ. Xffl, 22S.
22) S. § 19, not. 2.
23) Bartsch, Unters, t». S. § 13, not. 9.
92 I- Die Entstehung des Nibelungenliedes.
Der doppelten Zudichtung von Strophen durch den Be-
arbeiter von C, welche Bartsch annehmen will, tritt die Un-
wahrscheinlichkeit gegenüber, dass derselbe Bearbeiter zuerst
20 Strophen ohne Cäsurreime, sodann aber 80 Strophen, in
denen auf alle vier Strophen ein Cäsurreim kommt, sollte ge-
dichtet haben. Wenn also die 20 Strophen, welche J mit C
gemein hat, diese Reime nicht enthalten, so ist diss so zu er-
klären, dass der Bearbeiter des Originals der C4ruppe J nur
solche Strophen aus C auswählte, welche keinen Cäsurreim
boten.^')
Was die Entlehnungen aus der Klage betrifft, Avelche Bartsch
der Bearbeitung C zuschreibt, so sind dieselben keineswegs un-
möglich, und dieses Verhältnis mag sich dadurch Itestätigen,
dass C in der Klage manche Steilen auslässt, deren Inhalt sie
im Nibelungenliede hinzugedichtet. Aber zu weit geht Bartseh,
wenn er die EntlehnuDgen bis auf die einzelsten Ausdrücke
ausdehnt, unter welchen viele sind, die gar nichts besonderes
an sich haben. — Die übrigen Bemerkungen Bartschs über die
Klage gehören nicht hieher. Natürlich, dass in ihr das Hand-
schriftenverhältnis dasselbe ist wie im Nibelungenlied.
Noch Einiges über das Alter der beiden Bearbei-
tung e n.^^) Dass die Bearbeitung C etwa 1 1 90 — 1 200 entstanden
ist, wird durch die von Bartsch und von Anderen beigebrachten
Zeugnisse bewiesen. Minder sicher ist die Zeitbestimmung der
vulgata. Einen termi?ius ad quem erhalten wir hier aus dem
Umstände, dass die falsche Schreibung von B 1494, 1 : vii
nhdkh ijehü statt vil inüeUch (jesit^ in der Thidrekssaga zu einer
ganzen Erzählung von dem Weibe des Fährmanns Veranlassung
geworden ist.-") Ist die Thidrekssaga um 1250 veilässt, wie
Holtzmann und Zarucke-") augeben, so fällt B als Hand-
schrift (denn ^4 theilt jenen Schreibfehler nicht) vor 1250,
noch früher natürlich die Bearbeitung. Diss streitet noch
nicht mit Zarnckes Zeitbestimmung, auch das nicht, dass nach
Bartsch B eher vor als nach 1240 geschrieben ist.-*) Holtz-
manns Angabe,^'-*) dass 0 noch im zwölften Jahrhundert geschrieben
24) S. § 13, not. 104.
25) Ueber das des Originals s. u.
26) S. Holtzmann, Unters. 210.
27) Holtzmann, Unters. 174; Zarncke, Ausg. LXXXIII
28) Bartsch. Unters. 36S.
29) Holtzmann, Unters. 62.
1. Die Handschriftenfrage. Kritik und Resultate. 93
sein könnte, bestätigt sich durch Zarnckes und Bartschs Angaben
nicht. Dagegen fällt nach Bartsch^") die Handschrift aS an den
Anfang des dreizehnten Jahrhunderts, wodurch natürlich die Ent-
stehung der vulgata in eine weit frühere Zeit gerückt wird.
Dazu kommt, dass die in der vulgata erhaltenen Formen : rltet^e
oder ritcere, sainct, Guntkere^ beidere, niemenno, ('riste nach
Bartsch bestimmt auf das zwölfte Jahrhundert deuten. Zarnckes
Theorie von der Entstehung der vulgata nach Nitharts öster-
reichischen Liedern, d. h. nach 1230, ist somit zu verlassen.
Daraus folgt auch etwas über die Heimat der vulgata.
Hat diese den Namen Zeizenmüre nicht aus Nithart geschöpft,
so muss ihr Redactor ein Oesterreichw sein, weil ein Nicht-
österreicher gewiss nichts von der Existenz von Zeisselmauer
wissen konnte ; wenigstens wird er so lange dafür gelten müssen,
bis ein Werk des zwölften Jahrhunderts mrd gefunden werden,
das diesen Namen enthält, aus dem also der Verfasser der
vulgata geschöpft haben könnte.
Resultate.
21.
Kurz zusammengefasst , sind somit die Resultate dieser
Untersuchung folgende :
1) A ist schlechter als B und von geringerem Werthe; B
ist der eigentliche Repräsentant der vulgata.
2) Weder die Bearbeitung C noch die vulgata sind absolut
echt; beide sind vielmehr Bearbeitungen einer älteren, vor 1190
fallenden Gestalt des Gedichtes, der Form wegen unternommen.
3) Ob diese ältere Gestalt nicht selbst schon eine Bearbeitung
des Originals, dieses also noch älter ist, kann die Handschriften-
Untersuchung nicht entscheiden,
4) Inwieweit die beiden Bearbeitungen B und C neben den
Assonanzen ihres Originals noch andere Alterthümlichkeiten
beseitigt haben, lässt sich nicht mehr entscheiden.
5) Beide Bearbeitungen sind etwa in den Jahren 1190 — 1200
entstanden.
6) Der Verfasser der vulgata war ein Oesterreicher.
30 1 Ausgabe S. XI.
94 I. Die Entstehung des Nibelungenliedes.
7) In der Bearbeitung C lassen sich keine weiteren Re-
dactionen mehr untersclieiden.
S) Dagegen sind einige Handschriften der vulgata, die der
Gruppe J, von einer Handschrift des anderen Textes in manchen
Dingen abhängig; insbesondere haben dieselben von den Plus-
strophen des Textes C zwanzig herübergenommen.
9) Für die Handschriftenvergleichung im Einzelnen gilt,
dass nur, was beiden Bearbeitungen gemeinsam ist, als echt
gelten kann; was nicht gemeinsam ist, ist Eigenthum der Be-
arbeitungen.
10) Daher sind die Plusstrophen beider Bearbeitungen
nicht dem Original zuzutheilen; wohl aber sind die in ^l allein
fehlenden Strophen echt.
11) Das Verhältnis der Handschriften in der Klage ist das-
selbe wie im Nibelungenliede.
12) Daraus ergibt sich folgende Genealogie:
Original der beiden Bearbeitungen, c 1170 — 1180
_— ^— ^ Z _____
Originale der Bearbeitungen, 1190 — 1200
BD MN S b c i L A 'CD S h^ EF ~R k
Misch Hss.
H 0~^~Jk'Q l
I I
d h
ZAveiter Al)sclmitt.
Die ITitielungensage.
22.
Die Sage als der Inbegriff des in dem Gedichte Darge-
stellten muss uns natürlich hier auch berühren, da auch sie zu
den Entstehungsmomenten und Bedingungen des Gedichts gehört.
Es soll • aber hier nicht eine Darstellung der Mbelungensage
nach ihren verschiedenen Gestaltungen in den eddischen Liedern
und Prosastücken, in den angelsächischen Epen, in der Thidreks-
saga, im Nibelungen- und Siegfriedsliede gegeben werden,
sondern es soll gefragt werden: 1) wie ist die in der Nibelungeu-
sage offenbar vorliegende Verschmelzung eines historischen
Elements (in der Sage von Attila und den Burgunden) und
eines mythischen (in der Sage von Siegfried und den Nibelungen)
zu erklären; 2) welche ursprüngliche Bedeutung ist der Sieg-
friedssage zuzuschreiben; 3) in wie weit ist die alte Gestaltung
der Sage im Nibelungenliede noch erhalten, beziehungsweise
besser erhalten als in den andern Aufzeichnungen der Sage, in
wie weit ist sie getrübt oder völlig zerstört?
1. Der liistorische Tlieil der Sage.
23.
Dass in der Nibelungensage, so wie sie uns in allen voll-
ständigen Ueberlieferungen vorliegt, zwei Theile bestimmt zu
unterscheiden sind, einerseits die Geschichte Siegfrieds bis zu
seinem Tode und andererseits die von dem Untergange der
Burgunden durch Attila, ist allgemein anerkannt. Ebenso ist
96 L Die Entstehung des Nibelungenliedes.
klar, Avo die Verbinduiigsj^uncte zwischen lieiden Theilen liegen
müssen; beiden sind jedenfalls gemeinsam die Personen
Kriemhilds und der Nibelungen. Es gehen aber eben in der
Erklärung dieser Verschmelzung von ursijrünglich getrennten
Personen und Erzählungen die Ansichten der Gelehrten ausein-
ander. Den wesentlichsten Streitpunct bildet die Frage, ob
nach der älteren Fassung der Sage Kriemhild oder Etzel die
Schuld an dem Untergange der Burgunden getragen habe. Die
nordische Sage weicht in diesem Puncte wesentlich von der
deutschen ab, indem jene Atlis Gier nach dem Horte Siegtrieds
den Untergang der Burgunden herbeiführen, Gudrun aber
(= Kriemhild) auf der Seite ihrer Brüder kämpfen und zuletzt,
um diese zu rächen, ihren Gatten Atli ermorden lässt.
24.
Karl Lachmann
hat zuerst genauere Forschungen über die Trennung des histori-
schen und des mythischen Theils der Sage angestellt.')
Ein historisches Ereignis, das alle Darstellungen haben,
ist die Besiegung der Burgunden^) durch die Hünen. Dieser
Vorgang, obwohl in allen Darstellungen der Sage an einen
falschen Ort versetzt, ist doch ganz entschieden historisch
und g-ut bezeugt. Die Burgunden (in mehreren Quellen wird
(jrundicurws ^ d. h. ahd. Gi/fida/iuri , mhd. Gu?ithe?'e, als König
derselben bezeugt) wurden im Jahre 435 oder 436 von Aetius
besiegt und 437 von den Hünen gänzlich geschlagen und ihr
Königshaus vernichtet;^) wahrscheinlich östlich vom Mittelrliein,
1) ..Kritik der Sage von den Nibelungen", aus dem Ehein. Museum von
1829; si^äter in die ..Anmerkungen" aufgenommen, S. 333 — 349.
2) oder Nibelungen (so in der Siegfriedssage) oder Gibichungen (uord.
Gjukungen).
3) (Die Stellen dafür s. Müllenhoff, Zur Gesch. der Nib. Sage, in Haupts
Zeitschr. X, 14s f.; bei Idacius: Burgundiones. qui rebellaverant, a Romanis
duce Aetio dcbellantur (436'; Burgundionum ca^sa vigiuti milia (437i; bei
Prosper Aquitanus: Gundicarium Burgundionum regem intra Gallias
habitantem Aetius bello obtrivit, paccmque supplicanti dedit; qua uon diu
potitus est, si quidem illum Huni cum populo suo ac stirpe deleverunt;
Attila als Führer der Hünen erscheint erst bei Paulus Diaconus.]
2. Die Nibelungensage. Der historische Theil der Sage. 97
auf de.ssen beiden Seiten die Bnrgunden damals wohnten.^) Dazu
kommt ferner, dass König Giindobald in der lex liurgundionum
tit. 1) als seine Vorfahren (ii/jica , (Todomunisj-') (jislaharius und
Gunduharhis nennt. Diese Xamen treffen mit denen der Nibel-
ungen zAisammen,'"') und ihr Xel)encinandcrstehen in beiden Theilcn
der Sage verstärkt den Beweis, dass an diesem Punete die Ver-
schmelzung zwischen Sage und Geschichte stattgefunden hat;
denn die Nibelungen als solche gehören der Siegfriedsagc un-
mittelbar an und nur ihr allein, wie schon der Name „ Nibelungen "')
beweist.
Dass die Nibelungen eigentlich der Geschichte der Burgun-
den vollständig ferne stehen, beweist der Umstand, dass sie nur
in den deutschen Gedichten jüngeren Alters^) und nur einmal
in der Edda Burgimden heissen, aber in allen Darstellungen der
Sage zugleich als Franken gelten. Dazu kommt, dass der
Name Xihchinii, der allen Darstellungen der Sage gemeinsam
ist, als historischer Personenname, wenigstens in älterer Zeit,
lediglich ein fränkischer ist')
Lachmann beweist des Weiteren, dass Siegfried und die
Nibelungen gar nicht historische, sondern rein mythische Persön-
lichkeiten sind; darüber s. u.
Aber auch die Sage von dem Untergange der Burgunden
ist als Sage schon sehr alt; sie war wohl schon vor der Ver-
nichtung des burgundischen Rei'chs Eigenthum des Volksgesangs,
d. h. vor 5.'-iS, da nach dieser Katastrophe sich an jene frühere
das Gedächtnis wohl kaum mehr erhalten hätte ohne vorherige
Festhaltung durch Sage und Lied.
4) [S. Müllenhoff, Mb. Sage 146 ff.; Zarncke, Ausgabe II. — Ob Attila
wirklich der Führer der Hünen war (s. Müllenhoff 150 f.), ist gleichgiltig,
da er jedenfalls in Sage und Geschichte Repräsentant des Hunenvolks ist.]
5) So oder Godomaris ('?), Gundomarus.
ti) Gibich (nord. Giidci, mhd. Giheke) heisst Günthers Vater in allen Auf-
zeichnungen, ausser in Kibelungen, Klage und Biterolf; Günther (nord.
Giinnarr) ist gemeinsam; aber Gundomar (uord. Guttorntr) und Gisclhcr ge-
hören nur der Geschichte an, finden sich daher auch nicht in allen Auf-
zeichnungen; statt Gundomars steht meist Gcniöt als dritter Bruder da.
7) Opp. T'öisu»f/ar; s. u.
8) Nibelungen, Klage, Biterolf.
9) Auf das fränkische Worms, das in der deutschen Sage von den
Nibelungen und in der von Walther erscheint, sowie auf die Abstammung
Hagens von Troja (Nib. „Tronege-; s Lachmann, Anm. S. 8. 336), woher
nach der Sage die Franken stamnien, ist wenig Gewicht zu legen.
Fischer, Nibelungenlied. '
98 I- Die Entstehung des Nibelungenliedes.
Mit der Sage vom Untergang der Burgunden durch Etzel
ist auch Dietrich verbunden, welcher ganz unstreitig mit dem
historischen Ostgothen Theodoricli dem Grossen identisch ist.
Er hält sich auf seiner durch die Sage ganz unhistorisch als
sehr lange dauernd dargestellten Flucht vor Odoaker'") bei Attila
auf. Das eigenthümliche Verhältnis, in welchem er in der Sage
zu der Katastroidie steht, ist das, dass überall, wo Dietrich bei
derselben erscheint, der Mord der Burgunden als Kriemhilds
Werk dargestellt wird, während in den Darstellungen, nach
denen Attila selbst Urheber des Mordes ist, Dietrich fehlt.
Wie kam aber überhaupt die Sage dazu, Attila mit Sieg-
frieds Witwe oder mit der Schwester der Burgunden vermählt
sein zu lassen? Am natürlichsten erklärt sich diss, wenn man
annimmt, dass Attila und die Burgunden in der Sage schon als
verbunden fixiert waren, ehe diese mit den Nibelungen identifi-
ciert wurden.") Wenigstens hat die ungarische Volkssage '■') uns
als den Namen einer der vielen Gemahlinnen Attilas, einer
deutschen Princessin, den Namen Cremild*^) aufbewahrt, während
dieselbe weder von Günther noch von den Nibelungen etwas
weiss. Da nun die ungarische Sage auch von Dietrich'') etwas
weiss als einem Freunde Attilas, so wird auch Dietrich schon
in der Burgundensage figuriert haben, ehe sie mit der Nibelungen-
sage combiniert wurde. Damit erhält aber zugleich die deutsche
Darstellung des Untergangs der Burgunden, nach welcher Kriem-
hild die Schuld an dem Morden trägt, den Vorrang vor der
nordischen. Doch können beide Darstellungen gleichzeitig und
unabhängig von einander existiert haben.
Die Veranlassung aber, beide Sagen, die burgundische und
die fränkische, zu combinieren, lag offenbar sowohl in der Gemein-
samkeit des Namens Günthers als auch in der Unvollständigkeit
10) S. Lachmann, Anmerk. S. 337.
11) Es ist sogar nach Lachmann nicht unmöglich, dass die Vermählung
Attilas mit einer burgundischen Fürstentochter vor 437 historisch sei;
wenigstens seien 435 lluneu und Burgunden befreundet gewesen.
12) [Nach Simon von Keza; s. Wilhelm Grimm, Deutsche Heldensage,
No. «3 (S. 163— lt;G).]
13) [Bei Grimm 1. c. S. 105: de illustri prosapia Germaui;e ducum orta.
domina Kremheyich vocitata; ibid. S. 1(56: Crumhelt.]
14) S. Grimm 1. c. 104: Detricus de Verona; Hungarorum in
idiomate halhatatlan Detreh dici meruit, präsentem usque in diem (Keza
schrieb in der 2 Hälfte des 13. Jahrh ).]
2. Die Nibelungensage. Der historische Theil der Sage. 99
der Sage von Siegfried, wenn diese mit seiner ungerocbenen
Ermordung schloss.'^) Wann die Verbindung beider Sagen
geschab, ist nicbt mebr zu entscheiden; jedenfalls liegt kein
Grund vor, sie bis zu Karl dem Grossen oder über denselben
hinaufzurücken.
25.
Ganz unabhängig von Lachmauns Ansicht und vielfach der-
selben entgegengesetzt ist die (jetzt freilich veraltete) von
Wilhelm Grimm,
in dessen Werk „Die deutsche Heldensage" (Göttingen 1&29)')
entwickelt.
W. Grimm hält die nordische Darstellung vom Untergange
der Burgunden tür die echtere: Kriemhild erhält von ihren
Brüdern ein Wergeid für Siegfrieds Tod -) und kann somit nach
altgermanischer Anschauung, wie solche der Norden noch reiner
erhalten hat, nicht mehr auf Rache gegen dieselben sinnen.
Damit hängt es zusammen, wenn Grimm den nordischen Atli
von dem historischen Attila vollständig trennt und glaubt, dass
eine Identificierung beider erst später erfolgt sei, Grimm glaubt
somit, dass schon vor dem Eindringen des historischen Elementes
die ganze Nibelungensage bis zu Atlis Tod ein Ganzes ge-
bildet habe und dass eben durch die Aehnlichkeit von Atlis
und Attilas Namen und die zwischen der burgundischen Kata-
strophe von 437 und der Vernichtung der Gjukungen der
historische Attila und die historischen Burgunden in die Sage
eingedrungen seien. Attila erscheint in der Edda noch als
kleiner, unbedeutender Fürst, nicht als der welthistorische
Hunenkönig der deutschen Sage und der Geschichte;^) auch
1.5) Nach dem ursprünglichen Sinn des Siegfried- Mythus, wie ihn Lach-
mann darstellt, ist diese Unvollständigkeit nicht vorhanden, sondern die Sage
und ihr mythischer Gehalt schliesst mit Siegfrieds und Brünhilds Tod.
1) Lachmanns ..Kritik" und Grimms ».Heldensage" erschienen fast gleich-
zeitig (s. Lachm., Anm. S. 349).
2) Davon scheint ein halb unverstandener Rest die suone im Nib. Lied
(1046 — 1055) zu sein.
3) Dass auch Atli König von Hunaland heisst, wäre eben durch das
Hereindringen der historischen Vorstellungen von Attila zu erklären ; ebenso
das einmalige Vorkommen des Namens der Burgunden.
7*
100 I. Die Entstehung des Nibelungenliedes.
zeigt sich sein Charakter iu beiden Darstellungen dA* Sage ver-
schieden; er erscheint im Norden als tückisch, habgierig, schwach
und feig, was er in der deutschen Sage nicht ist.')
26.
A. G lese brecht')
hat zwar im allgemeinen für die Erklärung der Sage selbst
wenig Bleibendes gewirkt; er steht vollständig auf dem Boden
des reinen Euhemerismus'-) und damit auf einem ganz allgemein
verlassenen Posten; aber ein Punct seiner Untersuchungen und
gerade ein auf die Verschmelzung von Siegfriedssage und Bur-
gundengeschichte bezüglicher ist es, was der hieher gehörigen
Abhandlung dieses Gelehrten noch für heute dauernden AVerth
verliehen hat.
Giesebrecht glaubt, dass der erste und ursprüngliche Held
der Siegfriedssage Armin ius sei, dessen Ende durch Verrath
seiner nächsten Verwandten, durch welchen Weib und Kind in
der Gewalt feindlicher Mächte gelassen werden, mit Siegfrieds
Schicksal überraschende Aehulichkeit habe. Die Sage wurde
später in die Gegend von Santen verpflanzt, zu des Claudius
Civilis Zeiten dort befestigt und erneuert. Zu Chlodwigs Zeit
kam der Hort als wesentliches Moment hinzu. Die Sage aber
^'on Kriemhilds Rache, und damit kommen wir an den erwähnten
Punct, der diese Untersuchung für uns wichtig macht, welche die
unvollendet gebliebene Geschichte von Thusnelda abschloss, war
veranlasst durch die Geschichte von Chlodwigs I. Gattin
C h r 0 d i c h i 1 d e. Diese war die Tochter Chilpcrichs von Burgund,
den sein Bruder Gundobald sammt Weib und Söhnen getötet
4) [Indes erscheint im Nib. Lied Etzel wenigstens nicht als eine Helden-
gestalt.].
1) In der Abhandlung: ..Ueber den Ursprung der Siegfriedssage-, in
Hagens Germania II, S. 203 — 234.
2) Alberich soll der von Chlodwig besiegte Westgothenkönig Alarich,
Hagen der Dämon des fluchbeladenen fränkischen Königshauses, die Namen
der Völsungen und Nibelungen von den Flüssen Vahalis und NabaHa, an
welchen Civilis kämpfte, abgeleitet sein; der von Siegfried getödtete Drache
ist die Bezeichnung des römischen Heeres, das sich gepanzert durch Gebirgs-
schluchten hindurchwindet und fremd redet, Siegfrieds Hornhaut die römische
Kriegsrüstung, welche Armin sich angeeignet hat, sein Verstehen der Yögel-
sprachen Armins Kenntnis der lateinischen Sprache; u. dgl. m.
2. Dio Nibeluugensage. Der historische Theil der Sage. 101
hatte. Cbrodichildc wurde von ihrem Oheim trotz der Warnung
eines gewissen Acidius^) und trotz ihrer eigenen Weigerung')
dem noeh heidniselien^) Chlodwig vermählt. Sehon bei ihrem
Abzug aus Burgund liess sie durch Chlodwigs Leute das Gebiet
ihres Oheims verheeren. Später forderte Chlodwig die Schätze
seines Schwiegervaters.'') Als in Chrodichilds hohem Alter
Gundobalds Sohn Sigmund seinen Sohn Siegerich ermorden liess,
rief Chrodichilde ihre Söhne zum Kriege auf, der mit der Ver-
nichtung des burgundischen Reiches im Jahre 538 endigte. Die
Geschichte der Chrodichilde schien die Lücke in der Sage von
Armin und Thusnelda auszufüllen; zugleich aber, da mit ihrer
Geschichte der Untergang Burgunds verknüpft war, erinnerte
man sich dal)ei an die durch Attila vor einem Jahrhundert ge-
schehene Besiegung derBurgunden und verband beide Katastrophen
mit einander. Das tragische Ende des austrasischen Siegbert
(t 575) frischte das Gedächtnis der Sage wider auf; vielleicht
kam damals Hagen von „Tronege" herein durch die beiden
pueri ^y'araco7ienses'' (d. h. von Tornach), welche Fredegunde
mit Siegberts Ermordung ])eauftragte. Aus jener Zeit erst stammt
der Zank der Schwägerinnen.
27.
Karl Müllenhoff
hat Lachmanns Ansichten einer eingehenden Prüfung unterworfen
und ist zu ziemlich verschiedenen Resultaten gelangt.')
Müllenhotf weist nach, dass, Worms als fränkische Stadt
aufzufassen, die in die burgundische Geschichte erst durch sagen-
hafte Verknüpfung hereingekommen sei, kein Grund vorliege;
denn die Stärke der Burgunden muste zu der Zeit, da Aetius
sie schlug, gerade etwa in der Gegend von Worms liegen. Die
Sage hat also mit der Nennung von Worms durchaus das
Historische aufbewahrt. Ebenso ist diss der Fall, wenn sie
Günther von Worms aus ostwärts Etzeln entgegenziehen lässt;
denn die Grenze zwischen Burgunden und Hünen fiel zu jener
3) Wie Hagen im Nib. Lied Str. 13ys ff. und schon Str. 1143 tf.
■1) Ebenso Kriemhild im Nibelungenliede, Str. 11 58 ff.
5) Ebenso Etzel im Nib. Lied.
Ct) So Atli in der riordischep Sage.
1) In Haupts Zeitschrift X, 146 -ISO.
102 I- Die Entstehung des Nibelungeuliedes.
Zeit etwa mit der heutigen zwischen Baiern imd Böhmen zu-
sammen. Guudiearius, von Aetius geschlagen, floh ostwärts und
fiel dem Hunenheere in die Hände. AYenn nun sicher erwiesen
ist, dass Günther eigentlich zwei Personen vereinigt, den
nibelungischen Bruder der Gattin Siegfrieds und den burgundi-
schen König,-j so gab diese Besiegung des Gundicarius einen
trefflichen Anlass, die poetische Gerechtigkeit walten zu lassen
und beide Personen zu verschmelzen. Diss muss aber aller
Wahrscheinlichkeit nach unmittelbar nach 437 geschehen sein;^)
dafür spricht schon die grosse Theilnahme, mit welcher noch
das Nibelungenlied den Untergang der Burgunden behandelt.
Jedenfalls ist anzunehmen, dass die Verschmelzung beider Theile
der Sage vor 453 vor sich gieng, in welchem Jahre Attila
starb. Der Tod Attilas aber brachte die Sage zum Abschluss.
Es ist nemlich an ein Bündnis zwischen Burgunden und Hünen
um 436 7 nicht zu denken, da die historischen Zeugnisse dagegen
sprechen. Somit wird auch die Heirat mit einer burgundischen
Princessin nicht als historisch zu betrachten sein. Dagegen kam
Kriemhild in das Verhältnis, in dem sie zu Etzel steht, durch
die Nachricht von Attilas Tode. Die älteren Quellen geben an,
dass Attila in der Nacht nach seiner Vermählung mit Ildiko
an einem Blutsturze gestorben sei, während jüngere Schrift-
steller als die im Volksmunde gewöhnliche Darstellung angeben,
Attila sei in der Brautuacht von Ildiko ermordet worden. War
nun schon vor 453 die Sage von den Nibelungen mit dem
Untergange des Gundicarius verbunden, so gieng ihre weitere
Ausbildung, die Einflechtung von Kriemhilds Hochzeit mit Etzel,
offenbar von Attilas Tode aus; denn 'r/.ör/.w ist nach einem ganz
gewöhnlichen Schwanken der Anwendung des Spiritus gleich mit
'^Ildi/.iü und diss, Ilildikö^ ist Deminutiv von Hildja , Hilde;
nicht selten wurde von zusammengesetzten Namen nur der zweite
Theil benutzt. Diese Hilde, diu-ch die Attila nach der Volks-
tradition fiel, schien mit Niemand besser zu vereinigen, als mit
Günthers Schwester Kriemhilde, welche somit nach der echt
2) Müllenhoff fügt zu Lacbmanns Beweisen noch diesen: Kriemhild hat
wie Brünhild zwei Namen; der Name Grimldld steht parallel zu Bninihild,
während Gudrun (Gundrüu) offenbar zu Günther gehört: ebenso ist der
andere Name Brünhilds, Sigurdrlfa . offenbar parallel dem Namen Sigufrid.
Damit ist Günthers Name als zur Siegfriedssage gehörig erwiesen.
3) Dass in noch kürzerer Zeit die Sagenbildung sich an historische
Begebenheiten heftet, s. MüUenh. 15G f.
2. Die Nibelungensage. Der historische Theil der Sage. 103
heidnischen Anschauung der Blutrache, dass auch der Rächer
eines Mordes selbst wider als Opfer der Schuld füllt, welche
auf ihn i;ekonimeu ist, an ihrem Gatten Etzel den freilich wohl-
verdienten Untergang ihres eigenen Geschlechtes rächt. Dass
durch Attilas Tod erst die Sage ihre volle Ausbildung erreicht
hat, beweist auch die Grösse des Weltbeherrschers, in welcher
Attila in der" Sage dasteht; nach dem Untergang derBurgunden
brauchte nothwendig die Sage noch ein weiteres grosses Ereignis,
um das Bild von Attilas Weltherrschaft fest'zuhalten , und diss
führt nothwendig aut seinen Tod, welcher zugleich den jähen
Untergang der hunischen Macht bezeichnet.
In der Darstellung des Untergangs der Burgundeu durch
Atlis Habgier steht die nordische Fassung der Sage der Ge-
schichte näher als die deutsche; ebenso damit, dass sie Atli
durch Gudrun fallen lässt, wenigstens der zeitgenössischen Volks-
tradition über Attilas Tod. Es ist demnach mit Sicherheit an-
zunehmen, dass die nordische Darstellung die originalere ist.
Nun erscheint aber auch in der nordischen Sage schon Dietrich
^n Attilas Hof und zwar in unzweifelhaft gut liezeugter Weise.
Die Wanderung der deutschen Sage in den Korden war etwa
mit dem Jahre üOO entschieden abgeschlossen und begann erst
wider seit dem elften und noch mehr dem zwölften Jahrhundert.
Somit muss Dietrich in der Sage mit Attila verbunden gewesen
sein schon im sechsten Jahrhundert.') Damit entstand aber eine
Unzuträglichkeit in der Darstellung der burgundischen Kata-
strophe. Dietrich stand von Anfang au als einer der ersten
Helden der nationalen Sage da, trat also in der Erzählung von
dem Untergange der Bm'gunden entschieden in den ^'ordergrund
gegenüber von Etzel. Mit Dietrichs Hervortreten bei dem
Kampfe konnte aber die ursprüngliche Darstellung der Sage,
dass Etzel aus Habgier die Burgundeu vernichtet habe, nicht
^usammenbestehen ; vielmehr muste damit das Hervortreten
Kriemhilds als der Rächerin ihren Gatten verbunden sein. Im
siebenten Jahrhundert war schon die Ansicht verbreitet, dass
mit dem Ende des sechsten Jahrhunderts auch das Heldenalter
zu Ende sei. Die Heldensage war somit zugleich mit dem An-
fang des siebenten Jahrhunderts ausgestorben, bildete sich nicht
4) S. auch Koch, Nib. Sage 51 f.: „Die Form Tlijödreh\ ags. Theodnc,
weist noch auf die gothisch-ahd. Vocalfülle zurück, während au3 dem mhd.
Dietrich im Nordischen ein Thidrik oder Tlndrek wurde."
104 I. Die Entstehung des Nibelungenliedes.
weiter. Dietrich nahm also schon um 600 dieselbe Stellung
ein wie im Nibelungenliede. Es muss demnach die Sage schon
vor 600 in den Norden gewandert sein, zugleich aber muss für
die Umänderung der Sage, nach welcher Kriemhild aus Rache
die Burgunden vernichtet, ein Ereignis des sechsten Jahrhunderts
den Anlass gegeben haben, und als solches bietet sich die Ge-
schichte der Chrodichilde, als mit der Vernichtung Burgimds
verbunden, sehr geschickt dar. Wenn auch längere Zeit ver-
flossen sein mag, bis diese neue Auflassung der Burgundensage
durchbrach, so war doch dieselbe durch das Hervortreten
Dietrichs mitbedingt; es kann also die Wanderung der Sage in
den Norden nicht später als 600 gesetzt werden.
28.
Die übrigen Gelehrten, welche noch über den historischen
Theil der Sage geschrieben haben, gehen wesentlich nur in
ihren Ansichten über die grössere Originalität der deutschen
oder der nordischen Darstellung der burgundischen Katastrophe
auseinander.
Wilhelm Müller')
hat im Anschluss an Giesebrecht, die nordische Darstellung be-
vorzugend, die Geschichte der Chrodichilde als Anlass zu der
Umformung des letzten Theils der Sage betrachtet. Somit muss
er eine Verpflanzung der Sage in den Norden vor 538 annehmen
oder doch bald nachher, zu einer Zeit, wo die veränderte Dar-
stellung der Sage noch nicht in Deutschland durchgedrungen
war. Indes spricht für eine sehr frühe Wanderung auch der Um-
stand, dass der Name Giselhers, d. h. eines historischen Burgunden,
im Norden fehlt, woraus geschlossen werden mag, dass die
Wanderung der Sage nach Norden zu einer Zeit stattlhnd, wo
die Combinierung von Burgunden und Nibelungen noch nicht
fest fixiert, sondern noch in einem schwankenden Stadium be-
findlich war. Auch wären wohl bei einer späteren A\'anderung
der Sage die Namen „Worms"' und „Burgunden" schon mehr
durchgedrungen gewesen. Die Siegfriedssage hält Müller wie
Lachmann für eine ursprünglich fränkische.
1) W. Müller, „Versuch einer mythologischen Erklärung der Nibelungen-
sage", Berlin 1S41.
2. Die Nibelungeiisage. Der histurisehe Theil der Sage. 105
Max Rieger-)
hat sicli dagegen an die Lachmannisclie Ansicht angeschlossen,
dass Kriemhilde als Rächerin ihres Gatten die iirsi)riingliclie
Urheberin der hurgundischen Katastrophe gewesen sei. W. (Jrimms
Ansicht, dass die Zahlung des Wergeids von Seiten der Nibel-
ungen die Rache Krienihilds unmöglich mache, beweist nichts,
weil nicht abzusehen ist, warum im zwölften und dreizehnten
Jahrhundert die Sühne ohne Wergeid weniger heilig gewesen
sein sollte, als in früherer Zeit mit Wehrgeld. Die Sage wollte
vielmehr ursprünglich, dass Kriemhild trotz der ihr aufge-
drungenen Sühne ihren Gatten rächte. Diss konnte die Sage
um so mehr annehmen, als der Mord der ursprünglichen Sage
nach — und hierin ist die nordische Sage originaler — wohl
auf Anstiften der Kriemhild, aber nicht durch sie selbst, sondern
vielmehr durch Etzels Habgier,, welche von Kriemhild nur als
Werkzeug benutzt wurde, erfolgte. Auch darin ist dann die
nordische Sage echter, dass Kriemhild zuletzt mit Etzel stirbt,^)
nachdem sie das Werkzeug ihrer Rache der poetischen Gerechtig-
keit zu Liebe vernichtet hat, sich selbst den Tod gibt; diesen
Ausgang verlangt schon die Parallele mit Brünhild, welche nach
Siegfrieds durch sie selbst veranlasster Ermordung sich selbst
mit Siegfrieds Schwert ersticht.
Die nordische Darstellung aber, nach welcher Kriemhild
unschuldig ist, stammt aus einer fehlerhaften Vermischung mit
der Sage von den älteren Völsungeu. Völsung vermählt seine
Tochter Signy wider ihren Willen an Siggeir. Signy weissagt
Unheil. Siggeir lädt Völsung mit seinen zwölf Söhnen zu einem
Feste. Signy warnt sie vor ihrer Ankunft, aber umsonst. Siggeir
tödtet alle; nur Völsungs jüngster Sohn, Sigmund, entrinnt durch
Signys List. Diese opfert der Rache an Siggeir zu Liebe ihre
beiden Kinder auf, verschafft dem lebendig begrabenen Signumd
ein Schwert, mit dem er sich herausscharrt. Sigmund zündet
Siggeirs Halle an und Signy stirbt freiwillig mit ihrem Gatten.
Die Aehnlichkeit dieser Sage mit der Nibelungen Untergange
hat die nordische Darstellung des letzteren veranlasst.
Chrodichilds Geschichte ist somit für die Nibelungensage
unwesentlich, da die Darstellung der Sage, welche Kriemhild
2) „Die Nibeliingensage", in Pf. Germ. III, 1()3 ff.
3) Denn ihre Vermählung mit Ermanrich ist oöcnbar späterer Zusatz.
106 I- Die Entstehung des Nibelungenliedes.
zur Rächerin Siegfrieds maclit, echt und daher schon älter ist.
Wohl aber hat gewiss die Ni1)elungensage die uns tiberlieferte
Gestalt von Chrodichilds Geschichte hervorgerufen; denn Guudo-
bald von Burgund war „ eines der edelsten Fürstenbilder jener Zeit "
daher von ihm der Mord seines Bruders nicht glaublich ist;")
dass aber der katholische Clerus ihn zu verleumden trachtete,
lässt sich leicht begreifen, da Gundobald Arianer war.')
E. Koch^)
hat sich im allgemeinen an Müllenhotf angeschlossen, namentlich
in der Frage nach Kriemhilds oder Etzels Schuld. Er hat aber
die Gescliichte Chrodichilds nicht als Anlass der Umänderung
in der Darstellung dieses Punctes betrachtet, da dieselbe unter
den vielen bei Gregor von Tours berichteten Greueln des bur-
gundischen und des fränkischen Hauses „nicht besonders be-
deutend hervortrete ", da auch die burgundischen Ftirsten, deren
Untergang Chrodichilde bewirkte, nicht ihre Brüder, die von
Gundobald Gemordeten nicht ihr Gemahl gewesen seien. Da-
gegen glaubt Koch, dass diese Umänderung der Sage nicht gar
lange vor der Zeit des Nibelungenlieds vor sich gegangen sei,")
womit zugleich Dietrich in den Vordergrund getreten sei. Die
Ermordung Attilas fiel weg, weil diese Geschichte, historisch
ohnehin unwahr, den Boden im Volksbewustseiu allmählich verlor.
29!
Kritik.
Mag die Siegfriedssage geschichtlichen oder mythologischen
Ursprungs sein, so viel ist gewiss sicher, dass Nibelungen und
Burgunden, Siegfriedssage und Burgundensage ursi)rünglich voll-
4) S. auch Avitus : flebatis quondani pietate ineifabili funora germanorum
(Eieger S. 19S).
5) [S. dagegen Müllenhoff. Nib. Sage S. 154.]
f)) ..lieber die Sage von den ISibelungen", Programm der K. Landes-
schule zu Grimma, ISöS; im Eucliliandel erschienen in zweiter, veränderter
Auflage unter dem Titel: „Die Xibclungcnsage nach ihren ältesten Ueber-
lieferungcn erzählt und kritisch untersucht"; Grimma 1S72.
7) [In der ersten Auflage des Schriftchens schreibt Koch dieselbe dem
Dichter des N. L. selbst zu, was er als jedenfalls unmöglich in der zweiten
zurückgenommen hat, da im Jahre W.il schon ein Lied von der notissima
Grimildae erga fratres perfidia erwähnt wird (s. u.).]
2. I>ie Iv'ibelungensage. Der historische Theil der Sage. l')!
ständig getrennt waren. Zarncke liat zwar,') vielleicht mit Recbt,
gegen Lachniann behauptet, dass die Verschweis.sung einer
fränkischen und einer burgundischen Sage unbewiesen sei ;
Müllenhoti" hat allerdings Worms als eine ehemals burgundische
Stadt nachgewiesen; allein so viel ist doch gewiss sicher, dass
beide Theile ursprünglich disparat sind. Diss beweist schon der
Käme der „ Nibelungen ". Ist die Siegfriedssage (wie z. B. Giese-
brecht will) historisch, also auch der Name „Nibelungen" histo-
risch, so weist letzterer auf fränkischen Ursprung-) ganz ent-
schieden hin. Ist aber die ganze Sage burgundisch, so muss
der Name der Nibelungen mythologisch sein, denn als histo-
rischer Name der älteren Zeit ist er nur in Franken bekannt.
Dass die Zusammenfügung ijeider Sagen sich an das Ereignis
von 437 anknüpft, ist klar. Aber die (Iründe der Anknüpfung
und ihre Art und Weise können verschieden gedacht werden.
Dass Etzel und Atli gar Niemand anders sind als der historische
Attila, hat gewiss Müllenhoff hinlänglich bewiesen. Damit wird
auch mehr als wahrscheinlich, dass der ganze zweite Theil der
Sage in der ursprünglichen Gestalt der Nibelungensage überhaupt
nicht vorhanden war. Denkbar wäre ja immerhin, dass Kriem-
hilds zweite Vermählung und das Strafgericht über die Nibelungen
schon in der ursprünglichen Sage vorhanden gewesen und nur
durch das Ereignis des Jahres 437 historisch gefärbt und mit
den Namen Attilas und der Burgunden versehen worden wären.
Allein sind so viele der Züge aus dem zweiten Theile der Sage
nachweislich historisch, tindet sich ferner in diesem Theile kein
einziger mythologisch erklärbarer oder nur so erklärbarer Zug
fvde sich deren im ersten Theile so viele finden), lässt sich
ferner ein historisches Ereignis bestimmt nachweisen, welches
eine Auschweissung des zweiten Theils an den ersten möglich,
ja wahrscheinlich macht; so wird der Schluss berechtigt, ja
einzig möglich sein, dass kein dem zweiten Theile der Nibclungen-
sage analoges und ähnliches Element in der ursprünglichen Sage
vorhanden war,^) dass vielmehr der ganze zweite Theil erst
aus der Auschweissung eines historischen Elements an die alte
Sage entstanden ist.
1) Zarncke, Ausg. III.
2) S. Lachmann. Anmerkungen S 3:U.
3) Die Herstellung des mythologischen Gehalts der Siegfriedssage be-
weist jedenfalls, dass diese Sage mit Siegfrieds und ßrünhUds Tod schloss;
8. daher unten.
108 I- Die Entstehung des Nibelungenliedes.
Ist also der ganze zweite Theil der Sage historischen Ur-
sprungs und historisclier Art, so wird auch diejenige Darstellung
der Sage Ansprach auf grössere Originalität haben, welche der
geschichtlichen Wahrheit näher steht. Und diss ist ganz ent-
schieden der Fall bei der nordischen Sage. Denn diese ist zwar
in der Hauptsache ebenso sagenhaft wie die deutsche, in dem
]\Iorde der Schwäger Attilas, da die Burgunden jedenfalls nicht
Attilas Schwäger waren, auch nicht durch Verrath an seinem
Hofe tielen, sondern in der Schlacht. Allein die ganze Dar-
stellung, wonach durch Attilas Schuld die Katastrophe herbei-
geführt wird, ist mindestens dem Geschichtlichen näherstehend.
Ferner sind einzebie Züge der nordischen Sage , die in der
deutschen fehlen, historisch; so die Gier Attilas nach Günthers
Hort, d. h. Keich,') und die Eraiordung Attilas durch sein
eigenes Wcib.^j Riegers Ansicht, nach welcher beide Sagen-
darstellungen, die von Kriemhilds Rache und die von Attilas
Habgier und seiner Ermordung durch Kriemhild zu combinieren
sind, um die ursprüngliche Gestalt zu erhalten, ist freilich nicht
widersinnig; allein Iteide Darstellungen, die deutsche und die
nordische, sind jede in sich so abgeschlossen und abgerundet,
dass wohl jede für eine selbständige Gestaltung der Sage gelten
muss. Ist Etzel der Thäter, so erheischt die })oetische Gerechtig-
keit seinen Tod durch einen Verwandten der Nibelungen, und
dieser kann dann nur seine gezwungene Gattin Kriemhild sein.
Ist aber Kriemliild die Thäterin, so muss nothwendig sie fallen,
da die Sage stets verlaugt, dass der, welcher die Blutrache
ausübt, selbst eine Schuld auf sich lädt und an dieser zu Grunde
gehen muss. Mehr aber, als eine der beiden Darstellungen
bietet, verlangt die Vollständigkeit der Sage nicht;") wir haben
somit kein Recht, beide zu combinieren. Also muss eine der
4) Ueber die Identität beider Begriffe siehe Müilenhott'. Nib. Sage S. 155.
5) D. h. letztere Darstellung von Attilas Tod ist nicht historisch wahr;
aber sie wurde im Volksmunde schon im sechsten Jahrhundert überliefert.
"Will man sie erst aus dfr Nib. -Sage stammen lassen, so wird damit eben
die ürigin;ilität der nordischen Darstellung der Sage zugegeben.
(il Gegen die Vollständigkeit der deutschen Sage beweist es nicht, dass
Hilde brand, freilich keine passende, auch keine dieser Sage eigentlich
zukommende, Persönlichkeit, Kriemhild tötet; ihr Mörder kann der über
den Bruch des Gastrechts erzürnte Etzel gewesen sein, an dessen Stelle H.
trat, nachdem die Nib. -Sage zu einer Episode in Dietrichs Geschichte herab-
gesunken war.
2. Die Nibf'lungonsage. Der historische Theil der Sage. 109
beiden Darstellungen für sich genommen eclit sein, und wenn
eine, alsdann jedenfalls die nordische. Dass, damit die Sage
„Hände und Fiisse" habe, Kriemhild die Rächerin ihres Mannes
sein müsse (wie Rieger S. 196 meint), ist falsch; es ist ebenso
schön poetisch, ja dem Wesen der Sage, die das geheinmisvolle
Walten göttlicher Mächte darstellen will, mehr angemessen,
wenn der öaliiiov d/MaTwg des Nibelungengeschlechts sich einen
Dritten, eigentlich Unbetheiligteu, als Werkzeug der Rache er-
Avählt, durch welchen die Schuldigen aus denselben Motiven
wider fallen, aus denen sie ihre Frevelthat l)egangeuj) Durch
diese Vermittlung eines Dritten wird die Sage gewissermaassen
ironisch, ihre Gerechtigkeit noch grausamer, aber auch noch
gerechter, als wenn der Schuldige eben durch den fällt, den er
beleidigt hat. Was Rieger aber damit sagen will (S. 1 96), dass
„bei der nordischen Ansicht die Ehe des Rächers mit der Witwe
des Gemordeten ein zweckloses Motiv bleil)e'", dass „die Sache
ebenso verlaufen könnte, wenn Atli eine andere Frau genommen
hätte", ist nicht abzusehen. Erstlich Avurde eben einmal Attila
als Schwager der Burgunden betrachtet, nachdem die Nachricht
von seinem Tode durch Hildiko verbreitet war, da Hildiko mit
Kriemhild schon der Namensähnlichkeit wegen identificiert werden
konnte; und dann war Etzel zur Ermordung der Burgunden in
keiner Weise veranlasst, wenn er nicht in irgend einer Beziehung
zu ihnen stand, und Beziehungen zwischen den Helden der Sage
denkt sich diese gemeiniglich als verwandtschaftliche.
Ist also die nordische Darstellung der Sage zu bevorzugen,
wie kam dann die deutsche Sage dazu, Kriemhild zur Rächerin
ihres Mannes zu machen"? Müllenhoflf geht wohl zu weit, wenn
er behauptet, dass eine Umänderung der Sage nur durch ein
Ereignis des sechsten Jahrhunderts herbeigeführt werden konnte,
weil mit dem siebenten die Heldensage abgeschlossen war.
Denn wurden auch keine Personen des siebenten und achten
Jahrhunderts mehr in die Sage aufgenommen, so ist damit doch
noch nicht gegeben, dass nach dem sechsten Jahrhundert eine
Umwandelung der Sage nicht mehr möglich gewesen sei. Aller-
dings tritt schon im siebenten Jahrhundert Dietrich als Hau])theld
der deutschen Nationalsage auf, war also wohl frühe mit dem
7) Denn es war jedenfalls die ältere Darstellung der Siegfriedssage die,
dass die Kibelungen, um Siegfrieds Hort zu erhalten, ihn umbrachten; ebenso
Etzel gegenüber den Burgunden. (S. u.)
110 I. Die Entstehung des Nibelungenliedes.
Untergange der Burgunden als selbstthätig verbunden ; mit dieser
Darstellung aber war die Etzels als des Schuldigen nicht ver-
einbar. Somit ist die Umänderung des letzten Theils der Sage
nicht nothwendig, aber mit Wahrscheinlichkeit in das sechste Jahr-
hundert zu setzen. Ist diss der Fall, so ist Chrodichilds Ge-
schichte wahrscheinlich eben die Veranlassung dieser Umbildung
gewesen; tjenn ihre Aehnlichkeit mit der Nibelungensage ist
nicht zu verkennen: durch ein fremdes Herrscherhaus, dessen
Haupte eine burgundische Princessin vermählt ist, wird das
burgundische Herrscherhaus, das aus früheren Zeiten mit Fluch
beladen ist, vernichtet. Was Koch gegen die Einmischung von
Chrodichilds Geschichte beigebracht hat, beweist nicht dagegen.
Dass die durch Chrodichilde Vernichteten nicht ihre Brüder, die
durch Gundobald Gemordeten nicht ihr Gatte waren, sind un-
bedeutende Differenzen. Dass unter den Greueln des burgundi-
schen Hauses Chrodichilds Geschichte nicht besonders hervortritt^
beweist auch nichts. Jedenfalls tritt doch der 538 erfolgte
Untergang Burgunds stark genug hervor ; identificierte die Sage,^
was bei ihrem naiven Walten so einfach anzunehmen ist, diesen
mit dem 437 durch die Hünen erfolgten, so muste sie auch die
Veranlassung desselben in's Auge fassen; damit war also die
Vermengung der in Chrodichilds Geschichte treibenden Motive
mit der Nibelungen- und Burgundensage in ihrer früheren Ge-
stalt gegeben. Wir brauchen somit diese Umbildung der Sage
nicht erst späteren Jahrhunderten zuzuschreiben. Wohl m(»glich
indes, aber mit dem Gesagten keineswegs streitend, ist, wie
Rieger glaubt, dass die Geschichte Chrodichilds erst durch die
Einwirkung der Nibelungensage so dargestellt worden sei, wie
sie uns bei Gregor von Tours vorliegt. Wir können diss an-
nehmen, wenn mit Gundobalds Charakter der ihm zugeschriebene
Brudermord unvereinbar ist, ohne aber deshalb die Ansicht auf-
zugeben, dass Chrodichilds Geschichte die Umänderung der
Nibelungensage verursacht habe. Denn die wenigen, aber be-
deutenden Aehnlichkeiten zwischen beiden (S. 175 fi, welche
jedenfalls vorhanden sind, auch wenn Chrodichilds Geschichte
nicht historisch rein überliefert ist, genügen vollständig, um eine
Identiticierung beider durch die Sage glaublich zu machen.
Ein Resultat gewinnen wir aber, wenn Rieger mit seiner Ansicht
Recht hat, dass Chrodichilds (beschichte durch die Darstellung,
welche Kriemhild als Rächerin behandelt, beeiuHusst worden sei:
es muss nemlich in diesem Falle, da Gregor von Tours die
2. Die Nibelungensage. Der historische Theil der Sage. 111
ersten Bücher seiner fränkischen Geschichte um 577 geschrieben
hat/) schon vor 577 diese Darstellung der Nil)clungensage
gäng und gäbe gewesen sein; die Sage kann also nicht lange
nach 538 in den Norden gewandert sein, spätestens um die
Mitte des sechsten Jalirhunderts; Grenzen für diese Wanderung
der Sage sind also, wenn wir Riegers Ansicht in diesem einzelnen
Puncte uns aneignen wollen, die Jahre 526 (als Theodorichs
Todesjahr) und etwa 550 oder 560.
Kurz zusammengefasst, sind die Resultate dieser Unter-
suchung etwa folgende:
1) Die Sage von Siegfried und den Nibelungen ist voll-
ständig zu trennen von der Sage vom Untergänge der Burgunden
durch Attila; letztere ist jedenfalls unbedingt historischen
Ursprungs.
2) Die Combination beider ertblg-te nicht lange nach der
437 erfolgten Niederlage der Burgunden unter Gundicarius durch
die Hünen.
3) Sie erfolgte vennöge der Namensgleichheit des nibelungi-
schen und des burgundischen Günther, ferner vennöge der Un-
vollendetheit, in welcher die Siegii'iedssage, als Heroensage
gefasst, dastehen muste.
4) Die Verheiratung Attilas mit der burgundischen Kriem-
hild, sowie sein Tod durch dieselbe, kam in die Sage erst
nach Attilas Tod im J. 453, den die Volkstradition durch seine
Vermählte Hildiko herbeigeführt sein Hess.
5) Da in Punct 2) und 4) die nordische Darstellung der
Sage in ihrem zweiten Theile der Geschichte näher steht als
die deutsche, so ist jene älter und echter.
tj) Die deutsche Fassung der Sage ist aber vermuthlich
durch ein Ereignis des sechsten Jahrhunderts bcAvii'kt worden,
weil Dietrich schon um jene Zeit die Hauptfigur des deutschen
Epos war, sein Auftreten bei dem Untergange der Burgunden
aber mit der nordischen Darstellung unvereinbar ist.
7) Dieses Ereignis war aller Wahrscheinlichkeit nach die
538 erfolg-te Vernichtung Burgunds durch die Burgundin Ch;-odi-
childe, Chlodwigs I. von Franken Witwe.
8) Akdann muss die Sage nicht lange nach 538, jcdcnlälls
vor 600, nach dem Norden gewandert sein.
8) S. W. S. Teuf fei, Rom. .Litt. Gesch. I. Aufl. S. 1013 = § 454
not. 4; die Geschichte der Chrod. erzählt Gregor in seinem zweiten Buche
112 I. Die Entstehung des Kibelungenliedes.
9) Ist übrigens anzunehmen, was nicht unmöglich, dass
Chrodichilds Geschichte, wie sie in Gregors Geschichtswerk
dargestellt ist, selbst durch die deutsche Fassung der Mbelungeu-
sage gefärbt erscheint, so muss die Wandening der Sage vor
577, etwa um 550 oder 560 stattgefunden haben.
10) Andererseits aber fällt dieselbe nach 520, da Dietrich
in ihr bereits erscheint.
2. Die Siegfriedssage.
30.
Wie jede Sage, wenn sie nicht, wie die Burgundensage,
allzu deutlichen historischen Ursprung zeigt, entweder historisch
oder rein mythologisch erklärt werden kann und erklärt worden
ist, so hat auch die Sage von Siegfried und den Nibelungen
bald eine euhemeristische bald eine nnthologisierende Erklärung
gefunden. Wir dürfen aber alle euhemeristischen Auslegungen
für entschieden veraltet erklären, schon deshalb, weil keine
einzige historische Person sich findet, welche eine auch nur
einigermaassen scheinbare Identification mit Siegfried zuliesse.
Würde aber diese Incongruenz noch nicht gegen den geschicht-
lichen Gehalt der Siegfriedssage beweisen, da die Sage frei
schaltet und ihre Charaktere wie deren Schicksale verändern
kann; so wird die rein mythologische Xatur der Sage unwider-
leglich bewiesen durch die vielen Züge, welche rein mythologi-
schen Charakter haben, wie der Drachenkampf, die Waberlohe,
der Hort mit And^■aranaut, die Riesen und Zwerge, einzelne
elbische Namen, die durchgängige Beziehung, insbesondere
Opposition zwischen den Namen der Sage. Das sind lauter
Züge, die z. B. dem zweiten Theil der Sage, der Burgundensage,
vollständig fehlen, welche also auf rein mythischen Gehalt hin-
deuten. Damit soll nicht eben ausgeschlossen sein, dass einzelne,
al)er nur untergeordnete Züge der Siegfriedssage historischer
Natur seien; so vielleicht die Ermordung Siegfrieds auf der
Jagd, welche wohl aus der Ermordung des austrasischen oder
ripuarischen Siegbert stannncn mag. Denn es ist ja eben der
Sage, gerade der rein mythologischen, eigen, sich stets den
Anschauungen der Zeit anzuschmiegen; daher wird sie im Lauf
2. Die Nibelungensage. Die Siegfriedssage. 11*3
der Zeit stets liistoriscli gefärbt, lehnt sich auch gerne an ge-
schichtliche Personen an, deren Charaktere und Schicksale Ana-
logieen mit denen sagenhafter Figuren haben, entninnnt auch Avohl
iius den Geschicken dieser historischen Persönlichkeiten diss
oder jenes zur Moditication ihrer Darstellung. Somit beweisen
auch die Uebereinstimmungen, die die Siegfi-iedssage etwa mit
der Geschichte historischer Persönlichkeiten zeigen mag, nicht
für den historischen oder gegen den rein mythologischen Ursprung
dieser Sage.
Aber auch wenn wir nur die mythologischen Erklärungen
der Sage in's Auge fassen, so sind hier noch beträchtliche
Differenzen zwischen den Erklärern vorhanden. Während die
Einen auf germanischem Boden stehen blieben und eine ein-
gehende, sei's mehr physikalische, sei's mehr ethische, Deutung
der Sage versuchten, haben sich andere über das germanische
Gebiet hinausgewagt und eine Deutung der Sage* als eines indo-
germanischen Mythus versucht. Zunächst berücksichtigen wir
hier die Ersteren.
31,
Auch hier ist
Karl Lach mann
bahnbrechend gewesen, indem er zuerst eine vollständige mytho-
logische Deutung der Sage aufstellte, welche in ihren Haupt-
puncten vielfach recipiert wurde.')
Wenn die Gibichuugen nach Burguud, die Nibelungen, als
historischer Name gefasst, an den fränkischen Rhein weisen, so
lässt sich dagegen Siegfrieds Geschlecht, die Völsungen, historisch
imd geographisch nirgends unterbringen. Vielmehr sind die
Völsungen rein mythisch. Dahin weist ihr Name^), der in
bezeichnendem Gegensatz zu den „Nibelungen'-', den „Nebel-
1) In seiner ..Kritik der Sage von den Nibelungen", Anmerkungen
S. 339—345. [S. dagegen Wilhelm Müller, „Ueber Lacbmauns Kritik
der Sage von den Nibelungen-, in Pfeiffers Germania XIV, S. 257 ff.; vgl.
unten § 38, not. S.]
2) [Lachmanns Ableitung von vols ..Pracht" ist unrichtig; nach Koch,
Nib. Sage 75, u. a. kommt der Name von goth. ra/is ..auserwählt" ; eine
andere Erklärung s. Holtzmann, Unters. 195, welche aber keineswegs über-
zeugend ist, da, gemäss Holtzraanns Theorie von der Identität der Kelten
und Germanen, Völsung als Patronymikon des gallischen Gottes Bt/.n be-
trachtet wird; s. darüber Müllenhof f. Zur Gesch. der Nib. Noth Seite 949
(Monatsschrift f. W. u. L. 1S54 ). — Wenn eine Erklärung des Namens
möglich ist, so weist sie auf Hoheit und Herrlichkeit des Geschlechtes hiu.]
Fischer, Nibelungenlied. 8
114 I. Die Entstehung des Nibelungenliedes.
kindern", ein Geschlecht von göttlicher Hoheit bezeichnet.
Ebenso weisen dahin ihre diircliwcg übermenschlichen Eigen
Schäften und Thaten.^)
Diesen gegenüber weiss die .Sage von den Nibelungen
nichts Eigenthümliches und Charakteristisches zu berichten. Diss
weist vielleicht auf eine heilige Scheu vor denselben hin.
Nimmt man dazu, dass Xiflheimr und Xiflhel in der nordischen
Mythologie den kalten Erdtheil und das Totenreich bezeichnen^
dass ferner die deutsche Sage verworrener Weise ausser Günther
und den Seinigen noch frühere Besitzer des Horts kennt, welche
ebenfalls Nibelungen heissen; so kann nicht bezweifelt werden^
dass letztere beide identisch sind, dass die Nibelungen ein
übermenschliches Geschlecht aus dem kalten, neb-
lichten Totenreiche sind, welchem der Schatz ur-
sprünglich gehört und zu welchem er schliesslich
wider zurückkehrt/) Siegfried, ein Völsuug von götter-
ähnlicher Kraft, gewinnt das Gold, das einst den Nibelungen
geraubt^) und von ihnen mit einem Fluche für den Besitzer
belastet war;") er geräth durch dieses Gold in die Knechtschaft
der unterirdischen Mächte; was er auch durch eigene Kraft und
durch die Wundermacht des Goldes ausführen mag, alles wird
der ]\Iacht der Niljelungen zinsbar. Die Valkyrie Brünhild, der
er sich einst verlobt und die er für sieh erobern will, gehört
nicht ihm, sondern dem Nibelungenkönige Günther; er selbst
wird mit dessen Schwester vermählt. Durch Brünhilds Rache,
welcher Kriemhild selbst, des Helden böser Engel,') den Betrug
entdeckt, fällt Siegfried, und der Schatz kehrt zu seinen wahren
Herren zurück, die ihn in die Tiefe des Wassers versenken.')
3) Sigmund erschlägt nach dem Beowulf einen Drachen, er trinkt ohne
Schaden Gift. Siegfried trinkt das Elut des Drachen, oder er bestreicht
sich damit. Der Hort, den Siegfried erwirbt, hat ebenfalls besondere Eigen-
schaften: die Tarnkappe (der Oegishelm), der Fluch, der auf dem Golde,
speciell auf dem Ringe Andvaranaut, lastet. — Auch Siegfrieds sonstige Thaten
bieten viel Merkwürdiges: seine Jugendstreiche, sein Verhältnis zu Hrünhild,
seine Dienstbarkeit, sein Gestaltentausch mit Günther, die Gewinnung Brün-
hilds für diesen, Siegfrieds Tod durch Brünhild; die Versenkung des Schatzes.
1) Dadurch erklärt sich, warum in der Siegfriedssage der Tod Siegfrieds
nicht gerächt erscheint: das Fluch bringende Gold gehört den Nibelungen
selbst, bringt also ihnen kein Verderben.
5) Durch die drei Äsen Odhiiui, Hönir und Loki.
()) Der sich zuerst an Hreidhmars Geschlecht äussert.
Ti [S. Rieger, Nib. Sage S. 1!)4.]
S) [Woher derselbe ursprünglich stammt; s. Kieger 1. c S. IS 1 — 1 83].
2. Die Nibelungensage. Die Siegfriedssage. 115
Aber auch die so geläuterte Sage ist noch nicht die ur-
sprüngliche; es ist in ihr für den Gedanken des [Mythus Vieles
überliüssig. .Siegfrieds und Brünhilds Tod ist jedenfalls nicht
passend in die Sage verwoben. Wozu brauchen beide zu sterben,
nachdem sie schon in der Gewalt des Totenreiches sind, nach-
dem durch sie der Hort wider seinen Besitzern anheimgefallen
istV Auch kommen bei ihrem Tode sittliche Motive herein; es
tritt hier zuerst Siegfrieds Mörder, Hagen, auf, der vorher keine
Rolle gespielt hat. Auch der Anfang der Sage bietet Abweich-
ungen, indem der Beowulf nicht Siegfried, sondern Sigmund als
den Drachentöter nennt. Der Erwerb des Hortes nach der
deutschen Sage passt widerum nicht in das Ganze; Nibelungen-
laud ist hier nicht willkürlich mit dem kalten, nördlichen Nor-
wegen identiliciert ; Andvari ist selbst aus Schwarzalbeuheim,
welches hinwiderum als Norwegen erklärt wird. Somit ist wohl
die Sage von den drei Äsen in der nordischen Sage nicht echt
überliefert, vielleicht auch ganz eine nordische Umbildung.
Ferner kommt der Name Siynfrid vor dem Ende des siebeuten
Jahrhunderts nicht vor, war also wohl ursprünglich Beiname
eines Gottes. Nimmt man diss au,- so ist wohl sogleich an
Baldr zu denken, welcher auch als gestorben gedacht wurde.
Durch diese Erklärung der Person Siegfrieds lässt sich auch
eine befriedigende für seinen Mörder Hagen finden. Derselbe
ist in der nordischen Sage selbst ein Nibelung; sein Vater ist
ein Alb oder hat einen elbischfen Namen; weist diss auf mehr
als heroischen Ursprung hin, so gestattet Hagens Name {hagan =
Dorn), wie seine Einäugigkeit (im Waltharius),") ihn mit dem
blinden Bruder Baldi's, Hödr, zu identificieren , welcher
Baldr mit einer Mistel erschiesst.
Weiter als bis hieher kann die Erklärung der Sage nicht
vordringen, und auch die Vergieichuug mit Baldr „soll keine
rohe Identification sein."'")
32.
Lachmanns Auslegung der Siegfriedssage fand vielfache
Zustimmung. Mit einzelnen weniger wesentlichen Modificationen')
9) [Gegen beides s. Koch, Nib. Sage S. 77 f.]
10) Lachmann, Anm. S. iW.
