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Full text of "Die Frau"

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— 


Die ran 


Monatsfärrift für das gefnnte Franenleben | 
umferer. Beit 


Her ausgegeben 


Melene ECunge 


Achter Jahrgang. 1900-1901 


Berlin 
Verlag: W. Moeſer Buchhandlung 
Siauicreiber⸗ Straße 34. 35. 


1901. 


Inhalt des achten Jahrganges. 


Abhunndlungen und Schilderungen. 


Auerswald, X. von. Die Ausftellung des Vereins Berliner Künftlerinnen 
Bäumer, Gertrud. Moderne Yebensprogramme. I. Das dritte Reich 


” ” n ” II. Deutſcher Glaube 
Politik und Frauenbewegung 
„ Padagogiſche Zeit: und Strätieggen 





Beßinertuy, M. Cin Gymnaſium für Bauernmädden in Nufland . 

Boyrich, Karl. Aus der Berliner Koftümfchneideri . . oo. 

Bruunemann, Anna. George Sand und ihre Bedeutung für Die Kravenbeivegung 

Pi P Die Frau im Spiegel der modernen franzöſiſchen Yitteratur 

Ghriftaller, Helene. Ein Kapitel zur Kindererziehung 

Conrad, Elfe. Hauswirtſchaftliche Unterweiſung armer Mädchen in Deuiſchland 

Ebner-Eſchenbach, Marie von. Gouvernantenbrieie . 

Edart, Ilſe. Der Mönd von Heiſterbach . oo. 
” n  Wlerlei Charakteriftiiches zum Fortſchritt der Zrauenbeiregung 

Ernſt, Anna. Ausſchluß der Yehrerin aus der Voltsſchuloberllaſſe? 








" " Zur Kriminalität der Geſchlechter 
Floriant, ©. de. Arauenirage in Indien. 1b 
Goetze, Anna. Die neue fünjtlerijhe Bewegung . 





kt von Adele Pohl 





Pi Pi} Architektur und Innendekoration 
Groening, A. Die Laeisz a — 
Hausmanun, Dr. S. Die Beſtimmungen über das Univerſitätoſtudium der Frauen in 
Deutſchland, I 
Heilborn, Eruſt. Les vierges fortıs . 








rreich- Ungarn und in ber Schweig . . 350, 








eene 
Wilbraudt, Dr. Robert. Die Frauen und der Getreibegoll . . 2 2.2.2020. 40% 
n n ” Hausinduftriele Frauenarbet . . . ......... 453. 538 
Wilmerödoerffer, A. Ruskin und die Fraueee. 2 
Wolf, Fr. Bodenrefom. . . . nn BR6 
” m Staatlihe Wohnungafrforge in 1 Preußen ... nn. 487 
Zimmer,‘ Profefior Dr. Das Tüchterheim „Comeniushaus” . . . .......... 416 
Bingrnphieen und Iharakteriftiken. 

Bäumer, Gertrud. Königin Victoria von England . . 2. 2 nn nn nn. 328 
Bouffet, Alice. Mary Somerville. (Mit Portrait) . . 2 2 22m nn nn. 669 
Ganth, Minna. Celbftbiographie. Überfegt von E. Etine. (Mit Portrait). . . . 383 
Freudenberg, Ika. Marie Stritt. (Mit Portrait) . . 2 2222222. 419 
Gottheiner, Elifabeth. Mary Aſtel3500 
Landsberg, Alice. Profeſſor Carl Goldbed. . . 2 2. 2 2 2 2m. 
Zange, Helene. Auf vorgeihobenem Poſten. (Mit Portrait)... 2 2220.20. 680 
” n Kaiſerin Friedrich ẽcẽ. 765 
Nacrup, Carl. Ellen Key. Überſetzt von Luiſe Weif338 
Raſſow, Maria. Fredrika Bremer. (Mit Portrait). . . . . nn TA 
Stavenhagen, W., Hauptmann a. D. Cine Frau als Mittärfchuittllerin. 200 
Vely, E. Lina Morgenſtern und die Berliner Volkoküchen. (Mit Portrait) . . . . 108 


Romans, Moucellen und Skizjjen. 








Auerswald, A. von. Einſamleitt13463. * 
n nm Brüblingsgefdichte . 1F 

Brauer, Frieda. Drei Monate Kündigungsfrrſt26091 
Canth, Marie. Blinde Klippen. Überſetzt von E. Stine . . V. 82. 1690 
Chriſtaller, Helene. Stärker als der Td. 429; 
Dornau, C. von. Die Roggenmuhmmeee...753 
Faltowst. Mitjka — der Ausreißer. Überſetzt von M. Swerd43 
Foley, Charles. Die Blumenſchlacht. Überſetzt von Wilhelm Thal. 2. urd 
Fromm, A. Um einen Kopf Blumentoll . . 2 2 222. 15 
Henry: Moor, 8. Ein falomonijhes Urteil. . oo 2 on nn. BR 
Hoffmann, Mar. Hans, unjer Dolitiree ZRH 
Meinhardt, Adalbert. Stella's Kantelmur. . FE 334 


Müller-Riga, Luiſe. Ein Hodzitstag . 777 


VI 


Nouhuys, W. G. van. Tagesanbruch. Überſetzt von R.Speyer 
Rex, Ina. Unter fremden Leuten . 

Schanz, Frida. Lisbets Schuhe .. 

Siewert, Eliſabeth. An der Kindheit Grenze . 


Bely, E Der Eniiee . > > m on nn... 526. 600. 


Biered, Erna. MWebermeifter Rotter . 
Winkler, Paula. Der Heine Andreas. 


GBedirhte ır. 


Ed, Miriam. Sprüde . 
Flosky, Margarete. Trauermarſch 
Fuchs⸗-Nordhoff, Felix von. Es iſt zu ſpät 
Janitſchek, Maria. Frieden 

Krukenberg, Elsbeth. Gebenfblatt. 

L. H. Verſöhnung. 

Lobſien, Wilhelm Troſt. 

Du biſt bei mir . 
Matthey, Maja. Lebenzbild 
Roland, Emil (Emmi Lewald). Gedichte . 
Schanz, Frida, An das Neue Jahr . 
Schettler, Paul. Weihnadt . .. 
Stern, Maurice von. Ankunft des Morgens 

„ „ » Mondnacht am Zugerfee 
Thielert, Arthur. Das Buch der Weisheit . 


Ermerbsthütigkbeit Der Fran. 


Chemiferinnen in der Zuderinduftrie. Von Hildegard Jacobi. 

„Geſellſchaftshilfe“, Die. Bon M. Beßmertny 

Handel und Gewerbe, rauen im . ur 

Heilgymnaftif und Maflage, Erſte haut sfmige ern in Kiel a Von 
Amalie Sunk . on 

Koch⸗ und Hauswirtſchafts⸗ Lehrerin, Die en 

Kunſt- und Hansweberei, Die neue Lehranftalt in Kiel ir Don Hildegard Jacobi 

Milhwirtichaftliches Lehr-Inſtitut. Von Hildegard Jacobi . 

Webeichule, In der höheren. Von Erich Stoboy . 


Eeite 
121 


38 
708 
559 
653 
355 
489 


488 
599 
406 
329 
372 
461 
117 
179 
265 

45 
199 
129 
429 
643 
342 


373 
118 
54 


503 
158 
249 
629 
436 

















—FrauenIchen und --Streben. 





ScreS BT 





Frnurnurereine. 





Seite u 119. 18% 


Für Tonns und Inmtilir. 





BDiüũncher ſchuu. 


4. 





» 444. Sen. DU, wm 





Seite 50. 12. 186 





Kleine Mitteilmigen. 


Seite 2>1 518.381. 48. Sl. eh 


Anırigen. 





128. 1eo— 1, SIS- 


1704. F61- 





Zeite #161. 125 SE 4 HS 


510. 









3. Bocier Budhdrunferei, Derlm & 


2 National oder Anternational. 


Und was es ſonſt noch charakterifierte: es war durch und durch fpontan. 
Spontan war auch der Siegesjubel von 1870/71, wenn auch die mehr realen 
Intereſſen und Erfolge ihm eine andere Färbung verliehen. 

Diefen fpontanen Charakter Hat unjer Nationalgefühl, das ſich allmählich in 
„Patriotismus“ ummandelte, mehr und mehr verloren. Der Patriotismus wirb 
offiziell geaicht, in Schulen und Kafernen eingebrilt, feine Pflege durch Erlaſſe 
befohlen, und jo erhält er, wie alles bei äußerem Zwang, einen verdroffenen Charafter. 
Die Lehrer ftöhnen über die ihnen aufoktroyierten patriotichen Reben, und die Schul: 
jungen auf der legten Bank fpielen während des „Aktus“ Sechsundſechzig. Und wie 
jebr der Patriotismus die Fühlung mit dem Nationalgefühl verloren bat, das hat 
das Verſagen des deutjchen Volks bei der Goethefeier gezeigt. 

Spontan trat dagegen der Internationaliamus hervor, und man hat eine Weile 
geglaubt, in ihm das Größere, Umfaflenvere, höhere Willensimpulfe Gebende jehen 
zu dürfen. Liebäugelten doch ſchon unfere Klajfifer mit dem „Kosmopoliten“. 

Auch die deutiche Frauenbeivegung bat dieſe Entwidlung vom Nationalismus 
zum Internationalismus mitgemacht, und es verlohnt fich wohl, diefer Thatjache eine 
Heine Betrachtung Zu widmen. | 

Luiſe Otto ſteht durchaus auf dem Boden des nationalen Empfindens der 
vierziger und fünfziger Sabre. Selbſt wenn ihr Blid über das Nationalheiligtum 
hinaus ſich auf ein „Eden.der Menfchbeit” Heftet, jo trägt dieſes Eden das charafte- 
tiftifche Gepräge deutichen Gemützlebend. Es ift der weibliche Ausdrud für den 
Kosmopolitismus unferer Klaffifer: das Neich der Menjchbeit ift die Vereinigung aller 
unter dem Zeichen des deutichen Idealismus. 

Der moderne Internationalismus zeigt dieſes Gepräge nicht. Nur möglid) 
gemacht durch die Entwidlung der modernen Technif, trägt er auch ihre charafte: 
riftifchen Züge. Eiffelturm, Betroleum:Ring und Blipzug haben bei ihm Pate 
geftanden. 

Das gilt nicht ganz von den internationalen Verbänden der Frauen. Mehr 
als die Männer haben fie ſich die Abneigung vor der Parteifchablone und die Ur— 
Iprünglichleit ihrer Natur bewahrt. Ein Grundzug der Frauennatur ift aber jener 
Idealismus, den wir fo gern für deutſches Pachtgut halten. Und jo beruben faft 
überall die internationalen Verbindungen der Frauen nicht auf Parteiintereffen, fondern 
fie verfolgen fittliche Endzivede. Zu dieſen fittlihen Endzweden gehört freilich in 
erfter Linie. auch die Einfegung der Frau in ihre Bürgerrechte, die umerläßliche Bor: 
bedingung zur Erfüllung ihrer Bürgerpflichten. 

Sn diefem Zuge der internationalen Frauenbewegung liegt zugleich die Erklärung 
ihrer Anziehungskraft gerade für die deutjchen Frauen. Und ebenfo die Erklärung für 
die Thatjache, daß da3 in der Mitte des Jahrhunderts ſtark entiwidelte nationale 
Gefühl gerade der „Frauenrechtlerinnen“ mehr und mehr zu fehwinden und ein blaſſer 
Spnternationalismus an deifen Stelle zu treten fcheint. 

Denn von all dem BVerftändnis, das die deutjchen Frauen bei fremden Nationen 

für die treibende dee der Frauenbewegung: der Frau in der Kulturwelt ihre Stelle 
neben dem Mann anzumeifen, fanden, war in Deutichland nicht die Nede. Die Heute 
gemächlich die Früchte der Frauenbewegung einheimfen, kennen den Falten Hohn, mit 
dem man den erften Kämpferinnen für ihre Ideen begegnete, nur vom Hörenfagen. 
Er ift lange Zeit eine ſchwer laftende Wirklichkeit gemefen. 


m . 


HE m — 





National oder International. 3 


Als vor kurzem der Allgemeine deutjche Frauenverein feinen Flottenaufruf erließ, 
tonnten die deutfchen Zeitungen bei aller Befriedigung über die Sache ſelbſt es fi 
nicht verfagen, darauf hinzumweifen, daß die Bewegung der nationalen Grundlagen 
bisher entbehrt babe. Won dem in diefer Behauptung liegenden Mangel an biftorijcher 
Kenntnid kann man angefichts der Thatjache, daß die deutfche Frauenbewegung für 
die deutfchen Zeitungen überhaupt eine terra incognita ift, füglich abſehen. Aber Hat 
ich wohl einer der Herren Zeitungsfchreiber die Frage vorgelegt, woher denn in die 
deutjche Frauenbewegung diefer Zug zum Internationalismus gefommen ift, der. 
eigentlid, dem deutſchen Volkscharakter und dem Frauencharakter fremd ift? Sind fie 
fih wohl jemals Ear darüber geworden, daß der deutjche Dann die rau, die ihre 
nationalen Pflichten erfüllen wollte, in den Internationalismus bineingedrängt hat? 
Denn zivei Momente entfremden rettungslo8 der eigenen Nation und laflen taftende 
Hände nach allen Seiten ausftreden: Rechtlofigkeit und ein Mangel an tiefgreifenden 
Beziehungen zum SKulturleben des eigenen Boll? in Vergangenheit und Gegenwart. 
Beides traf bei den deutjchen Frauen zu. Die Rechtlofigkeit zwar teilten fie jo ziemlich 
mit den Frauen aller andern Kulturböller, aber während bei allen anderen Nationen 
fchon der erjte Appell wenigiteng ein Verſtändnis fand und eine wenn auch nur jehritt- 
weile Gewährung der gerechten Forderungen der Frauen nach fi zog, find ihnen in 
Deutfchland bis in die jüngfte Vergangenheit binein auch die bejcheidenften Rechte 
verjagt geblieben. Am verhängnispollften iſt das für die Bildung der Frauen 
geworden. Mer die fonfreten Berhältniffe der Gegenwart richtig erfalfen und aus 
ihnen richtige Folgerungen ableiten will, muß den gejchärften Blid für hiſtoriſches 
Merden haben, den. nur ein vertieftes Studium verleiht. Und men man vor einem 
abftrakten Radikalismus ſchützen will, der die lofalen und nationalen Bedingtheiten 
verfennt und glaubt, organifche Entwidlungen in mechanisch Fonftruierte Kurven 
ziwingen zu können, den ftelle man mitten in die konkreten Verhältniſſe Binein ünd laſſe 
fie auf ihn und ihn auf fie wirken. Nur jo fann er praftiich erfahren, welche Früchte 
fein Boden zu tragen im. ftande ift und kommt nicht in die Gefahr, in der Mark 
Baumwolle bauen zu wollen. _ 

Erſt heute beginnt man langſam, die Frauen durch Erkenntnis und Praxis in 
die Kulturarbeit der Nation einzuführen. Die Folge muß eine ftärlere Betonung der 
nationalen Eigenart innerhalb der Frauenbewegung jein. Der nationalen Eigenart, 
nicht eines geichmadlofen Hurrah-Patriotismus. Und erft dadurch wird fie ihre volle 
Stärle gewinnen. 

Denn fo wertvoll auch die "Anregungen fich erweiſen mögen, die aus den 
internationalen Beziehungen erwachſen und auf den internationalen Kongrefjen in die 
Weite getragen werden, fo find andererſeits doch mancherlei Bedenken auch nicht zu unter: 
drüden. Die beliebten Zehnminutenreden, die Überfiille des Materials, die Gewöhnung 
an ein Urteilen über nicht genügend beberrichte Verbältniffe, die durch die Zeit: 
fnappheit notiwendig werdende Beſchränkung auf Hauptpunfte, grelle Schlaglichter — 
das alles führt notwendig zur Oberflächlichkeit und zum Phraſentum, wenn nicht eine 
tiefgründige Bildung und eine genaue Kenntnis der Bedingtbeiten der eigenen Volks— 
entwidlung die richtige Abjchägung und Verarbeitung des Gebörten ermöglicht. 

Und jo erweift fih, was die deutichen Frauen zuerft faft inftinktiv unternommen 
baben: ihrem Gejchlecht vor allem eine gründliche Bildung und die Teilnahme an 
der gemeinnügigen Thätigfeit der Männer zu ermöglichen, auch in Bezug auf Diefe 

1* 


Les vierges fortes, 5 


Und das Studium des Milieus und der Naffe, wie es das 19. Jahrhundert 
verjuchte — was ift es andres als ein Studium der Individualifierungecentren und 
der Individualifierungsgruppen? Der Lehrling zu Sais hob den Schleier, ber das 
Bild der Wahrheit dedte, und er ſah — fich ſelbſt. Diefelbe Neligion wird innerlich, 
und äußerlid eine andre in England als in Deutichland, als in Frankreich. Die 
gleichen Freiheitägedanfen werden zu andern politiichen Anfchauungen, fegen fi in 
andre Thaten um in jedem ber drei Länder. Die Freiheitsfrage der Frau, die Frauen— 
frage, ift in jedem Lande eine andre. 

Ich fage niemand damit etwas Neued. Der oberflächlichle Zuſchauer weiß das. 
Schon der Grad deſſen, was die Frauen in den verfchiedenen Ländern erreicht haben, 
legt Zeugnis davon ab. Hier ijt der Boden günftiger, dort fteiniger; bier find bie 
Kämpferinnen beſſer geſchult für den Kampf, dort verfügen fie über reichere Mittel. 
Die Unterfhiede liegen auf der Hand, die Verfchiedenheiten find felbftverftändlich. Es 
ift aber auch nicht dies Hußerliche, was uns interefjiert, fondern ein Innerliches: die 
Enttwidlung des Freiheitsgedankens bei Frauen verſchiedner Nationalitäten, Raffen, 
Temperamente. Und in dieſer Hinficht war mir Marcel Prévoſt's neuer Roman 
nl.es vierges fortes“ (2 Bde., I. Frederique, II. Lea, Paris 1900, Alphonfe Lemerre) 
wichtig. Man mag daraus erfehen, zu welcher Individualität ſich in Frankreich die 
„meue Frau” auswachſen wird. Und ift e8 nicht vielleicht ſchon charakteriſtiſch, daß 
wir in Deutichland von einer „neuen Frau“ reden, und daß man in Frankreich von 
einer „vierge forte“ fpricht? 

Pravoſt's Roman als ſolchen will ich nicht Toben und nicht tadeln. Er wird 
vielen gefallen; mir gefällt er nicht fonderlih. Nur als ein „document humain* 
fol er bier dienen. Freilich, mit Vorfiht und mit Kritif zu verwerten wie — 
jedes Dokument. 

Eine Anzahl von Frauen, ich muß präzis jein und fagen älteren Mädchen, tritt 
zufammen, eine Echule zu gründen. Eine von ihnen giebt das Kapital dazu, ein 
Terrain in einem Parifer Vorort wird gefichert, die notivendigen Baulichfeiten werden 
aufgeführt. Es wird eine Mädchenfchule fein, an der nur Frauen unterrichten. Die 
Schülerinnen werden zunächft unter den Unbemittelten und Verwaiften ausgefucht. 
Gelehrt werden nicht nur die gewöhnlichen Schulunterrichtöfächer, fondern alles, was 
die Mädchen fpäter befähigen kann, fich im Leben eine ſelbſtändige Stellung zu Schaffen, 
den Konkurrenzlampf aufzunchmen. Scitlerinnen und Lehrerinnen leben gemeinfam 
in den Schulräumlicjeiten wie eine große Familie. 

Innerer Zwed der Schulgründung ift: junge Mädchen zu Perfönlichkeiten zu 
erziehen. Die Freundinnen, bie ſich zu diefem gemeinfamen Werk zufammengefunden 
haben, find Vorfämpferinnen der Frauenbewegung. Die meiften unter ihnen find zu 
diefem ihrem Herzensberuf im Ausland gefchult worden. An Stelle der bisher üblichen 
Erziehung der jungen Mädchen für den künftigen Mann foll eine Erziehung für die 
Menfchheit treten. Das Frauengewiſſen fol auf ſich felbft geftellt werden. Das 
falfche Schamgefühl, das auf der Lüge beruht, fol ausgerottet werden. Die jungen 
Mädchen ſollen lernen, fich felbft genug zu jein. Den Männern gleichen ſoll nicht 
das Ideal fein, fondern fie übertreffen. Der unverbeirateten Frau foll auf Grund 
folder Erziehung ein Menſchheitswirken ſich erfchließen. 

Das alles fünnte, falls es cine hohe obrigkeitliche Genehmigung fände, in 
Deutſchland in derfelben Weife und mit dem gleichen Zwede vor ſich gehn. Doch 


Les vierges fortes. " 7 


ihrer Seele.“ Dieſe Mädchen ſehen in jeder ehelichen Gemeinſchaft einen Abfall vom 
Ideal, eine Erniedrigung ihres reinen Seins, — zwei von ihnen, und die ſchlechteſten 
nicht, unterliegen der Liebe zum Manne. Freilich, einer reinen und ſchönen Liebe. 

Und das ſcheint mir auch — wenn Prevoft richtig gefehen hat — das 
differengierende Merkmal für die Frauenbewegung auf franzöfifchem Boden. Deutfchen 
Frauenrechtlerinnen ift das Wort „Mutterfchaft“ nie unbequem geweſen, die Frau fteht 
ihnen nicht unter der Jungfrau, ihr Ideal ift Fein asketiſches. Aber es ift auß inneren 
Gründen nicht unwahrſcheinlich, daß Prevoft recht hat und daß bei einzelnen feiner 
Vertreterinnen ber Feminismus in Frankreich diefen eigenen Zug trägt. Die Sinnlichkeit 
fpielt jenfeits des Rheins eine andere Nole als bei uns; fie drängt ſich in Kitteratur, 
in Kunft, im Leben hervor, und c3 ift vielfach eine ungefunde Sinnlichkeit, zum Teil 
eine perverfe, zum Teil eine brutale, die ſich offenkundig giebt. Wie jede ausgeprägte 
Erſcheinung ruft fie den Gegenfag, ihr Widerfpiel hervor. Wie der finnliche 
Katholizismus dem Möndetum, fo mag in Frankreich die größere oder doch nadtere 
Sinnlichkeit zum Teil einem radifaleren oder doch finnenfeindficheren Feminismus Geburt 
gegeben haben. In dem Prevofischen Noman fagen diefe Zungfrauen: die Frau büßt 
in der Ehe ihre Freiheit ein, fie twird, jelbft wenn fie ihrem Mann vorher überlegen war, 
zur Sklavin des Mannes. Das ift nicht wahr und ift aud) nicht ihr Herzensmeinen: 
fie felbft empfinden jede eheliche Gemeinſchaft als eine Erniedrigung, beinahe als eine 
Schmach, die ihnen angethan werden könnte. Es ift etwas Perverjes in ihrer 
Unfinnlichfeit. 

Und das ift recht eigentlich, und wie mir ſcheint bezeichnenderweife, das Thema 
dieſes Emanzipationsromang: der Kampf um die Liebe. 

Die Mutter der beiden Heldinnen des Buches, Frederique und Lea, ift als 
junges Mädchen einem Verführer anheimgefallen. Sie ift dann von dem Water des 
jungen Mannes no; rechtzeitig an einen andern, an irgend einen andern, verheiratet 
worden. Freberique hat unter diejer entwürdigenden Ehe ſchon als Kind ge 
litten. Durch einen Zufall hat fie es dann mit anſehn müffen, wie dieſe beiden 
Gatten, ihre Mutter und der fremde Mann, die fich gegenfeitig verachteten, fich in 
nieberer Sinnlichkeit zufammenfanden. Lea ift ihre Stieffchwefter nur. Aber diefer 
Stiefſchweſter hat fie von Hein auf ihren Haß gegen alles, was die Menfchen Liebe 
nennen und das fi ihr immer nur von der häßlichften Seite gezeigt hatte, einzu: 
flößen geſucht. Das dunkle Empfinden der jungen Mädchen war dann unter den 
Einfluß von Romaine Pirnig zu einer Doftrin, zu einem feminiftiichen Glauben?: 
belenntnis geworden. 

In England tritt Lea der Mann entgegen, der ihr das Schickſal verkörpern 
wird. Der unfchuldigen Eva ein unſchuldiger Adam. Er ift ein junger, norwegifcher 
Dealer, der immer nur mit feiner Schwefter, unter ihrem Einfluß gelebt hat. Zwiſchen 
ihmen beiden entfteht eine tiefe, rein jeelifche Freundichaft. 

Sie verkehren zufammen wie zwei Kinder. Wie Kinder fehmiegen fie fi) auch 
zärtlich aneinander. Ihre Lippen finden ſich in einem erften Ruß. Und diefer Kuß 
erwedt in ihr das Gefühl der Scham, der Erniedrigung, des Abfall3 von ihrem Ideal. 
Sie flüchtet von ihm fort. Erſt dadurch wird auch er ſich feines finnlichen 
Empfinden bewußt. 

Eine Zeit ift verflrichen, er ift nach Italien gereilt, eine andre, finnlichere Welt 
ift ihm dort aufgegangen. Er jucht Lea wieder auf und begehrt fie zum Weibe. Cie 


Blinde Klippen. 


Erzählung 


von 


Minna Canth. 
Autoriſierte ÜÜberjegung aus dem Finniſchen von E. Stine. 


Naytrud verboten. 


L 
p) Fin goß das 


Waſſer über Hein Helmi, 
die auf dem Rüden in der Badewanne lag, 
ein Polfter aus Baft unter dem Kopf und 
eine Wolldede über dem Magen. Tie Kleine 
ſchrie vor Entzüden, ftrampelte die Dede ab 
und ſchlug mit den Händchen in das Waſſer, 
daß es weithin umberfprigte. 

„Warte nur, warte nur, du Heiner Milds 
fang, du fprigft Mama ja ganz und gar an!” 
plauberte Alma. „Und verfühlft dich noch 
obendrein. Eei jegt hubſch ftil! Nun fommt 
das Heine Köpfchen an die Neihe und dann 
das Geſicht; mas fagft du dazu? Eiehft du, 
fo! Nein, nein, nur ja nicht böfe werben. 
Na, wer fommt da nun wieder? Schließ die 
Thür! Das Kind ift nadt!” 

Es mar Maja Lifa, die den Kopf durch 
die Küchenthür ftedte. 

„Frau, es kommen Fremde aus der Etabt. 
Sie find mit zwei Pferden in den Hof hinein- 
gefahren.“ 

„Herrn oder Damen?” 

„Herren. Der Apotheler und der Bürger- 
meifter und biefer frembe Herr — Magifter 
ift er wohl? Was foll man nun zum Abend: 
brot haben, wenn nichts, auch nit das 
mindefte zubaufe ift?” 

„Du machſt ja immer etwas ausfindig, 
Maja Lifa.” 

„Ja, das iſt leicht gefagt. Die Frau 
nimmt alles als Spielerei. Diesmal weiß ich 
aber wahrhaftig nicht, was ich ihnen vorfegen 
fol. Der Kudud auch, foll man ſich da nicht 
ärgern! Daß fie einem auch immer fo zur 
Unzeit kommen müfjen!“ 





„Es braucht ja Feiner großen Umftänbe. 
Wenn man nur etwas zu cfien hat! Sie 
wiſſen ja, daß man auf dem Lande nicht 
immer vorbereitet fein kann.“ 

„Wenn man nur Fifhe hätte! Aber auch 
die Fiſche find zu Mittag aufgegefien worden 
— jedes Schwänzchen —“ 

„Wir geben bloß kaltes Fleiſch und faure 
Milch.“ 

„Einen Rat wüßte ich freilich!“ 

„Nun?“ 

„Wenn die Frau mich ein paar junge 
Hühner nehmen ließe.” 

„Wieviele?“ 

„Nur drei. Da könnten wir wohl ein 
gutes Abendbrot vorſetzen.“ 

Alma fand, es ſei eigentlich ſchade, aber 
ſchließlich mußte fie einwilligen. Höchlich zu⸗ 
frieden ſchlenlerte Maja Liſa ihres Wegs, und 
Alma war wieder für eine Weile ungeſtört. 

Sie hob Helmi aus dem Waſſer, trodnete 
fie forgfältig in dem Leintuch ab und zog ihr 
reine Wäſche an. Strahlend und zufrieden 
faß die Kleine nun auf der Mutter Schoß. 
Ein blendend weißes Spigenhäubchen umgab 
die runden Wangen, und aus dem Ärmel kam 
ein Heines, dides Händchen zum Vorfchein. 

Alma füßte die weichen Wangen und das 
Kinn und den Hals und die Heine Hand. 

„Mein ſüßer Schag! Mein Zuderpüppden, 
Mama ißt did) wirffid noch auf!“ 

Helmi lachte und fagte: „gää.” Und bei 
jeder Liebfofung der Mutter lachte fie und 
fagte „gää.” 

„Gää, gää, gää!“ ahmte Alma nad. 
„Du Meine Plaudertaſche, kannſt du fonft 





Blinde Klippen. 


Während Mina die Kinder entkleibete, 
ordnete Alma ihre Toilette. Sie band cine 
nette, weiße Schürze um und legte einen 
weißen Spigenftreifen um ben Hals. Der 


Sommerhut ftand ihr gut, dad mußte fie, wie . 


fie fo vor dem Spiegel ftand und ihn auffeßte. 
Dann nahm fie ihr Arbeitstäfhchen und 
ging trällernd hinab. 
„Da tommt fie ja,” fagte John. . 


„Wer von den Herrn hat mich vermißt?” . 


fragte Alma. 


„Unterzeichneter, Ihr ergebenfter Diener,” ' 


erwiberte Magifter Numark. 
„Sehr artig von Ihnen!” 


Lagander. 


„Ablehnung ohne entſprechende Gründe 
wird nicht anerkannt.“ 

„Deren habe ich mehr ald genug.” 

„Zum Beifpiel?” J 

„Zum Beifpiel, daß John es nicht billigen 
würde.“ 

„Nun, jegt wälzft du felbft ja die Schuld 
auf meine Achſeln,“ fagte John. 

„Und zweitens, daß id) feine Luſt babe.” 

„Sie intereffieren fih alfo gar nicht für 
die Befreiung des Weibes?“ fragte Numark. 

Mein,” lächelte Alma. „Häme es auf 
mid) an, fo würde ih auch bie Freiheit des 


: Mannes nod einſchränken.“ 
„Auch ic) vermißte Sie, wenn ich es auch I 
noch nicht äußerte,” erflärte Bürgenmeifter 


Apotheker Leiftin lächelte nur; er hielt ſich ! 


für zu alt für dergleihen Komplimente. 

„Wenn Sie müßten, tie oft wir ie 
vermiſſen,“ fuhr Lagander fort. „Und melde 
Vorwürfe mir Karel maden, daß bas 
gefelige Leben fo langweilig und troden 
geworben ift.” 


„Armer John! Wie können Cie ihm bie | 
: wollten Eie fagen,” fügte Lagander hinzu. 


Schuld zufgieben?” 

„Ja, er hat Sie ja unferem Kreife enis 
riffen. 
ſich nirgends gezeigt.” 


„Und iſt es auch ſein Fehler, daß ich alt ; 


geworden bin?” 

Sie alt?” rief Nymark aus, fie mit ent: 
züdten Bliden betrachtend. 

„Bald dreißig Jahre.” 

„Nah Balzac beginnt das Weib erſt da 
intereffant zu werben.” 


„Balzac ift tot, und foviel ich weiß, haben | 


die Männer in diefem Punkt feine Lehre nicht 


anerkannt, Die Siehzehnjährige behauptet ſich 


figreih auf dem Throne.” 
„Weil die Dreigigjährige ihn verſchmäht 
hat.“ 


„Aber wir haben ein Mittel ausgedacht, | 


um Sie felbft gegen Ihren Willen der Gefell: 
ſchaft zurüdzugewwinnen,” fuhr Yagander jort. 

„Ich bin neugierig, es zu hören.” 

„Wir wählen Cie in die Direktion der 
Finnländifhen Geſellſchaft.“ 

„Dante ſehr. Aber diefe Ehre nehme ich 
nit an.” 


Eeit Sie verheiratet find, haben Sie , 





„Was fagft du dazu, John?” 
Nymarf. 

„Nichts,“ entgegnete John lächelnd und 
blies ruhig eine Rauchwolke aus dem Munde, 

„Wabrhaftig,” fuhr Alma fort. „Der 
Sommer bier auf dem Lande ift fo beſonders 
angenehm, eben deswegen, weil John immer 
zu Saufe it. Hier haben wir feine Nereine, 
fein Vaterland, fein Finnentum und ... 
nichts, was ung ftört.” 

„Und feine Freunde 


ſcherzte 


meines Mannes, 


„So dumm bin 
jagen.” 

„Sie find gar zu eiferfüchtig auf die Ver: 
eine und auf das Vaterland,” fagte Numark. 
„Was meint du dazu, John?” 

„Ich höre es mit Überraſchung.“ 

„Er macht ſich natürlich nichts daraus, 
wenn ich auch eiſerſüchtig bin.“ 

Es lag etwas Pikiertes in ihrer Stimme, 
weshalb John fich becilte, das Geſpräch auf 
ein anderes Gebiet zu leiten. 

„Dir wird fühl fein, Alma,” fagte er, 
„Soll id deinen Mantel holen?” 

„Danke, ich nchme ihn felbit. 
ohnedies hinaufgehn.“ 

ALS fie nach einer Meile zurückkam, hatte 
man einftweilen angefangen, von Politit zu 
fprehen. Eie nahm ihre Handarbeit und feßte 
ſich ein wenig abſeits. 

„Diefer Sprachenftreit muß einmal doch 
ein Ende nehmen,” fagte Apotheker Xeiftin, 


ih nicht, das zu 


Ich muß 


,„die Finnen haben alle Rechte erhalten, die 


fie verlangen fünnen; was follten fie noch 
mehr zu wünfchen haben?” 


Der Tiſch mar auf der Veranda gebedt. 
Alma warf einen prüfenden Blid darüber hin 
und lächelte dann Maja Liſa zu, deren Augen 
in dem Spalt der Vorzimmerthür glänzten. 

„Zei ruhig!" fagte Maja Lifa zu Dina, 
die fih hinter ihr auf die Zehenfpigen ftellte, 
um ebenfallö die Herren effen zu fehen, „fei : 
ruhig, damit fie nichts merken. Ein hübſcher 
Menſch, diefer junge Magifter, nicht wahr? 
Und fo artig gegen die Frau — da läßt ſich 
nichts jagen. Aber das Eſſen ſcheint ihnen 
zu ſchmecken. Eiehft du, wieviel der Apotheker 
auf feinen Teller nimmt? Du lieber Gott, 
das Brot geht zu Ende. Schnell, ſchneide auf, 
ich hole den Korb.” 

Mit roten Baden und in einer Verlegen- 
beit, daß ihr die Anie zitterten, beeilte ſich 
Maja Lifa, den Korb vom Tiſch zu nehmen. 
Sie war der Meinung, daß aller Augen ihren 
Bewegungen folgten — allerdings ein großer 
Irrtum, denn die Herren bemerlten fie faum. 

Sohn und Leiftin fegten ihren in der Laube 
begonnenen Disput fort, während Numark 
und Alma, die am andern Tifchende ſaßen, 
fih von andern Dingen unterhielten. 

„Ihr Frauen feid gar nicht politiſch,“ fagte 
Numark. 

„Eoliten wir es denn fein?“ frug Alma. 

„Natürlih. Um Ihrer felbft willen, fehen 
Sie. Wer nicht verfteht, feinen Vorteil zu 
wahren, wird unbedingt ber verlierende 
Teil.” 

„In welder Beziehung meinen Sie, daß 
wir verlieren könnten?” frug Alma. 

„In dem, was den Grundftein und Kern 
Ihres Daſeins ausmaht. In Ihrer Liebe.” 

„Wir find alfo in umferer Liebe der ver- 
lierende Teil?” 

„Unleugbar. In der Liebe ift das Weib 
Sklavin und der Mann Herr, wiewohl es 
umgefehrt fein ſollte.“ 

Alma lachte. 

„Und tvas ift die Urfahe? Erklären Eie 
doch!“ 

„Gern. Das Weib wird darum ber ver: | 
lierende Teil in der Liebe, weil fie den Mann 
den gemwinnenden werben läßt.” 

„Daraus kann man nicht Hug werden.” 

„Warten Sie, id werde mid) deutlicher | 
erflären. Zu Beginn, wenn der Mann die | 





Gunft einer Frau zu erwerben trachtet, ba iſt 
feine Liebe feurig und ftark, nicht wahr?“ 

„Allerdings.“ 

„Bis die Frau fich ergiebt und fagt: ic 
bin bein.” 

„Gewiß.“ 

„Nun hat der Mann geſiegt, und ſogleich 
verliert die Frau ihre Macht über ihn. Schen 
Sie, der Mann liebt Sport und Wettfpiele. 
Braucht er um bie Liebe eines Meibes nicht 
mehr zu ringen, fo weiß er fie nicht mehr zu 
ſchätzen. Das ift das ganze Geheimnis.“ 

„Es iſt gut, das zu wiſſen. Aber wie 
meinen Sie, fol nun die rau zuwege gehen, 
um das zu verhindern ?” 

„Zie follte niemald einen Mann aus 
ganzer Seele lieben, niemals zu ihm jagen: 
id bin dein. Sie foll den Mann zwifchen 
Furcht und Hoffnung ſchweben laſſen. Sie 
ſoll bisweilen auch andern Männern ihre 
Gunſt bezeigen und ihnen geſtatten, ſie zu 
bewundern. Auf dieſe Art wird ſie den Mann 
anſpornen, ſich ihre Liebe zu erhalten.“ 

„Gott behüte, welche Lehre! Man merkt, 
daß Sie nicht verheiratet ſind, Magiſter 
Nymark.“ 

„Gott ſei Danlk.“ 

„Wieſo?“ 

„Ich hätte ganz ſicher bald genug von 
meiner Frau. Insbeſondere, wenn ſie von 
dieſer treuen, demütigen und aufopfernden 
Art wäre, wie es Frauen gewöhnlich find.” 

„Sie find entfeglic leichtſinnig.“ 

„Es iſt beſſer, leichtfinnig als langweilig 
zu fein. Ich finde diefe ernſthaften Pflicht» 
menſchen furchtbar ermüdend. ch künnte es 
nicht einen einzigen Tag in ihrer Geſellſchaft 
aushalten.” 

Wie müßte alfo Ihre Frau denn eigent- 
lich bejchaffen fein?” lächelte Alma. 

„Das will ih Ihnen fagen. Erſtens 
unbeftreitbar ſchön. Zweitens müßte fie bie 
Gabe befigen, zu bezaubern, auch andere in 
fi) verliebt zu machen, nit nur mic.“ 

„Und einem der anderen vielleicht einen 
größeren Play in ihrem Herzen einräumen, 
als Ihnen?” 

„Das würde fie nicht thun. Dafür würde 
ich ſchon Sorge tragen.” 

Alma fhüttelte den Kopf. 


„bift du glüdlich?“ 


Außerordentlich zufrieden mit dem Dafein, | 
menigften® gegentwärtig. Und du, meine Alma?“ : 


„Grenzenlos glüdlih. So glüdlih, John, 
daß ich den Lauf der Zeit hemmen und biefen 
Augenblid in alle Ewigkeit fefthalten wollte.” 

John lachte. 

„Ob das nicht doch einförmig würde?” 

„ui, John, wie kannſt du fo ſprechen?“ 

„Ih wollte wetten, daß du ſchon nad 
ein paar Stunden hungrig würbeft und gern 
wieder beim gingeft.” 

Alma ertiderte nichts. Sie fah von ihm 
fort und fühlte fih verlegt. Nein, John 
verftand fie nicht. 

„Nun, Alma?” 

John verfuchte ihr in die Augen zu ſehen. 

Alma wandte fih ihm zu und lächelte, 
aber ihr Blick war feucht. 


„Und ſolch eine Stleinigleit kannſt du dir zu | 


Herzen nehmen? Du bift wirklich kindiſch. 
Nun, laß es gut fein. 
daß ich dir die Thränen trodnen kann.” 

Er ftredte den Arm aus und zog Alma an ſich. 

„Ich nehme dich auf den Schoß wie ein 
lleines Täubchen, mein geliebtes, teures Weib!” 

Er hob Almas Kopf empor und küßte fie. 

Teure Weib!” 

Ein warmer Blid traf Alma aus der 
Tiefe feiner Augen. 

Alma ſchlang den Arm um feinen Hals. 

„Ich liebe dich, John. Über alles. Mehr 
als alles andere im Himmel und auf Erben.” 

„Ich weiß es, mein Liebling.” 

Er drüdte Alma feft an ſich und füßte fie 
nochmals. 

„Aber du mußt vernünftig fein. Nicht 
mehr eiferfüchtig — weder auf Vaterland 
noch Finnentum.” 

„Aber fie nehmen ja dein ganzes Herz in 
Beſih.“ 

„Gewiß nicht. Du herrſchſt unbeſchränkt 
darin.” 


„a, aber nur diefe paar Wochen hier auf ' 


dem Lande. In der Stabt haft du kaum 
Zeit, auch nur an mich zu denfen.” 


„Alma, Alma, was würdeſt du jagen, | 


wenn id) nun beginne, an anderen Frauen 
Gefallen zu finden?” 


Nein, komm hierher, | 
: beinen Augen an. 





au 


Alma zudte vor Schreden zufammen. 

„Nun, nun, rege dich nicht auf. Natürlich 
wird das nie gefchehen. Ich wollte did) nur 
auf biefen Gedanken bringen, damit du künftige 
bin deine Eiferfuht auf das Vaterland auf: 
giebſt.“ 

„John, ich werde verſuchen, von nun an 
vernünftig zu fein. — Sch muß ja,” ſetzte ſie 
mit einem Seufzer hinzu. 

„Siehſt du, daran thuft du recht,” jagte 
John ſchmeichelnd. 

Alma ſetzte ſich auf das Brett im Alter 
und lehnte ſich an ihres Mannes Knie. John 
glättete ihr Haar. 

„Sag mir nun etwas, Alma, tvas ih dich 


; oft fehon fragen wollte.” 


„Nun, was ift es?“ 

„Erinnerft du did eines Abende — es 
war im legten Winter — als id nachhauſe 
tam und bu beim Klavier ſaßeſt und fpielteft 2” 

„Kurz bevor Helmi zur Welt am?“ 

„Ja. Da hattet du geweint, ich fab es 
Aber ih erfuhr micht, 
weshalb, wieviel ich auch fragte.” 

Alma lachte ein wenig verlegen. 

„Geſtehe, warft du damals nur eiferfüchtig 
auf die Außenwelt?” 

„Nein, es war etwas anderes.” 

„Was alſo?“ 

Kindiſche Dinge. Garnichts.“ 

„Weißt du, es quälte mich lange. Ich 
Tonnte es mur ſchwer aus dem Kopf bringen.” 
„Und du fagteft nichts, lieber John?” 

„Da du fo verſchloſſen warſt, wurde ich 
es auch. Aber nun fagft du es mir, nicht 
wahr?” 

„Es war wirklich nichts. Etwas fo furcht⸗ 
bar Minbiihes. Ich kann nicht, John, ich 
ſchäme mich, davon zu fpreden.” 

Aber John ftreichelte und füßte fein Meines 
Mäushen und fah ihr in die Augen. Und 
fo mußte fie es doch fagen. 

„Es war nur, John, daß ich fürdhtete, 
fterben zu müſſen.“ 

„Wie immer vor einem Mochenbett. Und 


" war das allest“ 


„Es kommt noch etwas dazu. Aber bu 


Ladjft.“ 


„Ich lache nicht. Sch bin ganz ernft.” 


Binde Klippen. 17 


„Das Kiffen!” 

Mina drehte ih um und flarrte fie an, 
ohne zu verſtehen. Alma zeigte auf das Kiſſen. 

Aber fie begriff nicht. Sie kam auf Alma 
zu und faßte ihre ausgeftredte Hand. 

Alma ſtieß einen Schredenaruf aus und 
308 die Hand fort, lachte aber im nächſten 
Augenblid wieder. 

„Du bift eine Närrin. Hier das Kiffen.” 
Sie legte ed auf Minas Arm. „Seht geb!” 

Dina ging mit dem Kiffen auf dem Arm 
durch das Kinderzimmer in die Küche, und 
aud Alma begab ſich ins Kinderzimmer, um 
nad den älteren Kindern zu fehen. Sie 
liefen alle füß. Ella bielt die Hand unter 
der Wange und fah im dieſer Etellung fo 
lieblih aus, daß das Herz der Mutter vor 
Stolz und Freude ſchwoll. Lypli hatte bie 
Dede abgeworfen; da es ſehr warm war, lich 
Alma fie bei den Füßen liegen und hüllte 
das Kind nur in das Leintuch. 

„Gottes Frieden!” flüfterte fie. Und es 
war wirklich, als hätte der in dem Raum 
geherrſcht. 

Als fie ſich niederlegte, kamen ihr Nymarks 
Worte in den Sinn: „Furcht iſt Beweis von 
Schwäche.“ Was hatte er damit gemeint? 

Wie fonderbar er fie den ganzen Abend 
angefehen ... . 

Sport? Die Männer lieben Sport? ... 

Dummpeiten! 


U. 

Die Sommerferien näherten fi ihrem 
Ende, und Rektor Karell und feine Familie 
hatten nur noch einige Tage des Yand- 
aufenthaltes vor fih. Die Wäſche mar ab: 
gethan und alles für die Überfiedelung vor: 
bereitet, die in drei Tagen ftattfinden follte. 

Da das Wetter ſchön war, ließ Alma den 
Nachmittagskaffee in die Laube am Ufer tragen. 
Zie faß am Tiſche und zeichnete neue Taſchen⸗ 
tücher mit roten Buchſtaben. Lypli Metterte 
auf die Bank neben fie; die andern Stinder 
faßen im Grafe und fpielten mit Steinchen. 
Auch Helmi wurde herausgetragen; fie lag in 
einem feinen Wagen im Schatten eines 
Baumes, mit einem meißen Schleier zum 
Schutz gegen Fliegen und Müden. Bei jeder 
ihrer geringften Beivegungen war Mina zur 





Stelle, um den Wagen in Bewegung zu 
fegen, während fie gleichzeitig die andern 
Kinder zur Ruhe ermahnte. Und dann fchlief 
Helmi wieder ein. Einftweilen ordnete Mina 
den Kaffeetiſch. 

„Ich darf wohl die Kaffeekanne nicht früher 
berunterbringen, bis der Herr Rektor kommt?“ 
fragte fie. 

„Nein, laß fie am Herd ftehen, damit der 
Kaffee nicht kalt wird.” 

Alma Hielt die Nadel in eifriger Beivegung 
und bob die Augen nicht von der Arbeit. Sie 
warb mißgeftimmt, fobald fie an die bevor: 
ftehende Überfieblung und an das Etadtleben 
date. Gar ſchnell war der Sommer ver: 
gangen; man wußte faum, daß er begonnen, 
fo war er auch fehon vorüber. Aber noch 
mehr quälte es fie, daß John nicht dasfelbe 
Bedauern empfand wie fie. a, es fehien 
Alma, als freue er ſich fogar auf die Abreife. 
Er fühlte fi eben auf die Dauer von dem 
einförmigen und ruhigen Familienleben nicht 
befriedigt, er fehnte fih nad Abwechſelung, 
Beſchäftigung. 

Davon würde er nun im nächſten Winter 
vollauf haben. Ja, ſoviel er ſich nur wünſchen 
mochte. John war zum Landtagsabgeordneten 
gewählt worden. Alma war hierüber ganz 
betümmert und wagte es Taum, an das Früh: 
jahr zu denfen, wo fie allein bleiben follte, 
für fo lange, lange Zeit von ihrem Manne 
getrennt. 

Sie hatte geweint, als fie es erjuhr, und 
noch mehr getveint, als fie fab, mit welchem 
Eifer John alle Vorbereitungen zu feinem 
Amte traf. Nicht ein Wort des Bebauernd 
über die Trennung vom Haufe. Nicht ein 
einziges! 

Alma war tief verlegt. Mehrere Tage 
war fie falt und einfilbig geweſen. Aber 
Sohn hatte ſich nicht daran gelehrt. Und 
nun war fie infolge deſſen bei ſchlechter Laune 
— die ſich von Zeit zu Zeit in Heinen 
Stichelreden Luft machte. Nicht einmal dies 
hatte Wirtung. John zog fi) bloß auf fein 
Zimmer zurüd, ſchrieb, las, dachte und ſchwieg. 
Seine Gedanken waren anderwärts. Alma 
fühlte ſich verlaffen, unglüdlic. 

Sie hatte verfucht, ihre bittern Gefühle zu 
unterbrüden, fie machte fih um die Rinder zu 

2 





Binde Klippen. 21) 


Das Blut ftieg ihr zu Kopfe; fie preßte 
bie Lippen feft zufammen und nähte noch eifriger. 

Nah einer Weile kam John vom Ufer 
herauf, immer noch Lypli auf dem Arm 
tragend. 

„Bitte ſchön, Mama, dem Kind die naſſen 
Strumpfchen auszuzichen und ihm trodene zu 
geben,” fagte er ſchon in einiger Entfernung. 
„Ziehft du, Mama, Lypli ift ins Waſſer ge 
ftiegen und naß geworden.“ 

„Sie Tann zu Mina hinaufgehn.” 

„Mina ift nicht da, fie war eben mit 
Helmis Wagen im Walde.” 

„Dann ift Maja Liſa da.“ 

John ſchwieg eine Weile, dann ftellte er 
Lypli auf den Boden. 

„Lauf, mein Kindchen, und bitte Maja 
Liſa, dir zu helfen.” 

John zündete eine Zigarre an und ſetzte 
ſich auf das Schaulelbrett. 

„Alma! Warum?” 

Keine Antwort. 

„Warum bift du fo ſchlechter Laune?” 

Noch feine Antwort. 

„Alma —“ 

Er wollte fie an ſich zichen. 

„Ad, laß mid." 

Alma ſchob feine Hand fort, obne bie 
Arbeit finken zu lafien. 

„Wie? — Bin id dir läftig?” 

„dJa.“ 

John ſah ſie mit einem langen Blick an, 
aber ſie ſchlug die Augen nicht auf. 

„Wahrhaftig?“ 

Nicht ein Laut. 

Da ſtand John auf und ging. Alma 
merkte es an feiner Art, ſich umzuwenden und 
an feinem Gang, daß er böfe ſei. Zie 
erichraf, denn fo etwas war noch nie gefeheben. 

Es dunfelte ihr vor den Augen, ihr Herz 
hörte auf zu fchlagen. Hände und Füße 
wurden fall. Was hatte fie gethan? 

Sie blidte auf und ſah, wie John mit 
einem beftigeren Rud als gewöhnlich die 
Flurthür Hinter ſich zuzog. 

„Sohn, John,“ flüfterte fie. 

Aber Zohn hörte nit. Alma warf die 
Arbeit fort. Sie ging ein Stüd ſeitlich zwiſchen 
die Bäume, warf fi vornüber in das Gras 
und meinte bitterlid. 





Das Verhältnis zwiſchen ihnen mar zer⸗ 
ftört, und nichts in der Welt konnte es wieder 
berftellen. John würde fortan noch kälter, 
noch unfreundlicher werden — und fie? — 
Sie hätte unter die Erbe verfinten mögen, 
wie fie da lag, das Gefiht im Grafe. Gleich 
in biefom Augenblid und für ewig! 

Tenn feine frohe Stunde konnte fie mehr 
im Leben haben. Alles war verändert, und 
fo plöglid) war es geſchehen, wie mit einem 
einzigen Schlage. Die Vögel zwitfcherten mie 
früher in den Bäumen, und vom Ufer ber 
ſchollen die fröhlichen Stimmen der Kinder, 
aber fie Hangen in ihrem Ohr nit mehr wie 
ehedem. 

Und John kam nicht, ſie zu ſuchen. Halb 
hoffte, halb fürchtete ſie es. Aber er kam 
nicht. Ihm war es gleichgiltig, ob das 
Verhältnis zwiſchen ihnen ein gutes oder 
ſchlechtes war. 

Sie weinte, bis ſie ſo müde wurde, daß 
ſie nicht mehr zu denken, nicht einmal ſich zu 
grämen vermochte. Immer noch lag ſie in 
derſelben Stellung. Endlich, als ſie fühlte, 
tie der feuchte Boden fie durchkältete, ſtand 
fie auf. Die Gemütsbewegung hatte fie derart 
geſchwächt, daß fie fih ſchwanken fühlte und 
am ganzen Körper zitterte. 

Sie fah fi) um. Die Eonne war ſchon 
im Untergehn; es wurde Abend. Sie ging 
zum Ufer, wuſch die Augen mit dem fühlen 
Waſſer und nahm die Kinder mit ſich hinauf. 

Das Ejien ftand auf dem Tiſche. Sie 
hieß Arvi den Vater rufen. 

„Papa ißt nicht,” verkündete Arvi, als er 
vom Zimmer des Vaters zurüdkam. 

Alma machte fi, ohne ein Wort zu fagen, 
um die Kinder zu fchaffen, brachte fie zur 
Ruhe und Iegte fich felbit. 

Aber fie fonnte nicht ſchlafen. Eine 
Stunde verftrih, und alles blieb ſtill um fie 
ber. Anfangs hörte man nod bie und da 
aus der Küche ein Klappern, doch bald ver- 
ftummte aud das. Helmi fchlief ruhig und 
feft im ihrer Miege neben dem Bett, das 
Händchen auf der Dede geballt. Ihre Augen 
waren geſchloſſen, die Züge fo vol Frieden. 
Der Mund verzog ſich zumeilen zu einem 
Lächeln; fiherlih träumte fie von etwas 
Freundlichem, die Kleine. Glüdliche Zeit! 

27 


20 Frauen vor dem Gewerbegericht. 


Keine Sorge, kein Schmerz und feine Seelen: 
angft! 

Die Thür zum Salon ftand offen. Aber 
‚sohn hatte die feine auf der anderen Seite 
geſchloſſen. Wie lange wollte er aufbleiben? 
Wartete er, bis fie fchlafen würde? Ober 
hatte er die Abficht, garnicht zu kommen? 
Bielleiht wollte er fih auf das Sofa in 
feinem Bimmer- legen? 

Alma Schloß die Augen nicht, fondern lag 
und fchaute in das Mondlicht, das durch die 
Ealonfenfter über den Boden fiel. Im Schlaf: 
zimmer waren die Garbinen herabgelajlen; 
aber im Salon war es hell. Und fo frieblidh 
fill und beimlih! Auch die Möbel, Stühle, 
Tiſch und Sofa fahen fo friedlich drein; fie 
fühlten nichts von den Schmerzen der Welt. 

Jetzt aber — jeht! 

Die Thür zu Johns Zimmer öffnete fich, 
und er Fam dur den Ealon, die Kerze in 
der Hand. Almas Herz Flopfte heftig, aber fie 
ſchloß die Augen und lag unbeweglich, mie 
tot da. Sohn ftellte das Licht auf den Tiſch 


neben dem Bett und ftand eine Meile ftill. 
Alma fühlte, daß er fie betrachtete. Dann 
wandte er fih ab und begann fih zu ent: 
Heiden. Sie öffnete ein wenig die Liber und 
betrachtete verftohlen fein Geſicht. Es mar 
Streng und ernit. Zitternd fchloß fie wiederum 
die Augen. | 

Nun wandte fi) Sohn nicht mehr nad 
ihr bin, fondern legte fih und blies das Licht 
aus. Mie nahe war er ihr nun. Cie laufchte 
feinen Atemzügen und folgte jeder feiner 
geringften Bewegungen. 