1 ) Die besser unten ihre Stelle finden , -vvo über die mehr oder minder
treue Bewahrung der Sage im N. L. gehandelt wird.
116 I. Die Entstehung des Nibelungenliedes.
sind ihm Max Kieger und E. Koch gefolgt, letzterer nur in
der ersten Ausgabe seiner Abhandlung.
Eine andere, tiefer in das Reich der Göttersage zurück-
reichende Erklärung hat
Wilhelm Müller
gegeben.^)
Die erste Frage und auch die Cardinalfrage ül)er das
Wesen des Siegfriedsmythus ist die: Ist derselbe ursprünglich
schon eine Heroen sage oder ist er eine entstellte und im
Christenthum herabgedrückte urprüngliche Göttersage? Die
Untersuchung über die Zeit seiner Wanderung nach dem Norden
kann hierüber nichts lehren.^) Wohl aber kann die Art, wie
die Götter in der Siegfi'iedssage auftreten, uns in dieser Frage
aufklären. Gehören sie nothwendig in dieselbe, so muss die
Sage eine eigentliche Heroensage sein, weil das Auftreten zweier
Götter in derselben Rolle in einer wirklichen Göttersage unmög-
lich ist. Es ist diss aber in Wirklichkeit nicht der Fall; das
Auftreten Odhins als des Gönners Siegfrieds ist überall ))edeu-
tungslos und die Geschichte von Odhinn, Hönir und Loki ist
ohne Zusammenhang mit dem Mythus, also ein nordischer Zu-
satz zu demselben. Es muss somit im Siegfriedsmythus nicht
nothwendig eine echte Heroensage enthalten sein; vielmehr ist
die Annahme, dass derselbe eine entstellte Göttersage sei, wenn
anderswoher bewiesen, unbedenklich.
Die localen Anknüpfungen der Sage sind für die Frage
nach ihrem Gehalte werthlos, da dieselben nur die fränkisch-
burgundische Heimat der Sage beweisen. Vielfache Anklänge
in anderen Sagen und in Märchen beweisen die allgemeinere
Bedeutung des Mythus. El)en diese Anklänge und noch mehr
die Uebereinstimmungeu mit der Göttersage müssen das Echte
vom Unechten scheiden helfen. Der so gereinigt hergestellte
2) ..Versuch einer mythologischen P^rklärung der Xibelungensage"*;
Berlin 1S41. Vgl. ferner W. Müller ..Siegfried und Freyr-, in Haupts Zeit-
schrift 1S43, S. 43 ff. Derselbe in Pfeitfers Germania XIV (ls(5i)). S. 257 S.:
..Ueber Lachmanns Kritik der Sage von den Xibelungeu.-
3) Götter treten in der Nibelungcnsage nur nach der nordischen Ueber-
lieferung auf; dieselben können daher entweder ursprünglich darin vorhanden
oder erst im Norden, wo das Heidenthum sich vieles länger hielt, als in
Deutschland (vgl. hierüber W. Mannhardt. die Götter der deutscheu und
nordischen Völker III.) hineingekommeu sein.
2. Die Nibelungensage. Die Siegfriedssage. 117
Mythus muss alsdann nach seiner ursprünglichen Bedeutung
erforscht und diese durch die nordische Götterlehre begründet
werden.
Mythologischen Gehalt hat anerkanntermaassen nur der erste
Theil der Sage, die Siegfriedssage. Die einzelnen Theile der-
selben, welche untersucht werden müssen, sind: Drachenkanipf,
Vermählung mit Kriemhild, Ermordung durch Hagen, besonders
aber die Geschichte von Brünhild mit der Waberlohe.
In der Darstellung des Drachenkampfes ist entschieden die
nordische Darstellung die bessere. Drache und Hort gehören
nothwendig zusammen. Der Riese im Nibelungenlied') ist
identisch mit Fafnir und dieser selbst mit dem Drachen ; ebenso
sind AI brich und Regin identisch. Auch hat das Siegfriedslied
darin etwas Echtes, dass es den Drachen früher einen schönen
Jüngling sein lässt. Die übrigen Accideutien des Hortes, die
Göttergeschichte und Andvaranaut, sind nordische Zusätze.
Unter den Nibelungen, mit denen Siegfried verschwägert
\vird, ragt Hagen hervor. Seine Abstammung von Troja und
der Name Hnifhlngr seines Sohnes beweisen, dass er als Mörder
Siegfrieds und Verwandter Kriemhilds in einer früheren fränki-
schen Sage Aviclitig war. Die dämonische Natur Hagens zeigt
sich deutlich noch überall;*) sein Gegensatz gegen Siegfried
bezeichnet ihn als ein finsteres Wesen; er ist daher als ein
iötunn anzusehen. Daraus folgt, dass Kriemhild, als seine
Verwandte, neben ihrer freundliehen Seite auch eine düstere
gehabt haben muss. Diss lehrt die Betrachtung der Person
Brünhilds. Auffallend ist, dass die nordische Sage eine zwei-
malige Befreiung Brünhilds enthält;^) zuerst muss Siegfried
durch ihre Schildburg brechen, dann, in Günthers Gestalt, durch
die Waberlohe reiten. Dabei fällt besonders auf, dass bei dem
ersten Besuche von keinen Hindernissen des Eindringens die
Rede ist, da doch Siegfried der Einzige war, welcher dasselbe
ausführen konnte. Es ist also gewiss anzunehmen, dass der
Ritt durch die Wal)erlohe eigentlich gleich nach dem Drachen-
kampfe folgen muss. Bei dem zweiten Besuche begreift man
4) Str. 4rD4 ff. .
5) In der Thidrekssaga ist sein Vater ein Alb; im N. L. erscheint
Hagen schrecklich anzusehen; derWaltharius nennt ihn einäugig; im Rosen-
garten ist er ein Riese.
(i) Denn der Besuch bei Heimir ist unecht.
11g I. Die Entstehung des Nibelungenliedes.
die Waljerlolie nicht; Briinliild ist schon erlöst, also das Hindernis
des Eindringeiis überflüssig. Allein doch darf man die Braut-
werbung für Günther nicht fallen lassen, da sie für das ganze
Geschick ^des Helden verhängnisvoll ist, sondern man muss an-
nehmen, dass die Begebenheiten hier von der »Sage in einen falschen
Zusammenhang gebracht sind. Der wahre Mythus muss der
sein, dass Siegfried gleich nach dem Drachenkampfe durch die
Waberlohe reitet, Briinliild erweckt, sich mit ihr vermählt ohne
sie zu berühren oder sie mit Gewalt zur Minne zwingt und
darauf sie verlässt. Das Sträuben der Jungfrau kehrt in anderen
Mythen wider,'j und hat stets den Grund, dass der Held ver-
kleidet, d.h. unter einer widerwärtigen Gestalt erschehit und
deshalb von der Jungfrau nicht als der von ihr erwartete Gatte
anerkannt wird. Andere Sagen stellen statt des in unangenehm
veränderter Gestalt erscheinenden Helden (diss ist natürlich die
echte Gestalt des Gedankens) eine zweite Person hin, ein häss-
lichcs Wesen, welches sich für den Helden selbst ausgibt. Das
ist der Fall fast in allen Erzählungen von Drachentötern. Der
Held kommt entweder nicht selbst zu der Jungfrau oder er
verlässt sie wider, nachdem er sich mit ilir vermählt hat. In
beiden Fällen stellt sich statt seiner ein Anderer ein, der sich
für den Drachentöter ausgi))t; aber der wahre Held wird bald
gefunden, oder kehrt nach einem Jahre zurück, und feiert seine
Vermählung. Aus dieser Fassung des Gedankens scheint das
Auftreten Günthers zu erklären. Er ist der falsche Drachentöter,
d. h. Siegfried in seiner widerwärtigen Gestalt.
Warum aber verlässt der Held die Jungfrau wider V Weil
er die Schuld, die er durch die Tötung des Drachen auf sich
geladen hat, abbüssen muss.**) Daher erklärt sich auch Siegfrieds
Dienstbarkeit, welche in den Quellen so verworren überliefert ist.
Ist aber hiemit hinreichend begründet, dass Siegfried seine
Braut verlässt, so ist noch das unl^egreiflich, warum er nach
abgelaufenem Dienstjahre nicht zu ihr zurückkehrt und seine
Vermählung feiert, vielmehr sich mit Kriemhild verheiratet.
Entweder muss Brünhild auch die naclimalige Gattin Siegfrieds
oder muss Kriemhild auch die von ihm aus der Waberlohe
7) So besonders in dem von Odhian und Rindhr [Freyr und Gerdhr];
Anklänge bei König Rother, bei Rüdiger und Ilerka (Ilelche), bei Hugdietrich
und Hildegard.
b) Ebenso Kadmos, und ApoUon nach der Erlegung des Python.
2. Die Nibelungensage. Die Siegfriedssage. 119
befreite Jungfrau sein. Eines von beiden muss richtig sein;
denn wie Guntlier und Siegfried, so sind auch Briinliild und
Kriembild nur zwei Seiten desselben Wesens.'') Briinliild zeigt
sicli dem ganzen Mythus nach und besonders, weil sie Siegfrieds
Tod veranlasst, als fiiisteres, rauhes Wesen, Kriendiild als ihr
Gegentheil. Die Befreiung Briinhilds aus der Waberlohe würde
einen in den analogen Sagen nicht vorhandenen'") Widerspruch
in den Mythus bringen. Es ist also vielmehr Kriemhild die aus
den Flammen geholte Jungfrau ; sie sträubt sich gegen Siegfried,
weil er ihr in anderer Gestalt erscheint.") Brünhild nun, als
die falsche Kriemhild, strebt nach dem Besitze des Helden
während des Jahrs seiner Dienstbarkeit ; '^) aber er berührt sie
nicht. Während desselben Jahres ist Kriemhild von dem falschen
Drachentöter, von Günther, umworben, stösst ihn aber zurück.
Beide Fassungen der Sage sind ganz parallel.
Der einfache Gang des Mythus ist also dieser: Siegfried
tötet Fafnir, nimmt den Hort an sich, fängt Grani und reitet
auf demselben durch die Waberlohe; er erweckt Kriemhild,
bezwingt sie trotz ihres Sträubens und verlässt sie dann, um
den Mord Fafnis zu sühnen, während welcher Zeit Brünhild sich
um ihn umsonst bewirbt; nach Ablauf der Sühnungsfrist kehrt
er zurück und vermählt sich mit Kriemhild.'^)
Wer ist aber Kriemhild und was hat der Drachenkampf
mit der Waberlohe zu thun? Odhins Einmischung in den
Mythus ist (s. o.) späterer Zusatz, ebenso natürlich, dass er
Brünhild mit dem Schlafdorn sticht. Damit kann auch die
9) Die Personification zweier Seiten eines Wesens und somit die Ver-
dopplung desselben ist der Sage auch sonst geläufig.
10) Denn in den analogen Sagen erscheint immer zuerst die schöne
Jungfrau: Freyr vermälilt sich mit der schönen Gerdhr, Tristan mit der
schönen Isolde, Pipin mit der echten Bertha.
11) So kommt auch die Darstellung des Siegfriedsliedes zu ihrem Kechte.
12) Ebenso bewirbt sich die falsche Bertha um Pipiu, die wcissluindige
Isolde um Tristan.
13) Es begreift sich aus dem Gesagten auch, dass die Waberlohe an
Brünhild haftete, zu welcher sie gar nicht gehört. Siegfried verlusst Kriem-
hild, um sich zu reinigen; er verlässt Brünhild, um sich mit Kriemhild zu
vermählen. Das zweite Verlassen, als für den Fortgang des Mythus folgen-
reich, behielt die Sage bei und theilte nun auch der Brünhild die Waberlohe
zu. — Auch die drei Kampfspiele des N. L. erklären sich nun: um Kriem-
hüd zu erhalten, muss Siegfried den Drachen töten, Grani fangen und durch
die Waberlohe reiten.
120 I. Die Entstehung des Nibelungenliedes.
Nachricht der Sage unbeachtet gelassen werden, nach welcher
Briinhild eine Valkyrie ist. Für Kriemhilds Wesen mag eine
andere Andeutung der nordischen Sage erklärend sein. Hreidh-
niarr, der Vater Fatuis, hat zwei Töchter, Lyngheidhr und
Lotiiheidhr, von welchen die erstere bei dem Streite zwischen
Faluir und Regln zur Versöhnung räth. In der späteren Sage
verschwinden die beiden Schwestern. Ihr Verschwinden, sonst
unbegreiflich, ist erklärt, wenn andere Wesen als im Mythus an
ihre Stelle getreten nachzuweisen sind. Es ist nicht unberechtigt,
anzunehmen, dass diss eben Kriemhild und Briinhild waren.
Kriemhild trat an die Stelle der Lofnheidhr, Briinhild an die
der Lyngheidhr.'':
Somit wäre Kriemhild die Schwester des ihr feindlichen
Fafnir, und ebenso muss Hagen mit demselben verwandt sein.
Darauf führt die Namensähnlichkeit zwischen Oegir, dessen Helm
Hreidhmarr besass, mit dem dieser also identisch oder doch
verwandt sein muss, und Hagens Vater, der im Waltharius Agazi
heisst. Wenn für Oegir eine ältere Form, etwa Oegtir, ange-
nommen wird, so kann Agazi mit dem altnordischen Riesen-
und Adler '''-Namen Egdhir zusammenhängen; Hagen wäre also
darnach der Sohn eines Sturmriesen.
Diese Verwandtschaft lässt auch vermuthen, dass es Kriem-
hilds eigene Verwandte waren, welche dieselbe in die Waberlohe
einschlössen, also entweder Hagen oder Hreidhmarr. In ver-
wandten Sagen steht der feindliche Vater als Verfolger der
Tochter fest."') Somit ist die echte Form der Sage diese:
Kriemhild, von ihrem Verwandten (Vater), einem ibtuiin^ einge-
schlossen, wird von Siegfried befreit und vermählt sich mit ihm
nach Ablauf des Jahrs seiner Dienstzeit; aber ihre iinstere
14) Beide Paare stehen duroli ihre N'ameu im Gegensatz zu einander;
auch das doppelte — hilde (parallel — heidhr) und die ähnliche Bedeutung
des ersten Compositionstheils bezeugt die Schwesterschalt beider Frauen.
So würde sich erklären, warum X. L. und Thidrekssaga gegen den sonstigen
Brauch Brünhilds Eltern nicht nennen (die Schwesterschaft Atlis ist nordischer
Zusatz, da Atli durchweg historisch ist )
15) Ygl. Kriemhilds Traum Mb. 13, 2. 7>\ Lachm , Anm.. S. 10.
16) So in der Sage von Freyr und Gerdhr der Vater Gerdhs, Gymir;
der Vater Sidrats in der Otnitsage; der Ilagen der Gudrun (hier macht die
Namensgleichheit zugleich die Vermuthung wahrscheinlich, dass Hagen selbst
Kriemhilds Vater ist, zumal da sein Xame an den Schlafdom erinnert, mit
dem Briinhild nach der Sage gestochen wurde).
2. Die Nibelungensagc. Die Siegfriedssage. 121
Schwester Brüiiliild reizt den Verwandten aus Neid auf, dem
Gotte den Tod zu i^eben und den Hort wider zu nehmen.'')
Diese Herstellung der Sage wird als richtig erwiesen durch
mehrere ganz nahe Analogieen, wie die Sage von Ortnit, von
Hilde (in der Gudrun), von Tristan und Isolde.'*)
17) Unwesentlich sind einige Einzelheiten des Mythus. Regins Ein-
greifen ist mehrfach zweifelhaft, besonders seine Bruderschaft mit Eafiiir, da
das Schmieden (Regins) keine Sache der Riesen ist. Sicherer ist Regln als
Siegfrieds Erzieher. Etwas Eigenthümliches weiss die Thidrekssaga von
Siegfrieds Geburt. Seine Mutter Sisilie, fälschlich der Untreue gegen Sig-
mund beschuldigt, soll im Walde sterben. Aber die mit dem Mord Beauf-
tragten entzweien sich, und wäbrend dessen gebiert sie den Siegfried. Sie
legt ihn in ein Glasgetass, in welchem früher Meth gewesen. Einer der
Streitenden stösst daran und es rollt in's Wasser. Aus Schrecken darüber
stirbt Sisilie. Das Gefäss zerschellt an einem Felsen; der Knabe wird von
einer Hindin gesäugt und wird in einem Jahre so stark wie ein vierjähriges
Kind; Mimir (= Regin) findet und erzieht ihn. — Diese Sage ist jedenfalls
nicht romanischen Ursprungs; da die Sage von dem zum Tode in den Wald
geführten Weibe häutig ist, so mögen mythologische Ideen darin enthalten sein.
Die Ein Schliessung in ein Gefäss ist bemerkenswerth; sie erinnert
an Wolfdietrich, Dionysos und Perseus. Dass es ein Methgefäss ist, könnte
die segnende Kraft des Gottes andeuten; ebenso wird Sceäf auf einer Garbe
an das Land geti'agen.
IS) Ortnit entführt die von ihrem Vater Machaol eingeschlossene Sidrat
mit Hilfe seines Vaters Albrich; Machaol sendet Drachen in sein Land,
deren einer den Ortnit verschlingt; Wolfdietrich tötet den Drachen und ver-
mählt sich mit Sidrat. Offenbar gebührt die Tötung des Drachen dem Ortnit
und muss vor dessen Brautfahrt fallen. Dass Ortnit von dem Drachen ver-
schlungen wird, ist mythologisch ebenfalls richtig.
Ganz ähnlich ist die Sage von Hilde; es fehlt aber der Drachenkampf
und der Tod des Helden. Unbedeutende Differenz ist es, wenn Hettel, der
Brautwerber, die Brautfahrt nicht selbst unternimmt, sondern seine Helden
zu Hagen schickt. (Merkwürdig ist die nordische Erzählung, dass Hilde
nach dem Kampfe ihres Vaters und ihres Geliebten die erschlagenen Krieger
in der Nacht durch Zauberei immer wider erweckt; dieser Zug ist in der
deutschen Gudrun in gemilderter Foi-m auf den arzneikundigen Wate über-
tragen worden; ähnlich ist es, wenn in Set. Oswalds Leben, das mit der
Ortnitssage in Berülirung steht, durch Oswalds Gebet alle erschlageneu Heiden
wider lebenchg werden.)
Tristan, nach seiner Eltern Tode in Abgeschiedenheit erzogen, befreit
das Land seines Oheims Marke durch Zweikampf mit Morolt von einem
grausamen Menschenzins. Die in diesem Kampfe ihm geschlagene Wunde
kann nur Isolde, Morolts Nichte, heilen. Unter dem Namen Tantris
(= Tan-tris = Tris-tan) geht er als Spielmann zu ihr und kehrt geheilt
zurück. Als Brautwerber für seinen Oheim reist er wider zu ihr. Einen
Drachen, der das Land verwüstet, erschlägt Tristan, sinkt aber, von dem
Kampfe ermattet, zu Boden. Ein Marschall gibt sich für den Sieger aus
122 I. Die Entstehung des Nibelungenliedes.
Es handelt sich nimmehr darum, für den dergestalt ge-
reinigten und auf seine echteste Form zurückgeführten Mythus
eine Bedeutung und Erklärung zu finden.
Der Angelpunct der ganzen Sage ist oflfenhar Brüuhilds
Befreiung ans der Waherlohe. Die Edda ])ezeichnet dieselbe
als etwas ganz Ausserordentliches, ))ei dessen Vollbringung die
Erde erbebt und die Lohe zum Himmel wallt.'")
Anklänge an denselben Mythus sind in ^Märchen häufig.^**)
Ueberall ist die von der Waberlohe, dem Zaun oder Gestrüp])
umgebene oder unter dem Baum sitzende Jungfrau eine wider
Willen in der Unterwelt hausende Göttin, welche
der Held befreit.-') Eine sichere Anknüpfung findet das
und soll mit Isolde vermählt werden. Diese aber erkennt in Tristan den
wahren Dracheutöter, zugleich jedoch den Mörder ihres Oheims. Ihn zu
töten, wird sie von ihrer Mutter verhindert. Tristan wirbt für seinen Oheim
um ihre Hand. Die Mutter Isoldes gibt einer Dienerin einen Liebestrank,
um jener die Liebe Markes zu sichern; aber Tristan und Isolde gemessen
unwissend davon und sind nun für immer an einander gekettet. Tristans
Liebe wird entdeckt und er von Markes Hofe verbannt. Wider "Willen ver-
mählt er sich mit der weisshändigen Isolde, die er aber nicht berührt.
Ihr Bruder bittet ihn um Beistand zur Ausführung eines Liebesabenteuers;
aber sie werden entdeckt, der Bruder der weisshändigen Isolde getötet und
Tristan mit einem vergifteten Speere verwundet. Er lässt die schöne
Isolde zu seiner Heilung herbeirufen und bittet, wenn dieselbe wirklich
komme, ein weisses, im anderen Falle ein schwarzes Segel aufzuziehen. Die
schöne Isolde kommt wirklich, aber die weisshändige zieht aus Eifersucht
ein schwarzes Segel auf, und Tristan stirbt vor Schmerz. — Morolt ist nach
Namen und Charakter ein Jötunn; ist er mit dem Drachen widerum identisch,
so ergibt sich folgender richtigerer Zusammenhang: Tristan erlegt den
Dämon, kommt verwundet unter verstelltem Namen zu der schönen Isolde;
sie weist ihn als Mörder ihres Verwandten ab, wird aber nach einiger Zeit
seine Gemahlin (ihre Verbindung mit Marke scheint Verderbnis). Die weiss-
händige Isolde ist hier als Gegensatz der schönen, mit der sie identisch ist,
klar gehalten; ihr Bruder führt im Bunde mit ihr den Helden zum Tode. —
Nicht zu verkennen sind die Aehnlichkeiten mit der Theseus-Sage.
Morolt ist = Minotauros. auch der an ihn sich knüpfende Menschenzins ist
beiderseits vorhanden. Neben Ariadne steht eine Nebenbuhlerin, Aigle oder
Phaidra. Das weisse und schwarze Segel erscheint beiderseits. Das Ein-
dringen von Tristan und dem Bruder der weisshändigen Isolde in eine ver-
schlossene Burg ist ähnlich (vielleicht mythologisch gleich i dem Raub der
Persephone durch Theseus und Peirithoos.
l'J) Aehnlich in dem Mythus, von Freyr und Gerdhr.
20) Dornröschen, das Marienkind unter dem Baume, Sneewittchen u.a.m.
21) Es erklärt sich damit von selbst, warum die Thidrekssaga an die
Stelle der Waberlohe eine feste Burg setzt (ebenso das N. L.i; das ist eben
die durch das Gitterthor der Hei verschlossene Unterwelt.
•2. Die Nibelungensage. Die Siegfriedssage. 123
Märchen von dem sieben Jahre unter dem Baume sitzenden
Marienkinde in dem Mythus von Idliunn, welche von der
Weltesche Yggdrasil fällt.=^-) Dieser Mythus ist von Uhland
richtig als Naturmythus gedeutet worden. Idhunn ist die schöne
Göttin, die im Sommer in der Pflanzenwelt herrscht, im Herbste
aber verschwindet.
Andere Züge in verwandten Sagen bestätigen diss.'^^) Vor-
'/iiglich kommt hier der Mythus von Freyr und Gcrdhr in Be-
tracht. Auch hier erscheint die AVaberlohe, durch welche Skirnir
für Freyr hindurchdringt. Gerdhr widersteht Freys Werbung,
nimmt auch seine goldenen Ae})tel nicht an, wird aber durch
Drohungen bewogen, nach neun Tagen mit ihm sich im Haine
Barey zu vermählen. Zum Lohne erhält Skirnir Freys Schwert;
Freyr tötet mit der Faust den Beli, der wahrscheinlich Gerdhs
Bruder ist.'-') — Die Bedeutung dieses Mythus ergibt sich aus
Freys Wesen. Er ist ein milder Xaturgott, der Regen, Sonnen-
schein und Fruchtbarkeit verleiht. Gerdhr dagegen ist ein
doppelseitiges Wesen, einerseits die schöne Braut Freys, anderer-
seits aber die Tocliter des wilden Gymir und die Schwester
Belis, des winterlichen Sturmes,'-^) den Freyr im Frühjahr erlegt,
wo die Stürme aufhören. Auch Freys Vermählung fällt dem-
nach in den Frühling. Im Winter sind Freyr und Gerdhr ge-
trennt; Gerdhr wohnt in der Unterwelt; aber Freyr lässt sie
heraufholen, vermählt sich ihr in dem Haine Barey, d. b. dem
,. grünenden ", und die goldenen Aepfel sind der Lohn dieser
Verbindung.-")
22) Unter der Esche Yggdrasil befindet sich die Unterwelt. Idhunn weilt
unter derselben in Thälern, wo es ihr nicht gefällt; diese ThiUer, die ver-
wandte Nörwis, der Fluss Gjöll u. a. weisen bestimmt auf Idbuns Aufenthalt
in der Unterwelt. Unter der Esche Yggdrasil hausen Schlangen, darunter
Ofnir und Sväfnir, die vielleicht au Fafnir erinnern dürfen. "Wenn Siegfried
den Drachen unter einer Linde tötet und selbst unter einer solchen ermordet
wird, so ist dieser Baum vollständig an die Stelle der Esche getreten;
nordische Esche und deutsche Linde entsprechen sich auch sonst.
23) Wie Odhinn in die Unterwelt reitet, bebt die Erde. — Freya um-
gibt die Hyndla mit Flammen, d. h. wirft sie in die Unterwelt, wohin die
Riesen von den Göttern geworfen werden.
24) Gerdhr hat einen Bruder, der erschlagen wird; bei Skirnis Ankunft
nimmt sie diesen für den Mörder.
25) Beli ist = ..der BriÜlende", „der Stier-, d. h. der Sturmwind, nach
einem gewöhnlichen Bilde.
26) [Auch Idhunn besitzt goldene Aepfel; über ihr Yerweilen in der
Unterwelt s. o.]
124 I- Die Entstehung des Nibelungenliedes.
Durch diese Parallelen wird wahrscheinlich, dass auch der
Siegfriedmythus ursprünglich eine Beziehung auf die Xatur hatte.
Siegfried ist ein milder Naturgott, der den Drachen oder Riesen^
d. h. die ungebändigte schädliche Naturkratt/-') erlegt. Der
Schatz Siegfrieds sind alsdann nicht Gold und Edelsteine, sondern
vielmehr der Schatz der mütterlichen Erde, der Pflanzensegen.
In den Besitz dieses Schatzes gelangt, muss der Gott zunächst
die schöne, in der Unterwelt wohnende Grittin heraufholen und
sich mit ihr vermählen. Aber er besitzt sie nur kurze Zeit,
d. h. nur während des Sommers; dann wird er von dem finsteren
Dämon ermordet, seiner Gemahlin von demselben der Hort
geraubt, der nun wider in die Tiefe zurückkehrt; auch seine
Gattin muss wider in die Unterwelt eingehen.
Diese Erklärung der Sage wird durch mehrere Einzelheiten
derselben bestätigt. Zwar treffen die Jahreszeiten, in welche
Siegfrieds Schicksale fallen, nicht ganz zusammen mit denen, in
welche sie nach der Erklärung der Sage eigentlich fallen müssen.^*")
Einiges bietet jedoch die Etymologie der Xamen.^'^)
Brünhild tritt im Mythus besonders hervor in der Zeit
zwischen dem Drachenkampf und Siegfrieds Vermählung. Fällt
ersterer in den Anfang, letztere in die Mitte des Frühlings, so
ist der Sinn der, dass in der Zwischenzeit die Winterstürme
Die gegebene Erklärung des Freyrmythus ist gesicliert dadurch, dass
Freyr im Frühling mit seiner Gemahlin in Schweden seinen fruchtbringenden
Umzug hielt. — Aehnlich ist die meistens erloschene Sitte des Mairitts;
auch die Austreibung des Winters oder der Kampf zwischen Winter und
Sommer, wie diese an mehreren Orten aufgeführt wurden.
27) Für diese sind Drachen und Eiesen ein sehr geläufiges Bild; vgl.
Apollon und Python, Thors Kämpfe mit den Riesen, besonders den Steinriesen.
2^1 Dass Siegfried zeuien sune/uenden (X. L. Str. :i2) Ritter wird, könnte
auf die Erlegung des Drachen zur Zeit der Frühlingssonnenwende [= ?]
hinweisen; aber der Schluss wäre zu kühn. Dem Mythus entsprechender
ist, dass er Kriemhild an einem Pfingsttag zuerst sieht. Aber seine Ermor-
dung fällt nicht in den Herbst, sondern in den Frühling.
29) Völstoujar hängt nicht zusammen mit vols, sondern mit valis =
Yi'r,<jioi. — Siegfrieds Name bezeichnet den nach dem Sieg über die Stürme
des Winters der Natur Frieden gebenden Gott. Der nordische Name seiner
Mutter. Hjördis, deutet,*'wenn er mit iördh zusammenhängt, auf eine Erdgott-
heit [siehe dagegen Rieger, Nib. Sage S. 1S3: Hjördis gehört nicht zu Sig-
mund, Siegfried etc., sondern vielmehr gehört hieher Sigelind; Hiördis ist
offenbar Gattin Hjörwardhs, des Vaters von Helgi]. Brünhild und Kriemhild
sind an die Stelle von Lyngheidhr und Lofnheidhr getreten, ihre Namen .be-
weisen also nichts.
2. Die Nibelungensage. Die Siegfriedssage. 125
noch nicht völlig gebändigt sind, dass vielmehr, mythisch aus-
gedrückt, der Gott noch den Joten dienen muss und von der
finsteren Schwester seiner Braut zum Gatten verlangt wird.
Aber beide Weiber sind, wie oben bemerkt, identisch.
Kriemhild im Sommer ist Brünhild im Winter^ ähnlich, wie sich
Demeter und Erinys verhalten.^'^)
Ebenso muss auch Siegfried mit dem Drachen, den er
erlegt, identisch sein.^') Aeussere Beweise dafür fehlen aller-
dings. Sich einen Gott in seiner finsteren Gestalt unter dem
Bilde eines Drachen zu denken, ist der nordischen Mythologie
keineswegs fremd.^-) So ist also der grollende Gott selbst das
finstere Wesen, welches den Menschen die Früchte der Erde
entzieht. Kriemhild, als finstere Göttin gedacht, will ihn wider
haben, wie Persephone der Aphrodite den Ares neidet. Da der
Drache aber mit Fathir identisch ist, so ist Siegfried zugleich
Kriemhilds Gemahl imd ihr Bruder.^^j
Der Wechsel der Xatur zwischen Sommer und Winter
wurde also als das Leben zweier innig mit einander verbundenen
Gatten und Geschwister dargestellt. JJieselben sind im Sommer
über der Erde, mild und freundlich, im AVinter unter derselben,
grollend und finster. Die freundliche und die finstere Seite
dieser Gottheiten wurde dann von der Sage in zwei verschiedene
Wesen gespalten.^^)
30) Darauf deutet noch ein Zug der Sage. Nach N. L. Str. 1042—1406 sitzt
Kriemhild 3' 2 Jahre einsam in einem fiezimher; nach der nordischen Sage
-weilt sie 3' 2 Jahre hei Hjalprekr und webt. Die sieben Halbjahre sind die
sieben "Wintermonate; das gezimber ist die Unterwelt. — Im roman de
Berte spinnt die echte Bertha, wie Otnits Gemahlin nach dessen Tode;
Hildegard wird von dem als Frau verkleideten Hugdietrich in einem ver-
schlossenen Gemache in weiblicher Stickerei unterrichtet. Dieses Weben
könnte die still schatfeude Thätigkeit der Göttin in der Unterwelt andeuten,
und ist jedenfalls dem Schmieden Siegfrieds in seiner Jugend analog. Aber
auch die Nomen und Yalkyrien, welche die naturhistorische Bedeutung von
Siegfrieds Gattin nicht haben, weben; Kriemhild führt also diese Thätigkeit
als die finstere Herrin der Unterwelt.
31) [S. W. Schwartz, Die altgriechischen Schlangengottheiten (Berliner
Programm von 1S5S).]
32) Die Schlangen-Namen Ofuir und Svafnir (s. not. 22) sind zugleich
Beinamen Odhins; dieser wurde bei den Langobarden unter dem Bild einer
Schlange verehrt und kommt als solche zu Gunnlöd.
33) Wichtig für das Weitere: s. daher unten.
34) Grosse Aehnlichkeit hat die Sage mit dem Mythus von Dionysos und
Persephone. Es zeigen sich aber bei genauerer Vergleichung widerum Ver-
schiedenheiten zwischen beiden.
126 I. Die Entstehung des Nibelungenliedes.
Für den sa erklärten Mytlius muss nun noch eine Stelle
in dem germanischen Göttersystem g-efunden werden, damit die
Einreihmig in dasselbe die gegebene Erklärung als richtig
erweisen könne.
Es finden sich in der nordischen Mythologie alle die Ideen,
welche der Siegfriedssage zu Grunde liegen. Das Prineip des
Gegensatzes, mythisch als Kampf autgetasst, ist eine Grund-
anschauung der gesammten nordischen Mythologie. Analogieen
der nordischen Mythologie sprechen dafür, dass Siegfi-ieds Ver-
mählung richtig als die Verbindung mit einer tellurischen
Göttin aufgefasst ist; denn die Gattinnen der bedeutendsten
nordischen Götter sind tellurische Wesen.^°) Das Heraufholen
der schönen Göttin aus der Unterwelt tritt hervor in dem
Mythus voa Gerdhr, das Bändigen der unwilligen
Braut in dem von Odhinn und Rindhr, wo auch das Schmieden
Siegfrieds seine Analogie findet.^") Eine treffende Parallele zu
der Vermählung Siegfrieds bietet ferner der Mythus von Odhinn
und Gunnlöd.^') — Der Tod eines Gottes im Herbste ist der
nordischen Mythologie nicht fremd; besonders hervortretend ist
.35) Odhins Gattin, Frigg, ist Tochter des Fjörgjai, = goth. fairgtmi
„Berg" ; Fjörgyn oder Jördh heisst Thors Mutter. Sit", die Gattin Thors, ist
tellurisch; wenn Loki derselben ihr schönes Haar abschneidet, für das ihr
dann Zwerge ein goldenes machen, so ist das deutlich Bezeichnung der
goldenen Feldfrucht, die zur Zeit der Hitze geschnitten wird und im Winter
unterirdisch wider emporkommt.
36) Odhinn kommt als Schmied verkleidet zu Rindhr, ihre Verbindung
findet im Winter statt. Parallel dem Spinnen der Göttinnen, ist das
Schmieden die Thätigkeit des Gottes im Winter.
37) Unter dem Meth ist gewiss mehr zu verstehen als der Dichtertrank.
Kvasir, aus dem er gemacht ist, scheint nach seiner Etymologie (=anhelitus)
das Lebensprincip in der Natur darzustellen. Die Lebenskraft der
Gewächse dringt aus ihnen im Herbste in die Erde zurück und kommt im
Frühjahr wider zum Vorschein durch die Hilfe der Zwerge, der im Ver-
borgenen schaffenden Naturkräfte, welche die belebenden Säfte wider neu
zubereiten. Allein die rauhe Jahreszeit hemmt diesen Gang; sie müssen den
Lebenstrank an Suttüngr abgeben, der ihn in seiner Höhle verschUesst.
Auch Odhinn muss dem Bruder des Riesen dienen, die rauhen P^lemente eine
Zeit lang herrschen lassen, sich mit der Riesenjungfrau Gunnlöd verbinden.
Diese Verbindung dauert nicht lange; nachdem Odhinn den Meth ausge-
trunken, die Lebenskräfte den Riesen wider genommen hat, verlässt er
Gunnlöd. Diese ist also auch dämonischen, tellurischeu Wesens. Zu be-
merken ist bei diesem Mythus die Dienstbarkeit und die Schlangengestalt
des Gottes.
2. Die Nibelungensage. Die Siegfriedssage. 127
hier .der Mythus von Baklr, dem Siegfriedsmythus noch analoger
der von Odhr.^^)
Wir kennen nur ein nordisches Göttersystem, das dazu
noch aus der letzten Zeit des Heidentimms stammt. Nach der
Analogie anderer heidnischer Religionen ist aber anzunehmen,
dass die Götter der einzelnen Stämme erst allmählich in ein
System vereinigt wurden und dass erst dabei ihr Wesen so
scharf bestimmt, ihre Charaktere so fest gegen einander abge-
grenzt wurden, während dieselben früher allgemeiner und unbe-
stimmter gehalten sein musten. In den vielfachen Berührungen
im Wesen einzelner Götter liegt dafür ein sicherer Bew^eis.
Odhiim, Thörr und Freyr scheinen ursprünglich identisch zu
seinr'') alle sind Himmelsgötter und Gatten von telhirischen
Wesen; sie tretfen in mehreren Eigenschaften, namentlich in
der Verleihung von Eegen und Sonnenschein, zusanunen. Ob
Odhinn und Thorr zu einer gewissen Zeit des Jahres in die
Unterwelt hinabstiegen, ist ungewiss. Von Freyr aber lässt
sich mit Sicherheit vermuthen, dass er im Herbste starb und
im Winter als grollender Unterweltsgott gedacht wnirde, obgleich
die Edden davon nichts berichten.'") ,
Wenn nach dem Gesagten keine der im Siegfriedmythus
enthaltenen Ideen der nordischen Götterlehre fremd ist, so fragt
sich, mit welchem der nordischen Götter Siegfried zu identi-
ficieren sei.
;5^) Freya war mit einem Manne, Odhr, vermählt. Er verliess sie und
sie suchte ihn unter vielen Mameu, wie Aphrodite ihren Adonis. Es ist an-
zunehmen, dass Odhr ein Naturgott war, welcher starb; daher wird er nicht
ein Gott, sondern ein Sterblicher genannt. Zweifelhaft ist, ob er nicht mit
einem anderen Gotte identisch sei. Freya ist durch ihre Verbindung mit
Freyr schon als milde Naturgöttin bezeichnet; sie ist aber auch eine Unter-
weltsgöttin und berührt sich mit Hei, wie Artemis u. a. mit Persephone.
Üil) Es ist z. B. die Scheidung zwischen Thorr und Odhinn ganz un-
natürlich und unecht, nach welcher die gefallenen Fürsten zu Odhinn,
die Knechte zu Thörr kommen. ValhöU war früher eine allgemeine Toten-
behausung; die Stämme, welche Odhinn verehrten, behielten die Oberhand,
und dadurch entstand jene unnatürliche Scheidung.
4u) Darauf führt die Schwesterschaft P'reyas als einer Unterweltsgöttin;
der Mythus von Gerdhr lässt diese Auffassung zu ; die Eberopfer und Eber-
gelübde in J'reys Cultus sind Sühnopfer für den in der Unterwelt wohnenden,
grollenden Gott; ferner die eigenthümliche Erzählung der Ynglingasaga von
Freys Tode; die Menschenopfer, die ihm nach der Olafssaga gebracht wurden,
passen zu einem bloss freundliche'n Gotte nicht.
128 I- Die Entstehung des Nibelungenliedes.
Der Mythus tou Baldr, an welchen Lachmann gedacht
hat, stimmt in wichtigen Puncten mit der Siegti'iedssage nicht
tiberein/') Es wird sich daher nur um Odhinn oder Freyr
handeln können. Odhinn l)ietet nicht wenige Parallelen ; '^) aber
manches dem Siegfriedmythus Eigenthümliche fehlt bei Odhinn.
Es bleibt somit noch Freyr übrig und wirklich stimmt der
Mythus von Freyr und Gerdhr vollkommen mit der Siegfrieds-
sage überein. '^)
Ebenso handelt es sich darum, eine Göttin zu finden, mit
welcher Kriemhild zu identificieren wäre. Ihr Diener Eckewart
ist offenbar identisch mit dem treuen Eck hart, welcher vor
dem Heer der Frau Holla warnt. Letztere lässt sich ihrem
allgemeinen Charakter nach (denn sie ist eine Unterweltsgöttin)
und in einzelneu Zügen ganz wohl mit Kriemhild gleichsetzen.'*^)
Welcher nordischen Göttin entspricht aber Holla ? Nach Grimm
ist sie identisch mit Frigg; wahrscheinlicher ist, dass sie mit
Freya zusammenfällt."^) Freyr und Freya stimmen ihrem
411 Der blinde Hödr erinnert an Hagen; besonders die Geschichte von
Balderus und Hotherus bei Saxo Grammaticus bietet viele Analogieen; auch
Baldr ist ein Licht- und Naturgott. Aber das Wichtigste, der Dracheu-
kampf und die Vermählung Siegfrieds, fehlt bei Baldr.
42) Siegfried stammt von Odhinn ab; Odhinn führt mit sig zusammen-
gesetzte Namen , wie Siegfrieds Familie ; die Schlangen Ofnir und Sväfuir
als Beinamen Odhins ; der Gunnlödmythus bietet verschiedene Parallelen, der
Meth kommt, wie der Nibelungenhort, von den Zwergen an die Biesen; die
verlassene Gunnlöd erinnert an Brünhild; das Bezwingen der Jungfrau im
Mythus von Eindhr, s. o.
43) Nur das ist abweichend, dass Bcli nicht als Drache auf dem Golde
liegt; allein der Kampf mit ihm ist überhaupt nur kurz angedeutet. — Der
Kampf mit Bcli ist Freys einziger Kampf, sonst ist er ein Gott des Friedens;
ebenso Siegfried nach dem Siege über den Drachen. — Freyr ertheilt Orakel;
Siegfrieds Geschlecht hat die Gabe der '\\'eissaguug. — Beide sind, wie es
scheint. Söhne der mütterlichen Erdgöttiu.
44) Holla ist eine Naturgöttin, ihr Hörselberg = der Unterwelt; sie
spinnt im Winter; als die „Dunkle" ist sie der Gegensatz zu Berchta, der
„Glänzenden", deren Sage viel Analoges bietet.
45) Darauf führen zunächst die Umzüge der Holla, wie solche nur von
P>eyr und seiner Mutter Nerthus bekannt sind; bei der nahen Verwandt-
schaft mit Freya lassen sie sich auch von dieser vermuthen. Die Umzüge
der Holla fallen um die Zeit der Zwölfnächte und der Fastnacht, wo im
Norden Freys Cult am meisten hervortritt. Dietrich mit dem Eber, welcher
mit Holla umzieht, ist unverkennbar identisch mit Freyr. Wenn Grimm mit
Recht die Isis des Tacitus (Germania cap. 9) mit Holla identiticiert. so führt
dieselbe ebenfalls auf Freya. Das Schiff, unter welchem Isis verehrt wurde.
2. Die Kibolungensage. Die Siegfriedssage. 129
Wesen nach so gut zur Siegfriedssagc , dass die Identität
der Sagen und Personen höchst wahrscheinlich wird. Aber jene
sind in der nordischen Sage nur Gescliwister, nicht Gatten. Es
ist also die Frage aufzuwerten, oh nicht früher oder bei anderen
germanischen Stämmen beide, äluilich wie Liber und Llljera,''")
zugleich als Gatten gedacht worden seien,
Freyr und Freyja nebst ihrem Vater Njördhr waren urs])riing-
lich lycht Äsen, sondern \'anen. Diss scheint eine Erinnerung
daran zu enthalten, dass sie nicht so ursprünglich sind wie die
anderen Götter, sondern erst später in den nordischen Glauben
eintraten. Umgekehrt lässt Odhinn die im Schöpfiingsmythus
und nachher nicht mehr auftretenden Götter Vili und Ve in
Asgard zurück; Mimir und der besonders in älteren Mythen
auftretende Hönir werden den Vanen zu Geiseln gegeben; offenbar
hat diss keinen anderen Sinn, als dass sie im Gült hinter den
neu aufgetauchten Göttern zurücktraten, was sich auch sonst
bestätigt.
Nach der Ynglingasaga kamen die Yanen vom Don her;
auch andere Nachrichten deuten bestimmt auf ihr Eindringen
von Osten her. Freys Cult deutet, auf Schweden. Ebenso ist
es in Deutschland der Osten, wo sich diese Götter nach-
weisen lassen. Die Xerthus des Tacitus (Germania cap. 40),
die Verehrung der Göttermutter unter dem Bilde des Ebers bei
den Aestiern (ibid. cap. 45) weisen ebenfalls in den Osten. Ist
die Isis identisch mit Freya, so bestätigt diss den Freyrcult als
Eigenthum der Ostgermanen. Bei den nicht suevischen Stämmen
Deutschlands lässt sich derselbe nicht nachweisen, ja er ist bei
erinnert an Freys Schitf Skidhbladhnir, welches die Wolken bezeichnet.
Dasselbe erkennt man in verdunkelten deutschen Sagen wider; der Gott
machte durch dassellie die Aecker fruchtbar. Hat nun Tacitus nicht geirrt, so
gebührt dasselbe auch der Freya. Der Hörselberg, der die Unterwelt bedeutet,
passt gut zu Freya. "Wie die Yalkyrien Dienerinnen der Freya. sind die Hexen
Hollas Dienerinnen. Yalkyrien und Hexen fallen vielfach zusammen; diss
beweist u. a. die Hexenprobe, dass die, welche auf dem Wasser schwammen,
ohne zu sinken, Hexen waren; denn diese waren alsdann Schwanjungfrauen,
d. h. Yalkyrien. Durch ihre Künste führen die Hexen das Wetter herbei, sie
reiten in den Wolken durch die Luft. Liegt nun den Hexenfahrten ein
orgiastischer Cult zu Grunde, so mögen die daran betheiligten Frauen geglaubt
haben, dass die Göttin selbst mit ihren Yalkyrien sich unter ihnen eintinde,
ja dass sie selbst zu Yalkyrien würden.
4t)) Auch griechische Gutterpaare, die zugleich Geschwister sind, z. B.
Zeus und Hera.
Fischer, Nibelungenlied. "
130 I- Die Entstehung des Nibelungenliedes.
diesen nicht denkbar; denn des Tacitus Nachricht von der Bild-
losigkeit des deutschen Götterdienstes steht im Widerspruch mit
den Götterbildern der Nerthiis, Isis imd Göttermutter, wenn
diese nicht allein den Sueven zuzutheilen sind; da aber jene
Götterbilder bestimmt auf Frevr und Freya deuten, so sind
diese den Nicht-Sueven entschieden ab/Aisprechen. Auch lässt
sich von den drei Haui)tgöttern , welche Tacitus den Germanen
zuspricht, Mars, Mercur und Hercules, keiner auf Freyr deuten,
während doch Odhinn, Thorr und Freyr im nordischen Götter-
system die hauptsächlichste Trilogie l)ilden.
Die suevischen Stämme wanderten später gegen Süden und
nahmen das südliche und das mittlere Deutschland ein/') Freyr
war also besonders im südlichen und mittleren Deutschland,
Wuotan ist noch jetzt im nördlichen besonders hervortretend.
Die Verbindung von Geschwistern galt im Asencult für an-
stössig; daher wurde die zAvischen Freyr und Freya im Mythus
aufgelöst, als sie Äsen wurden. Odhr ist, wenn er ein Mensch
ist, gar nicht als Gemahl der Freya denkbar, er muss also
Beiname eines bekannten Gottes in einem verdunkelten Mythus
gewesen sein; er kann demnach einfach mit Freyr identificiert
werden, dessen Mythus durch den seinigen ganz passend ver-
vollständigt wird.
Wir dürfen also annehmen, dass die Siegfriedssage aus
einem älteren deutschen Mythus von dem Gotte Freyr erwachsen
ist. Durch diese Annahme erklärt sich auch, warum der Sieg-
friedmythus im Norden nicht vorhanden war, und später erst,
als er schon zur Heldensage geworden war, dorthin veqiflanzt
wurde und doch so grossen Anklang fand; es wird sich dadurch
auch seine Localisierung am Rhein erklären, weil die Burgunden,
die früher an der Ostsee wohnten, wo der Freyr-Cultus vorzugs-
weise herrschte, ihn in ihre neue Heimat verpflanzten und mit
ihrer Königsgeschichte verflochten.
33.
Auf demselben Boden wie Wilhelm Müller weiterarbeitend,
sind Neuere zu anderen Resultaten gekommen. Namentlich
47) Anglier und Variuer (Hermunduren) sind Thüringer; die Langobarden
wandten sich nach Süden, mit den Baiern vielfach verbunden; die üothen
folgten nach.
2. Die Nibelungcusage. Die Siegfriedssage. 131
war hier der Nachweis wichtig, welchen W. Schwartz in
seinem Programm „über die altgriechischen Schlangengottheiten"
(Berlin ISöS) mit genügender Evidenz geliefert hat, dass nem-
lich alle ^lythen von Schlangen oder Drachen ursprünglich
Gewittermythen sind, indem die Schlange, welche „nicht
auf Erden gezeugt ist", das einfache, naive und treffende Bild
des am Himmel sich „hinschlängelnden" Blitzes ist.
Statt der Schlange oder des Drachen treten in den ]\rythen,
die schon mehr anthropomorphischen Charakter haben, auch
menschenartigere Wesen, Riesen oder Ungethüme verschiedener
Art,') auf. Gerne werden diese Drachen oder ihre Stellvertreter
im Besitz eines Schatzes") oder einer von ihnen geraubten
Jungfrau^) gedacht, die sie entweder fressen oder zur Liebe
zwingen wollen. Kann der Schatz verschieden gedeutet werden,')
so ist die Deutung der Jungfrau, statt oder neben welcher mit-
unter auch ein Jüngling auftritt, auf Sonne oder Mond, wie sie
Schwartz gegeben hat, mindestens sehr plausibel. Dem Drachen
(oder sonstigen Ungethüme) tritt ein göttliches Wesen gegen-
über, welches denselben tötet, den Schatz ihm entreisst, die
Jungfrau befreit.^) Zugleich lehrt aber die Betrachtung dieser
Schlangenmythen, dass nach dem in der Mythologie fast stehenden
Gesetze, das auch die oben besprochene Theorie W. Miülers so
vielfach zur Geltung gebracht hat, der Gott, der das Ungethüm
überwindet, mit diesem selbst identisch ist, dass der
Schlangentöter nichts anderes ist, als die Schlange, welche „im
eignen Feuer stirbt".
Somit wäre Siegfrieds Drachenkampf nichts anderes als eine
mythische Darstellung des Gewitters nach seiner wohlthätigen
Seite, die Vernichtung der Verderben drohenden Gewitterwolke
1) So die Gorgo, die Cliimaira; meiischlichere ^Yesen Python, Tityos
Porphyrion u. a., die Riesen, welche Thorr bekämpft.
2) Das goldene Vliess, die goldenen Aepfel der griechischen Mythen;
daneben in Hellas wie in Deutschland die allgemeinere Vorstellung von gold-
hütendeu Drachen.
3) In Hellas Hesione, Audromeda u. a.
4) Die Vorstellung von dem Golde kann stammen aus dem Anblick des
goldenen Blitzes (Schwartz), des Wetterleuchtens, das die Wolken in goldenen
Glanz hüllt (Koch), oder kann das Gold das von der Wolke bedeckte Sonnen-
licht, in einer höheren Anschauung vielleicht auch die durch die Selbst-
vernichtung des Gewitters in Blitz und Regen erweckten Schätze des Bodens
bedeuten.
5) Herakles befreit die Hesione, Perseus die Andromeda.
9*
132 I. Die Entstehung dos Nibelungenliedes.
durch sich selbst, durch den aus ihr zuckenden Blitz, und die
segensreiche liefreiung der Sonne durch die Entfernung der sie
verhüllenden Wolke.**) Aber der freundliche, durch seinen Sieg
über die Gewitterwolke Frieden spendende Gott {sifju-frid) ist
sell)st mit dem besiegten Ungethüm identisch, er fällt, indem
er dasselbe erlegt.' i
Bei dieser Deutung des Siegfriedmythus können nicht alle
Einzelheiten der ausgebildeten Sage ihre Stelle finden. Daher
hat E. Koch in der zweiten Auflage seines Schriftchens die
verschiedenen Momente der Siegfriedssage getrennt und sie als
erst später zusammengeschweisst betrachtet. Eine kurze Dar-
stellung seiner Analyse folge hier.
Was von Siegfried erzählt ist, lässt sich im Wesentlichen
unter die drei folgenden ]\Iomente zusammenfassen:
1) Siegfried erschlägt Fafnir und gewinnt dessen Hort;
2) er durchreitet die Waberlohe, erweckt Brünhild und
verlobt sich mit ihr;
3) er wird hinterlistig ermordet.
1) Fafiiir, der Drache, ist die Gewitterwolke, welclie von
dem Sonnengotte Siegfried vernicbtet wird.*) Siegfrieds strahlende
Augen sind ein Ueberrest von dem Wesen des Lichtgottes;
Thors Donnerkeil ist zu einem von Zwergeshand geschmiedeten
Schwerte geworden. Der von Siegfried dem Riesen abgenommene
Schatz des Sonnengoldes wurde später nach Vermenschlichung
der Sage am Rhein, welcher Gold führte, localisiert, da die
Sage in derselben Gegend ihre Entstehung gefunden hatte.
2) Ueber den Mythus von Siegfried und Brünhild geben
die Mythen von Odhinn und Rindhr, Freyr und Gerdhr Auf-
schluss: die im Winter gefesselte, gefangene Natur wird von
()) So kommt die Darstellung des Siegfriedsliedes zu ihrem Recht,
welche die von dem Drachen geraubte Kriemhild von Siegfried geraubt
•werden lässt. S. u.
7) Thorr füllt, wahrend er die Midgardschlange erlegt, zugleich selbst,
wird von (irüngnir, den er getötet, zu Boden geworfen. — Ueber das in der
ausgebildeten Sage dem Tode Siegfrieds Vorausgehende s. u.
8) Der rothe Glanz der Wolke erweckt die Vorstellung von einem da-
hinter verborgenen Schatze; das Gewitter ist der Kampf des Sonnengottes
jnit dem Drachen, welcher als Regen zur Erde sinkt [s. u.]; der Schatz
kommt in die Hände des Siegers und erscheint hier als das Gold der Sonne.
Analoge Mythen: ludra und Vritra: Thorr und die Midgardschlange; Thörr
und die Riesen.
2. Die Nibelungensage. Die Siegfriedssage. 133
dem Sonneiigotte wider betreit, belebt und bethiclitet.^j Im
Mythus von Freyr ist Sldniir nur eine Hypostase des Guttes
selbst, wie auch Odhinn selbst es ist, welcher in den verschie-
denen Verkleidungen zu Rindhr kommt. Sobald aber der
Mythus historisiert wurde, übertrug die dichterische Phantasie
dem Freunde des Gottes alle wichtigeren Functionen, wie uns
denn diese Gestaltung der Sage in der ausgebildeten Siegfrieds-
sage vorliegt. Diese Freuudestreue ist Gegenstand einer Ijeson-
deren Sage geworden, der von Amicus und A melius,'") —
Die Tarnkappe ist verhältnismässig späten Datums, in die Sage
gekommen erst zu der Zeit, als man den einem Go'tte natürlich
leichten Gestaltenwechsel nicht mehr für möglich hielt. Diese
Tarnkappe muste aber irgendwo gewonnen sein; so kam es,
dass sie unter die dem Drachen abgenommenen Kleinode ge-
rechnet wurde.")
3) Die Ermordung Siegfrieds ist identisch mit Baldrs Tod.'-)
Ein mythischer Gegensatz von „Nibelungen" und „Völsungen"
ist nicht anzunehmen; „Nibelung" ist ein historischer, fränkischer
Name. Ebenso ist Hagen nicht mythisch; Tronia (Kirchheim)
ist eine historische Oertlichkeit. Magens Name stammt von Ihkj
„Verhau"; er ist also eigentlich ein liiirjestalt („Hagestolz"), ein
im Grenzwald angesiedelter Lehnsmann. Jedenfalls ist diss
wahrscheinlicher, als seine Identificierung mit dem fränkischen
Grossen Eunius Mummolus.
AVahrscheinlich ist der zweite Mythus, der von Siegfried
und Brünhild, der Grundstock des Ganzen. An ihn hat sich der
erste, zur Verherrlichung des Helden dienend, leicht ange-
schlossen; schwieriger war die Anschweissung des dritten,
welche erst durch das Eindringen der Freundschaftsage direct
veranlasst war. Der Gedanke von der Verderblichkeit des
9) Die ^Yabel•lohe ist die Glut des Scheiterhaufens, wie der griechische
nioKfkeyi&ioi' [s. aber uuten].
lu) Ueberliefert bei Vincentius Bellovacensis und Albericus trium foutiuni;
Deutsch in „der Seele Trost-; letztere Darstellung s. bei Koch S. 69 — 71.
1 ! ) Der Mythus von Siegfried und Brünhild ist selbständig erhalten in
dem Märchen vom Dornröschen; auch das vom Sneewittcheu beruht auf
demselben. Die Freundschaftssage findet sich in dem Märchen von den
zwei Brüdern.
12) Baldr ist Sonnengott, Odhins Sohn, wie Siegfried unverwundbar;
Hagens und Lokis List, Nauna und Brünhild sterben freiwillig mit dem
Gatten.
134 I- r>ie Entstehung des Nibelungenliedes.
Schatzes ist specifiscli nordiscli und imurspriiiiglicli ; daher ist
die ganze Vorgeschichte des Schatzes als nordischer Zusatz an-
zusehen, veranlasst durch das Bestreben der Nordmänner, einer-
seits alle Einzelheiten möglichst zu concentrieren, andererseits
alles Wichtige bis auf die Götter zurückzuführen.
34.
Haben schon die bisher (§§ 32. 33) betrachteten Deutungen
der Sage in der Erklärung der einzelnen sagenhaften Momente
den specitisch germanischen Boden nicht selten überschritten,
so hat P. E. Müller seine allegorisierende Auslegung des
Mythus zwar rein aus der germanischen Tradition desselben
geschöpft, dem Mythus selbst aber in seinem allegorischen
Charakter indogermanischen Ursprung vindiciert; Leo und
Holtzmann endlich haben, ohne eine Deutung des Mythus zu
geben, denselben durch Parallelisierung mit einer indischen
Heroensage in die Zeit der indogermanischen YiUkergemein-
schaft zurückgerückt.
35.
Peter Erasmus Müller
hat in seiner Sagabibliothek eine allegorisierende Auslegung der
Sieg'friedssa*ge gegeben, welche in kurzem folgende ist.
Der „Rhein", in welchen das Nibelungengold geworfen wird,
ist = „Fluss" überhaupt. Das Gold, welches aus den Flüssen
gewonnen wurde, ist wohl überhaupt das älteste. Die Frage
muste nahe liegen, wer wohl dasselbe daselbst hinein geworfen
habe. Die Antwort darauf war: die ]\Iissgunst, welche den
Menschen diesen Schatz zu entziehen trachtete. In Ueberein-
stimmung mit persischen und indischen Mythen wurde die
Heimat dieses in den Fluss geworfenen Goldes im Norden
gesucht. Der dasselbe holte, war ein Jüngling von Götter-
geschlecht, siegreich {siipirdr^, ein Sohn der Gewalt {Volsümp'),
der den Schatz durch Tötung der denselben bewachenden Un-
geheuer {Fitfnir = finfncr^ ^Schatzes Inhaber") gewann. Das
Gold aber bringt nur Unheil ül)cr seinen ersten Besitzer. So
lange der Held seine Kraft entfaltet, indem er der Kriegsjungfrau
(/?;■//??/' /7./I dient, ist er siegreich durch Stärke und Weisheit.
2. Die Nibelungensage. Die Siegfriedssage. 135
Bosheit {(rrim-hild) führt ihn in die Anne der Wolhist {(jiidr
ru//o), und nun Aerlässt ihn sein Glück. Die Sühne der Finster-
nis {Mßihujar) überwältigen ihn; sie bewahren das Gold in der
Tiefe; aber auch sie, trotzend auf ilire Stärke, lallen durch die
Blutrache (J///j.
Es ist aus dieser Darstellung klar, dass P. E. ]\Iüller die
ganze Nibelungensage als ein Ganzes zusammcnfasst; damit ist
auch gegeben, dass er jede geschichtliche Anlehnung ausschliesst.
Zugleich verlegt er die ganze Sage in die vorgermauische Zeit
und in die asiatisch-arische Heimat der Germanen in der
Gegend der "Wolga.
36.
Heinrich Leo
hat, ohne eine wirkliche Auslegung der Sage zu versuchen, eine
Parallele derselben mit einer altindischen Heroensage gezogen
und beide Sagen als ureius dargestellt.') Die genannte indische
Sage ist folgende.
Das Mahabharata-) enthält als Episode die Geschichte des
Kuruingen Kar na. Kunti, Pandus spätere Gemahlin, gebiert
dem Sonnengotte einen Sohn, mit Namen Karna, der, wie sein
Vater sell)st, mit einem undurchdringlichen Goldpanzer zur "Welt
kommt. Das Kind wird ausgesetzt und von Adhirathk, Dhri-
tarashtras "^''agenlenker , gefunden und erzogen. Karna ver-
schatft seinen "\>rwandten, den Kauravas (Kuruingen) Sieg, so
lange er lebt. Kunti vermählt sich mit König Pandu und gebiert
ihm drei Söhne: Yudhishthira ,^) Bhima und Ardshuna,^) von
welchen der letztgenannte der Hauptheld auf Seiten der Panduinge
ist. Bei der Kampfprobe zwischen den Freiern Draupadis ver-
schmäht diese den Karna, obwohl er den besten Schuss thut,
und wählt Ardshuna zum Gemahl. Karna . und Ardshuna
sind von nun an Todfeinde. Ardshuna muss aber die Braut
1) ..Die alt- arische Grundlage des Nibelungenliedes*', in J. W. Wolfs
Zeitschrift für deutsche Mythologie und Sittenkunde. I, 1 (!S5:5).
2i Die Darstellung des Kampfes zwischen den Geschlechtern der Kau-
ravas und der Panda vas (vulgo Kuruinge und Panduinge).
3) = „Standhaft im Kampf"; ähnlich Günther von yiint = pugna.
4) A. bedeutet zugleich einen weissblühendeu Baum mit rothen Beeren;
— Hagen = ..Weissdorn".
136 I. Die Entstehung des Nibelungenliedes.
dem älteren Bruder Yudhishthira abtreten, und sie wird gemein-
same Gattin der SrJhne l'andus. Dhritarashtras^) Solm, Duryod-
hana, hat von Yudhishthira sein ganzes Reich im Würfelspiel
gewonnen, mitsammt Draupadi, welche er aber frei lässt. Es
entbrennt der Krieg zwischen Panduingen und Kuruingen. Die
Letzteren sind siegreich, so lange Karna lebt. Dieser aber kann
nicht getötet werden, so lange er seinen Goldpanzer und die
kraftverleihenden Ohrringe hat. Indra, der Begünstiger der
Panduinge, bittet ihn in Gestalt eines Brahmanen um beides,,
und Karna, welcher gelobt hat, einem Brahmanen keine Bitte
abzuschlagen, gibt ihm beides trotz der Warnungen des Sonnen-
gottes, aber unter der Bedingung, dass er als Pfand dafür Indras
unfehlbar treffenden Speer") erhält. Sowie jedoch Karna mit
einem Speerwurfe getroffen, soll Indra den Speer wider be-
kommen. Krishna, der Helfer der Panduinge, weiss Karna durch
List dahin zu bringen, dass er den Speer Indras gegen einen
Andern als Ardshuna verschiesst. Ardshuna erschiesst den
Karna meuchlings, während dieser ein Rad seines festgefahrenen
Wagens losmachen will ; Karna ist noch nicht tot und verwundet
seinen Feind; aber Krishna heilt Ardshunas Wunde schnell
und ein zweiter Schuss von diesem tötet den Karna.
Die zahlreichen Parallelen dieser Sage sind folgende.
Karnas Panzer entspricht Sieglrfeds Hornhaut; die kraft-
verleihenden Ohrringe der Tarnkappe; wie dem Karna die
drei Panduinge feindlich gegenüberstehen, so dem Siegfried die
drei Nibelungen; die Warnung Karnas durch seinen Vater ist
ähnlich der Siegfrieds durch Kriemhild; Siegfried und Karna
werden von ihrem Feinde meuchlings erschossen; der Grund
ihres Hasses ist beidemale ein Weib, in der indischen Sage
Draupadi, in der deutschen Brünhild. AVenn in der nordischen
Sage nicht Högni, sondern Guttormr auf dessen Rath den Mord
verübt, so ist ^in ähnliches Verhältnis zwischen Krishna und
Ardshuna. In beiden Sagen steht ein Lichtgeschlecht einem
Geschlechtc des Abgrunds") gegenüber und unterliegt diesem.