„Sohn!“ flüfterte fie für fih. „Verzeih 
mir, ih bin ja dein. Ich liebe dich ja von 
ganzer Seele. Berzeih’! Sei nicht böfe! Ich 
fann nicht leben, wenn du fo kalt und 
unverjöhnlich bift!” 

Sie hob den Kopf vom Kiffen. Vielleicht 
wollte fie dasjelbe laut jagen; aber John war 
ſchon eingefchlafen. Schwer und gleichmäßig 
atmete er und wußte von feiner Dual. 

Alma ſank auf ihr Bett zurüd. 

(Fortſetzung folgt.) 


— 


Zranen vor Sem Gewerbegericht. 


Rlire Salomon. 


Nachdruck verboten. 





— *2 


en Beſuchern des internationalen Frauenkongreſſes, der im Juni in Paris 
F 8 








tagte, bot fich vielfacd, Gelegenheit zu beobachten, daß die franzöfiichen Frauen 
J trotz der mangelhaften Organiſation ihrer Frauenbewegung zu Stellungen, 
AÄmtern und Rechten zugelaffen werden, die den deutſchen Frauen trotz energiſchen 
Eintretend ihrer Vereine noch vorenthalten bleiben. Nachden erft vor kurzem eine 
Frau in den franzöliichen Arbeitgrat gewählt worden, bat diefe Behörde (Conseil 
superieur du Travail) ſich jest in einer Sigung unter dem Vorfig des Handels: 
minifter8 für die Wählbarkeit der Frauen in die Prud’hommes - Gerichte (die mit 
unjern Getverbegerichten verglichen werden Fünnen) erklärt. 

Die Bedeutung jolcher Errungenfchaften und die Notwendigkeit ſolcher Forde— 
rungen wurde durch eine Begebenbeit der legten Monate auch den’ deutfchen Frauen 
gegenüber heil beleuchtet, und zivar durch die Lohnbewegung der Berliner Wäjcherinnen 
und Plätterinnen, die mit einer Verhandlung vor dem Berliner Gewerbegeridht endigte. 

Für die Hausfrauen dürfte diefe Bewegung von feinem geringeren Intereſſe 
fein als die Dienftbotenbewegung. Handelte es fich doch hierbei nicht nur um Ber: 
hütung eines Streils, der mit der Wirtichaftsführung, mit Beſchaffung eines häus— 








Frauen vor bem Gewerbegericht. 2i 


lichen Bedarfsartikels zuſammenhängt und ſomit die Hausfrauen getroffen hätte, nicht 
nur um Fellfegung des Lohns für Leitungen, die jede Hausfrau zu ſchähen und zu 
bewerten verfteht. Denn die Bervegung der Wäfcherinnen und Plätterinnen, die in 
der Einigungsverhandlung vor dem Gewerbegeriht ihren Höhepunkt erreichte, hat 
für die Frauen noch eine andre Bedeutung; fie trifft fie auch als Anhängerinnen der 
Frauenbewegung. Sie bewies die Notwendigkeit und Berechtigung von frauen 
rechtlerifchen Forderungen; fie kann aber auch al ein Erfolg in der Geſchichte der 
Brauenbetyegung verzeichnet werden. Zum erften Mal gefchah es in Berlin (und 
foweit mir befannt geworben, aud in Deutfchland), daß eine außfchlichlich weibliche 
Drganifation das Einigungsamt des Gewerbegerichts angerufen hatte, zum erften Mal, 
daß an biefer Stelle eine Frau ald Sprecherin ihre Arbeitögenofien vertrat. Der 
ausgezeichneten Haltung der Vertreterinnen der Wälcherinnen und Plätterinnen if es 
zuzuſchreiben, daß die Verhandlungen mit einem Sciebsfpruch endigten, der den 
2500 Arbeiterinnen der Wajch: und Plättanftalten Berlins eine erfreuliche Beſſerung 
ihrer Lage bringt. Die Vorgänge, die den Lohnftreitigfeiten zu Grunde lagen, find 
folgende. 
Seit Jahrzehnten befteht in Berlin die Sitte, daß Plätterinnen als Lohn die 
Hälfte des Preifes erhalten, den der Gefchäftsinhaber von den Kunden bezahlt befommt ; 
fo ftellte fich der Preis für dad Dutzend Oberhemden auf 75 Pfennige, das Dugend 
Paar Manfchetten 30 Pfennige, dad Dugend Kragen 20 Pfennige; für Damenblufen 
variierte der Preis zwiſchen 8 und 25 Pfennigen. Im allgemeinen erhielt die 
Plätterin die Hälfte des Preifes, den die Kundfchait zahlte, die andre Hälfte erhielt 
der Geſchaftsinhaber zur Dedung feiner Unfoften und als Unternehmergewinn. Wenn 
einzelne Arbeiterinnen bei diefen niedrigen Stüdpreifen einen auskömmlichen Wochen: 
verdienft erzielten, jo ift dabei zu berüdfichtigen, daß es ſich in diefen Fällen immer 
um. befonderd gewandte und geübte Arbeiterinnen handelt, die als Elite der weiblichen 
Arbeiter angefchen werden fönnen. Ebenfo wie Maurer, Maler und Schloſſer, die 
ihre Arbeit erlernt haben und über eine feſte Gejundheit verfügen müſſen, einen weit 
höheren Lohn erzielen, als die meiften andern männlichen Arbeiterfategorieen, fo muß 
fih aud der Lohn einer Plätterin höher ftellen, als bei andern Arbeiterinnen, da fie 
eine lange Lehrzeit durchzumachen hat, und da an ihre Gefundheit und Kraft fo große 
Anforderungen geftellt werben, daß felbft die befte Konftitution fi ſchnell verbraucht. 
Vielfah if in den Berliner Plättftuben, deren Angeftellte ja leider nod jeden 
geſetzlichen Schuges entbehren, eine wöchentliche Arbeitszeit von 92 Stunden 
die Regel; vom Sonnabend zum Sonntag wird faft allgemein durchgearbeitet. Die 
Arbeit3räume liegen ganz vorwiegend im Keller; feuchtheige Dämpfe erfüllen die Luft 
und fchäbigen bie Geſundheit der Arbeiterinnen. 

Wenn angeficht3 diefer traurigen Verhältnijfe bis vor kurzem noch feine Organi— 
fation der Wäfcherinnen und Plätterinnen beftand, die für Reformen hätte eintreten 
tönnen, fo ift das wohl darauf zurüdzuführen, daß die Arbeiterinnen faft durchweg 
ifoliert in Rleinbetrieben, deren etwa 1500 in Berlin eriftieren, befchäftigt find. Ein 
äußerer Anlaß bat aber über diefe Hindernifje hintweg die Wäſcherinnen und Plätte: 
tinnen zu einer einheitlichen Aktion geführt. Die zunchmende Preisfteigerung, 
namentlich für Kohlen und Kos, veranlaßte die Inhaber der Walch: und Plätt: 
anftalten, die zwei große Organijationen befigen, vor einigen Monaten, einen neuen, 
bedeutend Höheren Tarif zu vereinbaren, der ſeit Pfingiten allgemein im Kunden: 
verkehr gilt und der überall von den Hausfrauen gezahlt worden ift, ohne daß von 
irgend einem Proteſt gegen die bedeutende Preiserhöhung (bei einzelnen Artikeln 
beträgt fie 100 Prozent) etwas verlautet wäre. Die Pätterinnen erwarteten eine 
entiprechende Erhöhung ihres Stüdlohns, ald der neue Tarif eingeführt wurde, um 
fo mehr, als auch in den Verfammlungen der Plättanftaltsbefiter die Erhöhung des 
Preiſes damit motiviert wurde, daß neben den hoben Nohlenpreifen „auch die Plätte 
rinnen höheren Lohn verlangen“. Die Anftaltsbefiger wollten aber allein Nugen aus 
der Preiserhöhung ziehen, gingen plöglihd von dem alten Brauch der Teilung ded 
Preifes ab und billigten den Arbeiterinnen nur ganz geringe Lohnerhöhungen zu. 


Üoserne Lebensprogramme. 


Gertrud Bäumer. 
Nabrud verboten. na had 
I 
dus driffe Reid. 





E hunderts eine feltfame lange gewachien, eine philofophifche Sekte. 

Nicht eine, deren Jünger fih nur im Hörfanl oder auf den Blättern der 
philofophiichen Zeitfchriften von Amts wegen zufammen finden, nein, eine richtige 
philoſophiſche Sekte, wie in den Tagen, da Sofrates auf den Straßen Athens Schüler 
fuchte, die feine Lehre ergriffen und ſich zufammenfcloffen, fie zu leben. Im 
Beethovenfaal der Philharmonie feierte die neue Gemeinfchaft ihr erſtes „Kulturfeſt“. 
Beethoven, Nietzſche, Ibſen, Stirner, Angelus Silefius, Eugen Dühring, Michelangelo, 
Goethe weihte fie zu ihren Propheten. 

Sie wirbt Jünger, Erkenntnis: und Lebensgenofien, durch „Flugichriften zur 
Begründung einer neuen Weltanſchauung“). Darin fol das Evangelium vom „Reich 
der Erfüllung“ verbreitet werden, und das erfte Heft verkündet „Das höchſte Wiſſen“ 
und dad „Leben im Licht“. 

Dieſes erfte Heft fol ein vorläufig Wort fein an die „Wenigen und an Alle“, 
d. 5. an die wenigen Freien, die dad höchſte Willen befigen und an alle die andern, 
die durch das höchfte Wiflen fich erlöfen und zu lichter Harmonie des Wollens, Dichtens 
und Denkens führen laflen wollen. 

Die neue Selte behauptet und veripricht viel: 

„Unfere Gemeinſchaft ift eine Ertenntnis und Lebensgemeinſchaft, geeinigt in der Weltanſchauung 
des realen Monismus, in der Anfchauung von der Bieleinpeit, Wandlung und Wiederverjüngung, von 
den fteten Neuwerdungen und Entwiclungen aller Dinge. Den Kern diefer Anſchauung bildet die 
Erfenntnid der Jdentität von Welt und Ich, die Vorſtellung vom Welt-Ich. AS Welt-Ad ift alles, 
was ba ift, jeber und jedes, ewig, ohne Anfang und Ende, unvergänglich, unzerftörbar. Und in immer 
neuen Wandlungen befteht alles, was da ift, von Emigteit zu Ewigkeit. " 

Die neue Weltanfdauung überwindet ald Identitätslehre alle Gegenfäge und Widerſprüche, welche 
im Gebiet der alten Weltanfgauung Wiſſen, Wollen und Yeben burdjfegen. Und mit dieſen Gegenfägen 
überwindet fie bie eigentliche Triebtraft aller Yeiden und Kämpfe, allen Bangen und Zweifelns, aller 
Verzweiflung und allen Elends. Über alle Gegenſäte hinaus führt fie zu einer lichten Harmonie im 
Denten, (Fühlen und Leben des Einzelnen, für die Gemeinſchaft aber ermöglicht fie die Verwirklichung 
des höchften Rulturidents.” 

Alfo darin liegt die Erlöfung: das Geſchehen erfaffen nicht als Aufwärts oder 
Abwärtd, als Fortſchritt oder Hemmung, ald Sieg oder Niederlage, als fittlich oder 


y deinrich Hart. Julius Hart. Vom höchſten Wiſſen. Vom Leben im Licht. Das Reich 
der Erfülung. Flugſchriften Heft I. Leipzig 1900. 


24 Moderne Lebendprogramme. 


unfittlid oder unter irgend einem Geſichtspunkt, der Entgegengefehtes ausschließt ober 
verurteilt, jondern die Welt erfaſſen lediglich, ausſchließlich als Verwandlungserſcheinung, 
in der jede Moment gleich berechtigt, gleich bedeutend, gleich wertvoll ift, denn in 
jedem Tann das Welt-Ich angefchaut und erfaßt werden. 

Je tiefer man in die Fülle und Feinheit eines Gejchehens in al feinen 
Beziehungen eindringt, um jo deutlicher offenbaren ſich alle Gegenfäte und Wider: 
Iprüche, die e8 zu umlagern fchienen, al& notwendige Ergänzungen. 

Sp gilt e8 nicht mehr, fein Leben einfegen für die eine oder die andere Sache, 
fämpfen für dieſe oder jene Anficht, es giebt fein entweder — oder; e3 gilt nur, Die 
Menfchen und Ereignifje in ihrer Allfeitigfeit verftehen, mit immer feineren Drganen 
ih in die Umwelt verſenken, auf ihre Eindrüde reagieren. 

Mit immer feineren Organen — an diefer Stelle öffnet die neue Weltanſchauung 
der Myftit Thür und Thor, anerkennt fie dag Schauen und Erleben von Dingen, die 
dem normalen Menjchen verfchloffen bleiben. 

Das ift auch die Wurzel der neuen Moral und Ethik: „Lernet einander verfiehen!“ 
Für den Bürger des Reiches der Erfüllung erwachſen aus bdiefer Wurzel drei Haupt: 
gebote — d. h. in der Sprache de neuen Neiches giebt es natürlich eigentlich Feine 
Gebote und Verbote, fie jagt vielmehr fo: „Wer zur Harmonie gelangen will, erleichtert 
fich den Weg, wenn er breierlei beachtet. Wenn er feine Kräfte nicht unnütz bergeubet, 
jondern jedes Arbeit3: und Schaffensziel nach den Geſetz des Eleinften Kraftmaßes 
zu erreichen jucht, wenn er jeden Genuß unter geringfter Beeinträchtigung andrer 
eritrebt, wenn er jedes Leid durch Betrachtung oder durch die Glut inbrünftiger 
Verſenkung aufzulöfen ringt.” 

Mit jubelnder Siegedzuverficht fchauen die Stifter des Neiches der Erfüllung in 
die Zukunft, in den neuen Morgen, dem fie die Menjchheit entgegenführen; mit dem 
gütig-mitleidigen Lächeln unendlicher Überlegenheit zurüd auf die Geiftesfämpfe ver: 
gangener Zeiten und ihre Fläglichen Rejultate. Seltſam, daß man fich einft die Köpfe 
erhigen konnte über „das erichütternde Bedenken, ob man ficherer mit dem Papft zu 
Rom oder mit der Bibel den Weg in die Stadt der goldenen Gaſſen finde”. 

Das Alte ijt alles abgethan, und ein herrliches Neues an feine Stelle geſetzt, 
ein Neue, um das die Sabrtaufende vergeblich gerungen, das, wie einft die Ver: 
kündigung des Chriſtus und des Buddha, die Erfüllung des Alten fein wird. 

„Die alte Welt der Zerjplitterungen, Trennungen und Feindichaften bilden wir in eine ncue Melt 
großer, wunderbarer Harmonieen um, und ben Sch: Menfchen der Vergangenheit erhöhen wir zum 
Menſchen-Ich der Zukunft.” 

„Wir treiben den Wahnfinn aus und geben der Welt die Geſundheit wieder,“ 

„Wer mit und iſt, eins im Willen und eins in der Kraft, wer die neue Weltanfchauung mit jeder 
Safer lebt, der weiß und empfindet nicht® mehr von all! dem Hader und all’ dem Zwieſpalt, von den 
Sorgen und der Unruße, von dem Ängften und Fürchten derer, die draußen ftchen. Deſſen Geiſt hat 
eine Gewalt, die alle Welten durchdringt und erobert, deſſen Seele hat die Stille, die Weihe, den Frieden, 
der über jedes Geſchick erhaben ift. Er ift ein allzeit Siegenber, ein allzeit Fröhlicher, ein allzeit Seliger.“ 

Die neue Weltanjchauung giebt fich in jeder Beziehung als Superlativ alles 
Gedachten und Erfannten. 

Es ift Bier nicht der Ort, eine willenfchaftliche Kritif zu geben. Mag die Schul: 
pbilojophie den Hingeworfenen Handſchuh aufheben, wenn fie Luft dazu bat und bie 
unzünftige Lehre ernft nimmt, mag fie nachweifen, was in der neuen Weltanfchauung 
alt ift und wo Jie ihre geheimen oder offenfundigen Riffe hat. 











Moderne Lebensprogramme. = 


Damit wäre fie allerdings noch nicht entkräftet. Sie giebt ſich nicht nur als 
Welterklarung, fondern als Welterlöfung. Und fo fchlägt fie ihre Schlachten auf dem 
Felde des Lebens. Dort wird der Litterarhiftorifer, der Kulturhiftorifer fie zu fuchen 
haben, dort wird er fie wiederfinden ald die mehr oder weniger zur Theorie gelärte 
Lebenzflimmung derer, die fih am Anfang des neuen Jahrhunderts die „Modernen”, 
im prägnanten Sinne nannten, dort wird fie ihm die Geheimniffe und Ratſel ihrer 
Kunft deuten helfen. 

Welt-Erlöfung — der neue Glaube ift die Religion der modernen Kunft; fie 
wird den Siegesjubel der Befreiten des Lebens im Licht ausklingen, in ihren Geftalten 
werben wir die Erlöften des Reiches der Erfüllung fuchen dürfen? 

Da ift kürzlich ein Buch erfchienen: „Das dritte Reich” von Johannes Schlaf !), 
das fich faft wie eine Probe auf dad Exempel ausnimmt. 

Der Bürger des neuen Reiches ift der achtundzwanzigjährige Kandidat der 
Philoſophie Dr. Emanuel Liefegang, ber in Berlin im Rofenthaler Viertel von 
den Zinfen feines Vermögens lebt. 

Er hat — dad muß vorausgefchidt werden — in feiner Jugend an Krampf: 
anfällen und fallender Sucht gelitten, und der Gebraud von Morphium und Bromtali 
iſt ihm geläufig. 

Bir finden ihn eingangs wie Fauft über dad Johannesevangelium gebeugt; ihn 
beichäftigt die Idee von der Wiederkunft und dem taufendjährigen Reid. In einem 
efflatifch getragenen Gedankengang, deſſen Untergrundseinheit ihm in dem Erdamotiv 
aus dem Nibelungenring geheimnisvoll mittönt, entfaltet fich ihm die Offenbarung, daß 
jene Erfüllung der Zeiten da fei. Das menſchliche Denken ift auf feinem Wege durch 
die Welten, die es fih unterwarf, durh Stirner und Nietzſche zurüdgeführt zum 
Individuum, dem „A und D, dem legten unlösbaren Problem“. Die menschliche 
Individualität, die fich felbit begriffen und damit in eine neue Metaftafe des Seins 
eintritt, eine Neugeburt erlebt: Das ift ber Sinn der Wiederkunft. 

Den erichöpfenden Ausdruck dieſes Gedankens findet er in dem Gedichte Alfred 
Mombertö „des feltfamften und eigenartigften aller Lyriker, die Deutſchland im legten 
"Jahrzehnt Hervorgebracht” — was man nad) folgender Probe jedenfalls gern zu= 
geftehen wird —: 

Gott ift vom Schöpferſtuhl gefallen 
Hinunter in bie Donnerhallen 

Des Lebens und der viebe. 

Er figt beim Facelſchein 

Und trinkt feinen Wein 

gwiſchen borftigen Geiellen, 

Die von Weib und Meerflut überfhwellen. 
Und der Mond rollt über die Woltenberge 
Durch bie geſtirnte Meernacht, 

Und die großen Werte 

Sind vollendet und vollbradt." 


Der Dr. phil. Emanuel Liefegang widmet fih von nun an ausichlieklid der 
Steigerung feiner Nervenfenfibilität, die ihm neue Dffenbarungen vermittelt; und 
überall drängt fih ihm die Veftätigung jener Erfahrung auf, daß die legte Ent: 





") Berlin 1900. F. Fontane u. Co. 


Moderne Lehensprogramme. 8 


ein mehr aſthetiſches und nach jeder Richtung vorurteilsloſes, obiektived Empfinden, wie es der Menſch 
etwa der Tier: und Pflanzentvelt gegenüber hat, — diefen Menfchen gegenüber, die der Jargen moderner 
Humanität die ‚Elenden‘, ‚Armften‘, ‚Enterbten‘, und tie immer zu nennen beliebt, ein Jargon, ben 
aud er einft gefannt und ben feine geöffneten Augen nun als cigenfte perfönliche Unfreiheit erfannten. 
Denn das Schicſal der Moſſe ift ftetd eherne und ewige Notwendigkeit.” 

Diefes große, - weite, befreite, Finderäugige Gefühl einer neuen Naivetät, 
eined Ur: und Paradieszuftandes ermöglicht dem Dr. Liefegang dann aud den 
ftrupellofeften, intenfivften Genuß des Verkehrs mit der „Modellmarie”. Auch ber 
Anblid der fterbenden Proftituierten in dem entfeglichen Elend ihrer verrauchten, öden 
Dachkammer vermag feinen Gleihmut nicht zu erfehüttern. 

„Es ging von ihr aus wie ber Troft einer Gelaſſenheit, die keinen Trübfinn auflommen ließ. 

Tas echte Berliner Kind! — Dunter, witzig, intelligent, prattiih, tapfer und gelafien, ohne 
Illuſionen und — Romantif. — 

Und tie — rein, wie wunderbar ſchuldlos fie eigentlich war, mußte er denten. Sie, die feine 
ſchwerblütigen Gebanten, teine Grübeleien und feine Reue kannte. Tie ihr Leben refolut und bewußt 
nach eigner Fagon Iebte. Und fo würde fie auch fterben, tapfer, ohne Furcht und Reue, mit dem 
DVewußtfein, daß dann alles aus und vorüber fei. 

Rein, ſchuldlos, harmoniſch! Wie ein Tier ftirht! —“ 

In den „ſeeliſchen Aequinoktien,” deren Wonnen und Schauer ſich der 
Dr. phil. Liefegang durch abfolute Enthaltung von jeglicher pofitiven Arbeit, einen 
gelegentlichen Meinen Abſhnthrauſch und im Vertrauen auf die Elaflizität feiner Nerven 
je länger, je häufiger und ergiebiger zu verfchaffen weiß, gewinnt der Idealmenſch, das 
neue Ich feines realen Monismus immer beftimmtere Züge: 

„unfruchtbar, patbologifch, anſcheinend zwecklos, paſſiv und refleftiv, aber mit unendlich volltommenen 
feelifgen Fühlern alle Rätſel des Dafeind ertaftend, alle feine weſentlichſten Schicſale erlebend oder mit 
ungeheurer Senfibilität miterlebend, ein überreifed Wefen, für dad es feine Rätfel mehr giebt, ein groker 
ftiller Schauender und Wiflender . . . Er, dieſer Überfeine, diefer Zarte, Reifſte und Vollendetſte, ganz 
ganz Seele, nadtefte Seele... Der neue, ftille Lacher, ber Heimliche, Bielfeitige, Viegſam Fromme!” — 

Den Aquinoftien folgen zuweilen unerträgliche Zuftände, da fühlt fi der Doktor 
„ſchlaff, müde, fad, unfagbar zerfajert”. 

Aber das ift eben die meue, werdende Eeele, das find die neuen Nerven. 
Das find „Stimmen kranker Sehnſucht eines Senfitiven, die morgen die Sprache einer 
neuen Gefundheit fein werden“. Dr. Emanuel Liefegang meint, daß gerade die Menfchen 
mit einem „Rnid“, wie er ihn hat, das „Milieu für den dereinftigen Übermenfchen 
abgeben werben“. 

Ein einziges Mal wil das Leben den Dr. Emanuel Lieſegang aus der bloßen 
Receptivität heraus zum Handeln zwingen. Es padt ihn in der Leidenfchaft für die 
Geliebte feines Freundes. Sein Nebenbuhler ift der ftarfnerwige Weltſtadtmann par 
excellence, pratifh wie ein Yankee und ohne alle kränklichen „ſpiritualiſtiſchen Sehn—⸗ 
füchte und Atavismen“. Bon einer einfchüchternden Sicherheit im Auftreten und „in 
feinen zahlreichen Beziehungen zu den Weibern ein Schwerendter, der fih auskannte“. 
Es illuſtriert die Art diefer Beziehungen gewiß, daß er ein worlibergehendes Mädchen 
„ein Prachtbieft” nennt. Wenn man dagegen den Tagebüchern Liefegangs Glauben 
ſchenken darf, fo ift fein Freund durch und durch „Gentleman“. 

Liefegang fucht feine Abficht, fi in Olgas Beſitz zu fegen, in feine moniftifche 
Weltanſchauung einzugliedern durch eine Theorie, für die er Darwin, Niegiche und 
Stier zu Hilfe nimmt. Danach muß zur Heraufführung einer neuen Kultur einer 


Die Stellung der Fran im Schulgeſangunterricht. 


von 


JIulie Müller-Tiebenwalde. 


Nadbrud verboten. 


uf_ dem großen Felde der Kunſt, das ſchon in vieler Beziehung ſich der weiblichen 
IM Eigenart ertragfäbig gezeigt bat, liegt ein Stüd Brachland, das ſich gerade 
N unter der Fürforge und Pflege der Frau in einen lieblihen Garten wandeln 
ließe, der Blumen und Früchte edler Art bringen würde zu Nug und Frommen aller; — 
dies Brachland ift die weibliche Singftimme in den Kinder: und Schuljabren. 

Es ift jüngft eine höchſt vwerdienftvole Abhandlung von Profeffor Paulfen in 
Kiel erfchienen, in welcher die Gefahren des jegigen Schul: und Chorgefangunterrichts 
beleuchtet werben. In einem kurzen Überblid twird darauf hingewieſen, wie gering 
das Material ift, dad an Studien und Unterfuchungen über die Stimmen der Kinder 
feither zufammengetragen wurde. Um fo danfenswerter find die Erhebungen über 
die Stimmbegrenzung im jugendlichen Alter, die, an 2601 Kieler jungen Männern, 
jungen Mädchen und Kindern vorgenommen, dem Fachlehrer eine reiche ftatiftifche 
Belehrung bieten. Die auffalende Unkenntnis über das MWefen der Singftimme in der 
Jugend it um fo befremdlicher, als längft fon bedeutende Gefangpädanogen bei den 
Klagen über den Verfall der Gejangkunit auf die mangelhafte Pflege der Stimme in 
den Kinderjahren als auf die Wurzel de3 allgemein fühlbaren Übel3 hingewieſen haben. 

In der erwähnten Brofchüre von Profeffor Paulfen: „Die Singftimme im 
jugendlichen Alter und der Schulgefang” wird unter anderem bervorgehoben, daß 
bei dem feitherigen Unterricht zwifchen Knaben: und Mädcenftimmen 
nit genugfam unterfchieden wird, und hier möchte id) anknüpfen, um die 
Berechtigung der Forderung nachzuweiſen, daß der Gefangunterricht in den Mädchen: 
ſchulen der Gefanglehrerin zufomme, und nicht, wie jegt meiſt üblich, von 
Gefang: refp. Muſiklehrern erteilt werden fol. Betrachten wir zunächft einmal die 
Ducchfänittörefultate bei dem jetzt herrichenden Syftem, nach dem Wort „An ihren 
Früchten folt ihr fie erfennen“. 

Wenn nach Entlaffung aus der Eule das junge Mädchen den Gefangunterricht 
privatim oder an einem Gefanginftitut auffucht, fo follte man annehmen, daß nach 
einem mindeftens fechjährigen Eingunterricht während der Schulzeit eine Vaſis der 
Tonbildung vorhanden fein müßte, auf der man tweiterbauen könnte, um — ten 
aud in individuellen Grenzen — fünftleriiche Leiftungen zu erzielen. Weit gefehlt! 
Die Stimmgrenzen find verfchoben, der Tonanfag ift unfrei, die Ausfprache, die vorn 
im Munde liegen fol, zeigt fih jo wenig entwidelt, daß — um nur dies Eine zu 
erwähnen — kaum ein Zungen: R richtig gebildet wird. 

Für diefes Defizit des Organs fann die bisweilen recht weit gefürberte Kenntnis 
der mufifalifchen Elementarlehre in feiner Weife entfchädigen. Cie bezwedt im 
Treffen von Intervallen, im „Vomblattſingen“, im fogenannten „Mufikdittat” eine 
Bildung des Gehör, die ich die „mathematifche” nennen möchte, die aber nichts zu 
thun hat mit der Pflege jenes Sinne für Wohllaut und Klangſchönheit, der ein 
wefentlicher Faktor für eine geſunde Tunbildung ift. Sie ift es, welde das Organ 
fähig macht, mit der körperlichen Entwidlung fortzuſchreiten durch eine aufmerkjame 
Pflege im jugendlichen Alter und in den Schuljahren. 

Im Gegenfag zu dieſer ‚Forderung eines normal und gutentwidelten Stimm: 
materials beim Verlajjen der Echule, bilden diejenigen jungen Mädchen einen großen 
Prozentjag, die das untere Etimmregifter, da8 man mit dem Namen „Bruſtſtimme“ 
bezeichnet, weit über die phyſiologiſch feftgeftellten Grenzen hinaufgetrieben haben. Dadurch 


80 | Die Stellung der Frau im Schulgejangunterridit. 


wird die Mittelftimme, das eigentliche Element des weiblichen Stinnmorgang, ſchwer 
geichädigt, und zahlreiche ftimmliche Fehler und ſchwer auszurottende Beeinträchtigungen 
in der Tongebung find die unaußbleibliche Folge diefer Verſchiebung der Negifter. 

Woher entftehen diefe Mißftände? 

Die Erfahrung lehrt, daß die meilten Kinder fich beim Singen mit Borliebe in 
den Tönen bewegen, welche ihnen beim Rufen und Schreien geläufig geworden 
find. Das Kind will fih hören, und wenn es in einer Schar von anderen Kindern 
fingt, dann will e8 fich erit recht hören, und firengt fein Stinmnihen an, um unbewußt 
jene Schwingungen der Stimmbänder hervorzurufen, die eine fräftigere Refonanz geben, 
und da? gefchiebt durch die Bruftftimme.. Der kindliche Stimmapparat ermöglicht dies 
Bemühen zunächſt ohne hörbare Schädigung des Organs. Die Verbindung der unteren 
und oberen Stimmgrenze gelingt auch in höher binaufgefchobenen Tönen vorläufig, 
ohne unangenehm durch einen Bruch aufzufallen. Bon Unkundigen wird das Starl- 
fingen der Kinder thörichterweife ſogar belobt und protegiert, aber dieſe metalliich 
klingenden Töne, die für die natürliche Lage der Mittelftimme fubftituiert werden, dienen 
Ipäter, wie ſchon erwähnt, zum Nachteil jener Tonreihe, die nicht nur das Fundament 
der Frauenſtimme ausmacht, jondern ihr auch, neben der reizuollen Kopfſtimme, das 
Ipezifiich Weibliche im Klangcharakter verleiht. 

Wie ift nun dem Kinde bemerkbar zu machen, mo es die Stimmlage wechjeln fol? 
Einfach durch das Vormachen ſeitens der geſchulten Frauenftimme. Vermöge 
des ihm innewohnenden Nachahmungstriebes faßt ſelbſt ein Kind von 5—6 Jahren 
den Unterſchied in der Tongebung überraſchend ſchnell auf, wie ich es oft zu konſtatieren 
in der Lage war, von größeren Kindern ganz zu geſchweigen. Für das männliche 
Organ ift es eine phyfiologifche Unmöglichkeit, Mittelftimme in der Weiſe zu verdeut- 
lichen, wie es die Frauenſtimme kann, denn auch das ausgebildete männliche Falfet 
entſpricht keineswegs den weiblichen Gefangtönen in der gleichen Stimmlage. Und 
wie ganz anderd entwidelt fich bei der Frau das feine Herausbören der Regilter: 
unterjchiede, da fie an fich felber die Studien täglich zu machen in der Lage ilt, 
einerlei ob ihre Stimmgattung Alt, Mezzo-Sopran oder hoher Sopran fei. 

Wird aber der Mittelftimme von früh auf eine jorgfältige Beachtung zuteil, 
dann gelingt auch mühelos die Verbindung mit den energifchen Brufttünen; eine 
Bereinigung des Starten mit dem Milden, die auch bier einen guten Klang giebt. 

Und wie ift e8 nun mit der Spite jener oberen Tonreibe, die man als Mittel: 
ftimme nicht mehr anjprechen kann, miti der jogenannten „Kopfſtimme“, die der weib- 
lichen Stimme, namentlid in der Höhe, ihr bejonderes Kolorit verleibt, — follte hier 
vielleicht die Geige des Lehrerd in ihren zarten Tönen ein entiprechendes Vorbild fein 
fünnen? O nein, denn der infirumentale Ton kann die Modifikation der Vokale nicht 
wiedergeben, deren das findliche Organ bei den höheren Tönen jeder Stimmlage 
ebenjo bedarf wie ter Kunftgefang der Erwachſenen, um die Tongebung zu veredeln 
und um dad Organ zu ſchonen. Auch Hier ift dad Vormachen durch die fünitlerifch 
geſchulte Frauenſtimme nicht annähernd durch ein anderes vokales oder inftrumentales 
Borbild zu erjegen. 

Ich bin weit entfernt zu verkennen, was einfichtövolle Gefanglehrer bisher auch 
für Mädchenfchulen geleiftet haben. Manche unter ihnen, 3. B. Profeſſor Kraufe in 
feinen von Wärme für den Gegenitand erfüllten Ausführungen zur „Deutfchen Sing: 
Ichule” weifen auf die Gefahr des Zubochhinaufichraubend der Stimmgrenzen nad) 
drüdlich hin, und wollen den Unterjchied der Bruſtſtimme gegenüber der Mittelftimme 
den Schülerinnen verdeutlicht willen; allein, es ift mindeltens fraglich, vb dieſe 
theoretische Unterteilung imftande ift, die Schülerinnen jo zu belehren, daß fie bie 
falfchen, gejundheitwidrigen Töne meiden, und im Klaffenunterricht in diefer Hinficht 
erfolgreich zu wirken, wenn das lebendige Borbild und Mufter feblt. 

Und noch eines Punktes möchte ih Erwähnung thun, der es wünſchenswert 
macht, den Gejangunterricht in den Mädchenjchulen in die Hand der Frau zu legen. 

Es ijt befannt, daß zur Zeit der weiblichen Periode eine gewilfe Schonung der 
Singftinnme geboten ift. Die Erörterung über die phufiologifchen Gründe gehört nicht 











u wm wi aus 8 


hierher. An ſolchen Tagen einfach den Geſangſtunden fern zu bleiben, kann ber 
einzelnen Schülerin nicht verftattet werden, denn es würden hierdurch zu große Lüden 
im Unterricht entftehen; da junge Mädchen muß wenigſtens pafliv anı Unterricht 
teilnehmen. Für ein feinempfindendes Madchengemüt iſt aber die Entfchuldigung: 
„I kann beute nicht fingen“ dem Lehrer gegenüber höchft unangenehm, auch die 
Ausrede: „Ich bin heifer” wird häufig von einem Erröten begleitet, das mancher 
Schülerin fo peinlich if, daß fie ein andermal lieber die Gejangftunde verjäunmt. 
Einer Frau gegenüber jedoch, bie für diefe Fritifchen Tage das richtige Verftändnis 
hat, bedarf ed kaum einer Anbeutung. 

Das junge Mädchen wird der Lehrerin jür die Erfparung einer offiziellen Ent: 
ſchuldigung und für jede zarte Rüdficht nur Dank wiffen, der fid) meiſt darin offenbart, 
daß die Gefangftunden pünktlich bejuht werden, wodurd das ſolidariſche Gefühl der 
Geſangklaſſe, das unter vielen Verfäumniffen leidet, nur gehoben werden kann. 

Die Tätigkeit der Frau als Bildnerin der Geſangſtimme ift zunädft in 
Betracht gezogen worden, um bie in ihrer Eigenart wurzelnden Vorzüge zu zeigen, es 
erübrigt aber noch einer Kraft dabei zu gedenken, die zwar ironijierend dem weiblichen 
Geſchlecht als „Zungenfertigfeit“ zugeichrieben wird, die jedoch von jedem, der fid, mit 
dem Gefang beicäftigt, als „Sprechſtimme“ befonders ausgebildet und gepflegt 
werden follte. 

Die Geſchichte von Demoſthenes, der, um ein guter Redner zu werden, fich zur 
Überwindung fprachlicher Schwierigfeiten Kiefelfleine auf die Zunge legte, und außer: 
dem an den Geftaden des Meeres Atemgymmaftit trieb, dieſe Überlieferung ift allen 
geläufig, aber die Nutzanwendung von einer Erziehung der Sprade wird in den 
Schulen nur in verfhwindenden Fällen zum Ausdrud gebracht. 

Und doch haben die ſprachphyſiologiſchen Forſchungen und die aus ihnen in 
Wechſelwirkung rejultierenden praktiihen Studienwerfe, wie wir ſolche Brüde, Heimholtz, 
Fr. Schmitt, Stodhaufen, Guftav Engel, Hev, Hermann, U. Kuyperd und anderen 
verdanken, und den Mechanismus des Sprechens derartig erflärt und dadurch die 
Unterweifung in diefem Lehrgegenftand fo erleichtert, daß unfere Mutterfprache in der 
That eine allgemeinere, forgfältigere Pflege und jomit beflere Würdigung ihrer Schönheit 
finden follte als bisher. Das wird erreicht werden, jobald die ſprachliche Erziehung 
nicht nur bei den Erwachſenen anhebt, die beruflich auf eine Stimmbildung angeiviefen 
find, fondern wenn die Ausbildung der Sprache methodiſch ſchon in der 
Säule durch fjyftematifhe Übungen gelehrt wird. Diefe Forderung hat 
Friedrich Schmitt bereit3 um die Mitte unſeres Zahrhundert3 aufgeftelt. 

Mir find auf dem Gebiet des Schulweſens bislang nur die Karlsruher 
Beftrebungen des Profeffors Eduard Engel bekannt, die im Klaſſenunterricht der Volts- 
ſchule — meift im Anſchluß an den Gefangunterriht — eine methodifhe Schulung 
der Sprache zur Anwendung gebracht haben. Der Großherzoglich Badiſche Oberſchul⸗ 
rat bat, wie ich dem antegenden Vortrag von Tr. med. D. Schwidop entnehme, auf 
Grund der ausgezeichneten Nefultate, die diefe ſprachliche Stimmbildung gehabt hat, 
fih veranlaßt gejehen, eine größere Anzahl von Lehrern Kurſe in diefer Methode 
nehmen zu laffen. 

Daß der Gefangunterricht in erfter Linie die Früchte diefer Schulung der Sprech 
ftimme einheimft, liegt auf der Hand. Machen doch, wie Hey richtig bemerkt, „die 
beftausgebilbeten Sprachwerkzeuge die menigiten Tonbildungsfehler”, aber auch der 
fremdfprachliche Unterricht empfängt durch eine derartige Gymnaftif der Stimme und 
durch die damit verbundene Verfchärfung des Gehörs weentliche Förderung, wie er: 
fahrene Neuphilologen beftätigen können. Den geübten Sprechwerkzeugen gelingen auch 
die von den unfern abweichenden Laute viel beffer und leichter (cf. Mund: „Die 
Ausbildung und Erhaltung der menſchlichen Stimme“). 

In hygieniſcher Beziehung laſſen ſich die Vorteile einer rationellen, ſprachlichen 
und gejanglichen Stimmbildung für die Voltögefundheit gar nicht ermefien. Wer darüber 
nachzuleſen wünfdt, ben verweiſe ich auf das vortrefflihe Schriften von 
Dr. med. €. Barth: „Der gefundheitliche Wert des Singens“, umd auf einen 


 Hinna Sant. —— 


Zelbfibiographie. 
Überfegt von 
€. Stine 
Naqhdrud verboten. zz 


Die nachſtehenden Mitteilungen gab Minna Canth feiner Zeit dem norwegiſchen Autor Harald 
Hanfen zur Beröffentlihung in ber Zeitſchrift für Pitteratur und foziale Fragen „Samtiden". Bir 
alauben ein befonbere® Intereffe bafür bei ben Leſern des pincologiich fo überaus feinen unb inter: 
effanten Romans „Blinde Klippen”, befien Veröffentlichung wir in dieſer Nummer beginnen, voraus: 
fegen zu dürfen. D. Red. 


ich wurde 1844 in ber Stadt Tommerford geboren, wo mein Vater Guftav 

"= Wilhelm Johnſon dazumal eine Stelle ald Auffeher in der größten Baumwoll⸗ 
ſpinnerei unſeres Landes inne hatte. Ich war von früheſter Kindheit an meines 
Vaters Augapfel, und ich entſinne mich noch, wie er vor den biederen Arbeitern, die 
zu unſerem Umgangskreiſe gehörten, gern ein wenig mit meinen Talenten prahlte. Ich 
alt bei ihnen als Wunderkind, denn ich las mit fünf Jahren „wie ein Pfarrer”, 
Fang mit lauter Stimme Pfalmen und begleitete mich dabei auf dem Harmonium. 
Obwohl mein Vater zu jener Zeit in recht befchränften Verhältniffen lebte, that er 
fein Möglichftes, um mir die befte Schulbildung zu geben, die ein Mädchen in unferem 
Lande erlangen konnte. Da es in Tommerfors feine Madchenſchule von der guten, 
alten Art gab, folte ich nach Abo geſchigt werden; fpäter follte ih mich zur Qebrerin 
ausbilden. Es war dies die befte Zukunft, die mein Vater dem in feinen Augen fo 
außerordentlich begabten Rinde zu bieten wußte. Meine Mutter war minder zufrieden 
mit ihrer Tochter, die unaufpörlich über den Büchern Hodte und fi die Augen frank 
las, mit Näbzeug und Stridnadeln aber im Höchften Grade ungeſchickt hantierte und 
nicht die geringfte Beanlagung für häusliche Beichäftigungen beſaß. 

Als ich acht Jahre alt war, fiedelten meine Eltern nach Kuopio über, wo mein 
Vater ein Gefhäft mit den Waren der oben erwähnten Fabrik eröffnete. Hier gab 
es eine dreiflaffige, ſchwediſche Mädchenfchule, und ich brauchte demnad nicht nad) 
Abo zu geben, um den zu jener Zeit für junge Mädchen als pafjend und hinlänglich 
erachteten Unterricht zu genießen. 

Als Kind hatte ich ein eigentümliches Phantafie: und Gefühlsleben. Tief religiös, 
wie ich war, hatte ich oft Vifionen und Träume, in denen ich Vorwürfe erhielt, wenn 
ich etwas Unrechtes getban — Troft, wenn ich betrübt war — Rat und Anleitung, 
wenn ich mich in einer wichtigen Sache unfchlüffig fühlte. Ich wähnte mich in 
unmittelbarer Verbindung mit der Gottheit, und da der Religionslehrer gejagt hatte, 
daß der liebe Gott häufig die Kinder, die er am liebften habe, durch einen frühen 
Tod abrufe, fo hoffte ich, daß auch mir diefe Gnade zu teil werben würde. Ya, fo 
groß war meine Sehnſucht nach dem Tode, daß ich fogar mit dem Gedanken an 
Selbftmorb umging, während allerdings andrerſeits die Furcht vor der Sünde und 
ber Beftrafung mid) davon zurüdhielt. Die Jahre vergingen, und ich blieb am Leben. 
Anfänglich zweifelte ich am Gottes Liebe, da er e3 fiber ſich gewann, mich den mannig« 
fachen Verfuchungen de3 Lebens auszuſetzen. Allein der Gedanke, daß möglicherweile 

3 


Rinne Canth. 35 


ihm „das Brot verbrennen wolle.” NIS das Jahr zu Ende ging, war mein Mann 
nicht mehr Redakteur der Zeitung, und ich mußte hübſch zur Nähmaſchine zurüdfehren. 

Einige Jahre fpäter tagte es wieder. Eine neue Zeitung, größer als die frühere, 
murde gegründet, und mein Mann wurde einer ber Redakteure. Mit verboppeltem 
Eifer griff ich abermals zur Feder und fchrieb unter anderem Artikel über die Frauen: 
frage, die aber feinen Widerhall fanden; die Anregung war noch zu früh gefommen. 

Um diefe Zeit befuchte das „Finniſche Theater“ unfere Heine Stadt und brachte 
einige bekannte Stüde zur Aufführung. Der Eindrud, den ich empfing, war tief und 





*% 





& 





Klinna Ganth. 
Nach einer Zeichnung von Eero Järneielt. 


wedte ein unwiderſtehliches Verlangen in mir, meine Kräfte auf dem dramatifchen 
Gebiete zu erproben. Naiv, wie id) war, griff ich ohne Bedenken das Werk an und 
fcrieb „Murtovarkans“ (Der Einbruchsdiebſtahl), ein Volksſtüch, in dem ein 
junges Mädchen durch die Intriguen eines elenden Zauberer fälfchlicherweife des 
Diebftahl3 befchuldigt wird. Die Wahrheit wird jedoch von einem Landftreicher 
entbedt, einem luftigen Gefellen, leichtfinnig und gutmütig, übrigens die befte Figur 
des Stüdes, keiehaitig der Wirklichkeit entnommen, denn gerade fo fand id) ihn eines 
Tages auf dem Marktplage zu Ihväskylä. 
3* 


36 Minna Santh. 


ALS ich ungefähr bis zur Mitte des Stüdes gelangt war, ftarb mein Mann an 
einer Gebirnentzündung. Sch war nach dreizehnjähriger Ehe verwitiwet, mit fieben 
Kindern, von denen das jüngite fait ſieben Monate nach meines Mannes Tode zur 
Melt fam. Mein Vater war einige Jahre vorher geftorben — meine Mutter lebte 
noch, doch in ganz dürftigen Verhältniffen. Sch Hatte niemand, auf den ich mich verlaffen 
fonnte und war überdies franl. Die Zukunft lag finfter vor mir; ich wußte nicht, 
wie meine große Familie ernähren. Mein Bater Hatte Konkurs gemacht. Dennoch 
befchloß ich, nach Kuopio zu ziehen und ein Ladengefchäft, wie er es betrieben, zu 
eröffnen. Ach beendete „Murtovarkans“, fandte e8 dem „Finnifchen Theater“ und 
glaubte nunmehr für immer von jedweder litterarifchen Beichäftigung abſtehen zu müſſen. 

Nach der Geburt des Kindes ſchwanden meine lebten Kräfte. Der Lebenskampf 
wurde mir zu jchwer, und ri war nahe daran, zu unterliegen. Der Wahnfinn näherte 
ſich drohend. Eine entſetzliche Seelenangft erfaßte mich, jo daß ich mehrere Nächte 
das Dienftmädchen und die älteiten Kinder bitten mußte, mich zu bewachen, denn eine 
unfaßbare Macht wollte mich gewaltſam zwingen, das jüngjte Kind zu töten. Indeſſen 
fämpfte die alte Natur in mir mit allen Kräften und fiegte allmählich. Doch Hinterließ 
die Krankheit eine jahrelange ſchmerzhafte Nervenſchwäche. 

Währenddeſſen hatte die finnische Litteraturgefellichaft mir für „Murtovarkans“ 
einen Preis zuerkannt. Das Stüd wurde 1882 zum erftenmal in SHelfingfors auf: 
geführt uud ging unter vielem Beifall fieben Abende bintereinander in Scene. Es 
wurde Später in jeder Saifon aufgeführt, und man ermunterte mich zu einer Fort: 
jegung meiner Thätigfeit. Sch hatte unterdejlen meinen Laden in Ordnung gebracht 
und fand, daß er mir noch Zeit zu anderer Arbeit übrig ließ. Ach fchrieb zunächſt 
„Roinilantalossa“ (Im Roinala-Hof), ein idylliſches Sommerftüd mit Wiefen 
und brüllenden Kühen, Liebe, Verwidlungen und einer Hochzeit zum Schluffe. Das 
Stüd wurde 1883 gegeben und von Publifum und Kritik jehr freundlich aufgenommen. 
In diefen beiden Stüden fand fich durchaus feine Tendenz, und jelbit das jchärfite 
Urteil Hatte in diefer Hinficht nicht? auszufegen. Und dennoch gab es einige ehren— 
werte Frauen, die fich über den unerhörten Leichtfinn entjegten, daß eine Mutter, eine 
Witwe mit fieben Kindern, unter jo ernften Lebensverhältniffen ſich Binfegen konnte, 
um Theaterftüde zu fchreiben. Überdies hatten einige der wachjamften Geiftlichen 
bereit im „Murtovarkans“ bedenkliche Anzeichen von unfittlichen und chriftentums: 
feindlichen Tendenzen gewittert, worüber fie fih denn auch in einigen Provinz» 
blättern ergoffen. 

Zu jener Zeit las ich Georg Brandes’ „Hauptitrömungen”, ſowie Arbeiten von 
Taine, Herbert Spencer, Stuart Mil und Budle. Und endlich fühlte ich mich befreit 
von den Dogmen und Vorurteilen, die jo lange meine Seele gefangen gehalten und 
mein Gewiſſen mit allem möglichen Satandzeug belaftet hatten. Aufs neue erfaßte 
mich der Neformeifer, und ich» fchrieb „Työmichen vaimo“ (Das Weib des 
Arbeiter), worin ich die Ungerechtigfeit der Gelee gegen die ‘Frauen, Die 
unvernünftigen religiöfen Begriffe, die Trunfjucht und Leichtfertigfeit der Männer, die 
Dunmbeit, Außerlichkeit und Engherzigkeit der Frauen, kurz, alles Schlechte und 
Verfehrte, das ich in der Welt wußte, — und zu jener Zeit vermochte ich beinahe 
nicht3 Gutes darin zu entdeden — zum Gegenftand meiner Angriffe machte. Es ilt 
bittere Satire in dem Stüd, aber e8 hat weder eine tiefere Piychologie, noch ift es 
fünftlerifch reif. Nichtsdeſtoweniger rief es bei feiner Aufführung 1885 einen mächtigen 
Eindrud hervor und wurde von einigen Kritifern in die Wolfen gehoben, während 
andere die Schalen ihres Zorned darüber ausgoſſen. Man jchonte mich nicht; es 
hagelte Beichuldigungen und Schimpfworte. Ich wurde als Atbeiftin hingeſtellt, 
die Eltern verboten ihren Kindern, mein Haus zu bejuchen, ich verlor eine ganze 
Menge meiner Freunde, und es erforderte überhaupt einen gewillen moralifchen Mut, 
fich zu der Belanntichaft mit mir zu befennen. Natürlich gefchah dies alles nicht nur 
auf Grund des letzten Stüdes. Ich Hatte Artikel in demjelben Geift gefchrieben, 
naturaliftische Novellen, und überdies die Jugend verführt, indem ich ihr aus Brandes’ 
Hauptftrömungen vorlad. Es gab überhaupt dazumal keine ärgere Perfon im Lande 














Rinna Canth. ar 


als die Unterzeichnete. Fromme Menichen erdichteten und verbreiteten die unfinnigften 
Geſchichten in dem Glauben, hiermit ein Gott mohlgefäliges Werk zu verrichten; man 
bedauerte meine armen Kinder, die fol ein Ungeheuer zur Mutter hatten u. ſ. w. 
Und felbftverftändlich übte all dies feine Rüdwirtung auf mid. 

Der Seelenzuftand, aus dem „Das Weib des Arbeiters“ hervorgegangen, war 
ein Gefühl von Lebenzluft, Kraft und Mut, Hinter dem fich vielleicht dennoch eine 
kranthafte Überreizung des Nervenfyfiems verbarg. Da trat ein Umfchlag ein. Die 
Überanftrengung des Gehirns, die vielen, heftigen Angriffe auf mich und der Verluft 
meiner Freunde riefen tiefe Niedergefchlagenheit bei mir hervor. Aufs neue befiel 
mich ein drüdendes Gemütdleiden, ein Gefühl von Lahmheit im Gehirn, das mic das 
Argſte fürchten ließ. Ich empfand eine unbefchreibliche Bitterfeit gegen mein Water: 
land und dachte ſtark an Auswanderung. 

Aber der Gedanke an eine Million lebte unabläffig in mir fort. Ich wollte bis 
aufs legte für die Unterbrüdten und Burüdgefegten fämpfen. Und fo fchrieb ich 
„Kovan onnen lapsia“ (Die Kinder des Unglüds), eine Schilderung des 
Proletarierelends, die mit Verzweiflung, Verbrechen und Gefängnis fchließt. Dies 
Stüd wurde bloß ein einzigesmal 1888 aufgeführt. Im gleichen Jahre erſchien es 
auch im Drud. Die weiteren Aufführungen wurden verboten, ed wurde al 
tevolutionär und aufreizend betrachtet. Hierzu kam etwas für mid, Unerwartetes; es 
wurde auch von der Kritit vernichtet, nicht nur von der fonfervativen, fondern auch 
mit wenigen Ausnahmen von der freifinnigen. 

Ich Hatte alfo auf betrübende Art meinen Abſchied vom Theater erhalten; meine 
ſchriftſielleriſche Thatigkeit ſchien in feiner Weile mehr einer Aufmunterung wert. 
Neuerdings fand ich Renan's Wort bekräftigt: „Sehr ftark und ſehr Hug muß der 
fein, den Pflicht, Ehrgeiz oder ein unfanftes Geſchick beruft, fid in die Angelegenheiten 
der armen Menfchheit zu mifchen.“ 

Ich hielt es nun für gut, eine Zeit lang auf meinen Lorbeeren auszuruhen — 
zum großen Vorteil meines Heims und meiner Nerven. Im folgenden Jahre verlor 
ih durch ben Tod zwei meiner beften Freunde und eine heißgeliebte, erwachſene 
Tochter. Da fühlte ich mich wie zu den Pforten der Ewigkeit geführt, und mein 
Bid auf das Leben wurde freier und klarer. Hiebe und Stiche trafen mich nicht 
mehr, und ich fühlte mich auch nicht mehr berufen, ſolche auszuteilen. Ich fchied aus 
dem Kampfe und wurde zum Zufchauer. Dazu kamen die drüdenden politiichen Ver: 
bältniffe, die eine finftere Zukunft für unfer Volt befürchten ließen. Der legte Reſt 
von Bitterkeit verſchwand, die Arbeitsluft erwachte wieder, und ich fühlte nicht die 
geringfte Luft mehr, mein Vaterland zu verlaffen. Ich fchrieb zunächſt „Papin 
perhe“ (Die Paftorsfamilie), eine objektiv gehaltene Schilderung der Spaltung 
zwifchen ber alten und jungen Generation. Dies Stüd ift diefes Jahr (1891) ein 
halb dugendmal im „Finnifhen Theater” aufgeführt worden, außerdem in den 
Provinzen. Es wurde von der Kritif mit Wohlwollen aufgenommen. 

Ih kann nicht mit Veftimmtheit jagen, wie oft meine erften Stüde aufgeführt 
wurden, aber in jedem Jahr ging diejes oder jenes in der Hauptftadt oder in den Provinzen 
in Scene, und auch auf Gejelichaftstheatern wurden fie oft gegeben. „Das Weib des 
Arbeiters” kam 1886 ein Halb dugendmal im „Nya teater“ in Stodholm zur 
Aufführung. 

Eigentlich bin ich mit feiner meiner bisherigen Arbeiten zufrieden; doch Hoffe ich, 
noch etwas Beſſeres fchaffen zu können, da ic ja noch dreizehn Jahre vor mir habe 
bis zu meinem fechzigften Lebensjahr, ') das will fagen, bis zu dem Alter, in dem 
alle Schriftfteller „erſchlagen“ werden follten, wie es heißt. 