Karnas scheinbare Abstammung von einem Wagenlenker, wegen
5) Dhritarashtra und Pandu sind Brüder.
6) [Welcher mit Thors Hammer identisch ist; s. W. Mannhardt,
Germanische Mythen S. U)5 — 114; wie überhaupt Indra und Thörr, s. Mann-
hardt 1. c. 1—242].
7) Krishna bedeutet ..schwarz".
2. Die Nibelungensage. Die Siegfriedssage. \'M
welcher ihn Draupadi verschmäht, ist Siegfrieds Dienstbarkeit
analog. Die Zeugung Karnas durch einen Gott ist in der
Thidrekssaga von Siegfried auf Hagen übertragen, dessen Mutter
von einem Alb schwanger wird; ein Bruder Hügnis heisst merk-
würdigerweise Hjarnar, ganz ähnlich mit Karna. Auch Sieg-
frieds Geburt nach der Thidrekssaga ähnelt der Karnas.
37.
Adolf Holtzmann
hat Leos Theorie adoptiert, weiter ausgeführt und in einzelnen
Puncten abgeändert.')
Die Nibelungensage ist nach Holtzmann rein auf mythische
Elemente zurückzuführen, d. h. wenigstens auf solche, welche vor
der eigentlich germanischen Geschichte liegen müssen. Wir
haben also ein Recht zu der Vermuthung, dass sie allgemein
indogermanisch sei. Um so mehr wird diese Vermuthung
gerechtfertigt sein l)ei der Sage von Siegfried, dem unbestrittenen
Liebling der deutscheu Sage, dessen Person von gar keiner
geschichtlichen Anlehnung ergriffen worden ist, so dass zu
schliesseu ist, seine Gestalt sei in der Dichtung zu feststehend,
also zu alt gewesen, um eine historische Anknüpfung zu ge-
statten. Bei ihm also muss sich am ehesten eine Parallele in
anderen Mythologieen indogermanischer Völker nachweisen
lassen.
Der innere Zusammenhang zwischen germanischer und in-
discher Mythologie kann nicht bestritten werden. Wahrscheinlich
ist somit auch die Identität der beiderseitigen Heldensagen,
mögen sie auch bis zur Unkenntlichkeit verändert sein. Leo hat
auch schon die richtige Parallele zwischen der Siegfrieds- und
Karua-Sage gezogen. /
Das Mahabharata, welches den Karna mit entschiedener
Misgunst behandelt, ist offenbar in einer parteiisch gefärbten
Umarbeitung auf uns gekommen; Karna muss früher (und noch
später) eine weit bedeutendere Figur gewesen sein, als er im
Mahabharata ist. Die Parallelen zwischen ihm und Siegfried
sind folgende.
1) Holtzmann, Untersuchungen S. 187— fin.
138 I- Die Entstehung des Nibelungenliedes.
Beide werden, von ihrer Mutter auf dem "Wasser ausgesetzt, in
fremdem Lande gefunden und erzogen. — Karna ist der Solm des
Sonnengottes ; dasselbe muss auch Siegfried sein, als Sohn des Sig-
mund, d. h. des Gottes der Sequaner,-) Segemon, und als Völsung;
denn Völsung häug-t zusammen mit dem keltischen Gotte Welis,
welchen die Minerva Belisana voraussetzt und dessen Name als
bei den Gothen bekannt durch den Xamen Belisar erwiesen ist.
— Karna ist der Ilalljljruder seines Todfeindes Ardshuna; viel-
leicht ist auch Siegft-ieds Mutter zugleich die Hagens. Diss
wird glaublich dadurch, dass Hjördis, Siegfrieds Mutter, sich
mit Hjalprekr vermählt und dass beide später nicht mehr ge-
nannt werden, so dass eine Verwirrung der Sage in diesem
Puncte anzunehmen ist; wahrscheinlich wird es dadurch, dass
Siegfried und Hagen nach der Sage sich Stallbruderschaft
schwören. — Karnas Panzer und Siegirieds Hornhaut sind
identisch. — Die Dienstbarkeit mit ihren Folgen ist bei Karna
wie bei Siegfried vorhanden. — Wie Siegfried dem Günther
seine Gemahlin erwirbt, so Karna dem Duryodhana dessen
Gattin Kanya. Da nun Kanya mit Brünhild identisch sein muss,
diese aber zugleich mit Draupadi zusammenfällt, so sind ge^^'iss
in Brünhild zwei verschiedene Personen vereinigt, wofür die
Unklarheit des ganzen Verhältnisses zwischen Siegfried und
Brünhild spricht. Der Zusammenhang der Sage erfordert, dass
Karna zum Lohne Duryodhanas Schwager werde. Es wird uns
aber davon nichts überliefert. Duryodhana hat eine Schwester
Duhsala, welche aber an König Jayadratha verheiratet ist
und nie bedeutend hervortritt; da mm ihre Nennung, ohne dass
sie zugleich eine nennenswerthe Kolle spielte, unsinnig und die
Namenlosigkeit von Karnas Gattin nicht episch ist, so ist die
Annahme berechtigt, dass Duhsala eigentlich Karnas Gattin ist,
welche aber, als die Ehe mit einem Fuhrmannssohue ihrer un-
würdig schien, dem Jayadratha beigegeben ward. — Karna
unterwirft dem Duryodhana viele Könige; ebenso ist Siegfried
in der Thidrekssaga König Isungs Bannerträger, und im Nibe-
lungenliede standen gewiss an der Stelle des [nach Holtzmann
unechten, s. u.] Sachsenkriegs früher andere Siege Siegfrieds für
Günther. — Die Tötimg des Drachen und die Erwerbung des
Horts scheinen im ^Iahal)harata zu fehlen; allein die Tötung
des Jarasandh, eines übermenschlichen Wesens, und die
2) [Nach Holtzmann sind ja Kelten und Germanen identisch.]
2. Die Nibelungensage. Die Siegfriedssage. 139
Plünderung seines reichen Schatzes, welche dem Pdiinia zuge-
schrieben sind, kommen nrsi)riinglich — mid dafür sind noch
Zeugnisse vorhanden — vielmehr seinem Feinde Karna zu. —
Karnas Tod erfolgt zwar in der Schlacht, aber, wie der Sieg-
frieds, durch einen hinterlistigen Schuss in den Rücken.
Ein wesentlicher Unterschied zwischen Karnas und Siegfrieds
Sage, der aber nicht eimnal den Helden selbst berührt, ist der,
dass Ardshuna und Duryodhana Vettern sind, welche sich um
die Herrschaft streiten, wovon die Nibelungensage nicht weiss.
Es machen aber der Streit zwischen Wolfdietrich und seinen
Brüdern, zu dessen Zeit Siegfried nach der Sage lebte, sowie
der von Hartnit (= Ortnit, Otnit) mit Isung geführte Streit
wahrscheinlich, dass Siegfried einst der richtigeren Form der
Sage nach in einem solchen Kampfe mitkämpfte.^) In Hartnids
Namen (= „streitfest'') könnte man sogar den Yudhishthiras
widerfinden wollen (= „kriegfest"). Ferner finden sich in der
Ortnitsage alle Elemente der Siegfriedssage: eine gefahrvolle
Brautwerbung, eine Tarnhaut und die Unverwundljarkeit des
Helden (in Wolfdietrichs Set. Georgen-Hemd und Ortnits Brünne),
auch ein Drachenkampf; wichtig ist besonders, dass Alberich in
der Ortnitsage von Bedeutung ist.
Im indischen Epos sind Karna und Duhsala zurückgetreten,
im deutschen der Kampf der beiden Geschlechter; in Folge
davon fielen im deutschen Epos die Gegner Yudhislitliira und
Duryodhana, sowie in Brünhild zwei ursprünglich verschiedene
Frauen zusammen.
38.
Wollen wir die durchgesprochenen Theorieen über den
Siegfriedmythus benrtheilen und, soweit es bei der unbestimmten
AVeite, welche mythologische Fragen in ihrer Beantwortung
immer zulassen müssen, möglich ist, Resultate aus ihnen zu ge-
winnen suchen, so müssen wir zunächst untersuchen, ob und in
wie weit diejenigen, welche dem Siegfriedmythus eine allge-
meinere, indogermanische Bedeutung zugesprochen haben, diss
mit Recht thaten. Die Parallelen, welche Leo und Holtzmann
zwischen der Sage von Karna und der von Siegfried gezogen
3) Isungs Helden fallen durch Zauberei des Feindes; ebenso die tapferen
Kuruinge durch die List der Panduinge.
140 I. Die Entstehung des Nibelungenliedes.
haben, sind in der That frappant. Es wird auch nicht unrichtig-
sein, eine ziemlich weitgehende Parallelisierung, ja Identilication,
beider Personen zuzuLissen. Es ist aber zugleich zu bedenken,
dass beide Heroen, Siegfried und Karna, einem fertigen mytho-
logischen Systeme angehören, das in beiden Mythologieen ein
verschiedenes ist, dass also viele der Vergleichungspuncte mög-
licherweise zufällig sein und wegfallen können. Weiterhin ist
zu bedenken, dass auch unter den Vergieichungspunctcn, welche
die Personen beider Heroen betreffen, mancher insofern zu-
fällig mag genannt werden können, als nicht nur der Person
Siegfrieds mehrere andere der deutschen Sage sehr ähnlich, d. h.
wohl mit ihr identisch sind, sondern auch der Parallelen zu
Siegfrieds Geschichte z. B. in der griechischen Mythologie gar
manche sind und daher möglicherweise auch in der indischen
Sage mehrere Personen dem allgemeinen Gehalt ihres Wesens,
ihrer mythischen Bedeutung nach mit Siegfried gleich gesetzt
werden könnten. Haben sich doch die indogermanischen Völker
zu einer Zeit getrennt, da ihre Mythologie noch wesentlich in
einem sehr schwankenden, plastischer, sicher begrenzter, streng
gesonderter und insbesondere systematisch geordneter Figuren
entbehrenden Zustande sich befand, wie sich derselbe etwa noch
in den indischen Veden, kaum mehr in den deutschen Volks-
sagen und Märchen ältesten Charakters, zeigt. Daher müssen
wir uns wohl darauf beschränken, vorderhand die Möglichkeit,
ja Wahrscheinlichkeit der Identität beider Heldengestalten, Karnas
und Siegfrieds, zuzugeben, im Uebrigen aber abzuwarten, bis
eine eigentlich nnthische, d. h. dem Standjjunct der den Indo-
germanen gemeinsamen Natur mythologie angemessene Deutung
beider Figuren, insbesondere Karnas, der so wie er im Maha-
bharata gezeichnet ist vorerst eine solche noch nicht erfahren
hat, gefunden ist;') erst dann wird diese ganze Frage spruchreif
und einer alsdann vielleicht immer noch nicht unzweifelhaft
sicheren Beantwortung fähig sein.
Gehen wir zu den bisher gegebenen Erklärungen der
Nibelmigeusage über, so ist die älteste unter denselben die von
1 ) Wir sehen hier von mehreren kleinlichen Vergleichungspuncten, welche
Leo und Iloltzmann gefunden haben, ab; eine Menge von solchen, welche
nur der ausgeführten, detaillierten Sage angehören, z. B. der Geschlechter-
kampf und was mit demselljcn zusammenhängt, können der gemeinsamen
indogermanischen Mythologie, welche (s. o.i Xaturmythen und nur solche
bietet, noch gar nicht angehören.
2. Die Nibelungensage. Die Siegfriedssage. 141
r. E. Müller. Allein wir ^^•erden ihr gegenüljcr Laclimaiin Recht
geben müssen, wenn er sagt:"-) ,. Seine Dentiing mag als alle-
gorisehe Pliantasie ])oetische.s Verdienst haben, die historische
Begründung mangelt ihr." W. Müller hat ganz treffend gegen
diesell)e geltend gemacht, dass sehr selten ein Mythus eine
allegorische oder abstrakt-i)hih)so])hische Idee enthalte, dass die
Facta, welche ein Mythus erzählt, nur insofern verwendet und
erzählt werden, als sie die Charakteristik des betreffenden Helden
oder Gottes bilden, dass aber dieser selbst nie rein eine ab-
strakte Idee darstelle, um deren willen die Sage und ihre
Personen erfunden worden wären, sondern dass der Gott als
solcher stets zuvor schon als der, welcher er ist, im menschlichen
Bewustsein gelebt habe. Auch in der Heldensage dürfen wir
eine ähnliche Allegorie, wie die P. E. Müllers, nicht suchen;
denn die griechische Heldensage beweist uns, dass die Helden
nicht Verkörperungen einer Idee waren, sondern vielmehr sei's
Vermenschlichungen von Göttern, seis ältere Darstellungen eines
mythischen Gedankens, aus einer Zeit stammend, die noch keine
scharf bestimmten Göttergestalten kannte.'*) Von den übrigen
Theorieen mag die Lachmanns zuletzt berührt werden.
Unvereinbar scheinen auf den ersten Blick die Ansichten
"\V. Müllers und diejenigen, welche Siegfried als einen Gewitter-
gott betrachten. Denn während die gesammte Siegfriedssage
bei Müller ihre Erklärung findet, bleiben für die, welche die
Siegfriedssage als einen Gewittermvthus l)etrachten, eine Menge
Figuren der Sage, insbesondere die Nibelungen, aus dem Mythus
selbst nicht erklär])are, unorganische Zusätze. Daher Kochs
Bestreben, die Sage zu zerreissen, hervorgegangen offenbar aus der
Wichtigkeit dieser Zusätze, die als solche nicht wohl begreiflich
sind. Uns scheint es übrigens sehr bedenklich, eine schön ge-
ordnete Sage, für die noch dazu Andere Deutungen in ihrer
Gesammtheit gesucht, vielleicht auch gefunden haben, so zu zer-
reissen, dass wohl die einzelnen Momente der Sage mythische
Erklärung finden und die Möglichkeit der Verbindung dieser
ursprünglich disparat gedachten Momente gezeigt, für die ver-
einigte Sage aber, deren Vereinigung doch auch nach
Kochs Theorie wohl in die Zeit lebendigen mythi-
schen Denkens fallen muss, gar keinerlei mythologische
Deutung gegeben wird.
2) Anmerkungen S. .346.
'M Letztere Auffassung z. B. bei Scliwartz, Schlangengottheiten.
142 I. Die Entstehung des Xibeluugeuliedes.
Koch selbst hat uns den Weg gezeigt, auf welchem die
verschiedenen Ansichten sich begegnen können. Er hat »Sieg-
frieds Drachenkampf für einen Gewittermythus, seine Braut-
werbung und seinen Tod für Jahresmythen gehalten. Damit
hat er offen])ar die Entstehung der beiden letzteren Sagen-
momente in eine spätere Zeit gerückt als die des ersten. Denn
die Jahresmythen sind anerkanutermaassen späteren Ursprungs
als die Tagesmythen.') Wie nun, wenn es gelänge, eine frühere
Autiassung der Siegfriedssage als Tagesmythus, speciell als
Gewittermythus, und daraus entstanden eine spätere als Jahres-
mythus nachzuweisen? und wenn vollends von den Momenten,
welche Siegfrieds Brautwerbung und Tod bieten, die Haupt-
sachen schon in dem Mythus vom Drachentöter nachweisbar
wären? Wir hätten damit eine Versöhnung der im Einzelnen
und im Ganzen so überzeugenden W. Müllerischen Theorie und
der durch die Vergleichung aller Mytliologieen gesicherten
neueren Auffassung der Sage gewonnen. Und wir hätten weiter
das gewonnen, dass die Erweiterung der Sage eben verursacht
wäre durch die Erweiterung des Tagesmythus zum Jahresmytluis.
Die Ausführung, welche dem Drachenkampfe im Einzelnen
von den Auslegern gegeben wird, berührt uns hier nicht; ob
der Drache als Regen zur Erde niederfällt (Koch) oder seiner
ursprünglichsten Bedeutung gemäss als Blitz (Schwartz), wie
ferner das Dracheugold aufgefasst werden mag, ist für unseren
Zweck mehr oder minder gieichgiltig. Wichtig ist aber das
eine schon kurz Berührte, aber von Koch Uebersehene, dass die
Drachenkämpfe der verschiedenen Mytliologieen oft mit der Be-
freiung einer von dem Drachen gefangen gehaltenen Jungfrau
verbunden sind. Ist diese Jungfrau nicht deutlich in unserer
Brünhild noch erhalten? Auch diese ist eingeschlossen und
verwahrt, so dass nur ein Gott sie erlösen kann, und die Waber-
lohe, die ihre Burg (ein häufiges Bild für die hocligethürmten
AVolkenmassen) umgibt, dürfen wir gewiss mit W. Schwartz für
die feurige Gewitterwolke halten, welche der Gott durchdringt,
indem er sie mit dem Blitze spaltet. Dadurch entlädt sich das
Gewitter, sein Ausbruch ist der Beginn seines Endes, und mit
diesem ist die von den Wolken bedeckte Sonnenjungfrau
befreit.'*) — AVeiterhin hat die ursprüngliche Sage, wie oben
4) S. unter anderem Simrock, Deutsche Mythologie, Aufl. III, S. 4.
5) In der ursprünglichen Sage hängt jedenfalls is. W. Müller) die Bc-
2. Die Nibelungensage. Die Siegfriedssage. 143
angedeutet worden, auch den Tod Siegfrieds, als des im Blitze
sich selbst verzehrenden Gewittergottes, schon in sich enthalten.
So waren also in der Sage von dem Gewittergotte Drachen-
tötung, Befreiung der Jungfrau (zugleich gewiss auch Verlobung
mit derselben) und Tod des Gottes verbunden, somit alle drei
^Momente, in welche Koch die Sage zerrissen hat, schon iniplicite
vorhanden.
Der Gewittermythus wurde sehr einfach zum Jahresmythus,
Da der Gott, der im Gewitter segnend thätig sich zeigte, ein
sommerlicher Gott, ein Gott der schönen Jahreszeit war, so war
nur ein kleiner Schritt nöthig, um in dem von ihm vernichteten
Gegner, dessen Identität mit dem Gotte vergessen ward oder
längst vergessen war, in dem finsteren Gewitterdämon, der der
sommerlichen Natur Verderben droht, eine überhaupt der schönen
Jahreszeit entgegengesetzte, eine winterliche Naturmacht zu
erblicken. Dass dieser Uebergaug einmal gemacht worden,
beweist die Thorsage: wenn der Donnergott das eiuemal mit
der Macht des Gewitters zu kämpfen hat, so sind es häufig
auch andere, winterliche Dämonen, die Hrimthursen (Reifriesen),
die er bekämpft. Dieselbe Wandlung hat auch der Siegfried-
mythus erfahren. Der Drachenkampf wurde zur Ueberwiudung
der winterlichen Dämonen im Frühjahr, die befreite Jungfrau
zur Sommersonue, zur Göttin der schönen Jahreszeit überhaupt, das
erbeutete Gold entweder ebenfalls zu dem befreiten, ueugläuzen-
den Gold der Sonne oder zu dem goldenen Erd- und. Erntesegen,
den der Frühling aus den winterlichen Banden löst. Bis dahin
ist die Entwicklung des Mythus eine sichtlich leichte, die ohne
viel Veränderung am Bestände der Sage vor sich gehen mochte;
aber der Tod des Gottes! Die Gewittersage Hess diesen zu-
sammenfallen mit der Besiegung des Drachen. Wurde aus dieser
die Erneuerung des Jahrs im Frühling, so konnte mit dieser
der Tod des sommerlichen Gottes unmöghch zusammenfallen;
dieser muste vielmehr in den Herbst, in den Widerbeginn der
schlimmen Jahreszeit gesetzt Averden. Und durch wen erfolgte
dieser Tod? Natürlich durch dieselben Mächte, denen der
sommerliche Gott selbst den Tod gegeben hatte, durch die
Mächte des Winters — und warum sollen diese nicht den Namen
freiung Erünhilds mit der Drachentötung unmittelbar zusammen , wie denn
(S. 0.) das Siegfriedslied das Alte. bewahrt bat, wenn es die vom Drachen
gefangen gehaltene Kriemhild von Siegfried befreit werden lässt.
144 I. Die Enstehung des Nibelungenliedes.
der Nibelungen, der Nebeldämonen, geführt haben? So also
kamen die Nibelungen in die Sage, so ist es erklärlich, warum
wohl der Anfang der Sage bis zu Brünhilds Befreiung und Sieg-
frieds Brautwerbung in dem Mythus von dem Gewittcrgotte
Erklärung findet, nicht aber der zweite Theil der Sage, die
Sage von Siegfried und den Nibelungen: diese ist erst eine
Zuthat, aber eine nothwendige, die durch die Verwandlung in
einen Jahresmythus erfolgt ist.
Damit stehen wir vollständig auf dem Boden W. Müllers,
dessen Theorie als die Deutung der Sage in ihrem zweiten
Stadium, dem des Jahresmythus, eine wirklich befriedigende zu
nennen ist. Nur hüten wir uns, mit Müller die Sage so be-
stimmt an einen Gott der germanischen Mythologie anzuknüpfen.
Ohnehin, wenn diese Auffassung des Mythus, wie sie Müller
bietet, nicht die älteste ist, so ist die Frage nach dem Gott, an
den sich der Mythus in seinem zweiten Stadium geknüpft habe,
ziemlich gleichgiltig. Der Gott, der den Drachen tötet, ist ein
Himmelsgott überhaupt; und Züge des entwickelteren Sieg-
friedraythus passen auf mehrere der nordischen Götter, auf
Odhinn und Freyr die Gewinnung der unwilligen Braut, auf
Baldr der Tod des Helden. Erst die spätere, die nordische
Mythologie in ihrer Isolierung hat scharf abgegrenzte Götter-
gestalten und Göttermythen geschaffen; die allgemein germanische
und die specifisch deutsche kennt solche nicht. Und der Sieg-
friedmythus ist zum allermindesten nicht specifisch nordisch
zu nennen.
Die Naturmythen werden allmählich immer mehr ver-
menschlicht und vergeistigt. Der sonunerliche Gott wird ein
Gott des Lebens überhaupt, die Gegner desselben Feinde des
Lebens, Dämonen der Unterwelt, des Todes. Damit hängen
andere Vermeuschlichungeu zusammen: der Drachenhort wird
wirkliches Gold; die treibenden Motive des Ganzen werden
mehr menschliche, ethische, der Gegensatz der beiden kämpfen-
den Principien ein ethischer.
So können wir auch der Lach mannischen Theorie ge-
recht werden. So sehr sie von deu bisher angenommenen
Theorieen verschieden ist, sie ist dennoch neben denselben keine
Unmöglichkeit; ist doch der Uel)ergang vom Naturmythus in
den ethischen Mythus in der germanischen Mythologie so oft
noch an der einzelnen Lage selbst nachweisbar, und hat doch
dieser Uebergang nicht selten die grösten Veränderungen der
2. Die Nibelungensage. Die Siegfriedssage. 145
Auffassung zur nothwendigen Folge gclijil)t. liier triff"t Max
Riegers Bemerkung*') /u: „Ethisclie und pliysikalisehe Auffassung
eines Mythus sind keine ausscliliessenden Gegensätze. Was in
den uns vorliegenden Quellen ethisch verstanden wird, konnte
auf einer früheren Stufe physikalischen Sinn haben; die ein-
fachere Gestalt der Sage, welche dieser fordert, kann der
complicierteren , die uns überliefert ist, als Grundlage voraus-
gegangen sein/' Wenn wir also bisher dem Siegfriedniythus
physikalische Bedeutung zugesprochen und als erstes Stadium
desselben den JMythus vom Gewittergott, als zweites den von
W. Müller hergestellten Jahresmythus angenommen haben, so
hindert uns nichts, ein drittes, ein ethisches Stadium anzunehmen.
Diese Annahme wird aber gefordert durch die Darstellung
unserer Quellen, nach welchen der Siegfriedmythus deutlich ein
ethischer ist. Sollen wir aber eine ethische Deutung des Mythus
suchen, welche die richtige wäre „für die letzte Periode, in der
die Sage überhaupt noch mythisch verstanden ward, für die
letzte Periode vor jener Vermenschung der Mörder Siegfrieds,
die es möglich machte, sie für eins mit den von Attila ver-
nichteten Burgundionen zu nehmen ''): " so könnten wir kaum eine
bessere finden als die Lachmanns, modificiert und zugleich be-
festigt durch Max Eiegers Zusätze.**)
Auf die Einzelheiten der verschiedenen Theorieen einzugehen,
verbietet der Zweck, den diese Schrift verfolgt: genug, wenn
die allgemeinen Grundsätze herausgestellt und als richtig aner-
kannt sind. Diese und damit die Resultate der vorliegenden
Untersuchung sind die, dass der Siegfriedmythus vor seiner Ver-
bindung mit der Burgundengeschichte, somit vor 440 etwa, den
gewöhnlichen Gang der Entwicklung von einem Naturmythus zu
einer ethischen Sage durchgemacht hat, indem er, zuerst ein
einfacher Tagesmythus von der Besiegung des Gewitters durch
den Gewittergott, alsdann ein Jahresmythus von der abwechseln-
den Ueberwindunij; des AVinters durch den Sommer und des
6) Nibeluiigensage (S. 103).
7) Rieger, Nibelungensage 1(33.
8) Wilhelm Müller bat in Pfeiffers Germania XIV, S. 254 ff. Lach-
manns Beweisführung (abgesehen von Einzelheiten, die meist dem historischeu
Theile der Sage augehören) wesentlich hinsichtlich ihrer Methode angfgriffen.
So wenig Müjlers Einwände zurückzuweisen sind, so wird der Werth der
Lachmannischen Erklärung als Hypothese durch dieselben nicht viel
alteriert, ihre Unmöglichkeit nicht bewiesen.
Fisoh e r, Nibelnngenlied. tl)
146 I- Die Entstehung des Nibelungenliedes.
Sommers durch jenen, schliesslich zu der Sage von der Dienst-
barkeit des Licht- und Lebensgottes unter den finstern Mächten [^
der Unterwelt sich ausbildete.
3. Die Sage im >ib(>liingen!iede.
39.
Im Folgenden soll in der Kürze dargestellt werden, inwie-
weit die Sage im Xibelungenliede noch echt erhalten, inwieweit
sie verdunkelt ist. Nicht immer wird sich auf diese Frage eine
Antwort finden lassen, und die Hauptpuncte sind noch Gegen-
stand des Streites. Natürlich darf bei dieser Untersuchung nicht
hinausgegangen werden über die nächste gemeinsame Gestalt
der Sage, welche der nordischen und der deutschen Darstellung
unmittelbare Quelle war. Nur diese gemeinsame Gestalt wird
herzustellen, nicht etwa ihr Sinn alsdann zu errathen sein. Ob
nun in den einzelnen Differenzpuncten zwischen deutscher und
nordischer Sage jene oder diese das Echtere bewahrt habe, soll
Gegenstand der folgenden Untersuchung sein.
40.
Zunächst weniges über die Namen der Sage. Differenzen
finden sich hier fast nur in Beziehung auf die Namen der Nibel-
ungen und ihres Vaters, sowie ihrer Mutter und Schwesjter. Günthers
Name ist gemeinsam; der Giselhers entschieden erst durch Ein-
mischung der burgundischen Geschichte eingedrungen; Guttormr
ist deutlich der burgundische Godomar, somit mag Gernot au
seiner Stelle richtiger sein. Ist aber Hagen der echten Sage
nach Günthers Bruder, wie im Norden, oder sein Vetter und
Dienstmann, wie in der deutschen Sage'? War er ursprünglich
der Bruder Günthers, wie kam die deutsche Sage dazu, ihn aus
dieser Stellung zu entfernen V AVenn die Siegfriedssage fs. o.)
erst nach Norden wanderte, nachdem die Identification von
Nibelungen und Burgunden schon stattgefunden hatte, so war
offenbar die Trilogie : Günther, Gernot (Godomar), Giselher schon
vorhanden, als die Sage in den Norden drang; dazu trug die
jene drei Namen verbindende Allitteration, wie sie so echt episch
2. Die Nibelungcnsage. Die Sage im Nibelungenliede. 147
ist, das Ihrige bei. Wenn es demnach wahrscheinlich ist, dass
Hagen nicht zu den drei lirüdcrn gehörte, wie kam alsdann die
nordische Sage dazu, ihn zu Günthers Bruder zu machen? Koch
hat dafür eine nicht unpassende Erklärung gegeben.') Giselher
verschwand in der nordischen Sage, weil er in der P^ntwicklung
der Sage nichts zu thun hat;'-) an Plagen dagegen, dem treuen,
trotzigen, wilden Vasallen Günthers, fand der Norden ein be-
sonderes Wohlgefallen. Ferner kannte der Norden eine so aus-
gebildete Lehensvertassung, wie sie das fränkische lleich schon
im sechsten Jahrhundert hatte, gar nicht; im Norden gab es
nur Edle, Freie und Knechte. Ein Knecht konnte Hagen un-
möglich sein, und als Freier wäre er mit den Königen in zu
geringer Verbindung gestanden; daher machte ihn die nordische
Sage zum Edlen und zum Bruder der Könige.
Dass der Vater der Nibelungen nicht Dancrät, sondern
Gibich ursprünglich hiess, beweist nicht nur die Uebereinstimmung
aller Quellen ausser Biterolf, Nibelungen und Klage, welche
allein den Dancrät nennen, sondern noch mehr die Nennung
Gibicas in der lex Burgundionum , mag nun dieser- Gibica
historisch^) oder mythisch") sein. Max Rieger hat darauf hin-
gewiesen, dass ein freundlicher Eibenkönig im Harz noch jetzt
Gibich heisst.'^j
Dass Uote bloss ein ganz allgemeiner Name für eine Helden-
mutter und daher hier nicht echt ist, s. Koch, Nib.-Sage 3&.
Aber auch der Name Grimild, den der Norden der Mutter der
Nibelungen gibt, kommt, wie der Name Gudrun, nicht ihr,
sondern ihrer Tochter, der Gattin Siegfrieds, zu.")
Auf die geographischen Namen der Sage ist wenig
Gewicht zu legen. Der Norden, eingedenk des deutschen
Ursprungs der Sage, lässt, wie die deutsche Sage, in Deutsch-
land, speciell am ßliein, die Nibelungen wohnen.
1) Nibelungensage S. ;5ü f.
2) Ohnehin war er eine geschichtliche Figur, die also in der Sage nichts
Wesentliches thun konnte.
;{) So Lachmann, Zarucke, Rieger.
4) So Müllenhoff, Nib.-Sage S. 154.
5) S. Rieger, Nib.-Sage 171.
r.) S. Müllenhoff, Nib.-Sage S. 155 f., und daher § 27, not. 2. Durch
Müllenhofifs Zusammenstellung von Gudrun und Gunnar ist auch Riegers
Eehauptung (S. 17") widerlegt, dass. Günther nur historisch sei.
• 10*
14S I- Die Eütstelmnq; des Nibehingenlietles.
41.
In Siegfrieds 8eliicksalen geben die Traditionen mehr
auseinander. Ganz abweieliend sind die Sagen über seine
Geburt. Dass hier die Nachrichten des Nibelungenliedes ganz
euhemeristisch getlirbt und daher unecht sind, liegt auf der
Hand. Darin aber hat das Nibelungenlied das Echte bewahrt,
dass es Sigelind als seine Mutter nennt, nicht Hjördis, wie der
Norden.') Von den zwei anderen Sagen über Siegfrieds Geburt
scheint die der Thidrekssaga den Vorzug zu verdienen; denn
nicht nur ist die eddische Darstellung alteriert durch das Be-
streben, Siegfrieds Geburt an die Sage von den älteren Völsungen
anzuknüpfen, sondern das Aussetzen des Kindes in einem Gefäss
und zwar auf dem Wasser kommt bei Heroen öfters vor.^) Die
ganze nordische Geschichte von Sigmund und den Hundings-
söhnen geht die Siegfriedssage gar nichts an, sondern ist eine
Zuthat der genealogisierenden nordischen Sage. Im engsten
Zusammenhange mit Siegfrieds Geburt steht seine Erziehung,
von welcher das Nibelungenlied nichts weiss. Dieselbe wäre,
da jeder Held seineu Erzieher hat, als unwesentlich zu be-
trachten, wenn sie nicht an den Namen Regins, also eines der
Besitzer des Horts, geknüpft wäre. Wenn der Hort, was nach
Lachmanns und W. Müllers Ansicht ganz unumgänglich ist, von
Uranfang an den Nibelungen gehört, denen er von den Äsen
und alsdann von Hreidhmarr diesen genommen wird, von dem
er nachher, sei es auf welche Weise es wolle, an dessen Sohn
Fafnir übergeht; so ist hier Alles in bester Ordnung, mag auch
die Geschichte von den drei Äsen ein nordischer Zusatz sein.
Wenn nun aber Regln als Fafhis Bruder mit diesem sich um
den Hort streitet, so scheint diss nicht echt zu sein^); dazu
kommt, dass das Verhältnis Siegti'ieds zu seinem Stiefvater Alf,
Hjalpreks Sohn, verwirrt dargestellt ist; so wird es nicht allzu-
gewagt sein, aus der Sage von Alf Siegfrieds Dienstbarkeit, die
in den Ueberlieferungen ebenfalls verwirrt dargestellt ist') und
1) S. Rieger, Nib.-Sage 183, und § 32, not. 29.
2) S. Koch, Nib.-Sage 30, not. 43. Ebenso wahrscheinlich als Kochs
Vermuthung, dass die Nachriclit der Tliidrekssaga aus der Genovefasage
stamme, kann eine umgekeiirte Annahme genannt werden.
3) Oder mindestens in der Gesammtheit der Sage ungenügend begründet
und unvermittelt dargestellt.
4) S. Rieger. ISPib.-Sage 1S3 f.
2. Die Nibelungeusage. Die Sage im NibolungenHedc. 1 19
t'iir welche Lachmanns Erklärung nicht genügt'), herzuleiten, wie
liieger gethan hat.") Alsdann ist der Gang der Sage, ganz klar
und einfach gehalten, der, dass »Siegfried schon als Kind von
dem Ell)eu- oder Nibelungenkönige in seine Gewalt gebracht
und dem Regln zur Erziehung übergeben wurde, um durch
dessen Anweisung den Nibelungen ihren Hort zurückzugewinnen,
welchen nicht sie selbst, wohl aber ein Göttersohn, wie Siegfried,
dem Riesen abnelnnen konnte.
Dass die Tötung des Drachen mit dem Erwerb des Hortes
zusammengehört, ist hinlänglich bewiesen; hierin hat also das
Nibelungenlied das Echte verloren. Dass auch die Befreiung
Kriemhilds, welche im Siegfriedsliede damit verbunden ist,
ursprünglich dahin gehört, ist oben gesagt worden. Allein
Kriemhild und Brünhild hatten in der Gestalt der Sage, wie sie
der nordischen und deutschen Sage zu Grunde lag, jedenfalls
schon ihre jetzigen Stellungen eingenommen; somit berührt uns
diese Sache hier nicht.
Weitaus der wichtigste Theil des Siegfriedmythus in seiner
jetzigen Form ist das Verhältnis Siegfrieds zu Brünhild und
Kriemhild; aber eben dieser Theil der Sage ist so verdunkelt
und so verschieden dargestellt, wie kein anderer. Der Norden
weiss von den drei Kampfspielen und von dem nächtlichen
Ringen nichts, die deutsche Sage nichts von dem keuschen Bei-
lager und der Waberlohe. Mag W. Müller mit seiner Ver-
tauschung von Brünhild und Kriemhild das Richtige getroffen
haben oder nicht, darin wird er Recht haben, dass die drei
Spiele mit der Waberlohe zusammengehören, deren Durchdringung
neben der Draehentötung und Granis Fang als das dritte der-
selben dasteht. Dass das nächtliche Ringen und das keusche
Beilager ursprünglich dasselbe waren, das Mittel, durch welches
Siegfried dem Günther Brünhilds Hand gewann, ist klar. Welche
von beiden Darstellungen echter ist, ist schwer zu entscheiden;
doch findet der Kampf um die Minne eine Parallele in der
nordischen Sage von Odhinn und Rindhr. Der Gang der Sage
5) Lachmann leitet sie von der Erwerbung des Horts ab, durch welchen
Siegfried in der Nibelungen Gewalt gekommen sei; Rieger wendet (S. 184)
richtig ein. dass alsdann auch Fafnir in ihrer Gewalt sein müste.
H) Hjalprekr = Chilpericus, ..Hilfreich", daneben kommt die Form
Halfrek vor, welche = Elben-Köijig (statt Alf auch Half) = Alberich ist.
Hjalprekr bezeichnet die freundliche Seite der Eiben.
150 I- t»ie Entstehung des Nibelungenliedes.
in ihrer letzten Gestaltung vor der Trennung von deutscher und
nordischer Sage ist also dieser: Siegfried erwirbt nach Fatnis
TiJtung die Briinhild durch Bestehung der zwei weiteren Muth-
proben, Grauis Fang und das Durchreiten der Waberlohe. Er
verlässt sie oder muss sie verlassen, um Günther zu dienen.
Ihm muss er sie erwerben tmd thut diss, entweder indem er
unter der widerwärtigen Gestalt Günthers zu ihr kommt und die
Widerstrel)ende bezwingt '\ oder indem er fwohl unter seiner
eigenen Gestalt) zu ihr kommt, sie aber nicht beschläft.'^j
Das Nibelungenlied weiss nichts mehr von Siegfrieds
früherem Verhältnis zu Briinhild. Zarncke, in seinem Streben,
die deutsche Sage zu isolieren, hat sogar behauptet,'), dass es
nicht einmal von der Bekanntschaft mit ihr wisse, auch nicht
die dem Liede zu Grunde liegende Gestaltung der Sage. Zarncke
will diss so beweisen. Siegfried hat sich (Str. 375) dem Günther
angeboten, die Rolle eines Vasallen spielen zu wollen; er tritt
daher hinter Hagen und Dancwart vollständig zurück. Die
Wahrheit, dass Siegfried ein reicher Fürst sei, sagt Günther
seiner Gemahlin erst bei der Hochzeit (Str. 577). Brünhild
kann daher den Siegfried, den sie für den Boten hält, der (in
Av. Vni) die tausend Vasallen geholt habe, nicht auszeichnen
(Str. 4S0: Sfvrh/e mit dorn (jriiozi' von den andern si da ,sc/tiof),
vielmehr grUsst sie ihn entweder gar nicht oder doch gering-
schätziger als die Anderen, Von dem früheren Verhältnis Sieg-
frieds zu ihr blickt im Nibelungenliede nichts mehr durch.
Auch kennt Brünhild den Siegfried gar nicht vor Günthers
Ankunft; sondern es erkennt ihn nur eine ihrer Frauen (Str. 394),
was wohl denkbar war, da Nibelungenland und Niederland in
der Nähe von Iseustein cedacht wurden. Brünhild selbst brauclit
7) In diesem Falle wird es wohl is. auch Rieger, Nib.-Sage S. 194) allein
consequent sein, anzunehmen, dass Siegfried ihre Minne wirklich geniesst;
denn thut er diss nicht, so ist sie nicht bezwungen; das Beisein Günthers
im N. L. ist entschieden verfehlt und wirkt nur lächerlich (s. lloltzmann.
Unters. 144).
S) Man ist versucht, W. Müllers Deutung hiernach so zu ändern: Im
Frühling kommt Siegfried zu Brünhild — Kriemhild, muss sie aber verlassen
und zwar im Herbst; im Winter verlangt ihn die finstere Göttin, aber
umsonst. So ist tlie Reihenfolge der Ereignisse in der Sage gewahrt. Dass S.
im Frühling, nachdem er die Braut schon erlöst, noch den Joten dienen
muss, ist schief; warum nicht im Winter?
9) Beiträge No. IX, Seite 227—234.
2. Die Nibelungensagc. Die Sage im Nibelungenliede. 151
ibu nicht als eiuen mächtigen König und grossen Helden zu
kennen. — An dieser ganzen Darstellung Zarnckes ist nichts
richtig, als die Erklärung von Str. 4S(>, 4.
Brünhild glaubt auf die Aeusserung ihrer Üienstfrau hin,
dass einer von den vier Recken aussehe, wie Siegfried, er wolle
sich um ihre Minne bewerben (Str. 395: tint ist r/tv starke Sivril
komen in dilze lanil r/t/r/t willan min er Jiiinnc, ez tjüt im an
den lijj)- diss könnte sie nicht glauben, wüste sie nicht, dass
Siegfried ein bedeutender Held ist; ohnehin sagt sie selbst: der
starke 5//vvV; braucht sie ihn also nach dieser Stelle nicht zu
kennen, so weiss sie doch von ihm. Und wie kommt es, dass
sie ihn nicht griisst, wie er mit den tausend Vasallen kommt?
Sie wollte ihn doch grüssen, als er mit Günther kam (schon
diss deutet auf ihre hohe Meinung von ihmj, Sie griisst ihn
offenbar nur deswegen nicht mehr, weil sie erfahren hat, dass
er nichts von ihr wolle. Ihr früheres Verhältnis zu ihm blickt
also noch durch. Richtig ist, aber auch wohl unbestritten, dass
der Dichter des Nibelungenliedes von diesem Verhältnis nichts
weiss; aber die genannten Züge beweisen, dass er dasselbe in
der Vorlage, nach der er arbeitete, angedeutet fand, es aber
nicht zu erklären wüste. Diss zeigt sich auch darin, dass die
im Nibelungenliede gegebene Motivierung des Hasses der Brün-
hild gegen Siegfried und Kriemhild eine künstliche ist, welche
offenbar an die Stelle ihrer Eifersucht gegen Kriemhild treten
sollte, als diese nicht mehr verstanden wurde.
42.
Es erübrigt noch, Weniges über die Nibelungen und ihre
Thaten und Schicksale zu sagen. Dass sie die ersten wie die
letzten Besitzer des nach ihnen benannten Hortes sind, dass so-
mit im Nibelungenliede, nicht der Sage gemäss, dieselben
Personen zerrissen sind in die .Nibelungen" Schill)ung und
Nibeluug, von denen Siegfried den Hort gewinnt, und in die
Nibelungen-Burgunden, die ihn seiner Witwe rauben, ist durch
die Vergleichung der nordischen Sage, welche in dem mytliischen
Theile der Sage durchschnittlich echter ist als die deutsche,
sowie durch Lachmanns und W. Müllers Analyse der Sage ge-
nügend bewiesen. Aber die Verwirrung ist hier doppelt.
Schilbung und Nibelung sind offenbar die ersten Hortbesitzer;
zugleich aber vertreten sie, zusammen mit dem Drachen, Alberich
152 I- Die Entstehung des Nibelungenliedes.
und dem (oder den zwölf) Eiesen, die Stelle von Fafnir und
Regln. — In der Sage von Siegfrieds Ermordung hat die deutsche
Sage den echten Namen des Mörders bewahrt; Hagen ist stets
der eigentliche Gegner und Todfeind Siegfrieds. — Dass die
Darstellung des Untergangs der Burgunden in der nordischen
Sage die echtere ist, haben wir oben gesehen. — Ein Unter-
schied in der Sage findet in diesem Theile auch zwischen C
und der vulgata statt, indem C statt der Str. 1849, worin B
berichtet, dass Kriemhild ihr Kind habe kommen lassen, um
durch dasselbe den Streit zu entzünden, eine ganz anders lautende
hat. Die Erzählung von B ist allerdings nicht gut an ihrer
Stelle'), aber sie ist sagenmässig begründet. Nicht nur findet
sie sich in der Thidrekssaga und dem Anhange zum Helden-
buche'i, sondern sie hat auch ihre ungefähre Analogie in der
nordischen Sage, wenn Gudrun dem Atli zur Strafe für den
Mord ihrer Anverwandten seine und ihre Söhne Erp und Eitill
als Atreusmahl vorsetzt, mag dieser Zug historisch '^) oder mythisch
sein. Die vulgata hat somit an jener Stelle die echtere Lesart,
die in C entweder, wie Bartsch annimmt, wegen alter Assonanzen,
oder auch wegen ihres grässlichen Inhalts, geändert worden ist.')
1) S. § Iti, not. 10 (Seite TG f.).
2) Wie Miillenlioff, Nib.-Sage S. 175, will.
3) Zu dem §§ 4U— 42 Ausgeführten fügt "W. Müller (Ueber die Lieder
von den Nibelungen S. IS— 3n) noch mehreres theils Unbedeutendere theils
ganz auf der Hand Liegende, das daher hier unberücksichtigt geblieben ist.
Dritter Abschnitt.
Die Mstorisclien Verhältnisse und Vorläufer
des Nibelungenliedes.
43.
Es wird uns im Folgenden die Frage beschäftigen, welches
die Verhältnisse gewesen seien, unter denen und durch welche
bedingt das Nibelungenlied in der- uns erhaltenen Form, be-
ziehungsweise das Original der beiden uns erhaltenen Bearbei-
tungen, das um 1170 — IISO anzusetzen sein wird, entstanden ist
und so entstanden ist, wie wir es haben. In dieses Gebiet tallen
alsdann natürlich auch frühere Darstellungen der Nibelungen-
sage, wenn etwa die Annahme solcher sich als nothwendig er-
weisen sollte. Durch die Ergebnisse dieser Untersuchung wird
sich, zusammengenommen mit denen der Handschriitentrage,
auch die etwaige Zeit der Entstehung ergeben und damit ein
Schluss auf den Verfasser des Gedichtes, wenn er noch zu finden
sein sollte, ermöglicht werden.
44.
Unter den Neueren hat zuerst
Adolf H 0 1 1 z m a n n
eigenthümliche und ganz originelle Ansichten über diesen Punct
der Nibelungenfrage aufgestellt.') Um dieselben kennen zu lernen,
müssen wir von Holtzmanns Ansicht über die epische Poesie
überhaupt ausgehen.
1) Untersuchungen B, Seite 60—187.
154 I. Die Entstehung des Nibelungenliedes.
Ein gebildetes Volk — und das waren die Arier jedenfalls
schon elie ihnen die Schritt bekannt wurde — kann nicht sein
ohne ein gewisses System von Kenntnissen, Erinnerungen, Vor-
schriften und Lehrmeinungen, ohne Gesetze von einer gewissen
Dauer, ohne Geschichte und geschichtliche Erzählungen, ohne
Kunstthätigkeit und ohne Religion und religiöse Lehren und
Vorschriften. Jedes Volk muss also zu jeder Zeit eine Summe
von Ansichten, Kenntnissen, Erinnerungen, Gesetzen und Religions-
lehren besessen haben, die als heiliges Gut von einem Geschlecht
auf das andere vererbt wurden. Vor der Einführung der Schrift
muste diss durch das Gedächtnis und die mündliche Tradition
allein geschehen. Das Epos war nicht allein eine Sammlung
nur von vereinzelten Erinnerungen, sondern eine vollständige,
zusammenhängende Sagengeschichte des Volks von der Götter-
geschichte bis auf die jeweilige Gegenwart herab, und ist in
diesem Sinne alt, und el)enso, wie die Sprache, allen Ariern
gemeinsam. Die Erhaltung desselben, weil es das heiligste
Eigenthum des Volkes war, konnte nicht dem Zufall überlassen
bleiben; ein eigener Stand muste sich dem Dienste des Epos
widmen. Das Verhältnis desselben zu dem Priesterstande konnte
ein verschiedenes sein. Dieser konnte sich die heilige Litteratur
vorbehalten und die weltliche den Sängern überlassen, oder es
konnten die Sänger von den Priestern abhängig sein, oder
letztere übernahmen selbst das ganze Epos im weitesten Sinne.
Jedenfalls musten die Sänger, wie diss in Indien auch wirklich
nachweislich ist, sich theilen in solche, welche sich die Ueber-
sicht über das ganze Epos bewahrten, und in solche, welche die
einzelnen Theile desselben auswendig lernten und recitierten,
die Rhapsoden.-) Letztere bildeten Schulen unter der Aufsicht
und Leitung je eines der Ersteren.
Vor dem Aufkommen der Schritt trennten sich die A'ölker
und die Sagen, und durch geographische und historische Ver-
hältnisse wurden die letzteren alteriert.
Auch das deutsche Volk besass eine vollständige Sagen-
geschichte. Schon Tacitus berichtet von einer solchen; denn
die canninu uiitiqua, quoil niiiim apud illos mcmoriw et a/i/ia/it/m
(jenus est, durch welche oritjo (/cNf/.f couditoresque gefeiert
2) Die Uebersicht des ganzen Epos nennt der Inder samasas (=Uhnr<oi\,
die Ausführung der einzelnen Theile vväsas.
:?. Die liistorischen Verhiiltnisse u. Vorläufer dos Xihelunt^onliedcs. ir)5
wurden (Germania cap. 2), waren gewiss keine blossen Volks-
lieder, sondern vielmehr eine vollständig-c Sagengeselnclite. Eine
solche setzen die Genealogieen der Angelsachsen, der nordischen
Skalden, der Franken voraus, ebenso die Nachricht des Jordanes,
dass noch zu seiner Zeit die Gothen Lieder iil)er ihre früheren
"Wanderungen und lleldenthaten besassen. Die gothische Ge-
schichte des Jordanes selbst ist ein Auszug aus dem gothischen
Epos, ebenso sind die langobardische Geschichte des Paulus, die
dänische des Saxo, die fränkische Chronik Hunibalds Auszüge
des alten Epos^), von dem P^dda und Beowulf Fragmente sind,
jene speciell nicht aus Volksliedern bestehend, sondern viehnehr
aus Aufzeichnungen der Hauptpuncte der Sage zur Erleichterung
für die Skalden.')
Hatten die alten Deutschen ein zusammenhängendes Epos,
so müssen sie für dasselbe auch einen l)esonderen Sängerstand
besessen haben. Diss beweist schon der Name des Helden-
gesangs scöf/eod, scöfsa/tf/j von scöf poeta, gegenüber dem Liebes-
liedchen, dem ivinileotl. Im Norden und bei den Angelsachsen,
bei Friesen und Sachsen finden wir Sänger, die von ihrer
Kunst leben. Solche hatten tlie alten Deutscheu also wirklich,
analog den keltischen Barden. Dass Priester und Sänger ver-
wandt waren, beweist das Wort skald , welches hochdeutsche
Glossen mit saver übersetzen, sowie die Germanisierung des
Wortes episcopus in his-scof.
Von diesem Sängerstande gepflegt, bestand das Epos bis
zur Einführung des Christenthums. Dieses suchte die alte Poesie
möglichst zu unterdrücken oder gar zu vernichten. Aber das
Volk hielt zäh an ihr fest. Da jedoch kein eigener Sängerstand
mehr das Epos pflegte, so verwilderte es mehr und mehr und
sank zum Bänkelsängerliede herab. . Die heidnischen Gedanken
wurden unverständlich, dem Epos war die Seele geraubt; um
noch verständlich zu sein, muste es sich in christliches und zeit-
genössisches Gewand kleiden.
Der Erste, welcher die erhaltenen Gesänge aufzeichnen
Hess, war Karl der Grosse^); er mag sich dazu seines
3) [S. dagegen die berechtigte Entgegnung Müllenhoffs, Zur Gesch. der
N. N. S. 945].
4) Ebenso im indischen Epos.
5) Nach Holtzmann ist ein Stück aus dieser Sammlung das alte IliUle-
brandslied.
156 I. Die Entstehung des Nibelungenliedes.
Gelehrten Angilbert bedient haben/'j Stücke aus Karls Samm-
lung waren gewiss die schriftlieli aufgezeichneten deutschen Ge-
dichte, welche im neunten Jahrhundert erwähnt werden.
Bischof Piligrira von Passau, der von 970 — 991') Bischof
war, scheint ein grosses Interesse an der deutschen Heldensage
genommen zu haben. Er war es auch, dem wir die erste Auf-
zeichnung unserer Sage in deutscher Sprache zu danken haben.
Als Bischof von Oberungarn, als ein Mann, der iiberhau])t viel
auf die Bekehrung der Ungarn verwandte und sich in häutiger
Berührung mit ihnen befand, konnte er ein Interesse daran haben,
die Geschichte dieses Volks und, da dasselbe im ganzen Mittel-
alter für identisch mit Hünen und Avaren gehalten wurde, auch
die Geschichte dieser aufzeichnen zu lassen. Mit der Geschichte
der Hünen, die schon damals ganz sagenhaft gefärbt war, muste
zugleich die Hereinziehung eines Theils der deutschen Helden-
sage, desjenigen, der sich mit Dietrich beschäftigt, gegeben sein.
Die Aufzeichnung geschah im Auftrage des Bischofs durch seinen
Schreiber Konrad, dessen Quellen wohl nicht allein die münd-
lichen Erzählungen, die Piligrim sammelte, sondern auch frühere
Aufzeichnungen desselben Materials waren, zwischen den Jahren
970 I richtiger 97 1| und 9S4, Diese Aufzeichnung Konrads ge-
schah in deutschen Versen und zwar in unstro})hisch gehaltenen
Langzeilen. Sie ist aber für uns wichtig, weil sie ortenbar das
Buch ist, dessen ersten Theil unsere Nibelungensage bildete;
und zwar w^erden wir annehmen dürfen, dass unser Nibelungen-
lied nichts Anderes ist als eine Ueberarbcitung oder besser Ucber-
setzung (aus dem Althochdeutschen in das ^littelhochdeutsche)
des ersten Theils von Konrads Epos. Konrad war kein unbe-
deutender Dichter. Seine Person lässt sich nicht mehr fest-
stellen; classische Bildung scheint er nicht besessen zu haben;
möglich, dass er mit dem Kürenberger, dem Verfasser der tünf-
zehn in der Nibelungenweise gehaltenen Strophen, identisch ist.
Er hat nicht nur zuerst, so viel wir wissen, ein deutsches (ie-
dicht über die Nibelungensage verfasst, sondern er hat auch für
die Umbildung der Sage sehr viel gethan. Er hat die Volks-
sage, die zu seiner Zeit etwa so lauten mochte wie die Darstellung
6) Cf. Alcuin. epp. 144: vereor, ne Homerus irascatur contra chartam
prohibentem spectacula et diabolica tigmenta, quiP omnes sanctae scriptura''
prohibent; Angilbert führte den Beinamen Homerus (vgl. Wackernagel,
D. Litt. Gesch. S. 51.).
7) [Nach Dümmler von 971— '»91.1
I
3. Die historischen Verhältnisse u. Vorläufer des Nibelunf^enliedes. 157
der Thidrekssaga , veredelt, indem er au die Stelle der lieid-
nisclieii Motive der Sage, durch deren Verlöschen die Person
Kriemhilds zu einem Gegenstande des Abscheus werden muste,
die christlich-menschlichen der Treue und Liebe zu setzen wüste,
welche besonders in der Klage, die ebenfalls auf seinem Gedicht
beruht, hervorteten, weil er hier frei schaffen konnte und nicht an
einen so imd so überlieferten sagenhaften Stoff gebunden war.
Allein er hat die Sage nicht allein veredelt und sozusagen
modernisiert, er hat auch dieselbe in ihrer Gestalt selbst frei-
schaffend verändert. Von ihm erst rührt die Identificierung von
Nibelungen und Burgunden, die des sagenhaften und geschicht-
lichen Attila her.
Allein das Gedieht von den Nibelungen, wie es in Konrads
Werke enthalten war, ist nicht in dieser echten Gestalt die
Vorlage unseres Nibelungenliedes, d. h. der Bearbeitung C,
gewesen. Vielmehr liegen zwischen beiden mehrere Bearl)eitungen
von Konrads Gedicht, aus welchen allen der Dichter von C ge-
schijpft hat. Der erste Umarbeiter, der etwa gegen 1 1 öü gelebt
und geschrieben haben mag, hat mehrere Interpolationen in das
Werk Konrads sich erlaubt, die theils aus historischen theils
aus ästhetischen Gründen dem Letzteren nicht eigen gewesen
sein können. Vielleicht ist mit demselben Bearbeiter identisch
der erste Dichter des Biter olf, eines Werkes, das uns in um-
gearbeiteter Form vorliegen muss und dessen erste Gestalt kaum
später fallen kann als um llöO— (30. Eine weitere Bearbeitung
eines Theils von Konrads Gedicht liegt vor in der Klage,
deren Verfasser, nach W. Grimms und Lachmanns Forschungen^)
identisch mit dem Umarbeiter des Biterolf, wahrscheinlich
Rudolf von Hohcnems ist. Die vierte Bearbeitung ist unser
Nibelungenlied nach der Gestalt des Textes, wie sie in C
überliefert ist.
Holtzmann hat für diese Theorie von der Entstehung des
Nibelungenlieds umfassende Beweise beigebracht.'')
Die Handschriften des Nibelungenliedes, die Sprache, der
Versbau und die Reime desselben, weisen auf den Anfang des
8) [W. Grimm, Heldensage S. 150—153; Lachmann, Anmerk. 2S7 ; da-
gegen s. Zarncke. Beitr. No. VIII, Seite 226.]
'J) LDie analytische Art, in welcher Holtzmann seine Ergebnisse, in
seinem ganzen Werke zerstreut, dargelegt hat, machte eine Zusammenstellung
derselben nothwendig; das Folgende kann sich ganz an den (iaug der Holtz-
mannischen t'ntersuchung binden.]
158 I- Die Entstehung des Nibelungenliedes.
dreizehnten oder wohl eher das Ende des zwölften Jahrhunderts
als Entstehuiigszeit der Redaction C hin, d. h. nach Holtzmann
der ältesten Gestalt unseres Nibelungenliedes. Aber diese
älteste Gestalt und ebenso manchmal auch die anderen Hand-
schriften des Nibelungenliedes enthalten in Reimen, Versbau und
Sprache viele Spuren von Alterthümlichem.
Die Reime zeigen im allgemeinen die Strenge der Zeit
um das Ende des zwölften Jahrhunderts. Allein C besonders,
mitunter auch die vulgata oder diese allein gegenüber von C,
haben noch Spuren der freieren, bis auf Heinrich von Yeldecke
gestatteten Reime."*) Diese freieren Reime beweisen entweder
eine frühere Abfassung des Liedes oder aber, dass dasselbe
Umarbeitung eines älteren Liedes ist. Das Letztere ist natür-
licher, da bei der ersten Annahme unbegreiflich wäre, warum
der alterthümlichen Reime nicht noch mehrere sind. Einer noch
viel älteren Zeit als der von Veldecke gehören die klingenden
Reime an, welche zwei Hebungen tragen, was im dreizehnten
Jahrhundert nie der Fall ist, Avohl aber bei Otfrid ganz regel-
mässig; ebenso die dreisilbigen Reime. Diese alterthümlichen
Reime sind ungleich über das ganze Gedicht vertheilt, sie linden
sich in grösseren Abschnitten namentlich des ersten Tlieils gar
nicht, in anderen namentlich des zweiten sind sie ziendich häufig.
Wahrscheinlich ist demnach, dass das Nibelungenlied theilweise
die Umarbeitung eines älteren Werkes ist, theilweise aber neu
Hinzugedichtetes enthält. Jenes ältere Werk muss aber beträcht-
lich älter sein und kann kaum noch in das zwölfte Jahrhundert
fallen, da es in den Reimen dem neunten viel näher steht als
dem dreizehnten.")
Die Binnenreime beweisen diss ebenfalls, da viele derselben,
die zugleich nicht zufällig sein können, sehr frei und alterthüm-
lU) Str. 717, 1. 2 di'tjcii : leben, B nicht; 421, 5. G heivam : gesivoni;
2086, '6. 4 gesivoru : car/i, beides fehlt in B; 42.'3, 5. 6 siul : küneyin (fehlt
B)\ 654, 1. 2 Sigciiaint : zehant [B nicht); 7iio, 1.2 stat : muot (B nicht);
1S51, 3.4 7)ian : tuon (B sun : liioii, Hm. vermuthct fjoinan : tuon; (/. wäre
ein sehr altes Wort) u. a. m. [Die stärksten dieser Fälle beruhen auf
Schreibfehlern und sind von allen Editoren, so auch von Holtzmann in
seinen Ausgaben, beseitigt worden.]
11) Für die Ansicht, dass das Nibelungenlied in seiner jetzigen Gestalt
eine Umarbeitung sei. sprechen auch die Klage uud der Biterolf, in welchen
ähnliche Reime sich finden, welche sich aber beide selbst als Umarbeitungen
älterer Werke bezeichnen.
3. Die historischen Verbältnisse u. Vorläufer des Nibelungenliedes. l'jQ
lieh sind.'^) Auch das Reimen tonloser oder tieitoniger t5ilbcn
ist eigenthümlieli und spriclit für höheres Alter.'^)
Wie hl den zuletzt genannten Keimen hauptsäclilich die
Hebungsfähigkeit von Silben, die im dreizehnten Jahrhundert
tonlos waren, es ist, was den Beweis für höheres Alter derselben
abgibt, so führt überhaupt aueh die Betrachtung des Versbaus
auf dasselbe Ergebnis. Denn auch ausserhalb des Reims finden
sich sehr häufig Fälle, wo Silben l)etont sind, die das spätere
Mhd. tonlos sein lässt. Damit hängt die NichtausfüUung der
Senkungen zusammen, durch welche viermal gehobene Zeilen
von nur vier Silben entstehen. Solche sind in der höfischen
Poesie nur dann erlaubt, wenn jeder der vier Silben von Natur
der Hochton oder doch Tiefton zukommt''); aber im zwölften
Jahrhundert finden sich nicht selten, in der älteren Poesie ganz
unbedenklich viersilbige Verse '^), in denen nicht jeder Silbe
grammatischer Ton zukommt. Solche Verse finden sich zuweilen
noch in den Nibelungen, ebenso hintere lialbzeilen von drei
Silben.'«)
Die hinteren Halbzeilen sind für die Altersbestimmung des
Nibelungenlieds von Werth, sofern in ihnen, besonders nach den
Lesarten von C, nicht selten scheinbar klingende Reime vor-
kommen. Es finden sich nun mehrere Fälle von derartigen Halb-
zeilen, in welchen die Halbzeile nothwendig vier Hebungen
haben muss"), und daraus folgt, dass die Halbzeilen mit klingendem
\i) [Die unvollständige Aufzählung Holtzmanus hat Bartsch (Unters.
54 — 59) vervoUstäudigt und im Einzelnen verbessert].
13) Z. B. vie'nden : wunden; vie'/tdai : hünde; eilenden : Gotelinde;
wunder : helfende u. a. Holtzmann vermutliet hier in einigen Fällen ältere
Formen. ■
141 Holtzmann führt an: ErecS2l5 stvdrz, wk, tveUtn; Iw. 915 min her
Gäwein.
15)^otker: fitodermäze; shi bald ellin [im Liede vom Eber]; Ludwigs-
lied: thiot fiancönö ; sum scähäre ; sum folluscs\ sang lioth fruiid ; Muspilli:
eifjan wirdit; pu kiwinnit; harto wlse ; Hildebrandslied: wnon molin; pritt
in bare ! harn unwahsan.
16) Vordere Halbzeilen: G54, 2 husten A'rietnhild ; 69'^, 3 Slvrit (der) min
sun: hintere Halbzeilen: 732, 2 C Prünhilt nie; 2U7(), 3 C der wip iint
man, u. a. m. [S. aber gegen diese Halbzeilen ohne Senkung Bartsch,
Unters. 133 f.; die Herausgeber beseitigen sämmtlich die von Holtzmann bei-
gebrachten Fälle.]
IT) Str. 13, 1 troümte Kriemhlld'e, 2 stärc schien unt wilde; Str. 1S4S'',
1 zen herhergen äzen, u. a. m. [Soweit diese Fälle sich nur in C linden
(wie z. B. 1848'", 1), mögen wirklich fehlerhaft verlängerte Halbzeilen
160 I. Die Entstellung des Nibelungenliedes.
Keime stets vier Hebungen lial)en müssen.'*) Da sich aber viele
Fälle von solchen Halbzeilen finden, in denen nach den Lesarten
der Handschriften, welche eben mittelhochdeutsche Sprachtbrmen
bieten, nur drei Hebungen gelesen werden können''), so muss
man in diesen Fällen auf althochdeutsche Formen mit vollerem
Klange zurückgehen; diese Halbzeilen also mindestens müssen
gedichtet sein zu einer Zeit, da die Sprache noch auf dem
Standpuncte des Althochdeutschen stand.^")
Die hinteren Halbzeilen mit vier Hebungen beweisen über-
haupt ein höheres Alter des Nibelungenliedes, wenn man die
Entstehungsgeschichte des Nibelungen verses ))etrachtet. Derselbe
ist nicht, wie Lachmann und Wackernagel behaupten, gegen
11 SO als Nachahmung des Alexandiiners entstanden, sondern
nach J. Grimms richtiger Annahme aus dem alten epischen Verse
ohne absichtliche Veränderung geworden. Dieser hat acht
Hebungen mit der Cäsur nach der vierten, und seine beiden
Theiie waren in der früheren Zeit durch Allitteration ^ erbunden.
Ausser dem Bande, das die Allitteration zwischen den \ ershälften
bildete, wurde aber noch ein anderes Mittel gebraucht, um die
Einheit des Verses nicht verloren gehen, ihn nicht in zwei Kurz-
zeilen zerfallen zu lassen. Dieses Mittel wurde überhaui)t in
der epischen Poesie aller Zeiten angewendet und besteht darin,
dass der zweiten Hälfte des Verses ein minder gewichtiger
Schluss gegeben wird, als der ersten. Ho schliesst die erste
Hälfte des indischen Sloka mit drei langen Silben, deren zweite
die Senkung bildet, die zweite mit einem Creticus, so dass die
metrisch-rhythmische Geltung dieselbe ist, aber das Gewicht der
Silben ein verschiedenes.'-') Ebenso finden sich in der alt-
vorliegen (s. Bartsch, Unters. 160—163); aber es lassen sich alle Fälle be-
seitigen, alle diese Zeilen mit 3 Hebungen lesen, 1) durch schwebende Be-
tonung, 2) durch zweisilbigen Auftact, überhaupt durch Belastung der ersten
Hebung.]
18) [S. dagegen Bartsch, Unters. 163 und § 13, not. 60 (Seite 55).]
19) Z. B, 14, 2 nur bdz der yuoten u. a.
20) Also wäre zu ändern 14, 2 bnz dero guötun; 213:f. 1 mit mhiemo
sc/illdi''; 22S0, 2 nz ehie'mo giideuu\ 1362, 2 C von mHu'ujaHo lintdc u. a.
(Dieser Schluss fällt dadurch, dass zweite Halbzeilen mit 4 Hobungen nir-
gends nothwendig sind, ja ihre Annahme verfehlt ist; s. not. 17. IS.]
21) [Auch der griechische Hexameter liesse sich anführen, sofern dessen
zweite Hälfte ursprünglich katalektisch zu denken ist:
1) — WW — V^Vyl— N^W II
2>---^-^^l-v^Al
4
3. Die historischen Verhältnisse u. Vorläufer des Nibelungenliedes. IGI
(leutsehen allitterierenden Poesie nicht selten Laiig-zeilcn , deren
Hälften dadureli unterseliieden sind, dass die erste mit zwei
durch eine Senliung getrennten, die zweite mit zwei unmittelhnr
einander folgenden Hebungen scldiesst, so dass beide zwar vier
Hebungen haben, die zweite aber schwächer ausklingt.") Das
Nibelungenlied hat noch s o 1 c h c V e r s e, Al)er allmählich
verlor der Schluss des ersten Halbverses seine Senkung; damit
nun der zweite noch immer von dem ersten verschieden sei.
wurde ihm die letzte Senkung genommen. Diss geschah schon
frühe; in angelsächsischen und altnordischen Dichtungen sind
zweite Halbverse von drei Hebungen nicht selten; auch das
Hildebrandslied hat schon solche.^^) — Durch Noten lässt sich
diese Entwicklung etwa so darstellen:
I. (Sloka): . J /Ol .: / .
n. (Althochdeutsch etc. ; noch im N. L.) : J ^ J | J^
ni. (Schon ahd., im N. L. gewöhiilich): \ ' I ' *? i
Dass nun das Nibelungenlied noch Verse von der Form H
enthält, während die Form HI schon in den ältesten Denkmälern
sich findet, beweist genügend sein hohes Alter.'-'^)
Diese Entwicklung ward gestört durch das Aufkommen des
Keims. Dieser verlangte selbstverständlich metrische Gleichheit
des Schlusses in beiden Kurzzeilen. Daneben aber muss der
alte, ungereimte Laugvers fortbestanden haben; als auch dieser
gereimt wurde, reimte nicht Halbzeile auf Halbzeile, sondern
Langzeile auf Langzeile. Es ist daraus zu schliessen, dass der
Reim hier erst eindrang, als Langzeilen von nur sieben Hebungen
schon die überwiegende Mehrzahl bildeten.
Auch die Sprache des Nibelungenliedes bestätigt sein
höheres Alter. Im allgemeinen ist dieselbe die von 1200;
22 1 [Ist diese Unterscheidung, die sich doch nicht immer findet, nicht
eher Zufall?] Ein Beispiel dafür: dar ist lip dno tot, Höht ano finstri
{== I ^ / l^^l I / A w /_/).
23) Z. B. Häduhi'änt ghndltd ■ HUtibrdntes sunu ; ddz er kötcs jv/llc'n j
ke'rnö tno.
24) [Mit ' wird doch wohl die unbetonte Länge besser bezeichnet, als
" \
mit dem von Holtzmann gewählten Zeichen ^ , das in der Musik etwas
V
anderes bedeutet.]
25) [Dieser Schluss, wenn überhaupt genügend sicher, fällt weg, da das
N. L. stets 3 Hebungen in der zweiten Halbzeile hat; s. o. S. 55.]
Fischer, Nibelungenlied. 11
162 I. Die Eutstehung des Nibeluugeuliedes.
mehrfach vorkommende französische Ausdrücke verbieten, das
Gedicht allzuweit über 12UU oder 1190 hiuaufzurücken. Aber
es finden sich vielfach Ausdrücke, Worte und Construetionen^
die auf eine weit ältere Zeit der Entstehung hinw^eisen. Unter
den AV^jrten ist besonders zu erwähnen die alte Form des Zahl-
worts „neun" nüvan^^, da schon im Gothischen und Ahd. das Wort
einsilbig ist. Dass niunm {?u'/re?i) als Zahl gemeint ist, beweisen
andere Stellen. Die Form niicen würde also ein sehr hohes
Alter des Nibelungenlieds anzeigen. Aber 7iii('a?i ist gewiss nicht
das Zahlwort. Denn Blödel greift, während die Hünen sonst
immer nur mit Uebermacht einen Angriff wagen, die 9000 Knechte
der Burgunden mit nur 2000 an und erschlägt sie alle. Diss
ist sehr auffallend; ebenso fällt sehr auf, dass bei dem Zug in
das Huneulaud, der doch kein Kriegszug sein soll, auf 1000 Kitter
9000 Knechte kommen. Ferner l)eträgt im Sachsenkrieg (196) das
burguudische Gefolge nur 1000 Knechte, über welchen, wie über
dem Gesinde bei der Huneniährt, zwölf Ritter stehen. Wenn
dort zwölf über tausend stehen, so können hier nicht zwölf über
neuntausend stehen. Höchst wahrscheinlich ist nun, dass der
Sachsenkrieg ein späterer Zusatz ist; sein Dichter benutzte die
Angaben des älteren Gedichts; er lässt 195 den Volker die
Fahne führen, was dieser 1535 thut; ebenso wird er auch die
1000 Knechte mit den zwölf Rittern aus der Hunenfahrt entlehnt
haben. Wenn der Dichter des Sachsenkrieges 196, 1 sagt si
fuorten doch ni/it mcre nitran tüseiit man, so ist gewiss dieses
niivun tüsenl „nur tausend" genommen aus dem niwan liiscnl
1873, 2. Das letztere kann aber unmöglich nisi, priüter be-
deuten, das verbietet der Sinn; „neun" kann es nach dem oben
Gesagten auch nicht bedeuten. Es kann nichts anderes be-
deuten-') als „wahrlich" oder etwas Achnliches. Nun hat Ot-
frid ein ähnliches iiiwdne in diesem Sinne etwa; IV 29, 27:
niträne deih dir (Jidbo ^ diu diinichun spa/i .si selho-^ I 23, 64:
niiväne deih dir yelbo, druhtiii ist iz- sf///o, „AVähne nicht, dass
ich dir lüge , das Gewand spann sie selbst ", — „ der Herr ist
es selbst." Wenn hier deih dir (/e//w ausgelassen ward, so ist
niu'une eine ganz passende Bethcuerung und Aufforderung zum
Glauben an etwas Wunderbares. Es hiesse also die Stelle 1873, 2
26) Str. 1S73, 2: nirvan tiisent knehte die lägen tot erslar/en.
2") Nach einer Parallelstelle bei Dietmar von Eist: min irnt du solt
dÜi (jlouheu aiiderre /nbe, ivan hell die soll du mldeit.
3. Die historischen Verhältnisse u. Vorläufer des Nibelungenliedes, lö^i
so: „Denke nur! lO(H) Knechte waren gefallen und Dancwart
stand allein," Dieses niicäne, niirun verstand der Dichter des
Sacliseukriegs als niicun = nini ^ der, welcher den lluncn/.ug
erzählt, als niiin = „neun". Diss beweist also, dass die Be-
arbeitung von 1190 nicht die erste war, die das alte Gedicht
erfuhr, sondern dass ihr eine mit Interpolation verbundene vor-
hergegangen sein rauss. Zugleich beweist die Interjectiou nitrun
das hohe Alter der Vorlage.'^*)
Unter den syntaktischen Eigenthümlichkeiten hcl)t Iloltz-
inann hervor die Verwendung des Adverbs ird'tUch mit dem
Conjunctiv als sclnvache Negation und zwar nach einem nicht
negativen Vordersätze.^'^) Ganz ähnlich ist es, wenn statt wcetl/cft
das Verbum wa'uen in einem Conjunctivsatze steht, der negative
Bedeutung haben soll, aber keine Negation enthält. Beide Fälle
weisen wohl auf eine ältere Formel hin. Was zu Grunde liegt,
dürfte eine Zusammensetzung mit dem Worte irun .. iMangel"
sein; dazu gehört wohl gothisch vämei offt'/.ov, utinam; ein
Wort mit der Bedeutung von inultum ahest ut würde überall
vortrefflich passen. Wun = „Mangel" findet sich nur in den
2'^) [Die übrigen Alterthümlichkeiten in Wörtern und Constructiuiien
mögen hier unerwähnt bleiben; Bartsch hat dieselben widerum angefiihrt,
nach ihm aber weisen sie nicht weiter zurück als bis etwa zur Mitte des
12. Jahrhunderts. Allein dieses niwänc würde viel weiter zurückweisen.
Daher soll der Schluss Holtzmanns aus IS73, 2 hier besprochen werden.
Dass 9000 Knechte durch 2000 fallen, die auch ganz wohl Ritter sein können
(denn ein Kitter darf im Epos wohl mehr als nur 4— ö Knechte erschlagen),
ist von keiner Beweiskraft; der Dichter rechnete nicht wie ein Stratege.
Dass aber beim Sachsenkrieg auf 12 Kitter lOOO Knechte kommen, bei der
Hunenfahrt auf 12 Ritter yono Knechte, ist eine wohlbegründete Verschieden-
heit. Zur Führung auf dem relativ friedlichen Marsche nach Hunenlaiul
brauchte man weniger Führer als zur Anführung der Gemeinen im Sachsen-
krieg. — Dass aber 9 Knechte auf einen Ritter zu viel seien, ist subjective
Anschauung; s. übrigens Hagens Worte 1411, 3. 4 weit ir iuch bewant , so
so/t ir zuo den Hinnen vil (jewür liehe varn. — Dass niiven, wofür
niwan einfach ein Schreibfehler ist, nicht gar zu alt ist, beweist die Analogie
von friunt und friment^ welches letztere noch die Bearbeiter des N L.
kennen; auch von friunt behauptet Holtzmann fälschlich, dass es nur eiu-
silbig vorkomme (S. 7o). — Dass der Sachsenkrieg in den Personen, die
dabei betheiligt sind, und in ihren Stellungen (Volker als Fähndrich, Danc-
wart als Vorgesetzter des Gesindes) mit der Hunenfahrt viele Aehnliclikeit
hat, beweist nicht, dass jener nach den Angaben dieser verfertigt sei.]
29) Denn nach einem negativen Vordersatze ist rva-llich c. conj. nichts
Seltenes; hier könnte «•. fehlen, der conj. aber ist durch den negativen
Vordersatz schon gegeben; anders, wenn letzterer positiv ist.
11*
1(34 I. Die Entstehung des Nibelungenliedes.
ältesten deutschen Denkmälern; ei == iit in väin-ei, adh. ?,
findet sich nur noch sehr frühe; natürlich also war, dass ein
aus beiden compouiertes imn-i , irc/i-t, van ist i o. ä. sich in
späterer Zeit an ein ähnlich klingendes Wort \Wc wanien oder
irirtlich anlehnte.^")
Der aus dem Bisherigen gezogene Schluss, dass in dem um
1190 verfassten Nilieluugeuliede ein "Werk von beträchtlich
höherem Alter benützt, vielleicht nur übersetzt ist, so jedoch,
dass eine Stelle auf Interpolation hinweist, wird zunächst be-
stätigt durch einige äussere Zeugnisse.
Dass das Gedicht in der Gestalt, wie es C bietet, um 1200
schon bekannt war, beweist die |§ 13, not. 123 angeführte)
Stelle des Parcival über den Koch Rumolt^'), und eine andere
(121) desselben Gedichtes, Avelche auf die erste folgt:
ir sprecht, ir tfft als riet ein koch
den kiteiicn Xihc/a/if/cn,
die sich unbeticunijen
iizhuoben, da man an in räch,
daz- Sivride du vor (jeschach.
Denn der Ausdruck „rf/> kiienen Xibelunge'^ ist im Nibelungen-
liede nicht selten, sich üzheben aber ist ein um 1200 ungeläufiger
Ausdruck j der, dem ganzen Zusammenhange nach, gewiss aus
Kib. 1462, 1 stammt, wo die Worte lauten: die snellen Ihirtfonden
sich üzhuoben. Da nun Wollram nur auf ein seinen Zeitgenossen
leicht verständliches Gedicht anspielen konnte, so werden die
beiden Stellen nicht aus dem älteren Gedicht, sondern aus seiner
in C vorliegenden Umarbeitung stammen, die also vor 1205 vor-
handen war. Auch Parc. 206, 29: der kezzel ist uns widert an,
kann aus dem Nibelungenliede stammen, wo Str. 720, 1 — 3 lauten:
Rihnolt der kuchcnineistcr wil traf berihte s/t
die sinen nndertänen ^ vil maneiien kezzel wit,
hävene iinde pfannen. Ilei icaz- ?nan der da rant!^^)
30) [Dieser Schluss, kühn wie er ist, ist nicht uöthig. Das Auffallende
au jenem ?va'(/ich oder ?va'n (ich) ist nur, dass die Negation im Vordersatze
fehlt; ähnliche Analogiebildungen, bei denen logisch genommen die Haupt-
sache fehlt, sind nicht selten.]
31) [Als Iloltzmann seine Untersuchungen schrieb, kannte er a noch
nicht, also auch nicht die Str. 1408''; er schloss aber auf das Vorhanden-
sein einer ähnlichen Strophe in C aus dem Zusammenhang und aus der Par-
civalstelle.]
32) [Die Herausgeber ziehen vil manegeii etc., zu hei tvaz man etc.,
machen also die Beziehung Holtzmanns unmöglich].
3. Die historischen Verhältnisse u. Vorläufer des Nihehmgenliedes. 165
Aber aiii" die ältere Form des Gedichtes allein lässt sich be-
ziehen eine Stelle des Metcllus von Tegcrnsee (um 1100):
— — — quos uricnlis habet i'i'tjio,
fluni ine nobilis Erlaßu,
r arm ine Teilt an ibiis celebri
inelilu Roijerri eomiti.s
robore seil Tetrici veteris.
Rogeriiis mid Tetricus sind offenbar Rüdiger und Dietrich; der
Fluss Erlafia mündet bei Bechclaren. Der gelehrte ]\Iönch be-
zieht sich gewiss nicht aufVolkslieder, sondern earmen Tentoni-
bits eelebre kann nur ein schriftliches deutsches Gedicht heissen;
dieses aber war wohl kein anderes als die ältere Gestalt des
Nibelungenliedes.^^)
Ein weiteres Zeugnis für diese ist eine Erzählung von Saxa
Grammaticus. Er erzählt, wie (etwa um 1131) ein sächsischer
Sänger den Herzog Knut Lavard von Schleswig durch Recitation
von Versen über Kriemhilds Verrath umsonst vor den Xach-
stelliuigen des Dänen Magnus zu warnen gesucht habe:' spe-
eiosissimi earniinis contej-tii nolissimam (jrimiUUe enfu fratres
perßdiani de inihistria adursus funwsie fruudis exemplo sintiliiuit
ei metum ingenerare sludebut. Jedenfalls also hatte um 1130
die Sage schon die Gestalt, die sie im Nibelungenliede liat;^')
die Nachricht würde also ganz wohl auf die ältere Grundlage
desselben passen. Es ist die Annahme, dass das von dem Säuger
Vorgetragene nur ein kurzes Volkslied gewesen sein könne,
ganz falsch. Denn Knut war Saxoniei et ritiis et noniinis
(wumtissiniiis; Kriemhilds Rache ^vird als notissina pei\fidia,
faniosu frans bezeichnet, somit war die Geschichte wohl dem
Knut bekannt, es konnte also das Vortragen einiger Strophen
genügen. Carmen speciosissimuni kann nicht ein Volkslied,
sondern nur ein grösseres, schriftlich vorhandenes und verbreitetes
Werk sein; auch ist der Sänger bei Saxo kein n/slictis, sondern
ein arte cantor. Wahrscheinlich ist also, dass die Verse, die
derselbe 1131 sang, aus dem älteren Gedichte genommen waren,
das unserem Nibelungenliede zu Grunde liegt. Somit ist dieses
schon am Anfange des zwölften Jahrhunderts durch äussere
33) Denn die Vorlage des Biterolf erwähnt Bechelären nie mit besonderer
Vorliebe, war auch schwerlich je besonders verbreitet.
34) [Die Stelle ist schon oben bei Besprechung der Sage angeführt
worden; s. S. 106 {§ 2S, not. 7).]
166 I. I>ie Entstehung des Nibelungenliedes.
Zeugnisse naeliweislieli , muss aber nach inneren Kennzeichen
noch beträchtlich älter gewesen sein.
Ein weiteres Zeugnis für die ältere Gestalt des Nibelungen-
lieds ist die Klage, sofern sich dieselbe ausdrücklich auf ein
deutsches^') Buch beruft, in welchem ihr und des Nibelungen-
lieds Inhalt enthalten gewesen. Dieses Buch kann natürlich
nicht das deutsche Nibelungenlied sein, weil dieses etwa gleich
alt mit der Klage ist und von deren Inlmlt nichts enthält. Wohl
aber kann es sich fragen, ob nicht die ältere Grundlage des
Nibelungenliedes damit gemeint sei. Die Gegner dieser Ansicht,
Lachmann, AV. Grimm und E. Sommer, führen dagegen an, dass
nicht nur im Einzelnen verschiedene Aliweichungen zwischen
Klage und Nibelungenlied stattfinden, sondern dass auch die
ganze Grundansicht von der Sage in beiden eine verschiedene
sei. Allein die Widersprüche im Einzelnen liisen sich von selbst
auf oder sind nicht der Rede werth; die Gesammtanschauung
hingegen ist dieselbe, zumal wenn man den Text von C zur
Vergleichung benutzt. Die Rache Kriemhilds tritt in beiden
Gedichten hervor; der Hort ist auch in der Klage keineswegs
das über alle seine Besitzer Fluch bringende Gold, sondern er
verursacht das Verderben der Nibelungen nur insofern, als sie
durch seinen Raub Kriemhilds Rachegier noch gesteigert haljcn.
Auch Kriendiilds Treue als Motiv der Rache ist dem Nibelungen-
liede nicht fremd und tritt besonders in C deutlich hervor. Dass
sie nur Hagen morden wollte, ist in C besonders hervorgehoI)en,
fehlt aber auch in der vulgata nicht. Auch in untergeordneten
Dingen stimmen beide Gedichte überein. Sind nun die ver-
meintlichen Widersprüche nicht vorhanden, so findet sich viel-
mehr die auffallendste Uebereinstimmung l)is auf den wörtlichen
Ausdruck hinaus. Wenn die vulgata mehrfach ändert, so sind
diese Aenderungen, weil sie die nach der Klage volksmässige
Auffassung enthalten (Kl. 27S — 2S4), als aus dem Volksgesang
geflossen zu betrachten, was die gleichfalls aus diesem geschöj)fte
Thidrekssaga bestätigt. — Es ist somit erwiesen, dass die Quelle
der Sage und des Nibelungenlieds dasselbe Gedicht ist. Die
Einzel vergleichung der beiden jüngeren Gedichte gestattet zu-
gleich Schlüsse auf den Inhalt der gemeinsamen Vorlage.
Wichtig ist nun, was dieselbe Klage über Piligrim von
35) [Diss ist eben der Streitpunct, ob das (deutsche) Buch, aus dem die
Klage geschöpft, mit Konrads Aufzeichnung der Sage (s. u.) identisch ist.],
3. Die historisclion Vorluiltnisse u. Vorläufer des Nibelungenliedes. 167
Passau und seinen Selireiber Konrad zu berichten weiss:
Piligrim, welchen ja Nibehmgen und Klage zum Oheim der
Burgundenfürsten machen, habe sieh durch den n'dpltrrc 8wem-
melin, der ilim die Trauerkundc l)rachte, die ganze Geschichte
erzählen lassen; dazu habe er von Jedermann, der etwas über
die Sache zu erzählen gewust, Erkundigungen eingezogen, und
hiez ~ ■ schriben ditzc mrvi'e,
ii'ie ez erymujon wcpre,
in Uttlnischpii hiichstaben.
daz iiKvre briofen [priicfen CJh) dö began
sm schrlbwi'f meister Kiionräi.
(jetihtei man ez sil hat
dicke in thischor zunyen.
daz dir alten mit den junfjen
erkennent lenl daz mtere.
Dazu kommen noch einige andere Stellen, wo von dem alten
Gedichte die Rede ist, besonders Kl. 10 ff. ditze alte inwre bat
ein tihtwre an ein bnoch scJuvben. desn kund ez niht beliben, ez
i'nsi ovch noch davon bekant etc. ; C weicht hier neben Anderem
darin ab, dass sie (nebst TJa) nach tihtau^e das Wort vilen^
nach schriben das Wort laüne hat. Das letztere ist offenbar
nur eine Randglosse des Abschreibers, die Stelle weist also
keineswegs auf lateinische Abfassung hin. [Auch darin sind
CJJa und ^LB vel'schieden, dass statt des tihtwre, der nach AB
das Märe zu schreiben aufträgt, in CDa ein schrtbcere dasselbe
schreibt: sollte nicht der sch/^iba're in CDa am Ende aus dem
Schreiber Konrad erst entstanden sein?] Ebenso wenig bedeuten
die Worte mit latinischen bvochstaben so viel als „in lateinischer
Sprache", sondern sie bedeuten nur, dass das Werk mit der-
selben Schrift geschrieben wurde, mit der lateinische Texte
geschrieben zu Averden pflegten. Es kann somit die Nachricht
über Piligrim und Konrad unbedenklich auf das alte Gedieht,
das dem Nibelungenlied und der Klage zu Grunde liegt, be-
zogen werden.
Dass die Klage diese Nachricht, wie überhaupt die Person
Piligrims, durch einen argen Anachronismus mit dem Burgunden-
Untergange von 437 in Verbindung bringt, beweist nicht gegen
diese Annahme. Lachmann, glaubt, dass Piligrim erst <lurch
einen Volksdichter um 1190 in die Sage gekommen sei. Allein
r *
168 I. Die Entstehung des Nibelungenliedes.
diss ist nicht denkbar. Der Volksgesang konnte iinmöglicli den
Bischof des zehnten Jahrhunderts mit der Sage in Verbindung
bringen; denn bald nach seinem Tode war diss nicht möglich,
weil man sich seiner noch erinnern muste, in späterer Zeit aber
hat er gewiss im Volksmunde nicht gelebt, denn selbst die
Historiker nennen ihn fast nie. Die gewaltsame Einmischung
seiner Person kann nur von einem Manne herrühren, der ihn
kannte. Hiezu stimmt die Nachricht der Klage ganz wohl.
Wenn Piligrim seinen Schreiber Konrad mit Abfassung eines
Gedichts über die Nibelimgensage beauftragte, so hatte dieser
alle Veranlassung, seinem Herrn und Gönner in seinem Werke
ein Denkmal zu setzen. Diss geschah nun aber nicht so, dass
er von dem historischen Piligrim alles das ausgesagt hätte,
was dem Bischof in dem Nibelungenliede zugeschrieben ist;
vielmehr er erzählte alles das nur von einem älteren Piligrim,
als dessen Abbild dann der jüngere erscheinen sollte. Nannte
sich nun der Verfasser selbst am Anfang oder Ende des Buchs
einen Schreiber Piligrims von Passau, so konnte ein Späterer,
wie der Dichter der Klage, der von dem historischen Bischof
gewiss nichts wüste, sehr leicht die Sache so darstellen, dass
Konrad nach den Berichten Swemmelins die Sage aufgezeichnet
habe. Auch kann Konrad selbst diese Vermischung beal)sichtigt
haben, durch w^elche Piligrim, der dadurch als Zeitgenosse
Dietrichs erschien, noch altehrwürdiger werden muste. Auf eine
andere Weise lässt sich die Einmischung Piligrims nicht erklären,
es ist also aller Grund vorhanden, das Zeugnis der Klage für
vollkommen bewährt zu halten.
Ueber den Umfang und Inhalt des Konradischen Gedichts
gibt uns die Metropolis Salzburgensis des Hund von Sulzenmoos
(1582) Aufschluss, Avenn sie sagt: (ri/if/rimu.si autor fuil cuiilatn
sui sicculi versißcatori Gcrmunico^ ut in rhi/thinis tjesta Avurunim
et Ilunoruvi Austriani supra Anasu/n tu/ic tejieniium et omnent
vicininm Inte (leprwddnlium ccichrarct, et quoinoilu luv hnrharii;
(fentes ab Ottoiie Miujnu pro/l/fjattr sint. Diese Nachricht, die
Hund aus einer Handschrift dieses Gedichtes, die er selbst ge-
sehen, geschöpft hat, ist an sich ganz glaublich. Denn Piligrim
hatte vielfache Berührung mit den Ungarn, konnte also leicht
auf den Gedanken kommen, ihre Geschichte zu verfassen. Da
aber Ungarn, Hünen und Avaren im ganzen jMittelalter als
identisch gedacht wurden, so war nichts natürlicher, als dass in
diese Geschichte auch die schon längst sagenhaft gefärbte
*%
3. Die historischen Verhältnisse u. Voriüiifcr des Nihclungonh'edes. 1 G9
Attilas aufgenommen wurde. Dass ein Buch existierte, welches
beide verband, beweist Simon Keza, der die Gescliichte von
Attihi, Dctreh, Cremiid und Chaba, Attilas ^(dni (= Hagen V)
in verworrener Weise mit der ungarischen Geschichte verbindet.
Das Buch Konrads enthielt also den Inhalt der Nibelungen
(ohne die späteren Zusätze), den der Klage und die ungarische
Geschichte bis zur Schlacht auf dem Lechfelde. Hiezu stimmt
der Schluss des Nibelungenliedes, wo der Dichter erklärt,
schliessen und die folgenden Ereignisse nicht berühren zu wollcn.^^)
Ebenso zeigt der Schluss der Klage, wo von Dietrichs und der
Seinigen weiterer Geschichte nicht die Rede ist, sondern der
Dichter nur erklärt, dass es über Etzels Tod verschiedene un-
sichere Nachrichten gebe, deutlich die Absicht des Dichters,
dem es nur darum zu thun ist, die Geschichte der Hünen selbst
fortzusetzen.''')
Von dem letzten Theile des Gedichtes sind vielleicht ein
Ueberrest die vier Zeilen bei Lazius:
(loch palt hat jm verkitrczt sein slarrkes leben
(l.svhlacht, wie er war von Khut/ser Flai/nrirh veririben
und mit savipt den Hujifjern an Jn fjelan,
war geschUujen so ojf't der Ilewnisch man.^^)
Lazius kannte einen Codex, der ausser dem Nibelungenliede
nach den Lesarten der vulgata noch andere Gedichte enthielt.
Vielleicht war eines davon eine Umarbeitung von Konrads
zweitem Theile.
Zunächst sind Heimat und Alter dieses älteren Gedichtes
festzustellen. Sprache, Versbau und Reime wiesen auf eine dem
neunten Jahrhundert mehr als dem zwölften oder dreizehnten
nahe stehende Zeit hin. Dazu passt die Entstehung zwischen
97U und 990.
Der Verfasser lebte sicher an der Donau, in Passau oder
abwärts; denn viel vertrauter als mit der Gegend von Worms,
die er allerdings auch ziemlich gut kennt, ist er mit den Donau-
gegenden von Baiern bis Ofen. Auffallend nun ist, dass das
36) [Im Gegentheil! Die Worte 2316, 1: ihm' /can in (iuch) niht hc-
scheiden wnz sider da geschach können nur heissen „Ich weiss nicht"' etc.;
denselben Sinn muss also auch 2316, 5 C haben: iline sage iu nu niht
mere etc.]
37) [Warum erzählt er dann die Burgunden- und Siegfriedssage so genau,
"wie Holtzmann meint?]
3S) Lachniaun, Ausg VIII.
170 I I>ie Entstehung des Nibelungenliedes.
Nibelungenlied nur Orte nennt, die zu Piligriras Sprengel ge-
hörten und schon zu Piligrims Zeit bekannt waren. Nur Wien
konnte um 990 noch nicht als eine reiche Handelsstadt genannt
werden; aber seine Nennung im Liede ist entschieden unecht
und stört den Fortgang der Handlung/^) sie liindert also nicht,
das alte Gedicht in das zehnte Jahrhundert zu setzen.
In das neunte Jahrhundert weisen dagegen alle andern,
wirklich echten geographischen u. a. Angaben des Nibelungenlieds.
Das Land von Passau bis zur Enns ist noch nicht österreichisch,
sondern bairisch ; erst 1 1 56 wurde dasselbe an Oesterreich förm-
lich abgetreten. Erst unterhalb Melk beginnt Osterland, eine
hunische Mark, wozu ein Dichter um 1200 dasselbe unmöglich
machen konnte. Aber zu Konrads Zeit reichte die ungarische
Herrschaft bis an die Enns. Melk ist im Nibelungenlied eine
Burg, was es seit 9S4 nicht mehr war, in Avelchem Jahre es
erobert und bald darauf in ein Kloster verwandelt ward; Kon-
rads Werk fällt also noch vor 984.'"} Auch historische Bezüge
des Nibelungenliedes weisen in das zehnte Jahrhundert. Die
Petschenegen {die in'lden Pescmwre N. L. 12S0, 2) bildeten im
zehnten Jahrhundert die ungarische Grenzwache gegen Deutsch-
land. Sie verschwinden im elften; im zwölften war wohl ihr
Name verschollen''); das Nibelungenlied aber schildert sie
offenbar nach Autopsie des Dichters. — Der Markgraf Gere ist
:i'.i) [Doch kaum richtig Dass in der ersten Stelle, wo Wien erwähnt
ist, Rüdiger sowohl in Wien als in Bechelaren Eeisegewand bekommt, spricht
nicht gegen 1102 — 1104. Dass 1094 — 1099 in ganz guter Ordnung auf ein-
ander folgen, s. Fischer, Nib.-Lied oder Nib. -Lieder? S. loo — 102. — Dass
aber die Festlichkeiten in Wien neben denen in Tuln kein Pleonasmus sind,
beweist Zarncke Beitr. 19S f., wonach Tuln noch im IS. Jahrhundert der
Ort für die festliche Einholung der Braut eines österreichischen Fürsten war.]
40) [Ein seltsamer Schluss! Wenn zu Konrads Lebzeiten Melk noch
eine ungrische Burg war, wie ist dann der Schluss gerechtfertigt, er habe
nach dessen Verwandlung in ein Kloster dasselbe nicht mehr eine hunische
Burg nennen können, in einem Gedichte, das sich doch mit so ganz alten
Dingen abgibt! — Anders ist es, wenn der gelehrte Dichter des Biterolf, der
Konrads Werk nach Holtzmann benutzte, aus Melk Mauteru macht; denn
ein Dichter um 1150 kannte Melk als Burg nicht mehr. — Ueber die Will-
kürlichkeit des Iloltzmannischen Datums s. Dümmler, Piligrim etc. S. 91;
Zarncke, Beitr. is.^ f.].
41) [S. dagegen Dümmler, Piligrim etc. S. 191, und Müllenhoff, Nibelungen-
sage S. 165, woraus erhellt, dass auch ein Dichter des 12. und V-\. Jahr-
hunderts noch ganz wohl selbständig die Petschenegen nennen konnte.]
'^. Die historischen Verhältnisse n.VorUiufer des Nibelungenliedes. 171
gewiss entstanden aus dem historisclieu Markgrafen Gero A'on
Ostsachsen, der sieh in Ottos I. Slavenkriegen aus/eicbnete und
9()5 starb. — Das Kloster Lorsch war zu der Zeit der Ottonen
glänzend, lirun, Ottos des Grossen Bruder, war Abt von Lorsch ;
das Kloster konnte also in Jener Zeit besonders leicht als eine
berühmte Abtei genannt werden. — Auch die Feindseligkeit des
Dichters des Nibelungenliedes gegen die Baiern spricht für
Konrads Autorschaft; denn Piligrim lebte in bitterer Fehde mit
dem Baiernherzog Heinrich.
Wenn demnach mit Sicherheit die Entstehung des Nibelungen-
liedes in die Jahre 071 — 9S4 zu verlegen ist, so wäre dadurch
zugleich der unglückliche Zwiespalt autgehoben, welcher darin
liegt, dass die Biüthe der deutschen Poesie nach der herkömm-
lichen Anschauung stets in die Zeiten der politischen Ohnmacht
Deutschlands fällt.^-j Denn die Entstehung des grinsten nationalen
Epos fällt alsdann zusammen mit der Zeit des höchsten Glanzes
des deutschen Reichs unter den Ottonen und bis zur Regierung
Heinrichs IV. hin.'") Gewiss stand in jener Zeit das Nibelungen-
lied nicht allein da als Zeugnis des deutschen Geistes.
Was können wir aber ausser der 'Notiz, dass der Dichter
des älteren Gedichtes Konrad hiess und Schreiber bei Piligrim
war, über denselben noch erfahren? Der eigentliche Schreiber
Piligrims, der dessen lateinische Schriften und Urkunden schriel),
war er wohl nicht; er müste denn die seltene Enthaltsamkeit
besessen haben, seine lateinische Gelehrsamkeit gar nicht durch-
bhcken zu lassen. Auch hätte er, wäre er lateinisch gebildet
gewesen, nicht sagen können, dass er über Attilas Tod nichts
wisse; denn Jordanes und Marcellinus enthalten die Nachrichten
über Attilas Tod. Die historischen Namen Helclie (= KQä/.a)
und Blödel (= Bleda) können nur (iudirect) aus Priscus
stammen, da sie vor Konrad nicht erscheinen, vielmehr Attilas
Gemahlin noch im Waltharius mit sagenhaftem Namen Ospirin
heisst;^^) nicht als ob etwa Konrad selbst den Priscus gelesen
hätte, sondern die Nachrichten, die Piligrim von allen Seiten
einzog,^^) mochten auch zum Theil von Griechen am ungarischen
Hofe stammen.^^)
42) [Vgl. M. Thausing, die Nibelungen in der Geschichte etc., S. 437 fF.
43) [S. dagegen Müllenhoff. Nib.-Sage 170—172.]
44) S. Klage 1734 f.
Ah) Vgl. dazu die Kriechen in Etzels Heer, N. L. 1279 und Klage ISO.
172 I- Dit Entstehung des Nibelungenliedes.
Es fragt sich nun, ob Konrad vielleicht mit einem uns sonst
woher bekannten Namen sich identificieren lässt.
Ein Konrad, der mit Altmaim, Ezzo und Günther von Bam-
berg eine Pilgerfahrt unternahm, stellt in Berührung mit deutscher
Dichtung; er wurde si)äter Prälat von Göttweih, also gerade in
der im Nibelungenliede besonders hervortretenden Gegend. Aber
er fällt in eine viel zu späte Zeit; jene Pilgerfahrt fand im Jahr
IU65 statt. Keineswegs unmöglich ist aber, dass Konrad mit
dem Küren berger identisch wäre. Der Versbau und die
Reime desselben sind ganz dieselben, wie im Nibelungenliede.
Lachniann hat entschieden Unrecht, wenn er den Kürenberger
nicht vor 1170 setzen will; denn trotzdem, dass die Handschrift,
welche seine fünfzehn Strophen enthält, aus dem vierzehnten
Jahrhundert stammt, so sind doch AlterthümUchkciten darin
stehen geblieben, welche sich nur mit Stellen des Hildebrandsliedes
und der Psalmen-Uebersetzung Notkers vergleichen lassen.''")
Dass der Kürenberger im Breisgau zu Hause sein müsse, ist
eine Behauptung, die durch nichts zu erweisen ist. Denn es
findet sich ein Kürenberg bei Linz mehrfacli erwähnt. Es er-
scheint ein Mdf/cnes de (Jhiwejiberij als minislerialis Fataviensis
erwähnt; auch war der Name Konrad in der Familie gebräuch-
lich. — Die Vermuthung, dass Konrad mit dem Kürenberger
identisch sei, ist demnach nicht unmöglich, doch unsicher. Leicht
möglich ist auch, dass Konrad in der mit besonderer Liebe
hervorgehobenen Gestalt Volkers von Alzey, die der Sage nicht
angehört, sich selbst schildern wollte. Auch auf den Küren-
berger passt die Schilderung des lebensfrohen, jungen Spiel-
manns recht wohl.
Das alte Gedicht erscheint im Nibelungenlied schon mit
Zusätzen versehen, wie der Sachsenkrieg beweist. Um diese
auszuscheiden, gibt es zwei Kennzeichen: was in der Klage
fehlt, ist verdächtig; wenn es zugleich in Reim, Versbau und
Sprache nichts Alterthümliches hat, ist es sicher- unecht. Einiger-
maassen kann zur Ausscheidung auch der Biterolf dienlich sein,
der zwischen 1100 und 1150 verfasst sein mag''), um 1200
46) Ich sluont mir lässt sich nur mit ik ini wH und du bist dir im
Hildebiandsliede, ml var du sam mir nur mit einer Stelle einer dem 11. Jahr-
hundert angehörigen Abschrift von Notkers Psalmen vergleichen.
4") Nicht vor ilOU; denn es kommt ein förmliches Turnier darin vor,
dci'glcichen vor 1100 unbekannt waren; nicht nach 1150, denn es finden sich
altei'thümliche Reime und Ausdrücke.
3. I>ie historischen Verhältnisse u. Vorläufer des Nibelungenliedes. 173
aber seine jetzige Gestalt erhielt. Unter den Quellen des
Biterolf befand sich gewiss auch Konrads AYerk, da derselbe
auttallende Uebereinstinnnungen mit Nibelungen und Klage
zeigt/*) Sein Verfasser kannte den Sachsenkrieg schon, denn
er erwähnt Liudeger und Liudegast und gibt dem Siegfried das
Zeichen der Krone (wie Nib. 214). Vielleicht war er selbst
derjenige, der den Sachsenkrieg zudichtete.'''')
Der Eingang und Kriendiilds Traum gehörten gewiss Konrads
G^edichte an; die Klage enthält Beziehungen darauf, auch finden
sich Alterthümlichkeiten in Reim und Versbau. Aber die Jugend-
geschichte Siegfrieds ist zugesetzt; sie zeigt spätere Ilittersitte
und enthält französische Ausdrücke.
Siegfrieds Empfang in Worms, Str. 75— SS, ist im Biterolf
nachgeahmt, also echt.
Ebenso bezeugt derselbe Hagens Erzählung von der Er-
werbung des Schatzes durch Siegfried, Str. SS — 100, als ur-
sprünglich.
Das Folgende ist aber stark interpoliert. Der Sachsenkrieg
ist nach dem oben Gesagten unecht, ebenso dann natürlich die
Siegesbotschaft, deren Erzählung, sowie die des Festes, höfisch-
sentimental gehalten ist. Dann aber muss in Konrads Gedicht
das erste Auftreten Kriemhilds vor Siegfried anders motiviert
gewesen sein. Es w\ir otfenbar mit Siegfrieds erster Ankunft
in Worms in Verbindung gesetzt. Diss wird auch bewiesen
durch das wunderliche Durcheinander in Siegfrieds Benehmen
in Str. 103 — 126^®), und durch andere Unebenheiten, wie die,
dass Giselhers Aufforderung an Siegfried, da zu bleiben, weil
man ihm die Frauen des Landes zeigen wolle (320), keinen
Sinn mehr hat, wenn Siegfried die Kriemhild schon gesehen,
ja zwölf Tage lang ihren Umgang genossen hat. Es folgte
demnach in Kourads Gedichte auf einander der Inhalt von
Str. 22; 72—100; 103—122, 3; 2SS; 125-126; 320; 2S0— 2S4
(2S7); 291; 321.
Ferner ist als unecht anzusehen der nächtliche Kampf Sieg-
frieds und Brünhilds, welcher nicht allein das Gefühl verletzt,
4S) Insbesondere heisst nur in diesen drei Gedichten Günthers Vater
Dancrat [s. o. S. Wi].
49) Vgl. Bit. lOlTö Sahsen: ty« swerten ivol gcivalisen mit Nib. IKT
die Sahsen — mit swerten wol gewahsen.
50) [S. dagegen Fischer 1. c. S. 34. 35, gegen dessen Beweisführung
nicht leicht etwas einzuwenden seindürfte].
174 I. Die Entstehung des Nibelungenliedes.
sondern zugleich weder durch Biterolf oder Klage bezeugt noch
nothwendig, vielmehr mit Str. 763 f. unvereinbar ist."') Allein
dieser Zusatz ist nicht von einem Späteren willkürlich erfunden^
vielmehr stammt derselbe, wie die Thidrekssaga beweist, aus
dem Volksgesange. Weim der nächtliche Kampf unecht ist, so
sind in dem Zank der Königinnen einige auf ihn bezügliche
Stellen zu ändern.
Weder der Biterolf, der doch Anlass dazu hatte, noch die
Klage erwähnt Siegfrieds Drachenkampt und Unverwundbarkeit.
Auch die dahin gehijrigen Abschnitte des Xibelungenlicds sind
also als unecht anzusehen. Str. S15 muste Günther von Sieg-
frieds Unverwundijarkeit reden; S94 f. wird Siegfrieds Jagd-
anzug beschrieben, aber 921 schiesst ihn Hagen durch das
Kreuz, das Kriemhild auf das Kriegsgewand genäht hatte."*)
Kriemhild schliesst 953 nur daraus, dass Siegfrieds Schild nicht
verhauen ist, auf Mord; erst l(>5l fällt ihr ein, dass sie selbst
die Verrätherin sei. Das alles beweist die Unechtheit von
Str. 101; SIS; S34, 3— S4S"; 1051.
Von Siegfrieds Tode an sind die Aenderungen und Zusätze
nicht mehr bedeutend. Der Widerspruch, in dem Str. 1417 und
1S61 zu der Erwähnung Volkers und Dancwarts im Sachsen-
kriege stehen, hört auf, ein Widerspruch innerhall) desselben
Gedichts zu sein, wenn der Sachsenkrieg späterer Zusatz ist.
Was die Form von Konrads Gedicht betriift, so war das-
selbe jedenfalls in Xibelungenversen geschrieben; ob aber
strophische Abtheilung vorhanden war, ist zweifelhaft, ja nicht
einmal wahrscheinlich.'^) Die Strophe ist eine durchaus lyrische,
dem Epos fremde und schädliche Form ; auch geht im Nibelungen-
liede, besonders in dessen besten Handschriften, oft der Satz
über das Ende einer Strophe hinaus, und häutig ist der letzte
Vers einer Strophe ein blosses Flickwerk, das seine Unursprüng-
lichkeit verräth. Wahrscheinlich wandte erst der letzte Dichter
die Strophe an, denn auch im Sachsenkrieg findet sich das Hin-
überlaufen eines Satzes und finden sich Flickverse am Ende
von Strophen.
Die Quellen Konrads waren hauptsächlich mündliche Mit-
51) [S. dagegen Fischer 75 f.; besonders ebenda S. 7i;, Z. H — Hi.]
52) [S. dagegen Fischer 87 f.]
53) Gebrauchte Konrad die Strophe, so muss er fast mit dem Küren-
berger eine Person sein; wenn nicht, so kann er es dennoch sein.
3. Die hibtorischen Verhältnisse u. Vorläufer des Nibelungenliedes. 17;)
theiluugeir"), (laiiebeii nvoIiI auch in einzeliicn Puiictcu scliriit-
liebe Autzeicliiiungen, deren es aus dem Kix'ise der Heldensage
schon gegen das Ende des neunten Jahrhunderts gab, welche
wahrsehemlich mit Stücken aus der Sammlung Karls des Grossen,
identisch sind.
Aus dem Volksgesang schöpfte Konrad den grösten und
wichtigsten Theil seines Gedichtes. Er behielt den alten ejjischen
Vers bei; ohne Zweifel führte er auch den Reim ein. Noch
häutig haben seine Verse die alte AUitteration, schon in den
Namen und in einzelnen stehenden Wortverbindungen, Aber
auch die regelmässigen drei Stäbe finden sich noch in manchen
Versen des Xibelungenlieds.^') Die Gestalt der Sage im Volks-
munde war wohl zu Konrads Zeiten dieselbe, wie sie noch in
der Thidrekssaga aufbewahrt ist. Dieselbe gibt an vielen
Stellen noch das Vollere, Ursi)rünglichere dem Nibelungenliede
gegenüber. Aus mehreren wörtlich übereinstimmenden Stellen
scheint zu erhellen, dass ihr Verfasser Konrads Werk kannte.
— In Manchem wich Konrad von der noch in der Thidreks-
saga erhalteneu, durch den Bearbeiter der vulgata wider in das
Nibelungenlied eingedrungenen Volkssage ab. So in dem Ab-
schnitt über Brünhilds Bezwingung, in der Auffassung Kriemhilds,
die mit dem Erlöschen der heidnischen Aultässung zu einem
Scheusal herabsinken muste.^*^) — Auch eine noch weiter gehende
Umänderung der Sage rührt von Konrad her: die Gleichsetzung
von Nibelungen und Burgunden, von Etzel (Atli) und Attila;
denn noch im Waltharius sind Günther und Hagen Franken, das
fränkische Reich von dem burgundischen wohl unterschieden.
Etzel aber ist der historische Hunenkönig nicht von Anfang au
gewesen; er ist eine mythische Figur, die erst später mit der
historischen Attilas gleich gesetzt wurde; auch diss ist Kourads
Werk.")
Auch über die jüngeren Dichter, die ümarbeiter von
Konrads Werk, stellt Holtzmann Vermuthungen auf. Ueber den
54) S. Klage 1734 f.
55) [Vgl. aucli Fischer S. S — 12.]
50) [Und herabsank, zumal in der späteren vulgären Auffassung; s.
Dressel, Char. Kr. S. 4.]
57) [Diese Ansicht Holtzmanns ist durch Mülleuhoös Forschungen, be-
sonders durch die Nachrichten über Attilas Tod, die so eng mit der Nib.-
Sage zusammenhängen, genügend .widerlegt.]
176 I- Die Entstehung des Nibelungenliedes.
des Sachsenkriegs und den des Bitcrolf lässt sich nichts Weiteres
beibringen, als dass sie vielleicht identisch sind; mehr über
den Dichter der Klage, der zugleich Umarbeiter des Biterolf
ist. AVie oben bemerkt, vermuthet Holtzmann als Verfasser
Rudolf von Hohenems. Seine Beweise sind folgende. Die
Klage ist im Versbau so untadelhaft wie die anerkannten Ge-
dichte Rudolfs; im Reim ist sie minder streng. Diss lässt sich
erklären, wenn er die Klage längere Zeit vor seinen anderen
Gedichten schrieb, ehe er durch Gottfrieds Darstellungsweise
beeinflusst war. Die Klage müste also vor dem Gerhard ge-
dichtet sein, der vor 1220 fällt. Dass er schon vor dem Gerhard
Dichtungen geschrieben hatte, sagt er selbst:
ich hun daher in mitum tiujen
leifler dicke vil (jcloijen
mit die Utile hetroyen
mit triKjelichen nxvren.
Rudolfs erhaltene Werke sind alle geschichtlichen, ritterlichen
oder kirchlichen Inhalts; jene Andeutung Hesse sich wohl auf
deutsche Heldendichtung beziehen.
Spricht somit nichts gegen Rudolf als den Verfasser der
Klage, so sprechen mehrere Uebereinstimmungen''*) in selteneren
Ausdrücken für die Identität I)eider, um so mehr, als im All-
gemeinen der Stil der Klage von dem der späteren Werke, der
ganz von Gottfrieds Diction beherrscht ist, weit verschieden ist.''")
5S) Besonders die beiderseitige Benützung des Freidank [s. dagegen Franz
Pfeiffer, ..Ueber Freidank-, in ,.Freie Forschung" S. 1G3 -219].
59) [Nur in der Note mag hier W. Gärtners Theorie (1857) berührt
werden, die keinen ■wissenschaftlichen Werth und nur deswegen Interesse
hat, weU sie sich in ihrem Hauptpuncte an die Iloltzmanns anschhesst. —
Gärtner hält, wie Holtzmann, die Nachricht Hunds für wahr. Er fand in
Göttweih in ganz späten Excerptcn Bruchstücke eines erzählenden Gedichts
über die Ungarnkämpfe des lü. Jahrhunderts. Diese hielt er für Stellen
aus Konrads "Werke, welche aber in einer Ueberarbeitung vorlägen. Er be-
hauptete, dass diese Fragmente aus einer dem N. L. entsprechenden Bearbei-
tung seien, dass somit das ganze Gedicht Konrads 10(30 — 70 von Konrad von
Göttweih (S. Holtzmann, Unters. 13:5 und s. o. S. 172) bearbeitet worden sei.
Die Göttweiher Fragmeute, die Evangelien, Hartmann d. A. und das N. L.
lägen der Sprache nach so nahe bei einander, dass sie öch nicht scheiden
Hessen. Auch die Kaiserchronik soll die im 10. Jahrhundert gedichtete, im
11. überarbeitete, in den Göttw. Fragm. zum Theil erhaltene Geschichte der
Hünen benutzt haben. — Für die Unwissenschaftlichkeit des "Werks beweist
unter Anderem die Behauptung, dass die beiden Rüdiger historisch seien.
dass die Mark 912 bis zur Leitha gereicht habe. — S. Lit. Ctr. Bl. 1S5R, S04ff.)
3. Die historischen Verhältnisse ii. Vorläufer des Nibelungenliedes. 177
45.
Holtzmamis Untersuchungeu haben auch in diesem Pimcte,
wie in der Handschriftenfrage, manehfacheu Anklang gefimdcu.
Zwei der wesentlicheren Puncte jedoch waren es, welche von
Anfang an eine fast allgemeine Opposition erregten: die lateinische
Abfassung von Konrads Gedicht und der grössere Umfang des-
selben von der Huneusage bis zur Lechschlacht. Am schärfsten
und präcisesteu sind diese zwei Puncte von *
Ernst Ludwig Dümmler
untersucht worden.')
Dümmler glaubt, dass das Gedicht Konrads vollständig er-
wiesen sei, weil es unmöglich wäre, die Einmischung Piligrims
in die Sage sich anders zu denken.^)
Aber es ist falsch, das Gedicht Konrads zu einem deutschen
stempeln zu wollen, gegenüber dem Wortlaut der Klage, welche
mit den latinischen buochstaben und dem (jetihtet man ez sit
lud (liehe in tinscher zvngen unverkennbar einen Gegensatz
beabsichtigt. Metellus von Tegerusee und Saxo Grammaticus
bezeugen allerdings, dass es schon am Anfange des zwölften
Jahrhunderts deutsche Lieder von den Nibelungen gab; aber
die Archaismen des Nibelungenlieds verlangen keineswegs eine
Zurückdatierung bis in das zehnte Jahrhundert, und die Nach-
richten des Metellus und Saxo lassen sich auch auf Volkslieder
oder auf die deutschen Umdichtuugeu des lateinischen Texts
beziehen, aus denen die Klage geschöpft hat.
Ebenso unhaltbar wie die Annahme eines deutscheu Ge-
dichts ist die, dass dasselbe die Geschichte der Ungarn bis zur
Lechschlacht enthalten habe. Die historischen Zeugnisse dafür
gehen zunächst von dem Markgrafen Rüdiger aus. Derselbe
wurde in der Sage allmählich aus einem mythischen Wesen eine
historische Persönlichkeit, ein wirklicher, aber seiner Lebenszeit
nach unbestimmbarer Markgraf von Oesterreich. Daher melden
zwei Schriftsteller aus dem Ende des zwölften Jahrhunderts,
Leopold, der erste Babenberger, sei der erste Markgraf nach
Rüdiger gewesen, worin über Rüdigers Zeit noch nichts liegt.
1) Im Anhang zu ..Piligrim von Passau". 1S54; S. S5 — 9S.
2) [S. dagegen Zarucke, Beitr. 192, not. 27; doch wird Holtzmann Recht
behalten müssen ; sehr wichtig ist die Sache nicht.]
Fischer, NibelungenlieJ. '-
178 I. Bie Entstehung des Nibelungenliedes.
Erst Thomas Ebendorffer von Haselbach (f 1404) lässt ihn 928
sterben und macht Leopold zu seinem direeten Nachfolger; ebenso
Vitus Arnpeckh. Von da an behauptete sich Rüdiger in der
Geschichte. Johann Thurmayr (Aventin) nennt ihn in seiner
zwischen 1512 und 1534 verfassten bairischen Chronik einen
sehr streitbaren und in deutschen Liedern gefeierten Markgrafen,
den Arnulf von Baiern über das Land unter der Enns wider
die Ungarn gesetzt habe. Da Aventin als seine Quelle Metellus
von Tegernsee nennt und da Arnpeckh Rüdiger unter Heinrich I.
setzt, so ist Aventins Nachricht als Conil)ination aus Metellus
und Arnpeckh anzusehen; es ist diss noch nicht die kühnste
Combination bei Aventin. Kaspar Bruschius, ein unzuverlässiger
Schriftsteller, erwähnt an zwei Stellen seiner 1553 erschienenen
Geschichte Lorchs und Passaus den Rüdiger. Einmal schreibt
er Arnpeckh aus, das anderemal hat er folgende Nachricht:
Autor fuit {Pi/efjrhius) cuidam sui s(ecn/( re/'sijlcalor/ Germaniro,
ut is rhijthmis (jesta Avarorum et llunorum ^ Auslriam supj'ü-
A?iasiana?n tum teiientium et omnem nciniam late deprcedantium
((fuos Giijantes, nostrate l/'nffua Reckhen et Riesen,
I' 0 car i fecit) celebraret, et quumodo lue hurbara' (jenles ah
OthoJie Mcifpio proßi<)(il(v et vicl(e essent. — Dicilur natus fiiisse
Pi'le?'(jmu.s' ex familia Roderici seu Rud/fjen de Prfcc/ara hodie
Pechlani, ejus qui Avar/'s et Hunis in Germanium inducenti
suppetias tulisse, in eodetn et similihus poematihus leijitur (der
letztere Satz nach Hund, welcher Bruschius fast wörtlich aus-
schreibt). — Der höchst unzuverlässige Lazius, der sich allerlei
Fälschungen erlaubt hat, benutzte in seinem Buche de (jentium
aliquot miyruiionibus (1555) eine Pergamenthandschrift der
Nibelungen, die er unter sehr verschiedenen wunderliclien Titeln
citiert. Einmal sagt er, dass darin der Krieg Dietrichs mit den
Hünen beschrieben sei, ein andermal lässt er darin Dietrichs
Thaten besungen werden, ein drittesmal die Geschichte Attilas
und Dietrichs. Auch Nachrichten des Keza bringt er als aus
dem Nibelungenliede geschimpft bei. Rüdiger von Pechlarn ist
ihm der Sohn des um 900 lebenden Markgrafen Arbo. Als
Heinrich L den Herzog Arnulf den Bösen von Baiern verjagte,
unterstützte Rüdiger diesen als treuer Vasalle. Er zog sich da-
durch des Kaisers Ungnade zu, wurde vertriel)en und starb mit
seinem Herrn bei den Ungarn in der Verbannung. Aus seinem
Stamme soll Piligrim entsprossen sein. Lazius führt einige nicht
zusammengehörige Verse aus dem Nibelungenlied an, sowie die
3. Die historischeil Verhältnisse u. Vorläufer des Nibelungenliedes. 17ü
schon erwähnten vier Verse, die in demselben sich gar nicht
finden, in welchen, soweit sie verständlich sind, Rüdiger als ein
zu den Ungarn vertriebener Gegner Heinrichs erscheint, Dietrich
oder Tetricus ist nach Lazius Rüdigers Nachfolger in der Mark,
und er beruft sich dafür auf Aventinus.
Lazius fand oftenbar bei Aventin die Einsetzung Rüdigers
durch Arnulf; daraus erschloss er ihre Bundesgenossenschaft
gegen Heinrich I. und Rüdigers Flucht nach Ungarn, woraus er
es sich erklärte, dass Rüdiger in den Nibelungen als Verbannter
bei Etzel wohnt. In diesem Sinne dichtete er jene vier Verse
hinzu. Die Erwähnung des „Tetricus" kann nur aus Metellus
stammen. Weil bei diesem Rogerius und Tetricus neben ein-
ander genannt sind, so hielt Lazius diesen für den Nachfolger
des Ersteren. Die Verwandtschaft Piligrims mit Rüdiger stammt
wohl aus den Nibelungen, die Lazius gröstentheils nicht verstand,
so dass er von den Burgunden leicht auf Rüdiger gerathen
konnte. Jedenfalls dürfen aus jenen vier Zeilen keine histori-
schen Schlüsse gezogen werden.
Lazius beschuldigt seinen Vorgänger Bruschius, dass der-
selbe ihm seine Abhandlung über, Lorch entwendet und mit
einigen Zusätzen vermehrt unter eigenem Namen herausgegeben
habe. Ist diss nicht wörtlich wahr, so ist doch wahrscheinlich,
dass Bruschius Vieles stillschweigend aus Lazius entlehnt hat.
Dazu gehört ohne Zweifel die angeführte Stelle bei Bruschius.
Darauf weist hin, dass Piligrim Rüdigers Nachkomme genannt,
dieser als Bundesgenosse Arnulfs bezeichnet und auf das
Nibelungenlied Bezug genommen wird. Denn dieses ist offenbar
mit den deutschen Rhythmen über die Thaten der Hünen ge-
meint. Lazius las in seiner Handschrift die Schlussworte der
Klage, die er nur hall) verstand, und bildete sich aus ihnen
jene Nachricht. Da er unser Nibelungenlied für das unter
Piligrim geschriebene hielt, so muste dieses ein deutsches Gedicht
sein; da darin von der yiioten recken not die Rede war (Klage
2150), so hielt er Recken und Hünen für identisch, und da er
Rüdiger im Anschluss an Aventin in das zehnte Jahrhundert
setzt, so fügte er einige Phantasieen aus eigenem Kopfe hinzu ^),
?t Dazu gehört besonders die Nachricht von der Lechschlacht als einer
in dem Gedichte enthaltenen Begebenheit. [Dümmler (S. 194) scheint (nach
Lachmanu, Ausg. VIII) auf dieHs. a als Quelle hinweisen zu wollen, welche
die Geschichte Kriemhilds unter Otto den Grossen setzen „solle"; allein diss
12*
1^0 I. Die Entstehung des Nibelungenliedes.
die ganz zu seinem erwähnten „Versuche in der Kibelungen-
strophe"') passen.
Hund von Sulzenmoos endlich benutzte das "Werk des
Bruschius und schrieb dasselbe gröstentheils wörtlich ab, so
auch die Notiz über Piligrim und über das Gedicht von den Hünen.
Er sagt, dass er dieses selbst auf Prüun an der Altmühl ge-
sehen und 1575 an die Bibliothek Alberts von Baiern geschenkt
habe. Offenbar war dieses von ihm besichtigte Buch eine Hand-
schrift der Nibelungen und zwar die Handschrift B.'") Dieselbe
war in einem für ihn gewiss dunkeln Deutsch geschrieben; da
von den Hünen, von Rüdiger und Piligrim darin die Rede war,
so zweifelte er nicht, das von Bruschius erwähnte Gedicht darin
zu besitzen.^)
Wenn Holtzmann für die Echtheit von Hunds Nachricht
anführt, dass auch bei Simon Keza Etzels Geschichte mit der
ungarischen vermischt sei, so ist diss insofern unrichtig, als Keza
den Zwischenraum eines halben Jahrhunderts zwischen beiden
vollständig anerkennt.')
Es muss mithin bei der Entstehungsfrage der Nibelungen
von den späten, trüben Quellen des sechzehnten Jahrhunderts
ganz abgesehen werden; aber die Nachrichten der Klage über
Piligrim sind jedenfalls als historisch l)egründet zu l)etrachten.
46.
' Auf einem anderen Wege hat
Friedrich Zarncke
Holtzmanns Annahme einer Aufzeichnung der Nibelungensage
im zehnten Jahrhundert zu bekräftigen gesucht'), aber auch er
nimmt eine lateinische Aufzeichnung an.
ist falsch; die Prosaeinleitung in a setzt die Sache in's achte Jahrhundert
und spricht von Otto nicht. S. Dümmler S. 190.]
4) S. Lachmann, Ausg. VIII.
5) [S. Zarncke, Ausg. XIX; Bartsch, Ausg. VII.]
6) Jedenfalls fällt die Annahme, dass Hunds Nachricht über das alte
Gedicht historisch sei, dadurch, dass Hund zugleich den Piligrim als Nach-
kommen Rüdigers bezeichnet [wenn auch das ?ia(iis ex familia B. diss nicht
bestimmt beweist]. Beide Angaben sind historisch gleich werthlos.
7) [Die Frage ist für uns unwesentlich.]
l) Zarncke, Beiträge No. "V^ S. lOS— 194.
3. Die historischeu Verhältnisse u. Vorläufer des Nibelungenliedes. ISl
Holtzmanns historisch-geographische Beweise tiir diese An-
nahme sind unrichtig. Denn einmal wurde schon um 950 die
Ostmark wider deutsch, sodann konnte die Enns als Grenze
zwischen Deutschland und Hunenland nicht bloss in einer der
historischen Thatsache noch näher stehenden Zeit genannt
werden. Denn sie war über 150 Jahre die Grenze zwischen
Avaren und Baiern und wurde es mit dem 907 erfolgten Vor-
dringen der Ungarn wider auf ein halbes Jahrhundert, konnte
sich somit als Grenze zwischen den Deutschen und den Asiaten
(die ja alle als Hünen bezeichnet werden) lange in der Erinnerung
behaupten.
Dennoch lassen sich aus den östlichen Grenzbestimmungen
des Nibelungenlieds, wenn man alle zusammennimmt, wohl
Schlüsse auf eine Aufzeichnung im zehnten Jahrhundert ziehen.
Das Xilielungenlied kennt im Osten folgende Grenzen:
1) an der Enns beginnt, Etzels Gebiet mit Rüdigers
Mark;
2) bei Melk hört diese auf und beginnt das Osterland;
3) bei H a i m b u r g beginnt das eigentliche H u n e n 1 a n d.^)
Diese drei Grenzen haben miteinander nie existiert; es
muss also hier eine Combination geschichtlicher Thatsachen
zu Grunde liegen.
Zur karolingischen Zeit war der Wienerwald die Grenze
zwischen mar-ca orie/italis und Piuinonia. Eine Provincial-
grenze zwischen Enns und Wienerwald hat nie existiert.