') Dies Alter zu erreichen war ihr nicht einmal vergönnt. 


Unter fremden Leuten. 


Nein, glei aufnehmen, fo is in Ordnung.“ 
— Dann tritt Leder, Pinfel und Möbelbürfte 
in Aktion. Ein Blid ringsum: „’t is jo wol 
allens in Eid." — 

„Herrjeh! Halb acht!“ 

Der Haarbeſen geht eilig über das Linoleum 
des Wartezimmers, das wollene Tuch noch 
eiliger hinterher. Die Wiener Stühle wirbeln 
und purzeln unter dem Staubtuch. — Eo. — 

Abt Uhr! — 

Rrrrrrr. — 

„Alles in Ordnung?” — Ein grämliches, 
altes Geſicht hält Umfhau; knöcherne Finger 
fahren prüfend über Tiſchflächen und Senfter: 
fimfe. 

„Wo iſt die Waſſerflaſche? — — Na, ih 


will man felbft — — Eie find aud im Lehen 
nicht fertig. So mas geht vor im Haufe 
eines Arztes.” 


Er planfcht in der Küche herum. 

Sie wiſcht ängftlih Hinter ihm ber. 
„Wenn Frau Rat kömmt — ümmer mit die 
ewigen weißen Morgenröd’.“ . . . 

Die erften Patienten fommen; unaufhörlich 
geht die Klingel. Gottlob, damit hat fie jetzt 
nichts zu thun, das Faltotum ift ja da, Schlag 
acht hat es anzutreten. 

Erſt einen Schlud Kaffee. 
hohl in'n Leib.” 

Mit fämtlihem Ruſtzeug betritt fie das 
Wohnzimmer ber Gnädigen, rutſcht wieder mit 
ihrem Schaufelchen den ganzen Teppih ab 
und vertieft fi dann mit Pinfel und Leber 
in die Unendlichkeit der Vaſen, Urnen, 
Staffeleien, Stehbilvchen, Bücher, Nippes, 
Kiffen und Kißchen. 

Im Eßzimmer hört fie ein leifes Rauſchen. 
„Aha, fie i8 ſchon da, hätt auch noch länger 
liegen können; nachher bat man fein’ rechte 
Ruh’ mehr zu fein’ Arbeit.” 

Da geht’3 ſchon los. 

„Rieke, Sie haben bier ſchlecht gebedt. 
Es liegt alles ſchief. Sie wiſſen, wie mid 
das ſtört. Achten Sie beſſer darauf. Mein 
Zimmer iſt doch fertig?” — 

„Gleich, gnä' Frau.“ 

Jetzt der Salon. 

„O je, die Tappen! Daß die Leut' nich 
auf ein’ Fleck bleiben können!“ — 


„Mich is ſo 


8 


Wieder fliegt der Bohnerbefen auf und 
ab, auf und ab. — 

So große Zimmer find doch einzig ſchön, 
fagte geftern Frau v. S. Niele denkt genau 
das Gegenteil; ihr fließt der Schweiß vom 
Geſicht. Sie Iehnt fih einen Augenblid auf 
den Etiel zum Ausruhen. Aber die Uhr, bie 
Uhr! — — Es kann nicht weit von elf fein. 
Herrgott, fie muß ja in die Küche! Der 
Dfen heizt ſich ſchwer und „dur“ muß der 
Hammelbraten fein, fonft ißt der Herr Rat 
feinen Happen, und ſowas ift ihr zu 
unangenehm. Bloß fein ſchlechtes Efien ab⸗ 
liefern, das ift ihr gegen die Ehre. „Nein, 
nein, fein’ Schuldigfeit thun, daß einen feiner 
was nachſagen kann.“ 

Sie klopft, häutet ab, klopft wieder und 
wãſcht. 

Der Ofen glüht — die Hammelfeule 
rundet und bräunt ſich — — — 

Schnell wieder in den Salon — weiter 
gelratzt, gewedelt, gewiſcht. — Dazwiſchen die 
Treppe heruntergeſprungen und den Braten 
begoſſen. — Wie er duftet und glänzt! — 
Rieles Geſicht auch. 

Nun noch die moderne Ofenecke — mas 
da alles fteht und baumelt und liegt — 
„dann hat woll allens was gekriegt.” 

Flint geht Hand, Lappen und Wedel über 
die Herrlichleiten hin. Es ift hohe Zeit; jeden 
Augenblid kann Beſuch kommen. 

Rrrrrrr. Da ift er ſchon. 

„Gnäd'ge Frau zu Haufe?” — — 

„J— a“ ... Rieke ftodt; is fie nu zu 
Haufe oder nidt . .. . 

„Wollen Sie nit anfragen?” — 

Sie läuft, das Staubtuch noch in der 
Hand, ins Zimmer der Hausfrau und meldet 
den Beſuch. 

Frau Nat fieht fie groß an. „Wie fehen 
Sie denn aus, ganz echauffiert, mit dem Tuch 
in der Hand und der unfaubern Schürze? — 
Sie find in einem herrſchaftlichen Haufe; es 
ift Ihnen wohl unmöglich, ſich das zu merfen.” 

Nieles Gefiht wird noch um mehrere 
Grade dunkler. Beſchämt verläßt fie das 
Zimmer, ftottert draußen verlegen an ihrem 
Auftrag herum und ſchleicht in ihre Küche. 

Mährend fie das Kraut für bie Fleiſch— 
ı fuppe pußt, fommen ihr ärgerliche Gedanken. 





Unter fremben Leuten. 


bißchen prätelt’3 mehr. — Die Klapp' muß 
wieder auf; wird ja wohl nichts paffieren.” 

Eie fteigt die beiden Treppen wieder in 
die Höhe, etwas langſamer ſchon, feit fieben 
Stunden ift fie auf den Beinen — es iſt 
reichlich ein Uhr. — 

Die legte Hand wird oben noch an das 
Schlafzimmer gelegt — was es auch bier 
alles zu puſſeln, zu deden und zu bürften 
Hiebt! — — Befriedigt geht ihr Blick durch 
den Raum: Fadengrade liegen bie Spachtel 
über den beiden rotfeidenen Eteppbeden, genau 
in ber Mitte unten am Fußende leuchtet das 
handgroße „Schlafe wohl!” der Nachttaſche. 
Streng aufmarſchiert find Kummen, Kannen 
und Näpfchen auf beiden Wafchtoiletten. Die 
Spiegel blinfen, die Wandleuchter zu beiden 
Seiten erft recht. Das eine Licht „will“ 
immer nicht. Weiß der liebe Himmel, woran 
das liegt. Eie drüdt daran herum. „So, 
nu wird fie woll nichts finden; ich mein’, nu 
hat allens feinen Schid .. .. wenn nu man 
der Braten — — —!“ 

Eine wahre Angft padt fie. Cie fliegt 
die Treppen hinunter und fehnuppert in bie 
Küche hinein. Ein bißchen darf riecht's 
ſchon. — 

Die Klappe finkt; die Pfanne fliegt heraus. 
Weiß Gott! Er hat 'was weg... . und 
er war fo jhön... wenn 'n hätt! dabei 
bleiben fönnen . . .“ 

Diefe ſchwärzlichen Eden find ihr fürchter⸗ 
lich. Wehmütig fieht fie fie an. Sorgſam 
befüllt fie wieder das Stüd Fleiſch und ſchließt 
die Klappe ganz langfam. Die Arbeitsfreude 
ift von ihrem Geſichte mie  fortgemifcht. 
Mechaniſch ſchiebt fie den Dedel vom über: 
kochenden Kartoffeltopf zurüd, beforgt die 
Euppe mit Durchſieben und Abwellen, zer 
drüdt eine Kartoffel prüfend auf der Kelle 
und gießt dann ab. 

Nun noch die Sauce zurechtrühren, das 
Eingemachte auflegen, den Nachtiſch orbnen, 
deden, anrichten, die Herrfchaften rufen. — — 

Fünf Minuten vor Zwei. — 

Pünktlid) betreten Nat und Nätin das 
Ehzimmer. Gott fei Dank! Heute braucht 
man nicht zu warten. Niefe hätte nicht gewußt, 
was unter den Umftänden aus ihrer Hammel⸗ 
teule geworben wäre. 





! herunter. 


4 


Langſam zieht die Gnädige den filbernen 
Ning von der Eerviette. Die hübfchen blauen 
Augen gehen mufternd über die Hleine Tafel, 
das weiße Näschen fehnuppert ihnen nad. 

„So recht forgfältig kocht fie doch nicht. 
Ih habe es ihr ſchon fo oft gefagt, genau 
zweieinhalb Etunden muß er haben und 
unaufhörlich begofjen werden. Er hat wieder 
trodene Eden.” 

Tem Rat geht heute „ein Fall“ durch den 
Kopf, er erwidert wenig und ißt darauf log, 
ohne recht zu wiſſen was. Die Gattin ver- 
ftimmt das. Man giebt fi ſoviel Mühe... 

Unten zifcht der Theckeffel über. Schön. 
Rieke trichtert den Kaffee. „Sie werben wohl 
gleich Hingeln.” 

Während fie nod an der Kanne herum— 
pußt, geichieht es fchon. 

Schnell werden die Hände abgefpült, die 
Schürze wird gewechſelt, das fauber beftellte 
Kaffeebrett hinaufgetragen und mit Herzklopfen 
bingeftelt. Nun wird ſie's zu hören befommen 
— das, was ihr felbft fo fatal ift und was 
fie doch nicht ändern fann, wenn ihre Arbeit 
auf fo verſchiedenen Stellen Liegt. " 

Ter Nat ftredt ſich behaglich im Seſſel, 
die Gigarre dampft, die Kaffeetafje auch. Für 
lange iſt's nicht. Die Spredftunde! — — 

Er fängt ein gemütliches Plaudern an, 
und die Gattin bat Mitleid mit ihm. Die 
Niefe kann unbehelligt abdeden und ver 
ſchwindet hochaufatmend mit dem legten Etüd 
Geſchirr hinter der Thür. 

Am Küchentiſch verzehrt fie übellaunig 
ihren Anteil. „Ja, er hat zu viel. Iſt ftellen- 
meife ganz troden; aber was foll man machen.” 

Wenn fie die Schelte nur erft weg hätte! 
Kriegen wird fie fie. 

Die lebte Kartoffel will gar nicht recht 
Ihr ift fo eng im Halje. 

Zange fann fie fi bei ihrem Kummer 
nicht aufhalten. Rings herum fteht das ge 
brauchte Geſchirr und wartet aufden Reinigungs⸗ 
prozeß. 

„Ra, denn man zu; denn man flink ab— 
waſchen.“ 

Sie nimmt den Kleiderrock hoch und bindet 
eine fefte Schürze darüber, ftreift die Ärmel 
der Blufe auf und arbeitet wader darauf los. 

Rrrrrrr. 


Unter fremden Leuten. 


Seufzend erhebt fie ſich von ihrem Kuchen⸗ 
ſtuhl und rüftet fih zum Weiterarbeiten. 

Während fie abwäſcht, lommen ihr wieder 
allerhand Gebanten. Ob fie body nicht lieber 
kündigt? — Als Frau Paſtor ihr damals das 
gute Zeugni® mitgab und biefe Etelle ver- 
ſchaffte, warnte fie eindringlich: „Nur nicht fo 
oft wechſeln, Riefe! Dabei kommt nichts heraus, 
vermacht ift überall etwas.“ Aber man könnte 
doch verfuchen. — Eie fagen immer alle, da 
find feine Kinder. ..... Ja, was würde das 
maden? — Kleine Kinder find fo nett, fie 
möchte wohl, daß ſolch' Dingeldyen oder auch 
mehr davon um fie herum pappelten. Bei 
Paſtors waren foviel liche Kinder; fein cin 
ziges tar ihr im Wege geweſen. Und Garten= 
arbeit auch — und doch war fie fertig ge⸗ 
worden und hatte abends noch im Geſangbuch 
Iefen fönnen. — Hier fielen ihr immer bums 
die Augen zu, wenn fie das legte Stüd an 
die Ceite gebracht hatte. Es kam mohl vom 
vielen Laufen. Und daß fein Menid cin 
Wort mit ihr fprah! — — — Dies Un: 
heimliche — immer fo für ſich allein. — Und 
einen Tag wie den andern, gar feinen Eonn- 
tag dazwiſchen. Denn was ift das für ein 
Sonntag hier! — — — Feine Kleider haben 
fie jeden Tag an, Braten efjen fie mitten in 
der Woche, von Kirchengehen hört und ficht 
man nichts, wo fol da ein richtiger Sonntag 
berfommen! Gar feinen Anfang haben ſolche 
Wochen und gar fein Ende, immer eine nach 
der andern, eine nad) der andern — um ſechs 
auf, um zehn zu Bett — wird auch elf und 
zwölf, und alle vierzehn Tage ein Ausgehtag. 
Na, das wäre genug, das viele Auslaufen 
foftet bloß Zeug, wenn's nur nit gar fo 
ftill im Haufe wäre! Manchmal denft man, 
man gehört gar nicht mit dazu und thut doch 
aud feine Schuldigkeit. God und niedrig 
muß e3 ja geben in der Welt, aber dies ift 
doc fo fehnurrig, fo, als wär’ man gar fein 
Menſch. Doch man licher kündigen — 
anderswo zufehen. — 

Am Sonntag wird fie zur Tante gehen 
— mie alle Mädchen vom Lande hat aud 
fie ihre Tante in der Etabt, ber Vetter beim 
Militär fehlt ihr freilich noch — und berat- 
ſchlagen. 








48 


find gepußt, das Silber ruht ficher oben im 
Buffet. 

Nun noch Kartoffeln ſchälen, morgens hält 
das fo lange auf, und es ſchadet auch nicht, 
wenn fie ein bißchen auswäflern; und dann 
fih noch 'n Eti) nähen — „man reißt ab, 
wenn 'n nich zu rechter Zeit nachſieht.“ 
Nãchſte Woche ift Waſchwoche, dann geht's 
im Trapp, und an fo etwas ift nicht zu denfen. 

Sie fit vor ihrer Meinen Lampe, einen 
wollenen Strumpf auf den Arm gezogen, die 
EStopfnabel in der Hand. Es iſt totenftill um 
fie. Sie zieht den blauen Wollfaden durch, 
nimmt bie Mafhen auf und zieht mieder 
durch — und wieder. — — Immer lang- 
famer werben bie Bewegungen. Oft ſchwebt 
der Faden ein Weilchen in der Luft, und die 
Nadel ſtochert unficher in dent Gewebe herum. 
Endlich fucht fi} der beftrumpfte Arm einen 
Halt auf dem Tiſche und der blanlgeſcheitelte 
Kopf folgt ihm, als müſſe es fo fein. 

Die lange Nadel macht fi das fofort zu 
Nuge. Sie entwifcht der fchlaffen Rechten, 
rutſcht am hängenden Faden herunter und 
gleißt hãmiſch aus der engen Dielenrige herauf: 
„So, nu ſuch'!“ — 

Ein leifes Stöhnen durchzieht den niedrigen, 
falten Raum. Das junge, weiche Geſicht 
bettet fi immer fefter auf den runden Arm, 
die abgefpannten Züge glätten fih; Rieke 
ſchläft. Bunt durdeinander wirft der Traum 
die Bilder, die die Einfame beſchäftigten, bis 
ihr die Augen zufielen. 

— — — — Das lange Dorf. — Da, 
gleih um die Ede beim Krämer, liegt's. Wic 
freundlih der neue Hausanftrih ſich macht. 
Mutter ſteht am Schweinskoben und fann 
gar nicht genug abwehren, immer find die beiden 
Schnauzen wieder da. Es ift ein Schnüffeln 
und rungen, man muß laden. — Mutter 
thut's auch; fo recht gut und lieb, über das 
ganze Gefiht. 

Dicht bei der Dunggrube fpielen die beiden 
Zwillinge: Kuhlſäg. Sie werben doc nicht 
hineinfallen? — — Na, die großen Göhren! 
Mutter würde fie ſchön ... . Die fadelt nicht. 

Das Pfarrhaus. Gleich an der Thür die 
Stube vom Herm Paſtor — immer riecht'3 
da nah der Pfeife Lüften hilft. Den 





Der legte Telker ftcht im Bort, die Mefjer | Chorrod hat Frau Pajtorin längft aus dem 


„Ru bin ich noch in bie Jahren... .” 

„Haft noch lang Zeit. Was beim Heiraten 
’rausfommt, bleibt dir no ümmer ... .“ 

„Bin vierundzwanzig . . .” 

„Is 'was rechts... ." 

„Un dien’ nu al rund 'acht Jahr... .” 

„Un nu is es bir über?” — 

„Über nich. Die Arbeit ni, aber das 
Ganze. Die andern machen fi) davon ab, 
fo gut fie können. Kriegen fie ausgefcholten, 
haben fie 'was gegen an unb fordern ſich 
ihren Schein. Ich hab’ ümmer gedacht, es 
müßt doch'n Stell’ geben, wo ein’ fein’ Arbeit 
in Ruh’ und Freud’ thun könnt', un wo ein’ 
das auch ’n büfchen gedankt würd! Aber da 
is fo viel, fo viel. — Vorlommen fann 'n 
nid allens, denn man ümmer auf'n Ruff. — 
AM die neumodfhen Sachen — kaum mang 
durchzufinden — un belien thut einen fein 
Menſch. An folde Arbeit hat man fein’ 
Freud’. Ih bün vor's Gründliche.“ 

„Je, das wiſſen fie auch.“ 

„Was nützt das.” — 

Du gewöhnſt ihn’ ümmer zu viel an. 
Von glei an mußt bu ihn’ Beſcheid 


46 


Nee, das laß man ’ne andere thun, ba 
hab’ ich fein Luft zu.” 

„Ich hab’ mid) ümmer gewundert, daß bu 
nid bloß ad Köchin gehn willſt; ümmer as 
Einmäbchen. — Kommerzienrat® würden dir 
nehmen, die ba i8, taugt nicht viel. Abends 
i8 man denn bod mit ein’ zufammen un 
lann 'n Wort reden.” 

„Je, das is auch fo. Haut man nich mit 
ihr in ein’ Kerb’, is nich getroffen, denn fo 
is't Kalf in 't Og flahn.” 

„Sciden muß ſich ein jeder.” 

„So mein’ id nid. Du büft doch auch 
mang fremde Leut' geivefen as Mädchen. 
Did) i8 das woll mehr vergeflen, fonft müßt 
du wiſſen, daß fi das nich ümmer gut vers 
trägt. Ich geh’ grab durch — vor Heimlich- 
feiten bün ich ni.” — 

„Denn geh’ wieder nach'n Land.” 

„Nee, nu nich mehr.” — 

Sie fteht auf und brüdt den bunten 
Sonntagshut auf ihr blankes, glattes Haar. 
Langſam ſchiebt fie die lange Nadel durd den 
feftgeflochtenen Zopf. 

„Denn fag’ ihm man, er follt' man bie 


fagen.” 





Ning’ beftellen.. . . .” 


en 


Äbend in Foscana. 


In Siena war's. Die Abendfchatten ſanken. 
Orangendüfte wogten um den Dom, 

Und alle meine fchweifenden Gedanken 
Befchwichtigte des Marmorbronnens Strom. 


Ich ſtreckte taftend meine beiden Hände 
Tief in des Sonte Gaha's kalte Flut — 
Die Slut, die von Toscanas Berggelände 
Berablam in die Stadt voll Sommerglut. 


Und aus dem Abendfchatten der Paläjte — 
So war mir — fchritt hervor ein langer Zug, 
Ein lebensfroher aus der Zeit der Sefte, 

Da Sienas Jugendfraft die Guelfen fchlug. 


Da um das Blondhaar fühner Ghibellinen 
Der £orbeer fich, der frifchgepflüdte, wand, 
Und Ruhmesfonnen jenen Sels befchienen, 
Auf deffen Scheitel Sienas Wölfin ftand. 


Don ftolzen Männern fam ein ftummer Reigen, 
Tyrannenfürften, eingefchient_in Stahl, 

Und Papfigeftalten, die die Stirnen neigen 
Dor jenem Größ'ren an des Doms Portal. 





Rerlobung und Frauung. 


Bon 
Belene Köhnk. 
WVB BRD 


T- germanifchen Leben wurde der Ehe, als der wichtigften menschlichen Inftitution 
zur Begründung und Erhaltung des Staates, die größte Bedeutung beigelegt. 
Das beweifen die Alteften Rechtsüberlieferungen und Weistümer ſowohl, ald auch der 
Umftand, daß die Germanen erft im reiferen Alter zur Ehe fchritten, wie Cäfar und 
Tacitu berichten. Bor dem zwanzigſten Jahre mit einem Weibe zu leben, galt für 
eine Schande; auch den Mädchen wurde Zeit zur vollen Entwicklung gelaflen. Die 
Sitte des fpäten Heiratens, die übrigens auch von NAriftotcles empfohlen wird, fcheint 
erft gegen das Ende des 13. Jahrhunderts abgelommen zu fein. Der Dichter der 
Dierrichsflucht erzählt, daß zu feines Helden Dietwert Zeit weder Mann noch Weib 
früher als mit dreißig Jahren Heiraten durften. Leider fei dies nicht mehr allgemeiner 
Brauch, und die Folgen zeigten fih an der Welt. Ganz ähnlich klagt faſt drei Jahr: 
hunderte fpäter Sobannes Murner in feinem Gedicht „eelih Stads nütz und 
beſchwerden.“ 

Daneben fehlt es natürlich nicht an Zeugniſſen für frühe Heiraten. ‘So wurde 
die heilige Elifabetb dem Landgrafen Ludwig von Thüringen befanntlic) ſchon mit 
dem vierten Jahre verlobt, und im „armen Heinrich“ Heiratet der kranke Nitter ein 
zwölfiähriges Mädchen. Andere Beifpiele aus Gefchichte und Dichtung laffen fich 
leicht finden. Ob in den alten Gewohnheitsrechten ein heiratsfähiges Alter feftgeicht 
war, fcheint mir weder aus dem Sacjenipiegel, nody andern Stammes- und Sonder: 
rechten mit Deutlichleit berborzugehen. Erft mit dem Einfluß des römifchen Rechts 
wurde faft allgemein da8 12. oder das 14. Lebensjahr angenommen. 

Die urfprüngliche Form der germanifchen Chefchliegung war der Brautlauf, der, 
im Mundlauf zu milderer Form entwidelt, fich das ganze Mittelalter hindurch erhielt 
und in Perlobunge- und Hochzeitägebräuchen, vor allem in der rechtlichen Stellung 
der Frau, noch heute nachflingt. Unter Mundkauf verftand man ben Vertrag des 
Käuferd mit dem bisherigen Gewalthaber, Vater oder Bormund, gegen eine beftimmte 
Summe dad Kaufobjekt, die Jungfrau, in feine Gewalt zu geben. Um die Höhe des 
Preifes wurde in früherer Zeit gehandelt, wie das in verjchiedenen Volfsliedern 
erhalten if. So beißt es in einem fchlefifchen Liede: „Sind drei draußen, Frau 
Mutter!“ Frag’, was fie woll'n, meine Tochter.‘ „Einer will mich haben, Frau 
Mutter.” „Frag' wieviel Thaler, meine Tochter.‘ „Dreihundert Thaler, Frau Mutter.” 
‚Das ift zu wenig, meine Tochter.‘ Der Freier geht bis auf 500 Thaler, und die 
Mutter ftimmt zu. Später begegnen wir bei den verſchiedenen bdeutfchen Stämmen 
überal feften Anfägen. Bei den falifchen Franken find es 62'/,, bei den Nipuariern 
50, bei ben Nlemannen 40 Solidi. Ganz beſonders hoch aber ftanden die Jung: 
frauen bei den Sachſen und riefen im Preife. Hier wurde feine Frau unter 
300 Solidi erworben. 

Urfprünglich erhielt der Vater, reſp. der Vormund den Kaufpreis, der in der 
deutfchen Rechtöfprache den Namen „Wittum“ führt. Als aber die dos oder Mitgift 
üblich geworden, wurde er mit diefer vereinigt und als Witwenverforgung der Frau 
audgefegt. In ältefter Zeit ift von einer Mitgift noch feine Rede. Der Brautlauf 
verlangte feine andere Gegenleiftung, als die der Übergabe der Braut. Auch das 


47 


48 Verlobung und Trauung. 


Waffengejchenf, das nach Tacitus die Braut dem Manne zubrachte und das von 
ihm jo jchön als Sinnbild der gleichberechtigten Genoſſenſchaft gedeutet wird, ift nicht 
als Mitgift, jondern vielmehr als Zeichen der Gewalt zu betrachten, in bie ber 
Bräutigam durch Übergabe der VBormundichaft trat, und kraft derer er über Leben 
und Tod der Frau entjcheiden konnte. Diefe altgermanifche Auffaffung Hat fich 
vielleicht am längften auf den norbdfriefifchen Inſeln erhalten. Dort herrſchte bis in 
dad 17. Jahrhundert der Hochzeitsbrauch, daß die Braut unter einem über der Thür 
befeftigten Schwert in das Haus des Mannes eingehen mußte. Es wurde Ächtſwird 
(Eheichwert) genannt, und nad friefifchem Recht konnte der Mann im Fall eines 
Ehebruchs jeine Frau mit diefem Schwerte töten. 

Der Verlobungdvertrag wurde ſtets vor Zeugen geſchloſſen und hatte bindende 
Giltigkeit, Jobald die Zahlung erfolgt, Tpäter die arrah, das Handgeld, gegeben und 
der Weinfauf oder das Lobelbier getrunken mar. Sn ältefter Zeit Hatte die zu 
verlobende Jungfrau feinerlei Einſpruchsrecht, erſt die fortichreitende Kultur des 
Chriſtentums räumte ihr die Konjenserflärung ein. Damit ſank auch der Mundfauf 
zu einem Scheinfauf herab, d. 5. der frühere Kaufpreis wurde thatlächlich nicht mehr 
gezahlt, aber die Braut empfing nun von den Bräutigam ſelbſt das Handgeld, einen 
Solidug und einen Denarius, einen Goldpfennig und einen Silberpfennig. Dieje 
Sitte ift fpäter in die kirchliche Trauung übergegangen. In Frankreich, wo bie 
firchliche Trauung früher als in Deutjchland Volksſitte geworden war, hielten wohl 
die Kirchen eigene Geldftüde, die von jedem Bräutigam jeder Braut gegeben wurden 
und die nad ftattgehabtem Gebrauch an die Kirche zurüdfielen. Dasjelbe war 
mit Trauringen in einigen jchleswig-holfteinifchen Kirchen der Fall, beftimmt ift es 
mir aus der Gejchichte der Kirche des Gutes Pronftorf bekannt. Friedberg!) giebt 
die Abbildung einer folchen Münze, die auf der einen Seite die Aufichrift führt: 
Tournois — Denier, entiprechend dem alten Solidus et Denarius — auf ber 
anderen: Pour Epouser. Erft am Ende ded Mittelalters finden wir das Geldſtück 
duch den Ring erjegt. Er ift fein deutſches Symbol, jondern wie die Sitte, bie 
Braut bei der Verlobung und Übergabe mit Kranz und Schleier zu fchmüden, aus 
Stalien eingeführt, und zwar follen die Töchter der vornehmen Nürnberger Patrizier: 
familien zuerft den Ring wie auch Kranz und Schleier getragen haben. Zu Luthers 
Beit war beides ſchon eingebürgert, denn er bedient fich in feinem Eheſtandsbüchlein 
wiederholt des Wortes Schleier in ſymboliſchem Sinne. „Das Weib fol den Schleier 
auffegen wegen der böfen Lüfte und die Sünden ded Mannes tragen in aller Geduld 
und Frömmigkeit.” Und der Trauringe erwähnt er in feinem ZTrauritual. 

Der Verlobung folgte die Übergabe der Braut, die traditio, wovon unfer 
heutiges Wort Trauung abgeleitet if. Trauen kommt von tradere, d. b. auf Treue 
übergeben, daher ift noch bis in das 15. Sahrhundert nicht von einem Trauen 
beider Ehegatten, fondern nur von einem Trauen der Braut die Rede. Sie wurde 
dem Manne getraut, d. b. übergeben, und erhielt allein das Handgeld, den Ring. 
Diele Sitte bat ſich bis heute in England erhalten, und aus meiner fpeziellen Heimat, 
Ditmarfchen, weiß ich, daß Brautleute erft in neuefter Zeit Ringe austaufchen. 

Die Übergabe oder Trauung gefchah durch den Vormund, d. 5. durch den 
Vater oder fonftigen Gewalthaber der Jungfrau. Diefer übertrug durch Hingabe der 
Sungfrau fein Mundium auf den Bräutigam, der eben dadurch von nun an ber 
Eheherr der rau wurde. Die Trauung ijt die Erfüllung der Verpflichtung, bie ber 
Vormund durch den Ehevertrag übernommen hatte. Der Befighingabe durch den 
Bormund entjprach die Beligergreifung jeiten® des Bräutigamd. Er trat, wie das 
noch Heute in Schweden vorfommen fol, der Braut auf den Fuß zum fichtbaren 
Beichen feiner Herrichaft über fie. 

In älterer Zeit wie im früheren Mittelalter fiel die Eheſchließung jeher oft mit 
der Verlobung zuſammen. ch erinnere an Kaifer Heinrich® Heirat mit Mechthild. 
Jedenfalls follte zwijchen Verlobung und Trauung grundlos Fein längerer Zeitraum 


ı) Friedberg, Das Recht der Chefchliehung in feiner geichichtlichen Entwidlung. Leipzig, 1865, 








Berlobung und Trauung. 40 


als zwei Jahre, nach frieſiſchem Brauch nicht mehr als zwölf Monate, nach ben 
erften Kirchenordnungen nur 6 Wochen verftreihen, wie denn Theubebert, der Entel 
Shlodwigs, den Unwillen fämtlicher Franken erregte, weil er im fechften Jahre feiner 
Verlobung noch mit der Vermaͤhlung zögerte. 

Daß fi) an die Übergabe der Braut viele Symbole und Gebräuche fnüpften, 
ift felbftverftändlich. Ausführliche Beichreibungen finden wir in vielen Gedichten des 
Mittelalters, und über die Hochzeitsgebräuche der Marjen und Friefen werden wir in 
Neocorus Geſchichte Ditmarfchens unterrichtet. Ein Haupterfordernis war die Offent⸗ 
lichkeit der Eheſchliezung, die auch ſchon aus dem Grunde gefucht wurde, weil eine 
wenig befannte oder heimliche Ehe annulliert werden und jedenfalls den Kindern bie 
Groberechtigung abgefprochen werden konnte. In den Gedichten bed Mittelalter wird 
ſtets der „Ring“ erwähnt, in welchem die Ehe geichloffen wurde. Pipin machte dieſe 
Dffentlichfeit jogar zu einer gefeglichen Verordnung. 

Beiebberg u. Som!) teilen eine ſchwäbiſche Verlobungsformel aus dem 12. 
und eine Kolniſche aus dem 14. Jahrhundert mit. Anfchaulicher ift der Eheritus in 
Heintih von Fribergs „Triftan“ und Wernhers „Meier Helmbrecht“ vorgeführt. 
Dort fehildert der Dichter, wie ein Biſchof zur Weihe unter die Tanzenden tritt, hier 
die Laienfopulation des Raubers Lammerſchling mit dem Bauernmädchen Gotelinde: 


„Ein Greis erhob ſich aus der Mitte, 

Der war befannt mit Braub und Eitte, 
Und war in Reden Hug und weile, 

Er hieß fie ftehn in einem Kreife 

Und fprad} zu Sämmerfhling: „Wenn Ahr 
Wollt Jungfrau Gotelinde hier 

Zum Chetoeib, fo ſprechet: ja!" — 
„Gerne,“ ſprach ber Knappe da. 

Zum zweiten Wale fragt er fo: 

Ich nehme,“ ſprach der Knappe frob. 
Zum dritten Mal fprach er das Wort: 
Rehmt Ihr fie gern?" Der Knapp’ fofort: 
Bei meiner Seele, meinem Yeib, 

ch nehme gerne fie zum Weib!“ 

Da fprad zu Gotelinden er: 

„Nun faget mir, ift Euer Begehr, 

Zu nehmen Yämmerichling zum Wann?" — 
„Ja, fo es Gott läßt gehen an!" — 
„Nehmt Ihr ihm gern?“ ſprach wicher er. 
„Ja, Herr, gewiß; gebt ihn mir her!” 
Zum dritten: „Lämmerfchling wollt Ihr?“ 
„Gern Herre; doch num gebt ihm mir.” 
Da hat er Gotelind fürs veben 

Tem Lämmerfhling zum Weib gegeben 
Und gab den Yämmerfchling fodann 

Ter Gotelind zum Ehemann, 

Sie fangen noch den vochzeitsgruß 

Und er trat ihr auf den Zuß.” 


Eine kirchliche Eheſchließung als Perfektiongmittel gab es bis in bad 13. und 
14. Jahrhundert nicht. Wohl hatten ſchon die Kirchenväter auf die Heiligkeit der 
Ehe bingewiefen und die Geiftlichen des Mittelalter3 e3 nicht an Verordnungen und 
Ermahnungen fehlen laſſen. Allein Prof. Sohm fcheint hier im Gegenfag zu Friedberg 
richtig zu folgern, wenn er fagt, daß die Trauung erft durch eine weltliche Über: 
gangsform zur firchlichen werden konnte. Sie ward durch den Untergang der 
Geſchlechtsvormundſchafi herbeigeführt. Mit Eintritt der perſönlichen Selbjtändigfeit 
der Frau mußte, wie an Stelle der Verlobung dur den Vormund die Gelbft- 
verlobung, fo an Stelle der Trauung dur den Vormund die Selbfttrauung treten. 
Die Braut traut fich felbft dem Bräutigam, d. h. fie giebt ſich durch ihren eignen 





1) Sohm: Daß Recht der Ehefchliehung aus dem Deutihen und Kanoniſchen Recht geſchichtlich 
entwidelt. Weimar 1875. 


4 


Berlobung und Trauung. 51 


Dekret forderte bie firchlihe Trauung mit dem Zuſatz, daß jede nicht Firchlich gefchloffene 
Che ungiltig, bezw. ala Konkubinat zu achten fei. Außerdem wurden die kirchlichen 
Aufgebote und die regelrechte Führung don Trauregiftern verordnet. Bis dahin 
‚waren in Deutfchland Trauregifter überhaupt nicht und Tauf- und Sterbeliften nur 
zufälig und ganz unregelmäßig geführt worden, wogegen das Führen von Kirchen- 
büchern in Frankreich ſchon feit dem 14. Jahrhundert üblich gewefen fein fol. 

Die Ehereform des Tribentinums wurde von der proteftantifchen Kirche nicht 
anerkannt, und die vielumfirittenen Begriffe der sponsalia de praesenti und de 
futuro blieben noch lange ein Stein des Anftoßes für die evangelifche Geiftlichkeit. 
Luther hielt die Che für eine weltliche Inftitution. „Zum andern,” beißt es in feinen 
Tiſchreden vom Eheftande !), „fo gehet die Ehe die Kirche nichts an, ift außer derſelben, 
ein zeitlich, weltlih Ding, darum gehöret fie vor bie Dbrigfeit-" Und er begnügte 
fih nicht damit, neben der firchlichen Seite der Ehe eine weltliche anzuerfennen, wie 
das ſchon im Mittelalter von den Scholaftifern geichehen war, fondern er verlangte 
vor allen Dingen, daß die Eingehung der Ehe den von ber Obrigkeit erlaffenen 
bürgerlichen Beſtimmungen unterliege, er wollte die Chegerichtöbarkeit dem Staate 
tiberlaffen und die Ehegefeggebung von der Dbrigfeit ausgeübt willen. 

Andererfeitd aber nannte er die Ehe auch den fürnehmften geifllichen Stand, 
wie denn feine Auslaffungen über diefen Gegenftand ziemlich widerſpruchsvoli ericheinen 
und die Eheſachen ihm viel zu denken und zu fchaffen machten. „Diefe Händel ftehlen 
und heimlich die Zeit zu fludieren, zu lefen, zu predigen, zu fchreiben und zu beten,“ 
Magt er einmal in den Tifchreden. Daß er nur durch copula carnalis geſchloſſene 
Ehen für giltig erachtete, ift bekannt. Auch erflärte er DVerlöbniffe, feloft ohne Ein: 
willigung der Eltern, für volle Ehen, was zu vielen Verwirrungen Anlaß gab. 
Allerdingd waren Derlöbniffe nach deutfchrechtlihem Begriff immer bindend, aber 
dennoch löslich geivefen, wenn der Verlobte die erforderliche Buße für Verlöbnisbruch 
an den Mundwalt zahlte, während die Braut, fo lange fie nicht eigentlich Kontra⸗ 
hentin war, ſich nicht einfeitig zurüdziehen fonnte. Cie war dem Bräutigam Treue 
ſchuldig und wurde nah burgundifchem, longobardiſchem und weſtgotiſchem Recht im 
Fall gefchlechtlihen Umganges mit dritten gleih einer Ehebrecherin beftraft.?) Und 
nod Heinrich der Achte konnte beifpielsweife feine Ehen mit Anna Boleyn und Anua 
von Cleve für nichtig erflären, weil beide precontracts, d. 5. frühere Verlöbniſſe 
mit andern eingegangen waren. 


Die bindende Macht des Verlöbniffes fcheint ſich bis in das 17. und 18. Jahr: 
hundert hinein erhalten zu Haben, und zwar nach der veränderten rechtlichen Stellung 
der Frau nicht einfeitig zu Gunften des Mannes. So fand ich (bei den Nach— 
forſchungen zu einer Gedichte der Staller in Eiderftedt) im Staatsarchiv zu Schleawig 
einen ganz intereffanten Fall aus dem Ende des 17. Jahrhunderts. Die als 
Dichterin und David-Joritin bekannte Nordfriefin Anna Owens verlobte fih, kaum 
ſechzehnjahrig, mit Harmen Hoyer, Staller oder Statthalter von Eiderftedt, der aber 
vor ihr einer andern die Ehe veriproden hatte. Nach feinem Verlöbnis mit Anna 
Dwens Hagte die Mutter der erften Braut bei dem Herzog von Gottorp, und Johann 
Adolf befahl Anna Owens, von der Heirat abzuftehen, bis die Sache geordnet fei. 
Dies geſchah auf gütlihem Wege, da die Verlaffene fih anderweitig tröftete. Die 
Mutter berichtete diefe Veränderung pflichtichuldigft an den Herzog: „Weil aber nun 
Harmen Hoyer fein Herz und fein Gemüte, welches ich zwar nicht gehoffet, von 
feiner lieben Tochter ganz und gar abgeivandt, ift meine Tochter hierdurch auch 
bewogen und bat ihr Herz wiederumb von ihm abgelehret und Gott dem Almächtigen 
beimgeftellet,“ worauf der Herzog den Konfens zur Ehefchließung des Stallerd mit 
Anna Dwens gab.) 


Ich zitiere nach der Reclamausgabe von Friedrich von Schmibt. 
2) Schröder, Lehrbuch der deutfchen Kechtsgeicichte. Leipzig 1889. 
») Dimend-Aten. Staatsarchiv zu Schlestwig. 
1 


Verlobung und Trauung. 53 


€. Quandt, dad die Danziger Reformationsbewegung ſchildert, ift dad meifte Gewicht 
auf das Lobelbier, d. h. das Verlöbnis des Predigerd mit einer Bürgerstochter, gelegt. 

Eine wichtige Quelle für das Necht der Cheichließung find die Kirchenordnungen, 
von benen Friebberg eine ganze Reihe zufammengeftellt hat. ALS göttliches Gebot 
wird die firhlihe Trauung aud hier nirgends dargeftelt, und wenn auch viele 
Kirchenordnungen ihre Beftimmungen an die befannte Genefisftele anfnüpfen, an bie 
Zufammenfprehung und Benediktion Adams und Evad durch Gott felbft int Paradiefe, 
jo dient das höchftend dazu, um, juriftifch ausgedrüdt, einen göttlichen Präzedenzfall 
der Trauung anzuführen, und zur Ermahnung an die Nupturienten, ihre Ehe als 
von Gott jelbft geftiftet und daher unauflöglich zu betrachten. Diefe Ideen wurden 
in da8 17. Jahrhundert binübergenomnten und find für einen Teil desfelben als bie 
geltenden anzujehen, denn noch immer ftelten Rechtsgutachten und ehrengerichtliche 
Urteile die kirchliche Eheſchließung nicht als notwendige Bebingung einer rehtägiltigen, 
verpflichtenden Ehe auf. Erſt in der zweiten Hälfte des 17. und am Anfang des 
18. Jahrhunderts iſt der kirchlichen Trauung der Charakter der abjoluten Notwendigkeit 
in Deutfchland durchweg beigelegt worden, den man fälfchlich feit der Reformation 
oder gar feit der Zeit der erſien chriftlichen Kirche angenommen hat.!) 

Und nicht lange follte ſich die Kirche des fpät errungenen Rechte freuen. Die 
frangöfifche Revolution, die im Sturmwind neue Ideen unter die Völfer brachte, war 
aud für die Entwidiung der Eheichließung bedeutfam. Der Code civil gab Frankreich 
die Zivilehe, die feine der verfchiedenen Dpnaftien, die nacheinander das Land 
beherrfchten, abzufchaffen für gut befunden hat. Nicht einmal der der Kirche fo 
geneigte Karl X., wenngleich die Petitionen der Geiftlichkeit ihn unabläffig dazu 
aufforderten. Die Zivilehe war überhaupt Feine neue Einrichtung. Genau genommen 
forderte der Staat feine der Kirche überlaffenen Rechte zurüd, und bereit3 zur Zeit 
der NRationaliften waren Stimmen für eine ſolche Regelung der Ehedoftrin laut 
geworden. In England hatte Cromwell Ziviltrauung eingeführt, die aber nad) fieben- 
jährigem Beftehen von Karl II. aufgehoben wurde. Auch das Chepatent Joſephs II. 
vom Jahre 1783 war ein Zivileheprojeft, das auch feine Nachfolger beichäftigte, aber 
1850 verworfen wurde. In den Niederlanden ift feit den Tagen der franzöfiichen 
Oberherrſchaft die Zivilehe obligatorifch geblieben, in Ztalien ift fie 1866 eingeführt, 
in Deutfchland 1875.) Einige europäifche Länder find vorangegangen, andere gefolgt, 
wenige zurüdgeblieben. 

So haben mehr als dreihundert Jahre die Rulturvölfer Europas einen guten 
Teil ihrer gefeggeberiichen Thätigkeit auf die Regelung der Eheſchließung verwendet, 
und ſchwer nur hatte die firhliche Trauung den ftarren Sinn der Völker beziwungen. 
Aber fie hatte dabei um jo tiefere Wurzeln gefchlagen, und groß waren Schreden 
und Entfegen, al in den preußifchen Maigelegen vom Sabre 1873 die Zivilehe 
proflamiert wurde. Wie alles und jedes in Deutſchland rief das Für und Wider 
eine ganze Litteratur hervor, und die Prediger entwidelten von der Kanzel herab ihre 
Meinungen und Anfihten. Die hochgehenden Wogen haben fi verhältnismäßig 
fchnell gelegt, denn die Zivilehe bat bei unfren verwidelteren und ſchwierigeren Kultur: 
verhältniften fih als gut und nützlich erwieſen. Und fie war feine gewaltfame 
Neuerung, fondern die Folge der langſamen Entwidlung des ftaatlihen und kirchlichen 
Lebens, Fein Eingriff in die religidjen Bedürfniſſe und Nechte des Volkes, fondern 
eine humane Befreiung vom Herzens: und Gewiſſenszwange. Wer in echt chriftlichem 
Sinne die kirchliche Weihe wünfcht, kann und wird fie nach wie vor einholen; wen 
die einfachere Form der Ziviltrauung genügt, ber ift gefeglich und ſtaatlich geichügt. 


) Auch die Führung des Namens des Mannes ſcheint erft Ende des ſiebzebnten und Anfang des 
achtzehnten Jahrhunderts in Deutſchland üblich geworben zu fein, wie es in Tänemart, Schweben und 
Rortvegen bis zum heutigen Tage nur Hecht, nicht Pflicht ift. 

2) In Dänemark, Schweden und Norwegen gilt die bürgerlihe Trauung nur für gemiſchte Eben. 


—E 


Raqhdruc mit Quellenangabe erlaußt. 

* Der Bund deutſcher Frauenvereine hält 
vom 2. 
Generalverſammlung in Treöben. 
der Delegierten find an den Vormittagen des 28., 
29, 30. September, fowie bes 1. CHober. Sie 
dienen ber Erledigung ber Geſchäftsberichte des 


Bundes und der Kommiifionen, ſowie der Beratung ; 


und Beſchlußfaſſung über die geftellten Anträge. 
Diefe betreffen zum großen Teil Fragen ber 


Irganifation und ber Geſchäftsordnung. Als auf | 
die Arbeit des Bundes bezüglich find folgende ; 


Anträge bemertendmwert: 

Anträge des Borftandes auf Einreichung einer 
Petition um Schutz gegen veneriſche Krankheiten 
«(mit Borlegung eined Entwurfes), auf Einreihung 
einer Petition, betrefiend ben internationalen 
Rädchenhandel. 

Antrag des Dresdner Rehtsfhugvereins 
für Frauen, unterftügt von 12 Vereinen: „Der 
Bund wolle in eine umfaffende Agitation für 
eine moglichſt allgemeine Einführung von Che: 
verträgen bei Eheichließungen eintreten.” 

Antrag desſelben Vereins, unterftügt von 
Vereinen: „Auf ein gemeinfames Vorgehen be: 
yügfi) des internationalen Mädeienhandeld in ber 
von Dr. Fuld im GCentralblatt Nr. 17, 1899, vor: 
geichlagenen Form." 

Antrag der Hamburger Ortögruppe des 
Allgemeinen Deutfben Frauenvercins, 
unterftügt von 5 Vereinen, im felben Sinne: „Der 
Bund der Frauenvereine wolle befchlichen, folgende 
Petitionen an die Reichsregierung zu richten: Die 
verbündeten Regierungen werben gebeten, eine 
Konferenz zum Zwecke ber Bekämpfung des inter 
nationalen Viadchenhandels zu berufen.” 

Antrag des Vereins Frauenwohl-Berlin: 
„Der Bundesvorftand möge beim Beginn ber 
Reichötagafeffion bed Winters 19U0-1401 wiederum 
eine Petition im Namen ber Bunbeövereine cin: 
reichen, betreffend die einheitliche Geftaltung des 
deutfeben Vereind: und Berjammlungsrerhtes und 
die diesbezůgliche (Gleichftellung ber Frauen mit 
ihren männlichen Voltsgenoſſen.“ 

Anden Nachmittagen finden folgende Rommilfions: 


figungen fatt: 





September bis zum 2. Oftober feine : 
Die Sigungen ' 





Freitag, den 28. September, von 3 bis: 


6 Uhr. 
der Sittlichteit. 
Vicber: Böhm. 


3 5i6 Y5 Uhr. Vorl: rau 


a) Sigung der Kommiſſion für Hebung , 


b) Sigung der Kommiffien für ‘ 





Mäßigteitöbeftrebungen. ',5 bis 6 Uhr. Xorf.: 
Fräulein Ottilie Hoffmann. 
Sonnabend, den 29. September, von 


3 bis 6 Uhr. a) Cipung der Kommiffion für 
Erwerbötbätigleit der Frauen. 3 bis Y,5 Uhr. 
Vorſ.: Frau Eliſabeth Kaſelowsky. 1) Sigung 
der Kommiffion für Sandelsangeftellte. 1,5 bis 
6 Uhr. Vorſ; Fräulein Ita Freudenberg. 

Montag, den 1. Cftober, von 3 Bid 6 Uhr. 
a) Sigung der Kommiſſion für Rinderihut. 3 bis 
Y.5 Uhr. Vorſ.: Frau Helene von Forſter. 
b) SEibung der Kommiſſion für Arbeiterinnenſchutz. 
5 bis # Ubr. Vorf rau Anna Simfon. 

Dienstag. ben 2. Dftober, von 9 bis 
. 8) Sigung ber Kechtätommiifien. 9 bie 

EU Frau Marie Stritt. vy Sitzung 
der Kommiſſion für Erziehungsweſen. Ni bis 
12 Uhr. Vorſ.: Frau Henrietie Goldſchmidt. 

Wit der Generalverſammlung find öffentliche 
Verfammlungen verbunden, in denen nachfolgende 
Vorträge gehalten werben: 

Freitag, den 28. September, abends 
Allbr: 1. Vortrag von Frau Marie Stritt:Tresden: 
Aufgaben, Ziele und biöherige Entwidelung des 
Bundes deuticher Frauenvereine. 2. Vortrag von 
Fräulein Dr. jur. Rarie Rafhte-Berlin: Selbfthiffe. 

Sonnabend, ben 29 September, abends 
8 Uhr. 1. Xortrag von Fräulein Alice Salomon: 
Berlin: Üffentliher und privater Arbeiterinnen: 
” Vortrag von Fräulein Ita Freudenberg 
Vüngen: Tie Frau als Arbeitgeberin. 3. Vortrag 
von rau Hanna Bieber Böhm Berlin: Der fitt: 
lie Schuß der Arbeiterin durd das Gefeh. 

Montag, ben 1. Dftober, abends 8 Uhr. 
1. ortrag von Fräulein Gertrud Yäumer:Berlin: 
Frauenbildung und Zeitforderungen. Vortrag 
von Fräulein Natalie von Milde:Weimar: Gegen: 
wart und Zukunft der Familie. 

Wie man fieht, ift ein umfangreiches Programm 
für die Verſammlung vorgefehen. Die befriedigende 
Erledigung wird abhängen von ber Art, wie die 
Arbeit angefaßt wird. Wir möchten da auf einen 
Artitel binweifen, den die derzeitige gefchäftsführende 
Vorſihende ded Bundes, rau Marie Stritt: 
Dresden, in Nummer IL des Gentralblatts des 
Bundes deutſcher Frauenvereine veröffentlicht hat 
unter bem Titel „Rabital und gemäßigt.” Im 
ihren fehr treffenden Ausführungen weift fie darauf 
hin, daß der in biefen beiden Schlagworten nieder: 




















Frauenleben und «Streben. 


reiten. Cs muß bemerkt werden, bak auch bie: 
jenigen Berichte, die einer Fernhaltung der Haus: 
frau von ber Fabrikarbeit nicht abgeneigt find, die 
Verwirtlichung der tiefeinfchneidenden Maßregel 
von Vorbedingungen abhängig machen wollen, deren 
Erfüllung zum Zeil niemald zu erreichen fein wird. 
Weniger bebentlih in der Rücwirkung auf bie 
wirtſchaftliche und foziale Yage der Arbeiterfamilien 
wäre bie gefepliche Verkürzung der Arbeitözeiten 
für die Hauöfrauen, um ihnen für die Beſorgung 
ibres Hausweſens mehr Zeit zu gewähren. Tie 
Berichte der Gewerbeauffihtäbeamten laſſen daher 
diefer Anregung zumeift eine wohlwoliende Be: 
urteilung zu teil werden, heben aber auch hervor, 
daß bie jFrauen, von Ausnahmen vieleicht ab 
geſehen, zweifellos dadurch eine Einbuße erleiden 
würden. Denn nicht nur, daß ihr Werdienft ſich 
verringern würde, fie könnten aud Gefahr laufen, 
aus ihren Stellungen gebrängt zu werben; denn 
im Intereſſe des einheitlichen Betriebes in den 
Fabriten würden die ledigen Arbeiterinnen, für 
welche die Normalarbeitäjeit gilt, vor den im 
Wefeh begünftigten Frauen bevorzugt werden. für 
unfere Fabritarbeiterverhältnifje ift ferner bezeich 
nend, dab in mehreren Berichten von einer 
eingefchräntten riwerbömöglichleit verheirateter 
Arbeiterinnen eine Vermehrung des Kontubinats 
befürchtet wird. Viele Ehen, die ven vornberein 
mit Rechnung auf die Mitarbeit und den Berbienft 
der Ehefrau gefchloffen werben, würden unterbleiben, 
wenn ber Berbeirateten ein Erwerb abgeichnitten 
wirb, ber ber Unverheirateten offen fteht. 

Die Gutachten beweifen, ein tie ſchwer zu 
Töfendeö Problem die Arbeiterinnenfchuß:(Yefeggebung 
in jeder Beziehung barftellt. Um fo mehr iſt es 
zu wünſchen daß feine xöfung ohne Deranzichung 
aller Beteiligten, vor allem eben der Frauen jelbft, 
verfucht wird. 

* Der 8. Bundestag deutſcher Gaftwirte, 
der kürzlich in Heidelberg ftattfand, hat eine Petition 
in Sachen des Arbeiterinnenfhuges beſchloſſen. 
Tas Rätſel, wie die Fyabritarbeiterin zu dem 
freundlichen Intereffe der Gaftwirte kommt, Löft 
fi leicht. Man erwartet, durch eine Befhräntung 
der weiblichen Arbeit in Fabriten mehr Kräfte für 
den Haudhalt frei zu befommen. So beſchloß ber 
Bundestag mit dem Deutſchen Gaftwirteverband 
und dem Bund der Landwirte, dem Reichstag eine 
Petition einzureichen, wonach Mädchen unter 17 
querſt war fogar vorgeichlagen unter 18) Jahren 
in Fabrikbetrieben nicht befchäftigt werben dürfen. 


* Der Arbeitöuachweis für Frauen, ind- 


befondere für weibliche Dieuſtboten, ift der Titel | 


eined in mancher Sinficht bemerkenswerten Artitels 
von Hermann Frey-Wiesbaden in Wr. 48 ber 
„Sozialen Braris”. Der Arbeitenachmweis in 
Wiesbaden, den der Referent organifiert bat und 
leitet, arbeitet mit einer befonderen frauen: 
tommiffion, der die Auffiht über die Abteilung 
für Frauen übertragen ift. Ter Referent ficht in 
diefer Einrichtung, die feitben nur nod) in München 








57 


eingeführt ift, eine weſentliche Urſache dafür, daß 
der Wiesbadener Arbeitsnachweis für Frauen im 
Verhältnis zur Einwohnerzahl mit feinen Refultaten 
an der Spitze aller andern im beutichen Reiche fteht. 


* Frauen in den Schulauffichtsbehörden 
Englands. Im Jahre 1895 enthielt der Bericht 
ber englifhen Rohal Commiſſion für das höhere 
uUnterrichisweſen ben Paflus: „Wir find der An 
fit, daß auch Frauen in die Auffichtsbehörben 
für den höheren Unterricht wählbar jein müßten, 
da die Erfahrung Ichrt, daß die Antereflen der 
Mädchen bisher nicht felten ungenügende Berüd- 
fihtigung erfahren haben. Wenn aber nicht be: 
fondere Vorkehrungen dafür getroffen werden, ift 
es immerbin fraglich, ob eine hinreichende Anzahl 
von rauen in dies Amt gewählt werben bürften, 
während wir es doch für durdaus erſtrebensweri 
halten, daß eine beftimmte Anzahl der Mitglieder 
biefer Körperfpaften Frauen wären" Thatfächlich 
find denn auch jeitbem nur verhältnismäßig wenige 
Frauen dafür gewählt worden, namentlich wo es 
fib um das technifche Unterrichtsweſen handelte. 
So bat fi denn neuerdingd in London ein 
Executive Committee gebildet, das biefem Übel: 
ftande abbelfen und die für dringend nötig erfannte 
Beteiligung der frauen an biefer wichtigen Auf- 
gabe wirklich herbeiführen will. Das neugegründete 
Komitee verjuht in erfter Yinie, die zur 
Erreichung feines Zweckes nötigen Geldmittel flüſſig 
au machen. 