Das Nibelungenlied gibt uns genau die Grenze des Passauer
Sprengeis an, welcher von Pledelingen (nur in C) bis hinter
Melk reicht. Die Stelle, wo das Nibelungenlied das Osterland
beginnen lässt, war wirklich zwischen 950 und 9S3 etwa die
Ostgrenze des Passauer Bisthums und damit die östliche Grenze
der Mark unter Burchard und den Bischöfen Adalbert und
Piligrim. Um 9S5 etwa w^urde durch den Markgrafen Luitbold
(Leopold) das Land zwischen Melk und dem Wienerwald zu
der Mark und damit zu dem Passauer Sprengel hinzu erobert.
Diss beweist eine Urkunde aus den Jahren 9S3 — 991, in welcher
lauter Orte zwischen Melk und Wien dem Passauer Bisthum
zugerechnet werden; somit war dieser Landstrich die neue
Errungenschaft der Deutschen. Jene Grenze zwischen Melk und
Mautern {Müturen) war also nie eine Provincialgrenze, wohl aber
2) [Vgl. für das Folgende Zarnckes Karte zu den ..Beiträgen".]
182 I- iJie Entstehung des Nibelungenliedes.
kurze Zeit Reielisgrenze. Sie wird in der Geschichte nie erwähnt
und muss aus urkundlichen Belegen mühsam erschlossen werden.
Es ist also gar keine Möglichkeit vorhanden, dass in s])Uteren
als gleichzeitigen Werken dieselhe genannt werden konnte. Es
muss also aus der Erwähnung derselben im Nibelungenliede,
die durch den Biterolf bestätigt wird, die Abfassung eines
Werks über die Nibelungensage um 98») gefolgert werden, nur dass
dieselbe nicht vor 984 gesetzt zu werden braucht, wie Holtz-
mann glaubt.
Zugleich enthält das Nibelungenlied einen bedeutenden
Widerspruch gegen die Geschichte. Der Verfasser um 980
konnte es nicht vergessen haben, dass, vielleicht noch zu seinen
Lebzeiten, die Ungarugrenze die Enns war, ebenso war ihm
dieser Fluss als alte Ostgrenze Deutschlands bekannt. Daher
muste die hunische Landesgrenze an diesen Fluss gesetzt
Averden. Das Land zwischen Enns und Mautern war aber schon
um SOO christlich, und der Verfasser konnte es sich nicht als
heidnisch denken; daher das Unding einer hunischen und zu-
gleich christlichen Mark, das Unding einer Frovincialgreuze
zwischen Melk und Mautern.
Eben dieses historische Unding scheint für den Dichter von
980 Quelle einer nochmaligen Confusion geworden zu sein. Zu
der christlichen Mark gehijrte auch der Traungau, der schon
unter den Karolingern mit ihr vereinig-t war. Bei dem Herein-
brechen der Ungarn im Jahre 9o7 wurde der Traungau nicht
mit unterworfen. Nach der Widereroberung der jMark durch die
Deutsehen Ijlieb wahrscheinlich der Traungau bei der Mark. —
Diese Confusion zeigt sich noch im Nil)elungenliede. Die West-
grenze der hunischen j\Iark ist hier die Enns, denn an dieser
wird Kriemhild von Götelind emi)tangen; zugleich aber hört
Baiern schon an der Traun auf, da hier (Str. 1242) ein kurz
widerholender Bericht über die Heise durch Baiern gegelien
wird. Diss ist die Folge davon, dass die christliche Mark an
der Traun, die nie ungarisch war, begann, die ungarische Be-
sitzung von 907 — 950 aber erst an der Enns.
Eine ganz ähnliche Accomodation an seine Zeitverhältnisse
machte der letzte Dichter des Nibelungenlieds.
In der lateinischen Redaction des zehnten Jahrhunderts
begann das eigentliche llunenland bei Mautern; das Land
westlich von Mautern (bezw. westlich vom Wienerwald, seit
dieser Grenze gegen Ungarn war) hiess Osfarrk/n s. Osterlmit^
3. Die historischen Verhältnisse u. VorlLuifer des Nibelungenliedes. 183
ein Name, der zuerst 99(5 begegnet, doch so, dass man seine
Gebräuchlichkeit erkennt. Was östlich davon lag, war dem
Verfasser im zehnten Jahrhundert einfach und schlechtweg
hunisch. Es lag aber seit 1043 die deutsch-ungarische Grenze
östlich von Haimburg, und seit 1156 war die Mark ein
Herzogthum mit der Hauptstadt Wien. Daher Hess der letzte
Dichter des Nil)elungenliedcs sein Hunenland erst unterhalb
Haimburg beginnen, schuf aber damit ein noch grösseres histori-
sches Unding als sein Vorgänger, einen Widerspruch, den ein
Dichter wohl aus seiner Vorlage herübernehmen, aber nicht
selbst erfinden konnte.
Es finden sich also in den geographischen Bestimmungen
des Nibelungenlieds Spuren von zwei Redactionen^), einer aus
dem Ende des zehnten und einer aus dem zwölften Jahrhundert)
47.
Moriz Thausing
hat einen anderen Weg eingeschlagen'), um für das ältere
deutsche Gedicht, das dem Nibelungenliede zu Grunde liegt,
eine genaue Datierung zu finden. Ausgehend von der Beobach-
tung, dass die Sage stets ihren Charakter verändere je nach
den Zeitverhältnissen, unter denen sie el)en Pflege finde, fragt
er, welches wohl die grossen Ereignisse seien, welche in Deutsch-
land die Sage aus den patriarchalischen Verhältnissen, die sie im
Norden noch habe, emporgehoben haben zu den welthistorischen,
in denen wir sie im Nibelungenliede sehen.-j Diese historischen
Ereignisse findet Thausing in den Ungarnkriegen Hein-
richs HL, dessen Grösse bereits von seinen Zeitgenossen hin-
länglich gewürdigt wurde.
Für diese These bringt Thausing mehrere Parallelen zwischen
dem Nibelungenlied und den Ereignissen der Ungarnkriege
Heinrichs HL bei.
3) Abgesehen von einer, die im 5. Jahrhundert anzusetzen ist. weil im
N. L. die Burgunden noch zu beiden Seiten des Rheins erscheinen.
4) Die letztgenannte wird mit unserem N. L. identisch sein.
1) ..Die Nibelungen in der Geschichte und Dichtung", in Pfeiffers Ger-
mania VI, S. 435—4.56.
2) [Allein Attila war (s. o.) von Anfang an auch in der Sage nur der
historische Hunenkönig.l
184 T- Die Entstehung des Nibelungenliedes.
Dass die Nibehmgen die Donau hinabzieben, kam gewiss
erst in die Sage, nachdem die grossen Scliaaren der bistoriscben
Ungarnstreiter diesen Weg gemacht hatten; es war ein junger
Burgundenkönig, der diese führte, und bei einer Waffenthat
werden die Burgunden vor allen genannt. — Aus der Hand-
schrift a wissen wir, dass Etzelenhnrc = Gran ist^), avo der
heilige Stephan seinen politischen und geistlichen Hauptsitz
hatte. — Etzels Fest findet an Pfingsten statt; an Pfingsten
(26 Mai) 1045 fand das einzige unblutige Fest statt, zu welchem
Heinrich HI. nach Stuhl weissenburg kam. — Wenn aber zeinen
sune iretulen der gröze jnort (jpsc/iach, so erinnert das deutlich
an die sehr bedeutende Schlacht von Menfö vom 4 auf den
5 Juli 1044, die einzige Schlacht jener Ungarnkriege, deren
Datum wir besitzen.") —
Der feige Charakter der Hünen im Nibelungenliede passt
weder auf die Hünen Attilas, noch auf die Ungarn der Lech-
schlacht, wohl aber vollständig auf die Ungarn des elften Jahr-
hunderts, die in ihrem Verfall noch alle Schwächen und Laster
der Halbcultur an sich tragen und weder Heiden noch Christen
sind". — Wenige Deutsche leisteten oft vielen Ungarn siegreiclien
Widerstand. So wollte 1044 König Ovo Heinrichs kleines Heer
in sein Land einziehen lassen, um es da zu verderben; allein
Heinrich hielt Ovos Gesandten lange auf, und so gewann er
den Kampf Aehnlich ist es, wenn Günther auf Hagens Kath
die Boten Etzels aufhält. — Der Graf der Ostmark spielt im
Nibelungenliede wie in der Geschichte die Vermittlerrolle;
Adalbert von Babenberg führte 1041 den entthronten Peter von
Ungarn an Heinrichs Hof; er schloss 1051 den Reichsfrieden mit
Andreas, welcher 1060 seine gefährdete Familie zu ihm nach
Melk flüchtete. Es ist jedoch im Nibelungenliede die Stellung
des Markgrafen versehol)en, indem die Mark hunisch ist, als was
sie dem unterrichteten Dichter wohl erscheinen konnte; denn
die Grenze schritt damals nach Osten vor. Uebrigens reicht
die Mark offenbar von Wien (Haimburg) bis zur Enns, wie die
historische Mark vor 1043. — Dass dem Nibelungendichter die
Ostmark in zwei Theile zerfällt, von denen bloss der östliche
Osterlant heisst, weist ebenfalls auf das elfte Jahrhundert hin.
3) [S. aber Zarncke, Ausg. 407 (sub ..Gran-).]
4) [Leider passt der Vergleich in der Hauptsache nicht: die Schlacht
bei Menfö war lür die Deutschen siegreich.]
3. Die historischen Verhältnisse u. Vorläufer des Nibehingenliedes. 1S5
Die Provincialgrenze bei Mautern hat nie existiert, wohl aber
gab es von iOA'A — lOöo eine besondere neuere Mark zwischen
Fischament, Thaya und Marcli nördlich, zwischen Fischa und
Leitha südlich von der Donau.'^) — Pechlarn spielt in der Ge-
schichte eine ähnliche Rolle, wie im Nil)clungenliede; Heinrich III.
hielt sich 1043 auf seinem Ungarnzuge daselbst auf. — 1045
entgieng- Heinrieh mit Noth einer Lebensgefahr, indem der Ööllcr
eines Hauses einstürzte und u. a. auch liischof Bruno von Würz-
burg umkam, dem zuvor auf der Donau ein Gespenst seinen
Tod prophezeit hatte. Diss erinnert an die Meerweiber und den
Kaplan des Xibehmgenliedes.*') — Auch das viele Gold der
Nibelungensage findet sich in den Ungarnkriegen Heinrichs HI.
wider.') — Eine Parallele zu dem Saalbrande des Nil^elungen-
lieds, der den anderen Darstellungen der Sage fehlt, bietet z. B.
die Beschiessung Haimburgs durch Brandgeschosse von Seiten
der Ungarn. — Von der Ueberlegenheit der Deutschen über die
Ungarn ist ein Beispiel die Schlacht an den Klausen zwischen
Bela und dem in Heinrichs Schutze stehenden Andreas. Für
das Ueberleben Günthers und Hagens bietet sich eine Parallele
in der uemlichen Schlacht, indem Wilhelm von Thüringen und
Boto von Baiern sich nach Vernichtung des ganzen Heeres
allein kämpfend auf einem Hügel hielten, bis die Ungarn unver-
richteter »Sache abzogen. Volkslieder, welche in jener Zeit
über solche Helden, wie z. B. über Aribo, Botos Ahn gesungen
wurden, mochten auf den Dichter des Nibelungenlieds mit ein-
wirken.**)
Dem allem nach kann dass Nibelungenlied nicht vor die
Ungarnkriege Heinrichs des Dritten gerückt werden. Anderer-
seits ergibt sich ein terminus ad quem aus der Stelle des Metellus
von Tegernsee, da man die Erzählung Saxos eher als Fiction
5) [Trotzdem war Zarncke berechtigt, aus der im Nibelungenliede vor-
handenen Provincialgrenze bei Mautern auf eine Abfassung im 10. Jahr-
hundert zu schliessen; denn nicht nur gibt das N. L. diese Gi'enze als
Grenze des Passauer Sprengeis, sondern die Westgrenze der neueren Mark
fällt keineswegs mit der von Mautern zusammen.]
6) [Aber der Ausgang ist ein verschiedener, wie oben not. 4.1
7) [Doch hat das Nibelungengold entschieden mythischen Charakter.]
S) [Auch die 4 Verse bei Lazius lässt Thausing echt sein und aus dem
Volksgesang in das N. L. eindringen; der hewnisch )nan sei der Empörer
Konrad von Baiern, Kaiser Heinrich natürlich Heinrich HI. Die Ansicht^
dass Lazius die Zeilen gefertigt habe, scheint doch mehr plausibel.]
186 I. Die Entstehung des Nibelungenliedes.
betrachten mag. Sichere Grenzen smd also 1050 und 11 .")(».
Diese können verengert werden, wenn man, was ganz berechtigt
ist, das Nibelungenlied erst nach der vollständigen Beendigung
der Ungarnkriege setzt und Saxos Nachricht als echt anerkennt^);
dadurch ergibt sich ein Spielraum von 1070 — 1130. Da aber
die Einwirkung der Heldenzeit auf Volk, Sage und Dichter
kaum eine unmittelbare sein kann und da Saxos Nachricht doch
sehr zweifelhaft ist, so wird das Nibelungenlied bald nach 110(»
entstanden zu denken sein, angeregt durch die grosse Bewegung
der Ungarnkriege, wie die romanische und die romanisierende
deutsche Poesie durch die der Kreuzzüge.
48.
Kritik und Resultate.
Was Holtzmann über das alte Gedicht von den Nibelungen
gesagt hat, dürfen wir der Hauptsache nach acceptieren, dass
nemlich eine erste Aufzeichnung des Stoffes auf Veranlassung
Piligrims von Passau durch dessen Schreiber Konrad in dem
letzten Viertel des zehnten Jahrhunders erfolgt sei. Die Angabe
der Klage darül)er ist an sich unverdächtig, ihr widerspricht
nichts, ja sie bietet, wie Zarncke nachgewiesen hat, eine treff-
liche Erklärung für die Verworrenheit der Grenzbestimmungen
des Hunenlands im Nibelungenliede. Da ausserdem Piligrim
und Gero, letzterer wenigstens wahrscheinlich, in das Gedicht
verflochten sind, so bestätigt diss eine Abfassung im zehnten
Jahrhundert, da beide Männer jedenfalls nicht berühmt genug
waren, um später noch Eingang in die Sage finden zu können.
Aber die Ansichten Holtzmanns über die B e s c h a f f e n h e i t
dieses Gedichts aus dem zehnten Jahrhundert sind ebenso ver-
fehlt, als die Annahme einer Aufzeichnung im zehnten Jahr-
hundert gesichert ist.
Dass es überhaupt ein Gedicht gewesen, was Konrad
schrieb, nicht Prosa, wie Thausing imd Pfeiffer glauben, ist
nicht bewiesen ; doch ist diese Frage von untergeordneter Natur.
9) [Saxos Nachricht, auch wenn sie historisch ist, ist keine Instanz; es
konnte noch andere Aufzeichnungen geben.]
3. Die liistorischeu Verhältnisse u. Vorlaufer des Nibelungenliedes. 187
Dagegen ist eine Cardinalfrage die, oh das Werk wirklich,
wie Holtzmann will, deutsch verfasst gewesen sei. Zu den
Gründen, welche Dümmler dagegen ])eibringt, kihnite noch der
hinzugefügt werden, dass wir aus dem zehnten Jahrhundert kein
deutsches Ei)os kennen, wohl aber ein lateinisches, den Wal-
tharius; doch ist dieser Beweis ungenügend. Aber die Annahme
eines deutschen Werks aus dem zehnten Jahrhundert ist auch
durch gar nichts wünschenswerth gemacht oder gar gefordert.
Die von Holtzmann angenommenen Verschiedenheiten in Versbau,
Reim und Sprache weisen, soweit sie wirklich vorhanden sind,
nicht über das zwölfte Jahrhundert zurück'.) Die Nachricht des
Saxo Grammaticus beweist nichts, da sie sich auch auf ein
anderes deutsches Gedicht aus späterer Zeit beziehen kann;
ebenso wenig bezieht sich die Stelle bei Metellus uothwendig
auf eine ältere Gestalt des Nibelungenliedes.") Ist somit kein
Grund vorhanden, ein deutsches Gedicht Konrads anzunehmen,
spricht -vielmehr alles für ein lateinisches, so fallen auch die
Untersuchungen über die Strophe und ihre Anwendung oder
Nichtanwendung durch Konrad als werthlos weg.
Was den Inhalt des Konradisch'en Werks betrifft, so hat
Dümmler wohl vollständig genügend nachgewiesen, dass der
Nachricht des Bruschius und Hund keine historische Glaub-
würdigkeit beizumessen ist. Die Ausscheidungen im Einzelnen
des Gedichts sind ziemlich schlecht begründet. In den Noten
50, 51, 52 zu § 44 sind die Stellen aus Fischers „Nibelungen-
lied oder Nibelungenlieder?" citiert, welche nach unserer Meinung
die stärksten Anstände Holtzmanns befriedigend gehoben haben;
die ü])rigen Ausscheidungen sind schwach genug begründet.
Damit fiele für uns der Dichter des Sachsenkriegs als un-
uöthig weg. Was die Identification des Verfassers der Klage mit
dem Umarbeiter des Biterolfs betrifft, so hat dieselbe für die
Nibelungenfrage keine Bedeutung; ebenso wenig die Ansiclit,
dass Rudolf von Ems Verfasser beider sei, welche ohnehin
schwach begründet ist und dadurch zweifelhaft oder vielmehr
unmöglich wird, dass, wie die Haudschriftenfrage beweist, das
1) Heber n/wan und wa'tüch s. schon oben, § 44, not. 2S. 30. S. im
Ganzen die Notizen Bartschs. - üeber Holtzmanns Ableitung des Kibelungen-
verses s. u. Pfeiffer.
2) Wohl aber kann sie, wenn aus anderen G-ründen das N. L. vor 1160
gesetzt wird, darauf bezogen werden; so Bartsch, Unters. 363.
188 I- Die Entstehung des Nibelungenliedes.
Original der beiden Bearbeitungen der Klage um 11 SO fallen
riiuss, so dass Rudolf, der nach 1250 starb, auch wenn er die
Klage mit nur 20 Jahren gedichtet hätte — ein für ein solches
Gedicht doch gewiss zu junges Alter — , über 90 Jahre alt
geworden sein müste.
Was Holtzmann über das Epos und seine Fortpflanzung
sagt, geht die Xibelungenfrage direct nichts an; wohl aber die
P>ehauptung, dass Konrad zuerst Xibehmgen und Burgunden
identificiert habe. Die Her])eiziehung des Waltharius beweist
nichts; dass dieser die Nibelungen Franken nennt, mag daher
rühren, dass sich der Verfasser einen Burgunden nicht in Worms
denken konnte. Im Uebrigen s. Müllenhoft', Nibeluugensage (§ 27).
Was Zarnckes Ausführungen betriflt"t, so scheinen uns seine
Beweise ganz treffend zu sein, und seine Resultate stimmen mit
den sonst vorhandenen Uberein.
Thausing endlich hat allerdings mit Recht bemerkt, dass
eine Wideraufnahme des Xibelungenstofifs gerade nach den
Ungarnkriegen Heinrichs III. am besten zu begreifen sei. Wir
müssen vorderhand dahingestellt sein lassen, ob seine ungefähre
Datierung des Nibelungenlieds, aus dem das unsere geschöpft
hat, richtig sei, weil wir noch nicht entscheiden können, ob
nicht gerade unser Nibelungenlied in eine ziemlich höliere Zeit
hinaufreicht, als um 1170 wohin wir die Vorlage der beiden Text-
})earbeitungen setzten. Nur einen schon von Zarncke berührten
Punct können wir schon hier berühren: unser Nibelungenlied
muss jedenfalls nach 1130 verfasst sein, denn im Liede tritt
(Str. 2008; 2009; in C auch 1968) Irnfrit von Thüringen als
Landgraf auf , wozu die Herren von Thüringen im Jahre 1130
zuerst feierlich erklärt wurden. Da nun nach Thausings An-
nahme die ältere Vorlage des Nibelungenlieds nach 11 Od anzu-
setzen ist, so wii'd dieselbe, wenn das Nibelungenlied selbst
nicht lange nach 1130 fällt, mit diesem in eins zusammenfallen.
Die Öpecialvergleichung der Ungarnkriege Heinrichs HI. mit
den Begebenheiten des Nibelungenlieds ist zwar in einzelnen i
Puncten frappant, beweist aber jedenfalls nichts direct; sie mag |
ein wirkliches, genetisches Verhältnis zwischen Ungarnkriegen J
und Nibelungenlied darstellen, aber diss wird nur dann anzu- \
nehmen sein, wenn die übrigen sichergestellten Zeitverhältnisse i
dazu stimmen (was allerdings der Fall ist). ^
Ein Punct in Thausings Untersuchung ist jedenfalls ver- ;J
fehlt: die Annahme, dass erst die Ungarnkriege des elften Jahr- '\
3. Die historischen Verhältnisse u. Vorläufer des Nibelungenliedes. 189
liunderts die Nibelimgeiisage in ihre welthistorischcu Verhältnisse
emporgehoben hätten. Denn nicht nur ist tiir uns bewiesen, dass
Attihi von Anfang- an auch in der Sage der welthistorische
Huuenkönig war; die Anregung der Sage durch die Ungarnkriege
ist schwer zu begreifen, wenn nicht schon vor diesen die Sage
von einem Vernichtuugskampfe zwischen Burgunden und Hünen
berichtete. War diss aber der Fall, so war damit die Sage
schon von Anfang an in welthistorischen Verhältnissen gestanden,
und nur das lebendige, der Gegenwart entlehnte Colorit, einzelne
grosse Züge des Vernichtungskampfes, sowie das ganze warme
Interesse des Dichters an seiner Sage, besonders seine Meister-
schaft in der Schilderung der letzten Mordscenen, dürfen wir
als eine Erwerbung aus der nationalen Erhebung des elften
Jahrhunderts betrachten.
f
Zweiter Tlieil.
Der Verfasser des Mteliiiigenliedes.
A. Die vorhandenen Theorieen.
49.
Nicht lauge war das Nibelung-eiilied aufgefunden, so fragte
man von verschiedenen Seiten nach dem Verfasser desselben.
Das gröste deutsche Epos wollte man nicht herrenlos lassen.
Man rieth daher auf verschiedene mittelalterliche Dichter als
Verfasser, auf Heinrich von Ofterdingen, Wolfram von Eschen-
bach, AValther von der Vogelweide, Rudolf von Ems u. m. a.')
Aber man kam auf diesem Wege nicht weit. Wissenschaft-
liche Begründung hatte keine dieser Muthmassungen, welche alle
auf den Verfasser des Liedes mehr gerathen als geschlossen
haben. Der Grund aber, warum man darüber nicht hinauskam,
war der, dass durch Lachmanns Theorie überhaupt der Ge-
danke an eine einheitliche Abfassung, einen wirklichen Verfasser
des Gedichts für längere Zeit aus der wissenschaftlichen Welt
verbannt war.
50.
Lachmanns Theorie haben wir oben bei Gelegenheit der
Handschriftenfrage') kurz berührt; hier soll eine etwas ausführ-
lichere Darstellung derselben gegeben werden. Schon im Jahr
1816, als die Handschrift Ä durch die Myllerische Ausgabe nur
für den ersten Theil des Liedes publiciert war, schrieb Lach-
mauu seine gi'undlegende kleme Schrift „ Ueber die ursprüngliche
Gestalt des Gedichts von der Nibelungen Noth".^) Diese sucht
die von Friedrich August Wolf für die homerischen Gedichte
1) S. die Zusammenstellung bei K. Vollmöller, Küreuberg und die
Nibelungen S. 5 f.
1) S. § 5 (S. 8—11).
2) Berlin, bei Ferdinand Dümmler ISlü.
Fischer, Nibelungenlied. 13
194 n. Der Verfasser des Nibeluiigeuliedes.
angebahnte höhere Kritik, welche Lachmann selbst nach Abscliluss
seiner Nibelungenstudien tiir die Ilias im Einzelnen ausführte^),
auch beim Nibelungenliede in Anwendung zu bringen, die Ent-
stehung dieses aus einzelnen balladenartigen Volksliedern nach-
zuweisen. Das Werk ist für die Darstellung der Lachraannischen
Theorie auch jetzt noch, da die Anmerkungen Lachmanns diese
in einer weit mehr ins Einzelne ausgeführten Gestalt gegeben
haben, von Wichtigkeit, weil es allein eine systematische
Darstellung von Lachmanns Ansicht bietet, allein den Weg
zeigt, auf welchem er zu derselben gelangt ist. Sein Inhalt ist,
kurz dargestellt, folgender.
Ob das Gedicht in seiner jetzigen Gestalt ein künstliches
oder ein Volkslied sei, soll dahingestellt bleiben. Manches
deutet auf einen einzigen Verfasser, statt dessen freilich eben-
sowohl ein Ordner, LTeberarbeiter, Redactor angenommen werden
kann. Die Sprache, die Reinheit und zugleich Armut der Reime,
die schmucklosere Darstellung, die im ganzen Gedicht zer-
streuten Andeutungen der Zukunft, alles das beweist die ein-
heitliche Redaction des Ganzen, welches sich selbst als eins
gibt. Der gesammte Charakter des Gedichts gibt somit für die
Annahme mehrerer Verfasser keinen Anhalt, wohl aber die Unter-
suchung nach gewissen bestimmten kritischen Grundsätzen. —
Lachmann geht bei dieser Untersuchung von dem zweiten Theile
des Liedes aus.
Hier tinden sich einige Namen erwähnt, die nicht in das
Gedicht gehören^) ; es finden sich deutliche Anfänge von Liedern ^)^
3) Karl Lachmann, Betrachtungen über Homers Ilias. Mit Zusätzen von
M. Haupt. 1S47.
4) Lachmauu will alle Stelleu streichen, in welchen l'iligrim erwähnt
ist, s. auch seine Anm. S. 163; ebenso will er Volker erst da auftreten lassen,
wo er bedeutender in die Handlung eingreife [natürlich weil er da nicht so
leicht entfernt werden kann]; die Erwähnung des erst 11 (j2 erbauten AVieu
will Lachmann ebenfalls ausmerzen [s. dagegen Holtzmann, Unters. 127;
dass Wien erst 1162 erbaut worden sei, ist jedenfalls unrichtig].
5) So Str. 10S3; 1363; 15S2. ..Wir sind gewohnt dergleichen Anfänge
mitten in der Erzählung gerade für eine epische Manier zu halten; allein
man muss gestehen, dass diese Ansicht nur aus den Homerischen Gesängen
genommen ist, in denen gerade dasselbe neue Anheben und ein neues Ein-
führen schon bekannter Personen am Anfang der einzelneu Lieder sehr ge-
wöhnlich ist", Urspr. Gest. S. 25. [S. dagegen Fischer, Xib-Lied oder Nib.-
Lieder? S. HS.]
A. Die vorhandenen Theorieen, 195
daneben Widersprüche zwischen verschiedenen Stellen.') Wenn
alles dieses auf die Entstehung ans einzelnen Liedern deutet,
so wird dieser Schluss verstärkt durch die Vergleichung der
Klage. Dieselbe spricht von einem Buch, aus welchem sie
geschöpft habe; dieses Buch war aber nicht unser Nibelungen-
lied, welchem ja der ganze eigentliche Inhalt der Klage fehlt.')
Und nicht bloss der Inhalt derselben, sondern auch zwei wesentliche
ethische Motive der Klage gehen dem Liede ab; das eine, dass
nemlich die Katastrophe der Burgunden die Strate für den Raub
des Hortes gewesen sei, gehört allerdings der Erfindung des
Verfassers der Klage selbst an, das andere dagegen, dass Kriem-
hilds Treue gegen Siegfried ihre Handlungsweise bestimmt habe,
liat derselbe nach eigenem Geständnisse seiner schriftlichen
Quelle entnommen.**) Umgekehrt fehlt der Klage die Grund-
anschauung des Nibelungenliedes, wie liebe mit leide ze juiujest
Ionen kan (Nib. Str. 17, 3). Neben diesen Widersprüchen steht
aber eine bemerkbare Uebereinstimmung mehrerer Ausdrücke
und Gedanken in beiden Gedichten.^) Die Beziehungen der
Klage auf einzelne Lieder des zweiten Theils werden erst von
da an bestimmter und auf einzelne Puncte bezüglich, wo Etzel
die Burgunden empfängt. Mit Hilfe der Klage lassen sich nun
in diesem Theile des Nibelungenliedes Lieder ausscheiden, in-
dem, was der Klage unbekannt erscheint, ein eigenes Lied
gebildet haben muss, das aber, was sie kennt, auf Benutzung
theils der im Nibelungenliede selbst enthaltenen theils — wo
Einzelheiten in beiden Gedichten verschieden berichtet sind —
verwandter Lieder von Seiten des Verfassers der Klage hin-
deutet."') — Kennt aber diese weitaus den grösseren Theil von
6) So zwischen Str. 1575 und 1661. 16(;5. zwischen 1354-1359 und
13S0— 1396. 1725. 1726; auch Widerho hingen, wie 1402 und 1452.|
7) [Ein keineswegs stichhaltiger Grund; wir werden unten sehen, dass
Lachmann aus den allergeringsten Quisquilien, in denen vermöge der jedem
Dichter zu vindicierenden Freiheit N. L. und Klage abweichen, Schlüsse zu
ziehen sucht.]
S) Klage (Lm.) 2'>5: des buoches meiste 7' sprach daz e : dem ge-
triiven tuot untriwc ive u. s. w.
9) [Das Lachmannische Verzeichnis ist von Holtzmann (Unters. 106 if.)
und noch mehr von Bartsch (Unters. 339 if.) vervollständigt worden.)
10) [Ueber dieses Argument s. Fischer S. 114 f. Auch hier geht Lach-
raann kleinlich zu Werke, indem er vollständig bedeutungslose Differenzen
benützt, um dem Verfasser der Klage die Benutzung von einigen ..Liedern-
unseres N. L. abzusprechen; s. Holtzmann. Unters. 103 ff.]
13*
196 II- Der Verfasser des Nibelungenliedes.
dem Inhalte der zweiten Hälfte des Nibelungenlieds, so bat sie
von der ersten nur einen Auszug gekannt")
Aucb der erste Tbeil des Liedes, für dessen Composition
die Klage kein Zeugnis ablegt, ist aus mehreren unabhängigen
Liedern zusammengesetzt. Hier kommt der Kritik zu Hilfe
neben dem Umstände, dass hier die alte Form strenger beibe-
halten ist, hauptsächlich die Handschrift .1.'-) B hat dieselbe
überarbeitet und mit Zusätzen versehen, deren in den verschie-
denen Theilen des Gedichts verschieden viele sind, so zwar,
dass da, wo diese Zusätze minder zahlreich sind, sich dafür die
Hand des Ordners in ^i selbst um so deutlicher zeigt.'^) Ohne
näher auf das Einzelne einzugehen, sucht Lachmann auch hier
die einzelnen Lieder auszuscheiden.'^)
Was hier in den allgemeinsten Umrissen angedeutet war,
das suchte Lachmann in seinen Anmerkungen zum Nibelungen-
liede'^) im Einzelnen durchzuführen, ohne hier widerum auf die
allgemeinen Gesichtspuncte einzugehen. In diesen Anmerkungen
und in der 1841 erschienenen zweiten Auflage seiner Ausgabe
des Gedichts gab Lachmann die Resultate seiner Einzelkritik.
Dieselbe besteht im Wesentlichen in der Zerlegung des Nibe-
lungenliedes in einzelne Lieder und in der Ausscheidung einer
grossen Anzahl von Strophen. AVas die Herstellung der Einzel-
lieder betrifft, welche Lachmann um 1190 — 1210 gedichtet sein
lässt, so hat er deren zwanzig gefunden, die er alle mit ziemlich
evidenter Sicherheit ausgeschieden und gereinigt zu haben
11) [Auch hier verkennt Lacbmann, dass ein Dichter, der einen sagen-
mässigen Stoff behandelt, keineswegs so an denselben gebunden ist, dass er
alle Einzelheiten, die er kennt, in seiner Dichtung anzubringen hätte und
so anzubringen hätte, wie seine Vorlage dieselben geboten ; Lachmann begeht
den schon not. ' und 10 berührten Fehler, die Sage als eine ihre Bearbeiter
sklavenmässig beherrschende darzustellen, worüber s. Fischer S. 3U f. —
Ueber Nibelungenlied und Klage überhaupt, mit Beziehung auf Lachmann,
s. Holtzmann, Unters. 97 if. und Bartsch, Unters. 334 ff.]
12) [S. den Anfang dieses §, S. 193.]
13) [Offenbar meint Lachmann nichts anderes als die Menge in A
fehlender Strophen von Str. 32 1 - OGG und die Seltenheit dieser Differenz in
den anderen Theilen des Gedichts; daher s. o. § 15, S. 73.]
14) [Die Einzelausführung dieser Untersuchung kann hier um so mehr
wegbleiben, als sie mit den für Lachmauns Theorie und für die seiner Schule
maassgebendeu Resultaten der ..Anmerkungen" nicht immer übereinstimmt.]
\'r>) Zu den Nibelungen und zur Klage. Anmerkungen von Karl Lach-
mann. (Wörterbuch von Wilhelm Wackeruagel). Berlin, ßeimer 1S36.
A. Die vorhandenen Theorieen. 197
glaubt; die meisten derselben sind vollständig erhalten. An
eine Umarbeitung etwa der Reime durch denjenigen, welcher
diese Lieder zusammenschweisste , ist nicht 7a\ denken.'*) Dem
Alter nach stehen sieh alle zwanzig Lieder ziemlich nahe (s. o.);
doch sind in dieser Beziehung Unterschiede zu erkennen, deren
sich in Beziehung auf den dichterischen Werth und die i)oetische
Färbung der einzelnen Lieder nicht unerhebliche finden. ''')
Einige Lieder haben, schon ehe sie zu dem Ganzen vereinigt
wurden, das uns vorliegt, Zusätze und Fortsetzungen erhalten;
manche sind mit Bezug auf andere unserer Sammlung gedichtet,
einige mögen auch einen Verfasser haben. Die Sammlung der
Lieder und ihre Verbindung geschah um 1210; sie ist das Werk
eines ziemlich ungeschickten Mannes, welcher neben der Zu-
sammenstellung der Lieder sich auch noch Einschaltungen von
verschiedenem Umfonge gestattet hat, theils eben zum Zweck
der Verbindung der einzelnen Lieder unter einander, der Aus-
gleichung von Unebenheiten und Widersprüchen, theils ohne
diese Gründe, nur von dem Streben nach ausführlicherer und dem
Geiste der neuen, höfischen Poesie mehr entsprechender Dar-
stellung geleitet.'*)
16) Anmerkungen S. 5 oben. [Noch stärker Müllenhoff, Zur Gesch. der
Nib. Not 8. 901 f.: „Die einzelnen Lieder sind in ihrer pjigenthümlichkeit
so wohl erhalten, dass zu dem Verdacht, die Lieder wie sie uns vorliegen
möchten ihrer ursprünglichen Fassung ferner stehen als etwa ein Lied
Walthers oder ein höfisches Märe oder sonst ein schi'iftlich überliefertes
"Werk, auch gar kein Grund vorhanden ist und er gerade zu thöricht
heissen muss."]
17) Kennzeichen jüngeren Alters sind etwa folgende: breitere, minder
springende Darstellungsweise, weicher, lyrischer Ton, Vorliebe für Schilde-
rungen, insbesondere von Hoffesten u. dgl. ; Binnenreime , drei Hebungen in
der achten Halbzeile, Hinüberlaufen der Periode aus einer Strophe in die
andere (obwohl die drei letzteren Eigenschaften bei Lachmann mehr Kriterien
der Unechtheit sind). [Weiter ausgeführt sind diese Dinge bei Müllenhoft",
1. c. S. 901—931 (No. n.); s. auch W. Müller, üeber die Lieder von den
Nibelungen, S. .36— .iO.]
18) [Seine Kriterien der Unechtheit hat Lachmann in seinen Anmerkungen
zerstreut angedeutet; Müllenhoft" hat sie zusammengestellt (S. '»TS f.), und
mit seinen Worten mögen sie hier Platz finden; bemerkt sei nur, dass
Lachmann dieselben keineswegs consequent angewendet hat. Sie sind:
1) Zweisilbiger Auftact, wo sonst entschieden echte Strophen in
einem Liede oder Abschnitt ihn nicht kennen.
2) Gereimte Cäsuren.
3) Uebergang der Construction aus einer Strophe in die andere.
198 n. Der Verfasser des Nibelungenliedes.
Von diesen Gesiehtspuucteu ausgehend, hat Lachmann seine
zwanzig Lieder folgendermaas.sen ausgeschieden.
Das erste Lied'^) umfasst die Strophen 13 — IG. 20 — 22.
45—47. 49. 51—60. 68. 71—87. 102—109. 118—121. 123. 124.
126. 127. 129 und erzählt in denselben Kriemhilds Traum, Sieg-
frieds Jugend und seinen Entschluss zur Brautwerbung, seine
Ankunft in Worms, seinen Streit mit den Burgunden, dessen
Beilegung und Siegfrieds Unterhaltung am Wormser Hofe.
Das zweite Lied-°) erzählt in den Strophen 13S— 146.
151—158. 160. 162—169. 17.3—175. 178. 180—186. 188. 190.
191. 193. 194. 196. 198. 201 — 204. 206. 207. 209. 214 — 217.
219. 220. 222. 224. 226. 229. 235 — 237. 241 — 250. 257 — 259
den Sachsenkrieg und die Botschaft in Worms, sowie Siegfiieds
von den Burgunden vereitelten ^^ersuch zur Abreise.
Das dritte Lied^') beschreibt in den Strophen 264 — 268.
270—275. 277—290. 292—322 das Fest in Worms, die erste
Begegnung zwischen Siegfried und Kriemhild, die Entlassung
der Gefangenen; Siegfried, abermals willens abzureisen, bleibt
abermals um Kriemhilds willen in Worms.
Das vierte Lied hat . Zusätze verschiedenen Alters und
zwei Fortsetzungen erhalten.-^) Das Lied selbst gibt in Str. 325.
4) Verwirrung und Regellosigkeit im Gebrauch der Anrede, des
ihrzen und duzen.
ö) Nichtigkeit der vierten Zeile der Strophen.
fi) Armseliges Zusammenbetteln der Ausdrücke aus den nächst vor-
hergehenden oder nächst folgenden Strophen.
7) Massiges Anbringen der burgundischen Helden bloss in der Ab-
sicht damit sie nicht vergessen werden.
5) Wohlfeile Beschreibungen von Kleidern und Ritterfesten.
S. über diese Kriterien und ihre Anwendung durch Lachmann: Holtzmann,
Kampf etc. S. ;i5— 41; Fischer S. i;i— 20. — Ein weiteres Kriterium Lach-
manns, aber ebenfalls inconsequent angewendet, hat Holtzmann (Kampf etc. 41)
entdeckt: vier gleiche Reime in einer Strophe.]
19) Dasselbe kennzeichnet ein rascher und etwas herber Ton, kurze,
lebhafte Weise; mehrere Stellen deuten auf eine Fortsetzung, die aber fehlt.
20) Drei Hebungen in der achten Halbzeile und zweisilbigen Auftact
haben die echten Strophen nicht, ebenso wenig Constructionsübergänge.
21) Dieses in der Form sehr ausgebildete Lied (das aber drei Hebungen
in der letzten Halbzeile gestattet) hat um so weniger Gehalt, es ist ein
trauriges Beispiel entarteter Volkspoesie. Sein Verfasser kannte den Sachsen-
krieg, vielleicht auch das zweite Lied; dagegen fehlt jede Vorausdeutuug auf
Siegfrieds Tod.
22) Kein Lied hat so viele Zusätze erhalten wie dieses. Das Lied selbst
hat keinen Cäsurreim. Die Beziehungen auf die Zukunft reichen nicht weit.
A. Die vorhandenen Theorieen. 199
ri26. 328. 331—335. 365. 366. 368. 369. 371. 388. 389. 398. 401.
402. 404 — 407. 410. 411. 418. 425. 427 — 440. 442. 443 die
Erzählung der Gewinnung Brünhilds. Die erste Fortsetzun,»-,
Str. 444—480. 4SI— 494, erzählt, wie Brünhild ihre Mannen
beruft, Siegfried die seiuigen holt und wie alle zusammen von
Island abfahren. Die zweite Fortsetzung, Str. 496 — 538. 540.
542 — 552. 554 — 563. 566—570, l)ericlitct Siegfrieds Botschaft zu
Worms, Brünhilds Empfang, Siegfrieds und Kriemhilds Verlo])ung.
Im fünften Liede"^), welches die Strophen 572 575.
581—585. 587—589. 592—604. 608—613. 616. 617. 619—622.'
625—629 umfasst, wird erzählt, wie Brünhild, durch Günthers
Aufschlüsse über Siegfried nicht befriedigt, ihm ihre Minne ver-
sagt, aber von Siegfried bezwungen wird.
Das sechste Lied''); Str. 663—674. 676—689. 693. 694.
696—718. 721—726. 728. 730—733. 735—738. 740—742. 744—
770. 773—775. 777—801. 804. 805, erzählt die Einladung Sieg-
frieds und Kriemhilds nach Worrns, den Zank der Königinnen
Siegfrieds und Günthers Auseinandersetzung.
Das siebente Lied-') umfasst die Strophen 806. 808—810.
812. 813. 815—819. '820—836. 838—858 und erzählt Hagens
Verrath an Siegfried und die Verabredung der Jagd.
Das achte Lied-") erzählt in den Strophen 859. 871 — 876.
881 — 891. 899 — 904. 906. 909. 910. 913 — 922. 924 — 93o!
Die Verfasser der Zusätze beeifern sich, auf Siegfrieds frühere Bekanntschaft
mit Brünhild zu deuten, ohne von derselben etwas Bestimmtes sagen zu
können; der alte Dichter setzt dieselbe bloss voraus. Die Zusätze sind
verschiedenen Alters; die älteren sind Str. 327. 33ü. 338 — 341. 358. 360. 367.
370. 3b6. 387. 392-39.3. 399. 408. 409. 412—417. 419. 420-424. 426. 441;"
die jüngeren: 329. 336. 337. 342 — 3.57. 359. 361 -364. 372 — 3S5. 391. SOß!
397. Die erste Fortsetzung setzt das Lied schon mit einigen der älteren
Zusätze bereichert voraus. Sie besteht aus zwei Theilen, 444 — 4S0 und
481 — 494, deren zweiter keine Beziehung auf den ersten hat und ebensowohl
auf den Schluss des vierten Lieds folgen könnte. Die zweite Fort-
setzung, zum vierten oder einem anderen Liede ähnlichen Inhalts gedichtet,
gehört weder einem der Verfasser der Zusätze noch auch dem der ersten
Fortsetzung an; die Form ist in diesem subjectiv zugespitzten Liede ausge-
bildet, der Gehalt unbedeutend, wie beim dritten Liede.
23) Der Verfasser dieses Liedes hat überall Siegfrieds früheres Verhältnis
zu Brünhild im Auge; diese lässt er von Siegfried nur bezwungen werden.
24) Steht mit dem vierten und fünften Liede im "Widerspruch, insofern
diese Siegfrieds Verlobung mit Brünhild voraussetzen.
25) Dessen Anfang fehlt.
26) Welches den Inhalt des siebenten im Allgemeiaen voraussetzt.
200 n. Der Verfasser des Nibelungenliedes.
932—943 die Jagd und Siegfrieds Ermordung, das neunte^')
in Str. 944— 94S. 951, i. 2. 952, 3. 4. 953 — 956. 958-962. 964
—980. 993 — 996. 998. 1000—1002. 1004—1012 Klage, Be-
gräbnis und Trauer um Siegfried.
Im zelinten Liede^'«), Str. 1013.1015—1020. 1023—1030.
1032—1035. 1039. 1043. 1046. 1055. 1056. 1058 — 1061. 1065.
1066. 1068—1073. 1075—1079. lOSl, wird von KriemMlds
Witwenschaft, von der Verbringung des Nibelungenhorts nach
Burgund und dessen Versenkung in den Rhein gehandelt.
Das elfte Lied'') besteht aus Str. 1083. 1087.1089—1093.
1100. HOL 1103—1105. 1107—1110. 1114. 1115, 1.2. 1116,3.4.
1117. 1120—1123. 1125. 1127. 1130—1134. 1138—1140. 1142
—1146. 1148. 1152—1158. 1160—1167.1169—1181.1183—1185.
1189. 1191, 1.2. 3\ 1192, 3'. 4. 1193. 1195—1200. 1204—1209.
1220. 1222—1225,1.2. 1226,3.4. 1232; es erzählt Etzels Wer-
bung um Kriemhild, ihre anfängliche Weigerung, dann Zustim-
mung und ihren Abschied von Worms. Das Lied hat eine
Fortsetzung erhalten, welche in Str. 1242—1251. 1253—1260.
1262—1269. 1271 von Kriemhilds Reise bis an die Treisem
berichtet.
Das zwölfte Lied'°), bestehend aus Str. 1277—1280.
1282—1285. 1287. 1289. 1290. 1293. 1295. 1296. 1299—1302.
1305—1311. 1315—1322. 1325. 1326, berichtet über den Empfang
Kriemhilds bei Etzel und ihr Leben am hunischen Hofe.
Das dreizehnte Lied^') umfasst die Strophen 1329, 1.2.
1338,3.4. 1339. 1341. 1343. 1345. 1347. 1348. 1350—1357. 136L
1364. 1369. 1370,1.2. 1373,3.4. 1378— 1380. 1385—1387. 1390.
1397—1399. 1401. 1402. 1405—1407. 1409—1411. 1413. 1415
—1417. 1419 — 1424. 1427.1433.1434.1436—1438.1443—1445
27) Möglicherweise von demselben Verfasser wie das achte. W^eder
Kriemhild noch sonst Jemand kennt den Mörder Siegfrieds.
28) Für dessen Trennung vom neunten Lachmann keinen Grund an-
gegeben hat.
29) Aus diesem wie aus den folgenden hat Lachmann sämmtliche Strophen
ausgeschieden, welche von Piligrim handeln. [S. den nächsten §.]
3Ü) Der Anfang des Liedes ist verloren; vielleicht gehörten zu demselben
Str. 1274. 1275. Von einer bösen Ahnung findet sich in dem ganzen Liede
keine Spur.
31) Dieses Lied beruht ganz auf Kriemhilds Groll, im Gegensatz zum
zwölften. Die Zusätze sind meist gross und geschickt gemacht. Von den
Burgundenkönigeu kennt das Lied nur Günther und Gernot. Cäsurreime hat
dasselbe nicht.
A. Die vorhandenen Theorieen. 201
und erzählt hier Kriemhilds Vorbereitungen zur Radie, die
Sendung nach und von Worms, die Vorbereitungen der Bur-
gunden zum Feste.
Das vierzehnte Lied^-), Str. 1447 — 1453. 1456 — 1462.
1464— 1467. 1471— 14S0. 14S8— 1485,3'. 1486,3'.4. 1487—1489.
1492—1494. 1496. 1497. 1500. 1502—1504. 1500. 1508—1513.
1527. 1530. 1567. 1571. 1573 — 1581, erzälilt die Abfahrt der
Burgunden von Worms, die Abenteuer mit den Meerweibern,
dem Fährmanne und Eckewart, die Meldung in Bechelaren von
der Burgunden Ankunft.
Das fünfzehnte, sechszehnte und siebenzchnte
Lied sind in dem Werke des Ordners vollständig in einander
verwirrt.^^) Zusammen erzählen diese drei Lieder die Ereignisse
vom Empfange zu Bechelaren bis zur Schild wacht Hagens und
Volkers; und zwar weist Lachmanu dem fünfzehnten Liede zu:
Str. 1582—1608. 1610—1614. 1616. 1617. 1621 — 1633. 1636—
1640. 1642—1652. 1656— 1669; dem seehszehnten : Str. 1653—
1655. 1670—1674. 1688. 1690. 1704. 1708—1739; dem sieben-
zehnten: Str. 1675— 1680. 1682—1687. 1742—1744.1746—1786.
Eine Fortsetzung zum siebenzehnten Liede sind die Strophen
1787. 1790 — 1792. 1795. 1797—1807. 1809—1815. 1817—1823.
1826. 1829. 1831. 1833. 1835 — 1845. 184.7 — 1857^'); dieselbe
erzählt den Kirchgang, den Buhurt, die Ermordung des ersten
Hünen durch Volker, Blödeis Aufreizung durch Kriemhild, Ort-
liebs Verspottung von Seiten Hagens,
Das achtzehnte Lied'') erzählt in Str. 1858 — 1891.
1894—1901. 1903—1916, wie aus dem Kampfe Blödeis mit
Dankwart und aus der Ermordung Ortliebs durch Hagen sich
der allgemeine Kampf entspinnt. In einer zu diesem Liede ge-
dichteten Fortsetzung^*), Str. 1917 — 1956, entfernen sich
:vl) Dasselbe stellt nur die Ahnungen und Vorzeichen des unseligen
Ausgangs dar. So gehört insbesondere die Baiernschlacht nicht hieher.
33) Der Hauptgrund, weshalb Lachmann diese Verwirrung angenommen
hat, ist der. dass nach der uns vorliegenden Anordnung der Erzähking die
Burgunden in Etzelnburg viel zu lange auf dem Hofe stehen.
34) Diese Fortsetzung fehlt in der Klage; sie ist von gebildeter Form
und unbedeutendem Inhalte.
35) Das ..Dankwartslied''; nach ..Urspr. Gestalt" etc. S. 101 wegen des
Zeugnisses der Klage vom Vorhergehenden getrennt.
36) Diese Fortsetzung ist vom achtzehnten Liede selbst zu trennen, weil
in ihr Dankwart auf einmal gänzlich vergessen ist.
202 II- Der Verfasser des Nibelungenliedes.
Dietrich, Etzel und Kriemliild aus dem Gedränge, der Kampf
geht weiter, die Toten werden aus dem Saale entfernt, Volker
wehrt die Feinde ab.
Das neunzehnte Lied^^) umfasst Str. 1957—1963. 196.5
—1970. 1972—2020. 2022, in welchen die Gegenreden Hagens,
Volkers und Etzels, der Kampf und Tod Irings, der Schluss
des Tages und des Kampfes enthalten sind.
Das zwanzigste Lied^^) besteht aus den Strophen 2023
—2043. 2045—2150. 2152 — 2161. 2163 — 2216. 2218 — 2227.
2229 — 2316, und berichtet von dem vergeblichen Versuch einer
Sühne, von dem Saalbrand, von ßüdigers Tod, von der Vernichtung
der Mannen Dietrichs und von dem Tode Günthers, Hagens und
Kriemhilds.
51.
Bei der gegebenen Darstellung von Lachmanns Theorie ist
ein wesentlicher Punct desselben unberührt geblieben, weil der-
selbe einmal von Lachmann selbst gar nicht berührt worden
ist und anderntheils eine abgesonderte Darstellung erfordert.
Noch ehe Holtzmann durch die Bekämpfung der Hand-
schriftenfrage Lachmanns dessen Anschauung den Boden zu
rauben versuchte, machte Jacob Grimm') eine Entdeckung,
welche der Kritik Lachmanns das Zutrauen der wissenschaftlichen
Welt vielleicht noch in höherem Grade zu entziehen geeignet
war als Holtzmanns ziemlich ungenügende Untersuchung über
die Handschriften. Diese Entdeckung, die der Lachmannischen
sogenannten Heptaden, steht im Zusammenhang mit Anderem
ähnlicher Art und mag in diesem Zusammenhange hier ihre
Stelle finden.
In der Anmerkung zu Nib. Str. 1235 — 1239 führt Lachmami
Folgendes aus. Wie verschiedene mittelhochdeutsche E])en in
Abschnitte von etwa dreissig Zeilen zerfallen, so scheint die
37) Das „Iringslied".
38) ,.Der Niheliinge not" ist eigentlich der Name dieses Liedes, das
Lachmann in den Anmerkungen als eines gibt, während er es früher in
mehrere Lieder getheilt hatte. Das Gedicht war ^ielleicht mehr für das
Vorlesen als für den freien Vortrag bestimmt; es geniesst mehrere den
anderen Liedern versagte Freiheiten: Strophen mit vier gleichen Reimen,
Uebergang der Construction und Cäsurreime sind hier gestattet.
1) S. Göttingische gelehrte Anzeigen 1^51, No. 175, S. 1747 f.
A. Die vorhandenen Theoriecn. 203
Klage-) in Absclinitte von je 2S Kurz Zeilen getlieilt gewesen zu
sein; man erhält lö'S solcker Abschnitte, wenn man die Zeilen
1747 — 17(32 weglässt, in welchen von Piligrim die Rede ist.
Auch für das Nibelungenlied macht ein grosser Antangsbuch-
stab, welchen .1 7 X 2b Zeilen vor dem Schlüsse hat (Str. 22G8) an
einer Stelle, wo keine Sinnespause stattfindet, es wahrscheinlich,
dass Absätze von 2S Langzeilen zu machen sind. 329 solcher
Abschnitte ergeben sich, wenn man auch im Nibelungenliede
die 52 Zeilen (d. h. dreizehn Strophen) ausscheidet, welche von
Piligrim handeln.^) Somit ist anzunehmen , dass diese 32 -f- 52
Zeilen ') zugesetzt wurden erst bei der \'ereinigung der Klage
mit dem Nibelungenliede und zwar mit der Absicht, aus beiden
ein Ganzes zu machen, dessen Zeilenzahl durch 28 theilbar sei.'j
Diese Theorie hat Lachmann später autgegeben; Vollmer
machte die Entdeckung, dass Lachmann sich in der Klage um
vier Kurzzeilen geirrt hatte, worauf Lachmann ^) die Klage in
144X30 Zeilen theilte.«)
SoAveit geht das, was Lachmami selbst über die Siebenzahl
geäussert hat. "Wichtiger als diss ist J. Grimms Bemerkung,
dass auch die Lachmannischen Lieder^) je eine mit 7 theilbare
Stropheuzahl , d. h. Abschnitte zu je 2S Zeilen, besitzen. Es
leuchtet ein, dass eine solche Entdeckung um so mehr, als
Lachmann von diesen Heptaden nirgends geredet hatte, das
Zutrauen in seine Kritik erschüttern muste; denn der Verdacht
wurde dadurch nahe gelegt, dass bei der Ausscheidung der
einzelnen Strophen, bei der Herstellung der einzelnen Lieder,
ihn häufig die Rücksicht auf die Herstellung dieser Heptaden
geleitet haben möchte.**) Nicht nur die Einzelkritik Lachmanns
2) Natürlich nach der Tradition in J.
3) Diese sind: Str. 1235— 1239. 1252. 1270. 1367. 136s. 1435. 156S— 1570.
4) [Unbegreiflich ist, dass Lachraann hier die Ungereimtheit nicht be-
merkt hat, welche in der Annahme liegt, ein Interjrolator habe zwei Gedichte
in dieser "Weise verbinden wollen, indem er die Zeilenzahl des einen nach
Langzeilen, die des andern nach Kurzzeilen berechnet habe.]
5) S. Lachmanns Ausgabe von 1S51, S. XII.
6i [Mit dieser Moditication muste La chmauu folgerichtig die ganze Theorie
von den 2S Zeilen, nach welchen der Vereiniger von Klage und Lied die
beiden Gedichte geordnet habe, aufgeben, wovon er aber nirgends geredet hat.]
7) Abgesehen von dem nach Lachmann unvollständigen zwölften Liede,
das aber, von Str. 1277 an gerechnet, 5X7 Strophen hat.
S) Zumal, da sich Lachmann von der Annahme von Heptaden auch sonst
leiten Hess; s. Fischer S. 23; Zarncke, Ausg. S. XLIII (not. ** zu S. XLII).
204 n. Der Verfasser des Nibelungenliedes.
war durch Grimms Entdeckung verdächtig geworden; es muste
überhaupt fast unglaublich erscheinen, dass zwanzig Sänger von
Volksliedern — und seien es auch, da Lachmann für manche Lieder
die Möglichkeit eines und desselben Verfassers offen Hess,
etliche weniger — lauter Lieder in Heptaden gedichtet hätten
und dass ein Sammler gerade solche Lieder und nur solche in
seine Sammlung aufgenommen haben sollte. Wer also Lach-
manns Kritik, wer überhaupt die Liedertheorie in der ihr von
ihm gegebenen Form halten wollte, muste für die Heptaden der
„echten" Lieder eine sachliche Erklärung beibringen. Diss hat
denn auch Moriz Haupt folgendermaassen versucht.')
Die Nibelungenlieder werden ursprünglich nicht einfach vor-
getragen, sondern recitiert oder gesungen worden sein.'") Schon
ein Lied von 42 Strophen (und weniger hat keines der voll-
ständig erhaltenen Lachmannischen Lieder) muste aber, in
einem Tone fortgesungen, ermüden. Daher ist es natürlich,
dass man kleinere Abschnitte heraushob, innerhalb welcher dann
die Melodie oder auch nur die Begleitung wechselte. Eine in
der Dichtung mehrerer Völker") durchgeführte, sehr einfache
Theilung ist die in drei Theile, welche sich in der mittelhoch-
deutschen Poesie zeigt als die Eintheilung der Strophe in die
zwei Stollen und den Abgesang. Die Strophe ist nun
zwar in den Nibelungenliedern nicht dreitheilig, wohl aber jene
kleineren, durch den musicalischen Vortrag bedingten Strophen-
gruppen. Diese Dreitheilung pflegt aber keine Gleichheit
aller drei Theile zu sein; vielmehr, wie die griechische oTgorpi]
und avTioToocff]. so sind die beiden Stollen unter sich gleich und
von dem Abgesang, Avelcher der griechischen Irriodög entspricht,
verschieden. So ist es auch bei den Strophengruppen der
Nibelungenlieder, und für eine solche Theilung in zwei gleiche
und eine von diesen verschiedene Grösse eignet sich unter den
Zahlen, welche überhaupt als weder zu klein noch zu gross in
Betracht kommen können, vortrefflich die Zahl 7, welche sich
9) Seine Erklärung ist zu finden bei Müllenhotf, Zur Gescb. der X. N. S. SSöf.
10) Die Beweise s. Miillenboft" a. a. 0.
11) S. Müllenboff a a. 0.; ausser der von ihm nach W. Wackernagels
Vorgang beigezogenen altfranzösiscben Lyrik ist vor allem die ebenfalls von
M. erwähnte altgriechiscbe Chorlyrik mit den roin ^Tt^ar/ooor zu erwähnen,
deshalb, weil hier, wie bei den Lachmann-Hauptischen Heptaden, nicht die
Strophe selbst dreitheilig ist, sondern grössere Strophengruppen.
A. Die vorhandenen Theorieen. 205
naturgemäss tlieilt iu (2 + 2) -+- 3.") So entsprechen in einer
Stroplienheptade die vier ersten Strophen den beiden Stollen, die
drei letzten dem Abgesaug.
Dass diese Erklärung sehr geistreich und, wenn von an-
deren Gesichtspuncten aus Lachmanns Kritik sieh l)ewährt,
wirklich als die richtige anzusehen ist, wird nicht zweifelhaft
sein. Keineswegs aber ist Müllenhoff im Rechte, wenn er
behauptet'^), durch die gegebene Erklärung der Heptaden seien
diese bewiesen und Lachmanns Kritik wesentlich unterstützt.
Denn vorher müssen die Gedichte, welche in Heptaden veiiasst
sein sollen, bewiesen sein, ehe die Heptaden als bewiesen gelten
können.'')
Haben so Lachmanns Anhänger versucht, die Heptaden zu
sichern und Lachmann von einem Vorwurfe zu retten, welcher
dem der Unredlichkeit ziemlich nahe kommen muste, so hat
Heinrich Fischer iu der bei Gelegenheit der Handschrifteu-
frage schon kurz berührten'^) Schrift: „Nibelungenlied oder
Nibelungenlieder?" Lachmann in dieser Richtung neu bekämpft.
Er weist nach, dass Lachmann nicht etwa die Theilung des
Nibelungenliedes (nach A) in Abschnitte zu 28 Langzeilen, wie
er sie schon iu der Ausgabe von 1826 angedeutet, habe fallen
lassen, nachdem er die Heptaden der echten Lieder entdeckt,
da ja die „ Anmerkungen ", welche die Kritik der echten Lieder,
somit die Herstellung ihrer Heptaden, enthalten, ausdrücklich
von der Theilbarkeit des ganzen Liedes in Heptaden reden.
Dass die Heptaden der echten Lieder nicht zufällig, sondern
von Lachmann beabsichtigt waren und von ihm nur verschwiegen
wurden, weist Fischer an dem Wechsel in Lachmanns Ansichten
über die Strophen 1274 — 1277 nach. Somit hat Lachmann
gleichzeitig an die Theilbarkeit des ganzen Gedichts und
der echten Lieder in Heptaden geglaubt. Aber nicht nur die
echten Lieder haben Heptaden, auch die Dichter der Zusätze
12) Dasselbe Gesetz liegt dem Bau des Sonnetts zu Orunde:
Zeile 1. 2. 3. 4. 5. G. T. S. 9. lU. U. 12. Vi. H.
= Stolleu = Abgesang
= 2 • 2 -j- 2 • 2 ReimzeUen = 3 • 2 oder 2 • 3 Reimzeileu.
13) Müllenhoff. a. a. 0. SS(?.
14) Holtzmaun hat freilich Haupts Erklärung nicht verstanden und
in seiner Replik auf MüUenhoffs betreffende Schrift (Kampf um derNibelunge
Hort S. 25 f.) sich in ziemlich schaaler Weise über dieselbe lustig gemacht.
15) S. § 9 (S. 31 f.).
206 II. Der Verfasser des Nibelungenliedes.
lind Fortsetzungen zum vierten, der Fortsetzungen zum elften
und siebenzehnten Liede haben in Heptaden gedichtet. Die
Interpolatoren kennen das Gesetz nicht, wohl aber der Sammler,
der so viel Strophen hinzudichtet, dass sein Werk 329 X 28 Zeilen
enthält. Wider ein Anderer vereinigt diese 329 X 28 Langzeilen
mit den 153 X 28 Kurzzeilen der Klage; statt jedoch über diese
schöne Uebereinstimmung des Baus in beiden Gedichten sich zu
freuen, verbindet er beide Gedichte noch enger mit einander,
indem er Strophen in beide einschiebt, die sich alle mit demselben
Gegenstande beschäftigen. Er will aber die Theilbarkeit durch
28 nicht verloren gehen lassen; somit setzt er 3x28 Zeilen ein,
aber nicht etwa m das eine Gedicht 2 X 28, in das andere
1 / 28, sondern in das eine 52, in das andere 32, so dass beide
Gedichte nicht mehr einzehi, sondern nur in ihrer Verbindung
miteinander durch 28 theilbar sind.'^)
„ Da hievet oiich tje/oitöe zuo\ sagt der Dichter", so
schliesst Fischer seine Darstellung der Lachmannischen Zahlen-
tlieorie; wir werden damit übereinstimmen dürfen, indem wir
die Heptaden der echten Lieder für eine Möglichkeit (deren
Wirklichkeit aber erst durch Erweisung der Wahrheit der
Lachmannischen Kritik bewiesen werden muss) und tür etwas
sachlich Erklärbares, die andern Zahlenverhältnisse aber, die
Lachmann entdeckt zu haben und mit denen er seine Theorie
stützen zu können glaubte, tiir Unmöglichkeiten und Spielereien
erklären.
52.
Karl Müllenhoff, den wir schon oben als unbedingten
Anhänger der Lachmanuischen Theorie kennen gelernt haben,
hat diese, bei vollständiger Anerkennung der Lachmaimischen
Resultate im Einzelnen, weiterzuführen gesucht.') Es lohnt sich,
die Art, in der er diss versucht hat, kennen zu lernen.
Er beginnt seine Untersuchung mit einer Erörterung über
die Pfleger und Pflegestätten des deutschen Nationalepos, der
deutschen Heldensage. Die epische Poesie findet sich in ihren
ersten Zeiten im nächsten Zusammenhange mit dem höfischen
Heldenleben. In diesem muss sie ^uch im zwölften Jahrhundert
gestanden haben; jedenfalls war sie damals noch nicht so tief
16) S. überdiss das not. 4 dieses § Bemerkte.
1) Zur Geschichte der Nibelunge Not. Seite bS7 — 942.
A. Die vorhandenen Theorieen. '207
gesunken, wie im vierzehnten bis seehszehnten Jahrhundert. Die
gewöhnlich so genannte höfisch« oder ritterliche Poesie war nur
eine neue Form liöfischer Poesie, deren Entwicklung durch die
Verbreitung französischer Stoffe und französischer Bildung be-
dingt war. Noch vor der Ausbildung derselben entstand unter
den Händen fahrender, nicht ungebildeter Leute für die höfische
Unterhaltung die Spielmannspoesie.-) Die Nibelungenstrophe
selbst findet sich im ritterlich en Minnesang als Kürenberges
wine im Gebrauch, daneben auch Variationen derselben.
Was die Pflegestätte des Volksepos, d. h. desjenigen, das
sich nationalen Stoffen zuwandte, betrifft, so ist dieselbe jeden-
falls in Schwaben und am Oberrhein nicht zu suchen, da sich
diese Länder entschieden dem neuen höfischen Epos zuwandten.
In einem näheren Verhältnis zur nationalen Poesie stehen die
fränkischen und bairischen Dichter, voran Wolfram von Eschen-
bach. Die eigentliche Heimat unserer Volksepen ist aber
0 esterreich, wo die neuhöfische Litteratur nie recht zur
Geltung kam. In Oesterreich entstanden sind Biterolf, Klage,
Kudrun, Alphart, Walthcr und Hildegunde, die Rabenschlacht;
Ortnit und Wolfdietrich A gehören nach Oesterreich, nach Tirol
oder in eine benachbarte Landschaft, Wolfdietrich B etwas
nördlicher. Die südöstlichen Grenzgebiete Deutschlands also,
von Anfang an für die Ausbildung der Heldensage von Bedeu-
tung, haben die letzte Blüthe des nationalen Epos erzeugt, zu
derselben Zeit, da im Westen die neuhöfische Poesie ihre höchste
Ausbildung erlangte. Eben dahin, in das Land unter der Enns,
ist auch die Entstehung der Nibelungenlieder zu verlegen;
ja die meisten mögen am Hofe zu Wien entstanden sein. Die
Sprache beweist diese Heimat der Lieder, ebenso wie sie ihre
Entstehung in den höchsten Kreisen beweist. Die Sammlung
und letzte Einrichtung geschah allerdings nicht in Oesterreich,
nach Lachmann ^) vielmehr in Thüringen, d. h. am Hofe zu
Eisenach.
Zum Gebrauche der Fahrenden nun, welche sich den Vortrag
solcher Gedichte zum Geschäfte machten, finden wir mehrfach
Liederbücher aus mehreren getrennten Liedern zusammeu-
2) Die Verworrenheit dieses Theils von MüUenhoffs Untersuchung, die
auch Holtzmanu bemerkte (Kampf etc. S. 27 ff.), hat uns zu ganz summari-
scher Darstellung veranlasst.
::i) y. Lachraann, Anm. zu Str. 2u4, 4. 9:54,2. 1272,3. 1277, 1.
21)8 n. Der Verfasser des Nibelungenliedes.
geschrieben. Dahin sind unsere Minnesingerhandschrit'ten zu
zählen, welche eben aus solchen Fahrenden-Biichern entstanden
sind und deren Namen nicht die Dichter, sondern die Inhaber
der verschiedenen Liederbücher bezeichnen, welche als Fahrende
sich nur mit dem Vortrag und der Verbreitung der Lieder be-
schäftigten. Innerhalb der einzelnen IJücher finden sich daher
Lieder von verschiedenen Verfassern zusammengestellt.
Sänger und Spielleute hatten die Schule der Geistlichen
nicht verschmäht; Kunde des Lesens und Schreibens war
jedenfalls häufig bei ihnen.') Die Gedichte wurden von den
Fahrenden selbst vorgelesen, und daraus, dass sie sich fort-
während im Gebrauch derselben erhielten, sind ihre Umge-
staltungen und Veränderungen zu erklären.
Wie lässt das Gesagte sich auf das Nibelungenlied an-
wenden? Dem Verfasser der Klage lag eine Sammlung älterer,
schon interpolierter, Lieder vor. Die eigentliche Nibelungen-
Noth, d. h. Lachmanns zwanzigstes Lied, war gewiss von Anfang
an aufgeschrieben und mehr für das Vorlesen als für den freien
Vortrag bestimmt.*) Die Heptadcn freilich beweisen, dass die
Verfasser der Lieder noch an die Recitation nach alter Weise
dachten; die Aufzeichnung einzelner Stücke konnte anfangs
nur den Zweck haben, dem Gedächtnis zu Hilfe zu kommen.
Solche Aufzeichnungen waren aber häufig und wurden dann
auch zum Vorlesen benutzt. Um jedes aufgezeichnete Lied
konnten sich leicht kleine zusammenhängende Cyklen bilden,
welche alsdann ein Sammler nur zu vereinigen brauchte, um
ein nach Art der höfischen Aventiuren fortlaufendes Gedicht
herzustellen.
Die Einzeluntersuchung bestätigt eine solche Entstehung des
Nibelungenliedes. Die ersten zehn Lieder bilden drei Gruppen,
deren jede ein Liederbuch gebildet hat. Zur ersten
Gruppe gehören die Lieder I — III, so zwar, dass sich II an I,
III an II anschloss.")
Die zweite Gruppe besteht aus Lied IV und V, von denen
das letztere zum ersteren ähnlich hinzugedichtet wurde, wie II
4) Das Auftreten der vagicrenden Kleriker, die im Zusammenhang mit
den fahrenden Spielleuten stehen, fallt in das zw("tlfte Jahrhundert.
5) 8. oben, § 50, not 38 (S. 202).
6) Somit ist I das älteste, III das jüngste Lied dieser Gruppe; der Ver-
fasser vou 11 kannte I; der von III hat II gekannt, aber die Interpolationen
dieses Liedes nicht, in welchen Volker, Daukwart u. a. genannt sind.
A. Die voiiiandonen Tliporifpii. 209
zu I; eil) Rliapsf.de, der l\ uml A' kannte, scli(»l» I\''' (Forts.)
ein.') Die dritte Oruiti»' iiiiithsst die Lieder VI— X; an das
älteste dieser Lieder, \'lll, sehloss sich IX, daran X, wclelies
mit L\ einen Verfasser hat, daran VI und zur Verbindung
dieses mit VIII zuletzt VTI.')
Aehnliehe Erselieinungen widerliolen sieh in den Liedern
XI — XX.®) Die Untersuchung dieser'"; muss lehren, «di der
Ordner diesen zweiten Theil nicht vielleicht im Wesentlichen in
seiner jetzigen Gestalt vortarftl, so dass dieser Theil die eigent-
liche Grundlage des Gedichts und dessen viertes Liederbuch
bilden würde.
Anderer Art ist W i 1 h c 1 ni Müllers Liedertheorie.')
Gegenüber der unverkennbaren inneren poetischen Einheit
des Nibelungenliedes stehen häufige, schwer zu hebende Wider-
sprüche, auffallendes Vergessen solcher Personen, die eine Zeit
lang mit Liebe geschildert waren, eine Menge von weitschweifigen
und schlechten Strojjhen neben den kräftigsten und schönsten,
endhcli der verschiedene Ton in mehreren Partieen des Gedichts.
Diss beweist, dass dasselbe sich aufgebaut hat auf einer Grund-
lage von früher einzeln gesungenen Liedern, dass ältere und
jüngere Theile unterschieden werden müssen. Allein das Ge-
dicht ist doch nicht eine blosse Sammlung von Liedern, an
einen oder mehrere Ordner ist nicht zu denken. Vielmehr ist
das (ianze aus früher vereinzelt gesungenen Liedern zusammen-
gesungen worden durch das Wandern von einem Sänger zum
anderen, durch Veränderungen und Zusätze.
Will man die einzelnen ursprünglichen Lieder herausfinden,
so muss man sich an die natürlichen Abtheilnngen und Abschnitte
' ) Lied IV, eines der schönsten, das noch in den SOer Jahren entstanden
sein könnte, hat mit I— m nichts zu schaffen , auch kennen diese hin-
widerum das vierte nicht. Eine vage Möglichkeit wäre, dass es derselbe
sei, der III andichtete und IV '' einschob. V ist edel und alterthimilicli.
S) "VT^I ist vollständig, ein Zwischenstück wie IV'\ aber vielleicht von
demselben Verfasser mit V. — VII kennt ü. — VIII hat vielleicht denselben
Verfasser wie IV, ist aber jünger.
9) [Die Abhandlung MüUenhoffs dll) über den Ursprung der Inter-
polationen in Lied I — X ist hier ohne AVerth.]
10) [Welche aber Müllenhoff nicht unternommen hat]
1) Wilhelm Müller, Ueber die Lieder von den Nibelungen. Aus den
Göttinger Studien 1S4.'). Göttingen, Vandenhoeck u. Ruprecht, 1S45.
Fischer, Nibelungenlied. 14
210 n. Der Verfasser des Nibelungenliedes.
der Sage halten, soweit diese entweder durch ausdrückliche
Zeugnisse^) als einzeln gesungen constatiert sind oder, ohne
solche Zeugnisse, sich zu abgeschlossenen Einzelgesängen ihrem
Inhalte nach eignen. Solcher Abschnitte ergeben sich nach den
beiden angegebenen Kriterien acht: 1) Siegfrieds Geburt und
Erziehung; 2) Autstiftung zum ürachenkampf durch Regln,
Drachenkampf und Regjns Ermordung^); 3) Erlösung Brünhilds
und Verlobung mit ihr; 4) die Nibelungen und Kriemhild, Siegfrieds
Vermählung; 5) Erwerbung Brünhilds für Günther; tij Zank der
Königinnen und Siegfrieds Ermordung; 7) Versöhnung zwischen
Kriemhild und den Burgunden, Vermählung mit Etzel; 8) Ein-
ladung und Untergang der Burgunden. — In diesen acht Liedern
ist, abgesehen von den nordischen Anhängseln, die ganze Sage
erschöpft; es sind eher zu \ie\G als zu wenige Lieder ange-
nommen. Die drei ersten können verbunden werden, ebenso die
zwei letzten.') Durch bestimmte Zeugnisse gesichert sind die
Lieder IL VI. VIII. ^) Im Nibelungenliede, zumal in den
Lachmannischen Liedern, findet sich nur der Inhalt von IV — VIII,
nicht der von I — III. Die Verfasser des Gedichts haben allem
Anschein nach I nicht gekannt; sie kannten II und III, nahmen
sie aber nicht auf. Das Lied vom Drachenkampfe war schon von
dem über die Horterwerbung getrennt. Dem Licde IV entspricht
Lachmanns erstes Lied, dem aber der Schluss, Siegfrieds Ver-
mählung, fehlt. Lachmann IL III. finden sich sonst nicht wider.
Dem fünften Liede entsprechen Lachmann IV. V®), dem sechsten
2) Müllert führt als solche an: den Marner, Hugo von Trimberg, Saxo
Grammaticus , das Siegfriedslied, die drei färöischen und die zwei dänischen
Volkslieder.
3) In Deutschland hat sich dieses Lied, wohl schon im zwölften Jahr-
hundert, in zwei 2;espalten, in eines vom Drachenkampf und eines von der
Uorterwerbung; beide sind im Siegfriedsliede wider zusammengesungen, doch
so, dass man die frühere zeitweilige Trennung noch erkennt.
4) Auch die Thidrekssaga einzahlt die drei ersten Lieder fortlaufend,
wahrend sie die anderen alle einzeln erzählt, d. h. jedesmal eine neue Erzählung
einflicht, ehe sie von einem Licde zu einem anderen übergeht.
5) 11: Marner von ..Siegfrieds Wurm" und dem "Ymelunge Hort"*;
VI: Marner von ..Siegfrieds !Mord" ; VIII: Marner .jven Kriemhild verriet',
Hugo von Trimberg „Kriemhilde mort", Saxos ..speciosissimii/n carme7V' über
.Mrimildcc cr<ia fralres i^erfidia.'^ Die drei färöischen Volkslieder enthalten:
h I. H, 2) III^VI, .3) VII. VIU; die zwei dänischen: 1) V. VI, 2) VHI.
G) [Müller sagt (S. 13. Z. 1. 2.): „Unser fünftes 'Lied würde Lachmanns
fünftem und sechstem entsprechen"; was aber dem Sinne und Zusammen-
A. Die vorhandenen Theorioen. 211
Lachmann VI — IX, dem siebenten Laclnuann X — XII, dem
achten Lacliniann XIII — XX.
Woiterliiu beschäftigt sich Müller mit den Veränderungen,
die die Lieder durch die Zeit erfahren musten und erfahren haben.
Die eine derselben bezieht sieb auf die Form, die andere
auf den Inhalt.
In formeller Beziehung ninmit Müller Entwicklung der
vierzeiligen Strophe aus einer älteren zweizeiligen an; diese
Entwicklung lalle zusammen mit der durch den Einfluss der
höfischen Poesie hervorgerufenen Veränderung des volksthüm-
liehen, springenden, objectiven Tons in einen künstlichen, lang-
sameren, subjectiven. In Beziehung auf den Inhalt findet sich
die alte Sage im Xlbelungenliede mehrfach alteriert'); insbe-
sondere hat dasselbe mehrere Personen, welche entweder gar
nicht hergehören oder doch nicht ü])erall da am Platze sind, wo
sie genannt werden.^)
Durch die erwähnten Veränderungen wurde das epische
Lied immer grösser an Umfang ; eine ähnliche Erweiterung haben
ausser dem Nibelungenlied auch andere Gesänge der deutschen
Heldensage ertahren. Das Streben, kürzere Lieder zu erweitern,
muss schon ziemlich frühe angefangen haben.'') Neben dem
Fortsingeu einzelner Lieder muste man im dreizehnten Jahr-
hundert jedenfalls bald anfangen, an das eine ein anderes und
ein drittes zu fügen, so dass alle drei ein Ganzes bildeten.
Dabei war Umdichtung noth wendig, welche freilich auch ohnediss
anzunehmen wäre.
Die Grundlage des Nibelungenliedes — damit geht Müller zu
der Entstehung desselben — über mögen etwa 4 — 5 Lieder sein.
Das Lied von Kriemlulds Verrath hatte sich wohl vor seiner
hange nach nur ein Schreib- oder Druckfehler anstatt ..viertem und iiinftein"
sein kann.]
7) [Ausser dem in unserer Abhandlung §§ 39 — 42 Erwäliiitcn liihrt
^liillor noch verschiedenes Andere von geringerem Belaug an.]
s) Piligrim, Gere, Sindolt und Ilunolt gehören weg; Volker und Danc-
wart sind an ihrem Platze nur in der zweiten Hälfte des Gedichts, Rumolt
nur da, wo er vom Zuge nach Hunenland abräth, Eckewart nur da, wo er
auf der Mark schlafend gefunden wird und die Burgundcu warnt, Uote mir
da, wo sie Kriemhüds Traum deutet und da, wo sie die Brüder durch f]r-
zähluug ihres eigenen Traums warnt; Sigmund ist nach der sonstigen Sage
längst tot.
9) [Wofür Müller den König ßuother anführt.]
14*
21 2 n. Der Verfasser des Nibelungenliedes.
Einfügung in das Ganze der Form schon genähert, die es als
zweiter Theil des Xihehmgeiiliedes hat. Lachmanns Eintheihnig
ist nicht ganz ungcgründet ; meist aber shid seine Abtheihmgen
keine ursprünglichen Lieder, sondern nur Abschnitte eines
grösseren Ganzen.'")
Hat die Ansicht vom Wachsen und Zusammensingen der
Lieder Grund, so muss auch für einzelne grössere Partieen des
Gedichts, namentlich liir mehrere Lachmanuische Lieder, ein
Verfasser nachgemesen werden können. So rührt denn der
erste Theil des Gedichts, Lachmann I — YIU, von zwei
Verfassern her, deren zweiter das Werk des ersten tiber-
arbeitete. Dem ersten Verfasser gehören Lachmanns e r s t e s
und viertes Lied an; er dichtete in alterthtimlich schmuckloser
Manier.") Seine Dichtung zerfällt augenscheinlich in kleinere
Abschnitte, die für sich gewissermaassen Ganze bilden, „Rha-
])Sodieen'"-); zwei Abschnitte fehlen, die Vermählung Siegfrieds
und Günthers, sowie Brünhilds Bändigung enthaltend. — Die
Dichtung in Rhapsodieeu war wohl diejenige Form des deutscheu
Nationalepos, in welcher es zuerst aus dem Bereich des im
strengsten Simie diesen Namen verdienenden Volksliedes heraustrat.
10) Gegen Lachmanns Lieder spricht: I) dass sie meistens keine abge-
schlossene Handhing haben; 2) dass die Anfange in der Regel Einzelgesängen
niclit gemäss sind; 3) dass sich- mehrere Lieder auf einander bezichen und
;;o die bestehende Keihenfolgc voraussetzen, 1) dass Personen, die zum
erstenmal eingeführt werden, sonst in der Regel näher charakterisiert werden,
als in Lachmanns Liedern der Fall ist. Demnach müste jedenfalls bei der
Annahme von Lachmanns Eintheilung eine grosse Veränderung der Lieder an-
genommen werden, und die Ausscheidung von Zusätzen würde nicht genügen.
11) Die Manier ist herb, der Ton der Volkspoesie noch näher stehend.
Die Handlang sclireitet rasch vorwärts; die Beiwörter sind einfach, kräftig,
sich [oft widorholend ; es linden sich alterthümlich formelhafte Verse mit
:! 1 Ikiwörteni, dagegen keine weiter ausgeführten Vergleichungen. In
Reim und Ausdruck stimmen Lm. I und IV zusammen.
12) Solche sind: Str. 1-16. 20— 60. 72— 79. SO— lO:^. 32.5— 334. 371 — 130;
für das erste Lied Lachmanns hat Müller diese Rhapsodieen genauer so her-
gestellt [wobei die eckige Klammer Strophen bedeutet, welche dem ersten
Dichter nicht angehören, an deren Stelle aber früher andere von ähnlichem
Inhalte gestanden zu haben scheinen]:
Rhaps. I: Str. [2. 4. 7.] 13—16.
Rhaps. II: Str. 20. 22. 45. 49. .")1. .')3. .-)l. .-)(;— 60.
Rhaps. III: Str. 72-74. 76 79.
Rhaps. IV: Str. SO. S2— 87. [88,1. 101,2—4.] 102. 103.
Rhaps. V: Str. 105-107. 109. 118 — 121. 123. 124. 126. 127. 129.
A. Die vurhauik'acu Tlicuriccu. 2 Di
Diese Mittelstiilc des Epos ciitsprung- natiirgeuiäss ziig-lcicli mit
der Kniistdichtiing; sie war für den mündliclicii Vortrag g'uiiz
besonders passend, gal) Ruliepuncte und erleichterte das I>elialtcii
der Lieder, wich aber in der Folge einem anderen Einth(nluiigs-
princip.
Dieses war die Einthciimig in ,, A ventiuren", welche nur
die Abschnitte eines zusaunnenhängenden, wie die Ritterepen
l'ür's Lesen bestimmten, Gedichts andeuten sollen. Die Sprünge
zwischen den Rhapsodicen schliesst diese Eintheilung aus; daher
die Fülle von interpolierten Strophen im Nibelungenliede, die
sich besonders am Anfang und Ende alter Rhapsodieen linden. '"'j
Die Lachmannischen Lieder IL IIL V — VlII shid ganz
deutlich von einem andern Verfasser, der jünger als der erste ist
und deshalb der zweite heisst.'*) Die Begebenheiten dieses Theils
hangen eng zusammen und setzen immer einander voraus.'"')
\'iel leicht ist es eben dieser Dichter, welcher die Eintheilung in
Aventinren in das Gedicht eingeführt hat'"); wenigstens hat
sein Werk die kleinen Rhapsodieen nicht, auch hat es wenig
sjjätere Zusätze erfahren. Der Stil dieses Dichters ist sichtlich
weicher, höfischer, jünger als der des ersten.'") Dieser selbe
i:<) All einigen Stellen ist eine Rhapsodie in eine Avcntiurc verwandelt,
wie Lni. I, Rh. 1; Lm. IV, Rh. 1. 2; am Schlüsse linden sicji bedeutende
Zusätze. Aus den drei oder vier letzten Rhapsodieen von Lni. I sind 2
Aventiuren geworden.
14) Er sang die nicht sagengemässeu Abschnitte, Lni. 11. 111, einen grossen
l'heil von VI. VII wahrscheinlich ohne eine ältere Grundlage, welche er für
die mehr sagengemässeu Stellen sicher hatte.
15) Siegfried ist hier immer aus Niederlaud. was er, ausser Str. 2o [N. B.I],
beim ersten Verfasser nicht ist.
l(j) Die Abtheilung in Lieder, welche Lachmann gemacht hat, schliesst
sich in dieser Partie mehr der überlieferten in Aventiuren an.
17) Der Ton ist oft weich, weniger kurz und scbraiicklos. Das Fort-
schreiten der Handlung ist langsamer, es finden sich keine Sprünge; (li<;
Manier ist breiter, der Stil geschmückt, dem höfischen sick nähernd; die
Darstellung subjectiv, lobend oder tadelnd, ethisch gefärbt, mit allgemeinen
Sentenzen verbrämt. Von alle dem hat der erste Dichter gar nichts. Bei
dem zweiten Dichter treten die Charaktere deutlicher und bestimmter hervor;
Gedanken und Gesinnungen werden erwähnt und gerne zu den Begebenheiten
in Contrast gesetzt. Der Verfasser ist mit höfischem Wesen bekannt, schildert
höfische Dinge mit Vorliebe, ist dem Frauencultus ergeben. Er hat einige
specitische Wendungen und Ausdrücke. Die J'orm ist bei ihm viel ausge-
bildeter als beiden! ersten Dichter, -der Satzbau manchfacher und gewandter,
der Ausdruck geschmückter; es finden sich weniger althergebrachte epische
214 II. L)er Verfasser des Nibelungenliedes.
zweite Dichter hat Einiges von dem verfasst, was Lachniann
Fortsetzungen oder Zusätze nennt. Die Zusätze in der Arbeit
des ersten Dichters entsprechen im Allgemeinen dem Ton des
zweiten sehr.'*) Inwieweit dieser ausserdem das Werk seines Jf
Vorgängers verändert haben mag oder ob er es sonst unverändert
gelassen, muss dahingestellt bleiben. Es finden sich aber auch
Liederfortsetzungen, die nicht von dem zweiten Dichter her-
rühren können;'-') ausserdem mehrere ganz müssige und schlechte
Strophen.
Vom neunten Lied Lachmanns an bricht wider eine ältere
Grundlage bald mehr bald minder deutlich hervor, bald fehlt
sie ganz. Die Abweichungen in der Sage zeigen aber, dass
dieselbe jedenfalls nicht von dem ersten Dichter des ersten
Theils herrührt."") Diese ältere Grundlage hatte allem Anschein
nach wider kleine Rhapsodieen.^') Daneben findet sich im
zweiten Theil des Gedichts widerum eine ne^uere Bearbei-
tung, in welcher wohl der zweite Verfasser des ersten Theils
zu erkennen ist.^"^) Bisweilen liegt Aelteres und Neueres un-
vereint neben einander.
54. I
Die Liedertheorie, sei es in der Form, welche ihr Lacli-
mann, oder in der, welche ihr W. Müller gegeben hat, verdankt
ihren Ursprnug deutlich der von F. A. Wolf angeregten Unter-
Formeln. Der Constructionsübergang, den der erste Dichter nicht hat, ist
vielleicht dem zweiten erlaubt. Die Reime beider Dichter zeigen auf den
ersten Blick grosse Uebereinstimmung; doch sind bei dem ersten Verfasser
die Keimworte voller und gewichtiger, indem er einsilbi^je Partikeln, überhaupt
kleinere Wörter, im Reime meidet, was der zweite nicht tluit.
IS) So gehört 4'.)() — 5TU dem zweiten Verfasser an; die von Ladimanu
aus seinem vierten Liede ausgestosscneu Strophen, in denen Hagen genannt
ist, werden, wenn auch nicht alle, von demselben Verfasser stammen.
19) So Str. 451—480, eine Stelle ohne sagenhaften Gelialt, mit einem
dem zweiten Dichter fremden Humor, noch jünger als dieser.
20) Diese Abweichungen in der Sage stimmen mit der Thidrekssaga
übereiu, mit der sich von jetzt an überhaupt oft wörtliche Uebereinstimmung
findet.
21) Z. B. Str. '.111-1)54. iii.TC)— lOT'.i. 1571 — l.")M; besonders stark tritt
die Eintheilung in Rhapsodieen liervor in Lm. XV— XVII; diss erklärt dort
auch die Verwirrung der Reihenfolge.
22) So z. B. Str. 1242—132»). ITbT— isa5.
A. Die vorhandenen Theoriceu. 215
siK'liuiig- Über die bomcrisclicn Gesäng-e.') Auch in der Be-
traclituiij^' dieser zeigen dieselben drei Standi)unctc vertreten,
welche sich in der Nibclungenfrage geltend gcnuicht. haben : der
der ünitarier'-), ihm entgegengesetzt derjenige der „Kleinlieder-
jäger""*) und zwischen beiden derjenige, dessen Vertreter mehr
eine Verschmelzung, ein allmähliches Zusammenwachsen aus
grösseren Bestandtheilen annehmen.') Es wäre aber verkehrt,
deshalb, weil in der homerischen Frage eine dieser Anschauungen
gegenwärtig so ziemlich die Oberhand gewonnen hat, diese
Anschauung, die von dem Zusammenwachsen aus verschiedenen
Bestandtheilen, eben deswegen in apriorischer Weise sofort auf
die Xibelungeufrage zu übertragen. Denn bei aller Verwandt-
schaft beider Fragen ist doch die historische Stellung des
Xil)elungenliedcs eine ganz andere als die der homerischen Ge-
sänge. Die Stellung zu Anlaug aller nationalen Litteratur, in einer
Zeit, in der die litterarische Verwendung der Schrift gegründeten
Zweifeln unterliegt, diese Stellung des homerischen Epos hat das
Nibelungenlied nicht. Die bestimmten Notizen über den getrennten
Vortrag der homerischen Gesänge durch die Rhapsoden, über
eine Zeit, da diese Gedichte nur in der Form getrennter Ab-
schnitte bestanden"), endlich der Angelpunct der homerischen
Frage, die Peisistratidenreceusion, — das sind alles Dinge, die
auf das Nibelungenlied keine Anwendung finden, da sich von
ähnlichen Zeugnissen für dasselbe keine Spur findet. Unrichtig
wäre es aber, wegen des Mangels 'solcher Zeugnisse, welche
freilich die Liedertheorie in der homerischen Frage sehr wesentlich
1) Diss hat ja Lachmann selbst (Urspr. Gestalt S. 3) unumwunden zu-
gegeben.
2) Unter den Homerikern vor allem Nitzsch und Bäumlein.
3) Lachmaun auf beiden Gebieten, neben ihm in der homerischen Frage
insbesondere Köchly für die Jlias, La Roche für die Odyssee.
4) Dahin für die Nibelungen W. Müller, auch Müllenhotf mehr oder
minder; in der homerischen Frage ist diese Anschauung vertreten und sehr
verbreitet geworden durch G. Grote, Friedländer und Düntzer für die Ilias.
durch A. Kirchhoff für die Odyssee. (Mit Müllei'fe Theorie von den Nibelungen-
liedern Hesse sich am genausten wohl die moderne Anschauung von der
Entstehung des Pentateuch vergleichen.)
h) Selbst der strengste aller Unitarier, W. Bäum lein, gibt in seiner
conuneidatio de Homer o eiusque canninibus (seiner Ausgabe Homers, Leipzig,
bei B. Tauchnitz, \^h\, vorgedruckt), S. XII, § 7, zu: FuU ujilur leiupus,
(/HO Iliadls et Odijsscm solukc rhapsodko in vul/jus cogniUe erant, ipsa
poemata i'jnorahantur.
210 II. Der Verfasser des Nibeluugenliedes.
uuterstützt habcu, uuu .sogleicb dem Nibelungeulicde die Ent-
stehung aus Liedern abzusprechen. Es hängt Ider alles von der
genauen Betraclitung des Gedichts sell)st ab.
Zu unterscheiden ist hier, wie Heinrich Fischer richtig be-
merkt'^), zwischen der Liedertheorie überhaupt und deren ver-
scliiedenen Gestaltungen. Ist die erstere unrichtig, so sind
natürlich die letzteren es auch ; erweisen sich diese als falsch, so
wird die Ansicht von der Entstehung aus Liedern vielleicht er-
schüttert, aber immer noch möglich sein. Wir betrachten zuerst
Lachmanns Theorie. Sie lässt sich kurz abfinden, da Heinrich
Fischer in seinem „Nibelungenli^ oder XibelungenliederV"
eine gründliche Kritik derselben gegeben hat.
Ehe Fischer Lachmanns Kritik selbst untersucht, weist er
(s. 0. § 9j Vilmars Versuch, durch einen Xachweis alter Allittera-
tionen Lachmanns Theorie zu stützen, zurück, weil derselbe erstens
Lachmanns eigenen Sätzen widerspricht, nach welchen die
zwanzig Lieder nicht \oy 1 190 gedichtet und in ihrer ursprüng-
lichen metrischen Form auf uns gekommen sind, und weil
zweitens das Gegentheil von dem, was Vilmar erhärten will,
sich ergibt, sobald man einzelne Theile des Gedichts auf
Allitterationen hin betrachtet.')
In der Prüfung von Lachmanns Theorie berücksiciitigt
Fischer zugleich die Einzelkritik Müllenhoffs.**j Er untersucht
zunächst Lachmanns Kriterien, wie sie Müllenliotf heraus-
gestellt haf'j, und beweist in genauer Untersuchung'"), dass die
vier ersten derselben") von Lachmann mit nichten consequent
angewendet worden sind.'-) Die vier letzten") sind subjectiver
ß) Nibeluugenlied oder Nibelungeulieder "■' S. 141 ff.
7) Die Sache ist von uuerheblicbem Belang und sclion >; '.»etwas genauer
erwähnt worden (S. 31).
S' Abgesehen von seiner Theorie von den Liederbüchern.
'.j) s. § -jo, not. 1^ (S. r.n f.).
lUj Nachdem Iloltzmann (Kampf etc. S. ii.j — 4<i) eine unvollständigere
Kritik dieser Dinge gegeben^ hatte.
Hl D. h. zweisilbiger Auftact, Cäsurreiin. Constructiuosübcrgang und
Kegeiii;sigkeit der Anrede.
12) Besonders die Xichtanwendung mehrerer l\ritcrien auf das zwanzigste
Lied, das doch, weil zum Lesen bestimmt, mehr iStrengc in diesen Puncteu
zeigen sollte, kommt hier in Betracht.
l;5i „Nichtigkeit der Schlusszeilen, armseliges Zusammenbetteln der
Ausdrücke, müssiges Anbringen der burgundischen Helden, wohlfeile Be-
schreibungen."
A. Die vorliaiuk'iioii Tlicdriocn. 217
Art und hei jeder ein/.elueii Stelle, wo sie Lacliiii;niii :inj;e\v;nuH
hat, /u prüfen. Die darauf folgende Kritik vun Laclnn;inns
Zablenverliältnissen lial)en wir sehon i? 51 erwähnt.
Den Haupttheil von Fischers Untersuchung bildet die Be-
trachtung von Lachnianns Kritik der einzelnen Lieder. Hievon
einen ausführlichen Bericht zu geben, ist übertlüssig und würde
>iel zu weit führen. Die drei Gründe, mit denen hier gegen
Lachmann oi)eriert wird, sind die, dass 1) die Laclimannischen
Lieder keine Lieder sind, sondern sämmtlich Abschnitte eines
grösseren Ganzen, indem sie auf einander voraus- und zurück-
deuten''j; 2) dass die Athetesen LachniMuns unbegründet sind,
indem sie auf den erwähnten theils inconsequent ange>vandteii
theils rein subjectivcn Kriterien beruhen; dass 3) Lachmann
sich stets in einem Cirkel bewegt, indem er den einzelnen
Liedern einen bestimmten Charakter zuspricht, der sich erst nach
Auswerfung gewisser Strophen ergiltt, und sodann um dieses
Charakters willen die betreöenden Strophen athetiert.
Den folgenden Abschnitt in Fiachers Werke, „die Lieder-
theorie", werden wir unten berühren; der letzte, ., die Hand-
schriftenfrage", ist sclioii v< •) erwähnt worden.
Fischer scheint uns in der That mit Erfolg bewiesen zu
haben, dass Lachmauns Theorie ungegründet und unhaltbar ist.
Schon durch die Umstossung der Autorität von .1 war diese
Theorie heftig erschüttert. Der endgiltig geführte Beweis aber,
dass die Anstösse, welche in dem Gedicht vorhanden sein sollten
und welche Anlass der Liedertheorie wurden, nicht vorhandcii
oder doch unbedeutend genug sind, der Beweis, dass die ganze
Kritik, welche zur Herstellung der Lieder tiihrte, inconsequent
und oft genug willkürlich Avar, dieser Beweis muss Lachmanns
Theorie völlig vernichten. Wenn Lachmann oftmals mit feinem
Geschmack schlechte Strophen herausgefühlt hat, wenn seine
Lieder in der That im allgemeinen die schönsten Strophen ent-
halten, so ist das kein Beweis iür seine Theorie. Die poetische
Begabung des Dichters ist ül)crhaupt, soweit sie sich auf die
Darstellung selbst, nicht auf den Gegenstand bezieht, keine sehr
hochstehende. Vieles Schöne mag der Dichter aus älteren
Liedern entlehnt haben ; dass es ihm selbst an Darstellungsgabe
im Einzelnen fehlte, ist kaum bestritten. Auch eine gewisse
Verschiedenheit des Tons in einzelnen Partieen des Gedichts mag
lli Das bat «cliou AV. Müllt-r bemerkt; s. § 5;;. not. 10 (S. ■_M2).
218 n. Der Verfasser des Nibelungenliedes.
vielleicht weniger auf der Verschiedenheit des Erzählten beruhen
als auf der der Vorlagen, welche der Dichter benutzte. Jedenfalls
ist es nicht möglich, mit Laclimann um dieser Verschiedenheiten
willen anzunehmen, dass uns verschiedene Lieder in ihrer ur-
sprünglichen Form vorliegen. Der Beweis, den Bartsch (s. o.)
geführt hat, dass in allen Aveseutlichen Dingen der Form alle Theilc
des Gedichtes gleich sind, ist zu sicher, als dass man nicht das
ganze Gedicht in der Form, wie es uns aus der Vergleichung
der Handschriften sich ergibt, für das Werk e i n e s V e r f a s s e r s,
d. h. eines solchen halten müste, der nicht bloss vorhandene
Stücke in ihrer vorhandenen Form zusammengesetzt und durch
►Strophen eigener Mache verbunden hat, sondern der alle Strophen,
welche die Handschriftenuntersuchung als echt gelten lässt. ver-
fasst, jedenfalls allen ihre Form gegeben hat, mag er nun an
ältere Lieder, die er benutzte, sich auch vielleicht ziemlich
wörtlich angeschlossen haben. P^in solcher ist aber nicht mehr
ein Sammler und Ordner von Liedern, sondern er ist ein Dichter,
wenn auch vielleicht ein solcher, der auf bedeutende Originalität
keinen Anspruch machen darf Von einer Liedertheorie kann
so keine Rede mehr sein.
Damit haben wir bereits den Boden der S])eciell Lach-
mannische^i Liedertheorie '■") verlassen und unsere Untersuchung
dreht sich um die Liedertheorie im Allgemeinen. W. Müller hat
zu Anfang seines Schriftchens "*) mehrere Gründe geltend ge-
macht, ^velche die Verschiedenheit der Verfasser beweisen
sollen. Heinrich Fischer hat in dem Abschnitt „die Lieder-
tiieorie" diese Gründe berücksichtigt und zurückgewiesen. Zwei
derselben, diejenigen, welche rein ästhetischer Natur sind, haben
wir schon betrachtet. Einen weiteren Grund, das Vergessen
früher hervorgehobener Personen, hat Fischer'") genügend be-
sprochen: die betretfenden Personen verschwinden einfach, sobald
sie nichts mehr zu thun haben.'*)
15) Mit dieser ist auch Mülleuhofts Theorie erledigt; diese hält sich
ja in der Einzelkritik ganz auf dem Boden Lachmanns und operiert fast
einzig mit den iistliotisclien (iosichtspuncten, die wir berührt haben; die
Tlieorie von den Liederbüclu'rn geht uns niclits an; sie mag auf andere
Gedichte Anwendung linden (wenn sie überhaujjt einigermassen bewiesen
ist), auf das Nibelungenlied rindet sie keine; s. auch unten not. 25.
16) S. auch oben, § yi zu Anfang.
17) L. c. S. 142.
18) Besonders auffallend ist dieses Argument aus dem Verschwinden
A. Die vüiluiiulcuen Tlieorieeii. 210
Die Widcrsprüclic, die sich im (jodiciitc tiiideii solllcn, hat
Fischer auf sieben reduciert"'); von diesen zieht er zwei als
uiclitssagend ab-"); um die anderen zu entfernen, recurriert er
auf C, weiclic vier derselben entfernt.^') Das Letztere können
wir nicht thun, da wir eher anzunehmen i;-eneigt werden,
dass C mit Bewustsein diese Widersprüche entfernt habe. Aber
wir werden nach dem Obengesagten annehmen dürfen"), dass
diese AVidersi)rüclie aus den jeAveiligen Vorlagen des Dichters
stammen, die derselbe ein wenig allzutreu benutzte.-^)
Noch ein Grund könnte vielleicht für die Liedertheorie im
Allgemeinen geltend gemacht werden: die Anonymität des
Verfassers, der nicht nur selbst seinen Namen (im Zusanmien-
hang mit dem vollständigen Zurücktreten des Dichters im ganzen
Liede) verschwiegen hat, sondern auch von keiner anderen Seite
überliefert ist. Es ist dieses Verschweigen des Dichternamens
in der höfischen Epik freilich nicht Sitte, wohl aber finden wir
es in den Dichtungen, welche nationale Stoffe be-
handelt haben. Man könnte allerdings von Lachmannische r
Seite und vielleicht mit Recht einwenden, dass diss eine durch
den Vorgang des Nibelungenlieds veranlasste Gewohnheit ge-
wesen sei"-'); allein gerade diss spricht nicht eben zu Gunsten der
Liedertheorie. Denn die Verfasser jener nationalen Dichtungen
musten, wenn sie diese Eigenthümlicbkeit des Verfassers unseres
Gedichtes nachahmten, dasselbe doch offenbar als ein Ganzes,
als das Werk eines Verfassers ansehen; wüsten sie, dass das
Gedicht ursprünglich aus vereinzelten Liedern bestand, so konnte
ihnen unmöglich in den Sinn kommen, etwas nachzuahmen, was
einer Person bei Lat-limann; denn ein Dichter, welcher eine Person, die
doch nichts zu thun hat, überall wider nennen sollte, thäte gei'ade das, was
Müllenhoff den luterpulatoren zuschreibt: müssiges Anbringen der Heiden,
nur damit sie nicht vergessen werden!
1!)) Str. 7r)3,:<; 921 f.; 854,3; H(jl,3; I tr,", 1 f. ; lstil,3; 1417.
20) Stf. 763,3 und '.121 f.
2!) C hat nur den ^Yidersl)ruch Str. 1417.
22) Wenn wir nicht diese "Widersprüche, die ohne grossen Belang sind,
für zufällige Verseheu des Dichters halten wollen; s. Fischer S. Ss und
Bartsch, Unters. S. 376 f.
23) Diss ist auch Bartschs Ansicht; s. Unters S. 375.
24) Pfeiö'er hat, freilich nicht in Lachmannischem Sinne, auf jene Sitte
aufmerksam gemacht und sie ebcij als Nachahmung des Nibelungenlieds be-
zeichnet; ..Der Dichter des Nibelungenliedes" sab tin.
220 11. Der Verfasser des Kibeliuigeuliedes.
aas einem Umstände zu erklären war, der in ihren eigenen
Dichtungen ganz fehlte.-*"')
Die Annahme also, dass die Hitte der Anonynutät in den
nationalen Epen aus dem Vorgange des Nibelungenliedes zu er-
klären sei, spricht entschieden tiir die Einheitlichkeit seiner
Abfassung. Nehmen wir aber an, dass das Nibelungenlied hier
einer schon vorhandenen Sitte folge, so ist die Anonymität des
Verfassers sehr einfach erklärt, und es kann somit aus derselben
in keiner Weise ein Sclduss auf eine .Mehrheit der Verfasser
gezogen werden.-")
So sehen wir, dass alle Gründe für die Liedertheorie fallen
müssen; auf der anderen Seite streiten starke positive Gründe
gegen dieselbe. Ausser den schon angeführten, der Umstossung
der Autorität der Handschrift .1 und dem Nachweise von der
Gleichheit der Formbehandlung im ganzen Gedichte, mag noch
auf den Beweis aus der ästhetischen Einheit des Gedichts,
wenn er auch von minderer Stärke ist, hingewiesen werden.''')
Fällt die Berechtigung der Liedertheorie überhaupt, so ist
damit auch AV. Müllers Theorie hinfällig. In der Einzelkritik,
wie z. B. in der Stropheuathetese, steht Müller doch auf demselben
Boden mit Lachmann; die Unterschiede zwischen der Dichtung
des ersten und der des zweiten Dichters fallen in eine Kategorie
von Gründen, die wir schon berücksichtigt und als beweis-
unkräftig dargestellt haben. Was Müller über die Einzellieder
sagt, die sich aus der Betrachtung der Sage ergeben sollen, das
beruht theilweise auf derselben Anschauung von der sklavischen
2.T| Diss beweist auch gegen Müllenhoffs Theorie von den Liederbüchern ;
diese hatten sich doch wohl in dem Kreise der Fahrenden, dem die Dichter
jener jüngeren Epen angehören, etwas länger erhalten müssen; oder Mülleu-
lioH' wird doch nicht annehmen wuUcn, dass der Sammler der zwanzig Lieder
sicii nun zugieicli alle erdeiikliclic Mühe gegeben habe, die Liederbücher, die
er cuinpiliert hatte, aus der Welt zu schaffen?
'2ti) Ohnehin könnte die Anonymität des Verfassers, wäre sie auch nicht
Gemeingut der nationalen Epik, einen Schluss auf IMehrht'it der Verfasser,
der von anderswoher stanunte , verstärken , nicht al)er für sich allein einen
solchen möglich machen.
21) Es sei hier kurz auf den treffliclien Aufsatz von Ludwig Bauer,
.. l>as Lied der Nibelungen, ein Kunstwerk" (Ludwig Hauers Schriften, nach
seinem Tode in (dner Auswahl herausgegeben von seinen P'reunden; Stutt-
gart 1847), verwiesen, welcher in einer wohl mandimal ins Ucbcrschwäng-
liche geratheuden Darlegung des Inhalts der Nibelungen deren poetische
Einheit nachzuweisen bemüht ist.
A. Dir» vorliandonon Thooripen. 22t
BelieiTScliung der Dicliter diircli die Sage, wie sie bei Lacbmann
uns entgeg-entritt, als ob an die v(»rliandenen Abscbnitte einer
grösseren Sage ein Dicbter sieb notbwendig bätte binden müssen;
andererseits ist diese Tbeiiung der Sage in ibre Abselniitte von
wenig Einfluss auf den Kern der ]\riilleriscben Tlieorie geblieben.
O.).
Sind wir naeb dem Ausgefiibrten berecbtigt, eine einbeitlicbe
Abfassung des Xibelungeidiedes anzunelnnen, so sind wir aueb
berecbtigt, naeb dem Namen oder docb der Person seines \'er-
fassers zu fragen. Und vm dieser Frage bat die Forscbung nielit
nur das Reelit, sondern aueb die Ptiicbt, weil das Nil)elungenlied
ein bedeutendes Werk ist, dessen Verfasser zu erforseben niebt
allein das Getübl wobltbätig anregen, niebt allein die wissen-
scbaftlicbe Akribie befriedigen, sondern aueb, bei der singulären
Stellung, die das Nibelungenlied (nebst der Kudrun) gegenüber
der ritterlicben Dicbtung als ein nationales Dicbterwerk ein-
ninnnt, uns Aufkbirungen geben muss ül)cr das Verbältniss,
insbesondere das zeitliebe, zwiscben der nationalen und der
romanisiereiulen Hofdicbtung. üass das Nibelungenlied keines-
wegs als ein Volksepos in dem Sinne aufzufassen ist, in welcbeni
Lacbmann es fasste, dürfte erwiesen sein. Vielmehr ist es —
das baben auch Lacbmanns Anbänger, freiwillig oder gezwungen,
zugestanden — ebensogut ein Werk bötiscber Dicbtung, als die
Werke Hartmanns, Wolframs und ibrer Nachfolger'); nur dass
der nationale Inhalt desselben den Verfasser vor überfeiner
Manieriertheit bewahrt und ihm den Sinn für stoffliche Be
deutendheit wach erbalten bat, den die ritterlichen Epiker und
Lyriker so vielfach über dem romanisierenden Frauendienst des
dreizehnten Jahrhunderts und dem fast übertriebenen Streben
nach formaler Glätte und Reinheit verloren; wie umgekehrt zu
der Formvollendung der romanisierenden Dichter die Unbeholfen-
heit des Dichters der Nibelungen, wie sie in mancben Dingen
sich zeigt, in deutlichem Gegensatze steht.
1) S. Zarncke, Nibelungentrage, Anhang I; Beiträge 216 ff.; Pfeiffer,
Freie Forschung S. 37. 51 f.; Müllenhoff, Zur Gesch. der N. N. I. insbe-
sondere S. 893 f.
222 IL Der Verfasser des Nibelungenliedes.
Durch diesen Gegensatz zwischen der Poesie des Nibelungen-
liedes und der der ritterlichen Epo])<»ic wird nun Jiuch die Frage
nach der Entstehungszeit des Nibelungenliedes wichtig,
welche natürlicherweise mit der Frage nach dem Verfasser zu-
samiiient'ällt; denn durch die Beantwortung jener Frage erhalten wir
Aufschluss über die Entwicklung des Geschmacks in jener Zeit,
darüber, ob die nationale Richtung als verdrängt durch die so-
zusagen classische romanisierende betrachtet werden muss oder
als gleichzeitig mit derselben ; denn dass die nationale Richtung
des Geschmacks aus einer Reaction gegen die romanisierende
entstanden-), somit später als diese wäre, diese Annahme wird
durch die Altersbestimmung der Handschriften unseres Liedes
von vornherein unmöglich gemacht. — Zugleich Avird dadurch,
dass auch das Nibelungenlied als Erzeugnis höfischer Poesie zu
betrachten ist, die Frage nach seiner Heimat wichtig, welche
ebenfalls mit der nach dem Dichter zusammenfällt; denn alsdann
können wir l>eurtheilen, Avelches Land, welcher Plof etwa es war,
der, gegenüber der fremdländischen Richtung der meisten deutschen
Höfe und Fürsten, die nationale Richtung gepflegt hat.^)
56.
Es gibt nur eine Theorie über den Verfasser unseres
Liedes, Avelche wirklich wissenschaftlichen Wertli noch jetzt
besitzt, die Theorie von Pfeiffer und Bartsch. Alle voran-
gegangenen dürfen als veraltet betrachtet werden. Es lohnt sich
aber, von den früheren Ansichten über diesen Punct zwei zu
betrachten, die eine, die von Spann, weil sie sich auf die
breite Basis eines eigenen Buches über diesen Gegenstand stützte
und ausserdem in früheren Jahren mehrere Anhänger hatte,
die andere, weil sie von einem Manne ausgcsj)r(K'hen wurde,
der in der Geschichte der Nibelungenfrage epochemachend war,
v(»n Holtzmann.
2) Wie etwa im 1^. .lalirlumdert die Sturm- und Drang-Poesie reagierte
gegen die alexandrinisierenden Anakreontiker des 17. und IS. Jahrhunderts;
wie im 19. Jahrhundert die Befreiungskriege eine nationale Reaction hervor-
riefen, die gegen den idealen Kosmopolitismus der reinen Schönheit in die
Schranken trat.
3) lieber Zeit und Heimat s. erst bei der Kritik.
A. Dio vorhandonon 'J'hcorioon. 223
57.
Anton, Ritter von Spann
hat') die Antorscliat't des Nibelungenliedes einem Manne zuge-
wiesen, der uns dureli kein litterariselies Erzeugnis bekannt ist,
sondern vielmehr in der Geschichte der deutschen Poesie des
Mittelalters fast die dunkelste Rolle spielt, dem Heinrieh von
Ofterdingeu.
Der herrschenden Ansicht gegenüber, dass der Wartburg-
krieg eine Fiction und die beiden verbündet darin gegen die
anderen auftretenden Sänger, Heinrich von Ofterdingen und
Klinsor von Ungerland, nur mythische Personen seien, will S])ann
l)eiden historische Bedeutung zumessen. Er setzt sich Ofter-
dingens Leben dergestalt zusammen. Heinrich war aus der
Familie derer von Ofterdingen .oder Oftheringen im Traungau
geboren etwa 1160, wahrscheinlich der Sohn Adelrams von
Oftheringen. Er gehörte als ritterlicher Säuger zu der Umgebung
der österreichischen Herzöge Leopolds VI., Friedrichs des Ka-
tholischen und Leopolds VU., von denen der letztgenannte am
28. Juli 1230 starb. Der Wartbm-gkrieg, bei welchem Heinrich
gegen die übrigen Sänger, welche den Landgrafen Hermann von
Thüringen erheben, seinen Herzog Leopold YH. preist, fällt
noch vor die Abfassung des Parcival und Titurel. Dass Ofter-
dingen hier für Leopold von Oesterreich Partei nimmt, hängt mit
der mehr nationalen Richtung des österreichischen Hofes zu-
sammen. Der Gesichtskreis des Nibelungenliedes — dessen Einheit
Spaun mit warmen Worten verficht^) — beweist, dass dieses aus
Oesterreich stammt, dessen Gegenden darin mit einem sicht-
lichen localen Interesse behandelt sind; auch die historischen
Erinnerungen des Nibelungenliedes weisen auf Oesterreich, ebenso
alle Namen desselben, welche im zwölften und den folgenden
Jahrhunderten häufig als österreichische Personennamen vor-
kommen. Die Sprache des Nibelungenliedes ist offenbar öster-
reichisch; denn noch heute ist eine Menge von Ausdrücken
des Nibelungenliedes im österreichischen Volksdialekt erhalten.^)
1) „Heinrich von Ofterdingen und das Nibelungenlied •', Linz IS40.
2) Seite 4:^ tt'.
:5) [Spann citiert eine grosse Zahl von allgemein rahd. Worten ; wenn sich
diese in Oesterreich besonders lange erhalten haben, so Ijeweist das nichts.]
224
11. Der Verfasser des Nibelungenliedes.
In mehreren Gegenden Oesterreiehs haben sicli noch Volks-
weisen erhalten, welche mit der Xibehingenstroplie offenbar
identisch sind.')
Aus allen diesen Gründen schreibt Spann nach A. W.
Schlegels Vorgange dem Heinrich von Ot'terdingcn die Autor-
schaft des Nibelungenliedes zu, ebenso die des kleinen Rosen-
gartens, des Biterolf und der Klage, welche in ihrem Gesichts-
kreise viele Aehnlichkeit mit dem Xil)elungenliede zeigen sollen,
insbesondere in dem Hasse ihres Verfassers gegen Baiern,
welcher Hass von einem Oesterreicher bei den beständigen
Fehden zwischen Baiern und Oesterreich wohl zu begreifen sei.
In mehreren glänzenden Festen der österreichischen Herzöge,
wie dem Empfange Friedrichs I. zu Wien durch Leopold VI.
f 1 1 S9) , der Verlobung Kaiser Ottos mit Beatrix , der Tochter
Pliili})ps von Staufen, in Würzburg, welcher Leopold VII. an-
wohnte (1209), findet Si)aun die Gelegenheiten, bei denen der
Dichter des Nibelungenliedes Stoff zur Schilderung seiner Feste
gefunden habe.
58.
Adolf Holtzmann
bat (s. 0.) eine umfassend begründete Theorie über den ursprüng-
licheu Verfasser des Nibelungenliedes aufgestellt. Da «r das
Gedicht Konrads fäl,schlich für ein deutsches hielt, so war ihm
natürlich Konrad der wahre \'erfasser des Liedes, welchem
gegenüber der Verfasse)- des uns erhaltenen Liedes, auch wenn
4) [S. dagegen Zeune in Ilagons Germ. IV, S. 117. DieLiodonnolndieen
Spanns haben nicht den Rhythmus der Nibelungenstrophe, welcher gegenüber
den verschiedenen Rhythmen in den von Spauu überlieferten Liedern stets
folgend(!r ist:
> I > I 1 iN r ij^ >
A. Die vorhandenen Theorieen. 225
wir gemäss unserem bei der Handschriftenfrage gewonnenen
Resultate über die beiden Bearbeitungen auf eine trübere Gestalt
zurückgehen, nur als Umarbeiter dasteht.
Nachdem wir nun oben uns dafür entschieden haben, dass
das Werk Konrads ein lateinisches gewesen sei, ist er für
uns nicht mehr der ^'erfasser unseres Gedichts, die Untersuchung
über seine Person fällt somit ausserhalb des Rahmens unserer
Frage. Einen Punct aber müssen wir kurz hervorheben. Holtz-
mann hat seinen Konrad mit dem Kürenb erger verglichen
und die Identität beider wahrscheinlich gefunden. Wenn Konrad
lateinisch geschrieben hat, so fällt diese Parallele natürlich weg.
Sie ist aber ohnehin fehlerhaft; wir haben gar kein Recht, den
Kürenberger über das zwölfte Jahrhundert hinaufzurücken; Sprache
und Reime verbieten das, und schon der ganze dichterische
Charakter der Kürenbergischen Strophen macht es unmöglich.
Ein Minnesinger von dieser. Art im zehnten Jahrhundertl
Wichtiger ist für uns, was Holtzmann über die Person
des letzten Redactors, d. h. für ihn des Verfassers von C,
sagt. K. Roth hat auf Rudolf v o n Hohe n e m s als Verfasser
des Nibelungenliedes geratheu. Holtzmann will diese Ansicht
nicht theilen, weil er Rudolf für den Verfasser der Klage hält
und nicht glaul)en kann, dass derselbe Mann beide Gedichte
verfasst habe; doch führt er Einiges an, was sich zur Unter-
stützung der Rothischen Ansicht beibringen Hesse.')
Wahrscheinlicher erscheint Holtzmann die Vermuthuug v. d.
Magens, dass Walther von der Vogelweide das Nibe-
lungenlied gedichtet habe. Der Dichter war ohne Zweifel ein
Oesterreicher, da das alte Gedicht in Oesterreich entstanden und
ohne Zweifel daselbst auch am bekanntesten war; wahrschein-
licher wird diese Ansicht noch dadurch, dass der jüngere Dichter
an zwei Stellen, die in Konrads Gedicht eingeschoben sind,
Wien hervorhebt.-) Auch aus der Sprache lässt sich Manches
für österreichischen Ursprung beibringen^); nur ist hier die
Schwierigkeit vorhanden, dass österreichische Provincialismen,
da schon Konrad in Oesterreich schrieb, ebenso gut von diesem
1) S. Holtzmann S. IS4 f. [die Gründe sind sehr unerheblich].
2) [S. Seite 170; § 44, not. 39. Der Grund fallt natürlich für uns weg.]
3) Der Reim 20^6,1.2 gestvorn : tarn lässt sich entweder als archaistisch
oder als österreichisch betrachten;, auch Walther reimt verworren : pfarren,
woraus Lachmann auf seine österreichische Heimat schliesst.
Fischer, Nibelungenlied. 15
226 II. Der Verfasser des Nibelungenliedes.
herstammen können/) — Wenn der Verfasser des Nibelungen-
liedes zu finden ist, so kann nur die Form seiner Strophe
auf denselben führen. Es gibt aber um 1200 keinen Dichter,
der sich der Nibelungenstrophe bedient hätte. Walt her von
der Vogel weide allein kennt die Strophe; es findet sich im
Cod. Pal. unter seinen Gedichten ein Liedchen aus fünf Zeilen,
von denen die erste, zweite, dritte und fünfte mit einander die
Nibelungenstrophe bilden, während die vierte in der Form
w/^/v>/w/^/ vom Dichter eingeschoben wurde.^j Auch die
sechs oder zehn Nibelungenverse, die Walther in seinem Leich
anwendet, beweisen, dass er neben dem Nibelungen vers, den
er oft anwendet, auch die Nibelungen sti'ophe kannte.®) Doch
genügt diss und die Uebereinstimmung in manchen anderen
Dingen nicht, um Waither für den Autor des Nibelungenliedes
halten zu dürfen, da dieser Annahme manches Andere entgegen
steht. Holtzmann will daher eine eingehende Untersuchung
über den Verfasser überhaupt nicht wagen, bis eine kritische
Ausgabe von C existiere.
59.
Ausser den beiden bis jetzt kurz betrachteten Theorieen
Spanns und Holtzmanns'), welche schon oben als antiquiert be-
zeichnet wurden, betrachten wir nur noch eine gegenwärtig sehr
ausgedehnter Anerkennung und Beistimmung sich erfreuende
Theorie über den Verfasser unseres Liedes, die von
Franz Pfeiffer,
welcher Bartsch, sie mit mehreren wesentlichen kritischen Hilfs-
mitteln unterstützend, beigetreten ist.-)
Den Ausgangs- und Mittelpunct in Pfeiffers Untersuchung
4) [Diese Schwierigkeit fällt natürlich mit der Annahme eines lateini-
schen Wei-kes Konrads vollständig weg.]
5) [Gerade, dass Walther in diesem Liedchen eine weitere Zeile ein-
schiebt, beweist dagegen, dass er der Verfasser unseres Liedes sein könne;
dieses Einschiebsel ist offenbar gemacht, um nicht gegen das Verbot des
Gebrauches fremder Weisen zu Verstössen; s. Pfeiffer und Bartsch.]
6) [Die Zeilen des Leichs sind vielmehr gerade im Ilildebrandstone ge-
halten, d. h. CS finden sich nur 7 mal gehobene Langzeilcn; der einzige Dichter,
der wirklich die Nib. -Strophe anwendet, der Kürenberger, ist für Holtzmann
zu alt.]
1) Von denen die Holtzmanns gar nicht als solche ausgeführt ist.
2) Pfeiffer, Freie Forschung 1-52; Bartsch, Unters. IV (352—363).
A. Die vorhanden^ Theorieen. 227
bildet die metrische Form. Die Cardinalfragc hinsiclitlich
der metrischen Form des Nibelungenliedes bildet das bislier
immer übersehene Dilemma : entweder ist d i e X i b e 1 u n g c n -
Strophe eine aus dem Geiste des Volkes selbst her-
vorgegangene, althergebrachte, zu gewisser Zeit
allgemein übliche ])oetische Form für das Volksepos
oder doch einzelne Theile desselben; oder ist sie
das Werk bewuster vorgeschrittener Kunst, das
Kunstwerk eines Einzelnen. Im letzteren Falle fragt
es sich dann: Wer war ihr Urheber oder Erfinder?
In ältester Zeit kannten alle Völker nur eine Art der
Poesie, die epische, und diese war unstrophisch. Im
deutschen Epos herrschte die achtmal gehobene Lang-
zeile, deren Hälften durch Allitteration,- später durch den Reim
(die vierfüssigen kurzzeiligeu Reimpaare) verbunden waren. Diese
FoiTn blieb bis auf Opitz, der den Alexandriner in die deutsche
Dichtung einführte, die vorherrschende Form deutscher Poesie.
Von einer strophischen Verbindung dagegen weiss
die deutsche Poesie vor dem zwölften Jahrhundert nichts [die
Leiche sind übrigens strophisch |. Erst im Beginne dieses Jahr-
hunderts taucht dieselbe auf, und zw^ar in Begleitung der Lyrik.
Die lyrische Volkspoesie vor jener Zeit war gewiss mehr episch
als lyrisch [wie es unsere Volkslieder noch heute sind]. Erst die
gewaltige sociale und sittengeschichtliche Umwälzung der Kreuz-
züge brachte die E i n z e 1 1 y r i k u n d m i t ihr d i e s t r o p h i s c h e
Form auf, wie Lyrik und Strophe auch in der Geschichte der
griechischen Poesie in ihrer Entstehung zusammenfallen.
In Deutschland herrschte nun das Gesetz, dass derjenige,
welcher einen neuen „Ton", eine neue Weise fand, im
ausschliesslichen Besitze derselben blieb, dass
seine Weise von Anderen zwar nachgeahmt, d. h. um-
gestaltet und erweitert, nicht aber unverändert an-
gewandt werden durfte. Unter der ungeheuren Masse
lyrischer Gedichte vom zwölften Jahrhundert bis gegen das
Ende des dreizehnten ist die widerrechtliche Aneignung
eines fremden Tons ohne Beispiel; ja die öftere Widerholung
desselben Tons durch einen Dichter galt als ein Zeichen von
Unkunst.^) Noch die Meisterschulen des vierzehnten und der
3) So hat Walther v. d. V. unter zweihundert Sprüchen und Liedern
100 Weisen; Nithart sagt, dass er zum Lobe seiner Herrin SO neue Weisen
gesungen habe.
228 U. Dtr Yerfass«r des Nibelungenliedes.
folgenden Jahrhunderte beobachteten das genannte Gesetz inso-
fern, als Niemand Meister werden konnte, der nicht eine neue
Weise erfunden hatte.
Die strophische Gliederung drang aus der Lyrik alsbald
auch in die Epik ein, zunächst und vorzugsweise in den Ge-
dichten, welche dem Kreise der deutschen Heldensage an-
gehörten. Auch in der Epik wird eine bestimmte
Strophenform stets als das Eigenthum ihres Erfin-
ders angesehen.
Die älteste unter allen Strophenformen der Heldendichtung
ist unstreitig die N i b e 1 u n g e n s t r o ]) h e. Wackernagels Ansicht
von ihrem Ursprung aus dem Alexandriner ist veraltet; auch
die J. Grimms und Holtzmanns, dass sie aus der altepischen
Langzeile entstanden s6i, ist unrichtig. Denn der epische Vers
zerfällt in zwei Hälften von je vier Hebungen, die unter sich
durch den Reim verbunden sind, während der Nil)elungenvers
4 + 3 Hebungen hat und hier die Langzeilen durch Reime
verbunden sind.^) Wäre nun die Xibelungenstrophe als solche
aus dem Volke hervorgegangen, so wäre sie gewiss als Gemein-
gut Aller betrachtet worden, so gut wie die epische Langzeile.
Aber diss ist nicht der Fall. Im Gegentheil — es ist bis zur
Mitte des dreizehnten Jahrhunderts kein Gedicbt in dieser
Strophe geschrieben. Erst nach 1250, als in allen Kreisen des
Lebens sich die Begriffe von Mein und Dein zu verwirren be-
gannen, gelangte die Nibelungenstrophe, aber nicht unversehrt,
sondern in der Verkürzung zu dem sogenannten Hildebrandstone,
zu allgemeiner Anwendung, und zwar in solchen Gedichten,
welche auch sonst den Verfall der Kunst zu erkennen geben.
Aber aus der früheren Zeit, auf die es hier allein ankommt, ist
kein Beispiel der Entlehnung bekannt.")
Ueberall also, in der Epik A\äe in der Lyrik, findet sich
dieselbe Erscheinung. Daraus erhellt deutlich, dass die Nibe-
luugenstrophe kein Nationaleigenthum, sondern Erfindung und
4) Das sporadische Vorkommen 7 mal gehobener Verse in der alten
epischen Dichtung bestätigt nur die Regol.
5) Aus der Nib.-Str. zum Theil entstanden, aber sammtlich von ihr ver-
schieden sind die epischen Strophen dieser Zeit, die von Walt her und
Hildeguud, Kudrun. Rabcns chlacht (altl, Titurel (nach Wolframs
und seines Bearbeiters Strophenbau). Zwei weitere, wohl aus den kurzen
Reimpaaren entstandene Strophen sind die von Salman und Morolt
(12. Jahrh.) und König Tirol (13. Jahrh.).