* Der Congres International de la Con- 
dition et des Droits des Femmes tagte vom 
bi® 8. September im Palais des Congres 
in Paris. Tie Gröffnungsrede — eine Programın: 
rede für die Nictung der franzöfifden ‚frauen: 
beivenung, deren Wünfche dieſer Kongreß zum 
Ausdrud bringen folte — bielt die Leiterin Maria 
Rognon. Der (efichtspuntt, unter dem fie die 





; Frauenfrage betrachtet, ift fogialiftifch: (erechte 


Xerteilung bes Gewinns aus (Grund und Boden 
und \nduftrie, ein gerechter Entgelt für bie per: 
ſonliche Arbeit und Zerbütung der Arbeitslofigteit 
ift die Aufgabe, an der Männer und rauen mit 
volltommen gleichen Rechten und Pflihten zu 
arbeiten baben. Aus dielem Grunde fordert fie 
das politiihe Stimmredt für die rauen, eine 


| beffere privatrecptliche Stellung, gleiche Biltunge. 


gelegenbeiten mit ben Männern. \mmer wird 
betont, daß bie Frau unter volllommen gleiche 
Arbeitsbebingungen zu ftellen jei wie ber Mann. 
Dementiprecbend fiel auch — troß heftiger Debatte 
— die Rejolution aus, die die Verſammlung im 
Anfhluß an den zweiten Vortrag von Marie 
Bonnevial, „Öleihheit der Entlohnung”, faßte. 
Die Rednerin forderte Ernennung von Fabrik. 
inipettorinnen zur Veauffihtigung der Frauen 
und Rinberarbeit durch ein ‚srauenfomitee, Ver. 
türzung der Arbeitözeit, uneingefchränttes Koalitionv- 
recht für weibliche und männliche Arbeiter, Gleich: 
beit der Entlohnung bei gleicher Yeiltung, und bie 





Der Berein „Ftauenwohl“ Jena 
bat vor kurzem einen Bericht über die von ihm 
begründete „Sauöpflege“ veröffentlicht. Sie ift nad 
dem Muſter der in Frankfurt, Berlin und Gotha 
bereits beftehenben Beranftaltungen begründet worden 
und verfolgt den gleichen Zweck wie diefe, nämlich 
die Entfendung einer Aushülfe in ſolche Haus 
bhaltungen, in denen die Hausfrau verhindert i 
ihren Pflichten nachzulommen. Die Hauspilege wird 
Armen unentgeltlich geleiftet, von beſſer Geſtellten 
wird ein Meiner Beitrag erhoben. Es wurden im 
Wefchäftsjahr 1898/1899 87 Pflegen geleiftet, die 
qufammen 317 ganze, 87 halbe Nflegetage und 
7 Nächte umfaßten. Ter Gemeinderat der Stadt 
Jena unterftügt dad Unternehmen durch einen 
jährlichen Zufhuß von 300 Marl. Der Borftand 
der Abteilung „Daußpflege“ beftcht aus folgenden 
Damen: Fran A. Neugeboren, Fräulein. Adermann, 
Frau Dr. Türk, Fräulein Snel und Frau Zmweg. 








Der Berein „Fraueuwohl“, Adnigsberg i. Pr., 
(Porfigende: Frau Pauline Bohn) veröffentlichte 
feinen zehnten Jahreöbericht. 
Vefriedigung auf die Ehrung hinweifen, die dem 
Xerein durb die Verwaltung der Stadt anläklich 
der 20. Generalverfammlung des Allgemeinen 
Deutfchen Frauenvereind zu teil wurde. Ein 


Er konnte darin mit , 


am Schluß bes Frauentages gehaltener Vortrag ' 


ven Fräulein Nice Salomon aus Berlin 
gab Peranlaffung zur Erweiterung des biöherigen 
Arbeitsgebietes des Vereins durch die Gründung 
fogiafer Hilfsgruppen. Cbenfo find infolge der 
(eneralverfammlung bie Befugnifie der aifen- 
pflegerinnen erweitert worden. Cs wurde cine 
Kommiifton vom Vorſtand eingefept zur Zorbe: 
reitung einer Kod: und Haushaltungöſchule für 
Frauen und Mädchen aller Stände. Tie vom 
Königsberger Yehrerinnenverein und vom Verein 
Frauenwohl begründeten Ghmnafialturfe wurden 
von 7 Bollichülerinnen und 7 Teilfchülerinnen 
befucht. Die Handelsfchranftalt und bie haus: 
wirtſchaftliche Fortbildungsſchule erfreuten ſich eines 
regen Beſuchs. Beſonders wichtig erſcheint die 
Thätigleit der Nechtöfepugfonmifften. Es wurde 
172 Perfonen in 177 Rechtsangelegenheiten Nat 
erteilt, 





Die ſchweizeriſche Pflegerinnenſchule mit 
Branenfpital 

in Zurich hat ihren dritten Bericht herausgegeben. 
Danach ift die Vorbereitung zu der großen vom 
Verein geplanten Organifation im beiten (ange. 
Exemplare des Berichte, der ſchon über die zu: 
fünftigen Ginritungen in mancherlei Beziehung 
orientiert, werden durch die Vorſitzende, Zr. Dr. ned. 
A. Heer, Untere Zäune 17, Zürich 1, verfandt. 


ui 


Bücherſchau. 


„generbiumen“, Roman von Adolf Wil: 
brandt. (Stuttgart, 1900. Verlag der I. ©. 
Cottaſchen Buchh. Nachf.) In der langen Reibe 
der Wilbrandtſchen Romane nimmt „Feuerblumen“ 
eine hervorragende Stellung ei 
Leiſtungen iſt's auf diefem Gebiet. „ieuerblumen“, 
dad find nad) Wilbrandt® Aamengebung die 
Menſchen, die in holdem Genießen und unthätigem 
Zuſchauen ihr Leben hinbringen — Untraut ben 
einen, fchönfter Schmud im Wenfchpeitägarten den 
andern. Und wieder eriveift fi) Wilbrandtö neuer 
Roman als Erzichungsroman. Die Erzichung einer 








eine feiner beften , 


folchen „geuerblume” gilt es, oder um das Bild , 


zu wahren, ihre Veredelung zu reichem, thätigen, 
bilfeträftigem Wenfhentum. Und diefe Erziehung 
gelehicht durch eine Frau. Wie in all feinen 


Romanen hat Wilbrandt aud in „seuerblumen“ , 


fein Menfcpheitsibeal geftaltet, diesmal in der Per: 


; im reicher Bildung — in Chriftgläubigteit und 





frommen ®ertrauen in die göttliche yügung auch 
Ein junger Mann wird durch diele Frau erzogen; 
Xiebe eint die beiden, die feeliih zueinander ge: 
bören und ſich doch nicht angehören dürfen; Yeiden: 
ſchaftsirren bleiben feinerfeit® nicht aus. Tann 
aber, nach ihrem Tode, findet er die Wege, die fie 
ihm Icbend vworgezeichnet hatte. Er findet feinen 
Frieden. An eine Sdhlle fpinnt er ſich ein, und 
ein Sonderlingsleben ift's, das er führt; aber zu: 
gleich cin Yeben des ftarten Wirken® im engen 
Areife und der Vethätigung des Adcals, das jic 
ihm lebte. Man findet den ganzen Wilbrandt in 
feinem neuen Roman. Ban mag es tadeln, daß 
feine neue Arbeit allzufchr die wohlbefannten 
Züge trägt, allgufehr in oft von ikım felbft 
befahrenen Geleiien fich bewegt. Aber wer ihm 
lieb hat, der wird fih freuen, ihn fo wieder: 





fönfichkeit jener Frau; ein Ideal in Thatlraft und ! zufinden. 


Die vierte Generafverfammlung bed Bundes beutfcher Frauenvereine. 6 


Konferenzen üblichen Formalitäten auf ein Mindeftmaß befchränft. Die unumgänglichen 
Formalitäten aber wurden raſch und ohne viele gutgemeinte, jedoch überflüffige Worte 
erledigt. Auch die feltenen und ftet3 ſehr furzen Debatten zur Geſchäftsordnung 
befundeten, wie Mar die Genoffinnen ſich der Notwendigkeit bewußt find, Zeit für 
die Tagedorbnung zu getvinnen, aber auch, welche Gewandtheit und Disziplin fie für 
die Verhandlungen mitbrachten.” 

Von Fräulein Augspurg fonnte ungefähr das Gegenteil gefagt werden. 
Sadli Hatte fie nicht? von befonderer Bedeutung beizubringen; in bezug auf 
rein Formales aber, das von ihr mit ungeheurer Wichtigkeit behandelt wurde, 
Gefchäftsordnung, Neubildungen innerhalb der Drganifation des Bundes, die erft in 
Hamburg eingehend revidiert worden war und in bezug auf ihre Leiftungsfähigfeit in 
der kurzen Gefchäftöperiode noch faum erprobt fein konnte, erwies fie fih als 
Dauerrebnerin. Geſchaftsordnungsmäßig mar dagegen nichts zu machen. Wenn 
jemand die Unverzagtheit befigt, zu jeder Frage, er mag viel davon verftehen oder 
wenig, zu ſprechen und die feftgefegten „zweimal zu jedem Gegenftand“ dahin aus: 
zunügen, daß möglihft zu einem halben Dugend Amendements, dann wieder zur 
Geſchaftsordnung, zur Richtigftellung und zu einer perfönlichen Bemerkung das Wort 
ergriffen wird, fo kann eine Gefcäftsordnung feine Handhabe dagegen bieten. Denn 
jede Geſchaftsordnung ift unter der Vorausfegung gemacht, daß man es mit Leuten 
zu thun hat, bie eine gemeinfame Arbeit wirklich wünſchen. Daß fie im Dienfte von 
Parteiintereffen zur Obftruftion gemißbraucht werden kann, zeigt die Praxis der 
Parlamente oft genug. Und der Parlamentarismus, wie er ſich räufpert und wie er 
fpudt, ftachelte den Ehrgeiz der „Partei“ zu fast kindlichen Leiftungen auf. Denn 
kindlich muß man es nennen, wenn in einer Frauenverfammlung, die ernfter Arbeit 
beftimmt ift, eine Anzahl von Teilnehmerinnen fich in aller Morgenfrühe die linken 
Pläge zu fihern fucht, wenn mit Dho! und Hört, hört! die Debatten begleitet werben, 
wenn alle formalen Angelegenheiten mit dem tödlichften Ernft und einer ſtlaviſchen Nach- 
ahmung parlamentarifcher Bräuche vollzogen werden, bie einen modernen Ariftophanes 
zu neuen Efflefiazufen begeiftern könnten. Denn es trat nicht nur der den Griechen 
allerdingd noch nicht bekannte Parlamentsfoler charakteriftiiih hervor — fo 
harakterifliih, daß eine anweſende feinfinnige Vertreterin der Frauenbewegung die 
Hußerung that: Wenn das fo weiter geht, fo bekommen wir aud) in der Frauen: 
bewegung den ganz fommunen Parlamentarismus von heute, bei dem es einfach heißt: 
„Dichäuter vor!” — fondern aud die fachliche Aufjaffung erinnerte an dad Rezept 
der Efklefiazufenweisheit: 

Nun fäume nicht länger und mad’ Did) ans Werk und erörtre die neuen Ideen. 

Wenn nur eilig es geht, dad erfreut fie zumeift und gewinnt Dir den Beifall der Menge. 
und: 

PERF von Regierungdmagimen erjcheint uns 

Nur die eine: „Das Neufte, das Beſte“ probat; alles Alte verachten wir gründlich. 

Und diefe Regierungsmagime ließ die Stellung der „Neuen“ und der „Alten“ 
im Lichte der finnigen Unterfcheidung „von Vereinen, die den Bund fügen und folchen, 
die von ihm geftügt werden” erfcheinen, ein Vergleich, der, wenn nichts weiteres, fo 
doch die naive Zufriedenheit mit ſich ſelbſt befundete. 

Parlamentarifche Formen find nötig und nüglih, mie ein gutes Statut und 
eine gute Geihäftsordnung nötig und nützlich find. Aber daf bei einem fehlechten 

5* 


Die vierte Generalverfammlung bed Bundes beutfcher Frauenvereine. * 


werfen zu laſſen, wie der Bund durch den Antrag Liſchnewska, ein Beweis dafür, daß 
man in jenem Lager das Wertverhältnis von Arbeit und Nefolutionen anders abichägt. 

Die einzige ganz entfprechende Antwort auf die Erwägungen im fozialiftiichen 
Lager hätte wohl in einem ruhigen vermehrten Entgegenfonmen von Vertreterinnen 
der Frauenbewegung, in ber fozialen That, gelegen. Diefe Empfindung teilten viele 
der Delegierten. Und daß man gerade diefen Weg zu beichreiten gewillt if, das 
bewies die Annahme des Gegenantragd Lange: Freudenberg, der biefen Weg 
betont und damit weit über das afademifche „wünfchenswert” hinausgeht. „Die 
vierte Generalverfammlung des Bundes beutfcher Frauenvereine erfennt bie Wichtigfeit 
einer Verfländigung zwifchen den Vertreterinnen der Frauenbewegung und der 
Arbeiterinnenbewegung an und empfiehlt, die Möglichkeit einer Verfländigung auf 
gemeinfamen Arbeitögebieten von Fall zu Fall in Betracht zu ziehen und zu fuchen.“ 1) 

Aber mit diefer Faſſung war der „Linken“ keineswegs gedient. In endlofen 
Debatten verteidigte fie ihren Antrag und beftand vor allem auf der Bezeichnung 
„ſozialiſtiſch“, obwohl wieder und wieder betont wurde, daß der Bund feine politifche 
Körperfchaft fei noch fein dürfe und daher eine parteipolitifche Bezeichnung in feinen 
Refolutionen weder anwenden fünne noch dürfe. Und es mar ein Höhepunkt der 
Diskuffion, ald zwei anweſende fozialiftifche Arbeiterinnen durch den Mund von Frau 
Profeſſor Krukenberg erflären ließen, daß ihnen an der Aufnahme des Wortes 
„ſozialiſtiſch“ in die Nefolution nicht? liege, fondern nur an der thatfächlichen An: 
näberung, eine Erflärung, die die „Linke“ nicht Hinderte, nach einem furzen Moment 
des Verblüfftfeins, plus catholique que le pape, bennod auf ber Aufnahme des 
Wortes „ſozialiſtiſch“ zu beſtehen. Es darf wohl ald ein gutes Zeichen für die 
richtige Beurteilung der Sachlage durch die Majorität der Delegierten angefehen 
werden, daß fie fih aus ber politifch:neutralen Stellung, die der Bund innezuhalten 
verpflichtet ift, nicht herausbrängen ließen. Sie haben damit die Stellung gerecht: 
fertigt, die der Bund von Anfang an eingenommen bat: die Arbeiterinnen find ihm 
von jeher von Herzen willkommen geweſen, gleichgiltig, zu welcher politifchen Fraktion 
fie fich rechneten, zu den Sozialdemokratinnen als ſolchen aber konnte er fein Ver: 
haltnis haben. Er hat damit feinerfeits genau denfelben Standpunkt innegehalten, 
wie die fozialiftiihen Führerinnen ihrerſeits von jeher und noch jegt in Mainz. Nach 
der Haren Zufammenfaffung der Verhandlungen von Henriette Fürth in den 
„Dokumenten der Frauen“ wurde betont, daß „von einem Zufammengehen mit 
der bürgerlichen Frauenbewegung als folder nicht die Rede fein“ könne. 

Es ift bedauerlih genug, daß auch diegmal die unzählige Male widerlegte Be: 
hauptung wiederholt wurde, der Bund habe die Arbeiterinnen zurüdgemwiefen. Sollte 
feiner Zeit wirklich eine mißverfländfiche Außerung gefallen fein, fo mußten die immer 
wieder gegebenen und auch diesmal wiederholten Erflärungen des Vorftandes genügen, 
um jede faljche Auslegung zu befeitigen. Unter gebildeten Menfchen pflegt die beftimmte 
Berfiherung, daß eine Sache, eine Meinung fo oder fo fei, zu genügen. Jedenfalls wird 
man in Zufunft nach der auch diesmal gegebenen bündigen Erklärung dad Recht haben, 
bei nochmaliger Wiederholung jener Unwahrheit von böswilliger Verleumdung zu fprechen. 


* * 
* 


1) Die endgiltige Faffung ſtrich — nicht ganz glüdfid, wie mir feinen will — bie Ber: 
treterinnen, fügte dem Wort Frauenbewegung „bürgerlichen“ hinzu und verftärtte auf Beranlaffung 
der Antragftellerinnen ſelbſt den Iepten Paffus durch den Ausbru: „nad; Kräften zu fudhen.“ 


Te en 71 


„Alſo 1900 iſt kein Schaltjahr. Paßt ja recht auf: es giebt keinen 29. Februar! 
Ihr werdet's wohl alle erleben, es iſt wenigſtens anzunehmen, ihr ſeid noch jung. 
Du, rechne flink einmal aus, wie alt biſt du dann?“ 

„Zwanzig Jahr!“ antwortete der Knirps, der ſeine vier bis fünf Jahre in der 
erſten Klaſſe abzuſitzen hatte. 

„Schönes Alter! Schönes Alter, 20 Jahre! — — Und du? — 22 Jahre? 
Na, das ift auch noch ganz ſchön; aber freilich 20 Jahre iſt's nicht mehr. — Und 
du, Kind, wie alt wirft du 1900 fein?“ 

„24 Jahre!“ lautete die gepreßte Antwort. 

„24 Zahre! Hm, hm! Das ift — ja — das ift ſchon ganz etwas andres — 
ganz jung ift das nicht mehr” — 

Die Tonabftufungen, das Hernieberfteigen von faft überſchwänglichem Entzüden 
zu bebauerndem Mißbehagen fagten mehr als die abgeriffenen Worte. 

Ein Mädel, das über feine 14 Jahre hinaus in der Schule geblieben war, weil 
es etwas Tüchtige lernen und werden wollte, verftedte ſich fchnell: es fchämte fich, 
im Jahre 1900 26 oder 27 Jahre zu zählen, fo alt, jo unweiblich alt zu fein. 

Stets, wenn ich höre, daß in einer Anzahl von Städten und in einer Anzahl 
von Volkeſchulen die Lehrerinnen prinzipiell von der Oberftufe ausgeſchloſſen werden, 
daß fie hin und wieder wohl Fachunterricht in der erſten Klaſſe erhalten, nicht aber 
zur Alaffenlehrerin heraufrüden dürfen, fält mir jener Tag und jenes feltfame Eramen 
ein. Es hat fymptomatifche Bedeutung, und die Symptome, die es zeigt, leben 
von Urſachen und erzeugen Wirkungen. Wären die Symptome unfruchtbar, Zudungen, 
deren Schwingungen das Subjeft umfpielen, ohne zum Objekt hindurchdringen zu 
tönnen, fie ließen ſich mit einem Achjelzuden abthun oder es genügte, ihre Erſcheinungs⸗ 
form wiederzugeben und unter die Iuftigen Geſchichten zu reihen. Aber fie pflanzen 
ſich fort und fuchen eine Begegnung, und nun fpringt das Dritte hervor, die Wirkung, 
die rüdficht8los und pfeilgrade ihren fihern Weg verfolgt. 

Diefe Wirkungen find das Erfte, Seite, Greifbare der Dreiheit, das jedem in die 
Augen fpringt, der die Heine Welt einer Madchenvollksſchule zu beobachten Gelegenheit 
bat. Beobachten ift zu viel gefagt für die einfache Wahrnehmung einer Thatfache, 
die wie Fett auf der Oberfläche ſchwimmt, wohin man auch ſchauen mag, und bie fich 
leicht abichöpfen läßt, felbft von den ungeübteften Händen. Die erfle Klafje ver- 
wandelt die Mädchen. Die Verwandlung vollzieht ſich nicht mit einem Rud, aber 
doch verältnismäßig fchnell; es gehen Zeichen voran, Heine Kämpfe, ein paar Zag- 
baftigkeiten und Unficherheiten, aber dann giebt’3 fein Hindernis mehr für die frifche, 
fröpliche Fahrt auf der neuen Bahn. Der Standpunkt der zweiten Klaſſe ift über: 
mwunden und der Ballaft fortgeivorfen, mit dem fie das Lebensſchifflein befchwerte. 
Die Mädchen beginnen fi zu fühlen, ſich jelber als etwas Reizvolles, Fertiges, fie 
fchreiten fed und felbftbewußt einher, ſtets durch ein Zuviel an Würde oder Lebendig- 
feit, an rüdfichtölofer Läffigkeit oder huldvoller Liebenswürbigkeit charakterifiert, das 
auf den Wahn Hindeutet, jederzeit ein Höchft intereffantes Beobachtungsobjekt zu fein. 

Der Ordnungsſinn drüdt ein Auge, oft beide Augen zu. Unter den Banken 
liegt der Papierfchnee zerriffener Blätter und wird durch dad Zimmer getragen; des 
Frühftüdspapierd und der Frühſtücksreſte entledigt man ſich nad) Belieben, wie e3 
dem freien Menſchen geziemt. Die eigene Perfon verliert fcheinbar nicht? bei diefem 
Ordnungsſchlummer, denn die Eitelkeit nimmt fid ihrer an und fucht durch Schleifen: 


Ausfchluß ber Lehrerin aus der Volksſchuloberklafſe. 73 


aufgerichtet in diefer ausſichtsloſen Enge fteht und in goldnen Zeichen lehrt: „Dein 
Leib ift nicht nur mehr als die Speife, er ift mehr als der Geift. Nur was fi mit 
den Händen begreifen läßt, gehört dem Leben, bringt Glüd, bringt Genuß. Mad 
deine Sinne nicht zu Thoren der Erkenntnis, es ift ein thörichtes Beginnen, das bie 
Zeit ftiehlt und die Kraft; fie follen Diener des Genufles fein; genießen heißt leben!” 

Aber daß die Gefahr da ift, daf fie etliche in ihre Wildnis gelodt hat, daß 
fie immer droßt und lauert, weil fie cbenfo gut inneren wie äußeren Urfprungsquellen 
entfließt, fchließt ihre fiegreiche Bekämpfung nicht aus. ES brauchte nicht jo zu fein, 
wie es ift. Diefelben Alteröftufen in einer tieferen Klaffe befigen die Hare Erkenntnis 
oder fügen fih der Erkenntnis des Lehrenden, daß das Leben eine Wanderfchaft ift, 
für die ein zerbrechlicher Steden nicht ausreicht, daß man fih Waffen zu jchmieden 
bat in der Jugend, weil diefe Waffen unentbehrlich find für das Leben, und daß die 
Natur uns diefe Waffen nicht fertig in die Hand drüdt. 

Das Hinzutretende, Bonsaußen-Rommende ift das Entfcheidende. Immer und 
überall giebt die Begegnung den Ausfchlag. ie zertritt die Funken, oder fie entfacht 
fie zur hellen Flamme; fie verbindet Wunden, oder fie reißt die Wunden auf. Der 
befte, der trefflichfte, der mit den erhabeniten Grundfägen gefättigte Unterricht, form: 
vollendet, methodifch exalt, von Begeifterung getragen und Überzeugung durchdrungen, 
entbehrt des erziehlichen Einfluffes ohne die richtige Begegnung, die Springwurzel, 
die erft erfchließt. 

Die Begegnung des Lehrers iſt das Sumptom, das uns in feine Seele ſchauen 
läßt, das wahrhaft Vorbildliche und darum Bildende. Nach allen Erfahrungen muß 
die Begegnung des Lehrerd und Schülers eine andere fein als die des Lehrers und 
der Schülerin, und wiederum eine andere die Begegnung der Lehrerin und der 
Schülerin. Aus der Begegnung, dem Erſchließungsprozeß, läßt fid) der Wandel der 
Schülerinnen ber Oberklaſſe erklären. 

Jener Reviſor ift ein Beifpiel für folche Begegnung. Als er dem Klaffenzimmer 
den Rüden kehrte, mußten bie Mädchen nicht nur, daß der 24. Februar der eigentliche 
Schalttag ift, ihre eigene Perfon war ihnen bis zu einem gewiffen Grade erjchloffen, 
in die richtige Beleuchtung gerüdt worden, in ihrer Bedeutung für die Welt und 
fomit für fie felber. Sie hatten gelernt, von einem Dann, der ihnen Autorität fein 
mußte: „Dein Wert ift die Jugend, drum erliſcht er mit der Jugend. Deine Jugend 
ift ein Aaußeres Prangen. Das ift dein hödjfle®, dein fchönftes, dein Loftbarftes 
Gut, aber es vergeht fchnell, es erwartet nicht einmal deines Körpers Blüte, feine 
Reife, es achtet deinen Geift als nicht® und Hört nichts von dem Stlingen deiner 
Seele. Iſt dieſes Prangen vorbei, dann bift du tief zu beflagen! Die Gefundheit 
des Leibe und der Seele, deine Kraft, die Arbeitd: und Schaffenskraft, deine Liebe, 
die dich zu Thaten treibt, deine Freude an der Natur, dein Wiſſensdrang, der dich 
zu Büchern zwingt, deine Religion, die did) mit Gott verbindet, was find fie denn? 
Was vermögen fie zu deinem wahren Glüd? Zie find ein trüber Neft, deine Sonne 
ift untergegangen.” Das batte die Begegnung erjchloffen. 

Ihre Bewegungslinie liegt parallel mit der, auf welcher eine Mehrzahl der 
Lehrer die ehrlichen, unabhängigen Grüße für ihre Mädchen pflüdt. Diefe Grüße, 
leicht hingeworfene Worte, müflen als ernfter, bedeutungsvoller, behaltenswerter und 
nachfolgeheifchender genommen werden als der Unterricht felbft mit feinem vielfach 
lebensfremden Stoff; denn fie gelten dem Mädchen, dem Weibe, ihm fpeziell und feiner 


Ausfhluß ber Lehrerin aus der Volksſchuloberklafſe. 75 


des Nageld Kopf träfe. Wie viel fchlimmer, wenn man einer Klafle, einer Gattung 
zuführen fol, was fie nicht braucht, was fie nicht fallen, nicht feſthalten ann. Hier 
öffnet fich eigentlich nur ein Ausweg, der, zu jagen: „Dazu gebe ich mich nicht ber, 
es ift Spiegelfechterei!" Selbftverftändlic) wird diefer Ausweg nicht gewählt, es hieße, 
fih in das eigene Fleiſch ſchneiden. 

Die Danaidenarbeit wird übernommen; fie beginnt. Die mißtrauijchen Augen 
erfpähen die Siebnaturen zuerft und ſchützen ſich flugs durch die Scheuflappen des 
eingewurzelten Vorurteils, der granitfeften Tradition, um bie andersartigen aus dem 
Gefichtökreis zu bannen. Der Unterricht finft. Lauheit, Gereiztbeit, Gleichgiltigkeit 
laſſen ihn verfumpfen. Die Mädchen, denen wie Schwacjlöpfen begegnet wird, ver: 
lieren den Glauben an ihre Lernfähigfeit, ihr Selbfivertrauen verfpurloft, fie ſchauen 
nun wirklich darein wie die Schwachköpfe. Kein Wunder! Sole Stunden find 
Verbummungsgymnaftil. Und doch aud nicht! Denn während das Flämmchen des 
einen tiefgefchraubten Dochtes, dem das Ol in [nunenhafter Karglichkeit zugeführt 
wird, nicht leben und nicht fterben kann, zünden fi die Hugen Kinder eigenmächtig 
ihre Lamplein an in Hirn und Herz, Gedanfen und Phantafie. Was fie da ſehen, 
teilen fie den Kameraden als gute Nachbarn mit; fie erleben viel, beiprechen viel, 
beſchreiben viel — Papier. 

Der Unterricht gleicht den Halligen, an denen das Meer reißt. Wer bezweifelt, 
daß fie untergehen müffen? Niemand! Aber e3 giebt auch niemand, der da behaupten 
würde, daß auf dem jeften Lande todgeweihte Inſeln ihres Schidjals harten. Diefe 
Unterricteftunden find fünftlihe Halligen; dem Zauberlehrling glei rief man bie 
Fluten. Sie erhalten ihre Namen, willfürlihe Namen, wie fie diefen Willkürsfluten 
gesiemen, durch die man die eigene Ehre rettet und mehrt! Mangel an Konzentration, 
Zerftreutbeit, Schwatzhaftigkeit, Oberflachlichkeit und dergleichen mehr am ſpezifiſch 
weiblichen Eigenfchaften. 

In der That, fie alle werden gerufen oder wach gerufen und immer wacher, fie 
ſchwellen zum tedften, toflften Übermut; jegt wagen fie fih aud an die forgfältig ein- 
gehegten Schonungen, der Verftöße werden immer mehr, und werben fie abgeichlagen, 
fo laſſen die Angreifer, bildlich gefprochen, Plakate zurüd, denen nicht unähnlich, die 
Joachim I. an feiner Kammerthür gefunden baben fol. 


* * 
* 


Quellenwanderungen find meift nicht ganz ungefährlich, aber fie haben ihren 
Wert. Die Wandlung fo vieler Mädchen fo mander Oberklaſſe mußte einmal bis 
zu einigen ihrer Quellen verfolgt werden. Alle konnten nicht aufgebedt werden, es 
find ihrer zu viele. Auch ſollte e8 eine Wanderung obne Fadeln fein, die man für 
gar zu dunkle Gebiete nötig hätte. Hier leuchtete trog allem die Eonne, die Sonne 
„treuer“, wenn auch enggefaßter, eigengefaßter, lediglich fubjektiver Pflihterfülung. 
Die Sommerwärme, die Frühlingshele geben diefer Sonne ab, fie Hat etwas 
Grämliches, Winterliches, faſt etwas Gegnerifches. 

Mädchen aber brauchen zu ihrer Erziehung ficher fo viel Wärme und Licht wie 
die Traube, die zu edlen Weine beftimmt ift; daher — 

Doch hören wir einen Mann, ehe wir übereilte Schlüffe ziehen. 

Am 3. Oktober dieſes Jahres erklärte laut Zeitungsbericht Lehrer Hing in ber 
9. Provinzialverfammlung des Verbandes katholiſcher Lehrer Weftpreußens, „die 


Das Fahrzeug der Zukunft. Kl 


weil nicht nur feine Knochen, fondern aud manche andere Hohlräume feines Körpers 
mit Luft gefühlt find, die fein Gewicht bedeutend erleichtert. Kommt hinzu, daß die 
Bruſtmuskeln beim Vogel viel ftärker im Verhältnis find al3 beim Menfchen. Die 
befannten Verſuche Lilienthal mit feinem fledermausflügeläßnlichen, von Spitze zu 
ES pige 7 Meter meflenden Apparat haben nur bewichen, daß es möglich iſt, beim Anlauf 
gegen mäßigen Wind mit einem folchen über die Arme gejchobenen Apparat ſich eine 
Strede weit — Lilienthal erreichte einige hundert Meter — in der Schwebe zu halten. 
Als er ſich im Auguft 1896 mit einem neuen, etwas größeren Apparat einer zu ftarken 
Luftſtiömung anvertraute, verlor 'er die Herrſchaft über feine Flügel und ftürzte von 
dem 30 Meter hohen Hügel, den er eigens für feine Schwebeverfuche errichtet hatte, ſo 
unglüdlich ab, daß er den Verlegungen bald darauf erlag. 

Die Nachfolger Lilienthals haben ſich im wefentlichen mit Heinen Modelapparaten 
begnügt, aber Wife in den Vereinigten Staaten und Baden-Powell in England haben 
doch auch des öfteren ſchon fich felbft ihren Apparaten anvertraut, die in diefen Fall 
nicht Flügel nad Art der Vögel oder Fledermäufe, fondern Drachen waren, und ver: 
mochten fi damit bis zu einer gewiſſen, freilich noch ſehr befcheidenen Höhe empor: 
heben zu laſſen. Die Form des Drachens, namentlich die des malayiſchen, der bei 
gleicher Höhe breiter ift als das bei uns beliebte Spielzeug und ald Gerüft ein Kreuz 
mit fligbogenartig gebogener Duerftange hat, bietet jedenfalld die Möglichkeit, eine 
Flugmaſchine, fofern fie erft einmal genügend hoch gekommen ift, dauernd in der 
Schwebe zu erhalten, indem gewölbte und in beſtimmtem Winkel geneigte große Flächen 
als Tragflächen wirken. Denn beim Schwebeflug, auch der Vögel, kommt es, wie 
Langley nachgemwiefen, darauf an, daß zwiſchen der horizontalen Geſchwindigkeit des 
Windes und der des fliegenden Körpers ein genügender Unterfchied vorhanden ift. 
Haben fi beide Geſchwindigkeiten ausgeglichen, fo braucht die Tragfläche nur in eine 
andere Lage gebracht zu werden, um den nötigen Unterſchied wieder herbeizuführen. 
Lilienthal Hatte dad bei feinen Verfuchen wohl verwertet, indem er bei plöglichen 
Windftögen den Schwerpunkt feines Körpers zu verlegen fuchte. Wirklich gefichert 
wird aber die Tragfähigkeit einer ſolchen gewölbten Fläche erft durch einen beftimmten 
Grad von Geichwindigfeit, mit der fie vorwärts bewegt wird. Ye größer dieſe 
Geſchwindigkeit, deflo ficherer Hält ſich die Tragfläde in den Lüften. Die Drachen 
fliegen deshalb fo hoch in die Luft, — die vom Blue Hill-Obfervatorium erreichen 
durchinittlich eine Höhe von 2400 Metern, ein am 28. Auguft v. 38. auf: 
gelaffener ftieg fogar bi® 3600 Meter — weil ihnen vom Erdboden aus eine 
bedeutende Vorwärtöbewegung gegeben wird, die alebald den Auftrieb zur Folge hat. 
Und diefe Vorwärtsbemegung, die der fpielende Knabe dadurch erzielt, daß er 
mit feinem an der Leine gehaltenen Drachen eine tüchtige Strede läuft, müßte 
bei Dradenfliegern, die Laften tragen jollen, durch Majcdinenantrieb erzeugt werden. 
Die Tragflähe müßte einen Motor befommen, der cin jehr geringes Gewicht 
bei fehr großer Leiftungsfähigfeit aufweiſt. Daran hapert's aber gerade, wenn man 
aud in den legten zehn Jahren ungeahnte Fortſchritte auf diefem Gebiete gemacht 
hat. Galt früher ein Gewicht von 25 Kilo bei Dampfmafchinen, von 40 Kilo bei 
Benzin und Petroleummotoren ald das Minimalgewicht zur Erzielung einer Pferdes 
kraft, fo hat neuerdings Hargrave in Auftralien eine Dampfmaſchine von nur fünf Kilo 
pro Pferdekraft konftruiert, und Langley in Amerika hat eine Eleine, allerdings nur eine 
Pierdefraft erzeugende Mafchine zufammengejegt, die mit Kefjel ſogar nur 7 englifche 


Das Fahrzeug der Zukunft. Li) 


Die „Feuerluft“ erfegte kaum ein Vierteljahr nach Montgolfierd Erperiment der 
Phyſiler Charles durch den noch viel leichteren Waflerftoff, mit dem als dem leichteften 
aller bekannten Gafe noch heute die Luftballons gefüllt werden, und fchon im November 
des Erfindungsjahres unternahmen zwei beherzte Männer, Pilätre de Rozier und 
der Marquis d’Arlandes, den erften Flug in die Wolfen. Zwei Jahre fpäter, am 
7. Zanuar 1785, volführte Blanchard feine berühmte Luftfahrt über den Kanal von 
Dover nad) Calais; 1794 fand die erfte Anwendung eines Feffelballons für mili- 
tariſche Zwede in der Schlacht bei Fleurus ftatt, und 1803 unternahmen Robertfon 
und Lhoeſt von Hamburg aus den erften Luftflug zu wifienfchaftlichen Zweden. Bei 
einer ſolchen Fahrt, die ihn 7000 Meter hoch trug, fonnte der berühmte Gay-Luſſac 
feftitelen, daß die Luft in biefen hohen Negionen diefelbe relative Zufammenfegung 
bat, wie in den tiefften Schichten. Die höchſte Höhe erreichte im Ballon der engliſche 
Meteorologe James Glaiſher, der von 1861 biß 1866 zufammen mit Corwell nicht 
weniger als 30 Luftfahrten unternommen hat. Ungefähr dieſelbe Höhe erreichte 
Dr. Berfon mit dem deutichen Ballon „Phönir“, mit dem er bereit, meift in Gemein: 
ſchaft mit Hauptmann Groß, einige 50 Fahrten volführt hat. 

Solche Hochfahrten machten mit dem Element, das einmal das unferer Verkehrs: 
wege zu werden berufen fein mag, gründlich vertraut. Man ftellte feit, dab man ſich 
bis zu einer Höhe von 3000 Meteyn noch unter allen Umftänden leidlich wohl fühlen 
tann, meift noch bis 5000 Meter. Empfindliche Perfonen beginnen zwiſchen 3000 
und 4000 Meter zu leiden, darüber hinaus macht ſich der Einfluß der Kälte, die 
Dr. Berfon bei 7000 Meter auf — 30° gemefjen hat (Negiftrierbalons haben fogar 
bei 14000 Meter Höhe bis 80° Kälte verzeichnet), und der verdünnten Luft auch 
für ſtarke Nerven unangenehm bemerkbar, der Atem geht ſchnell und heftig, das Herz 
pocht ftürmiich, die Kräfte laffen bis zur völligen Ohnmacht nach, fein Glied gehorcht 
Ichlieglih mehr dem Willen. In Höhen von 7000 Metern und darüber hiljt auch 
die künſtliche Einatmung von Sauerftoff nicht mehr, die ſich ſonſt als ficherfted Gegenmittel 
gegen einen Zuftand erwiefen hat, der völlig identiſch ijt mit der gefürchteten Berg: 
krankheit, jener merkwürdigen Erſcheinung, die den Hochtouriſten befällt, ſelbſt den 
gelbten Bergfteiger, und die ſchon ein Paraceljus bejchrieberi hat. Die „Soroche“ 
nennen fie die Chilenen in den Gordilleren. Merkwürdigerweiſe tritt fie in den Alpen 
an gewiſſen Abhängen, wie dem Montblanc, die auch von den Bergführern befonders 
gefürchtet find, ftärfer auf als an andern, und dort ſchon in Höhen wenig über 
3000 Meter, während im Himalajagebirge noch in einer Höhe von 4500—4900 Meter 
Ortſchaften dauernd bewohnt find. Auch in den Cordilleren. Entipricht doch die Lage 
der Stadt Potofi in Bolivia der Höhe des Jungfraugipfel® (4170 Meter), und die 
peruanifche Gordillereneifenbahn pafiiert gleih den großartigen Kunftftraßen der alten 
Inkas Höhen von 4760 Meter. ebenfalls liegen alle diefe höchſten Wohn: und 
Arbeitzftätten noch unterhalb 5000 Meter, der Grenze, über die hinaus der Sauer: 
ftoffmangel empfindlich bemerkbar wird. Wir werden alfo, follte der Luftballon wirklich 
das Fahrzeug der Zufunft werden, dafür zu forgen haben, daß er jtet3 unterhalb 
diefer gefährlichen Grenze bleibt. Andree kam auf den Gedanken, den Ballon in 
einer ganz beftimmten Fonftanten Höhe über der Erde zu erhalten durch ein herab: 
hängendes und mit feinem möglichft rauhen Ende auf der Erde fchleifendes Schleppfeil. 
Will der Ballon Höher fleigen, als er foll, fo wird er, abgejehen davon, daß das 
rauhe Seil fein Steigen ohnehin jchon durch den Reibungsmwiderftand zu hemmen 


Das Fahrzeug der Zukunft. 8 


lichen Stärke bei möglichfter Leichtigkeit fein, um gegen jede Luftftrömung anzufämpfen, 
dann thäte man, wie ſchon Renard 1890 erklärte, beffer, zum dynamifchen Flug über: 
zugehn. Denn am Ende bedeutet die rein dynamiſche Luftſchiffahrt doch erft die 
volle Löfung des Problems, das ſchon der Phantafie des alten Homer vorgeſchwebt 
bat, als er die Geſchichte von Daidalos erzählte, deſſen Sohn Ikaros ſich die funft- 
reichen Flügel leider an der Sonne verbrannte, aljo daß er ind Meer abflürzte und 
elend ertrant. Als Übergangsftadium mag die Flugmafchine einftweilen noch in 
Verbindung mit dem Lufballon bleiben, um jene teilmeife zu entlaften; Drachenfläche 
und Segel werden dann immer größer werden und ber Ballon in dem Maße 
Heiner, bis er ganz überflüffig geworden fein, und der Daidalos der Zukunft allein 
auf feinem Drachenſchiff frei durch die Lüfte ſchweben wird. 

Daß aber auch Sohn Ikaros nicht fehle in diefem Zufunftsbilde, dafür hat ein 
Phantaft unferer Tage geforgt. Kerr Hermann Ganswindt in Schöneberg bei Berlin, 
der bald ernft, bald nur mehr humoriſtiſch zu nehmende oflpreußifche Erfinder, bat 
dem beutfchen und dem ruſſiſchen Kaifer ein Buch unterbreitet, in dem er den beiden 
Monarchen die Löfung der fozialen Frage verfpricht durch nichts Geringeres als die 
Anfieblung der überflüffigen Menfchheit auf Mars und Venus. Nichts leichter für 
Herrn Gandwindt ald die Reife durch den Weltenraum zu den Nachbargeftirnen. Er 
nimmt eine beſonders fonftruierte Dynamitpatrone und fchießt damit einen großen 
Stahlbod, an dem eine cylindriſche Stahlgondel mit zwei Reifenden — Weltreifenden 
im tühnften Sinne des Wortes! — befeftigt ift, in die Höhe. Iſt die lebendige Kraft 
des Blocs erichöpft, erfolgt automatifch eine neue Erplofion, welche die durch die 
erfie Exploſion erlangte Fahrgefchwindigfeit verdoppelt. So geht es fort, bis man in 
circa 23 Stunden auf dem Mars oder der Venus ift. Und ein Lemberger Profeffor 
zechnet dem fühnen Erfinder allen Ernſies in der „Zeit“ nad, daß nur 421 Kilogramm 
Nitroglycerin auf einen Schlag verbrannt zu werben braudten, um die Ganswindtſche 
Rakete mit ihrem menſchlichen Inhalt bis an die Grenze der Atmoſphäre zu ſchleudern, 
wo fie dann zunächft wie ein Trabant, ein fünftlicher Liliputmond um die Erde freifen 
würde; in dem widerfiandslofen Mittel außerhalb der Atmofphäre wäre es dann ein 
Leichte, beliebig in den Anziehungsbereich eines andern Geſtirns oder auch zurüd in 
den der Erde zu gelangen und an jeder erwünfchten Stelle zu landen. Leider haben 
weder Herr Ganswindt noch der Profeffor daran gedacht, daß ein Geihüg, das dem 
nötigen Gasbrude bei der Exrplofion einer ſolchen Sprengftoffmenge zu mwiderftehen 
vermöchte, unmöglich berzuftellen ift, und fo wird es wohl fein Bewenden dabei haben 
müffen, daß wir und mit dem dynamischen Flug in Wolfenhöhe begnügen und auf den 
„dynamitiſchen“ über die Erdatmofphäre hinaus verzichten. Hätten wir jenen nur erft 
verwirklicht. 


Blinde Klippen. . 88 


„Schade nur, daß niemand es verfteht,“ 
fagte Nymark lächelnd. 

„Bann haben die Menſchen eine größere, 
höhere Wahrheit fogleich verftanden? Es find 
bald zweitaufend Jahre vergangen feit Aufs 
tauchen des Chriftentums; haben fie bis zum 
heutigen Tage gelernt, es fo recht zu ver 
ftehen?” 

Auf diefe Frage kann ich nicht antworten. 
Was ich wünfchte, wäre zu wiſſen, mas Ibſen 
im Grunde wi. Bisher hat der Liberalismus 
ihm gepaßt, nun verwirft er auch dieſen.“ 

Weil er fieht, wohin bie Freiheit führt, 
wenn nicht eine geiftige Veränderung mit dem 
Menſchen vor ſich geht. Ibſen ift eben darum 
der mächtigfte Geift unſerer Zeit, weil er 
ihre Mängel, Verirrungen und Bebürfniffe 
tiefer und klarer ald irgend ein anderer 
erfaßt. Und im Grunde genommen verwirft 
er nicht die Freiheit, fondern er befämpft nur 
Zügellofigkeit und Leichtſinn.“ 

„Und dann geht er hin und fnetet bie 
Eittenlehre in die Kunſt ein. Nein, Gott 
behüte uns, es ift befier, jedes Ding hübſch 
zu feparieren. Laßt die Kunft Kunſt bleiben, 
die Wiflenihaft Wiſſenſchaft und die Ethik 
Ethil.“ 

„Ich bin anderer Anſicht. Ich glaube, 
daß nur der Menſch harmoniſch und geſund 
werden kann, der das Reſultat der Entwidlung 
nicht nur von ber einen, ſondern auch von der 
weiten und britten Geite fi einzuverleiben 
verfteht. Und Lönnen fie in berfelben Seele 
Platz finden, marum dann nicht auch in dem: 
felden Wert? Darin liegt die große Be: 
deutung der Dichtlunft unferer Zeit; denn ob 
mit größerer ober geringerer Klarheit, immer 
ftrebt fie doch nad) diefem Biel.” 

„Ohne Erfolg; denn die Kunft gebt feinen 
Bund ein, am menigften mit der Religion.” 

„Warum nit?” 

„Weil fie dann ihre Lebensbebingungen 
einbüßte: Freiheit und Natürlichkeit.” 

„Irrtum! Nicht der religiöfe Geift, bie 
Dogmen fefjeln die Freiheit und Natur. Er 
dagegen veredelt und reinigt, erhebt und abelt 
beide.” 

„Und errichtet Grenzpfähle.” 

„Nur wo fie nötig find,” fagte John 
lächelnd. „Und eigentlich find es feine Grenz: 





pfähle, fondern Warnungszeichen vor blinden 
Klippen und anderen gefährlichen Stellen.“ 

„Blinden Klippen — ?” 

„Worüber bebattiert ihr?” fragte Alma 
im Eintreten. 

„Wir find hoch über den Mollen, Frau 
Karel. Cie kommen zu rechter Zeit, uns zu 
erinnern, daß es viel Schönered und Herr 
licheres bier auf Erden giebt, ald da droben.” 

„Erinnere ih Sie daran?” 

„Man fühlt es in Ihrer Nähe.” 

„Angenehm zu hören. Und unfer Bürger: 
meifter? Iſt er auch droben in den Wollen 
verſchwunden ?“ 

„Gott behüte! Nein, der ſitzt dort auf 
der Veranda. Lagander! In deinem Häuschen 
brennt's! 

Der Buürgermeiſter zeigte ſich, mit dem 
Taſchentuch die Stirn trodnend, in der Thür. 

„Schon? Ya, e8 ift wirklich gehörig warm.” 

„Kommen Eie und fühlen Sie fi mit 
einer Tafje heißen Kaffees.” 

Zagander lachte und folgte der Einladung. 

„Buerft mit heißem Kaffee und dann mit 
Reifenmwerfen ?” 

„Ganz richtig.” 

„Frau Karel,” fagte Nymark, „da wir eben 
von Litteratur Sprachen, mörhte ich gern hören, 
was Sie über Zola denfen.” 

„Garnichts. Ich habe nichts von ihm 
gelefen und kenne ihn alfo nicht.” 

Nicht? Iſt's möglich? Ober ift das fo 
zu verftehen, daß Eie ihn aud nicht kennen 
wollen?” 

„Darauf fann id erft antworten, wenn 
ich erfahren habe, wie er iſt.“ 

„Erlauben Eie, daß ich Ihnen einige feiner 
Arbeiten bringe?“ 

„Gern. Aber ift er fo, mie man fagt, 
fo kann es leicht fein, daß ich nicht über ein 
paar Seiten hinausfomme.” 

„Sie werden nit umhin fönnen, feine 
Bücher zu lefen, wenn fie einmal auf Ihrem 
Tiſche liegen. Man muß fie bewundern, denn 
fie find Natur von Anfang bis zu Ende. 
Und die Natur wird gezeigt in ihrer ganzen 
Häßlichfeit, in allen ihren Erſcheinungsformen, 
die ohne Ausnahme dargeftellt find als gleich 
berechtigt, gleich frei, gleih bedeutungsvoll. 
Nichts wird verftedt, nichts verheimlicht.” 

6* 


Blinde Klippen. 


Nähe die rofige Reinheit ihrer Haut und bie 
weiche Rundung der Formen bewundern fonnte. 
Und es fiel ipm bisweilen ſchwer, die Ge: 
danken hinlänglich zufammenzuhalten, um an 
dem Gefpräd ber übrigen teilzunehmen. 

John und Lagander fprahen von den 
Landtagswahlen. In den meiften Städten 
hatten die Schwwebifchgefinnten gefiegt, obwohl 
die Etimmenffala begrenzt worden. Lagander 
donnerte gegen die Echmebifchgefinnten und 
nannte fie „Tellerleder”. John fuchte ihn zu 
beruhigen. 

„Es ift unfer eigener Fehler,“ fagte er. 
„Bir Nationalgefinnten haben nicht genug 
Energie und Kraft. Die Schwediſchgeſinnten 
halten zufammen, das ift natürlih. Aber fie 
hätten nicht fiegen fönnen, wenn wir wachſam 
geweſen wären.” 

„Wer fann mit ihnen fonkurrieren? Cie 
haben das Kapital auf ihrer Eeite, und fie 
halten alle höheren Amter. Da fann man 
fich leicht blähen.“ 

„Aber die Kraft iſt ja doch auf unſerer 
Seite, denn wir haben das ganze Volk 
hinter und.” 

„Das Volt iſt noch nicht dazu erwacht, 
feine Rechte zu verteidigen.” 

„Es wird zu rechter Zeit erwachen. Rom 
wurde nicht an einem Tage erbaut.” 

„Jawohl, alles braucht feine Zeit. Frau 
Karel, das erinnert mich an unfer Gefpräd 
vom letztenmale.“ 

„Wiſſen Eic, daß ich oft daran gedacht 
babe und befonvers in dieſen legten Tagen?” 
fagte Alma lächelnd. 

„Wirhlich?“ 

Er blickte Alma forſchend in die Augen 
und begriff, daß fie beide auf dasſelbe hin— 


zielten, nämlich auf ihr Ichtes Gefpräd von 


der Liebe zwiſchen Mann und Weib. 

„Räumen ie vielleiht ſchon ein, daß ih 
ein wenig recht hatte?“ 

„Noch nicht.” 

„Rom wurde nicht an einem Tage erbaut, 
und alte, eingewurzelte Gewohnheiten find 
nicht auf einmal auszurotten,” fagte Nymark 
lächelnd. 

„Aha,“ rief Zagander aus, „ich weiß ſchon, 
wovon Sie reden.” 


Alma errötete leiht. Cie hätte unter 





8 


feinen Umftänden das Gefpräh vor ihrem 
Manne wiederholen mögen. 

Nymark bemerkte ed und fam ihr ritterlich 
zu Hilfe. 

„Nun natürlid) davon, daß Frau Karel 
unter feiner Bedingung am Geſellſchaftsleben 
Anteil nehmen will.” 

Ihre Augen begegneten ſich wieder, und 
die Blide beftätigten einen Heinen, heim— 
lichen Bund. 

„Karel, ſteh' uns bei,” fagte Lagander, 
„und fage deiner Frau, daß fie wirklich in 
diefer Sache ihre Anſicht ändern muß.” 

„Es lebe die Freiheit!” fagte Karel. 

„Bravo!“ rief Nymart, „an dieſes Wort 
halte ih mid. Von deiner Ecite ift alſo 
fein Hindernis zu fürdten, fobald deine Frau 
einwilligt 2” 

„Natürlich nicht.” 

„Und du nimmft es auch nicht übel, wenn 
id ales mir Mögliche thue, um ihre Zu: 
ftimmung zu gewinnen?“ 

„Gott bewahre!” fagte Karell lächelnd. 
„Ich gebe dir volle Freiheit.” 

„Hören Sie, Frau Karel?” 

„Ich höre.“ 

Alma beugte ſich über ihren Teller. John 
fümmert fi nicht darum, dachte fie; er würde 
es ſich faum zu Herzen nchmen, wenn id) mich 
in einen anderen verliebte. 

Nymark beivunderte ihr feines Nadenhaar, 
das ſich in Löckchen auf den weißen Hals ringelte. 

„Was meinen Sie, Frau Karel! Wird 
es mir gelingen?” 

„Dan kann ja den Verſuch machen.” 

„Sie lächeln. Das giebt mir Hoffnung. 
D, Sie haben nicht das Herz, nein zu fagen.” 

„Aber warum? Ich frage es noch einmal. 
Ih werde zu feines Menſchen Vergnügen 
beitragen.” 

„Darüber lafjen Sie andere entſcheiden,“ 
fagte Lagander. 

Cie ftanden vom Tifde auf. Nymark und 
Alma traten auf die Veranda hinaus. 

„Sie werden zu feines Menfhen Freude 
beitragen, meinen Sie?” fragte Nymark leife, 
ſich zu Alma hinabneigend, die fih auf feinen 
Arm ftügte. „Sagen Sie lieber, daß Eie an 
feinem Menſchen Freude haben. Eie, die 
Sie fih um feinen fümmern.” 


Blinde Klippen. 


lich Böfes darin? Auf Gegenliebe hatte er 
ja von allem Anfang an nicht hoffen dürfen. 
Jedenfalls würden feine Gefühle ſich innerhalb 
der gebührenden Grenzen halten müffen, denn 
Alma befaß ja einen mädtigen Schuß in ihrer 
Xiebe zu John... 

Und nichts hinderte fie, freundlich gegen 
Numark zu fein oder mit ihm zu verlehren. 
Er war angenehmer und Iuftiger ald andere 
Herten, allerdings etwas leichtfinnig, aber was 
lag daran! Im gefelfchaftlichen Leben ſchadet 
das ja nichts ... 

Außerdem hatte er beſonders eine gute 
Seite: er war dankbar für jeden kleinſten 
Beweis ihrer Gunft. Wie überglüdlich würde 
er fi mit nod fo wenig Gegenliebe fühlen! 
Ganz anders ald John! .. . 

Mina kam und bat fie, hereinzufommen. 
Helmi meinte und tar nicht zu befchwichtigen. 


„Ich meine, fie fchliefe vielleicht beſſer bei ! 


der Frau ein,” fagte fie. 
Alma ging ‘hinein, öffnete die oberjten 
Knöpfe ihres Kleides und legte ſich aufs Bett. 


„Wollen Sie fich nicht gleich ſchlafen legen?“ 


fragte Mina, „es ift ja ſchon fpät.” 

„Noch nicht. Bringe Helmi her!” 

Kaum lag Helmi an der Mutter Bruft, 
fo hörte fie auf zu weinen. Nachdem fie ihren 


Hunger geſtillt, lag fie ganz zufrieben da, fah | 


zur Mutter auf und lächelte. Aber die Mutter 
lächelte nicht Antwort, wandte ihr nicht ein= 
mal den Blid zu. 