A. Die vorhandenen Theoriecn. 229
Eigenthum eines Einzelnen war und als solches von den
Zeitgenossen anerkannt und geachtet wurde. Dass bei diesem
Verhältnis von Öpielleuten, die alle unabhängig und gleichzeitig
auf die Strophe gekommen wären und sie in ihren Liedern an-
gewandt hätten, von vornherein nicht die Rede sein kann, ist
vollständig klar.
Wer war nun der Erfinder der Nibelungen-
Strophe?
Unbestrittenermaassen ist der älteste deutsche Lyriker der
Kürenb erger. Seine Lebenszeit ist nicht genau bestimmbar,
sie mag etwa in die Jahre 1120 — 1140 fallen, da er jedenfalls
älter ist als Dietmar von Eist, der urkundlich von 1143 — 1171
nachgewiesen werden kann. Leider sind von Kürenbergs Liedern
nur wenige auf uns gelangt, im Ganzen fünfzehn Strophen. Ihre
Form ist durchweg die der Nibelungen Strophe. Da nun
der Kürenberger der einzige Dichter ist, der dieselbe gebraucht,
und diese Weise die einzige, die er anwendet (nicht richtig], so
muss er auch ihr Erfinder sein. Zum Ueberfluss wird diss be-
stätigt durch eine seiner Strophen, worin er durch den ]Mund
seiner Dame sagt, dass er in Kiirenberyes wise gesungen habe.")
Wunderbarer Weise bildet diese Strophenform im südwest-
lichen Deutschland ebenso in der Lyrik wie in der Epik den
vielfach variierten, aber nie unverändert entlehnten Grundton.
Daher wird es kein Fehlgi'iflf sein, den Kürenberger mit
dem Dichter des Nibelungenliedes zu identificieren.
Zur Unterstützung dieser Ansicht dient noch eine Anzahl
weiterer Momente'); gegen dieselbe scheint nur Eines zu
sprechen, nemlich der beträchtliche Zwischenraum von
50 — 60 Jahren zwischen den Strophen des Kürenbergers und.
dem Nibelungenliede, der sich besonders in den dort ungenauen,
hier genauen Reimen zu erkennen gibt. Dieses Hindernis muss
zuerst aus dem Wege geräumt werden.
Dass das Nibelungenlied in seiner jetzigen Gestalt nicht
vor 1190 entstanden sein kann, ist unbestiitten. 1185 — 1190
dichtete Veldecke seine Aeneide, in welcher er zum erstenmale
die vollständige Genauigkeit des Reims zum Princip
erhob. Vor ihm waren ungenaue Reime etwas ganz Gewöhnliches
6) Beiläutig ist diss vor dem 14. Jahrhundert das einzige Beispiel der
Benennung einer Weise nach ihrem Erfinder.
7) Dieselben s. u.
230 11- Der Verfasser des Nibelungenliedes.
uiul hei allen Dicliteni Häufiges. Wäre also das Nibelungenlied
vor 1190 gedichtet, so müste es mehr ungenaue Reime aufweisen,
als die wenigen, sporadischen, die es enthält. Aber das Nibe-
lungenlied hat ebenso genaue Reime wie die höfische Poesie vom
Ende des zwölften bis zur Mitte des dreizehnten Jahrhunderts.
— Dagegen finden sich bei dem Kürenberger ungenaue Reime
noch in grosser Menge.
Diese Kluft zwischen Kiirenbergs Strophen und dem Xibc-
lungeuliede ist jedoch sofort überbrückt, wenn nachgewiesen
wird, dass das Nibelungenlied in seiner jetzigen Ge-
stalt die Umarbeitung eines älteren Gedichts ist.
Und den Beweis dafür hat Holtzmann in der That geführt.
Einen Punct hat derselbe aber nicht genügend betont. Das
Nibelungenlied kennt nur stumpfe Reime; es finden sich aber
in demselben sehr häufig Reime auf zwei Silben mit langer
Penultima, welche stumpf gebraucht sind, da sie zwei Hebungen
bilden. Wie kommen nun diese Reime in das Nibelungenlied,
während schon vor Veldecke solche Reime durchweg als klingende
gelten? Hiefür ist nur eine Erklärung möglich.
Von Otfrid bis in das zwölfte Jahrhundert gab es nur ein-
silbige Reime. Der klingende Reim kam erst auf nach Ver-
flüchtigung der Endsilben. Noch Kürenberg, Dietmar von Eist,
der Spervogel gebrauchen iciume : kinide u. ä. stumpf, wie Otfrid;
Dietmar und der Spervogel zugleich auch schon klingend. Von
Dietmar bis Veldecke ist der klingende Reim völlig durchge-
drungen.*) In der strophischen Epik ist es ebenso wie bei den
Lyrikern. Nur das Nibelungenlied, obwohl später als die Aeneis,
macht davon eine Ausnahme. Daher setzte Lachmann, der Ge-
schichte zum Trotz, alle die genannten Lyriker nach 1170, weil
bei dieser Annahme das Vorhandensein von stumpf behandelten
zweisilbigen Reimen um 1190 nicht auffallend sein konnte. Aber
auch diese seine Auskunft war eine trügerische; denn in Salman
und Morolt, einem echt volksthümlichen Gedichte, das seine
unvollkommenen Reime in eine weit frühere Zeit weisen als
die Aeneis, finden sich die zweisilbigen Reime stets klingend
behandelt.
Für diese auffallende Erscheinung gibt es nur eine Er-
st In diese Zeit fallen die Lyriker: Meinloh von Sevelingen; Burggraf
von Regensburg; Friedrich von Hausen; Ulrich von Gutenburg: Rudolf von
Fenis; Albrecht von Johannsdorf; Heinrich von Rugge.
A. Die vorhandenen Theorieen. 231
klärung, die iiemlich, dass das Nibelungenlied die Um-
arbeitung- eines älteren Gedichtes sei.")
Beispiele von solchen Umarbeitungen bietet unsere ältere
Litteraturgeschichte in Menge.'") Grossentheils fallen dieselben
noch in das zwölfte Jahrhundert, und überall gibt sich das Be-
streben kund, genaue Keime an die Stelle der älteren, unge-
naueren zu setzen.
Aehnlich beim Nibelungenliede. Hier wurden die reinen
Reime zwar durchgetiihrt, aber von jenen scheinbar klingenden
diejenigen, Avelche wenigstens genau waren, ])eibehalten. Dabei
liegt die Vermuthung nahe, dass sich die Umarbeitung nicht auf
den Reim beschränkt, sondern auf das Ganze des Gedichts be-
zogen habe, welches im Sinne der erwachten höfischen Poesie
umgearbeitet und, wie bei jenen anderen Umarbeitungen, mit
Zusätzen versehen wurde.")
Ist damit der einzige Grund gegen die Identität des Küren-
bergers mit dem Dichter des Nibelungenliedes gehoben, so unter-
stützen mehrere Momente die Annahme derselben.
Die Gedichte des Kürenbergers , einfach und schmucklos,
sind zugleich nicht Liebeslieder gewöhnlichen Schlags, sondern
romanzenartige Gedichte. Aehnliche Erscheinungen von
lyrisch gefärbter Epik und epischer Lyrik gewähren die Anfänge
der Lyrik bei anderen Völkern. Namentlich frappiert die Aehn-
lichkeit zwischen Stesichoros und dem Kürenberger. Einem
Dichter, dessen lyrische Gedichte so ganz epische Färbung
tragen, ist auch die Kraft zu einem grösseren erzählenden
Gedichte zuzutrauen.
Die Vergleichung der Sprache ergibt, so wenig Ver-
gleichungspuncte man auch bei einer Sammlung von tiinfzehn
Strophen gegenüber einem Gedichte von 2400 erwarten sollte,
doch mancherlei Aehnliches, weit mehr, als sich zwischen ver-
schiedenen Dichtern zu finden pflegt.'-)
v^) [Ein zwingender Beweis sind diese zweisilbigen Reime nicht; in den
viermal gehobenen Reimpaaren z. B., die freilich nicht strophisch gebunden
sind, gelten die klingenden Reime stets für zwei Hebungen. S. auch Bartsch.
Unters. S. 7 und s. o. S. 42 f.]
lUj S. Pfeitfer S. 23; Bartsch a. m. 0.
1!) [Damit könnten Holtzmanns Athetesen, welche oben (S. 14:H'. IsT»
als unnöthig verworfen wurden, vertheidigt und gestützt werden.]
12) Das Bild des Falken, den die Geliebte erzieht: die in der höfi-
schen Poesie verpönten Reime von — üch auf — Uch : ebien h'/(fes nmnen \
232 n. Der Verfasser des Nibelungenliedes.
Insbesondere finden sich im Nibelungenliede Stellen'^), wo
der lyrische Ton noch ebenso hörljar durch das Epos hindurch-
klingt, wie der epische Ton durch die Lyrik Kürenberg'S.
Gleicherweise stehen die Notizen über Kürenljerg und seine
Heimat im Einklang mit der Annahme der Identität. Dass das
Nibelungenlied an der Donau, in OesteiTeich verfasst ist, ist er-
wiesen.'^) Ebenda, westlich von Linz, ist auch der Kürenl)erger
zu Haus. Unter den von 1100 — IIGO urkundlich erscheinenden
Mitgliedern der Familie ist es wahrscheinlich der in einer Ur-
kunde des Bischofs Regiumar von Passau erscheinende Magen es
von Kiirenberg, der als Verfasser der 15 lyrischen Strophen
und des Nibelungenliedes zu betrachten ist. Denn gerade Re-
ginmar von Passau (1121 — 1138) war, seinem unmittelbaren Vor-
gänger sehr unähnlich, ein mehr weltlich als geistlich gesinnter
Herr, der einen glänzenden Hotstaat hielt und insbesondere, wie
vor ihm schon andere Kirchenfürsten, wahrscheinlich die deutsche
Poesie begünstigte oder pflegte.'^) Zur Entfaltung dieses bewegten
Lebens mochte beitragen, dass Passau in erster Linie zu den
Städten gehörte, üj^er welche die Kreuzfahrer ihren "Weg zu
nehmen pflegten.
In Passau hatte Magenes auch die beste Gelegenheit, das
Werk Konrads kennen zu lernen; denn gegen die Angabe
der Klage von dem lateinischen Buche Konrads ist nichts ein-
zuwenden.'") Ebenso unzweifelhaft, als die Existenz dieses
lateinischen Buchs ist, dass es eine der Quellen Kürenbergs
war; denn anders lässt sich die Einführung Piligrims in das
Nibelungenlied nicht begreifen. Dazu kommt, dass die Klage
die Nibelungensage im Ganzen genau so kennt, wie dieselbe im
Nibelungenliede dargestellt ist. Daneben muss allerdings die
gelehen = ..erleben"; einen trüregen mitot gewinnen^ daz lant rionen [s.
aber Bartsch. Unters. 362]; sich eines dinfjes genieten = „sich mit etwas
i^erne beschäftigen"; vil wol versüenen ; einem ein dinc beninten von
Menschen gebraucht"; eines künde gewinnen: eines varwe erhiüet (= ..er
erröthet").
13) Z. B. Str. 239 f.; 291; besonders aber 2S0— 2s2.
14) [S. darüber unten.]
15) S. die Notiz in dem Passauer Katalog von 12-54: item Attilam
rersifice.
16) Beispiele der Aufzeichnung deutscher Heldensage in lateinischer
Prosa: Jordanes, Paulus Diaconus. die Vita Caroli Magni et Rnlandi des
Pseudoturpinus. [Will man Konrads Werk als ein poetisches ansehen,
so bietet sich aus der Zeit Konrads der "Waltharius als Parallele; s. o.]
A. Die vorhandenen Theorieen. 2153
Klaice auch dieses selbst in deutscher Sprache gekannt hal)en;
darauf weisen die Worte: (iflihtct man c:- sii hül divUc in linscln-r
zunycn.
Die Einzelheiten des Verhältnisses zwisclien Kiirenherg
und seinem lateinischen Original lassen sich nicht mehr ermitteln.
So viel aber ist sicher, dass die ganze Art, der ganze Geist der
Schilderung das Eigenthum des Dichters selbst ist, da sich in
diesen Dingen überall das zwölfte Jahrlnindert abspiegelt.
Dass auch die grossen politisch-liistorischen Ereignisse dem
Liede als Grundlage nicht fehlten, hat Moriz Thausing l)ewiesen.
Daneben fehlte es dem Kürenberger auch nicht an den für
jeden grossen Dichter nothwendigen Vorgängern. Denn dass es
vor dem zwölften Jahrhundert keine grosseren Epen gegeben
liabe, ist eine grundlose Beliaui)tung Lachmanns, welche widerlegt
wird durch das lateinische Waltharilied, das deutlich auf einem
deutschen Gedicht als seiner Grundlage ruht.
Viele einzelne Züge hat dasselbe mit dem Nibelungenliede
gemein. Die gefährliche Flucht Walthers und Hildegunds ver-
gleicht sich dem Zuge der Burgunden durch Baiern, die Nacht-
wache der Geliebten der Volkers und Hagcns; in l)eiden Ge-
dichten fällt die meisterhafte Schilderung der Einzelkämpfe auf;
auch der Schluss des AValtharius: /uec est Wa/t/iar/i poesis
stimmt wörtlich überein mit dem der Nibelungen: daz- i.st der
Xibchniiie liet.^') Natürlich ist die Einzelausführung im Nibe-
lungenliede von diesem Vorbilde ganz unabhängig.
Für freie Schöpfungen des Dichters sind auch die wunder-
vollen Gestalten Rüdigers und Volkers zu halten. Holtzmann
hat'^) ganz richtig bemerkt, dass gewiss der Dichter in dem
Letzteren nur sich selbst geschildert habe, und diese Vernnithung
wird durch die Stellung Kürenbergs in der deutschen Litteratur-
geschichte bestätigt. In der ältesten Zeit deutscher Dichtung
waren die Dichter hochangesehen. Schon seit der karolingischen
Zeit jedoch zogen sich die höheren Stände mehr und mehr von
der Pflege der vaterländischen Poesie zurück. Die Geistlichen
aber, von da an die einzigen Pfleger der Litteratur, wollten
IT) iStr. 2316'' ist eine Plusstroplie von 6'; da aber 2:<1() und 23 Iß'' in
(' dasselbe enthalten, vrie 23 lü in AB, so fragt sich noch immer, ob nicht
der Schluss von C der echtere sein könne. Unwesentlich ist die Sache
jedenfalls ; auch die L, A. von AB lässt sich mit dem Schluss des W. vergleichen.]
18) S. Holtzmann, Untersuchungen Seite 135 und s. o. S. 172.
234 11. Der Verfasser des Nibelungenliedes.
(wenigstens vorherrschend) nichts von der national deutschen
Dichtung wissen, welche daher in den Händen des niederen Volkes
blieb und um dessen willen von den höheren Ständen verachtet
wurde. Der Kürenberger ist der erste adliche Dichter,
der nach langer Zeit wider erstand; Avas war natürlicher, als
dass er in dem ritterlichen Spielmann Volker, dessen Fidel sein
Schwert ist, sich selbst schildern wollte?
Dass die Nibelungen auf höfischem Boden entstanden
sind, musten ja selbst die Schüler Lachmanns, in erster Linie
Müllenhoff, zugeben, und ein Blick auf diejenigen Gedichte,
welche wirklich das Erzeugnis des niederen Volkes sind''), be-
stätigt es auf das Deutlichste.
Entsprechend dem in dem Nibelungenliede strenge be-
obachteten Zurücktreten der Person des Dichters hat uns dieser
seinen Namen verschwiegen; und diss blieb, im Gegensatze
zu den höfisch - ritterlichen Gedichten, deren Verfasser fast nie
mit der Nennung ihres Namens zurückhielten, maassgebend für
alle Gedichte aus dem nationalen Sagenkreise ; ein Beweis dafür,
welche Spuren der Vorgang des Nibelungendichters zurück-
gelassen hat |s. darüber oben S. 219 f.].
60.
Pfeiffers Theorie wurde vielfach mit Freuden aufgenommen.
Zarncke versuchte, einige Einwände gegen dieselbe geltend zu
machen, doch mit wenig Glück.') Moriz Thausing hat") die
Theorie zu bekräftigen gesucht, zugleich aber anstatt des Magenes
von Kürenberg, den Pfeiffer als Verfasser annahm, vielmehr den
in den Jahren 1140 — 1147 erscheinenden Konrad von Küren-
berg für den Verfasser gehalten, aus dessen Namen vielleicht
der des Schreibers Konrad in der Klage zu erklären sei, weil
urkundlich Konrad von Kürenberg in der Nähe von Pa.ssau
vorkomme.^)
liO So: Ruother, Salman und Morolt, Oswald. Orendel, Rosengarten.
Ortnit, Wolfdietrich etc.
1) Liter. Centralblatt lS6:i, Spalte 'M f. Wir werden unten auf Zarnckes
Einwände zurückkommen.
2) M. Thausing, Nibelnngonstudien. Beiträge zur Frage nach dem
Dichter des alten Liedes; Wien lSt34.
3) S. Bartsch, Unters. 3.55.
A. Die vorhandenen Theorieeu. 235
Umfassendere Unterstützuiigsgründe für Pfeiffers Theorie
hat aber
Karl Bartsch
beigebracht.')
Schon (las ganze Ergebnis der Handschriften- Untersuchung
Bartschs bestätigt Pfeiffers Theorie. Denn wenn die erstere die
Entstehung des Nibelungenliedes vor das Jahr 1150 verweist, so
stimmt diese Zeit auf das beste mit der Theorie Pfeiffers überein.
Auch dass in dem Nibelungenliede, wie es uns vorliegt, die
Umarbeitung eines älteren Gedichtes enthalten sei, hat Bartsch
zwingender bewiesen, als Pfeiffer. Auch im Einzelnen hat
Bartsch Pfeiffers Theorie zu befestigen und besser zu begründen
gesucht.
Das Gebot der Nichtentlehuung der Töne galt schon im
zwölften Jahrhundert; die zwei ältesten Lyriker, Kürenberg- und
Dietmar von Eist, der Zeit nach nur Avenig verschieden, haben
verschiedene Töne. Dass der Kürenberger durchgängig |fast| die-
selbe Form gebraucht, ist ein Beweis für sein hohes Alter. Seine
Lieder tragen noch das Gewand des Epos an sich und bekunden
damit eine Zeit, wo Epik und Lyrik sich noch nicht formell
von einander unterschieden. Mehrere Strophen Kürenbergs sind
ganz erzählend gehalten, und das Nibelungenlied enthält hin-
widerum viel Lyrisches. So kann es nicht auffallen, wenn ein
Dichter dieselbe Form für ein Epos wie für kleine lyrische
Lieder anwandte.
Wäre die Nibelungenstrophe eine Volksweise, so wäre nicht
begreiflich, wie andere Dichter sich scheuten, sie anzuwenden.
Das einzige Gedicht, das vor der Mitte des dreizehnten Jahr-
hunderts schon neben dem Nibelungenlied und den Kttrenbergi-
schen Liedern in der Nibelungcnstrophe verfasst ist, ist Al})harts
Tod, welcher entschieden noch dem zwölften Jahrhundert an-
gehört, wenn er uns auch in jüngerer Umarbeitung erhalten ist.
Für die Identität des Dichters des Nibelungenliedes und des
von Alpharts Tod sprechen noch einige Uebereinstimmungen im
Einzelnen.
Die Zeit des Kürenbergers fällt jedenfalls etwas vor die
Dietmars von Eist, also etwa nicht lange vor 1150. Auf diese
Zeit weisen sämmtliche freieren Assonanzen seiner Lieder, weisen
auch die Assonanzen des Nibelungenliedes.") Von den Cäsur-
4) S. Bartsch, Unters. IV (S. 352-363).
5) [Ueber das Letztere s. jedoch Seite S6 f.]
236 n. Der Verfasser des Nibelungenliedes.
Assonanzen kommt eine, hetiwde : erlele, Nib. Str. 584, 1, in
den Kttrenbergischen Strophen als Endreim vor; es sind diese
beiden Stellen die einzigen, an denen sich dieser Reim über-
haupt findet.
Die Metrik des Kürenbergers ist ganz dieselbe wie die
des Nibekmgenliedes. Insbesondere liebt auch jener die Nicht-
ausfüUung der Senkung zwischen zweiter und dritter Hebung
der achten Halbzeile, während andere strophische Gedichte,
deren letzte Halbzeile dieselbe Zahl von Hebungen hat, diese
Form weit seltener haben.*') Auch sonst stimmt der metrische
Gebrauch Kürenbergs mit dem des Nibelungenliedes überein.
Zu den Anklängen in der Sprache zwischen Kürenberg
und Nibelungenlied, die Pteiifer (und Thausing) gefunden hatte,
fügt Bartsch noch einige weitere hinzu.')
Ist das Nibelungenlied vor 1150 entstanden, so lässt sich
nicht nur die oben genannte Stelle des jNfetellus von Tegernsee auf
dasselbe beziehen, sondern auch eine beim Spervogel (MF. 26, 2 ff.) :
(lo (jewan er Rhedpiji'ves viiiot,
der saz- z-e Bechelare
unt pßuc der marke ma/ief/en lac:
der wart von siner frumekeit so inure.
Dadurch, dass der Kürenberger als Verfasser des Nibelungen-
liedes nachgewiesen ist, wird auch der Schluss bestätigt, zu
welchem einige Formen des Nibelungenliedes führten, dass die
Heimat dieses Liedes Oesterreich sei.
B. Kritik und Resiiltiite.
61.
Bevor die Theorieen über den Verfasser kritisch betrachtet
werden können, muss Einiges über das Alter und die Heimat
des Liedes vorausgeschickt werden.
6) 7—10 mal fehlt beim Kür. au jener Stelle die Senkung; bei Mein loh
unter 74 Zeilen nur 2ß mal; in den 90 Nib. -Strophen der Gudrun 42 mal;
in Walther und Hildegund unter 37 Fällen 12 mal; im Ortnit, der
noch meist in der S. Ilalbzeile 4 Hebungen hat, fehlt diese Senkung in den
100 ersten Strophen h mal.
7) S. Bartsch, Unters. 3<j2 f.; einige Wendungen finden sich zugleich in
Alpharts Tod, was die Vermuthung bestätigt, dass auch dieser ein Werk
Kürenbergs sei.
B. Kritik und Resultate. 237
Hinsichtlich des Alters haben wir bei Betrachtung der
Haudschriftcnfrao-e uns für l^artschs Ansicht entschieden, nach
welcher die Ablassung- derjenigen Gestaltung des Gedichtes,
welche den Bearbeitern B und C vorlag, ungefähr in das Jahr
1170 zu setzen ist. Einen kleineren oder grösseren Spielraum
hinsichtlich dieser Zeit kann man immerhin zugeben; nur wird
es gewagt sein, dieselbe weit über 1170 rückwärts zu setzen;
demi das würde die verhältnismässig kleine Zahl der freien
Reime, welche aus den Abweichungen der Bearbeitungen er-
schlossen werden können, verbieten.')
Es sind aber nach Holtzmann und Bartsch Spuren vor-
handen, welche auf eine noch frühere Abfassung des Gedichtes
schliessen lassen.
Die beiden ConjecturenHoltzmanns, welche das Nibelungenlied
von Seiten seines AVortbestandes noch über das zwölfte Jahrhundert
zurückweisen würden, haben wir oben verworfen-); was Holtzmann
sonst noch an Alterthümlichkeiten des Wortbestandes gefunden hat,
hat Bartsch alles aufgezeichnet. Das Vorkommen hinterer llalb-
zeilen zu vier Hebungen, welches Holtzmann annahm, ist oben
zurückgewiesen worden^); die alterthümlichsten unter den Heimen,
die er in seinen „Untersuchungen" noch annhm, hat er selbst in
seineu Ausgaben als Schreibfehler einzelner Handschriften entfernt.^ )
Denjenigen Punct der Metrik, welchen Bartsch als beweisend
für die Abfassung vor 1 1 50 ansieht, das Reimen von dreisilbigen
Wörtern zu ungenauen Reimen, haben wir oben als nicht ge-
nügend beweisend bezeichnet/) Die sprachlichen Alterthüm-
lichkeiten findet Bartsch mit der Abfassung um 1140 — 1150
vereinbar; da aber in solchen Dingen doch nie sicher wird ent-
schieden werden können, ob etwas, das als in einer gewissen
Zeit gebräuchlich nachgewiesen ist, es 20 — 30 Jahre nachher
noch war oder nicht ''), so werden auch diese Alterthümlichkeiten
uns noch nicht nöthigen, das Nibelungenlied über das Jahr 1170
hinaufzurücken.
1) S. Seite 70 (§ i:^, not. 119).
2) S. Seite 103 f. IST (§ 44, not. 28. .30; § 48. not. 1.).
3) S. Seite 160 (§ 44, not. IS. 20.).
4) S. Seite 158 (§ 44, not. 10.).
5) S. Seite 86 f.'
6) IVIit Recht sagt Holtzmann (Unters. S. 83): „man kann mit Bestimmt-
heit behaupten, dass ein Wort in einer gewissen Zeit gebräuchlich war, aber
nie mit Sicherheit, dass es nicht mehr gebräuchlich war."
23S II. Der Verfasser des Nibelungenliedes.
Wir gelangen mithin in diesem Puncte noch zu keiner
weiteren Bestimmung, als die ist, welche das Verhältnis der
Handschriften uns ergah,
G2.
Die Frage über die Heimat des Nibelungenliedes brauchte
hier nicht besonders erörtert zu werden, wenn nicht, gegenüber
wohl allen anderen Gelehrten (welche sämmtlich Oesterreich als
seine Heimat ansehen) Zarncke eine ganz andere Theorie
darüber aufgestellt hätte.') Zarncke behauptet, dass „für Oester-
reich auch nicht der Schatten eines Beweises vorhanden sei"-;,
glaubt vielmehr, dass das Lied in Tirol entstanden sei oder
wenigstens in einem angrenzenden Gebiete. Seine Beweise da-
für sind folgende.
Auffallender Weise ist bei der Frage nach der Heimat des
Nibelungenliedes der Umstand nie erwogen worden, dass fast
alle Handschriften desselben aus Tirol oder doch
aus der Gegend südöstlich vom Bodensee stammen.^)
Dieses Zusammensein auf einem so kleinen Räume und das
Fehlen im übrigen Deutschland lassen doch wohl einen Schluss
auf ihre höhere Bedeutung zu.
Noch mehr aber wird der Blick auf Südwest -Deutschland
und vor Allem wider auf Tirol festgehalten, wenn man auch die
Handschriften der übrigen Gedichte aus dem Kreise
unserer Heldensage in Betrachtung zieht.^) Alle weisen für
1) Zarncke, Beiträge VIII (S. 211-227) v
2) Zarncke, Ausg. VI.
3j (' und A waren noch gegen ISdd in Ilohenems; B gehörte, ehe sie
Tschudi erwarb, den Grafen von Werdenberg; / war noch 1799 Eigenthum
der Grafen von Mohr (in Tirol und Graubünden); von / ist h eine alte
Copie; d stammt aus Ambras, ihre Vorlage, das .,Heldenbuch an der Etsch-,
weist auf Tirol; in a findet sich das Wappen von Montfort gemalt: nur D
ist mit Sicherheit nicht weiter als bis Prünn an der Altmühl verfolgbar. Von
den Fragmenten stammen einige nachweislich aus Tirol, die meisten aus
Südwestdeutschland.
4) Von der Klage gilt natürlich dasselbe, wie vom N. L.; Biter olf
und Gudrun sind nur in der Nib.-Hs. d enthalten; Dietrichs Flucht
weist entweder nach Ambras (Ils. d), nach Steiermark (Windhager Hs.) oder
nach Heidelberg (über die Abkunft der Ileid. Hs. ist nichts bekannt); von
Alpharts Tod, von Walt her und Ilildegund wissen wir nichts Näheres.
Von Waltharius, Ortnit und den Wolfdietrichen, sowie vom
kleinen Kos engarten weisen die älteren IIss. in jene Gegend; es ist kein
B. Kritik und Resultate. 230
die ältere Zeit fast ausschliesslich an den Bodensee, nach Tirol
lind den angrenzenden Gegenden der Sclnvciz nnd Steit-rniarks.
Dieselben Gegenden nun, wo die hauiitsäclilichsten Hand-
schriften gefunden sind, sind zugleich diejenigen, in denen der
Hauptstock der Dictrichssage wurzeln muss. Freilich war
diese Sage auch anderwärts verl)reitet genug, aber go})flegt
wurde sie sicher ganz besonders in jenen Gegenden. Zugleich
ist der Erwähnung werth, dass Piligrim von Passan wahr-
scheinlich ein Tiroler war.
Das Nibelungenlied, wie die meisten, mindestens alle älteren
Gedichte der Heldensage, war offenbar für vornehme Kreise
bestimmt. Diss beweisen nicht nur die kostbaren Handschriften
und ihre Fundorte, sondern noch mehr das Gedicht selbst,
welches überall eine Kenntnis der ganzen Hof-Etikette und In-
teresse an Aeusserlichkeiten bekundet.
Kaum aber wird man sich solche nationale Ej)en in denselben
Gegenden ausgebildet und beliebt denken dürfen, in denen die
höfischen, romanisierenden Epen entstanden und tonangebend
waren. Die Gedichte aus dem Kreise der deutschen Heldensage
zeigen nicht nur eine Keihe von übereinstimmenden Eigenthüm-
lichkeiten, sondern sie sind auch in jenen Kreisen augenschein-
lich wenig bekannt geworden. Wir müssen also für sie eine
von dem Verkehr der deutschen Höfe und Dichter abgelegenere
Heimat annehmen. Diese wird weder der Rhein, noch Thüringen,
iioch Oesterreich sein; somit bietet sich keine Gegend mit
grösserer Wahrscheinlichkeit, als jene in den südlichen Bergen
Deutschlands, in f/ionlanis, welche von jeher, wie auch beinahe
noch jetzt, eine isolierte Stellung einnahm.
Es ward aber gewöhnlich die Heimat des Liedes nicht in
Tirol, sondern in Oesterreich, d. h. in den Donaugegenden
unterhalb ßaierns, gesucht.
Lachmann lässt in Oesterreich nur einen Theil des Gedichtes
entstanden sein, den nemlich, welcher die Reise Kriendiilds und
die der Burgunden enthält, weil sich hier eine locale Kenntnis
der Donaugegenden verräth.
Seine Schule hat dieses Resultat auf das ganze Gedicht als
wahrscheinlich ausgedehnt. Aber der genannte Grund Lachmanns
Grund zu zweifeln, dass alle (vom Waltharius weiss man es) dort entstanden
sind. Ebenso Sigenot, Ecke, Drachenkämpfe und Goldemar.
Dem König Ruother, allerdings nicht seiner Hs., ist Tirol als Heimat
nicht abzusprechen [?]
240 II. I>er Verfasser des Nibelungenliedes.
ist nicht von durchschlagendem Gewichte. Denn der Dichter
zeigt sich überall wohl zu Hause, wo er die Localitäten genauer
schildert; w^o er diss nicht thut, muss das nicht aus Localun-
kenntnis stammen. Dass die Geographie des Niederrheins unklar
gelassen ist, ist kein Wunder: dieses ganze Land erscheint in
der Sage als ein fabelhaftes, und überdiss konnte ein deutscher
Dichter ganz wohl am Niederrhein gänzlich unbekannt sein.
Alle Dichter fast ohne Ausnahme gehören zu den vurnden liuten^
und so musten ihnen die Hauptstrassen wenigstens Oberdeutsch-
lands wohl bekannt sein.
Dagegen lässt Lachmann die Zusammensetzung seiner
Lieder am thüringischen Hofe zu Eisenach vor sich
gehen; es soll aber die erste Strophe des Gedichtes österreichi-
schen Ursprungs sein und ebenso die „Ueberarbeitung" C.
Was spricht nun etwa für Thüringen?
Nach Lachmann das in ^4 bäufig erscheinende") Wort end
für Cy die Form her für er und die Form uns statt unser, die
noch heute plattdeutsch ist. Allein die beiden ersten Formen
sind nicht speciell thüringisch'^), sondern ebensogut oberdeutsch,
die Form uns dagegen hat Lachmann selbst erst ohne alle Noth
in den Text gesetzt.')
Die Sprache des Nibelungenliedes gewährt überhaupt sehr
wenige Anknüpfungspuncte für Dialectfragen, da das Fehlen von
klingenden Reimen viele Gelegenheiten dafür entzieht. Soweit
wir aber die Sache beurtheilen können, entspricht sie vollständig
der (schwäbischen) Schrift- und Hofsprache, die sich gegen 120»)
gebildet hatte.**) Für die Anknüpfung an Oester reich dagegen
finden sich gar keine Gründe. Dagegen wollte man solche
für einen grossen Theil der anderen Heldengedichte finden,
namentlich in der Setzung von ou statt rein mhd. //, auch schon
von ei statt /. Diese Abweichuu£- kommt dem österreichischen
5) [S. Seite 16 f. (§ 6. not. 31).]
ü) e/nl begegnet im Mitteldeutschen gar nie, weist vielmehr eher auf
Süddeutschland; /ler für er kommt ebenso wohl im Oberdeutschen vor, auch
ist in A an den betreffenden 2 Stellen wahrscheinlich ein Schreibfehler vor-
handen.
7) 934, 2 BC: ez hat nu alle: ende unser sorge unt unser leit, A: e.
h. n. a. e. an uns, sorge unde leit, Lachmanu: e. h. n. a. e. uns sorge unde
leit; 15S0, 3 ist tins entstanden aus der Abbreviatur uns^ = unser.
8) Das Wort heie ist nur in Schwaben nachzuweisen; die Form end
= e-end weist auf Tirol oder Steiermark.
B. Kritik und Resultate. 241
Dialecte f>eit dem elften und zwölften Jahrhundert entschieden
zu, ist al)er nicht specitisch österreichisch, sondern vichnehr all-
gemein 1) airisch, spricht also nicht gegen die Ahstamnmng
jener Gedichte aus Tirol, da Tirol sowohl bairische als
schwäbische Bevölkerung hatte,^) Dem Dichter des Biterolf ist
seine steicrniärkische Heimat nicht abzusprechen; die Eigen-
thündichkeiten der Sprache, wegen welcher er nnt dem der
Klage ideutiticiert worden ist'"), erstrecken sich auf alle Gedichte
dieses ganzen Kreises. Sie werden auch von allen Xibelungen-
handschriften getheilt; Tirol ist also als Heimat auch der Ueber-
arbeitung in der vulgata zuzuweisen. Denn der Verfasser der
vulgata ist, wie die Fehler Waskemralt statt Otenwalt, Zeizen-
vifirc statt Tre/senmüre ])eweiseu, weder am Rhein noch an
der Donau bekannt*']; der von (' dagegen weiss an beiden
Orten Bescheid, ist also keinem von beiden zuzuweisen.
63.
Die Gründe Zarnckes, mit so viel Geschick dieselben auch
vorgebracht sind, beweisen doch nicht zwingend.
Das Vorkommen der Handschriften des Nibelungenliedes
und der anderen Gedichte der deutschen Heldensage ist doch
niclit gerade auf Tirol und seine Umgegenden beschränkt;
auch das lieber wiegen der süddeutschen Fundorte kann nicht
allzuviel beweisen. Wie viele Beispiele haben wir davon, dass
Handschriften, besonders solche von grösserem Werthe, von
ihrem Besitzer ausgeliehen nnd so an mehreren anderen Orten
abgeschrieben und vervielfältigt wurden! Dabei mochte nicht
selten — und auch davon liegen Beispiele vor — ehie
Handschrift an einem Orte liegen bleiben, vielleicht aus Zufall,
"\'ielleicht auch aus Absicht ihrem ersten Besitzer für immer ent-
fremdet werden. Dem Schlüsse, den Zarncke aus den Fund-
orten der Handschriften zieht, dass die südlichen Gegenden
Schwabens und Baiern, durch ihre gebirgige Lage schon dem
9) Die Grenze zwischen beiden bildeten Lech und Etsch.
10) e : c, u : iio, c : ch, g : b, m : n, Hagene : dl-tjcne ; kleit = klaget :
rührende Reime; sttn, gen; pte. prs. auf nnde ; der Wechsel der Formen
lianden und henden. snone und siiene, mähte und molttc ; schwaukende
Declination der Eigennamen.
11) [S. aber Seite 92.]
Fischer, Nibelungenlied. 1 1>
242 11. Der Verfasser des Niheluiigenliedes.
grossen Weltverkehr ferne stehend, die Pflegstätten nationaler
Dichtung gewesen seien, lassen sich nicht allein die Behaujjtnngen
Spanns, Miillenhoffs und Pfeitfers einfach gegeniiherstellen, dass
der österreichische Hof es gewesen sei, der die nationale
Epik mit warmer Theilnahme gepflegt habe; es lässt sich auch,
und wohl nicht mit Unrecht, behaupten, dass Oesterreich, als
der Schauplatz oder wenigstens der Vorhof des grossen nationalen
Dramas der Ungarnkriege des elften Jahrhunderts, mindestens
ebenso gut zur Pflege nationaler Dichtung angethan gewesen
sei, als Tirol, der Durchzugspass der nicht eben in nationalem
Sinne unternommenen und ausgeführten Riimerzüge und die
nächste Berührungsstätte zwischen italiänischem und deutschem
Wesen, das in dem Etschtlialc, einer alten und neuen Yölker-
strasse, in einander überspielte. Ja, wenn wir oi)cn mit Recht
das Nibelungenlied in der ältesten für uns nachweislichen
Gestalt etwa in das Jahr 1170 gesetzt haben, so ist diss eine
Zeit, wo die romanisierende Dichtung kaum im Entstehen be-
griffen war, welche nachher die Höfe des Rheinlands, Thüringens
und Oesterreichs') beherrschte, wo also ganz wohl eine echt
nationale Richtung, angeregt durch die Ungarnkriege des \ev-
gaugenen Jahrhunderts, die ihre Spuren noch lauge in gegen-
seitigem Xationalhass zurückliesscn, am Hofe zu Wien tonangebend
sein konnte.
Ist nun von dieser sozusagen culturgeschichtlichen Seite gegen
die Entstehung des Gedichtes in Oesterreich gar nichts beizu-
bringen, so lässt sich von Seiten der Sprache des Xi])elungen-
liedes, die ein sehr reines Mhd. ist, von unserem Standpunct
aus schon deswegen nicht viel beweisen, weil uns das Xibe-
lungenlied nur in Ueberarbeitungen enthalten ist, etwaige Pro-
vincialismen desselben also auch den Bearbeitern zukommen
könnten. Aber auch die Sprache der Bearbeitungen gibt nach
keiner Seite hin einen Ausschlag; die Meisten sehen sie als
österreichisch, Zarncke als schwäbisch (oder bairisch) an; die
Wahrheit wird darin liegen, dass sie keines von l^eiden ist,
sondern ein reines Mhd., wie es sich, sei's nun aus dem
Schwäbischen, Fränkischen oder Desterreichischen, gegen 1200
hin als Schriftsprache der Gebildten entwickelte.'')
1) Gegeu das letztere s. jedoch Miillenhoffs Ausführnngen.
2) Interessant ist. was A. Zeune sagt („Ist Heinrich von Ofterdingfn
Verfasser der Nibelungen-Xoth", in Hagens Germ. IV. 141 — 147): ..Was dii^
B. Kritik niul Resultate. 241}
Die Untersuchung über die Heimat des Nibelungenliedes
jührt somit an sieh zu keinem })Ositiven Ergebnis; wir dürfen
also im Folgenden die Untersuchung über den Verfasser ohne
Rücksicht auf diese Frage aufnehmen.
(U.
Die vor Pfeiffer versuchten Theorieen über den Verfasser
des Nibelungenliedes dürfen wir als auti(iuiert und mit unserem
aus der Handschriftenfrage gewoinienen Ergebnis unvereinljar
kurz abhandeln.
Merkwürdig ist, warum, so lange man das Nibelungenlied
um 120(1 entstanden glaubte, so selten auf Wolfram von
Eschenbach gerathen wurde. "Wolfram ist van allen hiifischen
Dichtern derjenige, der auf inneren Gehalt der Dichtung und
des Stoffes am meisten sieht, die äussere Form am meisten
vernachlässigt: ebenso ist die Grösse des Nibelungenliedes ge-
gründet nicht auf seine häufig unbeholfene Form'), sondern auf
die Colossalität seines Stoffs. Wolfram war überdiss (s. IJartsch,
Unters. 36S) ein Kenner und Verehrer der deutschen Helden-
sage-'), war es also nicht naheliegend, ihm die Autorschaft des
Nibelungenliedes zuzuschreiben"? — Natürlich scheitert diese
Annahme von vornherein an unserer Zeitbestimmung; ist das
Nibelungenlied spätestens um 1170 — 1 ISO (jedenfalls noch vor
i 1 So) gedichtet, so müste Wolfram, wenn wir ihn auch das Lied
schon mit 20 — -lO Jahren dichten Hessen, seinen AVillehalm mit
()0 — SO Jahren, ja am wahrscheinlichsten mit über 7o Jahren
gedichtet haben.
Nicht besser steht es mit der Theorie Spanns. Ganz ab-
gesehen von der Frage, ob Ofterdingen eine historische oder eine
mythische Person sei^), ob der Wartburgkrieg wahr oder erdichtet
Sprache unseres Liedes betrifft, welche Ritter v. Spaun [dessen Buch Zeuue
1. c. recensiert] ganz für Oesterreichisch erkennt, so hat dieselbe Braun
ganz für Mainzisch erklärt, und Herr A. W. v Schlegel erzahlte mir.
dass ein Mädchen in Solothurn im Xib.-Liede, das er immer bei sich geführt,
gelesen und alles für gut Schweizerisch gehalten habe. Wo ist nun das
echte Schiboleth?"
1 ) Dahin auch die häutigen unreinen Reime Wolframs parallel denen
des N L.
2) Spaun macht ihn (S. 22— 24) unbegreiflicher Weise zu einem Gegner
derselben, nur um Ofterdingen und Klinsor, denen Wolfram im Wartburg-
kriege feindlich gegeilübertritt, als historische Personen halten zu können.
3i Das Letztere ist denn doch das Recipierte.
IG*
244 II- I>er Verfasser des Xibelungeuliedes.
8ei, ist Ofterdingen jedenfalls für den Dichter des Niljelungen-
liedes zu jnng. Spann setzt seine Geburt um 1160, und weiter
zurückzugeben, verbietet schon Spanns Datierung des Wartl)urg-
krieges, welcher jedenfalls in Leopolds VII. Zeit fallen miLSS
(also nach 1198), wenn er überhaupt historisch ist. Spaun aber
will selbst Heinrich von Ofterdingen als jungen Mann dabei auf-
treten lassen. Entweder also hat Ofterdingen das Nibelungen-
lied gedichtet: dann müste er bei dem Wartburgkriege über
60 Jahre alt gewesen sein ; oder war er bei dem letzteren nicht
über 40 — 50 Jahre alt, so müste er das Nibelungenlied mit
10 — 12 Jahren gedichtet haben!
Auch was Holtzmann ])eigebracht, freilich selbst als sehr
problematisch l)ezeichnet hat, ist unmöglich. Denn Rudolf von
Ems und Walther sind beide viel zu jung, als dass sie schon
um 1 170 gedichtet haben könnten.
65.
Pfeiffers Theorie ist demnach die einzige, die uns noch
übrig bleibt; und sie ist auch eine entschieden befriedigende,
in sich selbst an keinem Widerspruche leidende. Von zwei
Seiten sind Einwände gegen dieselbe erhoben worden, von
Zarncke im „Literarischen Centralblatt " 1S63, Spalte 37 f.,
von Julius Zupitza in einem Programm von Oppeln, „Ueber
Franz Pfeiffers Versuch, den Kürnberger als den Dichter der
Nibelungen zu erweisen", 1S67, Zupitzas Schrift, hat eine ein-
gehende Erwiderung gefunden durch Bartsch in Pfeiffers
Germania XIII, 241 — 244, — Die Betrachtung der Einwände
Zarnckes und Zupitzas wird uns zugleich Gelegenheit geben, die
Hauptpuucte der Frage und Theorie selbst ins Auge zu fassen.
Zarncke stellt Pfeiffers Theorie -nicht als unhaltbar,
sondern nur als eine Reilie nicht unmöglicher ^Möglichkeiten'-
hin. Sieben Punctc findet Zarncke von Pfeiffer nicht bewiesen.
1) „Hat Pfeiffer nicht bewiesen, dass das Nibelungenlied
eine Umar])eitung sei." — Holtzmanns und Pfeiffers Gründe
dafür waren allerdings nicht die stärksten, allein Bartsch
scheint uns denn doch diese Umarbeitung unwiderleglich bewiesen
zu haljen.'j Daher fällt dieser Einwand Zarnckes für uns weg.
1) S. auch Bartsch in Pf. Germ. XIII, 229, wo er mit Recht Zarncke
vorhält, dass derselbe nach dem Erscheinen von Bartschs „üntersuchiingen-
seine Einwände von 1SG:3 unverändert geltend gemacht habe. .
B. Kritik und Resultate. 245
■2) „Hat Pfeiffer nicht bewiesen, dass das Nibelungenlied
in Oesterreicli entstanden sei." — JJicse Frage haben wir oben
selbst als nicht sicher zu entscheiden bezeichnet; sie wird daher
erst beantwortet werden können, wenn über den Verfasser etwas
entschieden sein wird.
:>) „Hat Pfeiffer nicht bewiesen, dass in der ersten Hälfte
des zwölften Jahrhunderts dieselbe Pedanterie in Beziehung auf
die Töne geherrscht habe, wie später." — Pfeiffer hat seinen
Dichter in die Jahre 1 120— 1 140, Bartsch in die Jahre li4(»— 11 öo
versetzt; nehmen wir das Letztere an, so ist die Entstehung des
Nibelungenliedes in eine Zeit gerückt, wo wir neben und gleich
nach dem Kürenberger schon Dietmar von Eist in einem anderen
Tone dichten sehen. — Und ist nicht a prior/' wahrscheinlich, dass
in der Zeit, wo die kunstreiche Stro})lienform erst aufkam, das
Eigenthum eines Dichters, sein Anrecht auf eine Strophenform, die
noch dazu in jener Zeit häufig die einzige war, die derselbe
Dichter anwandte, die noch dazu zugleich eine besondere, vom
Dichter selbst zu erfindende, Melodie hatte, noch strenger ge-
wahrt worden sei, als später? Auch dieser Einwand Zarnckes
daif fallen.
4) „Hat Pfeiffer nicht bewiesen, dass die Sitte der Nicht-
entlehnung auch in der Epik geherrscht habe. " — Nun, Pfeiffer
hat dafür genug Beispiele aus früher Zeit angeführt; wenn wir
den Alphart ebenfalls dem Dichter des Nibelungenliedes zu-
schreiben"-), so können Avir Zarnckes Einwurf als völlig unbe-
rechtigt zurückweisen.
5) „Hat Pfeiffer nicht bewiesen, dass diese Sitte auch bei
dem'Uebergang von der Lyrik in das Epos geherrscht habe. " —
Wir werden sagen müssen (s. Punct 3), in der ersten Zeit, v^o
die Strophenform , bisher nur lyrisch, auch für das Epos ver-
wendet wurde, werde sie gewiss noch mehr als Erfindung, als
Eigenthum des Dichters betrachtet und geachtet worden sein.
Meint aber Zarncke diesen Einwurf so, dass es nicht zu be-
weisen sei, dass ein Dichter zum Behuf epischer Dichtung eine
von einem anderen für lyrische Gedichte benutzte Strophe nicht
habe entlehnen dürfen, so wird zuzugestehen sein, dass diss
nicht bewiesen ist, dass es überhaupt schwer beweisbar ist; doch
darf darauf liingeAviesen werden, dass in der That ausser der
2) S. oben § tJO, not. 7. S. übrigens den Nachtrag.
246 II. l'er Verfasser des Nibelungenliedes.
Nibelungeiistrophe sich keine ejjische Strophe in der Lyrik ver-
wendet tindet oder umgekelirt.
6) ..Hat Pfeiffer nicht bewiesen, dass die Kiiienhcriit's irhe
die Nibeliingenstrophe sei; denn die Uebersclirift der Pariser
Handschrift, welche die fünfzehn Strophen dem Kiirenberger zu-
schreibt, ist gewiss nicht echt, sondern wohl aus der Nennung
von Kürcnlxuujes irise in einer dieser Strophen entstanden." —
Ueber diesen Punct s. u. bei Zupitza.
7) „Hat Pfeiffer nicht bewiesen, dass Küren))erg, ähnlich
wie Stesichoros zugleich Lyriker und Epiker, der Begründer des
h()fischen Gesanges gewesen sei." — Das ist mm eben der
wesentliche Inhalt der Pfeiflferischen Untersuchung. Dass Küren-
berg der erste Lyriker und zugleich der erste höfische Dichter ist,
den wir kennen, steht einmal fest: so lange Zarncke keinen
Vorgänger dc;- Kürenbergers nachweisen kann, wird auch gelten
münsen, dass er für uns der Begründer der höfischen Poesie ist.
Will Zarncke etwa darin eine Schwierigkeit finden, dass
ein Dichter dieselbe Form für Epik und Lyrik verwendet haben
soll, während doch innerhalb der höfischen Lyrik selbst derselbe
Dichter sich so vieler und verschiedener Stroi)lienfbrmen bedient
habe, so ist zu entgegnen: die erste Zeit stroiihisclier Dichtung
hatte noch nicht den Reichthum an metrischen Gebilden erzeugt,
noch nicht die Beweglichkeit in der Handhal)ung solcher ge-
wonnen, welche die Lyrik eines Walther schon im höchsten
Grade entwickelt zeigt. Kürenberg hat mit einer leichten Mo-
dification immer einen und denselben Ton. So mochte in jener
Zeit ein Dichter füglich dazu kommen, eine von ihm in lyrischer
Dichtung verwendete Form auch auf das E])os zu übertragen.
Und davon abgesehen, — auch unsere grossen Dichter des acht-
zehnten Jahrhunderts, denen der Weisen genug zu Gebote standen,
hal)en dieselben Formen, die sie für epische Dichtung l)enutzten,
auch in der Lyrik mehrfach verwendet; und was sie getlian,
sollte einem Dichter des zwölften Jahrhunders abzusprechen sein?
So erledigen sich, wie uns scheint, alle Einwände Zarnckes
ganz einfach. Ebenso die Einwände Zujtitzas.
Zupitza ist Lachmannianer.^) Da er also das Nibelungen-
lied für eine Sammlung von Volksliedern, seine Stroi)he für
eine Volksweise halten muss, so gibt er zwar vollständig zu,
dass schon im zwölften Jahrhundert die Entlehnung eines Tons
:i) S. z. B. Pfeiifers Germania XIII, 455. 4">(3.
B. Kritik uiul Resultate. 247
imerlaubt gewesen sei, will aber Aon diesem Gesetze die Nibe-
luiigenstrophc aiisi;-ciionmien wissen ,. aus iri^-end einem Grunde,
der uns nicht zu Iviinnnern braucht''. Ais licweis dafür, dass
die Nil)i'luni;'enstr()})he jenem Gesetze niclit unterworfen gewesen,
führt Zupit'/a den Alphart und den Ortnit an, welche beide in
der Nibelung'cnstrophe vcrfasst sind und von denen der letztere
um 1220 — I2:;o, der erstere aber, nur in einer späten Umarbei-
tung erhalten, noch im zwölften Jahrhundert geschrieben sein soll.
Bartsch hat in seiner oben genannten Recension von Zupitzas
Schriftchen auf diesen Einwand mit licclit Folgeiulcs erwidert.
Für die Behaui»tung, dass die jS'ibelungeustrophe von dem
Gesetze der Nichtentlehnung ausgenommen gewesen sei, ist es
zuuächst nothwendig, den (Jrund dieser Ausnahme zu finden;
das hat aber Zu])itza nicht gethan. Ueberhaupt ist es eine leere
Behauptung der Lachmannischen Schule, dass die Nibelungen-
stro))he im zwölften Jahrhundert die herrschende Form des
epischen Volksliedes gewesen sei. Denn diese Behauptung, die
sich auf gar nichts gründet, als auf die Liedertheorie Lachmanns,
ist in keiner Weise zu belegen. Der Alphart gehört allerdings
in seiner ursprünglichen Gestalt dem zwölften Jahrhundert an;
allein er ist uns nur in einer späten Umarbeitung erhalten, und
so gut als Lachmann die Klage als Umarbeitung eines strophi-
schen Gedichtes betrachtet), ebenso gut kann der Al})hart als
Umarbeitung eines ursprünglich in anderer Form aljgetässten
Gedichtes betrachtet werden. Aber wenn der Al})hart (was
Bartsch glaubt) in derselben Form mit dem Nibelungenliede
verfasst war, so beweist diss nichts weiter als die Identität der
Verfasser, welche durch nichts widerlegt, ja durch einige trotz
der l)eiderseitigen Umarbeitung noch erhaltene Aehnlichkeiten
nahe gelegt wird. Der Ortnit beweist nichts; denn mag er auch
um 1220 — 12:>0 schon verfasst sein, so würde damit die Zeit,
in welcher die Entlehnung von Weisen begonnen, um etwa
20 Jahre rückwärts geschoben, aber nicht bewiesen, dass, was
nm 1230 galt, auch um liuo oder früher gegolten hal)e.
Ein zweiter Einwand Zupitzas ist der, dass die Küren-
bergischen Strophen niclit von einem, sondern von drei Verfassern
herrühren. Diss gründet sich darauf, dass in mehreren der
15 Strophen eine (nach Zupitza mehrere) Dame redend eingeführt
4) Worin Bartsch nicht mit Lachmami übereinstimmt; s. Bartsch,
Unters. :vu ff.
248 II- Der Verfasser des Nibekmgenliedes.
wird. Allein, erwidert Bartsch mit Kecht, dieses Einführen einer
anderen Person als redender ist hei der epischen Art der älteren
Liederdichtung in den Gedichten der Lyriker des zwölften Jahr-
hunderts nicht selten, damit also die Einheit des Verfassers der
15 Strophen nicht widerlegt.
Ferner behauptet Zupitza, dass gar keine Nöthigung vor-
handen sei, aus dem Titel der Pariser Handschrift auf den Küren-
berger als Verfasser zu schliessen; vielmehr habe der Schreiber
jener Handschrift diesen Namen nur aus der Nennung der Küren-
bergsweise in einer der Strophen entnommen. Letzteres, ent-
gegnet Bartsch, ist möglich, aber nicht noth wendig, ja es ist
gezwungen. Die betreffende Strophe lautet:
Ich stuonl mir nehtint späte an einer zinne(n):
t/o horte ich einen ritter vil wol sirnjen
in Kürenberges wise al //:? der meneipn.
er nmoz- mir diu lunt riimen, ald ich rjeniete mich sin.
Dass die Dame, die hier spricht, eine un:sithi begehe, indem
sie ihres Geliebten Namen nennt, wie Zupitza meint, ist falsch;
denn der Dichter spricht ja durch den Mund eines Anderen, legt
die Strophe in den Mund seiner Geliebten; und seinen eigenen
Namen in einer einem Anderen in den Mund gelegten Kede zu
nennen, galt nie für unschicklich. Auch ist die einzig richtige
Auffassung der Strophe die, dass die Dame mit Kiirenherfjes
wise wirklich die ihres Geliebten meint. „Die Frau steht", sagt
Bartsch, „bei später Nachtzeit an der Zinne und hört einen
Eitter singen; der Ritter ist, wie aus der vierten Zeile sich er-
gibt, der Mann, den sie liebt. Sie kann ihn nicht sehen, aber
sie erkennt ihn an der Weise, die er singt, und diese Weise ist
Kürenbergs Weise; die einzig natürliche Auffassung der Stelle
ist also: der Ritter, den sie singen L'-rt, niuss der Kürenberger
sein, die Liebende erkennt ihn an der von ihm gesungenen Weise.
Welchen Sinn hätte sonst überhaupt hier die Nennung einer
bestimmten Weise, wenn es nicht die Weise des geliebten Ritters
ist, die sie nicht zum ersten Male heute vernimmt, die sie im
Dunkel der Nacht ihn aus der Menge heraus erkennen lässt!
Es wäre sonst wahrlich die Situation wenig geeignet für die
liebende Frau, ihre litterarischen und musikalischen Kenntnisse
anzubringen." Ist aber der Ritter, den die Dame meint, wirk-
lich der Kürenberger, so ist aller Grund vorhanden, die in K»
unter den 15 Strophen erhaltene, in 2 nur durch Einfügung einer
B. Kritik uiul llesnltate. 2-11)
Halbzeile luodilicicrte Strophent'orni unter der Kiirenbcrgsweise
zu verstehen.
Der Gegner der Pfeiticrischen Hypothese, sagt liartsch, hat
also, um diese zu widerlegen, nachzuweisen,
1) dass die Nibelnngenstrophe im zwölften Jahrhundert die
herrsehende Form des Volksliedes gewesen,
2) warum sie gerade von dem Gesetze der Nichtentlehnung
ausgenommen geAvesen,
o) wie die auftauende Aehnlichkeit in Einzeldingen zwischen
den Kürenbergischen Strophen und dem Nibelungenliede zu
erklären,
4) dass Bartschs Theorie, nach Avelcher das Nibelungenlied
aus einer um die Mitte des zwölften Jahrhunderts entstandenen
Gestalt umgearbeitet ist, falsch, und
5) dass das Nibelungenlied nicht in Oesterreich entstanden sei.
Ist diss alles nicht nachzuweisen, so sind die Gründe für
die Identität des Kürenbergers mit dem Verfasser des Nibelungen-
liedes zu stark, als dass nicht Pfeiffers Theorie als höchst wahr-
scheinlich anzunehmen wäre.
66.
Wollen wir in der Kürze den Versuch machen, die Beweise,
welche Bartsch seinen Gegnern zugeschoben hat, zu führen,
so wird sich zeigen, dass sich dieselben nicht führen lassen,
dass somit Pfeiffers Theorie mindestens nicht widerlegbar ist.
Punct 1) und 2) fallen zusammen: wenn die Nibclungen-
stroi)he eine Volksweise war, so war es wohl unbedingt Jeder-
mann erlaubt, von ihr Gebrauch zu machen.
Aber war sie das"? IMan kann dafür anführen, dass nicht
nur die vielen Variationen der epischen Strophen grossentheils aut
die Nibelungenstrophe zur'Jckgehen, welcher somit eine grosse Be-
kanntheit im zwidften und dreizehnten Jahrhundert zuzuschreiben
ist, sondern dass die einfachste aller dieser Variationen, der
Hildebrandston, im dreizehnten Jahrhundert und später wirklich
als Volksweise auftritt. Allein sicher ist daraus nicht zu schliessen,
dass schon die Nibelungenstrophe dem Volksgesang entstanmie.
Denn es lässt sich die Bekanntheit der Strophe einlach al)leiten
aus dem bedeutenden Gehalte des Liedes, dessen Verbreitung
die grosse Zahl seiner Handschriften schon in früher Zeit be-
weist. Pfeiffers und Bartschs Beweisführung, dass, wenn die
Nibelungenstrophe eine Völksweise gewesen wäre, sie gewiss
250 II- I>ei' Verfasser des Nibelungenliedes.
mehrfach unveränderte Anwendung gefunden hätte, ist um so
.stichhaltiger, als die Verfasser der Gedichte, in welchen die
Strophe modiliciert erscheint, mit nichten lauter Heroen der
Dichtkunst sind. So glauben wir, dass der Beweis für den
volksthümlichen Ursprung der Strophe nicht zu erbringen ist. —
Punct 3j vollends spricht gewiss deutlich für Pfeiffers Theorie
und bildet die positive Ergänzung zu der negativen Beweis-
führung aus dem Xichteutlehnungsgesetzc, talls die letztere nicht
stichhaltig erscheinen sollte. — 4) Bartschs Handschrittentheorie
zu widerlegen ist bis jetzt Niemand gelungen, ebensowenig 5)
einen nichtösterreichischen Ursprung des Liedes zu erweisen.
Mit dem Angeführten sind, so scheint uns, alle Gründe
gegen Pfeiffers Theorie aufgehoben. AVir ha1)en dagegen alle
Ursache, diese Theorie als eine mit allen bis jetzt gewonnenen
Resultaten treiflicli übereinstimmende vollkommen zu adoptieren.
Schon die Annahme, dass das Xibelnngenlied in der Gestalt,
die den Bearbeitern AB und (J vorlag, um 1 17(i entstanden sein
muss, weist dasselbe in eine Zeit, die der des Kürenberges nahe
steht. Wenn Pfeiffer Magenes, Bartseh Konrad von Küren berg
als Verfasser nennt, so glauben wir, dass es unwesentlich ist,
ob ein l)estiramter anderweitig bekannter Kürenberger als "\'er-
tasser angenommen oder ob diese Frage offen gelassen wird;
sichere Beweise fehlen ja hier gänzlich.
Es erhebt sich nun die Frage: ist jene von Bartsch ange-
nommene erste Umarbeitung um 1170 nothwendig, oder kann
das Nibelungenlied selbst in dieser Zeit entstanden sein? Es
wird die Beantwortung dieser Frage keine sichere sein, weil
nicht zu erweisen ist, ob Magenes von Kürenberg oder Konrad
oder keiner von beiden als Verfasser des Nibelungenliedes an-
zusehen ist. Nähmen wir das Erstere an, so würden wir über
Bartschs Annahme nicht hinwegkommen können; nehmen wir
das Letztere an oder überhaupt die Abfassung der lyrischen
Stroidien um 11 40— 1150, so wird dieselbe inuner noch möglich,
aber nicht nothwendig geboten und der Einfach lieit der Lösung
wegen eher zu verwerfen sein; denn der Dichter, der um oder
vor 1150 lyrische Gedichte sang, kann gar wohl um 1170 (viel-
leicht dürfen wir das Nibelungenlied etwas früher setzen) im
Mannesalter ein grosses Epos verfasst haben. Sicher ^vird die
Sache nicht zu entscheiden sein.
,B. Kritik uiul Resultate. 251
(17.
Resultate.
In gedräiig-ter Uebersiclit sind die Resultate dieser letzten
Untersuchung folgende :
1) Der Verfasser der 1.') unter dem Namen des Kiirenbergers
auf uns gekommenen Strophen und der des Xil)elungenliedes sind
identisch; denn es ist kein Grund v.n tinden, warum die Xibe-
lungenstrophe von dem schon im zwölften Jahrhundert allgemein
giltigen Gesetze der Nichtentlehnung der Töne eine Ausnahme
gemacht haben sollte.
■2i Ob der Dichter Magenes oder Konrad von Kürenberg
oder keiner der historisch bezeugten Kürenl)erger ist, lässt sich
nicht nachweisen.
3) Im erstereu Falle ist eine um llTi) gefertigte erste Um-
arbeitung des Gedichtes anzunehmen, im zweiten Falle ist diese
Annahme nicht uothwendig; das Letztere ist wohl zu bevorzugen.
4) Der Dichter benutzte zu seinem AVerke das im zehnten
Jahrhundert lateinisch verfasste Buch des Schreibers Konrad.
5) Der Wohnsitz des Dichters ist wohl der Kürenberg ober-
halb Wilhering, westlich von Linz ; das Gedicht ist also in Oester-
reich entstanden, wo die nationale Sage, ehe die romanisierende
Richtung gegen das Ende des zwölften Jahrhunderts eindrang,
Pflege gefunden hat, angeregt durch die Ungarnkriege des elften
Jahrhunderts.
6) Die Zeit der Abfassung des Nibelungenliedes sind, wenn
Magenes der Verfasser ist, die Jahre 1120 — 1140, wenn Kourad
der Verfasser ist, die Jahre 1140—1150, vielleicht 11(50—1170;
jene früheste Datierung hat am wenigsten Wahrscheinlichkeit
für sich.
S( HLUSS.
0 e s a m in t - R e s II 1 1 a t e.
üb.
Zum Schlüsse dieser Abhandlung mögen hier die Haupt-
punete unserer Resultate zusammengestellt werden.
252 11. Der Verfasser im Nibelungenliede.
Die Siegfrieds sage, eine altgermanische Göttersage,
jedenfalls in der letzten Zeit, da sie noch mythisch verstanden
wurde, ein ethischer Mythus, wurde bald nach 437, jedenfalls
vor 453, mit der historischen Burgund enge schichte von
dem Untergange Günthers durch Attila verbunden, und der ganze
Mythus hat seit 538 etwa diejenige Gestaltung in den Haupt-
sachen erhalten, in der er uns im Nibelungenliede vorliegt.