Helmi fah eifrig zur Mutter auf und fügte 
„gää“, um ihre Aufmerkſamkeit zu weden. 

„Schlafe nur fon,” fagte Alma etwas 
ungebulbig und gab ihr wieder bie Bruft. 

ALS Helmi eingefehlafen war, erhob Alma 
ſich vorſichtig, ſchloß das Kleid und ging auf 
die Veranda hinaus. Es war ftill und dunkel. 
Zwiſchen den herabgelafienen Gardinen von 
Johns Fenfter glänzte Lichtſchein. 

Sie faß auf derfelben Stelle, wo fie am 
Tage gefefien, während Nymark ihr das Garn 
gehalten. Sie lehnte ſich gegen bie Rüdlehne, 
legte die gefreuzten Hände in den Schoß und 
ftredte die Füße aus. 

So tief war fie in Träume verfunfen, 
daß fie nicht fah, wie das Licht aus Johns 
Fenſter verſchwand, und nichts hörte, bis er 
neben ihr ftand und fagte: 


„Zigeft du immer nod ba?” 

Alma zudte zufammen und warf einen 
ſcheuen Bid auf ihn. John lächelte. Eelbft 
das legte, bittere Gefühl vom geftrigen Tage 
verſchwand, wenn er überhaupt noch ein foldes 
gehegt. 

Alma war ſo entzückend in ihrer halb⸗ 
liegenden Stellung. In der Abenddämmerung 
erſchien ihr Geſicht bläſſer als gewöhnlich, 
aber zugleich auch rührend ſchön. 

„Komm, Liebchen!“ flüſterte John und 
nahm ihre Hand. 

Gehorfam folgte fie ihm hinein. 

Und obgleich fie nichts ſprachen und feine 
Auseinanderfegung zuftande fam, fand doch an 
jenem Abend eine vollftändige Verföhnung 
zwiſchen ihnen ftatt. 


V. 

Hiernach war Alma einige Tage ruhiger 
geſtimmt. Die Überſiedelung gab ihr auch 
vollauf zu thun, und dann war wieder die 
Wohnung in der Stadt in Ordnung zu bringen. 
Es war feine Zeit, an amberes zu denken, 
wenn man bis zur Ermüdung arbeiten mußte. 

John hatte wie ale Männer ein Grauen 
| vor tiefen großen, häuslichen Eäuberungen. 
So oft fie in Ausficht ftanden, ergriff er 
jederzeit die Flucht; fo aud) nun. Alma fah 
es diesmal mit Vergnügen. 

„Geh nur,” fagte fie, „dann können wir 
bier alles ordentlich abmachen.“ 

John warnte fie nur noch, feine Papiere 
anzurühren — und ging. 

Der Salonboten war noch nicht geſcheuert. 
! Dahin trug nun Alma alle Topfgewächſe, 
überfprigte fie mit Waſſer, wiſchte bie Blumen 
töpfe rein, ſchnitt die trodenen Blätter ab 
und glättete die Erde obenauf. 

Eie hatte nur ein rotlarriertes Morgenkleid 
an, und das Haar war unter der Bewegung 
berabgeglitten. 

Ta fam gerabe fo recht zur Unzeit Nymark. 

Es verbroß Alma ein wenig, aber fie ud 
ihn doch ein, in das Zimmer ihres Mannes 
zu treten, das ſchon aufgeräumt war. 

Um feinen Preis, er wolle nicht ftören. 

„Aber darf ich Ihnen denn nicht bier zus 
fehen? Zie pafjen jo gut unter die Blumen, 
| Eie, die Sie ſelbſt zu ihnen gehören.“ 





Blinde Klippen 


fo gelingt es uns ſchließlich, ihn zu ver⸗ 


jagen.“ 

„Topp! Wir wollen einen Bund ſchließen. 
Und wir wählen Cie zum Chef. Wann fol 
der Kampf beginnen?” 

„Heute Abend.” 

„Und auf welche Art?“ 

„Bir wollen auf das Feuerwehrfeſt gehen. 
Ih fam eben, um Sie an Ihr Verſprechen 
zu erinnern.” 

„Ab, Sie haben alfo daran gedacht?” 

„Ich habe es feinen Augenblid vergefien.” 

Diefe Worte wurden von einem Blid 
begleitet, der Alma erröten machte. Aber fie 
fagte: „Natürlich bleibe ich bei dem, mas ih 
einmal beſchloſſen.“ 

Ihrer fpäteren Entſchließungen erinnerte 
fie fih ſchon gar nicht mehr. 

„Wirtlih? Und ih dachte ſchon, Sie 
hätten es bereut.” 

Alma lachte ein wenig verlegen. Aber fie 
wurde ihrer Antwort enthoben, denn in biefem 
Augenblid trat John ein. 

„Gebft du heute Abend auf das euer: 
wehrfeſt, John?“ fragte Alma. 

„Ich Tann nicht,” fagte er, fi in den 
Lehnſtuhl neben fie fegend; „ich babe Sitzung 
der Gemeinberäte.” 

„Wäre es fo gefährlid, wenn du einmal 
da ausbliebft?” 

„Es liegen heute wichtige Fragen vor. 
Und um die Wahrheit zu fagen, ich habe aud) 
feine Zuft zu dem ganzen Feſt.“ 

„Das ift es eben.” 

Alma ſah Nymark melancholiſch an. 

„Kommen Sie doch wenigſtens,“ ſagte er. 

„Ja, du kannſt ja gehen, wenn du Luſt 
Haft.“ 

„IH brauche auch wirklih einige Zer- 
ftreuung. Kein Menſch hält das in Ewigkeit 
aus, nur kochen und Kinder warten.” 

Alma fah vor fi nieder und zupfte nervös 
an einer Ede ber Tiſchdede, die ihr in die 
Hand geraten war. 

„Es hindert did ja niemand, in dieſer 
Hinficht deinem eignen Willen zu folgen,“ 
entgegnete John ernſt. 

Er ftand auf und ging in fein Zimmer, 
ehe Alma etwas erwidern konnte. 

„Es hindert dich niemand!“ Alma lämpfte 





8” 


mit den Thränen. „Das weiß ich mohl. 
Aber doc wird es übel aufgenommen.” 

Wer nimmt es übel auf? Sie felbft.” 

„Nein, nicht ich, fondern John und alle 
Leute.” 

„Das ift nicht richtig, Frau Karel. Und 
thäten fie es felbft, was brauchen Eie fih 
darum zu kümmern?” 

Unaufgaltfam drangen die Thränen aus 
Almas Augen. Ein wenig verlegen brüdte 
fie ihr Taſchentuch gegen ihr Geſicht. 

„Wie kindiſch ich bin!” 

„9a, wahrhaftig. Wann werden Eie fih 
von dieſen altmodifchen Anfhauungen foweit 
befreien, daß Sie es wagen, die friſche, freie 
Zuft zu atmen?” 

„Dann würde ich vermutlic) die Beteiligung 
am Gemeinderat und Landtag anftreben, wie 
andere energifche Frauen unferer Zeit.” 

„Mein, Gott behüte, lajjen Eie das ben 
Alten und Häßlichen. Ihnen bietet das Leben 
ein ſchöneres Glüd.” 

Nymark nahm feinen Hut. 

„Darf ic Cie heute Abend abholen, da 
John nicht mitgeht?” 

„Wenn Sie fo gut fein wollen?” 

„Mit größtem Vergnügen. Alfo auf 
Wiederfehen heute Abend, Frau Karel.” 

„Auf Wiederſehen!“ 

Sie reichten einander die Hand, und bie 
Thür ſchloß fih Hinter Nymarl. 

„Er ift freundlich und angenehm,” dachte 
Alma, als fie allein war, „es ift fein Wunder, 
wenn man fi in feiner Gefellfhaft mohl 
fühle.“ 

Abends, als Alma Toilette für das Feſt 
madıte, fam Arvi mit Karte und Geographies 
buch zu ihr. 

„Ich finde nicht? auf diefer Karte, Mama. 
Und wir haben foviel zu lernen. Alle Gebirge 
in Mitteleuropa.” 

„Ad, geh zu Papa, er wirb es bir zeigen.” 

„Papa ift nicht zu Haufe.” 

„Berfuhe, dich ſelbſt 
Mama hat keine Zeit.“ 

„Aber ich kann es nicht.” 

Arvi wurde eigenfinnig und begann zu 
weinen. 

„Biſt du unartig gegen Mama? Nun 
helfe ich dir ſchon gar nicht. Und du ſchämſt 


zurechtzufinden. 


Blinde Klippen. 9 


„Ihre Gefundheit erlaubt es nicht.” 

„Aber es ift fo luſtig. Ich kann noch 
nicht aufhören.” 

Cie war ſchon wieder auf den Füßen. 

Sie tanzten ein paar Schrüte, als Alma 
ſich plötzlich ſchwer auf den Arm ihres Herm 
ftügte. 

„Mir ſchwindelt,“ kam es von ihren 
Lippen. 

Nymark eilte herbei und trug fie zu 
einem Sofa im Nebenzimmer. Halb ohn» 
mãchtig tie fie war, wußte Alma doch, mer 
fih um fie bemühte. Mit einem Gefühl der 
Dankbarleit überließ fie fih Nymarks Fürs 
forge. Es war ihr ganz fo, als habe fie 
einen neuen Freund und Rameraben gefunden. 

„Es geht ſchon vorüber,” fagte fie leife, 
obwohl fie noch nicht die Kraft befaß, die 
Augenlider zu heben. 

„Warum find Eie mir nicht gefolgt?” 
warf Nymark ihr vor. 

„Schelten Eie mid nicht; ich bin ſchon 
wieder gefund.” 

„Aber Cie dürfen feinen Schritt mehr 
tanzen.” 

„Ich muß wohl gehorchen.“ 

Nun vermochte Alma fon, ſich aufzu— 
richten; fie ftügte fih gegen die Lehne des 
Sofas. . 

„Wie blaß Sie nod find!” 

„Es kommt ganz ficher daher, daß ich fo 
lange nicht getanzt habe,” fagte Alma lädyelnd. 
„Früher hielt ich es ohne Unterbrehung bis 
zum Morgen aus.” 

Nymark holte ihr Wein, und nachdem fie 
ein paar Glas getrunfen, fühlte fie fi) wieder 
vollkommen hergeftellt. 

Sie hatte Luft, weiterzutangen, aber Nymark 
ließ es nicht zu. 

„Wenn Sie frank werben, läßt John Eie 
ein andermal nicht gehen,” fagte er. 

Und fo blieben fie für den Reſt des Abends 
dort figen. Sie foupierten unter heiteren Ge: 
fpräden und Lachen. 

Belannte Damen fpragen Alma an. Cie 
that ihr Beſtes, um fi ihnen dankbar zu 
erweiſen, aber im Herzen wünſchte fie, fie 
mödten bald gehen und Nymark und fie 
allein laſſen. Es mar ja fo gemütlich zu 
zweit. Sie fpraden frei und ungezwungen 





über verfdiedene Dinge, die fie in anderer 
Beifein faum berührt hätten, obwohl es weder 
Geheimniffe, noch fonderlich gefährliche Themen 
waren. 

Am nãchſten Morgen war Alma fo müde, 
daß fie um zehn Uhr, als John zum Frühe 
ftüd heim fam, faum aufzuftehen vermochte. 

„Helmi bat nachts nad) bir gemeint,“ 
fagte John. 

„Laß fie meinen,” erwiderte Alma. Sie 
lag ausgeftredt auf dem Eofa in ihrem 
Zimmer und machte gar feine Miene, zu Tiſch 
zu fommen. „Ich muß fie entwöhnen, fie 
raubt mir alle Kräfte. Eie ift fo groß und 
ſtark und will nichts anderes nehmen, fo lange 
fie an der Bruft ift.” 

„Arme Helmi, Hörft du, welches Urteil 
Mama über di ſpricht?“ fagte Mina, die 
im Kinderzimmer Almas Worte gehört hatte. 

„Bir wollen fie fragen, ob das wahr iſt.“ 

„Hole fie nicht ber, ich hatte fie ja erft 
eben jetzt,“ fagte Alma ungebuldig, „laß mich 
doch wenigſtens einen Augenblid in Frieden, 
wenn bu fiehft, mie ſchwach und kraftlos ich 
heute bin.” 

Mina mwandte fih um, aber Helmi, die 
mit Händen und Füßen gefochten und fröh— 
liche Lalllaute auögeftoßen hatte, als fie die 
Mutter erblidte, begann zu meinen. Mina 
ſchloß die Thür und trug Helmi zum Fenſter. 
Sie fummte und lopfte an die Scheibe. 

„Schau, ſchau, Pferdchen fpringt, nein, 
wie ſchön!“ 

Helmi fah das Wunder und vergaß ihre 
Thränen. 

„Ich bin heute Mittag zu Lagander ge 
laden,” fagte John aus dem Epeifezimmer 
heraus, „es fommen noch zwei andere Land: 
tagsabgeordnete.“ 

„Bleibſt du den ganzen Tag?“ fragte 
Alma, um etwas zu ſagen. 

„Bis Abend. Ich gehe von der Schule 
bin, um drei Uhr,“ fagte John, zu ihr tretend. 
„Wie fteht'3 mit dir? Bift du krank?“ 

Er feßte fih an den Rand des Sofas 
und betrachtete fie. 

„Nein, nur etwas matt.” 

„Vielleicht haft du geftern zu viel getanzt?’ 
meinte Sohn. 


Alma erwiderte nichts. John ftand auf. 


Blinde Klippen. 


„Wieder Schmeicheleien. Nein, gehen Eie 
noch nit, da Sie nun einmal ohne Mittag- 
efien geblicben find. Wir wollen fehen, mas 
Maja Lifa und vorzufegen hat.” 

Es war nicht fo übel. Bouillon und 
Kohlrollen mit gebratenem Fleiſch und Reis. 
Und wollten fie fih nur ein paar Augen- 


blidchen gebulden, fo würde fie auch für einen ! 


Nachtiſch forgen. 

Nomark ging alfo noch nicht, fondern blieb 
bis fieben Uhr. Nicht einmal da wwollte Alma 
ihn gehen laffen, denn fie vermutete, daß John 
nit vor dem fpäten Abend nah Haufe 
tommen türde. Und im Verlauf diefes Tages 
waren fie einander näher gelommen, als 
während ber ganzen Zeit ihrer bisherigen 
Belanntſchaft. Cie verftanden einander fo 
gut. Alma war entgüdt. So hatte fie denn 
endlich gefunden, was fie fo lange unbewußt 





entbehrt, einen fröhlichen, friſchen Kameraden, : 


der gern mit ihr beifammen mar und in defjen 
Gegenwart fie fi fo wohl fühlte, daß fein 
andere? Vergnügen fi damit vergleichen lich. 
Er mar juft der Gegenfag zu dem ernſten 
und ruhigen John. Und es ſchien Alma, als 
ob fie, obwohl John ihr fehr teuer war, 
dennod in ihrem Herzen Nymark noch lieber 
hätte. Ihr Gewiſſen beruhigte fie damit, daß 
ja aud John fi ihr nicht fo ungeteilt hin- 
gebe. Er vergaß nie um ihretwillen irgend 
eine geſellſchaftliche Verabredung, wenn cr 
fonft Luft hatte, zu gehen; das aber hatte 
Nymark eben erft gethan. 

„Bleiben ie doch,“ bat fie, als Nymark 
Abſchied nehmen wollte. 

„Nein, Frau Karel, num muß ich gehen. 
Aber wir fehen uns bald wieder.” 

„Recht bald!” fagte Alma, ihre Hand in 
die Nymarls legend. 

Nymark ſah fie mit einem fo zärtlichen 
Blid an, daß ihr das Blut in die Wangen ftieg. 

„Adieu denn!” fagte fie und zog ſchnell 
die Hand zurüd, 

Als Nymark gegangen war, ftredte fie ſich 
mieber auf dem Sofa aus, drüdte das Antlig 
gegen das Kiffen und fhloß die Augen. Sie 
fühlte fich weder müde noch ſchläfrig, dachte 
an nichts und fümmerte fih um nicht. Aber 
ihr Herz ſchlug, ihr Geſicht glühte, und ein 
füßes Gefühl jülte ihren Bufen. 





\ jüngeren, norbifchen Autor. 


28 


„Mama,“ flüftertee Arvi leiſe neben ihr, 
„bift du wach, Mama?“ 

Alma fuhr auf. 

„Arvi, haft du deine Auigabe gelernt?“ 

„Ja, Mama, willſt du mid) überhören?“ 

Alma nahm dad Bud. Es mar Ge: 
ſchichte, und Arvi fagte feine Aufgabe ber, 
fließend wie Waſſer. Alma vermochte gar 
nit mitzulommen, obwohl fie ſich Mühe gab; 
fie war fo zerftreut. Aber es war aud nicht 
nötig. Arvi ftodte nicht ein einziges Mal und 
hielt nicht inne, ehe er fertig war. 

Alma lobte ihn, gab ihm Sußigleiten und 
ließ ihn gehen. 


VL 
Eines Tages fand John auf Almas Tiſch 


Strindbergs „Eheſtandsgeſchichten“. 


„Iſt Nymark hier geweſen?“ fragte er. 

„Er war vormittags hier, während du im 
Lyceum warſt,“ erwiderte Alma. 

In nächſter Zeit tauchten bei Alma immer 
wieder neue Bücher auf, bald von Zola oder 
Guy de Maupaſſant, bald von irgend einem 
Einmal erſchien 
ſogar unter ihnen Arne Garborgs „Aus der 
Mãnnerwelt“. 

„Es ſind gute Bücher, wenn man ſie nur 
richtig zu leſen verſteht,“ ſagte John. 

„Wie fol man fie denn lefen?“ 

„So, daß man die Folgen des Böfen 
ſieht. Wenn Arne Garborg feine Helden in 
Aus der Männerwelt” von ſich jelbft jagen 
läßt, fie feien große Schweine, fünnten es 
aber nicht mehr ändern, fo ſollte das mehr 
wirfen, als die beften Moralpredigten.” 

„Nymark nimmt fie nicht von diefer Seite.“ 

„Nymark! Der ift eben einer jener ober: 
flächlichen und leihtfinnigen Menſchen, die 
nicht die Kraft haben, in den Kern einer Cache 
einzubringen.“ 

„Das ift nicht wahr. Nymark ift im 
Gegenteil ein ſcharfer Denter.” 

„So ſcheint es dir, Almachen, weil du 
ſelbſt dein Köpfchen nicht mit allzuviel Ge— 
danlen beſchwerſt.“ 

John glättete lächelnd Almas Haar. Aber 
beleidigt ſtieß fie feine Hand zurüd. 

„IH bin natürlih dumm. Ich verfiche 
nichts. Nicht wahr, das meinft du doch?“ 


Blinde Klippen. os 


dabei, ſah aber von Zeit zu Zeit von der 
Arbeit auf und horchte. 

„Weint Helmi, oder was giebt es?“ fragte 
John lächelnd. 

„Nein, mir war's nur — ba läutet 
jemand!” fügte fie hinzu und warf bie Arbeit 
beifeite. 

„Wenn es nur fein Beſuch ift. Das 
lãme mir recht ungelegen.” 

Alma ging Öffnen und kam nad einer 
Weile, gefolgt von Nymark, zurüd. 

John rungelte ein wenig die Augenbrauen. 

„Du fheinft beihäftigt zu fein, John,“ 
ſagte Nymart. 

„Um die Wahrheit zu fagen, ja, etwas. 
Aber fee dich jedenfalls.” 

„Ich werde nicht lange bleiben. Ich 
fomme nur in einer Heinen Angelegenheit.” 

Alma nähte eifrig und fah nicht einmal 
flüchtig auf. 

„And die wäre?” 

„Ich möchte deine Frau verleiten, an einer 
Vergnügungsfahrt teilzunehmen.” 

„Mit dem Dampfboot nad Imatra?“ 

„Du weißt alfo ſchon davon?” 

Nymark ſah Alma an. 

„Alma hat nichts gefagt. Ich hörte nur, 
daß diefer Ausflug geplant fei.” 

„Es wird eine Iuftige Erkurfion. 
angenehme Geſellſchaft. Auch Militärmufit 
geht mit. Frau Karel würde fi gewiß recht 
erfriicht und geftärkt fühlen, wenn fie wieder 
beimtäme.” 

„Was meinft du, Alma?” 

nJa—a... vielleicht... . auch Helmis 
wegen... . Aber das hängt von bir ab.” 

„Durchaus nicht. Thu ganz und gar, 
mas du willſt.“ 

„Sehen Cie, Frau Karel! John giebt 
Ihnen volle Freiheit. Sie kommen aljo?” 

„Die Reife wird vielleicht ein paar Wochen 
dauern. 

Alma blidte auf und fah ihren Mann 
ſcheu an. 

„Am jo länger dauert das Vergnügen,” 
fagte John. 

„Boltommen richtig, um fo länger dauert 
das Vergnügen. Und nun gehe id, um 
nicht zu flören. Morgen Abend um fieben 
Uhr geht das Schiff, Frau Karel.” 


Und- 





Er nahm Abſchied, und Alma begleitete 
ihn in das Vorzimmer, um hinter ihm zuzu⸗ 
fperren. 

„Alles ift gut gegangen,” fagte Nymark 
halblaut. „John machte ja gar keine Ein- 
wendungen.“ 

„Nein, wie merkwürdig! Und ich dachte, 
er würde ſich auf das beftimmtefte widerſetzen.“ 
„Bergefien Sie nicht: um fieben Uhr!” 

Nymark faßte nochmals ihre Hand. 

Ich werde nicht vergefien.” 

John ſchrieb, ala Alma zurücklam und 
ſich auf ihren früheren Plag am Tiſche nieder: 
ließ. Cine Zeit, lang feßte jeder ſchweigend 
feine Arbeit fort. 

Dann aber legte John die Feder weg, 
ftügte den Kopf auf die Hand und blidte 
Alma ernft an. 

„Eprach Nymark ſchon vormittags mit dir 
davon?” fragte er. 

„Ja,“ ertwiderte Alma etwas unficher. 

„Und du mußteft, daß er wiederkommen 
würde, um mich zu überreden?” 

Almas Ohren wurden rot, aber fie fagte 
nichts, fondern nähte eifrigft weiter. 

nWußteft du es, Alma?” 

„Ja,“ kam e8 endlich leiſe von ihren Lippen. 

„Es wäre befjer geweſen,“ fagte er ein 
wenig fpäter mit beflommener Stimme, „wenn 
du offen und aufrichtig mit mir darüber ge: 
fprochen hätteft.” 

Alma wußte nicht? zu eriwidern, aber ber 
Boden brannte ihr unter den Füßen, und fie 
ſuchte eifrig nad einem Anlaß, ſich zurüd: 
zuziehen. 

„Ach richtig, Arvis Leltionen —“ 

Sie ſtand auf und legte die Arbeit zu 
fammen. John ließ fie gehen. 

ALS fie von dem Ausflug heimlam, war 
fie heiterer und lebhafter denn je. Sie ſcherzte 
und fang, fpielte mit den Kindern und ftellte 
die Möbel im neuer Gruppierung auf. Auf 
alle Art verfuchte fie John zufriebenzuftellen 


| und erwies ihm bie und da Meine Dienfte. 


John bemerkte, daß fie wie verjüngt mar. 
Nachts aber erwachte er davon, daß Alma 


| fi im Bett herumivarf, und lauſchte er, fo 


fand er fie wachend. 
„Kannft du nicht ſchlafen?“ fragte er. 
„Nein. Aber ich bin auch nicht ſchläfrig. 


Blinde Klippen. 9 


Sprache kommen. Während er fo an bie 
allgemeinen Angelegenheiten badhte, vergaß er 
feine privaten Sorgen. 

„Der Getreidezoll,“ ſchrieb er unter anderem, 
„soürbe unbeftreitbar den Bemittelten, ind: 
befondere den vermögenden Gutöbefigern, 
Richtern und Geiftlihen zum Vorteil dienen. 
Für die zahlreiche arme Bevölkerung dagegen, 
die fein Aderland befigt und auf deren Rechte 
und Vorteile der Landtag bedacht fein fol, 
wuürde er eine Laſt bedeuten. Das fnappe Brot 
bes Arbeiters, des Tagelöhners würbe dadurch 
noch knapper werben. Trachten mir baber, 
ihre Laft nicht noch mehr zu erfchtveren, denn 
fie ift ohnedies nur zu drückend.“ 

„Vor allem heißt es in unferem fozialen 
Leben die Gerechtigkeit walten zu laffen. Das 
ift die erfte Bedingung für unfere gefunde, 
nationale Entwidlung. Und es ift zugleich 
das einzige Mittel, die gefährlichen Unruhen 
zu vermeiden, die heutzutage in den großen 
Aulturländern die Fundamente der Geſellſchaft 
unterminieren.” 

Wir follen freben, die Lage unferer 
minder gut geftellten Landsleute zu heben und 
zu beffern, insbefondere ihr Beftes im Auge 
zu haben ...“ 

„John, ſieh ber; ich bin fertig.” 

Alma ſtand in der Thür, lächelnd und 
ftrahlend in einem filber: und goldglänzenden 
Tulllleide. 

„Run, was ſagſt du? 
blendet?“ 

„Schön bift du. 
fagte John. 

Aber die Etimme war ohne Klang, denn 
es fuhr ihm dur den Sinn, wieviel dieſe 
nur für das Vergnügen eines einzigen Abends 
beftimmte Toilette geloftet haben mochte. 
Wieder befam die frühere Unruhe Gewalt über 
ihn. AU die verwidelten Gefchäftsangelegen- 
heiten legten fi wie eine Laft auf feine 
Schultern. 

„Und du, du ſchreibſt nur immer. 
wirft du genug davon haben?” 

„Wenn id nicht mehr fann.” 

„Es dürfte Zeit fein, zu gehen,” fagte 
Alma, indem fie fi bemühte, die letzten 
Knöpfe ihrer Handſchuhe zu fhließen. „Hilf 
mir, John, fie find fo eng.” 


Biſt du nicht ge= 


Außerordentlich ſchön!“ 


Wann 





John that, wie gebeten, und begleitete ſie 
dann ind Vorzimmer. 

„Gehſt du zu Fuß?” fragte en. 

Mein, ich fahre. Der Wagen wartet im 
Hofe.” 

„Wie? Du nimmt nur einen dünnen 
Negenmantel? Bei diefer Kälte? Wo bentit 
du hin?“ 

„Ach, der Weg ift ja fo kurz, daß ich mich 
faum bis dahin abkühle.” 

„Aber du fönnteft body ebenfo gut einen 
märmeren Mantel nehmen.“ 

„Der mein Koftüm ganz zerfnittern würde. 
Dante ſchön. Und nun adieu, John.” 

Sie wollte ihm zuerft bloß bie behand⸗ 
ſchuhte Hand reihen, aber dann, ald wenn 
eine plögliche Sinnesänderung mit ihr vor= 
gegangen wäre, fchlang fie beide Arme um 
Johns Hals und fühte ihn. 

„Adieu!“ 

„Adieu! Erkälte did nicht!“ 

Alma lief ſchnell die Treppen hinab, und 
John kehrte in fein Zimmer zurüd. 

Das unklare, halb reuige Gefühl, das fi 
fo plöglih im Vorzimmer Almas bemächtigt 
hatte, ſchwand bald im mwirbelnden Vergnügen 
des Maslenballes. Die „Nacht folgte dem 
Tage” wie ein chatten, und hinter ber 
Maske wurden Worte geflüftert wie niemals 
zuvor. 

Sie tanzten zufammen, und nad) dem Tanze 
tranfen fie Champagner. Alma war wie im 
Rauſch. Cie wagte faum an das zu denten, 
mas Nymarf ihr zugeflüftert; und doch dachte 
fie daran und erftidte die. vorwurfsvolle 
Stimme in ihrer Bruft damit, daß das alles 
ja nur QTändelei fei. Und Nymark brauchte 
ja gar nicht zu wiſſen, daß fie etwas gehört, 
wenn auch in Wirklichkeit Fein Wort ihr ver- 
Ioren gegangen war. D, fie verftand recht 
wohl diefe abgebrochenen Säge, diefe erftidten 
Seufzer, dies Zittern der Stimme — alles. 
Die Glut ihrer Wangen hätte es wohl ver: 
raten, aber die Wangen dedte die Masfe... 

Und wieder tanzten fie, und wieder tranfen 
fie Champagner. Die Mufit rauſchte. Rings 
um fie her war Freude. 

Alma mwünfchte, diefe Nacht möchte nie ein 
Ende nehmen. Längs der Wand aber faß 
eine Gruppe Damen, die abwechſelnd mit: 

’ 


Blinde Klippen. 


begriff, daß Verachtung und Verurteilung in 
ihnen lag. Ihr war zu Mute, als fei fie 
von der Gemeinfhaft ber Menſchen auss 
geſchloſſen. 

Und ſie konnte nicht bei John Schutz 
ſuchen, noch mit ihm von ihrem Schmerz 
ſprechen. So vollftändig fremb erfdien er 
ihr, wie er fo in feinem Beit lag, daß fie 
nicht einmal in feine Nähe fommen, nicht ihr 
eigenes Bett aufjuchen mochte. Es Mar 
unmöglid. Die Lampe brannte noch. Sie 
löfchte fie, nahm einen Shawl um und legte 
fi wieder auf das Sofa im Salon. 

Dort lag fie die ganze Nacht wach. Gegen 
Morgen verfant fic in einen betäubungss 
äbnlihen Schlummer, aus dem fie plöglid 
wieder emporfuhr. Wieder begann das Herz 
beftig zu fehlagen, und der Schmerz in ber 
Bruft befiel fie mit ermeuter Gewalt. Aber 
erft nach langer Zeit konnte fie fih klar 
machen, weshalb fie fo erregt fei. 

„Warum Tiegft du bier?” fragte John, 
ala er eintrat. 

Alma erwiderte nichts. 

„Biſt du kant?” 

„Rein.“ 

„Deine Stirn ift ganz feucht. 
dir zu warm im Schlafjimmer?” 


War es 


Eie legte den Kopf auf das Kiffen und 
wünfchte, John möge in fein Zimmer geben. 
Er fam ihr fo fremd vor, fo völlig fremd. 
Und die Hand, die er auf ihre Stirn brüdte, 
war fo ungewöhnlih fall. Ein Schauder 
durchfuhr fie. 

„Sie heizen zu fpät des Abende. Daher 
fommt e8. Aber lege dich doch jet in bein 
Bett. Es ift doch jedenfalls beſſer.“ 

Alma that, wie er gefagt hatte. Sie 
ſchloß die Thüren und kroch unter die Dede, 
wie um fi vor den Augen ber ganzen Welt 
u verbergen. Und nun enblih brach fie in 
Thränen aus und weinte fo heitig, daß ihr 
ganzer Körper zitterte. Kiffen und Betttud) 
durdnäßten ihre Thränen, und das Haar fiel 
in langen Zoden herab und flebte an ber 
feuchten Etirn. 

Sie meinte fo lange, bis die Augen feine 
Thränen mehr gaben. Ihr Körper hörte auf 
zu zuden, und die Pulſe klopften nicht mehr. 





” 


Eie lag ftill wie eine Tote; kaum merfbar 
tam ihr Atem. 

Aber allmählih begann ihr unter ber 
Dede heiß zu werden. Sie warf fie zur 
Hälfte von fi, ftrih das Haar aus dem 
Gefiht und ſah fih um. Eie blidte auf das 
Zimmer, auf die Tiihlampe und auf die 
Möbel. Alles war fo wie geftern und vor— 
geftern und all die Tage vorher. Eie allein 
ar verändert, war eine ganz andere geworden. 

Die Dinge umber waren biefelben und 
doch nicht diefelben. Ihr war, als fähen fie 
düfterer und kälter aus. Cie betrachteten fie 
tie eine fremde Perfon, die fie gleichfam von 
ſich abwiefen. Es war etwas in ihnen, was 
fie an die Blide von geftern erinnerte. 

Mina brachte ihr ein Billet. 

„Von Magifter Numark,” fagte fie. „Der 
Bote wartet auf Antwort.” 

Alma riß das Billet auf. 

„Sie find geftern fo unerwartet ver— 
ſchwunden,“ ſchrieb er. „Frau Leiftin fagte, 
Cie feien allein nad Haufe gegangen, und 
machte mir einige Andeutungen, die mid 
abnen lafien, daß Sie einen befonderen Grund 
zu Ihrem rafchen Auſbruch hatten. Ich möchte 
Cie fo gern fpreden! Kommen Cie, Frau 
Karel, Heute vormittag zu einer Schlittſchuh⸗ 
partie. Das Wetter ift ſchön und klar und 
das Eis wie ein Spiegel. Wenn Eie erlauben, 
To hole ih Sie um elf Uhr mit den Schlitt- 
ſchuhen ab.” 

Alma fhrieb nur zwei Worte, 

„Kommen Sie!” 

Sie ftand raſch auf, kleidete fih an und 
babete das Geficht in kaltem Waſſer. 

Sie hatte wieder Hoffnung gefaßt. Nymark 
würde fie tröften, fie gegen die Verleumdungen 
der köfen Menſchen fügen. Nymark würde 
fie nicht verachten und verurteilen, fondern ihr 
Freundfhaft und Teilnahme erweifen. Um 
feinetwillen hatte fie dies leiden müſſen, und 
darum würde er ihr helfen, fie fügen, nicht 
fie verftoßen, wie alle anderen fie verftießen. 

Als Nymark Fam, ging ihm Alma mit 
audgeftredten Händen entgegen und brad in 
Thränen aus. 

„Bas fehlt Ihnen? Frau Karell, was 
ift gefchehen? Nein, fagen Sie nihts! Ich 
errate alles.” 

7* 


Blinde Klippen. 


„Sollen wir den ganzen Tag hier bleiben? 
In Vihtalanta torp belommen wir Epeifen und 
Kaffee. Auf Yagbausflügen habe ich oftmals 
da gegefien.” 

Alma dachte an die Ihren, und ein Heiner 
Zweifel hielt fie zurüd. Aber es war fo frei 
hier, fo friſch, daß fie ſich noch nicht ent» 
ſchließen konnte, heimzukehren. 

„Gut denn!” fagte fie. „Wir wollen bis 
zum Abend hier bleiben.” 

Sie waren hungrig, und Alma fühlte ſich 
ermübet, als fie zur Hütte famen. Nymark 
ſprach mit den Hausleuten. Sie befamen ein 
fepariertes Zimmer, zu dem eine Thür aus 
dem Flur führte. Ein weißes Tuch wurde 
über den Tiſch gebreitet, und die junge, derbe 
Haustochter trug die Speifen auf. Ungeheure 
Butterbrote, Fiſch und Fleiſch. Butter ſoviel, 
daß es ganz ſicher für zehn Perfonen gereicht 
hätte. Schließlich heiße Kartoffeln und Mil. 

Die großen, diden Brotftüde erregten 
Almas Heiterkeit. Sie fagte, fie könne fie 
nicht efien. Da zog Nymart fein ſcharfes 
Taſchenmeſſer heraus und ſchnitt ihr das Brot 
und Fleifh in bünne Scheiben. Ter Lade 
mar fo ſcharf gefalzen, daß der Mund davon 
brannte. Cie lachten beide darüber, aßen 
und plauberten. 

Nachdem fie Kaffee getrunken, gingen fie 
zu ben anderen in bie Stube. Da gab es 
einen ganzen Haufen Heiner Kinder, mit denen 
Alma ſogleich Bekanntschaft zu fehließen ver: 
ſuchte. Nymark begann ein Geſpräch mit der 


Xirtin, die am Herde hantierte. Und während | 


Alma mit den Kindern fpielte, hörte fie eben, 
wie die Wirtin das Geſpräch unterbrach und 
zu Nymark fagte: 

„ber was für eine ſchöne rau der Herr 
Magifter hat. Meiner Seel’, wunderſchön. 
Wir meinten gerade, daß es wohl in der ganzen 
Stadt fo mas Echönes nimmermehr gebe.” 

„Sie ift nicht meine Frau,” erwiderte 
Nomark mit leifer Etimme. 

Alma war bis zu den Haaren hinauf 
errötet und hatte ſich herabgebeugt, um den 
Kindern etwas zu fagen. Dennoch folgte fie 
aufmerffam dem Geſpräch. 

„Richt? Na, dann ift fie Ihre Braut. 
Ja, das hätt’ man ſich aud denken können.” 

„Wieſo?“ fragte Nymark lachend. 


101 


„Man hat fchon fo feine Zeichen.” 

„Sieh mal an! Darf man fragen, welche 
Zeichen?” 

„Muß ich's wirklich jagen?” 

„Natürlich.“ 

„Das merkt man ſchon an ben Bliden. 
Ein verheirateter Mann fehaut feine ‚Frau fo 
verliebt nicht an.” 

„Und doch irren Sie fih. Sie ift nicht 
einmal meine Braut.” 

„Richt?“ Die Wirtin blidte zweifelnd erft 
auf Alma, dann auf Nymark. 

„Sm,“ ſchmunzelte fie, „ift ſie's nod nicht, 
fo wird ſie's bald.” 

Nymark lachte und trat zu Alma, dic noch 
immer mit den Kindern fpielte. Sie war rot 
und vermich forgfältig, aufzubliden. 

Nymark betrachtete fie und brebte feinen 
Schnurrbart. Er begrif, daß Alma alles 
gehört hatte, und beobachtete fie noch ſchärfer. 

Alma fühlte feinen Blid und beugte fi 
errötend noch tiefer hinab. Da ihr nichts 
einfiel, was fie den Kindern fagen fonnte, fo 
ftrid) fie nur mit der einen Hand über den 
| Kopf eines weißlocligen Jungen, während fie 
die andere in die Eeite ftüßte. 

Und als Nymark fi neben fie auf die 
Bank ſetzte und die Namen der Kinder wiſſen 
mollte, da rüdte Alma fort und wandte ſich 
zu dem Alten, der Nege Inüpfend beim Tiihe 
faß. Sie zeigte ihm, wie die Damen Knoten 
machen, wenn fie Tiſchtücher Mnüpfen. Allein 
dem Alten ſchien das recht umſtändlich und 
Schwierig, und, als ſchämte er ſich feiner groben 
Plumpheit, z0g er ſich in [heuer Beinunderung 
ein menig zurüd. Lächelnd fah er dann zu, 
wie flint die feinen, mweißen Finger fi in 
feinem grauen Net beivegten. 

AU diefe Zeit ſchwebte Alma etwas 
Undeutliches, Yormlofes vor. Die Worte der 
Wirtin Hangen ihr beftändig in den Ohren. 
Ihre Nerven bebten, die Wangen brannten, 
und ber Bufen hob fi) gewaltfam. Cie ver: 
| mieb e3, Nymark anzubliden, folgte ihm aber 
um fo eifriger mit ganzer Seele. 

€3 war über fünf Uhr — Zeit, an den 
Heimweg zu denken. Alma ftand auf und 
reichte den Wirtsleuten die Hand zum Abſchied. 

In der Thür blich fie noch ftehen und ſah 
ı fih um. Die Etube war warm und gemütlich, 





Lina Worgenftern und die Berliner Boltöküchen. 108 


unverſchloſſen. Die Hängelampe brannte, die Bor ihr ftand John, body und emft. 
Rode und Mäntel hingen an der Wand, fie | Almas erlöſchender Blick fuchte den Boden. 
bemerkte nichts Ungewöhnlices oder Neues. N Weißt du fchon, daß Arvi krank iſt?“ 
Sie hing ihren Mantel auf, legte Hut | fragte John. „Er kam vormittags mitten in 
und Muff auf den Tiſch, trat in den Salon, | der Stunde ‚von der Schule heim und liegt 
blieb aber wie feftgenagelt jenfeits der Schwelle in ftarlem Fieber. Der Arzt fürdtet, daß er 


ftehen. ı die Blattern befommt.” (Schluß folgt.) 
Een 
ina Forgenſtern und die Berliner Folksküchen. 
von 


€. Dely. 


Nagprud verboten. — 


m nebelfeuchten und grauen Reſidenzſtädtchen Oldenburg fragte vor beinah vier 

Jahrzehnten ein hellaugiges Schulmädchen den Lehrer bei der Erklärung von 
Schillers Glode und dem Vers: „Arbeit ift des Bürgers Zierde“ — „Warum nicht 
auch der Bürgern?” 

Bon oben herab kam die Antwort: „So etwas giebt es nicht!” War es doch 
bie Zeit, in der ſich die Frauenarbeit noch ausfchließlih im Haufe abipielte und, wenn 
fie ins Öffentliche Leben hinaus wirkte, als blauftrümpflich mit dem Anflug der Lacherlich⸗ 
teit behaftet war, in der man Lehrerinnen als „gelehrte Frauenzimmer“ brandmartte. 

Wie anders ift dad jet. — Wenn wir auch noch nicht vollgiltige Bürgerinnen find, 
fo find wir doch auf dem beften Wege dazu: wir empfinden die Pflicht der Arbeit über 
das Bereich des Haufe hinaus. Jene Meine Fragerin aus den friefiihen Kiften: 
lande ift felber eine Ruferin und Führerin geworden in dem Kampfe, den aufzunehmen 
die deutſche Frau endlich reif wurde — um ihre Menſchenrechte. Schon hat 
mande Frau geigı was der Bürgerin Arbeit vermag, und damit find auf allen 
Gebieten die Vorbedingungen zu voller Entwidlung geichaffen. Freilich vergeffen gar 
zu leicht die meuzuftrömenden Jüngeren, wie viel fie der Arbeit der Vorläuferinnen 
verdanfen. Sie klettern auf die Schultern der Daflehenden und rufen hinaus: „Wie 
groß find wir! Wir fehen jegt weit in die Lande!” 

Darum ift es Pflicht, auf die unter und hinzuweiſen, die vornan im Kampfe 
ftanden und ftehen und den erften Anprall aushielten. Heute ift die Fürforge für das 
leibliche Wohl des arbeitenden Volkes, für die Beköſtigung der Hunderttaufende, die 
ala alleinftehende Menſchen, als Angehörige von Familien, deren Glieder zerftreut 
durch verfchiedene Arbeit fich nicht zu gemeinfamen Mahlzeiten zufammenfinden fünnen 
oder folder, deren geringer Verdienſt vollwertige Ernährung im Einzelnen nit 
zuläßt, in Berlin, wie in vielen Provinzitädten in großartiger Weife entwidelt. 

Das alles, worauf man heute als jelbfiverftändlich bückt, ift mit in erfter Linie 
zurüdzuführen auf die Anregung und Thatfraft einer Frau, Lina Morgenftern. Der 
Name biefer ganz von thätiger Nächftenliebe erfüllten, regiamen Frau ift jelbftverftändlich 
aud mit al den andern Errungenfchaften auf dem Gebiet der Frauenbewegung verknüpft. 
Aber ihr unbeftrittenes Schlacht: und Siegesfeld ift das eingreifender, thätiger Hilfe 
für das Volt — ihr ift der Segen der Volkskücheneinrichtung zu danken. Sie hat 
in praftifcher Arbeit beiviefen, was eine Frau vermag, fie hat Hunderten von Mit: 
ſchweſtern Wege und Ziele gezeigt, fie dienfibar gemacht für die Arbeit zum Wohle 
anderer und fie zum Nachdenken gebracht über die Lage der Armen und Elenden in 
der menfchlichen Gefellfchaft. Wenn man die Ecine, lebhafte, bewegliche Frau mit den 
gutblidenden Augen und dem freudigen Enthuſiasmus fiebt, fo hat man den Eindrud, 


Der Verein Deutſcher Lehrerinnen in Frankreich. 107 


Mittel werben aufgebracht durch die Jahresbeittäge der Mitglieder, durch Gaben von 
Gönnern und Freunden des Dereind und durch regelmäßige Beihilfen mehrerer 
deutſchen Städte, insbeſondere der Reichshaupiſtadt Berlin. 

Der Verein bietet den dauernd oder vorübergehend in Paris ſich aufhaltenden 
deutſchen Lehrerinnen einen nationalen und beruflichen Mittelpuntt, er giebt ihnen 
Rat und Auskunft in allen ihren Angelegenheiten und fucht fie nach allen Richtungen 
bin in ihren Zweden zu fürdern. Die Bereinsräume ftehen den Mitgliedern täglich 
zum Aufenthalt offen, eine Bibliothek ſowie Tageszeitungen find zu ihrer Verfügung. 
Jedes Mitglied kann gegen einen geringen Preis an dem täglichen Dittagetiie) teile 
nehmen. Sonntag nachmittags vereinigt ſich hier eine zahlreiche Schar Lehrerinnen 
zu geielligem Zufammenfein. Im Winter werden allmonatlidy litterarijche oder andere 
Vorträge gebalten in deutfcher oder franzöſiſcher Sprache. 

Die Stellenvermittlung des Vereins, mit der die Damen v. Harbou und Pflüder 
betraut find, verforgt jährlich über 100 Mitglieder mit Stellen, Tagesbeſchäftigungen 
oder Stunden. !) 

Sehr erfreulich ift e8, daß in den Iegten Jahren der jährliche Zuzug deutfcher 
Lehrerinnen nad Parid vorwiegend aus folchen befteht, die ausichließlich den Zived 
haben, ſich in der franzöfifchen Sprache zu vervolllommnen. Infolgedeffen haben 
die franzöfifchen Unterrichtöfurfe, die bald nach der Gründung des Vereins eingerichtet 
wurden, ſich mit der Zeit bedeutend erweitert. Sie werden jährlih von 60 bie 70 
Schitlerinnen befucht und ftehen unter der Leitung der Vorfigenden, Fräulein Schliemann. 
Es wird dabei befonders darauf Bedacht genommen, die Teilnehmerinnen zur praktiſchen 
Ausübung des Sprachunterrichtd tüchtig zu machen und großer Wert auf die Aneignung 
einer richtigen Ausſprache gelegt. Das Eindringen in die befonderen Eigentümlich— 
keiten der franzöfiichen Sprade, das Verftändnis für die richtige Bedeutung ber 
Wörter, die Feinheiten des Ausdruds und der Wendungen wird den Schülerinnen 
vermittelt duch die Übungen im fchriftlihen und mündlichen Überfegen vom 
Deutſchen ins Franzöfifche, die von M. Bellon, agrege de l’Universite, professeur 
au Lycee Condorset, geleitet werden. Zur Befeſtigung der für eine Sprachlehrerin 
fo notwendigen grammatifalifchen Kenntniſſe dient der Kurfus der „Lecture expliquee“ 
von Mile. Jeautet. Diefer Unterricht, der in die Einzelheiten der Grammatıf und 
logiſchen Analyfe eingeht, kommt auch beſonders den Lehrerinnen zu ftatten, die Ipäter 
in franzöfifhen Familien den Kindern bei ihren Schularbeiten beiftehen follen. — 
Der Unterricht in der franzöfifchen Litteratur ift auf zwei Kurſe verteilt und unfaßt 
einerſeits die Klaſſiker des 17. und 18. Jahrhunderts, andrerjeit3 die Schriftfteller des 
19. Jahrhundert? bis auf umfere Zeit. Er giebt den Schülerinnen einen gedrängten 
Überbiid über das ganze Gebiet der franzöfifchen Litteratur der legten drei Jahr: 
hunderte, ſoweit der furze Zeitraum eined Schuljahr dazu ausreicht. Im übrigen 
werden fie angewieſen, ihre litterarifchen Kenntniſſe fpäter durch eigne Studien zu 
vervollftändigen und zu vertiefen. An dem Unterricht der Profefioren knüpfen fich 
Schriftliche und mündliche Übungen der Schülerinnen. 

Die Kurfe beginnen Mitte Oftober und dauern bis Mitte Juli. Sie zerfallen 
demnach in drei Abichnitte von je drei Monaten. In folhen Fächern, wo eine 
größere Schülerinnenzahl die Fortfchritte der einzelnen beeinträchtigen würde, werben 
Parallel:Abteilungen eingerichtet von je 8 bis 10 Schülerinnen. Auf Wunſch können 
die Kurfiftinnen fich einer Prüfung unterwerfen und im Fall tes Beſtehens ein Be: 





Indeſſen ift die Zahl der in Paris Verdienſt ſuchenden deutſchen Lehrerinnen ftets größer als 
die Nachfrage nach deutſchen Vehrkräften. Es fei daber erwähnt, daß feine Yehrerin darauf rechnen barf, 
hier in kurzer Zeit einen außreidenden Erwerb zu finden. Sie barf nie ohne Nittel tommen, da fie oft 
mehrere Donate auf eine Stelle warten und folglich aus eigner Taſche Ichen muß. Cs ift nußlos, von 
Deutſchland aus eine Stelle nachzuſuchen, da man hier ftets verlangt, daß bie Bewerberin ſich perfünlich 
vorftelle. Anerbietungen durch Agentinnen oder Zeitungen find mit größter Norficht aufzunehmen. Zur 
veſedung von beijeren Stellen find nur ſolche Erzicherinnen verwendbar, die jhen etwas Erfahrung in 
ihrem Fache und eine geweiffe Nenntni® der franzöflien Sprache befigen. Ganz junge, ungeübte 
vehrerinnen müjfen ſich meiftend mit au pair-Stellen begnügen. Im allgemeinen werben bier mehr 
deutfche Kinderfräulein (hier gouvernantes genannt) als eigentliche geprüfte Erzieherinnen verlangt. 








Der Berein Deutfcher Lehrerinnen in Frankreich. 108 


Der Verein Deuticher Lehrerinnen in Frankreich ift eine nationale Berufs: 
genofienichaft, und es werden als ordentliche Mitglieder nur deutiche Lehrerinnen auf: 
genommen. Das bedingt fchon feine Eigenichaft als Zweigverein des Allgemeinen 
Deutichen Lehrerinnenvereind. Als folder fteht er in naher Fühlung und beftändigem 
Wechſelverleht mit den Lehrerinnenkceifen diejed über ganz Deutichland verzweigten 
Bundes und nimmt kraftig teil an deſſen Reformbeftrebungen auf dem Gebiet der 
Erziehung und des Unterrichts. Auch Mitglieder anderer deutfcher Lehrerinnenvereine 
ichliegen ſich hier unferer Genoffenfhaft an, um unter deren Schug und Beihilfe ihre 
Zivede zu verfolgen. Manche bisher feinem Verein angehörende Lehrerin ift durch 
den Anſchluß an unfern Verein bei der Rückkehr in die Heimat dem großen Mutter: 
verein zugeführt worden. 

Es bleibt und noch zu erwähnen, daß der hieſige deutſche Lehrerinnenverein 
dreimal im Jahre dad „Parifer Vereinsblatt” herausgiebt, dad zunächſt für feine 
Mitglieder beftimmt ift. Es dient vornehmlich dazu, dieſen die Bekanntmachungen 
des Vorftandes zu vermitteln und die Abwejenden mit dem Vereinsleben in Verbindung 
zu erhalten. Es bringt Mitteilungen aus der Lehrerinnen und Frauenbewegung im 
Vaterlande und ift allen fozialen und püdagogifchen Fragen der Gegenwart offen. 
Auch Nichtmitglieder können es beziehen für den Preis von 1 Mark jährlid. 

Dur feine ausgedehnte Etellenvermittlung fteht der Verein mit zahlreichen 
gebildeten franzöfifchen Familien in Verbindung. Die meiften Dlitglieder leben in 
frangöfiicher Umgebung. Die franzöfiihen Lehrer der Vereinskurſe walten mit Hingebung 
ihres Amtes und Öffnen ihr Haus gaftlich den Schülerinnen. Die einzelnen Mitglieder 
ftehen mit franzöſiſchen Hausgenoffinnen oder Lehrerinnen, mit denen fie Stunden aus: 
tauschen, in freundlichem Verkehr. Auch den höheren Unterrichtöbehörden ift unjer 
Verein befannt, und fie wenden feinen Beftrebungen eine wohlwollende Beachtung zu. 
Auf Empfehlung der Vorfigenden des Vereins wird einzelnen Mitgliedern vom Direktor 
der Pariſer Akademie die Erlaubnis erteilt, an den biefigen ftaatlichen Lehranftalten 
für Mädchen zu Hofpitieren. Bei diefer Gelegenheit möchte ich mod) eine Erläuterung 
zu ber in einem Artifel von A. Neumann im Juliheft diefer Zeitichrift ala münfchens: 
wert bingeftellten Aufnahme deutſcher Lehrerinnen als repetitrices in den Ecoles 
normales d’institutrices (Bildungsanftalten für Volkefhullehrerinnen) geben. Schon 
vor einigen Jahren ließ das franzöfijche Unterrichtöminifterium an die englifhen und 
deutfchen Lehrerinnen die Aufforderung ergehen, fi) zu ſolchen Stellen zu melden. 
Die Sache wurde als ein Verſuch angefehen. Es liefen zahlreiche Anmeldungen ein. 
Do ſchon nach Verlauf des erften Jahres ftellte fi) heraus, daB das Zuſammen- 
wirken franzöfiicher und deuticher Lehrerinnen an diefen Anftalten zu Unzuträglicpkeiten 
führte, und die Zulaſſung deuticher Lehrerinnen wurde wieder aufgehoben, während die 
der englifchen beibehalten ward. Auf wirkliche Anftellung an ftaatlihen Mädchen: 
ſchulen dürfen Deutfche wie andere Fremde hier überhaupt nicht rechnen. Bei der 
Einführung der neuen Schuleinrichtungen für Mädchen find in einzelnen Fällen Aus— 
länderinnen angeftellt, weil noch feine genügende Anzahl in den Sprachen außgebildeter 
Franzöfinnen vorhanden war, jet, wo der Bedarf an Sprachlehrerinnen reichlich 
durch Einheimifche gededt werden kann, werden überhaupt feine Fremde mehr zu den 
Staatöprüfungen zugelaffen, deren Ablegung zum Anſpruch auf ſtaatliche Anftelung 
berechtigt, es jei denn, daß fie ſich naturalifieren ließen. 

Wenige Monate nach der Gründung des Allgemeinen deutſchen Lehrerinnen: 
Vereind ind Leben gerufen, wird der Verein Deutſcher Lehrerinnen in Frankreich im 
November dieſes Jahres auf ein zehnjähriges Veſtehen zurüdbliden. Die glüdliche 
und vielfeitige Entwidlung, die er in diefen wenigen Jahren erfahren, die ftete Mehrung 
feiner Mitgliederzahl legt das befte Zeugnis davon ab, daß feine Einrichtungen den 
DVedürfniffen und Ziveden der deutichen Lehrerinnen in Frankreich entiprechen. Die 
bisherigen Erfolge des Vereins laffen vorausjchen, daß feine Einrichtungen in Zukunft 
nach mander Seite hin eine wünjchenswerte Erweiterung erfahren werden, und wir 
fprechen zum Schluß den Wunſch aus, daß unfer Yeuttiges Werk im Auslande auch 
über die Fachkreife hinaus mehr und mehr Beachtung finde und neue Freunde gewinne. 

— mo — 


Moderne Lebendprogramme. m 


„Deutſcher Glaube” ift ein modernes Lebensprogramm in dem Sinne, daß alte 
Worte, alte, ja fait abgeleierte und entivertete Parolen, aus dem Reichtum, der Kraft, 
den Werten der Zeit heraus neuen Inhalt, neue Farben erhalten. 