Bald nach 538, wohl noch vor 600, wanderte die Sage in den
Norden und fand dort selbständige Pflege und Ausbildung. In
der zweiten Hälfte des zehnten Jahrhunderts wurde die Sage
durch Konrad, den Schreiber Piligrims von Passau (971 — 901)^
in lateinischer Sprache schriftlich fixiert; ob in metrischer oder
prosaischer Form, lässt sich nicht errathen. In Deutschland
wurde das Interesse wider neu erweckt durch die nationale
Erhebung in den Ungarnkriegen Heinrichs III. Um
die Mitte des zwölften Jahrhunderts ungefähr bearbeitete der
Verfasser der Kürenbergischen Strophen, mit Benutzung
des Werkes Konrads, die Sage in einem grossen Gedichte. Dieses
wurde vielleicht um 1170 einer Umarbeitung zum Zwecke
der formalen Glättung unterworfen; jedenfalls aber hat das
Gedicht selbst oder diese erste Umarbeitung um 1190 — 1200
zwei von einander unabhängige Umarbeitungen zu
demselben Zwecke erfahren, welche uns in den beiden
Bearbeitungen des Nibelungenliedes vorliegen. Die
eine dieser Umarbeitungen, die sogenannte vulgata, entstand,
wie auch das Gedicht Kürenl)ergs selbst, in Oesterreich;
wo die Heimat der anderen zu suchen ist, kann nicht sicher
ermittelt werden. Das Nibelungenlied ist, in der ältesten Form,
wie sie ihm der von Kürenberg gab, in adlichem Kreise
und für adliche Kreise verfasst; es wurde aber bald, mit dem
Ueberwuchern der roraani sierenden Richtung an den deutschen
Höfen, zum Eigen th um desVölkes, und welches Ansehen es
schon zu Ende des zwölften Jahrhunderts sowie im ganzen drei-
zehnten im Volke genoss, beweisen die zahlreichen Gedichte, die
in jenem Jahrhundert aus populären Kreisen mit Benutzung der
metrischen Form des Nibelungenliedes hervorgegangen sind.
Verzeichnis
der in der vorliegciuleu Schritt angegebenen und l)cnutzten
Werke, zugleicli ein Index für die wichtigsten Werke über die
Nibelungenfrage.
(Die unter die letztere Rubrik nicht geliörigen Werke in Klammern.)
Karl Laclimaun, l'eber die ursprüngliche Gestalt des Gedichtes von der
Nibelungen Noth; Berlin ISIG.
AVilhelm Grimm, Die deutsche Heldensage: Göttingen 1S29.
Karl Lachmann, Zu den Nibelungen und zur Klage; Berlin ISiJli.
Anton von Spaun, Heinrich von Ofterdingen und das Nibelungenlied;
Linz 1S4Ü.
Wilhelm Müller, Versuch einer mythologischen Erklärung der Nibelungen-
sage; Berlin 1841.
{August Zeune, Ist Heinrich von Ofterdingen Verfasser der Nibelungen-
Noth, in Hagens Germania IV; 1S41.I
Wilhelm Müller, Siegfried undFreyr; in Haupts Zeitschrift für deutsches
Alterthum III, 1S43.
Derselbe, üeber die Lieder von den Nibelungen; Göttingen 1S45.
Ludwig Bauer, Das Lied der Nibelungen, ein Kunstwerk; in desselben
Schriften, nach seinem Tode herausgegeben; Stuttgart 1S47.
H. Leo, Die altarische Grundlage des Nibelungenliedes; in J. W. "Wolfs
Zeitschrift für deutsche Mythologie und Sittenkunde: 1853.
Adolf Holtzraaun, Untersuchungen über das Nibelungenlied; Stuttgart 1854.
Karl Müllenhoff, Zur Geschichte der Nibelunge Not; Decemberheft der
Allg. Monatsschr. f. W. und L. 1S54. (Ist auch getrennt gedruckt [Brauu-
schweig 1855], aber in der vorliegenden Abhandlung liegen die Seitenzahlen
der Allgemeinen Monatsschr. zu Grunde.)
E. L. Dümmler, Piligrim von Passau und das Erzbisthum Lorch;
Leipzig 1854.
Friedrich Zarncke, Zur Nibelungenfrage; Leipzig 1854.
Max Rieger, Zur Kritik der Nibelunge; Giessen l'^öS.
Adolf Holtzmann, Kampf um der Nibelunge Hort gegen Lachmanns
Nachtreter; Stuttgart 1855.
Karl Müllenhoff, Zur Geschichte der Nibelungensage; in Haupts Zeit-
schrift für deutsches Alterthum X. 1855.
254 yerzeichnis etc.
Friedrich Zarncke, Beiträge zur Erklärung und Geschichte des Nibe-
lungenliedes; in den Ber. der Sachs. Ges. der "Wiss., 1^5().
Eduard D res sei. Ueher den Charakter Kriemhildens in dem Nibelungen-
liede und der Nibelungennoth (Programm); Coburg 1*^57.
Max Rieger, Die Nibelungensage: in Pfeiffers Germania III, l'^5S.
(\V. S c h w a r t z , Die altgriechischen Schlangengottheiten ; Progr. ; Berlin 1 S.58.)
(Wilhelm Mannhardt, Germanische Mythen; Berlin 1S5S.1
Heinrich Fischer, Nibelungenlied oder Nibelungenlieder? Hannover 1S59.
Moriz T hau sing. Die Nibelungen in der Geschichte und Dichtung; in
Pfeiffers Germania VI, l'^t^il.
Franz Pfeiffer, Der Dichter des Nibelungenliedes 1 1*>(32); in dess. ..Freie
Forschung"; 1867.
Eduard Pasch, Die Nibelungenhandschriften .i und C; in der Preussischen
Gymnasialzeitung. 1864.
Karl Bartsch, Untersuchungen über das Nibelungenlied; Wien l'^li.ö.
Julius Zupitza, L'eber Franz Pfeiffers Versuch, den Kürnberger als den
Dichter der Nibelungen zu erweisen; Programm; Oppeln l*>r)7.
Karl Bartsch, Ueber Zarnckes dritte Auflage des Nibelungenliedes: in
Pfeiffers Germania XIII. IS^>.
Derselbe über: J. Zupitza, ..über Franz Pfeiffers Versuch etc.-',
ebenda 1 %8.
Wilhelm Müller, Ueber Lachmanns Kritik der Sage von den Nibelungen;
in Pfeiffers Germania XIV, 1SH9.
(Karl Simrock, Handbuch der deutschen Mythologie; Auti.:*; Bonn 1869.)
Ernst Koch, Die Nibelungensage nach ihren ältesten Ueberlieferungen
erzählt und kritisch untersucht; Grimma 1*>72.
Karl Vollmöller, Kürenberg und die Nibelungen. Eine gekrönte Preis-
schrift. Nebst einem Anhang: Der von Kürenberc. Herausgegeben von
Karl Simrock; Stuttgart 1874.
Wilhelm Scherer. Der Kürenberger; in Haupts (Müllenhoffs und Stein-
meyers) Zeitschrift für deutsches Alterthum, Neue Folge, Band V (XVII),
1^74.
Ausgaben:
Karl Lachmann, Der Nibelunge Noth und die Klage; Ausg. H, Berlin 18.51.
Karl Bartsch, Der Nibelunge Not. erster Theil; Leipzig 187*).
Friedrich Zarncke, Das Nibelungenlied; AuH. 4; Leipzig I*>71.
Bemerkung: Die Strophenzählung des Nibelungenliedes ist die Lachmanns;
die auf eine Strophe bei Lachmann folgende, welche in Lachmanns
Text fehlt, ist mit ''. die nächstfolgende mit '', u. s. f.
bezeichnet worden.
Nachträge und Berichtigungen.
Seite 14, Zeile 8 und 2 v. u. lies „666" statt ^GGl-' und Zeile 8
V. u. „etwa 34(1" statt „360".
Seite 27, Zeile 11 v. n. lies .,1856" statt „1855".
Seite 75, Zeile 4 v. u. lies „dieses" statt „diese".
Seite 76, Zeile 2 v. u. lies „triioc" statt ^irouc".
Seite 105, Zeile 9 v. o. lies „Wergeld" statt „Welirgeld".
Seite 132, Zeile S v. n. lies „Hriin^nir" statt „Grüngnir".
Seite 144, Zeile 2 v. u. lies „Sage" statt „Lage".
Seite 165, Zeile 6 v. o. lies „Bogerii" statt ^Rogerri^.
Seite 178, Zeile 22 v, o. lies ^Pilegi'inus^ statt „Pilergijius".
Zu Seite 8(5 f. Excurs.
Wenn Herr Professor Dr. Bartsch für die dreisilbigen Keime
ein höheres Alter in Anspruch nimmt, als für die zweisilbigen, aber
stumpf behandelten, d. h. wenn er Reime wie insbesondere den
allerungenauesten dieser Art, Hugeni' : menege., )uir vor llöfi an-
nehmen will (Unters. 356 f. i, so hat er dabei vor allem das historisch
nachweisliche Vorkommen solcher Reime im Auge gehabt. Wir liaben
S. 86 f. versucht, von anderen mehr apriorischen Gesichtspuncten
den von ihm daraus gezogenen Beweis anzufechten ; und es soll hier
das noch etwas genauer geschehen, als es der Context oben erlaubte.
Zunächst sind unter diesen dreisilbigen Reimen einige auszu-
scheiden, welche für den Schluss auf eine Entstehung vor 1150
niclit in Betracht kommen. Dahin gehören jedenfalls die genauen,
wie Hngene : sagen/' u. ä. ,"da diese is. Bartsch, Unters. 2 f.) im
256 Nacliträse und Berichtigimgen.
13. Jahrliiiiidei-t klingend vorkommen, somit ihre Verwendung zum
stumpfen Keime nicht altertliümlicher sein kann als die stumpfe Be-
handlung aller genauen zweisilbigen Keime. Einfache Ungenauigkeit
und zwar consonantische (wie Hagenl' : sümene) hat die Kaiserchronik
und Kuother f Unters. 357;; vocalische (wie Hägen'e : dcgenc) hat
noch Wernhers Maria aus dem Jahre 1172 fs. ebendaselbst). Doppelte
Ungenauigkeit (wie Hugenc : gddeni'c) haben widerum die Kaiser-
chronik und Kuother (Unters. 356), und aus denselben Gedichten
ist auch der dreifach ungenaue Keim Hägene : mcnege belegt
(Unters. 357). Es gehen somit die Keime von der Form Hägene :
säge7ie und Hägene : degene jedenfalls ab. Mit den letzteren werden
wir die einfach und zwar consonantisch ujigenauen gleichstellen
dürfen, da allen Analogieen zu Folge vocalische Ungleichheit schwerer
wiegen wird als consonantische. So bleiben nur noch die doppelt
und dreifach ungenauen Keime übrig, welche mit einander durch
vier (oder wenn mau Str. 1942 die Lesart der einen /und Str. 1SS9
die der einen J) annehmen will) sechs Stellen der Nibelungen ver-
treten sind: Str. 1S9C, 1.2. 224S, 1.2. 2280,1.2. (1SS«J, 1. 2.
1942, 1. 2.); 1916, 1. 2.
Man könnte versucht sein, diese Zahl von Stellen als eine ver-
hältnismässig kleine (denn die genauen und einfach ungenauen Keime
finden sich zusammen an 52 Stellen) für beweisunkräftig zu halten.
Doch wird diese Erklärung, auch abgesehen davon, dass es besser
sein wird, hier mit Zahlen nicht zu rechnen, abgesclinitten dadurch,
dass alle diese grösseren Ungenauigkeiten sich in dem letzten Fünftel
des Gedichts finden, was man leicht aus dem Nachlassen der Ueber-
arbeiter ableiten könnte. Eher könnte man sich, um Bartschs Schluss
zu entkräften, auf die Kaiserchronik und noch mehr auf den Kuother
berufen, insofern erstere wohl nach 1147 zu setzen ist (s. Kober-
stein — Bartsch I, S. 156), dieser aber (s. ebenda S. 157) wahr-
scheinlich d(Mi Kreuzzug von 1147 — 1149 voraussetzt. Wir hätten
also jedenfalls in dem Letzteren ein Werk, das zum mindesten nur
wenig vor 1150 verfasst sein kann. Aus denselben beiden Werken
belegt aber Bartsch auch (Unters. 357) die beiden anderen ältesten
Keime des N. L., vorderost : tröst (worüber aber s. Zarncke, Aus-
gabe S. CXIIl***j und Gernut : luot.
Doch diese historischen Betrachtungen möchten wir lieber in
den Hintergrund stellen. Was wir ihne]i entnehmen möchten, ist
höchstens, dass Keime, den ältesten des N. L. entsprechend, um 115<)
sich jedenfalls linden und dass es gewagt sein dürfte, um solcher
Keime willen eine neue Bearbeitung um 1170 anzunehmen. Denn
beide Zahlen, jedenfalls die von 1150, Hessen sich wohl einander
noch so weit nähern, dass ein allzugrosser Zeitunterschied nicht mehr
vorhanden wäre.
Wichtiger ist wohl die schon oben S. S6 angestellte Betrachtung,
dass an sich, ihrem Wesen nach, diese Keime kaum viel auffallender
und freier erscheinen dürften, als andere Keimbindungen späterer Zeit.
Anhang. 257
Diese dreisilbigen Reime sind oftenbav pnncipiell den zwei-
silbigen gleichzusetzen. Was somit an ilinen besonders alterthünilich
ist, das ist nur die mehrfache Ungenauigkeit des Keims in Keimen
•wie Hagenh : gädemi', Hdgeyie : menegl'. Allein der erstere von
beiden Reimen ist gewiss nicht schwerer als zweisilbige Reime wie
bringen : rinden, gimme : ininne oder gar mit ganz unähnlichen
Lauten Uclmihniti : lagin u. ä., welche (s. Pfeiffer, Freie Forschung
S. 45 f. und Bartsch, Unters. 356) noch nach 1170 vorkommen.
Denn der Unterschied von ti und m ist ja kein so bedeutender, dass
«in Reim gn : dm nothwendig volle zwei Jahrzehnte älter sein
müste als einer von der Form ng : nd; vollends in : g oder z : f
(Pfeiffer 1. c. S. 45) sind doch viel ferner liegende Klänge und ihre
Bindung im Reime muss dass Ohr mehr verletzen, als ein Keim, in
<lem doch Media auf Media, Liquida auf Liquida reimt. Bartsch
selbst nennt (Unters. S. 5) Keime wie wagene : geladetw imv ,, etwas
genauer" als Hagene : gademe.
So würde uns noch der Reim Hagenh : menege bleiben, welcher
allerdings sehr frei ist. Doch kommen wir darauf zurück, dass
(s. S. S6) die letzte Silbe wenigstens gleichen Klang hat und des-
lialb die Ungleichheit der vorhergehenden minder ins Gewicht fällt.
Wir haben hier gleichsam das Gegenstück zu Reimen wie \)ette :
trecken, geweine : scheiden beim Kürenberger; denn liier ist die
Penultima in Beziehung auf den Vocal gleich, die Ultima dagegen
verschieden. Denken wir nun daran, dass die Nibelungen von
klingendem Reim noch nichts wissen, dass somit die eigentliche
Reimsilbe , d. h. die, deren Reinheit am meisten gefordert werden
muss, doch wohl die letzte ist, so wird uns, wenn ein Dichter um
oder vor 1150 in fünfzehn Strophen zwei bis dreimal (denn MF. S, 2
hat die Hs. wenigstens zinne : singen, was auch Simrock bei Voll-
möller, Kürenberg und die Nibelungen, S. 45 angenommen hat) eine
Ungenauigkeit in der letzten Silbe sich erlaubt hat (e : en), zugleich
aber jedesmal eine solche in der vorletzten (// : ck, n : d, nn : ng),
der einmalige Gebrauch eines in der letzten Silbe reinen Reims wie
Hagene : menege um 1170 nicht als Unmöglichkeit erscheinen können.
Wir werden also um dieser einen Stelle willen nicht eine Annahme
für nothwendig halten, welche, wie die Bartschs, durch nichts un-
möglich gemacht, aber auch sonst durch nichts gestützt ist, als durch
die beiden oben berührten Reime vorderöst : Irösf und Crernot : tuot
deren Beweiskraft keine zweifellose ist.
Zu Seite 244—250. Anhang.
Die vorliegende Abhandlung war schon zum grösten Theile
gedruckt, als mir zwei neu erschienene Abhandlungen bekannt wurden,
welche beide die Pfeifter-Bartschische Theorie von der Identität des
Kürenbergers mit dem Yerfas'ser des Nibelungenliedes bekämpfen.
Fischer, Nibelungenlied. l'
258 Nachträge und Berichtigungen.
•
Es sind diss: Kürenberg und die Nibelungen. Eine gekrönte
Preisschrift von Dr, Karl Vollmöller. Nebst einem Anhang:
Der von Kürenberc. Herausgegeben von Karl Simrock. Stutt-
gart, Meyer und Zeller's Verlag, 1S74; und Wilhelm Scherers
Abhandlung -Der Kürenberger" in Haupts Zeitschrift,
Neue Folge, Band V iXVHj, Seite oGl — 5S1. — Beider Argumente
vermochten mich nicht ganz zu überzeugen, und so finde hier eine
Besprechung derselben Raum.
Es sind hier fs. Scherer S. 561) vier Puncte zu unterscheiden:
1) war die Entstehung fremder Strophen in der Lyrik des 12. Jahr-
hunderts, 2) war sie in der Epik jener Zeit gestattet; 3; zeigen die
Nibelungen und Kürenbergs Lieder gewisse Aehnlichkeitsmomente
oder nicht; 4) ist die Kürenberges w/se die Nibelungenstrophe ?
Unter diese vier Puncte lässt sich in der That die ganze Streitfrage
subsumieren. Denn wenn Scherer S. 562 Pfeiffers Theorie schon im
Voraus unAvahrscheinlich zu machen sucht durch allgemein historische
Einwände sowie durch die Bemerkung, dass von allen anderen Gedichten,
welche eine Umarbeitung erfahren haben, das Original wenigstens
bruchstückweise erhalten, bei den Nibelungen aber „auch nicht der
Schatten eines altertümlichen Fragmentes in ungenauen Reimen zu
Tage gekommen" sei: so werden wir das Erstere füglich ganz über-
gehen dürfen, das Zweite aber halten wir durch Bartschs Unter-
suchungen, die denn doch die Umarbeitungen im N. L. evident
nachgewiesen haben, für beseitigt; doch s. u. Wenn weiterhin
S. 562 f. Scherer die Gefühlswelt des N. L. von der Kürenbergs
so sehr verschieden glaubt, so sei erstens darauf verwiesen, dass
Nib. 292, 2 si trvanc gim einander des setienden minne nöi nur in
A steht; zweitens aber bitte ich jeden Unbefangenen, Scherer S. 562,
L. 3. 2 V. u. mit S. 5S1, Z. 3 — 5 v. o. zu vergleichen; denn beide
Stellen widersprechen sich geradezu. S. 562 heisst es: „Nib. Str.
294 verkettet Natur- und Liebesgefühl", und das ist neben dem
„ Conventionellen Frauendienst " als Zeichen späterer Zeit bezeichnet ;
S. 5S1 heisst es: „Das Gedicht [MF. 3, 17—25] ist — durch diese
Combination von Natur und Liebe volkstümlicher als irgend eines
der dem Kürenberger zugeschriebenen Sammlung. " Wenn volks-
thümlicher, so doch wohl auch altertümlicher; denn der conventionelle
Frauendienst der Nibelungen ist nach Scherer Zeichen jüngerer Zeit,
und S. 5S1 sucht er eben das hohe Alter jenes Liedchens zu er-
erweisen. Man sieht, wohin solch überfeines AestJjetisieren führen
kann und muss.
Gehen wir zu den vier Hauptpuncten in Scherers und Voll-
möllers Kritik über.
W^as den ersten Punct, die Entlehnung oder Nichtentlehnung in
der Lyrik, anlangt, so haben sich Scherer wie Vollmöller der von
Wilmanns, Walther S. 30, beigebrachten Beispiele für die Ent-
lehnung von Strophen bedient.
Vollmöller hat freilich S. 11 — 13 noch einige weitere Beispiele
Anhang. 259
hinzugefügt, aber ohne Glück. Denn MF. 3, 17 — 25 hat nicht
denselben Ton wie MF. 7, 1 — 9. 10 — 18 (die beiden Kürenberg-
strophen mit einer zwischen zweite und dritte Laiigzeile eingeschobenen
Zeile), sondern MF. 3, 21 lautet: diu kleinen vogellhi == ^i^i^i
MF. 7, 5 aber die site wil ich mitinen, 7, 14 vcrliuse ich dine
minne, beide = w/w/w/\; also das eine drei-, das andere viermal
gehoben; und das ist denn doch ein Unterschied. (Auch Scherer
hat S. 570. 580 beide Strophenformen fälschlicherweise für gleich
gehalten.) Die Conjectur aber, die Vollmöller S. 12 versucht, um
MF. 3, 17 — 25 in das Gewand der Nibelungenstrophe zu hüllen,
hat keinerlei Nothwendigkeit, also auch keine Berechtigung. Auch
MF. 3, 7 — 11; 3, 12 — Ki ist mit der Moroltstrophe insofern nicht
ganz gleich, als diese im 3. und 5. Vers stumpf, jene Liedchen
aber beide klingend (mit zwei Hebungen) reimen: Sdlmuns man :
leben (jun (PfeiÖer, Freie Forschung S. 15), dagegen darben :
armen, vlizen : venvi'zen. So klein dieser Unterschied ist, so genügt
er doch, um die Instanz dieses Beispiels zurückzuweisen. Jedenfalls
aber hätte MF. 16, 15 — 17, (5 nicht beigezogen und mit der
Strophe von Walther und Ilildegund gleich gesetzt werden sollen;
jene Strophe hat in der vierten Kurzzeile vier Hebungen (vielleicht
auch schon in der zweiten), diese dagegen in der zweiten und vierten
nur drei. Die Art, wie Vollmöller S. 13 den Unterschied in der
4., vielleicht auch 2., Kurzzeile wegschaften will, ist ganz mislungen.
Denn erstlich ist nocli keineswegs erwiesen, ja, wie ich glaube,
durch Bartsch gründlich widerlegt, dass die Nib.-Str. früher viermal
gehobene Reimkurzzeilen gehabt habe (s. Bartsch, Unters. S. 163
und s. 0. S. 55 [§ 13, not. G0|); zum zweiten aber, geben wir für
einen Augenblick Simrocks Ansicht zu , so ist die Strophe voii Walther
und Hildegund doch jedenfalls aus der Nib.-Str. mit 7 Hebungen
in den drei ersten Langzeilen entstanden; für sie kommt also eine
etwaige ältere 8 mal gehobene Form des Nibelungenverses gar nicht
in Betracht.
Was die Beispiele bei Wilmanns betrift't, so glaube ich, dass
nur das von Reinmar d. A. (MF. 17 7, 10 — 39) und Walther« v. d. V.
(No, 68 bei Wilmanns) bestehen bleiben muss. Hier haben wir in
der That ein Beispiel einer Entlehnung einer kunstreichen Strophe,
auf die nicht wohl zwei Dichter unabhängig von einander gekommen
sein werden. S. jedoch Pfeifter, Freie Forschung S. 41, wo der Be-
weis versucht ist, dass das Lied junger man, nis hohes muotes nicht
Walthern, sondern Keinmarn zugehöre, in einer Weise, die man nicht
ohne weiteres wird verwerfen können. Jedenfalls aber nur ein Beispiel
gegenüber so vielen lyrischen Gedichten, die keine Strophenentlehnung
zeigen. Denn die andern Beispiele bei Wilmanns erledigen sich eben
dadurch, dass ganz sicher die betreflenden Dichter unabhängig von
einander auf die ihnen gemeinsamen Strophenformen gekommen sind.
Diss ist anzunehmen, wenn diese Strophenformen selir einfach sind.
Ein ähnlicher Fall ist es, wehn eine von Mehreren gebrauchte Strophe
17*
260 Nachträge und Berichtigungen.
fremdländischen Ursprungs ist ; denn der Dichter, der eine ausländische
Form benutzt, ist selbst nicht mehr Original, hat also auf Wahrung seines
Eigenthums keinen Anspruch. Unter diese beiden Kategorieen fallen
denn auch wirklich die Strophen bei Wilmanns; abgesehen von den
Strophen Heinrichs von Morungen und Reinmars (MF. 137, 17 und
203,10), welche ganz und gar verschieden sind. Scherer vermuthet
S. 564, dass statt MF. 137, 17 vielmehr 137, 10 stehen sollte, setzt
aber selbst hinzu, dass auch diese Strophe von 203, 10 verschieden
sei. Betrachten wir die andern, wirklich gleichen Strophenformen.
Albrecht von Johannsdorf und Reinmar haben dieselbe Strophe
(MF. 93, 5. 193, 2) von dieser Form;
4 a
3^b
4 a
B^b
4 c
4 c
3^b;
wir werden alles Recht haben, statt 3 ^ hier 4 zu setzen , indem
alsdann die Zeile genau der 4 mal gehobenen epischen Reimzeile
entspricht. Also einer allgemein gebrauchten Form, der altherge-
brachten des Epos (s. Pfeiffer, Freie Forschung S. S) ; nur die Reime
sind frei gestellt, aber in ziemlich einfacher Anordnung. Dass a b
n h überschlagende Reime sind, kann nichts Auffallendes, nichts In-
dividuelles sein, da die älteste Lyrik sie schon kennt, wenn wir vom
Kürenberger absehen. Nur der Abgesang cch hat etwas Freieres
an sich ; aber dass auf die gesammte Strophenform nicht zwei Dichter
von einander unabhängig hätten kommen können, das wäre zu gewagt
zu behaupten.
Engelhart von Adelnburc, Reinmar und Hartmann von Aue
haben (MF. 148, 25. 191, 34. 211, 20) folgende Strophe:
4a
4&
4«
4^
4c
4rf
4cV
also wiederum die viermal gehobene, ganz gewöhnliche Reimzeile
mit vier Zeilen von überschlagenden Reimen und zwei Abgesangs-
zeilen, die auf einander reimen und deren zweite durcli eine Waise
(4 d) von derselben metrischen Form -verlängert ist. Diese Form
ist gewiss ebenso einfach als die erste.
Vollends ganz einfach ist die dritte Form, bei Dietmar von
Eist, Heinrich von Veldecke und Heinrich von Rngge (MF. 35, 16
(nicht 36, 16, wie Wilmanns hat) 65, 13. 87, 9. 103, 3):
Anhang. 261
4 a
4 b
4«
4/>
4 c
4c
Ad;
noclimals die viermal gehobene Zeile mit regelmässig überschlagenden
Keimen, also eine Form, auf welche solche Dichter, die nicht eben
eine künstliche Form wollten, verfallen musten.
So haben wir unter den mehreren Dichtern eigenen Formen
drei sehr einfache gefunden, auf welche Jedermann verfallen konnte.
Es lohnt sich wohl, diesen gegenüber ein entsprechendes Schema
der Nib.-Str. zu geben : 4 a
3&
4 c
3/>
• 4</
3e
4/-
4e;
das ist nun doch ein weit weniger einfaches Maass ! Nehmen wir
hinzu, dass die Waisen (4 u, 4 c, 4 d, 4 /') der Regel nach zwischen
dritter und vierter Hebung keine Senkung haben, also scheinbar klin-
gend sind, dass dasselbe bei den Zeilen 3 h gestattet, bei den Zeilen
3 c, 4 c aber (wenigstens bei Kürenberg und in den Nibelungen,
also in den ältesten Gedichten dieser Form) verboten ist: so sieht
man deutlich, dass die Nib.-Str. eine Form ist, welche nicht Melirere
unabhängig von einander erfinden konnten. Also niuss sie entweder
in den verschiedenen Gedichten, die sie haben, entlehnt oder aber
müssen die Verfasser dieser Gedichte einer sein. Beispiele wirk-
licher Entlehnung haben wir aber ausser dem einen Walthers und
Reinmars, das nicht zweifellos ist (s. o.), keine gefunden.
Ein fremdes und zwar romanisches Maass haben Rudolf von
Fenis (s. Koberstein-Bartsch I, S. 222j, Bligger von Steinacli und
Hartwic von Rute (MF. Sl, 30. 118, 19. 1 Tc, 1):
b- a
5 b
5 - <:i
5 b
5 b
b^ a
5 b
Dass, wer ein solches ausländisches Maass benutzt, kein Eigenthums-
recht auf dasselbe haben kann, ist oben bemerkt worden.
Aber auch von einem rein principiellen Gesichtspuncte aus hat
262 Nachträge und Berichtigungen.
man versucht (Wilmanns, Walther S. 29 f.; VoUüiöller S. 10 f.),
die Möglichkeit von Strophenentlehnnngen zu erweisen. Man hat
gesagt, dass nur die Melodie Eigenthum des Dichters gewesen sei,
die Strophenform aber, vorausgesetzt, dass eine andere Melodie damit
verbunden worden, als Gemeingut gegolten habe. Die Entgegnung
hierauf ist einfach : Wie kommt es alsdann, dass unter der Unmasse
lyrischer Strophen, die uns erhalten ist, von einer Strophenentlehnung
— wir werden sagen, so gut wie kein Beispiel, unsere Gegner
werden zugeben, sehr wenige — sich finden? Das beweist denn
doch, dass das Gesetz der Nichtentlehnung gerade für die metrische
Form galt (natürlich für die Melodie ebenso).
Gehen wir zu dem zweiten Puncte über, dem Eigenthumsgesetz
in der Epik. Hier kann es sich natürlich nur um die Nibelungen-
strophe selbst handeln. Pfeiffer hat gesagt (Freie Forschung S. 13.
43 — 45), dass vor 1250, zu der Zeit als man noch auf Wahrung
des litterarischen Eigenthums hielt, ausser den Nibelungen kein Epos
in der Nib.-Str. gehalten sei. Diss sucht man durch Alphart und
Ortnit, Scherer auch durch die Wolfdietriche A, B, C zu wider-
legen (Scherer S. 565, VoUmoller S. 14 — 16). Ich will die Datie-
rung des Ortnit um 1225 1226, die der Wolfdietriche zwischen 1220
und 1240 zugeben. So viel steht fest, ist aber merkwürdigerweise
von beiden Parteien nicht beachtet worden : falle die Abfassung des
Ortnit und der Wolfdietriche wann sie wolle, diese Gedichte fallen
jedenfalls in eine Zeit, da die Reinheit der Strophe schon ganz be-
deutend verletzt wurde, können also für das Entlehnungsverbot über-
haupt nicht in Betraclit kommen. Denn (s. Jänicke im Deutschen
Heldenbuch HI, S. XXHI f. LXHI) Ortnit und die Wolfsdietriche
haben die achte Halbzeile mit drei und vier Hebungen, häufiger
sogar mit nur dreien. Wenn auch Jänicke (l. c. S. XXIII) nicht
ganz Recht haben mag, wenn er sagt, dass in Ortnit und Wolfdiet-
rich A kaum ein Zwölftel aller Strophen vier Hebungen habe (icli
selbst habe im Ortnit etwa 120 Strophen mit sicheren vier, etwa 270
mit sicheren drei Hebungen und ungefähr 2 ! 0 mit zweifelhaftem
Rhythmus gefunden, aller Wahrscheinlichkeit nach etwa 400 dreimal
gegen etwa 200 viermal gehobenen Schlusszeilen I, so ist doch das sicher,
was er eben dort sagt, dass „die Verkürzung der achten Halbzeile
nicht mehr eine Ausnahme von der Regel, sondern durch den Ge-
brauch vollkomen legitimiert" sei. Also zeigen alle diese Gedichte
eine metrische Verwilderung, welche verbietet, aus ihnen für oder
gegen die Strophenentlehnung einen Schluss zu ziehen, da diese
Verwilderung auf eine Zeit hinweist, der die Strophenform überhaupt
nichts mehr galt. (Vgl. auch Heldenbuch HI, S. XIV oben.) Und
sollte aus anderweitigen Gründen die Zeit zwischen 122o und 1230
nicht als eine Zeit der Formverwilderung angesehen werden : so
werden wir sagen, Ortnit und die Wolfdietriche stammen aus den
niedrigen Kreisen der Fahrenden, während die Kürenberglieder wie die
Nibelungen aus ritterlichen Kreisen stammen, in welchen der für Sinn
A'iha:-.?. 263
die Form rein und fein ausgebildet und so auch das Entlelinungsverbot
bekannt und befolgt war; oder — fallen die Gedichte in spätere Zeit.
Anders steht es freilich mit Alpharts Tod. Auch Bartscli gibt
a. m. 0. seine Entstehung im zwölften Jahrhundert zu ; und ich will
mich nicht auf Pfeifers Ausführung gegen diese frühe Datierung
des Gedichtes berufen (s. Pfeifter, Freie Forschung S. 44 W). Eher
möchte man wider die Benutzung des Alphart als Moment gegen
Pfeiffer das einwenden, dass wir mit diesem Gedichte doch ziemlich
im Dunkeln stehen. Es ist allerdings das Verhältniss dreimal und
viermal gehobener Schlusszeilen ein ganz anderes als im Ortnit (s. o.);
ich habe im Alphart 50 — 60 dreimal gehobene, etwa 30o sicher
viermal gehobene und etwa 90 zweifelhafte Sclilusszeilen gezählt;
im Ganzen werden der viermal gehobenen etwa 400 sein, also -^ u
— f'T. Dass die späte Ueberarbeitung noch so viele alte Halbzeilen
erhalten h:it. deutet doch gewiss auf eine Entstehung zur Zeit der
reinen Strophenbehandlung hin. Aber immerhin, ein sicheres Resul-
tat, das selbst Grundlage sicherer Schlüsse werden könnte, wird sich
für den Alphart nicht gewinnen lassen. Schon Pfeiffer hat (S. 45)
geäussert: „Wäre — das alte lief in der Nibelungenstrophe ge-
dichtet gewesen, so würden wir ein zweites Epos des Kürenbergers
zu verzeichnen haben." Dass es wirklich in der Nib.-Str. verfesst
gewesen, macht die grosse Zahl viermal gehobener Schlusszeilen im
Alphart sehr wahrscheinlich. Daher hat Bartsch auch gesucht, die
Autorschaft Kürenbergs wahrscheinlich zu machen (Unters. 362j.
Vollmöller ficht diss an, S. 14 f. 24. Die Gleichheit zweier Stellen
genügt allerdings nicht, um die Identität des Verfassers zu erweisen.
Doch hat Vollmöller übersehen, dass es etwas Anderes ist, ob zwei
(Lang- oder Kurz) Zeilen in zwei Gedichten fast (oder ganz) wört-
lich gleich lauten, wie Alphart Str. 404, 4 : vruüitschaft kmh suofie
sol im gar versaget sin, mit Xib. Str. 2027, 4 : vride unde suone
sol iu vil gar versaget sin und Alphart Str. 59, 2. 64, 4 : er imwz
?}iir diu laut rinnen mit MF. S, 7, wozu im letzteren Falle noch
die beiderseitige schwebende Betonung diu laut kommt; oder ob die
betr. Ausdrücke auch sonst einzeln nachgewiesen werden können.
Das Erstere hat Bartsch gemeint, das Letztere gewiss nie bezweifelt.
— Indessen mag man der Identität der Dichter gegenüberstellen,
dass unter den sicher viermal gehobenen Strophen des Alphart nur
54 den gewöhnlichen kretischen Rhythmus Kürenbergs und des N.L.
haben (l^il^l), wozu unter den zweifelhaften wohl noch 9 weitere
kommen; sowie, dass die Behandlung der achten Halbzeile den von
Bartsch für die Nibelungen gefundenen Gesetzen nicht immer ent-
spricht. Allein man mag das auf die Umarbeitung schieben; hätten
wir von den Nibelungen nur C, so würde sich der kretische Rh^'th-
mus in weniger als der Hälfte der Strophen linden. — Wir werden
schliessen dürfen, dass der aus dem Alphart abgeleitete Einwand
gegen Pfeiffer nicht abzuweisen, aber auch nicht für sicher zu achten
ist, da Gewissheit nach kehier Seite hin sich zeigt.
264 Nachträge und Berichtigungen.
Jedenfalls, glaube ich, wird das Beweismoment des Alphart hin-
länglich aufgewogen durch die von Bartsch (Unters. 354) angestellte
Betrachtung: „Wäre sie [die Nib.-Str.] das [eine alte Volksweise^
also allseitiger Benutzung offen stehend] gewesen, so würden andere
Dichter sich nicht gesclieut haben, sie anzuwenden, so würden nament-
lich epische Diclitungen, wie Walther und Hildegunde, Kudrun,
Rabenschlacht nicht alle die Stroplie mit kleinen Modificationen um-
gebildet haben.''
,,Alle übrigen Thatsachen bestätigen die Identität des Nibelungen-
dichters und des Kürenbergers", sagt Bartsch a. a, 0. weiter.
Zu diesen Thatsachen gehören nun die positiven Aehnlichkeiten
zwischen Kürenberg und den Nibelungen, welche das negative Mo-
ment des Entlehnungsverbots ergänzen und theils subsidiärer, tlieils
aber auch recht wesejitlicher Natur sind. Auch diese aber sind von
Vollmöller und Scherer (wie zum Theil auch schon von Zupitza;
s. 0. S. 247 f.) angefochten worden. Wir können folgende vier
Puncte unterscheiden. 1) Kürenbergstrophen und Nibelungen sind
jedes das Werk eines Dichters; 2) die Entstehungszeit beider ist,
wenn nicht gleich (s. o. Nachtrag zu S. 86 f.), so doch nicht viel
verschieden; weiter als 20 Jahre sind beide kaum auseinander zu
rücken; 3) beide haben metrisch gleiche Strophenbehandlung und 4j
beide zeigen in ihrem Sprachschatz viel Gleiches.
Dass die Nibelungen das Werk eines Dichters sind, brauche
ich hier nicht mehr auseinanderzusetzen, um so mehr, als weder
Vollmöller noch Scherer das Argument der Liedertheorie wirklich
verwerthet haben, wenn auch dieser seinen Lachmannischen Stand-
punct mehrmals deutlich herausgekehrt und jener S. 6 f. in nicht
ganz khirer Weise davon geredet hat, dass „ein Volksepos keinen
Verfasser in dem Sinne habe, in welchem wir das Wort jetzt zu
nehmen gewohnt sind". S. 7, not. t gibt Vollmöller selbst die Ein-
lieit des Verfassers zu. Von der Einheit des Dichters der Küren-
bergstrophen wird unten bei der vierten Hauptfrage (,,Ist die Küren-
beryes tvise die Nibelungenstrophe?") die Rede sein.
Wenn Vollmöller — um auf das Alter des N. L. zu kommen
— S. 43 sagt : „Auf die Umarbeitungen einzugehen, welche nach
Pfeiffers und Bartschs Annahme die Nibelungen erfahren haben sollen,
ist nicht nöthig"', so hat er damit denselben Fehler begangen, den
Bartsch in Pf. Germ. XIII 229 mit Recht der Kritik Zarnckes zum
Vorwurfe gemacht (s. o. S. 244 f., § H5, not. 1): die Nichtberück-
sichtigung eines wesentlichen — und, setzen wir hinzu, eines ganz^
feststehenden — Beweismomentes für die Kürenbergertheorie. Auch
Scherer will S. 5ßG f. Bartschs Beweise für die ältere Gestalt der
Nibelungen umstossen; aber es ist ihm diss nicht gelungen. Er sagt:
,,Wenn Bartsch den ersten Langvers einer beliebigen Strophe des
Nibelungenliedes aus der Recension A und den welcher darauf reimen
soll ans der Recension B nimmt und dann ein ungenauer Reim
lierauskommt, — wenn es also möglich ist, durch Vermischung
Anhang. 265
zweier Recensionen ungenaue Reime lierzustellen, so folgt daraus
docli wohl nicht, dass diese ungenauen Reime würklich gewesen
sein müssen.'* Man wird mir erlassen, auf diesen Satz, der doch
nichts weiter ist als eine leicht hingeworfene recht Laclimannische
Verurtheilung und Entstellung einer wohl begründeten, durch die
scliarfsten Untersuchungen festgestellten Theorie, überliaupt weiter
einzugehen. Wenn Scherer weiter die Beweiskraft der Reime Uötcn :
(jüoten oder Hägenc. menege für nichtig erklärt, so ist, abgesehen
von dem im Nachtrage zu S. 86 f. Gesagten, zu entgegnen: diese
Reime sind bei Bartsch für die Thatsache der Umarbeitung über-
haupt ein wenig wesentliches Motiv fs. auch oben S. 86 — 89);
fällt also ihre Beweiskraft (obwohl diss Scherer nicht bewiesen), so
fällt damit Bartschs Umarbeitungstheorie noch keineswegs. Diese
setzt das N. L. jedenfalls um UlTO, und die Kürenbergstrophen fallen
um 1150; beide sind also nicht soweit auseinanderliegend, dass die
Identität des Verfassers irgendwie auch nur unwahrscheinlich würde;
s. übrigens oben S. 250.
Gegen die metrischen Uebereinstimmungen zwischen Kür. und
N. L. hat Scherer S. 567 f. gehandelt; denn was VollmöUei* S. 34,
not. 1 sagt, ist doch kein Beweis, auch nicht als solcher gemeint,
abgesehen davon, dass es gar nicht unanfechtbar ist. Scherer will
a. a. 0. die Betonung Uebe mit leide, zierten ämhrlu n/p als un-
richtig darstellen und Lachmanns Betonung /lebe mit leide, zierten
dnderiu wip aufrecht erhalten. Ich will davon schweigen, dass
Bartsch auch in seinen metrischen Gesetzen mit grosser Sicherheit
verfahren ist und sie meiner Ansicht nach bewiesen hat (vgl. auch
Zarncke, Ausgabe S. CI, Bem.). Das aber ist zu bemerken, dass,
wenn wir je jenes Betonungsgesetz Bartschs fallen Hessen, es dann
auch für Kürenberg fällt, so dass zwischen seinen Strophen und dem
N. L. hierin jedenfalls kein Unterschied ist. Und besonders ist zu
bemerken, dass der kretische Rhythmus der Schlusszeile, also gerade
die Hauptsache, immer noch in Kür. und N. L. überwiegt und zwar
bei. Kürenberg weitaus. — Etwas Anderes wäre es allerdings, woll-
ten wir Simrocks „Herstellung der s. g. Kürenbergschen Lieder'*
(bei Vollmöller S. 45 — 48) adoptieren. Denn Simrock nimmt zweite
und vierte Halbzeilen mit vier Hebungen (doch ohne jede Xoth) an;
er liest ferner vil lieber vriimt, m/n vil liep, des gelidzze, so
sprach daz tvfp, nie vr'd werden si't, mir wart nie ivip als liep
(wie er die letztgenannte Halbzeile gelesen haben will, kann ich
nicht sicher errathen). Aber diese Lesarten widersprechen schon
der allgemeinen Ansicht von dem Wesen des Nib -Verses, daher sie
auch MF. (ausser nie vrö werden sit) nicht hat; auch lassen sich
alle diese Stellen weit leichter und besser, zum Tlieil der Hs. ge-
mässer, so lesen, dass sie mit Bartschs Gesetzen übereinstimmen.
Statt weiterer Ausführung verweise ich auf den hier gewiss ganz
unparteiischen Haupt in MF. S. 230 f. und auf Bartsch, Unters. S. 358 f.,
sowie auf die Recension der Vollmöllerischen Schrift im Lit. Central-
26(3 Nachträge und Berichtigungen.
blatt 1874 No. 20. Auch Vollmöller hat S. 40 f. nach Simrock in metri-
schen Dingen eine Verschiedenheit zwischen Nibelungen und Kürenberg-
strophen gefunden, die nemlich, dass diese sechsmal scheinbar klingende
Reime haben, das N.L. dagegen in mehr als 150 mal so vielen Strophen
nur 1 2 beiden Bearbeitungen gemeinsame zeige. Diss weise darauf hin,
dass die scheinbar klingenden Reime „in noch früherer Zeit das Gesetz
der ursprünglichen Nibelungenstrophe für die beiden ersten Lang-
zeilen gebildet haben". Ein geistreicher, aber nicht zwingender
Schluss; denn es handelt sich hier nicht um ein Gesetz, sondern
um eine Freiheit, die allmählich aufgehört hat. Dass die erwälmten
Zahlen eine Verschiedenheit zwischen Kür. und N.-L. bilden, ist
nicht zu leugnen; aber ihr steht die entschiedene Uebereinstimmung
im Bau der achten Halbzeile gegenüber. Die ungenauen klingenden
Reime sind gewiss von den Bearbeitern beseitigt worden.
Vollmöller hat S. 16 — 37 seiner Schrift auf die Entkräftung
des Beweises verwendet, den bei Pfeiffer, Thausing und Bartsch die
Uebereinstimmungen im Wortgebrauch zwischen Kür. und N.L. bilden.
Er hat dabei übersehen, dass das Hauptgewicht hier auf die verhält-
nismässig grosse Zahl dieser übereinstimmenden Wendungen fällt,
deren es mit dem Bilde des Falken 2(i sind (in 15 Strophen oder
62 Zeilen), und dass kein Mensch beabsichtigt hat, die betr. Wen-
dungen anderen Gedichten ganz abzusprechen. Weiter hat er, was
schon oben zum Alphart bemerkt wurde, übersehen, dass auch die
wörtliche Uebereinstimmung ein Moment bildet. Aber auch im Ein-
zelnen hat er genügende Parallelen aus anderen Werken nicht immer
beigebracht. Gehen wir daher etwas ins Einzelne ! Das Bild des
Falken mag billich fallen. Nur ist S. 18 zu tadeln, dass von einem
„Liede" über Krierahilds Traum die Rede ist, und ebenso dass
von AUitteratioii in demselben gesprochen wird. Denn ausser den
ganz zufälligen AUitterationen in Nib. Str. 13 — 19, deren sich aus
anderen Theilen des N.L. ebenso viele beibringen Hessen (s. o. S.
31, not. 2), findet sich dort nur das wie liehe mit leide ze jungest
Innen kan (in einer von Lachmann athetierten Stroplie ! i , und Voll-
möller selbst hat (s. u.) S. 30 f. die Häufigkeit der Antithese liehe
— leit nachgewiesen. Doch thut diss nichts zur Sache.
Ebenso mögen die Reime lieh: lieh, die Ausdrücke einen leides
manen, geleiten = „erleben'' fallen.
Zu einen Irürigen muot gewinnen sagt V. selbst : „ist allerdings
in dieser Weise bis jetzt nicht weiter nachzuweisen". Eine ,,strin-
gente Kraft" (S. 23) hat auch solchen Dingen Niemand beigelegt.
Duz lant rümen, was besonders den Alphart angeht, ist schon
besprochen.
Sich eines ding es genieten hat (was V. leugnet) in Kür. und
N. L. dieselbe Bedeutung „sich ersättigen an"; auch hat V. eine
Stelle, wo ein persönlicher Genetiv in dieser Wendung stünde,
nicht nachgewiesen.
l'il n'ol versüenen ist mit diesem adverbiellen Zusätze von V.
Anhang. 267
nicht nachgewiesen. Zu bemerken ist auch, dass es Nib. 620, 2 und
MF, !), 19 beidemal unmittelbar vor der Cäsur steht.
Einem ein dinc benemen und eines künde f/eninnen mag fallen.
Erhlüejen mit dem Subst. v(irn-e ist von V. nur Titurel lo9, 4
nachgewiesen, wo aber erhl. transitiv und varn'e Object ist.
Gelich mit der Bedeutung der Identität und mit einem sinnlichen
Begriffe verbunden, wie es in den beiden Stellen Nib. 172.3, 2 f.
und MF. 8, 32 so eigenthümlich und individuell gebraucht ist, findet
sich sonst nirgends.
Megeihij liehe — leit, höher muol, teilen ?nit (sa7ne() einem,
können preisgegeben werden.
Zu daz (Jsen — gewant bringen könnte, wäre es nicht vielleicht
zu unbedeutend, bemerkt werden, dass es MF. 9, 29 f. Nib. 395, 1
(1965, 4) Imperativisch steht.
Die Anrede rilter edele mag wegfallen. Doch s. Bartsch,
Unters. 35S, Z. 10—12 v. o.
Wir haben gefunden, dass eine grosse Anzahl von Wendungen
dem Kür. und dem N. L. gemeinsam sind, von denen gegen die
Hälfte sonst nicht genau ebenso nachzuweisen ist. Vor allem ist es
die Zahl dieser Parallelen, sodann auch die wörtliche Uebereinstim-
mung einiger Wenc^ungen in zwei Denkmälern, deren eines nur 15
Strophen umfasst, was den Schluss als berechtigt erscheinen lässt,
dass wir hier den Sprachgebrauch eines Dichters vor uns haben,
der sich einmal in gewissen Wendungen gefallen mochte. Wenn
also Vollmöller S. 34 sagt, dass ,, manche Ausdrücke eben überhaupt
seltener gebraucht werden als andere", so werden wir solche Aus-
drücke in unserem Falle mit Fug als Eigenthum eines Dichters in
Anspruch nehmen dürfen. Dass es Niemandem sonst möglich gewesen,
sie zu brauchen, hat Niemand behauptet; daher ist, was V. S. 35
— 37 an gemeinsamem Sprachgebrauch unter anderen Dichtern noch
beigebracht hat, ganz unnütz, weil es den Gegner nicht triflft.
Eine Hauptfrage ist aber endlich die vierte, ob Nibelungen-
strophe und Kilrenberges ?v/se dasselbe sei ; insofern besonders Scherer
an dieselbe Erörterungen geknüpft hat, welche, wenn sie richtig
sind, der Pfeifferischen Theorie den Boden rauben müssten.
Dass die Kürenbergsweise die Nibelungenstrophe sei, gibt Scherer
568 f. unumwunden zu, während Vollmöller es S. 39 f. nach Zu-
pitzas Vorgang mit unzureichenden Gründen bekämpft. Der Grund,
welchen Scherer beibringt, genügt, um die Identität beider Weisen
zu sichern: daraus, dass MF. 8, 1 — 8 die Dame in dem Metrum
der Nib. -Str. davon redet, dass ein Ritter in Kürenberges rrise vor
ihren Fenstern gesungen, folgt mit sehr grosser Wahrscheinlichkeit,
dass auch die Weise, in der sie davon redet, die Kürenbergsweise sei.
Wenn Scherer weiter S. 509 f. eine systematische Entstehungs-
geschichte der Nibelungenstrophe gibt, so kann gegen dieselbe liier
nichts eingewendet werden^ es ist das Ganze aber für unsere Frage
von gar keinem Belang.
268 Nachträge und Berichtigungen.
Wichtiger ist, was Scherer S. 571 vorbringt. Der Name des
Kiirenbergers ist ihm in der Hs. gefolgert aus MF. 8, 5 ; wie denn
diese Ansicht bei allen Gegnern Pfeiffers widerkehrt. Die Analogie-
beweise, welche Vollmöller S. 37 — 39 dafür vorbringt, beweisen nur
die Möglichkeit, d. h. das sonstige Vorkommen der falschen Nen-
nung eines Autors, aber nicht die Wirklichkeit oder Nothwendigkeit
derselben im gegebenen Falle. Weiterhin bringt Vollmöller, um die
Unmöglichkeit zu beweisen, dass Kürenberg derselbe mit dem ritter
im MF. 8, 3 sei, das Argument Zupitzas wider bei, das schon von
Bartsch widerlegt ist (s. o. S. 248): damit würde die Dame, die
in MF. 8, 1 — 8 redet, eine unzuht begehen. Im Uebrigen sagt V. nichts
weiter, als dass die Autorschaft Kürenbergs nicht notlnvendig sei.
Scherers Gründe gegen dieselbe 8. 571 ff. sind scheinbarer.
Er sagt, aus der schlechthinigen Benennung Kürenberges ?iise folge,
dass Kürenberg sich nur einer Strophenform bedient habe. Der
Schluss ist nicht zwingend. Die Nib.-Str. mochte eben die be-
kannteste Weise Kürenbergs sein, und ähnliche Brachylogieen
kommen, wo nicht in iermmis technicis geredet werden soll, häufig
genug vor, wie ein flüchtiger Blick noch für unsere Zeit sofort
lehren kann. Dass die Nib.-Str. diejenige Form ist, welche der
anderen Kür.-Weise zu Grunde liegt, dass sie die primäre Form
der secundären gegenüber darstellt, ist ja ganz unbezweifelt.
Wichtiger ist 8. 572: „Nehmen wir einmal an, wir hätten in
der neueren Zeit eine ähnliche Verbindung zwischen Musik und
Dichtkunst, wie sie im Mittelalter bestand. Nehmen wir ferner an,
die Melodie des Liedes "^Freut euch des Lebens', die wie man weiss
von Hans Georg Nägeli herrührt, sei unter dem Namen 'die Nägelische
Melodie' ganz allgemein bekannt. Und nun läge uns ein Gedicht
vor, worin eine Dame redend eingeführt wäre und uns einzahlte:
'Gestern Abend hörte ich einen Herrn sehr schön singen in der
Nägelischen Melodie'. Würden wir daraus schliessen, dass der Herr,
den die Dame singen hörte, Nägeli geheissen habe? Vielmehr wir
würden das GegentJieil daraus schliessen: jener Sänger hat niclit
Nägeli geheissen. Und so hat jener Ritter, der Verfasser von MF.
9, 29 nicht Kürenberg geheissen."'
Ein sehr bestechender Schluss; aber er ist nicht stichhaltig.
Vor allem liegt eine petitio principii in den Worten „ganz allgemein
bekannt". Woher wissen wir, dass die Nib.-Str. unter dem Namen
Kürenberges fvise, der uns doch nur hier begegnet, ganz allgemein
bekannt gewesen ist? Und so lange wir das nicht wissen, ist nicht
die andere Erklärung ebenso möglich: dass die Weise nur deshalb
mit dem Namen des Erfinders bezeichnet sei, weil er zugleich der
Sänger des betreffenden Liedes gewesen? Und nicht bloss ebenso
möglich, sondern fast allein möglich. Denn, was Scherer zur Ver-
gleichung beibringt, ist pure Prosa, und Bartsch hatte ganz Recht
(s. 0. S. 248), im Namen der Poesie seine Auffassung zu postulieren
und der gegnerischen Auffassung entgegeji zu halten, dass „die
Anhang. 269
Situation wenig geeignet sei, litterarisclie und musikalisclie Kenntnisse
anzubringen/' Nacli Bartsclis Deutung liat die betrelfende Zeile eine
schöne, zart andeutende, prägnant geheimnisvolle Färbung; und alle
Poesie schwindet mit Scherers Auffassung. — Was dieser weiterliin
sagt (S. 573): Bartschs Erklärung sei nur dann nothwendig, ,,wenn
es unmöglich war dass ein beliebiger liitter ohne litterarische Prä-
tensionen sich der Kürenbergsweise bediente'^, das ist tlieils durch
das eben Gesagte, tlieils durch den Ausdruck Kürenherges irise be-
seitigt. Uebrigens konnten es auch andere , handgreiflichere Rück-
sichten als die litterarischer Prätensionen sein, was einen ständchen-
bringenden Kitter bewog. Anderer Weise nicht anzuwenden.
Weiterhin sucht Scherer (S. 573 — 578) die Kürenberglieder
Acrschiedenen Autoren, bezw. Autorinnen zuzuschreiben, wie schon
Zupitza, der freilich keine Begründung dafür gegeben hatte, wenig-
stens keine genügende. Sein Beweis ist hergenommen von einer
angeblichen ,,nnausfüllbaren Kluft'', welche zwischen der männlichen
und weiblichen Empfindung gähnen soll. Ich habe, als ich das ge-
lesen hatte, die Kürenbergstrophen widerholt darauf hin angesehen und
gestehe, von dieser Kluft nichts bemerkt zu Jiaben. Die Strophen
sind ohne Ausnahme mit einer so frischen sinnlichen Kraft und einer
gewissen Derbheit an manchen Stellen gedichtet, dass sich ein Unter-
schied kaum finden lässt. Es sei, nm zu beweisen, dass jene Kluft
zwischen dem rohen Manne und dem sehnsüchtigen Weibe nicht
existiert, verwiesen auf die derb leidenschaftliche Zeile MF. S, 7. S,
sowie auf 9, 21 — 28, wo der Mann in ganz weichem Tone spricht.
Am meisten spricht aber gegen Scherer MF. 8, 9 — 16, wo die Dame
sagt: ja emvas ich nicht ein her {eher) wilde. Deshalb hat Scherer
auch vorsichtigerweise diese Strophe entfernt (S. 576), weil sie das
„Princip" der Anordnung schädige, in welcher die Frauenstrophen
den Männerstrophen vorangehen. Als ob dieses „Princip" nicht den
Schreiber zum Urheber haben könnte ! Schreibt doch Scherer diesem
auch die Namengebung aller 1 5 Strophen zu !
Wir sehen, es ist für eine Mehrheit von Verfassern kein Beweis
zu erbringen. Vielmehr gibt uns Scherers eigene Ausführung
{S. 574 f.) über die epische, romanartige Zusammenstellung lyrischer
Strophen bei anderen Dichtern das Recht, diss auch bei Kürenberg
anzunehmen. Gerade die ältere Lyrik des 12. Jahrhunderts führt
ja öfters das Weib redend ein (s. auch oben S. 248) und steht da-
mit eben dem Volksliede noch sehr nahe, welches diese Sitte in
einem solchen Maasse hat, dass es überflüssig ist davon zu reden.
Dass ,, naive Künstler, von der Gelegenheit ergriflen, vom Augenblick
befangen , inneres Leben ohne Wahl gestaltend , unmöglich Gefühle
besingen können , die sie niemals gehabt haben" : dieses Argument
Scherers (S, 577) scheitert schon daran, dass eben ein solcher Unter-
schied in der Gefühlswelt zwischen den Kürenbergischen Mannes-
und Frauenstrophen nicht existiert. Uebrigens steht Kürenberg wohl
so hoch, dass man ihm jen'e Fähigkeit der Versetzung in ein fremdes
270 Nachträge und Berichtigungen.
Gefühl zutrauen kann, der das Volkslied selbst mit nichten entbehrt.
Scherer S. 578 — 581 zu betrachten, ist nach dem Gesagten
nicht mehr nöthig. Zum Schlüsse kommen noch die Heptaden zur
Sprache (denn ohne MF. 8, 9 — IG hat Kürenberg vierzehn Strophen),
liier aber auf Liederbücher mit Seiten zu 28 Zeilen umgedeutet.
Mein Resultat ist also: Pfeiffers Theorie ist nicht, wie Pfeiffer
selbst es meinte, eine absolut gesicherte Nothwendigkeit; sie lässt
sich „nicht über die Wahrscheinlichkeit hinaus erheben", wie Bartsch
in seinem Koberstein I, 199 selbst sagt; aber ihre Wahrs(;lieinlich-
keit ist eine grosse, und die Gründe ihrer Gegner sind nicht stich-
haltig genug, um eine durch mehrere Wahrscheinlichkeitsbeweise
gestützte Theorie umzustürzen.
Zum Schlüsse: Wer war Kürenberg? Woher stammte er? Voll-
möller hat S. 4 1 f. mit grossem Fleisse eine Menge von Kürenbergen
aufgezählt, die aber zum Theil Kürenburg heissen. Dass der Name
(■= „Mühlberg") häufig sein muss, ist ja natürlich. Von Vollmöllers
Kürenbergen gehen sogleich alle die ab, die nicht als Rittersitze
(cf. MF, 8, 3) nachweislich sind; so bleiben ohnehin wenige übrig.
Für den österreichischen Ursprung des Dichters spricht in den
Liedern selbst nichts, aber auch nichts dagegen. Ich könnte an-
führen, dass MüUenhoffs Forschungen über die Heimat des deutschen
Volksepos und die wenigen Spuren in der Sprache, die Bartsch
(Unters. S. 180 ff.) angeführt hat (doch s. o. S. 242|, das Nibe-
lungenlied mit grosser Wahrscheinlichkeit nach Oesterreich ver-
weisen. Doch ich will die Identität des Verfassers bei Seite lassen
und nur das anführen (worauf aufmerksam gemacht worden zu sein,
ich Herrn Professor Dr. Bartsch verdanke), dass die Hs. die Küren-
berglieder unmittelbar neben die des Oesterreichers Dietmar von
Eist (s. MF. S. 245) stellt. So hätten wir die Wahl zwischen dem
Kürenberg in Oberösterreich (bei Linz) und dem in Unterösterreich
(südlich von Melk); was Haupt MF. S. 229, Z. 6-— 4 v. u. sagt,
lässt vielleicht das oberösterreichische Kürenberg als das wahrschein-
lichere ei'scheinen.
Inhalts -Verzeichnis.
Seite
Erster Theil: Die Entstehung dos Nibelung-enliedes 1
Erster Abschnitt: Die Handschriftenfrage 3
A. Einleitung —
§ t. Wichtigkeit der Ilandschriftenfrage —
2. Schwierigkeit der Ilandschriftenfrage 4
3. Aufzählung der Handschriften 5
B. Die vorhandenen Theorieen 7
§ 4. Einleitung —
5. Lachmann b
6. Holtzmann. 12
7. Die Lachmanuianer 25
8. Zarncke 27
9. Fischer 31
10. Die Späteren (üebersicht) 32
11. Pasch 34
12. Pfeiffer 39
13. Bartsch 40
14. Nachbemerkung 72
C. Kritik und Resultate 73
§ 15. Lachmann —
16. Holtzmann (und Zarncke) —
17. Die Lachmannianer 78
15. Zarncke (einzelne Momente) 79
19. Pasch SO
20. Bartsch S4
21. Resultate 93
Zweiter Abschnitt: Die Nibelungensage 95
1. Der historische Theil der Sage —
§ 23. Einleitung —
24. Lachmann 96
25. Wilhelm Grimm 99
26. Giesebrecht 100
27. Müllenhoff 101
28. W. Müller, Rieger, Koch 104
29. Resuhate 1 Oti
2. Die Siegfriedssage 112
§ 30. Euheraeristische und mythologische Deutung . . . —
31. Lachmann 113
32. Wilhelm Müller 115
33. Neuere Ansichten 130
272 Iiihalts-Verzeichnis.
Seite
§ 34. Vergleichend-mythologische Deutungen t34
35. P. E. Müller .' —
36. Leo. . 135
37. Holtzmaun 137
38. Kritik und Resultate 13<)
3. DieSageimNibelungenliede 14ti
§ 39. I]iuleitung —
40. Namen —
41. Siegfriedssage 14S
42. Nibelungen- und Burgundensage 151
Dritter Abschnitt : Die historischen Verhältnisse und Vor-
lävifer des Nibelungenliedes 153
§ 43. Einleitung —
44. Holtzmaun —
45. Dümmler 177
46. Zarncke ISO
47. Thausing 1S3
48. Kritik und Resultate 186
Zweiter Theil: Der Terfasser des Nibeluug-euliedes 191
A. DievorhandenenTheorieen 193
§ 49. Einleitung — ^
50. Lachmann —
51. Die Heptaden 202
52. Mülleuhoff 206
53. W. Müller 209
54. Kritik der Liedertheorieen 214
55. Die Einheit des Liedes 221
56. Die älteren Tnitarier 222
57. Spann 223
5S. Holtzmaun 224
59. Pfeiffer 226
60. (Thausing und) Bartsch 234
B. Kritik und Resultate 236
§61. Alter des Nibelungenliedes. . i i
62. Zarncke (über die Heimat des „ , ;
/ Vorbem. . . (
Nibelungenliedes) . . . . ^ Vorbem. . . . 2hs
63. Kritik Zarnckes ] (241
64. Die Theorieen vor Pfeiffer .243
65. Pfeiffers Theorie; Einwände dagegen 244
66. Unwiderleglichkeit dieser Theorie und Modiöcierungen
derselben 249
67. Resultate 251
Schlnss: § 68. Gesammt-Resultate 252
Verzeichnis der angegebenen Werke 254
Naehtiüge und Berichtigruugen 255
Allhang: zu S. 244—250 257
Druck von .1. I!. Hirschfeld in Leipzig
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