Modern ift das Fräftige, ariftofratifche Perfönlichfeitsgefühl, das feine Ideale 
nit in blaffen Begriffen und Maßſtäben, fondern in ber Weſensbeſtimmtheit des 
ſchaffenden Menſchen fucht, und dem adelig und gemein, frei und knechtiſch, tapfer und 
feige, Ariftofrat und Philifter mehr bedeuten als pofitiv und liberal und alle 
philoſophiſchen und religiöfen Meinungen. 

Modern ift auch das feine Verftändnis für das Organifche, für Wege und 
Weſen Hiftorifher Entwidlung, für die innere Einheit geiftiger Bewegungen, auch wo 
fie difparate Erſcheinungen zeitigen, für die Möglichkeiten, die in der Kontinuität 
geichichtlichen Werden liegen. Nicht auf einfamer Höhe wird die Fahne „Deuticher 
Glaube” aufgepflanzt, eine kräftige Hand, ein rüftiger, jugendfroher, unverzagter Mut 
trägt fie hinunter in die Wirklichkeiten des Lebens, zu entſchiedenem Kampf mit dem 
böfen Feind, wo immer er fi finden läßt, zu ehrlihem Ringen aber auch mit 
feinen Göttern. 

Deutſcher Glaube wird nur errungen in Freiheit. Und das ift e8, mas den 
Chriſtgott in fo vieler Augen discreditiert, was einen Geruch wie nach Heinen Leuten um ihn 
ausgebreitet, daß man ihn in YBuchftaben feflelte. Man Hat e3 mit ihm gemacht wie 
der Mann mit dem Geift in der Flaſche. 

„Ich fehe dich lieber ba drinnen“, ſprach er, ftedte bie Flaſche ein und verwahrte fie fiher. An 
den Sonntagen nahm er fie hervor, zeigte fie feinen Kindern und Nachbarn und erzählte ihnen, daß ein 
Geiſt da drinnen fei, und wie er außfehe und was für eine mächtige Stimme er habe. 

Du lachſt? Sie laden alle, wenn fie die Märe hören und weiter erzählen, fie follten weinen. 
Es wäre Hüger, er ließe ben Geift heraus und machte ihn fi bienftbar. Was hat er vom Gaffen! 
Ihr Habt euren Gott auf Flafchen gezogen. Aber ich lobe mir den, ber ihn herauskommen läßt und 
wagt es auf Gnade und Ungnabe mit ihm. 

Der Ehriftgott ift ein gefeffelter Gott auch in der Bruft jedes einzelnen; ftatt 
ihn mit allen Mächten, die von außen und von innen lebenbeftimmend eingreifen 
wollen, ftolz und ſtark ringen zu lafien, pflegt man Kranfentugenden: „ein geruhiges, 
ſtilles Leben, möglichft große Enthaltfamfeit, Gehorfam, Sanftmütigkeit, Ergebenheit. — 
Es ift religiöfe Mode geworben, das Grundverhältnis des Menfchen zu Gott als das 
eined Patienten zu feinem Arzt aufzufaffen. — — Aber der Gefunde läßt ſich lieber 
prügeln al3 bemitleiden und — befeelforgen im Sinne der geifligen Krankenpflege.” 
Weichlih und fchlaff ift auch dad Ebdelfte geworden. Das Wort Liebe ift fo an- 
gefült mit Sentimentalität, daß es einem bei feinem Gebrauch zu Mute wird, als falle 
man Gallert an. Daran liegt es, daß Chriftentum und deutſches Vollstum noch 
unverföhnt nebeneinander flehen. 

Dies beides fteht ſich gegenüber: ein gefunbes, lebensfreudiges und arbeitäfuftiged, Tampfed- 
mutiges Bolt und die Krankenpflegerweisheit der Kirche, die ihre Mdepten mit Inbrunft und Eifer an 
die Sterbebetten weift, als an bie rechte Schule, um zu lernen — tie man die Lebenden behandelt. 

Dem bdeutfchen Glauben erſcheint, wenn er ein Bild fucht für das, was er als 
göttliche Kraft empfindet, Gott als „Führer, Herzog, König, Feldherr und Meifter*, 
Führer in das volle freie Gegenwartsleben hinein, um ſich fämpfend zu verbinden 
mit allem, was dort ald Macht und als Wert gilt. Nichts ift fchlimmer, gotttwidriger 
als „die Feigheit, die fich verftedt und müde die Hände abwehrend ausftredt: es ift 
gut, es ift gut; ihr habt recht, haltet nur Frieden und Ruhe. Nur feinen Streit, 


Moderne Lebensprogramme. 118 


über bein Weib als fechftes, du follft deinen Vorteil holen, wo bu ihn findeft als 
fiebentes, du bift zum Richter gefegt über ale Mitmenfchen als achtes, Rüdjichts: 
loſigkeit als neuntes und Mißtrauen und Prozefiieren als zehntes Gebot.“ 

Jedes einzelne ein entjchiedened Nein auf das, was der Pfarrer zu fagen hat. 

" Aber auf dem Dorf ift Götterdämmerung. Der alte Volksgott, der dem Bauern das 
Zehngebot des Machtgewinnd um jeden Preis diktierte, unterwirft fi) langfam dem 
Gott der Liebe. Langfam — Jahrhunderte arbeiteten daran. Davon erzählen die 
Geifter, die in der Sturmnacht durch das Dorf zichen und fragend durch die Scheiben 
hineinſehen: 

„Schulze, was macft du, Gemeindeſchulze? Fürchteſt du dich Unrecht zu rügen, wo Unrecht ift? 
Schulze, wie hängt dein Mantel im Wind? Schulze, geht's vorwärts im Torf? aufwärts im Dorf? 
Schulze, wie bauft du die Gemeinde über unfern Fundamente? Biſt du voran oder hintſt du hinten 
nach, ängftlid auf die Stimmung achtend? — Pfarrer, mas machſt du? bift du ein Frembling im Dorf? 
übel gezwungen, weil du noch feine befiere Stelle haſt? Führſt du den heimlichen Kleinkrieg ums Geld? 
Biſt du Feuer oder Feuerrauch? Pfarrer, gieb acht, wie ſprichſt du von deiner Gemeinde, find's dumme 
Bauern, Rich, um dad man ſich nicht fümmert, außer um es zu übertölpeln?“ 

Auf dem Dorf ift Götterdämmerung. 

Hier und da einer, der fchon den Kampf aufgenommen, der junge Tagelöhner 
Benedikt Heider, der dem Trunke mwiderfteht, an dem feine Väter bid hinauf zu dem, 
der noch Hofbefiger war, zu Grunde gegangen, der Schulze, der dem Pfarrer nach 
einer fröhlichen und doch ernften Plauderei die Hand reicht und fagt: „ich ſeh's noch 
kommen, wir machen zufammen noch etwas Bahnbrechendes für unfer Dorf.” 

Ein önigliches Gefchlecht fol heranwachien im Dorf, Menfchen, die Mitichöpfer 
Gottes find und über die Erde, das Irdiſche herrſchen. Solches Herrchen aber 
bedeutet Selbftzucht. Auch hier ein entſchiedenes, durchgreifendes Entweder — oder. 

Ich Habe Menſchen kennen gelernt, junge kräftige Menſchen, an denen der Lebendige Gott feine 
elle Freube hätte Haben können, wenn fie verjtanden hätten, königlich gefinnt zu fein, aber fie waren 
Vieh. Nicht fie regierten ſich und hielten das Tieriiche in ſich in ſtolzer Zucht, fondern das Viehiſche 
in ihnen war König über fie und fie mudften nicht, wenn es feine brennende Geißel über fie ſchwang! 
O Schande! Schande! Schweigt alle! Es ift zu gemein und häßlich. — 

Und dann fol die Schöpfung ſchon fertig jein? Tie Schöpfung der Könige der Erde, bie über 
alled Bieh herrſchen follen, und über alles Gewurm, das auf Erden kriecht, wenn fo das ekelſte Gewürm 
und bändigen und über und wegkriechen kann, über uns Ebenbilder Gottes, Könige in feinem Namen? 

Er foll nur ſchweigen, der da, der dad Geficht jur Frahe verzieht, als fühlte er ſich weit über: 
legen unb müßte befler, wie es der Welt vauf iſt. Ich weiß es auch und bejonders, wie fein und 
feineögleichen Lauf ift, obwohl — da fei Gott vor! — nicht fo prattifch wie er. 

Aber das weiß ich fogar beſſer als cr, was Liebe wirklich iſt. Sie hat nichts mit dem Schmutz 
zu thun, fie ift etwas Heiliges auch noch in ihrem Irdiſchſten, und wer fie nicht heilig zu balten weiß, 
dem wird von daher das ganze Leben ſich einihmugen. 

In dem Bemühen, die Eigenart von Arthur Bonus im Kern zu fallen, wurde 
mir eine Geftalt der modernen Malerei lebendig — der Säemann von Hans 
Thoma. 

Wie er über die heimiſche Scholle fehreitet, jede Linie der prachtvollen Geftalt 
marlige Kraft, edel ohne eine Spur von Weichheit, jede Bewegung ein Ausdruck 
unbeirrbarer Zutunftfreudigfeit, einer Hoffnung aus Glauben und der eigenen Mannes: 
kraft, — jo ſcheint er eine Verkörperung jenes „deutſchen Glaubens“, der in den 
Schriften von Arthur Bonus lebt. 


115 


Um einen Kopf Blumenkohl. 


R. Fromm. 


Ragvrud verboten. 


In der Küche waltete das alte Mütterchen, ! 


ganz erhigt von ihrer Thätigkeit und von 
freudiger Aufregung. Cie bereitete eine be— 
fondere Überrafgung für ihren Mann, denn 
es mar heute ihr Hochzeitstag! 

Cie hatten ihn ſchon mandes liebe Jahr 
begangen, ohne jede Feſtlichleit; denn erftens 
ftanden fie allein, und zweitens waren fie arm. 


Cie hatten heute wie jedes Mal zuvor ſich 


am Morgen einen Kuß gegeben und hatten 
gefagt: „Gott, laß uns beieinander bis zu 
unferem Ende!” Sonft war die Feier des 
Tages damit beendigt geweſen. Aber heute 
ſollte es etiwas Befonderes geben, und das 
gute, runzlige Geficht der Frau Lehnert lachte 
in jedem Fältchen in der Vorfreude. 

Sie ging hinein, um den Tiſch zu decken. 
Ihr Mann ſaß am Fenſter, über einen Heinen, 
tannenen Tiſch gebüdt, der mit Papptafeln, 


buntem Papier, Kleiftertöpfen und dergleichen 


bebedt war. Der ehemalige Buchbinder trieb 
fein Gewerbe nod, fo gut ober vielmehr fo 
ſchlecht wie feine halbblinden Augen und feine 
gitternden Hände ihm geftatteten. 

„Sieh einmal, Hannden,” fagte er ver 
gnügt, „ift das nicht etwas Feines?” Gr 
wies mit harmlofem Stolz auf ein Schächtelchen, 
deſſen fchiefe Wände und fonftige Schäden er 
nicht ſehen fonnte. „Das nimmft du in den 
Laden mit, wenn du morgen ausgehſt, nicht 
wahr?” 

„Gewiß!“ ftimmte dad Mütterchen lebhaft 


bei. Es war der einzige Betrug, den fie ſich 


in ihrem Leben zu Schulden kommen ließ: | 


daß fie feine verunglüdten Erzeugniſſe forttrug 
und dann vorgab, fie hätte fie verkauft. 
wußte, der Gedanke, daß er noch etivas ver⸗ 
dienen könne, war die einzige Freude, die 


Eie | 





ihrem Mann geblieben war. Und bei dem 
fümmerlihen Leben, das fie führten, wollte 
fie ihm die nicht rauben. 

Sie hatte nun die Suppe aufgetragen. 
Aber fo fehr fie fih bemühte, unbefangen zu 
feinen, er mußte doch an ihrer Zerftreutheit 
merken, daß etwas Außerorbentlihes in der 
Luft Tag. 

„Du bift ja fo erregt, Hannchen,“ fagte 
er gutgelaunt. „Haft du mir etwas zu 
beichten® Iſt das Fleiih hart oder hat es 
die Kate gefreſſen ?” 

„Rein, nein,” lachte das Mütterchen, 
feelenfroh, da er foweit entfernt war, die 
Wahrheit auch nur zu abnen. Gie ging 


| pinaus, fam wieder und ftellte mit ernfter, 


gleihgiltig fein follender Miene das Fleiſch 
und die Kartoffeln auf den Tiſch, daneben 
eine verbedte Schüffel. 

„Was ift das?“ fragte der alte Lehnert, 
bob auf einen lächelnden Wink der Frau den 
Dedel auf und büdte ſich tief über das Gericht. 
„Blumene — nein, e3 ift doch nicht möglid). 
— Mahrhaftig, Blumenkohl! Blumenkohl, 
noch dazu im Winter! Wie geht das zu, 
Hannden ?” 

„Nun, Alter,” fagte fie mit vergnügtem 
Laden, „wie ich geftern bei dem Krämer 
vorbeiging und die ſchönen Köpfe im Fenſter 


‚ liegen fah, dachte ich bei Mir: morgen ift unfer 


Hochzeitstag; da fönnte ich ihm einmal fein 
Zeibgeriht geben. Wir haben ja, Gottlob, 
in diefem Winter etwas an ber Heizung 
erfpart, das Gelb reicht, bis die Unterftügung 
aus dem Verein kommt —“ 

„Und daraufhin ſchwelgen wir heute,“ 
lachte der Alte. „Ei, ei, wie, wenn eine der 
Vorſtandsdamen dich bei dem Einkauf geſehen 

8 


Troſt. 


Die junge Frau nickte. „Ich bin nicht 
der Anſicht der anderen Damen,“ ſagte ſie; 
„aber ich dachte, es wäre beſſer, wenn ich Sie 
warnte und Sie bitte, in Zulkunft vorſichtiger 
zu ſein.“ 

„Um einen Kopf Blumenkohl!“ ſtammelte 
das Mütterchen faſſungslos. 

„Ja, es thut mir ſehr leid; aber ich habe 
nicht durchdringen können. Und ba ich 
fürchte, ie könnten in Verlegenheit fein, habe 
ich Ihnen etwas aus eignen Mitten — es 
iſt fehr wenig, aber doch beſſer —“ Eie 
verlor fih in verlegenem Stammeln, während 
fie ein Heines, zufammengemwidelte® Papier auf 
den Tiſch legte. 

Die beiden Alten fenkten ihre weißen 
Köpfe tief vor Scham. Es mar das erfte 
wirkliche Almofen, das fie befamen. Das 
Mütterchen fuhr ſich mit der runzligen, arbeits: 
harten Hand über die Augen und verſuchte 
etwas zu ftammeln, aber fie brachte fein Wort 
heraus. Da erhob fi} der alte Mann; und 
die blöden Augen feit auf das Geficht der 
Dame geheftet, fagte er: 





17 


„Gnädige Frau, wir banken Ihnen für 
die gute Gefinnung, mit der Sie uns Ihr 
Gehen? machen. Wir haben nad ber 
Meinung der wohlihätigen Damen ein Unrecht 
begangen, und wir müflen bie Strafe dafür 
hinnehmen. Die Strafe ift wohl gerecht, aber 
die Lehre, die Cie damit geben, ift nicht gut. 
Mas wir aus Unbedacht öffentlich gethan 
haben, das werden bie andern armen Leute 
heimlih thun; fie werben nicht nur ver—⸗ 
ſchwenden wie wir, fie werben auch heucheln, 
und die Damen werden ſchlechten Dank für 
all ihre Mühe und Barmherzigkeit haben. 
Das fagen Eie den andern Damen, gnädige 
Frau, und feien Sie felber beftens bedanlt, 
weil Sie es fo gut mit und meinen.” 

Frau Etieler fagte leife „Guten Abend” 
und ging eilig die Treppe hinunter. Der 
Mann hatte jo unrecht nicht, und fie hätte 
gern die Beftelung ausgerichtet. Aber fie 
fürdptete fich vor den älteren Vorſtandsdamen; 
und fchlieglih: wäre es nicht beſſer für alle 
Teile geivefen, wenn bie Alte ihren Blumen- 
Tohl heimlich, gefauft hätte? 


per - 





Sn alle zur Ruh gegangen, 
Ich fig im Stäbchen allein. 

Da tritt mit leifen Schritten 
Meine Mutter zu mir herein. 


Ganz leife tajten die alten, 
Sitternden Hände mich an, 
Und ihre Fippe tröftet, 
Wie fie nur tröften fann. 


- &rof. - 


* 





DIL leiſe von mir fehmeicheln 
Das Leid, das wild mich quält, 
Indem fie mir meiner Kindheit 
Goldene Märchen erzählt. 


Da thun fich alle Thore 

Dor meinen Augen auf... 

So fill. Längft hielt die Mutter 
Mit Schmeicheln und Reden auf. 


£eif'ilt fie fortgegangen, 

Sie ließ mich nicht allein, 

Mein Heimweh und meine Jugend, 
Die mögen wohl bei mir fein. 


Milhelm Tobfien. 


Frauenvereine. 


nötige Material en gros ben ganzen Winter hindurch 
beziehen kann und mit dem richtigen Kennerblid 
das erforderlihe Tuantum wird feftftellen können. 
In jedem Haufe, wo eine größere Feſtlichkeit ftatt: 
gefunden, wird belanntlid oft noch tagelang von 
den beaux restes gejhmaujt. Das ift im Grunde 
eine Verſchwendung! Denn es liegt durchaus nicht in 


den Abfichten der dausfrau, die ganze Familie mit ' 


119 


' teuren Mayonnaifen, Poularden, Cremes u. bgl. m. 
noch hinterdrein zu regalieren. Man macht aber 
eben aus ber Not eine Tugend. 

Schon biefer ötonomifche Punkt allein dürfte 
ausſchlaggebend für Hinzuziehung einer Kraft fein, 

' deren Honorar faum in Betracht kommen Tann, 

wenn fih eine Gejelfchaft durch fic beffer, vorteil: 

hafter und ruhiger arrangieren läßt. 


67.55 


Frauenvereine. 


Die Kraukenpflegeſtation des Berliner 
Fraueuvereius, 
Bülowſtraße 14, I., — 
bat vom 1. Ottoder 1899 bis 30. September 1900 
KL Kranke aufgenommen und zwar 
18 unverheiratete, 
63 verheiratete Frauen und Witwen. 
Son diefen haben 72 aus Krantentaffen, denen 


fie angehörten, einen Juſchuß zu ben often ihrer ; 


Zerpflegung befommen, während 8 ganz aus den 
Mitteln des Bereins erbalten worden find. 
Die Zahl der Pflegetage betrug 1256 -- davon 
entfallen 132 auf die volljtändig vom Verein unter: 
haltenen Kranken —, die der ausgeführten Cpera: 
tionen inägefamt ## (48 Meinere und 23 große), 
darunter 5 Total-Erftirpationen, 4 Yaparotomicen, 
14 Colporchaphieen und Zorfaloperationen. An 
Neurafthenie und Anämie find 5, an Unterleibs: 
entzündung 10 Patientinnen behandelt worden. 

Seit dem Beitehen der Anftalt haben dort im 
aangen 834 Franke Frauen Verpflegung und ärztliche 
Behandlung gefunden. 

Bei der Aufnahme in die Pflegeftation werden 
in erfter Reihe die Hausarmen fowohl unferer 
ereindmitglieder, als die umferer Freunde berüd: 
fihtigt, welche die Anftalt durch Beiträge unter: 
ftügen. Bon biefen Kranken komnien zunächft jolde 
in Betracht, die feiner Krantentafje angehören, 
folglih am bebürftigften find. Die Entſcheidung 
über die Aufnahme fteht Sri. Dr. Tiburtius zu, 
an welche bie Kranken zur Konfultation zu ver: 
weiſen find und zwar entiveber morgens von 8 bio 
9 Uhr in ber Pflegeitation, Bülowftraße 14, I, bei 
Frl. A. Rnopp, oder vormittags von 1U—I2 Uhr 
und nachmittags von 2—4 Uhr in der Wohnung 
von Frl. Dr. Tiburtius, Büloroftcape 14, IT. Um 
Mißbräuchen vorzubeugen, müflen die Aufzunch: 
menden bei ber Konfultation eine Empfehlungsfarte 


derjenigen Perfönlichteit mitbringen, von ber fie | 


geigiet werben. Auögefchloffen find Arante mit 
anftedenden oder unheilbaren Leiden. 

‚In der feit dem 1. Oftober 1897 mit dem Berliner 
Frauenverein in Verbindung ftehenden Bolitlinit 
für Frauen, Alte Schönhauferitrape 23:24, 


find vom 1. Dftober 1899 bis zum 30. September ! 


1900 748 neue Patientinnen bebandelt worden. 
Die Zahl der Konfultationen belief fi im lebten 
Kechnungsjahr auf 3070. Zeit Eröffnung ber Poli: 


finit (am 18. Jumi 1877) Haben dort im ganzen 24308 | 


trante Frauen ärztliden Rat und Beiftand gefuct. 

Die politfiniichen Sprehftunden finden regel: 
mäßig Dienstags und Freitagd, nachmittags von 
Y5 Ugr an in ber Alten Schönhauferftraße 23/24 


| Sof pt., ftatt. Behandelnde Arztinnen find Frau 
ı Dr. med. Bloeg, fowie bie DDrs. med. Frl. 

Vluhm und Agnes Hader. NIS Beifteuer zu den 
, Unterpaltungötoften ift pro Perfon und Konfultation 

ein Betrag von 10 Pf. zu entrichten. Gänzlich Un: 
bemittelte erhalten freie Arzenei, müffen ſich deswegen 
aber an eine der behandelnden Ärztinnen wenden. 


Der Ev. Diakonieverein 
bietet beruflofen ‚rauen gebilbeter Stände ben 
tommenden Winter hindurch vom Tftober an in 
Berlin: Zehlendorf vier theoretifde Rurſe von je 
vier Wocen Tauer, in welden fie in die mannig: 
faltigen Aufgaben weiblicher Yiebesthätigeit ein: 
geführt werben unter Befichtigung der entipredenden 
Anftalten in Berlin und Umgegend. Der Unterricht, 
und foweit Raum ift, die Wohnung ift unentgeltlich; 
Belöjtigung wird zum Selbittoftenpreife angeboten. 
Irgendwelche Verpflichtungen entftehen durch bie 
Teilnahme an den Surfen nicht, denn ber Ev. 
! Tiatonieverein bezweckt lediglich, beruflofen rauen, 
foweit fie es wünfgen, durd Erziehung, Berufe: 
bildung und dur genoffenfhaftlibe An: und 
Zicherftelung für ihr Leben Inhalt, Unterhalt und 
Nüdhalt zu gewähren und durd ihre Verwendung 
in der Wohltaprtöpflege diefe zu fördern. Wir 
nlauben mit diefem Pinweife mander unferer 
i Yeferinnen zu dienen und verweilen fie wegen alles 
Näheren an den Begründer und veiter bed Vereins, 
Brofeffor D. Dr. Zimmer in Berlin: Zehlendorf. — 
Derſeibe Verein errichtet ein neues Mädchen: 
beim in Gummersbach, Rheinprovinz rn biefem 
Heim finden junge Mädchen von 14 Jahren an 
Aufnahme, die ſich durch Arbeit in eimer Woll: 
ſpinnerei ihren Unterhalt verdienen, und die bie 
Genoffenicait in jeder Beziehung ſchützt, denen fie 
3%. 8. tur Vertrag und gerictli feftgelegte 
Sicherftelung die Bürgfhaft dafür gewährt, daß 
| fie ihre Arbeit nicht verlieren, daß der Arbeitölopn 
nicht berabgefept wird, und daß fie nach 6 Jahren 
Arbeitöjeit mindeftend 1000 Mart rein erfpart 
baben fönnen. In den Abenditunden erbalten fie 
| Unterricht in allen Zweigen der Hauswirtſchaft, 
fo daf fie in einigen Jahren alles das gelernt 
haben, was fie ale daubſrauen unb Rutter 
gebrauchen. — 


| =. 
| Die Mädden- und Frauengruppen für foziale 
! Hilfsarbeit zu Berlin 


| (Vorfigende: Frl. Alice Salomon, Berlin W., 
| Schillſtr. 10) 
i 
j 





veröffentlichen foeben ihren Arbeiteplan für das 
kommende Gefchäftsjahr. Belanntlic ift es Auf: 


Ragprud mit Quellenangabe erlaubt. 


* Über die im den Fabriken Preußens 
befchäftigten Arbeiterinnen entnehmen wir dem 
im Yaufe bes 
Regierungsgewverberäte noch folgende intereffante 
Zahlen: 


Es find im ganzen 423 764 weibliche Perionen 
in den abriten sc. beicäftigt geweſen gegen 
397 234 im Jahre 18utz und 378553 im Jahre 
1897, fo daß gegenüber bem voraufgegangenen 
Jahre eine Yunabme um 26480 Arbeiterinnen 
oder 6,7 d. ©. erfolgt ift, während von 1897 au 
1898 nur eine Zunahme um 18781 oder 5,0 0. 9. 
ftattgefunden hatte. 

Von der Geſamtzahl entfallen auf bie weib: 





lichen Perfonen unter 14 Jahren 525 (1AAR don) ! 


(+ 119 v. 9), auf die von 14—16 Jahren 
46831 (43186) (+ 8,4 v. ©), auf die von 
16—21 Jahren 148331 (139 777) (+ 6,1 v.9.) 
und auf die über 21 Jahre alten 228.077 (213 B52) 
(+ 6,6.0..9). Eine große Anzahl von Fabriten 
bat, vermutlich weil fie männliche Arbeitsträft 
nicht erfangen tonnte, auf bie Frauenarbeit zurüd: 
gegriffen. Die Zahl der Fabriken, die weibliche 
erwachſene Arbeiter befchäftigten, betrug 22 285 
gegen 18.698 im Jahre I89R, iſt alfo um 3387 
oder 17,9 v. H. geitiegen. Die Zahl der jugend: 
lichen Arbeiterinnen verteilt fih auf die einzelnen 
Induftriegruppen wie folgt: Von den unter 
14 Jahren alten weiblichen Perfonen find 27N, alfo 
mehr als bie Hälfte aller, und von den 14 his 
16 Jahre alten 18133 (1898 16.590), alfo nahezu 
40 v. H. aller, in ber Textilinduſtrie befchäftiat. 
Dann folgt die Induftrie der Nahrungs und 
Genußmittel mit 6591 jugendlichen Arbeiterinnen 
gegen 6807 im voraufgegangenen Jahre, jo daß 
bier alfo eine Abnahme ftattgefunden bat. 
den über 16 Jahre alten Arbeiterinnen wurden 
147 758 (1898 146539) in ber Tegtilinduftrie, 
55874 (53.676) in der Induſtrie der Nahrungs. 
und Genußmittel und 49H61 (38475) in 
Velleidbungs: und Reinigungsinduftrie beſchäftigt; 
tehtere Induftrie hat aljo eine fehr torte Zunahme 
der Frauenarbeit erfahren. Während von den 
27 Auffichtöbezirten 6 eine Abnahme der weiblichen 
Arbeiterinnen von 14—16 Jahren hatten, hat bie 
Zahl der über 16 Jahre alten Arbeiterinnen nur 
in einem Bezirte, nämlich in Merfeburg (um 250) 
abgenommen. 
der Arbeiterinnen bat in der Stadt Berlin und 
Charlottenburg ftattaefunden. Hier waren 23 296 
(1898 18310) Arbeiterinnen von 16—21 Jahren 














September erfchienenen Bericht der ! 


Von ; 





der ; 


Die bei weitem jtärfite Jumabnıe ' 


| der geforderten Scminarbilbung, fi 


und 33008 (25843) Arbeiterinnen von über 
21 Jahren, zuſammen alle 56244 (44153) 
Arbeiterinnen beicäftigt Es ergiebt Died eine 
Zunahme von 12 141 Arbeiterinnen oder 27,5 v. ©. 
Mehr als die Hälfte der Zunahme der erwachſenen 
weiblichen Arbeiter im ganzen Staate (genau 
53,80. 9.) entfällt alfo auf Verlin und Charlotten: 
burg. Nimmt man bie jugendlichen Arbeiterinnen 
binau, fo beſtand das Arkeiterinnenheer biefer beiden 
Städte im Jahre 1899 aus #1 603 Köpfen gegen 
48576 im Jahre 1898 und 45 305 im Jahre 1897. 





* Die neue Prüfungsorbuung für Ober: 
lehrerinnen erfährt im 1. Oftoberheft der „Lehre 
rin“ eine eingehende, vorzüglich  orientierende 
Beſprechung durch Fräulein Gertrud Bäumer, 
auf bie wir bie Lehrerinnen im unſerm Yefer- 
treis um jo mehr aufmerffam machen, als der 
Artitel zugleich eine Witerlegung der in einem 
früheren Heft desjelben Blattes von Fräulein Vor- 
wert gegebenen Befprechung ber Cberlchrerinnen. 
ſache von dem von ihr feit langem und neuerbings 
nun auch von ber Regierung eingenommenen 
Ztanbpuntte aus enthält. In dieſer Veſprechung 
wird fpeziell die Arbeit des Allgemeinen Deutſchen 
Lehrerinnenvereins in der Oberlehrerinnenbewegung 
dadurch in ein ſalſches Licht gerüdt, daß ſein 
Schlußprototoll · mit anderen Xorfclägen zur 
vöfung der Frage als „Forticrittlihe Partei” 
aufanmengefaßt und in dieſer Zuſammenfaſſung 
ungenau charakterifiert wird. Die Beſprechung 
der Frage durd Fräulein Bäumer vertritt ben 
Standpunkt des Schlußprotofells, das an Stelle 
jährigen Amts: 
thätigfeit und Abfofvierung der berichrerinnen: 
kurfe eine real gymnaſiale Vorbildung mit an. 
geſchloſſenem Univerfitätöftubium und Beiud) einer 
vor allen bie praftiiche Ausbildung vermittelnden 
Sherfchrerinnen-Bildungsanttalt fordert. 





Die Gymnafialturfe für Zrauen in Berlin 
entlichen im Oftober wieder fünf Abiturientinnen, 
bie fümtlich mit gutem Erfolg vor der Agl. Prüfungs- 
tommiifton des Luiſenahmnaſiums au Berlin das 
Eramen beitanden. Es waren Frl. Charlotte 


Srauenleben und Streben. 


Tnüpfungepunfte für bie Agitation und Organiſation. 
Deranftaltung ven Aufnahmen über die Yohn 
Arbeitd: und Yebensbedingungen einzelner Arbeite. 
tinnentategorieen u. |. w. 

Beim Punkt Wöchnerinnenfchuß einigte man fich 
nad) längerer Tiefuffion weitergebender Borihlä 
babin, baf der viermöcentlihe Schuß vor der (de: 
burt und der fehswöchentlidde Schuß nach der Geburt 
obne Ausnahme auch für die ‚Frauen verficherter 
Arbeiter, bie nicht Berufdarbeiterinnen find, ver- 
langt und die von den Kaſſen zu leiftenbe Unter: 
ftügung für dieſe Zeit auf den vollen Betrag des 
ortsüblichen Tagelodaes erhöht werden felle. 

Schließlich wurde noch die Frage der Stellung 
nabme zu ber bürgerlichen ‚Frauenbewegung in Kürze 
behandelt. Dan fand feine Veranlaſſung an dem 
prinzipiellen, von dem Gothaer Parteitag feitgelegten 
Standpunkt zu rütteln. Demnad ann von einem 
Zufanımengehen mit ber bürgerlichen Frauenbewe 
gung ale folder nicht die Rede fein. Dagegen -- 
und cs ſcheim ©. Fürth, dafı das ein Vorzang von 
geradezu fumptomatifcher Bedeutung ift — joll es 
nidpt länger verpönt fein, daß die eine oder andere 
Geneffin in geeigneten Fällen mit bürgerlichen 
Frauenrechtlerinnen zufammenarbeitet. Es ſoll dem 
Tafte der Einzelnen überlaflen bleiben, hier die 
Grenze zu finden. 18 folde Jale wären nad 
9. Fürths Deinung Beftrebungen anzufehen, denen | 
es um bie Hebung ber Lebenslage einzelner Ar: 
beiterinnenfategorieen zu thun ift, und jogialpolitiiche 
oder foziafetbiiche Beſtrebungen verwandter Art. 
(stelfnerinnen, Dienftboten u. a. nt.) 

Damit war die Tagesordnung ber Konferenz 
erfepöpft. Nhr Berlauf, die Sachkunde, Sachligteit | 
und Gewandtbeit, mit der die Verhandlungen ge: 
leitet und geführt wurden, fo bemertt Henriette 
Furth zum Schluß ihres Berichted, ftellen der zu 
funitöfreudigen Kraft und Lebensfriſche der prole: 
tarifchen Frauenbewegung ein ſchönes Zeugnis aus. 











* Über die Zulafinug der Frauen zum | 
Stubinm der Medizin ſprach ſich in feiner Er: 
offnungsvorleſung der Gynätkologe ber Wiener Uni: 
verfität, Dr. Shanta, aus. Er fteht der Zulaſſung 
der frauen zu höheren Studien überhaupt wol 
wollend gegenüber, wenn er aud die beiondere 
Befühigung der Frau zur Medizin nicht anerkennt. 





* Die Univerfität Chriftiania hat Aräulein 
Chriftine Bonnevie zum Konfervator an dem 
zootomiſchen Muſeum ernannt. Ihre Wahl durd 
das atademiſche Kollegium erfolgte einitinmig. 





* in ben Bereinigten Staaten von Nord: , 
amerifa, die das „ſchulpflichtige Alter vom 5. bis 
zum 18. Yebensjahre auödehnen, giebt es 
21500000 Schufpflichtige. Viele, namentlich , 
Anaben, treten allerdings weit vor dem 18. Jahre 
in das gewerbliche Leben; immerhin giebt es 
15 000 000 Perſonen beiderlei Geſchlechts, die die ı 
öffentlichen und Privatichulen befuchen. Dieſer 
ftattlihen Schülerzahl fteht eine Rörperihaft von ı 
409 198 Lehrern gegenüber, von denen über zwei 
Drittel rauen find. Je mehr man nach dem - 


| „Letters on Eıu 


vorherrſcht. 


123 


Weften kommt, deſto mehr fteigt das Berhältnis 
der Lehrerinnen zu den Lehrern; es beträgt in 
weiten Diftritten 10 zu 1. Das Durchſchnitto⸗ 
gehalt eines Lehrers beträgt monatlich 46'/, Dollars, 
das einer Lehrerin 88%, Dollars (= 205 refp. 
155 Mark). Tas ift allerdings ein Unterfchied, 
ber es den rechenkundigen Ameritanern mag 
rentabel erfcheinen lajien, fo viel mehr Lehrerinnen 
al3 Lehrer zu befchäftigen canzuftellen Tann man 
in Amerifa kaum fagen, ba in ber weitaus größten 
Mehrzahl der Staaten die Lehrer ſowohl wie die 
Lehrerinnen nur auf Kündigung angenommen 
werden). Indeſſen genießen auch abgefehen davon 
die xehrerinnen in Amerika wegen ihrer Streb: 
famkeit und ihres feinen, verjtänbnißvollen Ein: 
gehens auf Lie modernen päbagogiihen Be- 
ftrebungen eine unbeftrittene Anerkennung, und 
felbft im Unterrichte der Rnaben bio zu ben 
böchften Altereftufen baben fi bie Frauen durch. 
aus bewährt. 


* Catherine Macanlay Graham (1731 bis 
1791) über Goeducation. Gelegentlich des 


12. Frauentongreſſes in Paris, der Ichhafte Tebatten 


über das Thema der Coeducation gebracht hat, 
iſt es intereffant, das Urteil einer Frau zu ver- 


| nehmen, die ſchon im Jahre 1790 dieje wichtige 


Erziehungsfrage erörtert. Es ift Catherine 
Macaulah Graham (1731 1791, eine zu ihrer 
Zeit ſeht gefchägte engliſche Geichichtsſchreiberin 
(History of England 1763), die ſich in ihren 
tion“ folgendermaßen äußert: 


„Ein weitered Vorurteil giebt cd, das das 
Güd der Frau noch tiefer untergraben fünnte, 
ein Vorurteil, da® die Grenzen des Orients nic 
hätte überichreiten dürfen, jener Staaten der 
Stlaverei, wo die frau von jeher unterbrüdt war, 
in ber beftimmten Annahme, daß bie geiftigen 
Mräfte der rau thatjächlich minderwertig ieien. 














* Das Vorurteil, dad ich meine, ift der erniedrigende 


Unterfhieb, ber bezüglich der flege der Verftanbes: 
träfte jeit mehreren Jahrhunderten in gany Europa 
In der erften Zeit ber Nenaiffance 
ließen unfere Porfahren alle ihre Kinder gleicher: 
weife die Sorteile einer laifiihen Erzichung 


* genießen; aber da ſchulmeiſterliche Steifheit der 


Fehler jener geit war, fo mag ein weiblicher 
Student feine ſehr angenehme Perjönlichteit geweien 
jein. Wahre Pbilofophie war damals jelten in 
Verbindung mit Gelchrlamteit zu treffen, auch bei 
dem männlichen Geichlechte nicht. Tod) jeder, der 
nicht von Vorurteilen verblendet ift, muß erfennen, 
daß feine Kultur eine jo reihe Ernte veripricht ale 
die Kultur des (Heifted, und daß cin Kopf, erhellt 
von dem Yichte deo Wiſſens, jeder Aufgabe der 
Vernunft, die fi ihm barbietet, gewachſen fein wird. 

Die ſozialen Pflichten werden von den rauen 
in dem wichtigen Amte der Tochter, der Ehefrau 
und der Mutter infolge ihrer Unwiſſenheit und 








; Cberflächfichteit mur Schlecht erfüllt, unb in dem 


häuslichen Verlehr wilden Ehemann und Ehefrau 





Weihnacht. 


Bon 
Paul Scıeftler. 


Bun dämmerf der Friede nieder 
Wie leife flokender Schnee, 

Mnd Weihnadtskerzen und -Kieder 
Flackern frohlockend zur Böh’. 


Id weiß von alternden Berzen, 
Die irrten fo friedlos weit — 
Und fanden bei Weihnadhfskerzen 
Beim in die Iugendgeit... 


> 


cm 




















MN 











Einfamteit. 


„Mein ftrenger Genius. Das moderne 
Weib mit dem nüchtern tiefen Blid als Be- 
feelerin der Kunſt.“ Und er küßte fie. 

Eie ging in die Wohnzimmer zurüd. Auf 
der breiten, grün umfponnenen Veranda war 
ein Theetifch zurechtgeftellt, Gebäd, Zigaretten 
und überall behagliche Sitze. Das Mädchen 
hatte das kochende Waſſer gebradht, und 
darunter tanzte die Spiritusflamme. Lifa 
orbnete noch ein paar tieflila Anemonen in 
einem Glaſe und vertiefte fih dann in ein 
neu erſchienenes Bud, bis das erfte Klingel» 
zeichen ertönte. Das Mädchen melbete: 

„Herr Doltor Schwartz.“ 

Liſa erhob fi mit frohem Lächeln, den 
Eintretenden zu begrüßen. 

„Ernſt iſt nod nicht fertig,” fagte fie in 
zutraulihem Plauberton, „er bat natürlich 
wieder bei feiner Arbeit jeve Zeit vergefien.” 

„Laſſen Sie ihn ſich nicht überanftrengen,” 
fagte Doltor Schwartz. „Er war von jeher 
ein zarter Burfhe und fieht jeht immer 
erfchredend elend aus.” 

„Ja, was ſoll ich dazu thun?“ fragte Lifa. 
„Es macht mir felbjt folde Freude, wenn er 
etwas ſchafft, was nachher wieder fo ganz 
groß und fo ganz gut ift. Oder barf ih 
Ihnen, dem ftrengen Krititer, fo etwas nicht 
Tagen?“ 

Er lächelte auf fie herab wie auf ein 
Kind, aber mit innigem Wohlgefallen. 

„Sie wiſſen, es giebt feinen, der das lieber 
bört und beftätigt.” 

„Ja, und wenn Sie nur einigermaßen 
mit ihm zufrieden find, dann ift er es ganz 
mit fih. Ich bin oft eiferfüchtig, melden 
Wert er auf Ihr Urteil Iegt.” . 

„Und dod hatte ich zuerft Grund, auf 
Sie eiferfüchtig zu fein, Frau Lifa,” rief 
Doktor Schwark lebhaft. „Wenn ein Freund 
heiratet, ein Freund in dem Einne, wie Ernſt 
es mir ift, dann ift das faft wie ein völliger 
Verluft, fein beftes Gefühl geht einem ba 
verloren. 
der Zweite. Das verzeiht man nur, wenn 


die Wahl eine vortrefflihe mar, und bier | 


babe ich allerdings verzeihen müſſen.“ 
Eie ſah ihn ernfthaft an. 
„Ich wünſchte, es wäre feine Schmeichelei, 
was Sie da ſagen,“ erwiderte fie in ge— 





Man bleibt im günſtigſten Falle 





131 


tämpftem Ton. „Ich möchte ihm gern viel 
fein, ganz und völlig fein Kamerad und 
Freund in feinen Werken, und überall ihm 
dahin folgen können, wo er hingeht.“ 

„Das ift das Schwere,“ fagte Doktor 
Schwartz, vor ſich binnidend. „Denn ſchließlich 
hat doch jeder Wege, die nur er allein 
gehen kann, die er geben muß, fo uns 
begreiflih «8 uns ſcheint. Es kann ihn 
eben niemand begleiten.” 

„Und was meinen Sie, was man in 
folhem Fall am beften thut?“ fragte die 
junge Frau und richtete ihr llares Auge nach- 
denklich auf ibn. 

„Man läßt ihn gehen,” fagte er mit einem 
halb ironifhen Lächeln, als fei ihm das Ge: 
fpräd ſchon zu ernſt. 

„Ras find mir doch für jammerbolle, zu: 
fammengeflidte Geſchöpfe,“ rief Liſa. „Das 
merkt man nie mebr, ald wenn man fi licht 
und nun fo berb zu zweien iſt — veritehen 
Eie, wie id es meine?” 

Er nidte kurz. „O gewiß. Man möchte 
das Befte, das Einzige, das einem zu eigen 
ift, fein: Selbſt, vernichten, zerftören, fort: 
werfen, um dem andern nur um einen Ge— 
danken, ein Gefühl näher fommen zu bürfen. 
Nun, es ift felten fo ſchlimm.“ 

„Und wenn es fo fchlimm ift?” 

„Dann ift es doc immer Liebe. Und 
darin ift Troft. Die bleibt doch das Einzige, 
mas uns erzieht, adelt, Menjchenfeelen ver: 
ftehen lehrt und unjern Egoismus, unfere 
Selbjtbefangenheit überwindet.” \ 

„Und doch ift nichts egoiftiiher als bie 
Liebe,” fagte Lifa mit nachdenklichem Kopf: 
ſchütteln. 

„Ach, ſagen Sie das nicht,“ rief Doltor 
Schwartz lebhaft. „Ja, wenn Sie Egoismus 
mit Ichſucht überſetzen, dann iſt allerdings 
alles Ichſucht. Man vergißt nur, daß das 
unſer edelſtes Gefühl iſt. Dies fortwährende 
innere Kämpfen und Ringen um uns ſelbſt 
erhält uns lebendig und kräftig. Aber ſagen 
Sie für Egoismus Selbſtbefangenheit, da 
haben Sie alles Schwere, Tote, Unfruchtbare. 
Da haben Sie die Engen, Kleinen und die 
Böfen, Dunklen, alles, was Sie wollen. Nun, 
und da bleibt der große, einzige Erlöſer die 
Liebe; iſt das nicht wahr?” 

9 


132 Einſamkeit. 


„Wahr, wie immer,“ ſagte Ernſt, der bei 
dieſen Worten auf den Balkon getreten war. 
„Denn du biſt unfehlbar, wenn du die Begriffe 
aufjagſt und aus ihrem verborgenſten Wort- 
winkel aufftöberft. Aber grük dich Gott, 
Gerhard, wir ſehen uns viel zu jelten. Wenn 
du feinen Kneifer auf bätteft, wärft du mir 
der liebſte Menſch auf diejer Erbe.” 

Sie ſchüttelten fih die Hände. Das 
. Mädchen meldete neue Gäſte an. Zuerſt 
erſchien ein Tleiner, fchlanfer, bleicher Jüng— 
ling, den man faft für einen Knaben hätte 
halten können. Nur der ungemeine Ernit in 
feinem Auge gab ihm etwas Altes, und dies 
Auge richtete fich mit einem kurzen, fieberhaft 
erregten Forſchen auf den jungen Hausherrn. 
Der begrüßte ihn mit einem gewiſſen Wohl: 
wollen. oo 

„Liebe Lila,” ſagte er. „Hier ſiehſt du 
Herrn Strom, einen neuen Gaft, nicht nur in 
unferm Haufe, fondern auch auf dem Parnaß, 
aber ich vente, er wird bier wie bort bald 
vertraut und befannt fein.” 

Ein flüchtiges Rot.zog über die Stirn 
dieſes jeltfamen Zwitterdings von Knabe, 
Süngling und Mann. Er verbeugte ſich in 
grotesk verfchrobener Art und fchien ein wenig 
außer Faſſung zu geraten, als Liſa ihm bie 
chlanfe, weiße Hand ganz ungeziwungen ent= 
gegenftredte. Ernſt war mit Gerhard zur 
Ceite getreten. 

„It das der rechtwinklige Menſch, der 
und den Einn der Erde künden will?” fragte 
er mit faſt höhniſchem ES chmer;. 

„Ich fage dir, der Burfche ift nicht lang: 
weilig,“ ermwiderte Gerhard. „Er bat einen 
zähen, ftrengen Kopf, der mit ernftem Eigen 
finn die Dinge jo aufzufafien zwingt, mie er 
fie jeben mil.“ 

„And iſt jo troftarm in feinen Arbeiten, 
daß ih mich aufhängen würde an feiner 
Stelle,” murmelte Ernſt mit finfterer Stirn. 

Die erhellte fih aber, als er einer Dame 
anſichtig wurde, die etwas zügernd und lang: 
ſam in die Thür trat. Hier blieb fie ftehen 
und ſah fih mit einem fragenden Lächeln 
um. Emft eilte ihr mit ausgeftredter Hand 
entgegen. 

„Komme ih jo früh?” fragte fie mit 
weicher Stimme und ſah ibn lächelnd an. 


„Ss fpät!” ſagte er halb ſcherzend, halb 
ernfthaft. „Immer zu fpät. Es giebt eigent: 
lich gar feinen Augenblid, der nicht ſchon auf 
Sie geivartet hätte.” 

Eie bob die Augenbrauen etwas Iäffig 
und ging dann mit fchneller, anmutiger Be: 
wegung auf Lila zu. 

„Guten Abend, Dichtersgattin,” ſagte fie 
dabei. 

Lila lachte munter. 

„Es ift gut, daß Sie gefommen find,” 
ſagte fie herzlich. „Schweigenb ober fpredhend 
wirken Sie dur Ihr bloßes Dafein belebend 
auf ung alle.” 

„Ein großes Talent,“ ſagte Strom, ber 
daneben Stand. 

Irma bob ihr Auge und fah ihn prüfend 
und langfam an. 

„Herr Strom,” ftellte Lifa feierlich vor. 

„Sie find auch Schriftiteller?” ſagte Lila 
mit mildem Intereſſe. „Was fchreiben Sie, 
wenn man fragen barf?” 

„Das Neben,” fagte er, feinen ernjten 
Blid mit troßigem Selbftbewußtfein auf ſie 
richtend. 

Lila hatte nicht länger Zeit, der Unter: 
baltung, die ſich fo interejlant anließ, zuzu⸗ 
bören. Es kamen neue Gäſte, die begrüßt 
werden mußten. Da mar ein berühmter 
Maler mit feiner Gattin, ein junger Bildhauer 
und andre FZunjtbefliine Sünglinge und 
äfthetifche Damen, Die ganze Veranda war 
gefüllt, von allen Seiten tönten moderne 
Cchlagmworte, mit mehr ober minder Nachdruck 
gefproden. Liſa verforgte ihre Säfte mit 
Thee und Erfrifchungen, überall bereit, zuzu= 
hören, mitzufprechen, ſich vol Tebendigen 
Eiferd anregen zu laffen. 

Etrom hatte eine Gelegenheit wahr: 
genommen, fi an Ernft3 Seite zu begeben. 

„Iſt es unbefcheiden,“ fragte er befangen, 
„bier und heute Abend nah einem Urteil 
über meine Arbeit zu fragen?” 

„O gewiß nicht,“ ſagte Ernjt mit einem 
faft unmerklichen Seufzer. „Es ift eine ſehr 
tüchtige Arbeit, die in neue Gedankenwege 
zwingt, berb in der Charakteriſtik, oft fchroff, 
die Technik noch raub, rückſichtslos, jedoch — 
das fchabet nichts. Es giebt ein anderes Aber.” 

Er ſchwieg einen Augenblid. 


Einſamkeit. 133 


„Darf ich Sie darum bitten,“ ſagte Strom, 
der den Mund nachdenklich zuſammengepreßt 
bielt. 

„Es befteht nicht in etwas Außerem,” 
fagte Emft langſam, gleihfam Worte fuchend. 
„E3 ift der Geift, der über dem Ganzen liegt, 
der it ein Geift des Todes. Wie mollen 
Sie daraus lebendige Werke ſchaffen? Wenn 
Eie alle Lebensformen verneinen, wenn Sie 
alles mit nüchternem Mipfallen betrachten, 
wollen Sie damit ein Leben füllen, wollen 
Sie damit ein Werk befeelen? Loben Sie 
die Eonne, Herr, und den Morgen. Und 
wenn Sie die Worte ftammeln, jollen Eie 
mir lieber fein, als dies alte, reife Werk.” 

Strom war blaß geworden und hatte eine 
bodhmütige Falte auf der Etirn. 

„sch hätte mich folder Worte von Ihnen 
nicht verjeben, Herr Stein,” fagte er mit 
Faſſung. „Denn Sie, zu dem id) fam, find 
ſelbſt der rückſichtsloſeſte Xebensfünder, der in 
jedem Merk bewies, wie ehern die Natur ihr 
mechanifches Uhrwerk, das wir Menfchen Geift 
und Charakter nennen, ablaufen läßt.” 

Ernft ſah ihn mit Lebhaftigfeit an. 

„Ja,“ erwiberte er. „Und doch fage ich 
damit etwas anderes, ale Cie glauben. 
Stellen Eie diefe fraftlofen Menfchen in andere 
Verhältniffe, auf gefunden, natürlichen Boden, 
umd es wird Ihnen gehen tie farblojen Keller: 
blumen, die in Eonne und Lit Tommen. 
Sie werden ihre Wurzeln tiefer fenfen und ihr 
Zeben ganz anders ausbrüden und geſtalten.“ 

Um Stroms lippenlofen Mund fpielte ein 
etwas Tpöttiiches Lächeln. 

„Ich muß geftehen, daß mir biejer tiefere 
Sinn Ihrer Werke noch nit aufgegangen 
war,“ entgegnete er. „Aber wie ſie waren, 
waren fie Leben und Kunſt und einfache, er: 
Ichütternde Wahrheit. Sch möchte fie mir 
nicht durch irgend eine Zuthat entftellen.” 

Ernſt war flüchtig errötet. 

„Sie befommen vielleiht durch Spätere 
Merle eine Ergänzung, die dann erjt meine 
Lebensanſchauung ausdrücken wird,” fagie er. 
„Aber was fprechen wir von mir? Sie wollen 
meinen Nat, und ich gebe Ihnen den ehrlich 
nah meinem beften Ermeſſen. Suchen Sie 
gefunde Verhältniffe auf, gehen Eie auf 
Reifen, fliehen Sie diefe dunftigen, glühenden 


Etraßen mit dem verfommenen Menfchen, die 
Sie darin treffen.” 

Etrom batte feine 
etwas geredt. 

„Ich danke Shnen,” fagte er. „Sch glaube 
aber nicht, daß dies ein Rat ift, den ich be- 
folgen werde.“ 

Inſpektor Baumann wurde gemeldet. Ernit 
eilte ihm entgegen. 

„Sieb, Lila,” rief er. „Ein alter Freund 
meines Vaters, ich habe noch auf feinen Knieen 
geritten und ihm bundertmal meine Rümmerniffe 
geklagt. Lieber Herr Baumann, meine Frau.” 

Liſa fab nicht ohne Wohlgefallen in das 
berb gerötete Gefiht des großen, ältlichen 
Mannes. Ihr zierlides Händchen verſchwand 
völlig in feiner marmen Riefenfauft, und feine 
runden Augen fahen drollig eritaunt und 
prüfend an ihr herunter. 

„Sch freue mich, Sie kennen zu lernen,” 
fagte fie in faft warmem Ton. „Sie müffen 
mir erzählen, wie Ernft als Kind war.” 

Der Inſpektor warf einen mitleidigen Blid 
auf den fchlanfen, blaffen Hausherrn. 

„Ad, liebe Frau Etein,” fagte er ge- 
mütlih. „Das war ein derber, Heiner Burfche 
mit diden, ‚roten Waden. Den ganzen Tag 
faß er draußen, die Taſchen voll Üpfel, bie 
Augen munter und blanf. Bis der jelige 
Herr ftarb und das Gut verfauft wurde. Da 
war er blaß und verftört, daß ſich mir das 
Herz umbdrehte. Er faß in meinem Zimmer 
und hat, klein mie er war, ſtramm mit fid 
gefämpft, um nicht zu weinen. Aber wie er 
geben follte, ift eg über ihn gelommen, da 
hat er in meinen Armen gelegen und gemeint 
wie ein Kind.“ 

Der Inſpektor räufperte fi) vor Rührung. 
Liſa ſah nachdenklich in fein breites, gut- 
mütiges Geſicht, da recht menig zu all den 
andern paßte. Ernſt aber legte die Hand auf 
feinen Arm: 

„Davon erzählen Eie fpäter,“ rief er. 
„Exit fommen ie mit, denn zwilchen ung 
beiden giebt es noch etwas zu beſprechen.“ 

Er lächelte feiner rau zu und 309 den 
Inſpektor mit fih in fein Arbeitszimmer und 
ſchloß die Thür. 

„Kun?“ fragte er dann. „Sft alles er: 
ledigt? Unterfchrieben, fertig, daß id) mid) 


ſchmächtige Geftalt 


134 


auf den Meg maden fann, wann ich will, in 
‚mein Eigentum zu gelangen?“ 

Der Infpeltor holte bebächtig ein paar 
Papiere aus feiner Brufttafche hervor und 
breitete fie auf dem Tifh aus. 

„Hier ift der Kauffontrafi,” fagte er dabei, 
„bier der Plan von dem Wohnhaufe, bier —“ 

Ernſt ſchob mit einer rafchen Hand: 
beivegung die Papiere zufammen. 

„Es ift gut,” fagte er. „Sch danke Ihnen, 
lieber Baumann. Und was das Gefchäftliche 
anbetrifft, Sie wiſſen, ich will dort Ruhe und 
Zeit finden, feine neue Arbeit. Das lege ich 
alles in Ihre Hand, und Sie müſſen ſchon 
fo freundlid fein und die Verantwortung 
übernehmen. Und nun thun Sie mir den 
Gefallen und fagen Sie meiner Frau nit? 
davon. ch mill fie überrafchen.” 

Der Inſpektor verfprach das ſchmunzelnd. 
Es mar allerdings eine Überrafhung, auf 
einmal die Herrin eines behaglichen Landſitzes 
zu werden. 

Draußen war unterbes bie Unterhaltung 
lebhaft im Gange. 

„Da kommt Bergen,” fagte Doktor Schwartz 
und rungelte die Stirn. 

Irma fah mit einem furzen Lächeln in 
fein verfinftertes Gefiht und nidte dann dem 
Anlömmling, einem derben, jungen Mann, 
freundli zu. Der fchüttelte ihr mie einem 
guten Kameraden die Hand und fah ihr, ohne 
auf die andern zu achten, mit feinen runden 
Augen, die unter buſchigen Brauen bervor: 
bligten, forjchend ins Geficht. 

„Haben Eie heute gearbeitet?” fragte er. 

„Deinen Eie, ein Talent verpflichte?” 
lagte fie mit leichtem Epott. „Mir ift es ein 
Schmud, ein Spielzeug.” 

Seine derbe Fauſt preßte fich feit um bie 
Stuhllehne. „Wie oft habe ih Cie gebeten, 
mir nicht in derjelben Art zu antworten, wie 
den andern!” rief er heftig. 

„Und warum nicht?” fragte fie mit er: 
ftauntem Lächeln. 

„Es ift das Wenigfte, was Sie für mid) 
thun fünnen, wenn Sie nur einen Gran 
Achtung vor mir haben,” fagte er troßig. 

Doktor Schwartz ſah ſich gelangweilt um. 
Er entdedte Ernſt, der ſoeben wieder eintrat, 
und ging ihm entgegen. 


Einfamteit. 


„Diefer Bergen ift mir ein entfetlicher 
Menſch,“ fagte er mifvergnügt. „Ein derb 
anfpruchsvoller Bauer durch und durch.“ 

„Iſt Bergen da?” frug Ernft mit Intereſſe. 
„Diefe Antipathie Tann ich nicht begreifen. 
Er ift der Tüchtigfte von uns allen. Und 
du grade bift doch fonft folh ein AU: 
begreifer.“ | 

„a, irgendivo findet jeder feine Grenze,” 
brummte Doktor Schwartz. 

Ernſt ging, dem neuen Gaſt die Hand zu 
ſchütteln. Der ſtand über Irma geneigt, auf 
die er mit Eifer einſprach. 

„Welch eine Zauberin ſie iſt!“ dachte 
Ernſt. „Alle fühlen ſich zu ihr gezogen und 
bleiben ihr treu durch das ganze Leben, in 
allem Schaffen, in allen dankbaren, beiten 
Gedanken.“ 

Sie empfand ſeinen Blick, und ihre Augen, 
die ihn erwiderten, vergrößerten und ver: 
dunkelten ſich ſeltſam, daß ſie ihm wie ein 
abgrundtiefes, ſchwarzes Fragen entgegen⸗ 
ſahen. Auch ſein Blick wurde dadurch ernſter. 
In einer gewiſſen Befangenheit, die er ſich 
nicht zu deuten vermochte, zwang er ſich zu 
einem Lächeln, das aber erſtarb, da ſie es 
nicht erwiderte. Er war der Erſte, der ſein 
Auge abkehrte, und als er wieder zu ihr hin— 
lab, ſaß fie von ihm fortgewandt und fah 
mit abweſendem Blick zu den andern hinüber. 

Und der Abend erreichte fein Ende. Schon 
war die Dämmerung eingebrochen, und Lifa 
hatte für Lampen geforgt. Es kam allmählich 
ein etwas fühlerer Hauch geweht, der es 
ahnen ließ, daB da draußen irgendwo Wälder 
ftehen mochten, die aus der Erbe köſtliche 
Kraft und Würze hoben und fie in ver: 
Ichiwenderifcher Liebe ber wehenden Luft mit- 
teilten. Ernſt war völlig hingenommen. Die 
Stimmen um ihn herum fehmwirrten wie ganz 
weſenlos an feinem Ohr vorüber, und eine 
Ichredliche, bleierne Mattigfeit lag auf feinen 
Gliedern. Mit halbgefchloßnen Augen ſaß er 
teilnahmlos da. 

Irma war die Erfte, die aufbrach. 

„Sie arbeiten zu viel,” fagte fie noch mit 
einem letzten Blid in fein gefpanntes, mühes 
Geſicht. 

Bergen folgte ihr auf dem Fuß. 

„Ich habe noch zu thun,“ ſagte er kurz. 








Und allmählih gingen auch die Lchten, 
darunter Baumann, dem Ernſt nachrief: „Alfo 
auf morgen!” Dann dehnte er die fchlanten, 
ſchlaffen Glieder, feufzte, trat an die Brüftung 
und ſah in den Himmel. 

„War e3 nicht wieder reizend nett?“ rief 
Liſa und ſchob die Teller zufammen. „Künſtler 
find doch die einzigen Menfchen, mit denen es 
ſich leben läßt. Kaum einer unter ihnen, ber 
nicht geiftvoll und anregend wäre.“ 

„Wie laut die Stadt noch iſt,“ fagte Exnft, 
der binauslaufchte. „Nicht ein Moment Raſt. 
Dasfelbe gebämpfte Tönen durch bie ganze 
Naht. Weißt du, Life, wonach ih mid 
manchmal namenlos fehne? Nach einer ganz 
tiefen, tiefen Einſamkeit und Stille, nad 
dunklen, faufenden Wäldern, in benen unfer 
Haus ſtehen müßte, oder es dürfte auch 
zwiſchen Feldern fein, auf denen man arbeiten 
ſieht. Und da mir beide, du und id, allein, 
von allem, allem fern, auf gefundem, ewigem 
Boden wurzelnd und lebend. Nicht aus biefen 
verzerrten Häßlichleiten unfere Rahrung faugent, 
fondern aus aller Einfahheit und Kraft, die 
die Natur giebt.” 

„Nennft du Irma eine verzerrte Häßlich- 
feit?” fragte Lifa, die ſachte an feine Eeite 
getreten war. Er zog fie an fi und um— 
faßte ihre Hand mit feiner ſchlanken, fühlen. 

„Ich weiß dir nicht einen Menfchen von 
allen diefen zu nennen, der natürlih wäre. 
Eie find alle wie Pflanzen, die in Stubenluft 
bei elektriſchem Licht großgezogen find. Du 
und id, wir aud, Liſa! Cinmal hinaus aus 
dem allem, grabe wachen und Eigenperfönlich- 
Teit werben — ich benfe, dir müßte auch das 
Herz danad brennen.” 

„Ja, was willſt du denn?” fragte fie mit 
halbem Lachen, weil fie nicht gleich feiner 
Stimmung zu folgen vermochte. „Sollen wir 
auswandern?” 

Vielleicht,“ gab er ernfthaft zu. „Über 
Meere und Berge hinaus. Vieleicht genügt 
es aber au, nur wenig Meilen zu gehen 
und an irgend einem Ort eine Mauer um 
fih zu bauen, die feiner überfteigt, um grellen 
Tageslärm zu und zu bringen.” 

„Als ob man da grade wüchſe und nicht 
erft recht einfeitig würde,“ fagte Lifa. „Grade 
bier behält man das wundervolle Verftändnis 





“a 


Einfamteit. 


185 


für alles und alles, die Duldung, das Darüber: 
ftehen.” 

Er feufzte etwas ungebulbig. 

„Das Unperfönlihe, wie mein guter 
Schwartz es hat. Und doch geben uns nur 
die ganz Perfönlichen etwas, nie dieſe Alles- 
begreifer, die nur unfer Gefühl verivirren, bie 
fein grabes ‚ja‘ oder ‚nein‘ mehr fennen, 
fondern nur ein ‚möglicherweife‘, ‚freilich 
dann‘ und wie die Worte alle beißen. Diefe 
Vielſeitigleit ſchätze ich beim Himmel nicht, die 
iſt vom Gotte der Perſönlichkeit verlaſſen.“ 

Liſa gab keine Antwort, aber ſie dachte 
anders. Sie dachte an die große, ernſte 
Milde des modernen Menſchen, der nie mehr 
einen Stein aufhob gegen andre, weil er alle 
Möglichkeiten in ſich fühlte und für jedes 
Böſe ein Gut und für jedes Gut ein Böſe fand. 

„Gebt du mit?” fragte er auf einmal tie 
aus tiefen Gedanten. 

„In die Einſamkeit?“ fagte Lifa. 

„Bu zweien,“ nidte er und prüfte ihr 
Geſicht mit feinen Bliden. 

„Gewiß,“ fagte fie einfach, „fotweit ich kann.“ 

Er lächelte fie zärtlih an. Dann fagte er: 

„Wir wollen einen Genieftreih machen, 
mas meinft du? Ausrüden, fortfliegen, ohne 
etwas zu fagen. Ich Tann hier faum mehr 
atmen, leben.” 

„D du Nemwenbündel,“ rief fie etwas ver— 
zagt. „Mo denkſt du wohl, daß du die Rube 
findeft?" 

„Da, wo ich zu Haufe bin,” fagte er mit 
großem Ernft. „Ich habe das Gut meines 
Vaters gekauft, Lifa.” 

ie ſchwieg ganz ftill, denn es durchfuhr 
fie mit plöglihem Schred eine atembeklemmende 
Angft. Ihr Zuhaufe war die große Stadt, 
die da unten raufchte und lärmte. Er empfand 
es und ftügte den müden Kopf auf. 

„Iſt es Dir nicht recht?" fragte er fehr leife. 

Sie fuhr mit der Heinen, zarten Hand über 
feine Haare. 

„Lieber Junge,” flüfterte fie. „Eo lange 
du es aushältſt, halte ich es wohl aud 
noch aus.“ 

Das war aber nicht die Antwort, die er 
erwartet hatte. Er ſchloß die Augen und 
träumte von einer tiefen Stille, in die er laut⸗ 
und regungslos verfant, den ftummen, ges 


Einſamleit. 


137 


ſprach lebhaft, beivegte die Arme; ganz ſchlanke fuchten, die fatten Farben und Streifen gegen 


und jein erfchien er neben dem robuften Lands 
mann. Dann brebte cr fih um und fam 
zurüdgelaufen; er hielt ein paar Roſen in der 
Hand, bie jtedte er ihr durch das Fenſter zu. 

„Komm nur heraus, Liſa, in den Garten. 
Du ahnſt ja nicht, wie wunderſchön das iſt.“ 

„Ich komme,” rief fie und nidte ihm 
lachend zu, aber im Herzen hatte fie ein ganz 
wehes Gefühl, ala wäre fie bier verloren und 
einfam und felbft Ernft ihr fern und entfrembet. 

Das ift Diana,” rief er ihr entgegen 
unb wies auf den Hund, „und ba die Tauben, 
ſieh nur, ſieh nur, wie fie bligen und freifen 
und bligen.” 

Er drängte weiter. „Ich weiß einen Weg, 
der dur den Garten aufs Feld führt, den 
mollen wir gehen. Sahſt du ſchon jemals 
ſchönere Rofen?” 

Sie ging ftill neben ihm her und jah nur 
mit heimlihem Staunen auf fein leuchtendes, 
trunfenes Auge, das von einem Gegenftand 
zum andern glitt, als juche es alles auf ein 
mal in fih zu faugen und könne vor Haft 
und Wonne faum ein Einzelnes fajien, nur 
das Ganze als Seligkeit ahnen und empfinden. 
Aber auch er wurde ftiller und ging lang⸗ 
famer, bewußter. Da tönte neben ihnen bas 
langgezogene, ſchmelzende „Tü, tü“ einer 
Nachtigall, eine andre antivortete mit klang⸗ 
voller, weicher Klage. Ernſt mar jtchen ge: 
blieben. 

„Hörft du?“ fragte er halblaut. „Wie 
ſchön, wie wunderſchön ift meine Heimat.” 

Sie faßte nad feiner Hand und hob ihr 
Gefiht zu ihm empor. 

„Du gehft jest allein, von mir fort, jühlft 
du das?” fragte fie mit flüfternden Lippen. 

Er fagte: „Ah, Lifa, Feine Nerven, nicht 
heute und nicht hier!” , 

„Ib kann nit mit,” rief fie erregt. 





„Denke auch an mid! Du darfjt mich nicht : 


ganz allein laſſen.“ 


Er ſah fhredlih müde aus, ala er jegt | 
bilflos zu ihr niederfah und feine Antwort 


fand. Sie hob feine Hand empor und brüdte 
ihre Augen darauf. 

„Es ift doch wahr,“ dachte fie. 

Er ſtrich mit leichter Hand über ihr Haar, 
während feine Blide das tiefe Abendleuchten 





Untergang. 

„Das find alles unwahre Empfindungen,” 
dachte er, „überreizte, krankhafte Gefühle. 
Tas drängt nad) Thränenftrömen und Aus— 
ſprachen, die jeden Nerv zittern machen um 
nicht? und um nichts. Wir wiſſen doch beide, 
daß wir und lieben.” 

Dabei zog er fie aber enger an fih und 
fragte leiſe: 

„Biſt du traurig? Glaubft du wirklich 
nicht, du fönnteft dich hier glüdlih fühlen? 
Brauchſt du noch all die andern Menſchen 
zum Leben, kannſt du dir nicht an einem 
genügen laffen?” 

„Doch, doch!“ rief fie leidenschaftlich. 
„Aber der eine ift ein Träumer und gebt 
manchmal fo weit von mir fort, fo fchredlich 
weit.“ 

Das traf ihn. Er hatte immer gefühlt, 
daß fie neben ihm herfämpfte, aber er hatte 
ihr nie hilfreich die Hände zugeftredt, hatte 
ihren Anteil nur als Sclbftverftändlices ge: 
nommen, 

„Aber hier doch nicht,” rief er eifrig. 
„Hier find wir doch aufeinander angewieſen.“ 

Die ein fhmelzendes, wehvolles Schluchzen 
tönte der Ruf der Nachtigall, tonlos, ſchmerz⸗ 
voll, dann wieder in plötzlichem Wechſel ein 
jauchzendes Schlagen. Der Sinn war nun 
auch für die andern Laute geweckt, für bad 
Kofen, Trillern, Flüftern, das von allen 
Zweigen tönte. Auf dem grünen Rafen lief 
eilig bie Amfel, blieb ſtehen, blidte mit klugen 
Augen, pidte in das Moos und lief weiter. 
Ein träger, fetter Fink büpfte auf dem Wege 
zutraulid frech zu ihnen ber. Ernft hatte 
den Arm von Lifa gelafien und fah mit ver 
haltenem Atem, wie ber Heine Geſell in 


ſchrägen Sprüngen ihnen näher fam. Nun 


warb dem aber die Eadje doch bedenklich, er 
fah mit geneigtem Köpfchen auf bie blanken 
Stiefel der beiden, jungen Menfchentinder, 
dann breitete er feine Schwingen aus und 
flog auf den nächſten Baum. Ta plufterte 
er fih auf und trillerte, als hätte er eine 
Heldenthat begangen. 

Nun lachten beide und fingen an zu 
laufen, weil es fpät wurde und Herr Baus 
mann um act Uhr zum Abendeſſen eingeladen 


138 


war. Das heißt, eigentlih war er der Gaſt⸗ 
geber, da er alles angeordnet und beftellt 
hatte. Eie kamen aud richtig ein menig zu 
ſpät. Er ftand ſchon im ſchwarzen Rod und 
vol ehrbarer Würde im Eßzimmer. Natürlich 
gab es junge Hühner. 

Herr Baumann erfundigte fi) nach den 
Wünſchen der gnädigen Frau für den Garten, 
ob fie Änderungen zu treffen dächte; bavon 
veritand fie nichts, fie fand ihm nett genug, 
wie er war. Ob fie nad) dem Abendbrot den 
Gemüfegarten anfehen wollte? Danfe, nein, 
für heute war fie viel zu müde. Er fiel ihr 
auf die Nerven. Sie dachte ſich dieſen 
tüchtigen, aber in Eigenart und Eigenfinn 
berfchrobenen Menfchen als täglichen Genoffen 
und ſchauderte. Solchen Naturen gegenüber 
bat man das Empfinden, als fei jeder Menſch 
ein Berbrehen am andern. Ad, dagegen 
Irma bier haben oder Doktor Schwar; felbft 
Etrom ‘mit dem gepreßten Mund fchien ihr 
eine wünſchenswerte Gefellfhaf. 

Ernſt wäre nad dem Eſſen noch gern 
hinausgelaufen, aber er mochte Liſa nicht 
allein laſſen. So ſaßen fie denn im Wohn: 
zimmer, die Thüren zur breiten Veranda meit 
geöffnet. Ein NRauſchen und Wehen fam herein 
und fchiwere, ſüße Blütendüfte. Sonft war die 
Stille jo tief, daß fie zufammenfuhr, ale 
plöglich ein Hund anfchlug. 

„a, bier wirft bu gut arbeiten können,“ 
fagte fie plöglic) aus ihrem Gedanfengang 
heraus. 

Er nidte nur. Läſſig wiegte er ſich in 
- einem Cchaufelftuhl und rauchte eine Zigarette. 

„AU das Rauſchen,“ fagte er, „bas 
fommt von unfern Wäldern. Hörft du, mie 
e8 Spricht und denkt? Ach, dies Zuhaufe, 
dies herrliche Zuhaufefein.” 


* * 
* 


Ernit erwachte am nächſten Morgen ſehr 
früh, Liſa fchlief noch tief und fell. Er fah 
hinaus. Die Eonne war im Aufgehen, 
leuchtend gelb; der Horizont, foweit er ihn 
überbliden fonnte, am Rande von einer 
braunen, raucartigen Wolkenwand bezogen; 


Einſamkeit. 


In der Wohnſtube räumten die Mädchen 
auf, die Verandathüren waren weit geöffnet, 
er ging aber über den Flur durch den Vorplatz 
auf den Hof hinaus. Er hörte aus den 
Ställen das Stampfen der Pferde, Mägde 
gingen mit blanken Eimern zum Melken; vor 
der Wagenremiſe ſtand der Stallburſche und 
wuſch die Räder eines Wagens. 

Ernſt blieb ſtehen und ſog die herbe, kühle 
Morgenluft ein. Mit lautem Zwitſchern 
fuhren die Schwalben an ihm vorbei, nah an 
der Erde, in weichem Bogenflug die Luft 
burchftoßend. Auch die Tauben ſchwärmten 
ſchon, in gemeßnen Kreifen ftiegen fie immer 
höher in die Luft, man hörte das eintönige 
Schlagen ihrer Flügel. Ein junger Knecht 
ichritt an ihm vorbei und rüdte an feiner 
Mütze. Ernſt blidte ihn an, und eine flüchtige 
Erinnerung ftieg in ihm auf. 

„Lorenz,“ rief er ihm halb zögernd nad). 

Der drehte fih um und fam, ein ver: 
legenes Lachen im Geſicht, zurüd. 

„Bit du’3 wirklich?“ rief Ernft und ftredte 
ihm die Hand Hin, bie ber mit einiger Be: 
ftürzung ergriff, um fie fogleich wieder fahren 
zu laſſen. „Befinnft du dich auf mid? 
Wieviel Apfel haben wir zufammen gemauft?” 

Er wurde wirklich ganz Mei dem 
ftämmigen Burfchen gegenüber. Er fühlte 
ſich gar nicht als Hausherr. 

„Jawoll, gnäd'ger Herr,“ ſagte der und 
rieb ſich ſein Bein. Dabei fuhren ſeine Augen 
durch die Luft, an den gütigen Blicken ſeines 
jungen Gegenübers vorbei. Er war ein 
richtiger Tölpel. 

„Was machſt du denn jetzt? Wie geht's 
dir?“ fragte Ernſt und ſah mit Freude in 
ſein braunes, hübſches Geſicht. „Lebt deine 
Mutter noch?“ 

„Nee, gnäd'ger Herr, die iſt all dod.“ 

Er ließ ſeine Augen raſch einmal über 
ihn hinlaufen, als ſei er erſtaunt über dies 
Intereſſe. 

„Und du? Was machſt du hier?“ 

„Ich bin hier auf 'm Hof, beim Vieh.“ 

Ernſt nickte. Die Unterhaltung war etwas 


! eintönig. Warum konnte er nicht mit ihm 


die Amfel flötete von dem großen Ahornbaum, ı auf und ab fehlendern und alte Erinnerungen 


in den Heden jchrieen die Spatzen. 
fih leife an und verließ das Zimmer. 


Er zog wachrufen? 


| 


Mas trennte fie? Beide junge 
Männer in gleichem Alter mit gemeinschaftlich 








Einfamteit. 


verlebter Kindheit. Er ſah ihn noch einmal ! weiter, 


an und faßte wieder feine riefige Fauit. 

„Na, für beute laß es gut fein, alter 
Burſche.“ 

Er ging weiter. Der ſtand wohl noch 
und ſah ihm nach, wußte nicht recht, was er 
aus dieſem Wiederſehen machen ſollte. Damals 
war er ſo munter, ſpitzbübiſch und redegewandt 
geweſen, wie Ernſt ſelber. Nun ſchien es, 
als fände in den breiten Schädel nichts ein, 
noch aus. Einfach eine andre Welt, die kaum 
ein Herüberwirken bulbete. 

Nachdenklich ſchritt Ernft die Allee hinauf. 


Der Himmel war jegt mit Wolfen bezogen, ' 


die fih durch⸗ und voreinander ſchoben. 


Die | 


Luft war dadurch etwas ſchwerer, aber ber ! 
‚nicht. Dann wieder ging der Weg aufwärts, 
: tiefer zwiſchen die grauen Stämme. 


ganze Frühlingsduft füßer und intenfiver. 
Der Waldrand lodte in blauer Ferne. Man 


ging faum eine halbe Stunde, dann ftand 
man zwiſchen Buchenftämmen, konnte die Wege | 


gehen, die man als Junge mit Vogelſchlingen 


und Teſching beſchlichen hatte, fih in das 


Moos lagern, wo man in Schillers Räubern | 
: Blättern, fprang von den Äſten ab, tropfte 
! auf die Erde — ein prachtooller, buftender 


gelefen hatte, mit geballten Fäuſten und 
glühenden Baden over aud) bitterlich ſchluchzend. 
Liſa würde faum vor neun Uhr wach fein, 
dann war er lange zurüd. Bei dem bebedten 
Wetter ging es ſich noch beſſer ald bei heißem 
Sonnenſchein. 


So ſchritt er kurz entſchloſſen zu. Der 


Weg war troden tie nad langer Wärme, 


«8 mar aud wenig Tau gefallen. Das 
Getreide ringsum ftand hoch in ten Halmen. 
Die Lerhen fangen. Er fuchte fie fo lange 
body in den Wollen, bis feine Augen förmlich) 
geblendet waren. Endlich entdedte er ſolch 


einen kleinen, zitternden Punlt, von dem all ; 


der Wohllaut auf ihn ftrömte. Am Rain 
blühte Mohn, wild, üppig, nicht nur ſolch ein 
paar blafje Stengel wie auf den Feldern um 
Berlin. Und bort ftand ein Übftbaum in 


Blüte, und Bier rann ein Bad mit Vergiß⸗ 


meinnicht am Rand. 
Endlich erreichte er die erften, ſchwarzen 
Tannen. Dit verwachſen, daß feiner einen 


Pfad hindurch finden mochte, ftanden fie und | 


hüteten den Eingang. Bald miſchten ſich 
Zaubbäume darunter, und ſchließlich ſchritt er 
zwiſchen breiten, glatten Buchenjtämmen hin. 
Nur die Vögel fangen. Gr ging immer 





188 


ohne auf einzelnes zu fchauen, 
ohne auf einzelnes zu laujchen, nur von ges 
waltigem, ftrengem Zauber umfponnen. Der 
Wald atmete, ein gebämpftes, faſt fernes 
Saufen zog an den Wipfeln durch bie Luft. 
Die Vögel fprangen an den Äſten hin. Ein 


‚ fräftiger Blattgeruch von ber feuchten Erbe 


fühlte den fügen rühlingsbuft. Hin und 
wieder blidte der Himmel durd die Kronen, 
er mar nun mit einem fait ſchweren Grau 
bezogen, die Sonne fand feinen Durdblid 
mehr. An einer feuchten Lichtung, über bie 
der Pfad führte, wuchſen Binfen. Seine 
Füße fehritten über ſchwarzen, weich nad: 
gebenten Grund. Libellen fuhren durch die 
glanzloje Luft, ihre hellen Flügel funtelten 


Nun begann ein großes Naufchen in ben 
Blättern, ohne daß ein Wind die Zmeige 
rührte. Ernft ſchaute empor, ein kühler Tropfen 
ſchlug in fein Gefiht, einer, mehrere. Es 
tlopfte und trommelte auf ben blanfen, jungen 


Frühjahrsregen. Die Vögel rafchelten im 
Laub und ſuchten Schuß, dazwiſchen erflangen 
doch wieder, nur leifer, verftohlener, ihre füßen 
Stimmen. Aber auch Krähen ſchrieen, flogen 
mit ſchweren, geräufchvollen Flügelſchlägen 
dur die Bäume. Ernft ging weiter und 
weiter. Er hatte einen leichten, eleganten 
Sommeranzug und dünne Stiefel an, die für 
das Berliner Pflafter gemacht waren. Cs 
war ihm aber zu ungewohnt und Töjtlih, in 
diejem einfamen Wetter hinzutvandern, achtlos 
ſich aufzugeben, all die unruhigen Gedanken 
raften zu laſſen, nur fühlend, mitten in ber 
Natur zu fein. Der Guß wurde ftärfer. Der 
Weg, das Moos glänzten feucht, an den 
Gräfern und Blumen hingen zitternde Tropfen, 
immer fräftiger, voller ward der Geruch, der 
von den Blättern, aus dem Boden ftieg. 
Endlich dachte er doch am den Heimweg, 
ging mit rafchen, belebten Schritten zurüd. 
Das Schlimmfte aber blieb ihm noch zu über: 
ftehen, als er den Waldrand erreicht hatte. 
Bisher waren ibm die Bäume noch ein ge= 
wiſſer Schuß geweſen, nun aber fam das 
lange Stüd Wegs über freies Feld. or 


140 Einfamteit. 


Übermut lachend, gab er die Hoffnung auf, 
mit einem einzigen trodenen Faden nad) 
Haufe zu fommen. Er nahm den Hut ab, 
bon dem das Waſſer in Etrömen rann und 
fämpfte ſich auf dem platten, lehmigen Boden 
vorwärts. Noch immer brängten neue, dunfle 
Wolkenwände ſchwer und langfam nad). 

Als er den Hof erreichte, war der völlig 
verödet, fein Menſch war zu ſehen. Ihm war 
es recht, denn er kam fich Doch etwas zmeifel- 
baft in feinem Aufzug vor. Er ging durch 
die Hinterthür in das Haus, um erft in 
erneuter Geftalt vor Lifa zu erfcheinen. Nun 
war es doch Später geworben, als er gebadıt 
hatte, und ſie hatte den erjten Morgen allein 
verbradt. Vom Echlafzimmerfenfter aus fah 
er fie auf der glasgebedten Veranda fißen. 
Sie faß, friſch und lieblih, in einen bequemen 
Stuhl gelehnt und lag. Der Tiih mar zum 
zweiten Frühſtück gededt, ein Glas mit Rofen 
Itand darauf. Es war ein traulider Anblid, 
der ihm das Herz warm madte. Nachdem 
er fich umgezogen hatte, eilte er hinaus und 
fniete vor ihr nieder, ihre beiden Hände 
küſſend. 

„Ich babe mic verſpätet,“ ſagte er. „Per: 
gieb mir.” 

„Der Himmel bat hid) ja geſtraft,“ er- 
widerte fie lachend. „Biſt du pubelnaß ge: 
worden, Armer?” 

„Es war köſtlich,“ rief er, „morgen ftehen 
wir um fünf Uhr auf und jpazieren wie 
Märchenkinder in das Feenreich hinein.” 

„Rate, was ich für dich habe,” ſagte Lifa 
und legte mit geheimnisvollem Lächeln die 
Hand auf den Til. 

Cr fann vergeblih nad. Triumphierend 
erhob fie einen dicken Brief. 

„Bon Direktor Hanfen,” rief fie. „Er 
will dein neues Stüd annehmen und, wenn 
er es zur Zeit befommt, im Winter auf: 
führen.” 

Ernft zudte die Achſeln. „Borläufig rühr’ 
ich feine Feder an und mag gar nicht daran 
denen, wieviel an dem Dinge noch zu 
machen ift.“ 


Sie ſah ihn etwas erftaunt an. „Du 


willft dir doch dieſe Chance nicht entgehen 
laſſen?“ fragte fie in ungläubigem Ton. 

„Du willſt doch nicht, daß ich um irgend 
eines bummen Vorteil willen Unwahres und 
Geſchraubtes zufammenfchmiere, zu dem mir die 
Luſt fehlt?” rief er mit flammenben Augen. 

„Zu diefem Stüd fehlt dir die Luft? Das 
dich fo begeiftert bat, dich bie Nächte über 
wach bielt? Und auf einmal aus, langweilig? 
Das glaube ich dir nicht.“ 

„Mich dünkt, das paßt gar nicht hierher,” 
lagte er. „Hier wollte ih etwas andres 
ichreiben, das beiler und wahrer wäre.” 

Liſa's Lippen zitterten. „Paßt du aud 
bierher, Ernft?” fragte fte dringlich. 

Ein Schatten glitt über fein Geſicht. Er 
trat von ihr fort und ſah hinaus auf ben 
naffen Nafen, in den eintönigen Himmel. 
Konnte er ihr fagen, daß er fih bier, wo er 
erit feit gejtern war, heimifch fühlte, ganz 
glücklich, ganz ftil, ganz für immer zufrieden 
gegeben; nur gewillt, Wahres, Grades, Tiefes 
zu fchaffen aus dem, quellenden Schak feines 
innern. Reihtums? Er wollte nicht mehr die 
ſatiriſche Geißel Schwingen oder pathologifche 
Eintagserfcheinungen ihre buiteriichen Krämpfe 
auf der Bühne austoben laffen. Gefunde 
Leidenschaften und blutwolles Leben, blutvolles 
Leben vor allem. Liſa dachte darin fo anders. 
Hatte fie das, mas mohl eigentlih nur ein 
Sichjelberuntreufein geweſen, für feine wahre 
Natur gehalten, das geliebt, darin ihn ge- 
funden? Dann rächte fih alfo jede Untreue. 
Dann ftellte man damit einen Schulbidein 
aus, den man nicht einlöfen fonnte. Dann 
giebt e3 nur eins, immer wahr fein, bis zur 
Härte wahr fein, fonft fommt man leicht dahin, 
ſich felbjt den Etrid zu drehen. 

Das Mädchen fam mit einem Tablett mit 
Setzeiern. Er wandte fih raſch un und griff 
nach dem Brief. 

„ir wollen einmal ſehen, vielleicht macht 
es ſich,“ fagte er zu Life. 

Und das wieder nur, weil fie die Augen 
gejenft hielt, und er ſah, wie eine Thräne 
zwiſchen den Wimpern zitterte. 

(Fortfegung folgt.) 


ER 











11 


Über Kindesmord und Kindesmörderinnen. 


Bon 
Gefängnisdirektor Rüſtow (Wronke). 
Radtrud verboten. . 


8 mag vielleicht im erften Nugenblid fonderbar ericheinen, einen ſolchen Stoff 
in einer Zeitfhrift zu beſprechen, die ihren Leſerkreis vorzugsweife in der 
Frauenwelt Hat. Und doch, glaube ich, läßt es fich rechtfertigen, weil einmal 

der Kindesmord, wie ihn das Deutiche Strafrecht auffaßt, das einzige Verbrechen ift, 
das nur von einer Perfon weiblichen Gefchlecht3 begangen werden kann, weil ferner 
jrade dieſes, leider ſehr häufige Verbrechen in mannigfacher Bezichung zur Frauen: 
age überhaupt fteht und weil ſchließlich vorzugsweiſe weibliche Fürforgethätigkeit 
berufen ift, diejem Übel vorbeugend entgegenzumirfen. 

Welches Interefie übrigens dem Gegenftand jo lange und überall, wo es ein 
wirkliches Strafrecht gegeben hat, ſowohl von juriftiicher, wie Arztlicher Seite geſchenkt 
worden ift, gebt auch aus der jehr umfangreichen Litteratur ') hervor, die ſich feit nunmehr 
über einem Jahrhundert darüber angefammelt hat. 

Giebt es doch laum ein zweites Verbrechen, das zu dem verichiedenen Zeiten 
und bei den verjchiedenen Völkern eine jo grundverfchiedene Beurteilung erfahren hat, 
wie grade ber Kindesmord oder die Kindeötötung, von der Auffaffung als Verwandien⸗ 
mord, alfo der fchlimmften Art des gemeinen Mordes, beginnend bis zu der Sonder 
ftelung, die dem Kindesmorde heute bei jaft allen Völkern unter den Verbrechen gegen 
das Leben eingeräumt worden ift und die vielleicht nur noch mit dem Privilegium 
verglichen werden fan, dad bie Tötung im Ziveilampfe genießt. 

chen wir ab von der noch heute bei Naturvölfern beftehenden Unfitte der 
Kindestötung, fo liegt der Zeitpunlt ihrer Duldung bei den Kulturvölfern jeden: 
falls ſehr weit zurüd. Die Zuläffigleit der Tötung Früppelbafter oder befonders 
ſchwachlicher Kinder, wie fie unter Nomulus gejeglich beftanden haben joll, darf wohl 
als der lette Reſt einer Duldung des Kindesmordes bei den Römern angejehen werden. 
Jedenfalls hat der Kindesmord im römifchen Recht die Sonderftellung, die ihm die 
modernen Rechte einräumen, nicht gehabt, ijt vielmehr ebenfo, wie gemeiner, beziehungs⸗ 
weile Verwandtenmord geahndet worden. 

Dasjelbe gilt vom altgermanifchen Recht. Zwar hatte der Vater vermöge der 
fogenannten Mundſchaft ein ähnliches Recht über Leben und Tod des neugeborenen 
Kindes, wie ed in ber römijchen patria potestas beftand; eine Tötung des Kindes 
durch die Mutter wurde aber auch nad) altdeutichem Rechte lediglich als Veriwandten: 
mord betrachtet und zwar ohne Nüdjicht darauf, ob e3 fih um ein eheliches oder 
uneheliches handelte. In legterem Umftande wurde jugar, und darin liegt der fchroffite 
Gegenfa zu unferer beutigen Auffaſſung, ein Strafichärfungsgrund geſehen. Diejen 
Standpunft, der fid) ja allerdings auf beſonders ftrenge Sittengefege ftügt, nahm dann 
aud das kanoniſche Recht ein, bei dem übrigens injofern eine gewiſſe Ähnlichkeit mit 


1) Xitteratur: Dr. Aarl Grolmann: Grundjäge der Ariminalwijienihaft. Dr. J. C. A. Mitter: 
meber (Feuerbadh): Lehrbuch; des peinlidhen Rechtes. &. P. Gans: Yon dem Verbrechen des Rinbes: 
morbed. Dr. jur. Carl Gloßmann: Die Kindestötung. Dr. jur. Jul. Wehrli: Der Kindesmord. 
Dr. Hans Pörfler: Ter Geifteägujtand der Gebärenden. Dr. X. v. Nrafft:Ebing: Grundzüge 
ber Ariminal:Pfochologie. Dr. Moris Freper: Die Dhnmacht bei der Geburt. Dr. €. Bleuler: 
Der geborene Verbrecher. 





Über Kindeömord und Kindesmörderinnen. ‘ 148 


dem Gedanken, die Schande abzufchaffen, als die es ehemals galt, fih mit 
Frauenzimmern zu verheiraten, die Mutter waren, ohne verehelicht zu Fin: ich weiß 
nicht, ob mir dies nicht gelingen wird”. So ber große König! Schade, daß nicht 
auch die Anficht Voltaire bekannt ift, als Vertreter des Landes, das fi, wenn ic) 
nicht irre, allein noch bis jegt der milderen Beurteilung des Kindesmordes feitend der 
anderen Bölfer nicht angeſchloſſen hat. 

Eine weitere gelindere Auffafiung bat dann der Kindesmord in dem Strafr 
geſetzbuch für das deutjche Neich erfahren. Der bezügliche Paragraph lautet: 

„Eine Mutter, welche ihr unebeliches Kind in oder gleich nach der Geburt 
vorjäglich tötet, wird mit Zuchthaus nicht unter drei Jahren beftrajt. Sind mildernde 
Umftände vorhanden, fo tritt Gefängnisftrafe nicht unter zwei ‚Jahren ein.” 

Dazu fagt Liszt in feiner Darftellung des deutſchen Strafrechts: „Der Iegislative 
Grund für bie mildere Beurteilung der Kindestötung liegt einerfeit3 in der Gtärfe 
der bie unehelich Gebärende zur Tütung treibenden Motive, andererjeit3 in der durch 
den Gebärakt hervorgerufenen Verminderung der Zurechnungsfähigteit.” 

Es ift alfo zweierlei, dad auf den Begriff de3 Sindesmordes von Einfluß 
geweſen ift, einmal die Beweggründe und dann der Fürperliche und feelifche Zuftand 
der Mutter, während und unmittelbar nach der Geburt. 

Betrachten wir nun dieſe Gründe etwas näher und zwar zunächft die möglichen 
Beweggründe der Mutter. Deren können cd im iwejentlichen wiederum zwei jein: bie 
Rüdfiht auf die Wahrung der Ehre und die bedrängte Lage. 

Von dem erſten jagt Feuerbach in feinem Lehrbuch des peinlichen Nechts: 

„Die Furt vor dem Werlufl der Geſchlechtsehre, dieje gewöhnliche, an fich edle 
und gerade in befferen Gemütern vorzüglid gewaltige Triebfeder zur Vegehung des 
Kindesmordes ift der Hauptgrund, der dieſes Verbrechen gegen den gemeinen Der: 
wandtenmord auf eine geringere Etufe der Strafbarteit herabjegt!" Das klingt ja 
im erften Augenblick fehr ſchön und einleuchtend, bat aber doch ernite Bedenken gegen 
ſich und wird deshalb auch keineswegs allgemein anerkannt. Wollte man jeden fcheinbar 
edlen Beweggrund als ftrafmildernd annehmen, jo würde das Necht ſehr bald auf 
fchiefe Bahnen geraten. Der Zwed fann und darf dies Mittel nicht heiligen! 

Wie erklärt es fih nun aber, daß felbft ein Feuerbach dem Beweggrunde der 
Rettung der Gefchlechtächte eine jo große Bedeutung zuerkannt hat? Ich möchte es 
als eine gewiſſermaßen natürliche Rüdwirkung betrachten; man fiel aus einem Extrem 
ind andere. Hatte man früher den unfittlichen Lebenswandel der Mutter, die Ber: 
heimlichung von Scmwangerfhaft und Geburt als ſchwere Strafihärfungsgründe 
betrachtet, fo follte num auf einmal mit dem edlen Motiv, wenn nicht alles, jo doch 
vieles entjchuldigt werben. In beiden Fälen ging man entihieden zu weit; denn, 
that ein Mädchen nichts, um ihren Zuftand zu verheimlichen, war fie in der ſchweren 
Stunde nicht allein und auf ſich felbit angewieien, jo hatte die Tötung de3 Kindes 
mit Nüdficht auf die Erhaltung der Ehre feinen Zinn mehr! Empfindet aber andrer: 
ſeits ein Mädchen jo jchwere Gewiſſensbiſſe über den Verluft ihrer Ehre, daß fie vor 
feinem Mittel zurüdichredt, der Schande zu entgehen, jo liegt jedenfalls Selbftmord 
ſeht viel näher, als Kindesmord und iſt ficherlich ſowohl eher zu begreifen, wie zu 
entfchuldigen. Im übrigen ift e3 aber, beſonders in den Streifen, aus denen bie 
Mehrzahl der Kindesmörderinnen hervorgeht und auch früher hervorging, mit den Ehr— 
begriffen gar nicht jo weit her. Gab es doch im guten deutfchen Neiche (und giebt 
es vielleicht noch) Gegenden, in denen an eine Heirat überhaupt nicht gedacht wurde, 
fo lange nicht ein Sind oder wenigſtens Ausficht auf ein ſolches vorhanden war. 
Das Moment der Schande kam erſt dann in Betracht, wenn zu dem Kinde der Vater 
fehlte. Nun erft traf dag Mädchen die allgemeine Verachtung, und wenn fie jchließlic) 
zum Verbrechen gelangte oder getrieben wurde, jo war es etwa nicht Schamgefühl im 
Sinne ftrenger Sittlichleit, was ſie dahin brachte, fondern vielmehr die Angit vor 
einer Schande, die ganz erheblich durdy ein anderes Moment bedingt wurde, durch die 
ſich aus ihrem Zuftande ergebende Not und Bedrängnis. So und nicht anders iſt's 
aber noch Heutigen Tages. Das können gerade wir Gefüngnizbeamten beobachten, 


144 Über Kindesmord und Kindesmörderinnen. 


wenn wir in den Briefen an die Gefangenen leſen, wie jo häufig Heirat und Kind: 
taufe in recht bedenklich kurzen Zeiträumen vor oder nacheinander gefeiert werden, 
ohne daß darin etwas bejonder3 Ungehörige® gefunden würde. Je mehr alfo der 
Berveggrund der Wahrung der Ehre an Anerkennung verlor, je mehr man fich von 
der Unhaltbarkeit der Grolmann:Feuerbadh’fchen Lehre überzeugte, deſto mehr fand 
allmählich der andere mögliche Beweggrund Berüdjichtigung, nämlich der: der bedrängten 
Lage der Mutter. 

Vergegenmwärligen wir ung einmal, mie e3 einer folchen Bedauernswerten geht. 
Bon ihren Arbeitsgenoſſinnen mit Tpigen, Tränfenden Redensarten verfolgt, von den 
jungen Burfchen gemieden oder vielleicht erft recht mit unfauberen Anträgen beläftigt, 
muß fie täglich von Eltern und Verwandten Vorwürfe hören, ja es wird ihr vielleicht 
gedroht, daß fie dad Elternhaus verlaffen müßte. Zumeilen mag dabei auch Not und 
Armut mitjprechen, die durch einen etwaigen Familienzuwachs natürlich nicht verringert 
werden würden, jedenfalld wird der rmften das Elternhaus zu einer Stätte der 
Dual, und das umjomehr, je näher die ſchwere Stunde heranrüdt und fich ihre Arbeits: 
fähigkeit naturgemäß vermindert. 

Iſt fie in einem Dienft, namentlich in einem jogenannten befjeren, jo wird ihr 
wohlmweizlich rechtzeitig gekündigt, und in vielen Fällen fragt die Herrichaft nicht danach, 
was nun aus ihr werden joll, obgleich man ſich wohl jagen könnte, dap ein Mädchen 
in ſolchem Zuftande doch jelbjtverftändlich feinen andern Dienſt mehr findet. 

Zieht dann auch der Verführer feine Hand von ihr ab, verläßt fie der Bräutigann, 
jo erreicht die Verziveiflung, nun aller Eriftenzmittel beraubt, für zwei ſorgen zu müfjen, 
die troftloje Gewißheit, jede Ausſicht auf ein gutes Fortlommen, jei e8 durch Dienit 
oder Heirat verloren zu haben, ihren Höhepunkt, und der Schritt zum fcheinbar allein 
noch übrigen Ausweg, d. h. zum Verbrechen, wird bedenklich fur. Und doch darf 
auch in der Würdigung ſolcher Gründe, die ſchließlich ale mehr oder weniger auf 
dasſelbe, die materielle Not, hinauslaufen, nicht zu weit gegangen iverden; denn eine 
folche Notlage Tann nicht nur ebenfo gut bei einer ehelichen Mutter eintreten, jondern 
fie thut es thatfächlih in unzähligen Fällen. 

Kann ſchon in jeder Arbeiterfamilie mit reichem Kinderjegen jeder neue Zuwachs 
eine Duelle ſchwerer Sorge werden, wieviel mehr muß das da der Fall fein, mo ber 
Ernäbrer vielleicht durch Krankheit und Siechtum in feiner Erwerbsfähigkeit Gefchränft 
ift oder wo fchließlich nach feinem Tode die Witwe nicht nur allein die Verforgung 
der Familie übernehmen muß, jondern durch die Ausficht auf eine weitere Vermehrung 
der Kinderzahl vor noch größere Sorgen geftellt if. Hätte nicht eine jolche Mutter weit 
mehr Veranlaffung zur verzweifelten That, als dag Mädchen, das doch ſchließlich nur 
- für zwei zu forgen hat? 

Es würde alſo geradezu ungerecht fein, wollte man der unehelichen Mutter 
einen Entjchuldigungsgrund Sugefteben, ber der ehelichen verſagt if. Schließlich 
aber könnte die Notlage mit demjelben Recht bei fo und fo viel andren Ber: 
brecben vom einfachen Diebftahl bis zum Raubmord ala Enifchuldigungsgrund heran: 
gezogen werden. 
| Hat daher eine einfeitige und übertriebene Würdigung auch dieſes rundes „der 
bedrängten Lage der Mutter” ihre ſehr erniten Bedenken, fo verdient er doch weit: 
gehendſte Berüdjichtigung in Beziehung zu dem förperlichen und namentlich ſeeliſchen 
Zuſtande der Gebärenden. 

Dieſes Moment der geminderten Zurechnungsfähigfeit konnte fih natürlich erft 
mit den Fortfchritten der medizinischen Wiſſenſchaft jo weit entwideln, daß ed jebt 
und zivar mit vollem Recht im Vordergrunde der Beurteilung des Kindesmordes ſteht 
bezw. auf die Yaflung des 8 217 unferes Strafgefegbuches von weſentlichem Einfluß 
ift, von der Krafft-Ehring jagt: 

„Diele humane Würdigung des puerperalen Zuftandes entiprang der Er— 
fenntnig, daß bier gewaltige körperliche Vorgänge, beftige Affefte und pſychiſche 
Aha bis zur tranfitorischen Trübung und Aufhebung de3 Selbſtbewußtſeins im 

piele find.” 








Über Kindesmord und Kindedmörderinnen. 145 


Nun könnte man ja den oben erhobenen Einwand, daß ſolche Zuftände doch bei 
jeder Geburt, aljo auch bei ber ehelichen, eintreten können, auch bier machen. 
Zweifellos iſt das in gewiſſem Sinne richtig. 

Angfi: und Erregungszuſtande fönnen vor jeder Geburt und Ohnmacht: und 
Erihöpfungszuftände bei und nach jeder eintreten. Gie werden aber bei ber 
unebelichen, heimlichen Geburt begünftigt durch die oben erörterten Verhältniſſe während 
der Zeit der Entwidlung des Kindes. Zu der Angft vor dem Geburtsakte felbft tritt 
noch die Furcht vor der Schande. Die Sorge um die Zufunft, an ſich fchon geeignet 
Gemütsdepreffionen hervorzurufen, wird, wo ohnehin Neigung dazu vorhanden ift, 
diefelben noch verfchlimmern, mangelnde Pflege in der Zeit vor der Geburt die bereits 
aufs höchfte in Anſpruch genommenen Körperfräfte ſchwachen und dadurch dem Eintreten 
von Erihöpfungszuftänden geradezu vorarbeiten, die wiederum, gefteigert durch das 
Gefühl der Hilflofigkeit bei dem Geburtsakte felbit, wohl geeignet find, auch Ohnmachten 
herbeizuführen. 

Alles das, was aljo bei ber ehelichen Geburt mildernd wirkt: liebevolle Pflege, 
freundlicher, tröftender Zuſpruch, fachgemäßer Beiſtand und nicht zum weniaften bie 
frohe Hoffnung auf dad zu erwartende Sindchen fehlt bei der unehelichen, heimlichen 
Geburt, und deshalb ift e3 ſicher nicht zu verwundern, wenn die Störungen, die bei 
einem den ganzen Organismus der Frau derart in Mitleidenichaft ziebenden Vorgang 
überhaupt eintreten fönnen, bier leichter zu Äußerungen der Verzweiflung, ja zur 
völligen Verwirrung der Einne führen. 

Aber auch Hier muß, wie fchon bei den vorangeführten Gründen, vor einfeitiger 
Würdigung, befonder3 aber vor jeder Verallgemeinerung gewarnt werden. Daß die 
geſchilderten Störungen eintreten können, wird von allen ärztlichen Autoritäten an: 
erfannt, daß fie bei jeder Geburt eintreten müflen, aber ebenſo beſtimmt verneint. 

Wenn daher au auf dad Moment der verminderten Zurechnungsfühigfeit das 
Hauptgewicht gelegt werben muß, jo ift dasjelbe doch mit außerſter Vorjicht zu prüfen, 
weil gerade hierfür in den meiften Füllen (aljo unbedingt bei allen heimlichen Geburten) 
ein fachlicher Beweis nicht zu erbringen ift, vielmehr nur eine rein perjünliche 
Behauptung der Angellagten vorliegen kann. Ganz beſonders aber gilt dies von 
den zuweilen behaupteten Ohnmachten und dem angeblich durch diefelben veranlaßten 
Ableben der Kinder. Zu beweiſen find fie natürlich nur in ben ſehr feltenen Fällen, 
in denen etwa die Vetreffende noch in der Ohnmacht gefunden wird. 

Würde man aljo folhen Behauptungen allzuviel Glauben beimefjen, fo müßte 
ſehr Häufig auf Freifprehung erkannt werden, wenn nit aus der Verheimlichung der 
Geburt der Thatbeftand der vorjäglichen oder fahrläffigen Tötung infofern gefolgert 
werden könnte, als durch die ſelbſtverſchuldete Hilfslofigkeit der Mutter der Tod des 
Kindes veranlaft worden if. Nach unjerem Strafrecht erſcheint das jedenfalls 
zuläffig, wenngleich dazfelbe eine unmittelbar darauf hinausgehende Beſtimmung 
nicht enthält. 


* * 
* 


Es ift fehr zu bedauern, daß e3 gerade über den Kindesmord eine eingehende 
Statiftit_ nicht giebt; eine ſolche wäre ſowohl für Juriften, wie für Arzte, ja ſelbſt 
für die Laien, die doch als Geſchworene über dieſes Verbrechen urteilen müjlen, gewiß 
von großem Wert, der natürlich den Beobachtungen und Grfahrungen in einer 
einzelnen Anftalt nicht beigemefien werden kann. Immerhin dürften aber doch die 
bier gefammelten Zahlen, beſonders über die Häufigkeit der verfchiedenen Arten von 
Entfhuldigungsgründen, von Intereſſe fein. 

Von den bis jest, aljo in einem Zeitraum von 6 Jahren, hier in Haft geweſenen 
258 erwachſenen (d. h. über 18 Jahre alten) weiblihen Perſonen waren 90, 
d. i. etwa '/, wegen Kindesmordes und verwandter Verbrechen beftraft. Unter 
denfelben befanden I 3 Ehefrauen, eine verlaffene Frau und 6 Witwen, die tiber 
wiegende Mehrzahl (90 Prozent) waren Mädchen. 

10 


146 . Über Kindesmorb und Kindbesmörberinnen. 


Bon denjelben entjchuldigte fich, bei der Einlieferung nach den Beweggründen 
bezw. Urjachen ihrer Verbrechen befragt, etwa der vierte Teil mit Scham über ihre 
Schande, vier (dad find etwa 5 Prozent) mit Obnmacht bei der Geburt und die 
Hälfte mit bedrängter Lage. Bei den lehteren handelte es fich nur in fehr wenigen 
Fällen um wirkliche materielle Not, meift war es Angſt vor den Bortwürfen der Eltern, 
Verwandten und Herrichaften, Verbot des Elternhaufes, drohende Dienftentlaffung, 
was fie in legter Linie zu dem Verbrechen veranlaßt hatte. Alle ftammten aus der 
Provinz Poſen, wenigſtens die Hälfte ftand im Dienftverhältnig, die Mehrzahl gehörte 
der Zandbevälferung an. 

Hervorheben muß ich noch, daß wir es Bier, im Gefängnis, nur mit ſolchen 
Fällen zu thun Haben, in denen mildernde Umftände zugebilligt worden find, wobei 
wiederum vorzugsweiſe die Annahme verminderter Zurechnungsfähigfeit den Ausſchlag 
gegeben bat. Wir können aljo diefen Milderungsgrund, weil er in faft allen Fällen 
mehr oder weniger berüdjichtigt worden ift, bei der Betrachtung’der anderen Beweg⸗ 
gründe ausſcheiden. Unter den legteren fällt nun vor allem die große Zahl der 
Entjchuldigungen mit bebrängter Lage auf, und in der That ſpricht diefe Zahl im 
Verein mit der hohen Gejamtziffer des Verbrechens in unferer Provinz überhaupt 
eine nur zu beredte Sprache. Sie weift uns bin auf traurige wirtjchaftliche Verhältniſſe, 
auf wenig günftige Beziehungen zwifchen Dienftboten und Herrfchaften, aber aud auf 
Gefühlöroheit und zügellofen Verkehr der Gefchlechter untereinander. Nicht zum 
wenigſten ift daran zweifellos die unglüdjelige Sachſengängerei jchuld, die leider mit 
jedem Sahre größere Ausdehnung annimmt. 

Prüfen wir die in etwa 25 Prozent der Säle vorgefchügte Scham über ben 
Berluft der Ehre auf ihren Wert, jo Fünnen wir ihn ſchon nach dem eben Gefagten 
nicht befonder® hoch bemeffen. Auch aus dem fchon oben erwähnten Umftand, daß 
man in den Streifen, denen die Mehrzahl der Kindesmörderinnen entitammt, gegen 
etwas frühe Geburten nicht eben empfindlich ift, kann auf ein feiner entwideltes 
Sittlichleitägefühl nicht gejchloffen werden. Ein folches wäre aber doch die unerläßliche 
Bedingung für das Vorhandenſein eines Schamgefühls, das in feiner Bethätigung felbft 
vor jchweren Verbrechen nicht zurüdichredt. In Wirklichkeit find aber auch die oben 
erwähnten Angaben der Gefangenen bei ihrer Aufnahme in den meiften Fällen gar 
nicht ernft zu nehmen. Sie glauben auf die an fie gejtellte Frage etivad antworten zu 
müſſen und find ſchlau genug, fich die Entjchuldigung auszufuchen, die, wenn fie 
wahr wäre, auf die Beamten den günftigften Eindrud machen müßte. Trotz alledem 
befigen aber doch die Kindesmörderinnen unter den Gefangenen noch das meilte 
Ehrgefühl. Sie bieten dementjprechend die größte Hoffnung auf Bellerung und 
ericheinen deshalb in allererjter Linie der Fürſorge würdig, Eigentümlicher Weile 
begegnen wir aber gerade bei ihrer Unterbringung nach der Entlaffung, befonders 
von weiblicher Seite einer Scheu und einem Vorurteil, die neben dem begreiflichen 
Abjcheu wor der Berührung mit einer fittlich Gefallenen nur durch Unkenntnis der 
Verhältniffe erklärt werden fünnen. Beiden entgegenzumirfen war daber einer der 
Hauptgründe zur Niederjchrift diefer Zeilen. Wenn der Abſcheu vor dem Unfittlichen 
jeine Trägerin gewiß nur ehrt, jo darf dieſes Gefühl doch nie in Phariläertum 
ausarten, und nimmermebr darf e3 heißen: „Herr, ich danke dir, daß ich nicht bin 
wie jene”, fondern vielmehr „daß du mich vor dem Elend, vor der Verjuchung 
bewahrt haft, denen meine unglüdliche Mitfchweiter zum Opfer gefallen ift.“ 

Sehr richtig jagt da Dr. Bleuler in feiner Beſprechung des Lombrojo'fchen 
Werkes über den geborenen Verbrecher: „der Schande zu entgehen, ift für ein gut 
fituierte Mädchen, das immer unter dem Schuge der Familie bleibt, Feine befondere 
Leiftung, während eine einzeln ftehende Arbeiterin, die mit der Not zu kämpfen Bat, 
wenigſtens in ſtädtiſchen Verhältnifien einer übermittelmäßigen Charafterftärke bedarf, 
um nicht zu fallen.” Sit diefer Ausſpruch an der betreffenden Stelle auch auf eine 
andere Kategorie von Gefallenen zu beziehen, jo läßt er fich doch ebenſo gut auf 
die ländlichen Verhältniffe anwenden, aus denen in der Mehrzahl die Unglüdlichen 
hervorgehen, mit denen wir und eben bejchäftigt haben. Da liegt nun die Frage 





Über Kindesmord und Rindesmörderinnen. 147 


nahe, weöhalb denn gerade auf dem Lande der Kindesmord am häufigften vorkommt. 
gen falfch wäre es, daraus auf größere Unfittlichfeit der Landbevölferung zu 
fchließen. Der Grund dürfte vielmehr darin liegen, daß dad weniger von der Kultur 
berührte Lanbmädchen fich des roheren Mittels bedient, während in der Stadt mehr, 
wenn ich fo jagen darf, feinere Mittel zur Anwendung fommen. Man wartet da nicht 
fo lange, wie dad dumme Bauernmädchen, fondern geht zu einer Mugen Frau, die 
dann für Geld und gute Worte das feimende Leben vernichtet. Oder aber, ed bietet 
fih in den Städten befiere Gelegenheit zu heimlichen Geburten, und es giebt ebenda 
fo viele Frauen, die für ein Billiged die jogenannte Pflege folcher heimlich geborenen 
Kinder übernehmen. Und wenn dann das arme Würmchen, — felbfiverftändlich nie 
durch Verfchulden der edlen Pflegerin — zum Engel wird, jo bat doch die Mutter feinen 
Mori jangen!? Eind aber diefe gewiſſenloſen Mädchen, die ihr Kind bewußt einer 
Engelmacperin übergeben, bewußt deshalb, weil fie ſich fehr wohl jagen können, daß 
für ein jo erbarmliches Sündengeld fein Kind ernährt werden dann, nicht viel 
ſchlimmer al3 die wirklichen Kindesmörberinnen? 

Deshalb möchte ich an alle mit mir empfindenden Frauen und Mädchen die Herzliche 
Bitte richten: werfen Sie nicht den erften Stein auf jene Unglüdlichen! Als ich vor 
Jahren von meiner Probedienflleiftung für den Strafanftaltdienft zurüdkehrte, fragte 
mich eine Dame, ob ich denn vor ber Berührung mit dem Auswurf der Menichheit 
fein Grauen empfunden hätte. Gewiß mußte ich diefe Frage bejahen, aber ich konnte 
gleichzeitig verfihern, daß Schließlich doch herzliches Mitleid, aufrichtiges Mitgefühl 
mit jenen Unglüdlichen die Oberhand gewonnen hätten, beſonders wenn ſich mir oft 
genug die Frage aufbrängte: Was wäre wohl aus dir getvorden, wenn bu in gleicher 
Umgebung, unter foldhen Vorbildern und in dem Elend aufgewachien wäreft, wie jene? 
Und fo, meine ih, könnte auch jede Frau denken, ohne ſich eiwas an ihrer Selbſtachtung 
zu vergeben. 

Es bliebe nun noch zu erörtern, wie dem beiprochenen Verbrechen am wirfjamften 
vorgebeugt werben kann? Da möchte ich vor allem auf den oben citierten Ausſpruch 
Friebrichd des Großen verweilen! Was der große König dereinft gejagt hat, ift auch 
beute noch richtig, und wenn auch feine Herrichaft mehr verpflichtet ift, über derartige 
Wahrnehmungen an ihren Dienitboten dem Gericht Anzeige zu machen, fo ift es doch 
eine heilige Pflicht der Dienftherrichaft, ihrem Gefinde beizuftehen, den Mädchen die 
Wege zur zeäitgeitigen Aufnahme in eine Entbindungsanftalt zu eben und fich, wenn alles 
überftanden, um Wohl und Wehe von Mutter und Kind meiter zu befümmern. In 
den Städten finden aber gewiß die Damen der frauenvereine Gelegenheit, ihre 
Fürforge ganz beſonders ſolchen Unglüdlichen zuzumenden. Wie fehr gerade in 
derartigem Falle rechtzeitiger Troft und Zufpruch von Nöten ift, habe ich erft 
türzlich aus den Alten einer Kindesmörderin erfehen, deren Ausfage vor Gericht, als 
beſonders bezeichnend, ich hier wörtlich anführe: „Ich Hatte ſchon einige Wochen 
vorher den Vorjag, das erwartete Kind zu töten, und zwar deöhalb, weil mein Vater 
darüber ſchimpfte, daß ich mich hätte verführen laſſen und meil ich Beſorgnis hegte, 
daß ich in Ermangelung einer Mutter weder Obdach noch Nahrung haben würde. 
Die Mutter (die kurz vorher geftorben war) hat mir keine Vorwürfe gemacht; wenn 
fie gelebt Hätte, würde ich es nicht gethan haben.” 

Der Dienfiherr, der al3 Zeuge vernommen wurde, verficherte dann noch dem 
Gericht, daß er fie trotz des Kinded im Dienft behalten haben würde. 

Weshalb Hat er ihr das nicht vorher, d. h. zur rechten Zeit gejagt? 

Mir fallt bei folchen Gelegenheiten immer wieder der alte, gute Spruch ein: 

Zur rechten Zeit, am rechten rt, 
Vermag gar viel ein gutes Wort. 
Und mancher hat es ſchon bereut, 
Der es zu ſagen ſich geſcheut! 


Gen 


19* 


Hauswirtſchaftliche Unterweifung armer Mädchen in Deutichland. 148 


Jedenfalls Tann das Dienen kaum als die befte und barf noch weniger als bie 
einzige Vorfchule für den Arbeiterhaushalt angefehen werben. 

Zu diefer Erkenntnis kam man hauptfächlic erft in den fechziger Jahren, als 
einige wohlmeinende Großinbuftrielle und andere Gebildete ſich für diefen Zweig der 
Fürorge für arme Mädchen zu intereffieren begannen. Die ſchon 1797 in Labeck 
und 1826 in Königsberg gegründeten Haushaltungsfchulen find hier nicht zu rechnen, 
weil fie die Mädchen zum Dienen, nicht zur Führung ded eigenen Haushaltes vor: 
bereiten. Es bildeten ſich Vereine zur Errichtung hauswirtſchaftlicher Kurſe für arme 
Mädchen, und dad Intereſſe dafür wurde immer allgemeiner, beſonders angeregt auch 
durch bie Initiative deuticher Fürftinnen, der Kaiferin Augufta, der Großherzogin 
von Baden, die ihre in Schweben gemachten Beobachtungen noch fpeziel verivertete, 
und der Großherzogin von Sachſen⸗Weimar. 

Was auf dem Gebiet der hauswirtſchaftlichen Unterweiſung armer Mädchen 
geleiftet ift, läßt ſich in verfchiedene Gruppen zerlegen, ich folge darin dem Buche 
von Kalle und Kamp): 


1. Unterweifung im elterlichen Haufe, in fremden Häufern und in ber 


BWaifenpflege. 
2. n in Schule und fhulmäßigen Vorkehrungen. 
3. „ während der Vollsichulgeit in fogenannten Nebenfchulen. 
4. n nad der Volksſchulzeit in Tagesiulen. 
5. n in Stundenhaushaltungsfchulen. 
6. ” in Fabrikſchulen. 
T. n in Anftalten mit anderem Hauptzived. 


In Waifenhäufern und ähnlichen Erziefungsanftalten ift hauswirtſchaftliche Unter: 
weifung fehr allgemein. Die 1821 gegründete Clijabethenanftalt in Niederramftabt 
bei Darmftadt hat von Anfang an bauswirtichaftliche Anleitung in ihr Programm 
aufgenommen, ebenfo das 1835 in Coburg errichtete Auguftaftift, die 1867 eröffnete 
Jazdzewskiſche Waifenanftalt in Zduny, das Waiſenhaus und Gurſelaſche Stift in 
Frankfurt a. D. und andere mehr. 

Den erften Verfuch, den hauswirtſchaftlichen Unterricht in die Volksſchule hinein: 
zuziehen, unternahm Frau Pfarrer M. Michel in Rappoltsweiler im Elſaß. Sie 
begann im Jahre 1872 in den Handarbeitsunterricht, den fie den Volksſchülerinnen 
erteilte, einige theoretifche Hinmweife in Bezug auf Hausarbeit, Küche, Krankenküche und 
Pflege einzufügen und den Handarbeitsunterricht mehr den Bedürfniffen einer Arbeiter: 
frau anzupafien. 

Bekannt find die zu Oſtern 1889 in Kaſſel eingeführten Haushaltungskurſe. 
Durch Wegfall von zwei Zeichen: und zwei Handarbeiteftunden konnte dem Haus: 
baltungsunterricht in der oberften Klaſſe ber Volksihule ein Vormittag eingeräumt 
werden. Dabei wird jo verfahren, daß, während die eine Hälfte der Schülerinnen 
kocht, die andere mit Nähen und Pugen befehäftigt wird. Nach der Verficherung der 
Beteiligten hat ſich das ausgezeichnet bewährt. 

In ähnlicher Weife wurde der hauswirtſchaftliche Unterricht in die Chemniger 
Vollsſchule eingefügt, ebenfo in Altona, Neumünfter in Holftein, Hameln a. d. Weſer, 
Marienburg u.f. wm. Etwas weicht Zwidau ab, wo man einen befonderen Nachmittag 
für den Kochunterricht angejegt bat. 

Um den Lehrplan der Echule nicht zu kürzen, wurde ferner der Verfuch gemacht, 
Haushaltungsnebenſchulen einzurichten, die mit der Volksſchule in feinem direkten 
Zufammenhang ftehen, daher auch nicht obligatorifch find. Auch bier ift der Beſuch 
unentgeltlih. Schon im Jahre 1839 twurde in Darmſtadt eine derartige Kochſchule 
gegründet, die mit der dortigen Mäbchenarbeitäanftalt in Verbindung ftand. Alle 


%) Die Hauswirtſchaſtliche Unterweiſung armer Mäbdchen in Deutſchland und im Ausland von 
Frig Kae und Dr. Otto Kamp. N. Z. Wiesbaden 3. F. Bergmann. 


Hauswirtſchaftliche Unterweiſung armer Mädchen in Deutfchland. 181 


Auch in Arbeiterinnenhofpizen und -heimen wirb jegt nicht felten Haushaltungs⸗ 
unterricht erteilt in den Abendftunden ſowohl wie an den Sonntagen. Hierfür ift vor 
allem wieder Munchen⸗-Gladbach zu nennen, das Arbeiterinnenhofpiz in Aachen, das 
Marienheim in Cöln ꝛc. 

Unter ben Fabrikſchulen, deren es auch eine fehr ftattliche Zahl giebt, ermähne ich 
die am 1. April 1890 auf dem ftaatlichen Bergwerk Königshütte in Oberfchlefien ein 
gerichtete Ganztags-Rochichule für unverheiratete Arbeiterinnen im durchſchnittlichen 
Alter von 20—22 Jahren. Nur Töchter von dortigen Bergleuten dürfen an dem 
einmonatlichen Kurſus teilnehmen, denen während diefer Zeit der übliche Tagelohn 
und freie Belöftigung gewährt wird. In ähnlicher Weiſe verfährt die Haushaltungs- 
anftalt der Firma 30. Bülfing und Sohn in Lennep, in der feit Januar 1890 
dreimonatliche Kurfe ſoichen Arbeiterinnen erteilt werden, die zugleich Töchter dortiger 
Arbeiter find. Die Mädchen werden für jenen Unterricht beurlaubt und fiedeln für 
die Zeit ganz in die betreffende Lehranftalt über. Auch bier trägt der Arbeitgeber 
die ganzen Unterhaltungskoften. Die Schülerinnen müſſen das 18. Jahr überfchritten 
haben, und die vor der Ehe Stehenden werden bevorzugt. Eine ähnliche Anftalt 
errichtete die Kafleler Waggonfabrit Wegmann u. Cie. und andere. 

Manche Fabritanten begnügen fih damit, ihren Arbeiterinnen die Teilnahme 
an Haushaltungskurfen dadurch zu erleichtern, daß fie den Mädchen die Ichte Arbeits: 
flunde an den betreffenden Tagen freigeben, ohne etwas vom Tagelohn abzuziehen. 
Das allein ift ſchon ein bedeutfames Mittel zur Förderung jener Beftrebungen. 
Natürlich fehlt die Kruppſche Stahlfabrit in Efien nicht in der Reihe derer, die in 
diefer Hinficht für ihre Arbeiterinnen forgen. Ihre Haushaltungsfchule zeichnet fich 
dadurch aus, daß fie die Mädchen auch in allen Gartenarbeiten unterteilt und außer: 
dem mit einer MWäfcherei in Verbindung fteht. Der Andrang zu der Schule ift auch 
bier ein großer. 

Um nun nad) diefem allgemeinen Überblid auch in die intereffanteren Interna 
der Haushaltungsfchule einen Einblid zu geben, möchte id) von der Haushaltungsſchule 
in Jena, bie ich Gelegenheit hatte aus eigener Anfhauung kennen zu lernen, näheres 
berichten. 

Sie wurde auf Anregung und mit Unterflügung der Großherzogin von Sachſen⸗ 
Weimar im Jahre 1891 von dem bortigen Frauenverein ind Leben gerufen. 

Frau Dr. Fiſcher-des Arts übernahm mit außerorbentlichem Verftändnis für 
die Bebürfnifje eined Arbeiterhaushalts, mit praktiſchem Blid und großer Sachkenntnis 
die Einrichtung und oberfte Leitung diefer Kurfe, die unabhängig find von der Schule, 
doch unter Aufficht. der Schulbehörbe ftchen. Den Lehrplan und fpeziell für diefen 
Zweck zufammengeftellte Kochrezepte veröffentlichte fie, nachdem fie ihre Erfahrungen damit 

jemacht hatte, in ihrem Werk „Anleitung zum Erteilen des Unterrichts in der Haus— 
Paltın 8 kunde.” 

ie Oberfchulbehörbe des Großherzogtums erklärte ſich bereit, den Schülerinnen 
der erften Klaſſe ber Volksfchule wöchentlid, einen Vormittag für diefen Haushaltungs: 
unterricht frei zu geben. Das erfte Schuljahr wurde in viermonatliche Kurſe geteilt, 
an denen je acht Mädchen teilnahmen, doch hat ſich diefer Zeitraum, troß recht guter 
Erfolge, ais zu kurz erwieſen, weshalb man zu einjährigen Kurſen überging. Sind in 
der eriten Klaſſe nicht 24 Schülerinnen, jo wird die Zahl durch Kinder aus der zweiten 
Klaſſe ergänzt. 

Später ftellte der Schulvorftand zwei große Räume für Küche und Wafchraum 
unentgeltlich zur Verfügung, bewilligte Mittel zur Einrichtung der größeren Räume 
und zur Anſchaffung von vier Kochherden und gewährte ferner freie Lieferung des 
Waſſers und des Feuerungsmateriald; die übrigen Ausgaben beftreitet der Frauenverein. 

Der Arbeitsraum ift mit allem Notivendigen auögeftattet, ohne Hilfsmittel zu 
geben, die fich in der Arbeiterküche nicht finden önnen. Je ſechs Mädchen haben einen 
Herd und einen daneben flehenden Stüchentifch, auf dem alle Arbeit verrichtet wird. 
An der Seite des Tiſches und in dem unterhalb der Tiichplatte angebrachten Fach 
find alle Geräte angehängt oder aufgeftellt, die zu dieſer Herdgruppe gehören. 


Hauswirtſchaftliche Unterweifung armer Mädchen in Deutfchland. 158 


Es werden ihnen einige hygieniſche Vorfchriften gegeben in betreff des Lüften® der 
Zimmer und Betten, des Neinigens der Fußböden und dergleichen. Auch auf ordent: 
liches Betragen ber Kinder wird geachtet, fie dürfen 3. B. bei Tiſch nicht die Arme 
aufflügen. Im ganzen hertſcht aber in dieſer Haushaltungsfchule ein wohlthuend 
freier Ton. Die Mädchen werden nur ermahnt, wenn fie ſich ungehörig benehmen, 
oder ihre Schuldigkeit verfäumen. Sie arbeiten flink und eifrig, man fieht, fie find 
mit Intereffe dabei. Schr reizend ift ihr frifcher, mehrftimmiger Gefang beim Plätten, 
Rartoffelihälen, Geſchirrwaſchen, der bei den mufifaliichen Thüringer Kindern wirklid) 
erfreulich klingt. 

Während des theoretiichen Unterricht3 überwacht die Hilfslehrerin die Speifen, 
doch wird er unterbrochen, wenn das Eſſen ein beionderes Eingreifen verlangt. 
Während der Haushaltungsarbeit müffen die Kinder felbft ihre Töpfe beobachten. 

Iſt der Vortrag beendet, jo wirb der Küchenzettel des Tages in Hejte biftiert, 
die die Kinder während des Schuljahres nicht mit nach Haufe nehmen dürfen. Es 
wird bei dem Schreiben der Rezepte auch auf richtige Orthographie geachtet. Faſt 
jeder Küchenzettel mißt der Perfon !/, Pfund Fleiſch, zu 13 Pig. berechnet, zu, natürlich 
die billigften Teile der Tiere, wie Bauch- oder Bruſiſtück, Kammſtück, Kaldaunen und 
dergleichen. Zuweilen treten Eier oder Sped an die Stelle des Fleifches. Die Kuh— 
butter wird durch Fett oder Dargarinebutter bejter Qualität erjegt. Fiſche, Gemüſe, 
Pilze, Obſt den Jahreszeiten angepaßt findet ſich in ausreichender Quantität in jenen 

" Küchenzetteln für ein Mittageſſen für 20 Pfg., ias befonders wertvoll erjcheint, weil 
unfere ärmeren Volkskreiſe viel zu wenig am den Konſum von Gemüfe, Obſt und der 
gleichen gewöhnt find. In Bezug auf den Küchenzettel hat es die Leiterin verftanden, 
trog der beichränkten Mittel eine große Mannigfaltigfeit zu erzielen. Um '/, ober 
11 Uhr ift das Diktat beendet, und das Mitiageſſen wird fertig zubereitet. Dann 
wird der Tifch gededt, d. 5. alles Notwendige darauf zurecht gelegt und nad dem 
aifcgebet das Efjen verzehrt. Daß es gut ſchmeckt, davon habe ich mic) felbft 

erzeugt. 

Eicher ift es von großer Bedeutung, daß die Kinder die zubereiteten Speifen 
felbft effen, weil dadurch das Intereſſe am Unterricht ein viel Ichhafteres üt. 

Nah Tiſch wird alles abgewaichen, das Geſchirr ſowohl wie die Tiſche, Fuß— 
böden zc., in 1—1'/, Stunden muß jedes Stück wieder fauber an feinem Plag ftchen 
oder hängen und ber ganze Raum rein und gepugt fein, fo daß die Schule um 
Y/1 Uhr gefchloffen werden kann. 

Am Schluß jedes Schuljahres findet eine Prüfung der Schülerinnen ftatt, zu 
der ihre Eltern und die Freunde der Haushaltungsſchule geladen werden. 

Die geiftige und_die äußere Entiwidlung der Kinder in diefem einen Jahr, ganz 
abgefehen von den pofitiven Kenntniffen, ift ungemein erfreulich, ihr Beobachtungsſinn, 
ihr Blick für Sauberkeit und Ordnung, ihre Gejchidlichfeit und VBebendigfeit werben 
durch dieſen Unterricht in auffallender Weife gehoben, ber beite Beweis, daß ber hier 
befchrittene Weg der tichtige iſt. Jedenfalls wird in der Zenenjer Haushaltungsſchule 
fo viel geleiftet wie nur irgend bei dem jugendlichen Alter der Schülerinnen zu erivarten 
ft, und e3 ift damit ein vortrefflicher Grund gelegt, auf dem die Kinder allein weiter 
bauen fönnen. Treten fie gleich nad) Verlafien dieſes Unterrichts in Lobnarbeit ein, 
jo hofft man ihren Hauswirtfchaftlichen Sinn jo weit gewedt zu haben, daß fie fich 
dann noch, falls an ihrem Wohnort ſolche vorhanden find, an Fortbildungsfurfen 
beteiligen, in denen fie ſich weiter in hauswirtfchaftliher Beſchäftigung üben fünnen. 

Wicderholt ift Frau Dr. Fiſcher in Dankfagungen junger Ehemänner und ver: 
witweter Väter der Beweis geliefert, daf die Ausbildung der Schülerinnen eine den 
thatſachlichen Bedürfniſſen entiprechende ift. 


a Eax 





Paul Hehſes Erinnerungen, 156 


bereichert fühlen, aber man wird etwas von dem heiteren Lebensgleichmut ahnen, der 
an den Abgründen ahnungelos mit Kränzen leichten Fußes dahin fchreitet und mit 
dem Löwen fpielt, wie das Kind der Goethifhen Novelle. 


* * 
* 


Berliner Kindertage, Berliner und Vonner Studienzeit, italieniſche Lehr- und 
Wanderjahre, Münchner Leben find die Reihen des Buches. Mit dem fünfunddreißigſten 
Jahre ſchließt ed. Es wird, das ift auch charakteriftifch, nicht weiter ald bis zu dem 
Punkt geführt, der dem Siebzigiährigen abfolute Diftanzhaltung garantiert. 

Mit Ahnenkultus beginnt ed, und die Portrait3 dieſer Vorfahren im altmodiſchen 
Rahmen, umweht vom Kulturparfum der Vergangenheit, haben ſeltſam aparten Reiz. 

Von der mütterlichen Linie gilt dad vor allem, denn in ber väterlichen feheint 
bis auf Theodor Heyſe, den Onkel Catull, den fauzigen Eonderling, den wir in 
Stalien noch kennen Iernen werden, das bürgerlich Gerade, Stille, Unbeirrte den 
Grundton angegeben zu haben. 

Aber die Geftalten der mütterlichen Welt find phantaftiich, originell wie aus 
Novellen E. Th. A. Hoffmanns und Arnims. Diefe Frauen aus dem Geſchlecht des 
„Hofiuden“ Salomon: die Großmutter, wie ein üppiged Bild des achtzehnten Jahr: 
hunderts, mit dichtem Haar, „ſtark ausgeſprochen orientalifchen Zügen“, kohlſchwarzen 
Augen und blendend weißer Büfte, die Tante Regine, die als alte Frau im halb: 
dunklen Zimmer figt, in großer Toilette, mit weißen Glaceehandſchuhen „wie ein 
gepugtes Gögenbildchen” und ſich von ihrer diden, blatternarbigen, fteiermärkifchen 
Zofe den Thee bereiten läßt. Dazu der „gute Onfel Louis“, im langen, blauen Rod 
mit Schößen bis tief über die Nankingbeinkleider, Gamaſchen, grauen Eylinder, das 
Kinn in eine handbreite ſchwarze oder buntleinene Kravatte getaucht. Dann die Tante 
Marianne, bie eine der Beautes des Wiener Kongrefies war, Könige und Fürften zu 
ihren Füßen gefehen, romantiſche Herzenserlebnifje gehabt hatte, fich erft mit einem 
portugiefifchen Herzog verlobte, der ftarb, bevor er fie zur Herzogin gemacht, jpäter 
nad Rahel Tod Barnhagen zum Bräutigam nahm, ohne daß er ihr Mann wurde, 
und die nun als alte Frau noch den Schimmer glänzenden, großen Erlebens um ſich 
breitete. Endlich Heyſes Mutter jelbft, eine Coufine der Mutter Felix Mendelsjohn: 
Bartholdys, wigig, geiftreich, temperamentvoll. 

Zu dieſem lebhaft leidenſchaftlichen Blut das ſchwerflüſſige, ernfte Weſen des 
Vaters, der gegen bie andern milde, gegen ſich unerbittlidy fireng war. Er iſt der Haus: 
lehrer Felix Mendelsſohns und habilitiert ſich als Philologe vor feiner Heirat. Sein 
Lebelang ein Märtyrer ber Pietätspflicht, der aus dem freiwillig übernommenen Zwang, 
die großen Pläne feines Vaters, die Wörterbücher auszubauen, nie recht zu einer 
freudig aus eigenem übernommenen Aufgabe fid) erheben konnte. 

Aus folder Gegenfagmifhung entftand Paul Heyſes „Weftöitlihe Natur“, wie 
er fie felbft glüdlich nennt, und in diefem Falle ergiebt ſich wirklich das fonft häufig 
nur fonftruierte Zuſammenwirken der geiftig-finnlichen mütterlichen Frohnatur mit dem 
ernften Lebensführen des Vaters ganz ungezwwungen. 

Berliner Stimmungen beginnen den Reigen. Der maleriſche Winfel am Weiden- 
damm, der fpäter in den „Rindern der Welt“ zum Neft des Zaunkönigs die Ecenerie 
gab, eröffnet feine Wunder, wie fie die Heißhungrige Phantafie des Knaben fah: den 
Stapelplag der Holzfähne mit den hoch aufgefchichteten Holzhaufen, die wie eine 


Paul Heyſes Erinnerungen. 157 


Stimmungs: und pfychologiſche Ausbeute geben die Blätter aus Jtalien eigentlich 
wenig, fie haben eher anefdotifch-genrehaften Inhalt, und ihr Intereſſenwert beftcht 
darin, daß fie eine Fülle intereffanter Menfchen in ihrem täglichen Leben uns vorführen. 

Bodlins Geftalt fteigt auf und mit ihr die Erinnerung römiſcher Schlendertage, 
der Tafelrunde des Tugendbundes in einer Winfelfneipe, des Ausflugs nach dem Thal 
der Egeria, wo die beraufchte Luft hochwogt und es nad Heinſe-Ardinghelloſchem 
Vorbild „inmer tiefer ins Leben hineinging,” „bis zu jenem Tanz ums Feuer nad) 
abgeworfenen Kleidern.” 

Bödlin Iebte damals, noch völlig unbekannt, in tieffter Armut aber ſtets auf: 
echtem Stolz, der ihm jede Konzeffion an ben Publikumsgeſchmack vermehrte. Den 
großen phantaftiihen Zug von fpäter zeigten feine Bilder noch nicht, auch feine 
menſchliche Staffage. Das Charakteriftifche der Arbeiten biefer Periode war das 
intime ſtille Naturgefühl, das wunderſame Gedächtnis, das feiner ängftlihen Studien 
bedurfte, um den ganzen Reichtum aller Formen und Farben in ſich zu bewahren. 

Heyſe erzählt von einer unvollendeten zerfnüllten Leinewand, die in einem Winkel 
feines dürftigen Atelier in der Via della Purificatione herumlag, einer Landfchaft 
aus ben pontinifchen Sümpfen, ein „großartig einfaches Waldmotiv immergrüner 
Eichen,” an der Bödlin die Luft verloren hatte und die Heyſe eine mehr und mehr 
geichägte koſtliche Gabe wurde. 

Ein Schatten der alten Nazarenerzeit, wandelt Dverbed noch durch die Gaſſen 
Roms. Paul Heyſe fieht ihn in feiner „hohen etwas vorgebeugten Geftalt, den finnend 
geſenkten Augen,” wie er neben ber Staffelei fteht und einer mutwillig ſchönen Dame, 
die ihn mit einer aſthetiſch aufgefaßten, einer verfchämten, entkleideten Heiligen gleichenden 
Eva nedt, mit leifem Erröten verlegen erwidert. 

Auch an Driginalen fehlt e8 nicht. 

Martin Wagner, den Bildhauer König Ludwigs, fehen wir in feiner genialen 
Verwahrlofung, in der Vila Malta, zu deren Kuftoden ihn der König gemacht und 
die er mit dämonifcher Schnelligkeit in eine Wüftenei verwandelte. Hier Fauert er 
zwiſchen feinen Katzen, für die er bei den Mahlzeiten Fleiſch und Knochenſtücke, Fifch- 
töpfe und Gemüfe in feinen tiefen hängenden Rocktaſchen, chaotiſch durcheinander: 
geichättelt, fammelt, feinen fünftlerifchen Entwürfen, die wirr auf Tifchen und Stühlen 
herumliegen unter Tellern mit Speifenteften, leeren Weinflafchen, Kleidungsitüden, 
alten Schuhen, — mitten darin dann wieder ein wertvolles Gemälde der Külnifchen 
Schüle, alles mit einander friedlich bebedt von didem, grauem Staube. 

Nicht weniger Sonberling, aber ein faubererer Geift war der Epifuräer und 
Lebenskünftler Theodor Heyfe, Paul Heyſes Vaterbruder, der Onkel Catull, der Civis 
Romanus. Sein Bild erfcheint und ald das intereffantefle de3 ganzen Buches. Ein 
Unabhangigkeitsmenſch von raffinierter Lebendeinteilung, ber fein Leben allein ſich 
felbft zu leben wünſcht, ein Leben geiftigen Genuffes, nur ſoweit mit Arbeit belaftet, 
als es zur wirtichaftlichen Erhaltung nötig ift. 

Seine Brotarbeit find Ebitionen nad italienifhen Handichriften, feine reiche 
Muße gilt dem Umgang mit Catull und Goethe. Blumen und Tiere fehlen biefem 
forglich eingefponnenen Dafein nicht. Auf einer Luftigen Loggia, mit weiten Blick 
über die Nachbarhöfe, tanken fi immergrüne Pflanzen in der Sonne und tummeln 
ih das Hündchen Fido und der Kater Micetto, die die anderen feltfameren Haus: 
genoffen, den großen Geier und den Affen, fiberlebt hatten. Und in reizvoller Wirkung 


yanı HEyIeB eruncrungen. 189 


Heyfe kehrte als ein ber Schule „entlaufener“ romaniſcher Philologe, aber mit 
dem litterarifchen Spezimen in ber Tafche, aus Italien nach Deutſchland zurüd. 

Und nicht aus dem wiffenfchaftlichen, fondern aus dem dichterifchen Beruf kam ihm 
nun die wirtfchaftliche Begründung feines Lebens. Durch Geibels Vermittelung erbielt 
er 1852 eine Berufung an den Hof des Königs Mar, in die Schar der Kavaliere 
des Geiftes, die der bayrifche Herrfcher zu „Sympofien” um fich verfammelte und 
denen er einen jährlichen Chrenfold ausſetzte. 

Die Münchener Chronik, zu der Heyſes Lebensbild jegt wird, erhebt fi aus 
anefootifch-plauberhafter Sphäre zur fulturhiftorifchen Betrachtung einer intereffanten 
Epoche. Bor diefen Blättern aber fteht noch ein reizendes Genrebild. 

Heyſes Polterabend im Kuglerichen Haufe, bei dem der Bräutigam durch die 
unwiderſtehlich komiſche Aufführung des „dankbaren Räuber”, des theatralifchen 
Verſuchs feines zwölften Jahres, überrafht wird. Der große Effekt dieſes Edelmuts- 
dramas ift nicht der große Ninaldini „Vorſcht“, den Wilhelm Lübke haarbuſchig, in 
Ichäbiger Räubertracht fpielte, fondern das arme, unfchuldige Kind der bedrohten Eltern, 
das im Kinderfleivchen am Boden kauerte und ſehr ernflhaft mit einem hölzernen 
Pferde fpielte — und das Adolf Menzel darftellte. 

Aus dieſer Gemütlichkeit geht es aber dann in die Hofluft. Auch der Privat: 
verkehr, der neben der offiziellen Gefelligfeit der Sympofienabende herrſcht, ift faſt 
ausſchließlich auf die Kolonie der Berufenen beichränft. 

Von ihnen vertrat Dönniged bie Hiftorifchen Intereſſen des Königs, Geibel die 
poetifchen,. und Juſtus von Liebig war der „verantwortliche Minifter im Gebiet der 
exalten Wiffenichaften.” Dazu famen dann noch Riehl und der Graf Schad. 

Ein verftehender Kreis ſchloß fih im Haus der Frau von Ledebour und nannte 
fih die „Ede“, da man zu der verehrten Wirtin nur um die Ede zu gehen hatte. 
Hier laſen die Dichter ihre neueſten Gedichte, Dramen und Novellen; Riehl brachte 
feine Hausmufif mit; fcherzhafte poetijche Preisaufgaben wurden geftellt, und bie alte 
Freundin, die fie al8 den „Edftein der Ede“ feierten, wußte „mit dem milden Blid 
ihrer Maren Augen in dem iwelfen bleichen Gejicht, das bünnes, filbernes Haar um: 
rahmte, felbft Geibels Ungeftüm zu zähmen, wenn er mit Fräulein Julie (der 
Adoptivtochter), wie einft in Berlin mit Luife Kugler, in einer feiner herriſchen Launen 
aneinander geriet.” 

Derber als diefe frauenhafte, lampenverfchleierte Hauspoefieftimmung, war die 
Luft über der trankfeften Tafelrunde der „Krofodile”. Kerniger und fräftiger als in 
dem weiland „Tunnel über der Spree“ ging es in dem „heiligen Teich” zu, der ſich 
als irdiſchen Plag die gemütliche Trinkftube am Dultplag erwählt hatte, mit dem 
offenen Feuer, über dem der Wirt auf einem Roſt bie faftigen Fleiſchſtücke briet. 
Hier verbrachte das „Krokodil“ vier jehr nahrhafte, vergnügliche Winter. 

Geibel, das „Urkrokodil“, ftimmte feine Leyer zum Preis des Wappentieres, das, 
in Thon modelliert, am Sodel die verſchiedenen Reptile, nach denen die Tafelgenojjen 
genannt waren, in hieroglyphiſchen Zügen eingegraben trug. Schad war das „Ehren 
krokodil“, das ſich aber nur felten bliden ließ. 

Die ernften Ergebnifie diefer heiteren Srokobilität wurden in den zwei Münchner 
Dichterbüchern, das eine von Geibel, da3 andere von Heyſe herausgegeben, niedergelegt. 

Hier hat ſich viel gegenfeitige Anregung, fruchtbare Reibung ergeben. Nicht fo 
probuftiv waren die königlichen Abende. 


Paul Hebfed Erinnerungen. 161 


das Außere Band einer Verpflichtung. Und Heyſe hat jegt in innerer und Außerer 
Freiheit, ein anerkannter, erfolgreicher Autor, die Muße, den eigenen Arbeiten zu leben. 

Wahrend die Mitkrokodile ich zerftreuen, bleibt er durch liebe Bande (feine zweite 
Frau ift Münchnerin) noch ftärker an die ſympathiſche Stadt gefeflelt. Und nun, an bes 
Lebens Mitte angelangt, in Sicherheit geborgen, entläßt er uns mit einem Ausblid. 

Der Tod ſchritt mandes Mal noch um fein Haus. Cine Kataftrophe voll 
Rarrenden Eumenidenfchauers ift der Kampf um den Tod, den Heyſes Schwager Hans 
Kugler, von unheilbarem Leiden gequält, immer und immer wieder fterbenägierig 
beginnt, bis er fein Ziel erreicht. Schwere Verlufte lieber Kinder treffen fein Glüd. 
Aber fein Herz fcheint gefeit. So verläuft ihm fein Leben, tie er felbft ald Fazit 
zieht, ohne ftürmifche Wechielfälle. Immer mehr wird er der Zufchauer, nicht nur bei 
den „großen, weltummälzenden Ereigniſſen“. Er bleibt in der Stadt, bie ihm eine 
zweite Heimat geworden, ohne jedes Amt, nur feinen eigenen Arbeiten lebend; und in 
rubevoller Kontemplation fieht er „gute Freunde und Gleichgefinnte kommen und gehen 
und eine neue Zeit anbrechen, in der ein neues Geſchlecht mit neuen Anſchauungen 
und Bedürfnifien heranwachſt“. 

Jede eigene ſtark aufmühlende Leidenfchaft mit ihrem Gefolge fchmerzlicher 
Konflikte, mit Herzblut bezahlter Abrechnung, leugnet er ab und erklärt Modell: und 
Erlebniswitterung bei feinen Arbeiten für zwecklos. 

Die Leidenſchaft bringt Leiden, und werter als das Glüd ohne Ruhe ericheint 
ihm fein Ruheglück des Haufe. Und wenn feine Augen wohl auch oft vor ber 
Schönheit entflammten, wir glauben e3 ihm gern, daß er „in der Schule der Frauen 
lange geſeſſen, ohne allzu ſchweres Lehrgeld zu zahlen” und daß er vor zerrüttenden 
Herzensſtitrmen bewahrt geblieben. 

Und wie die Liebe, fo hat ihm auch die Kunft feine Leiden gebracht. Wir 
merfen trog der dramatifchen Schmerzenskinder nichts von jenem quälerifchen Albdrüden 
empfindlicher fünftlerifcher Temperamente, die über ihre Echöpfungen nicht zur Ruhe 
tommen und fi) zerreiben. 

Gerade das Gegenteil zeigt jene interefiante Eingeftändnis Heyſes, das eigentlich 
offenherziger ift, als er vielleicht fich felber klar gemacht: 

Er fpricht von feiner glüdlihen Gabe, „feine novelliſtiſchen Erfindungen faft 
alle bis auf die Themata und wenige Details, bald nachdem fie gefchrieben find, 
wieder zu vergejien“. Und dann die bygienifch-behagliche Folgerung: „Ohne dieſe 
Fähigkeit — wie überladen wäre mein Gehirn mit Bildern und Geſchichten, da die Zahl 
meiner Novellen in den langen Jahren fo ungeheuerlich angewachſen ift. Und da e3 mir 
widerſtrebt, eine meiner alten Bücher je wieder anzufehen, wird auch der dunkle Abgrund, 
in den meine eigene Produktion vor meiner Erinnerung verfinkt, immer bodenloſer.“ 

Man hat für den Tribut an Heyſe den Olymp bemüht und ihn den Liebling 
der Götter genannt. Und wirklich ſcheint — wie leicht ward er bahingetragen — 
dies Leben gelafjenen Erfüllungsgenuffes ſolcher Glüdlichpreifung wert, ftellte ſich nicht 
rechtzeitig ein Ewigleitswort deſſen ein, der Menſchliches und Göttliche am tiefiten 
verftand und ber dem Olymp am nächften war: 

Alles geben die Götter, die unendlichen, 
Ihren Sieblingen ganz: 

Alle Freuden, die unendlichen, 

Auc Schmerzen, die unendlichen ganz. 


rn u 


Der Berliner Krippen: Berein. 163 


jener Denkſchrift ftellt dem folcherart in glänzender Weife dokumentierten Wiener Erfolg 
mit tiefem Bedauern die ſoviel beicheideneren Verhältniffe des Berliner Krippen-Vereins 
gegenüber und geht den Gründen bierfür nad, die nach feiner Anficht „nicht im 
Mangel an Verftändnis oder gar in mungelndem Wohlthätigkeitsſinn der Berliner 
liege; leßterer fei fprichwörtlich geworden“. Er findet die Erklärung in einem derzeit 
noch vorhanden geweſenen Fehler in der Drganifation des Vereins, wodurch dieſe 
„nicht dem vollen Inhalt der Krippen-Idee entſprochen habe”. 

Und bier begegnen ſich die Ausführungen der Denkſchrift mit meinen einleitenden 
Bemerkungen, die allerdings als maheliegend zu betrachten find. „Denn was liegt 
näher,“ fagt ber Herr Berichterftatter, „ald der Grundgedanke, daß bei Veftrebungen, 
die den Siffofen Kleinen bis zum dritten Lebensjahr zu gute kommen follen, vor allem 
Frauenderz und Frauenhand zu edler Werkthätigkeit berufen find, daß Krippenvereine 
vorwiegend Frauenvereine fein müſſen, daß das Frauenelement dabei hauptſächlich 
handelnd einzutreten hat?” 

Und der feltfame Umftand, daß bis zur allerhöciten Genehmigung eines neuen 
Statut im Jahr 1888 nur Männer im Vorftand waren, wird auf eine Notlage 
zurüdgeführt, in der fi) der Verein 1878 befand. Es ift nötig, hier wieder auf die 
Chronik der Krippen zurüdzugreifen. Nachdem in Berlin erft acht Jahre fpäter als 
in Parid eine Krippengründung bewirkt wurde, die fi) eines kurzen Aufblübens 
erfreute, ging das mit Eifer begonnene Unternehmen twieder ein. Die Gründe find 
auch bier nicht weit zu fuchen, trogdem eine Dame Vorfigende des Stomiteed war — 
Ihre Ercellenz Adelheid von Mühler. Der Mangel an Beteiligung weiter Nreife 
dürfte fih aus dem ungünftigen Zeitverhältnijfen erklären, aus der in breiten Schichten 
der Bevölterung herrſchenden Verftimmung, die fich gegen alles richtete, was aus dem 
teaktionären Lager kam, aus einem Unmut, der wohl Symptome, wie die Europa— 
mübdigfeit erzeugte, aber nicht folche, die eine Gefundung der Zuftände daheim an: 
zeigten. Und jo vergingen denn dreizehn Jahre, bis wieder eine Krippe in Berlin 
ind Leben trat, und zwar danf der Jreigebigfeit eines edeldenkenden Induſtriellen, des 
Fabrikbeſitzers Fonrobert, der dem nadhmaligen Begründer des Berliner Nrippens 
vereind, Herrn Dr. Albu, die Einrihtungd: und Erhaltungstoften für eine neue 
Krippe zur Verfügung ftellte. Leider folte diefe 1869 geſchaffene Anftalt nach mehreren 
Jahren fegensreichen Gedeihens ein twidriges Geſchick ereilen. Sie mußte infolge 
ichwerer Erkrankung des Herrn Fonrobert im Juni 1877, und nachdem Dr. Abus 
Xerjuch, durch den von ihm im Tftober desjelben Jahres gegründeten Verein die 
Weiterführung der Anftalt zu ermöglichen, wegen Mangels an Beteiligung mißglüdt 
war, am 30. Juni 1878 geichlojien werden. Daß aber trogdem diefe noch heute, 
Anklamerſtraße 39 befindliche Mutterkrippe des Berliner Hrippenvereind am 1. Februar 
1879 wieder eröffnet werden konnte, it j. 3. einem Vermächtnis des ald Spender für 
mohlthätige Beitrebungen rübmlichit bekannten Jr. Otto Markwald zuzufcdreiben. 

- Und zu gleicher Zeit war es die thatkräftige Hilfe einer marmherzigen Frau, der 
Gattin des Apothekerd und derzeitigen Befigerd des Haufe Anklameritrape 34, Herrn 
Sallbach, die mejentlich zum Fortbeftand und Gedeiben des Unternehmens beitrug. 
Frau Anna Sallbadb, die jeit nunmehr dreiundzwanzig Jahren unermübdlich ſowohl 
im innerlichen Betrieb, wie nad) außen bin für die Krippen Berlins wirft und felbft 
in jener Zeit der ſchweren Kriſis des Vereins den Mut nicht finfen ließ, hatte eine 
gleichgefinnte, bewährte Mitarbeiterin an der langjährigen Leiterin, Frau Roeber, 
zur Seite, und ohne offiziell im Vorſtand zu figurieren, find fchon die Namen biejer 
beiden, mit ungewöhnlicher Kraft begabten Frauen auf das engſte mit der Gedichte 
des „Berliner Krippenvereins“ verknüpft. 

Um das erwähnte Markwald’iche Legat von 15 000 Mark erheben zu können, 
war nun vor allem die Erlangung von Korporationsrechten für den Verein geboten. 
Zur Erledigung der nötigen Formalitäten traten Männer zufammen, aus deren Kreis 
ſich der Vorſtand Eonftitwierte, wie ſchon erwähnt, aber ohne Sig und Stimme für 
Damen. In demſelben Jahr, 1880, wurde dem Werein noch die Summe von 
3000 Mark durch Herrn Nomiralitätsrat Abegg aus dem Nachlaß des zu Wies— 

11* 


167 


Londoner Spezialitäten. 


Belene Tange. 
Nachdrud verboten. . on 


I 


Der Hundekirhhof. 
enn man durch Victoria Gate den Hude Park betritt, fieht man rechts von 
dem Wärterhäuschen eine einfache Holzthür. Der Wärter öffnet auf Ber: 


langen gern; wir treten ein, und ftehen auf dem Hundelirchhof Londons. !) 

Zwar der Ausdruck möchte irre führen. Hier liegen nicht Hunde fchlechtweg, 
Sondern die ariftofratijchften Hunde, die oberen Hunderte der Hunde von England. 

Ganze Reihen der fauberften, gepflegteften, zum Teil mit ganz frifchen Blumen 
bebedten Gräberchen liegen vor und. Am Kopfende erheben fich die Heinen Marmor: 
tafeln, die meift unter genauer Bezeichnung des Tobestages, manchmal fogar des 
Geburtstages, dem Andenken ber geliebten Jade, Jimmies, Scrapers, Robies und 
Scamps gewidmet find. Einer „dear, gentle little Lily“ ift fogar eine foitbare, 
halb gebrochene Marmorfäule, von marmornen Lilien umfchlungen, geweiht. 

Selbft wer mit einem warmen Herzen für treue Vierfüßler diefen Raum betritt, 
wer fich Schließlich auch noch zu einem Verſtändnis dafür aufichtvingen kann, daß man 
folgen lebenslangen ftummen Gefährten ein Andenken fihern möchte, wird doch vor 
mancher diefer Infchriften wie vor einer Blasphemie ftehen, wie erftarrt vor einer 
Herzendarmut, bie folhen Reichtum von Liebe an Hunde verfchiwendet. Nur ein paar 
feien Hier erwähnt. „My Towser", beißt «3 auf einem Marmor: „he was my 
faithful friend and constant Companion for 11 years, now I am lonely and 
heartbroken.“ Noch weiter gehen ein paar andere: „In loving memory of Tuby. 
He was my friend, faithful and true to me. Parted, but never forgotten. The 
sunshine of the house has gone,“ und: „She brought the sunshine into our 
lives, but she took it away with her.“ 

Viele diefer gebrochenen Herzen tröften ſich aber mit der Hoffnung auf ein Wieder: 
fehen. „Only guod night, dear little one‘, wünſcht die eine. „Au revoir, cheri, si 
Dieu le veut,‘ eine andere. Mehrfach finden wir die Infchrift: „Not one of them is 
forgotten before God.“ Einmal heißt e8: „My dear little cat Chinchilla“ — aud 
Kagen, Affen und Papageien finden fich vereinzelt in dieſer erlauchten Geſellſchaft, — 
„lovely, loving, and most dearly loved, poisoned July 31th. 1895. God restore 
thee to me, so prayeth thy ever loving mistress &A&vy.“ (Das brutale poisoned 
bringt eine andere loving mistress nicht übers Herz, es heißt da: „She suffered — 
and those who loved her best, helped her to pass on.“) Mehrfach kehrt wieder: 

There are men, good and wise, who say, 

That dumb creatures, we cherished here below, 

Shall give us kindly greeting when we pass the golden gate. 
Is it folly if we hope it may be so? 


) Selbftverftändlich nicht eine ftäbtiihe Injtitution, fondern cin von der Partverwaltung 
ſanktioniertes Privatunternehmen beö fpefulativen Thorwärters. 


Blinde 


189 


Slippen. 


Erzählung 


von 


Minna Canth. 


Autoriſierte Überfegung aus 
Nadbrud verboten. 
VII. 


‚wi atmete ſchwer, und fein ganger | 


Körper brannte. Er murmelte wunderliche 
Worte vor fih hin. Die Augen rollten in 
ihren rotgefprengten Höhlen. 

Alma war auf einen Schemel zu feinen 
Füßen niebergefunfen und faß zufammen- 
gefallen da. Mina bot ihr Thee, aber fie 
ſchuttelte abweifend den Kopf. 

Als John eintrat, neigte fie ihr Geſicht 
zu Awis Bett. John ftand eine Weile neben 
ihr, fah Arvi an und befühlte deſſen Stirn. 

„Vielleicht wird er und noch gefund, wir 
bürfen wenigſtens die Hoffnung nicht aufgeben.” 

Er blidte auf Alma. 

„Du mußt fehr erſchrocen fein.” 

Keine Antwort. Alma verhartte in ber= 


felben Stellung, fo unbeweglich, daß fie faum | 


atmete. John legte bie Hand auf ihre Schulter; 
ein Sittern durchlief ihren ganzen Körper, 
aber fie hob den Kopf nicht und änderte nicht 
die Stellung. 

„Richt fo, Alma,” fagte er. „Verſuche, 
rubig zu werben.” 


Er zögerte noch eine Weile, che er das | 
Zimmer verließ. Erſt, ald die Thür ſich 


binter ihm ſchloß, erwachte Alma aus 
ihrer Erftarrung. Sie erhob ſich nicht, 
fondern ſank noch tiefer hinab, vom Schemel 
auf den Boden, fie fiel zufammen mie 
ein Bündel. Mit 
Hammerte fie den Bettfuß, prefte ihn, daß 


ihre Finger Inadten und das Holz fnirfchte. | 


Der Lörperlihe Schmerz, den fie empfand, 
wirkte faft wohlthuend und lindernd auf die 
Angft ber Seele. 


beiden Händen um: : 


dem Finnifchen von E. Stine. 
Eglut von Leite 109.) 


Niemand war im Zimmer; das mußte fie, 
obwohl fie ſich über alles übrige nicht ganz 
im Haren war. 

Arvi war in einen betäubungsäßnliden 
Schlaf gefunfen. Nun erwachte er und Hagte. 
Alma kroch auf den Knieen zu ihm hin. 

„Mama,” fagte Arbi, „es thut mir weh 
im Kopf und im Hals.” 

Er feufzte und ſah die Mutter an. 

„Mama, fühle meine Stirn, wie fie brennt.” 

Alma näherte ihr bleiches Gefiht dem 
feinen. 

„Ich kann nicht, Arvi,“ kam es flüfternd 
von ihren Lippen. „Meine Hände find unrein. 
Aber fag’ es niemandem.” 

Arvi ſchwieg eine Meile: dann fuhr er fort: 

„Mama, idy fürchte mid. — Die Wand 
fällt auf mid.” 

„Sie fält nicht. 
fällt ein Mühlſtein.“ 

Woher?” 

„Bon oben. 
es niemandem.‘ 

„Rein.“ 

Schritte näherten ſich. Alma zog ſich auf 
den Schemel zurüd. Der Arzt und Lohn 
traten ein. 

„Wir werden morgen fehen,” fagte ber 
| Arzt, nachdem er Arvi unterſucht hatte. 

I Dann wandte er fih an Alma. 

„Aber wie fteht’3 mit Ihnen, Frau Karell ?“ 

John und er fahen einander an. 

„Sie taugen heute nacht nicht zur Kranken— 
wärterin,“ fagte er, Almas Puls fühlend. 

Alma hatte nur die einzige Hoffnung, daß 
fie bald gehen würden. Das thaten fie aud, 


Aber auf beine Mutter 


Vom Himmel. Aber ſag' 








Blinde Klippen. 


um den Hals. Wie fie fi) da zurechtfinden 
wird, da fie doch fagen, ih darf um feinen 
Preis zu ihr hinaufſchauen, ich fönnte bie 
Anftedung in den Kleidern mitbringen! — 
Bloß darum! Ich glaub’ einmal nicht an 
ſolche Sachen. Kein Menfh wird krank, 
wenn's nicht Gottes Mille iſt. Aber natürlich 
muß ich gehorchen, was kann ich thun!” 

Mina räumte im Zimmer auf, während 
fie, ohne Anttvort zu erwarten, weiter plauberte. 
Nun nahm fie mit ihrem Staubtud den 
nächſten Stuhl in Angriff. 

„Sie hauen fo merkwürdig aus, Frau 
Karel. Wenn Sie nur nicht auch krank 
werben. Da wären wir ſchlimm daran.” 

„Ich werde nicht krank.“ 


„Waren Sie geftern den ganzen Tag auf . 


tem Eis? Ih dachte mir's gleich, als ich 
tie Schlittfchuhe nicht im Vorzimmer hängen 
fab, und hörte, wie Frau Xeiftin zum Herrn 
Rektor fagte —“ 


"Bas fagte fie?” fragte Alma haftig und | 


fuhr zufammen. 


„Daß Cie mit den Magifter auf dem Eis ' 


vorbeigelaufen find. Cie tar verwundert, 

daß Sie noch nicht zurüdgelommen waren, 

und wollte, der Reltor fole Eie fuchen.” 
„Bann war das?” 

„So zwifchen ſechs und fieben — weil es 
gerade ſechs flug, ald wir zu Leiftind gingen.” 
„Und was fagte der Rektor darauf?” 

„Gar nichts fagte er. Aber unruhig muß 
er gewvefen fein, das glaub’ ich deshalb, weil 
er den ganzen Nachmittag nichts that, als im 
Speifezimmer aufs und abgehen.“ 


„Trage dies ſchmutzige Waſſer hinaus; cs H 


riecht übel.” 

Mina nahm den Eimer, die Scheuertücher 
unb ben Beſen und ging. 

Die Hände im Schoße gefreuzt, betrachtete 
Alma den fchlafenden Arvi. Aber ihre Ger 
danken waren nicht fähig, fih mit ihm zu 
beſchäftigen; fie waren alle in ihrem Kopf zu 
Eis erſtarrt. 

Der Arzt kam mit John, um nach Awi 


zu ſehen, fühlte ihm den Puls und fragte 


verſchiedenes betreffs feines Zuftande. Alma 
antwortete beutlih, wußte alles und ver 
mechfelte nichts. Treulich faß fie Tag und 
Naht an feinem Bett, gab ihm zur beftimmten 





171 


Zeit Medizin und frottierte den geſchwollenen 
Hals morgens und abends, wie es der Arzt 
verordnet hatte. Aber alles, was ſie that, 
geſchah ohne Bewußtſein, als befände es ſich 
außerhalb ihres Gedankenkreiſes. Es war 
eine andere Macht, die ihre Hände und Füße 
in Bewegung ſetzte. Sie ſelbſt erſchien ſich 
vernichtet ober von ihrem Körper getrennt. 
Darum fah fie Menſchen und Dinge um ſich 
ber wie in weiter Entfernung, und aud bie 
Stimmen Hangen in ihre Chren wie aus der 
Ferne. Sie fah alles an wie ein Panorama 
ober etwas vollftändig Fremde. Bisweilen 
meinte fie zu ſchlafen; dann fniff fie ſich in 


| den Arm, um zu erwachen; aber obwohl fie 


den Schmerz empfand, blich es beim Alten. 

Arvis Zuftand verſchlimmerte fih Tag um 
Tag. Der Arzt gab feine Hoffnung mehr 
auf feine Wiederherſtellung. 

Es war ber fünfte Abend nach feiner Er: 
krankung. John faß ftil und ernſt auf einem 
Stuhl beim Kopfpolfter, Alma wie zuvor auf 
einem niedrigen Schemel zu feinen Füßen. 
Ein fchauerlihes Schweigen war in dem 
Zimmer. Der Tod hielt feinen Einzug. 

Arvis Hände und Füße waren ciöfalt. 


‘ Der Atem rafjelte im Halfe, der Körper zudte. 


Die Augen hatte er unverwandt zur Dede 
gerichtet, ald erwarte er etwas von borther. 
John war bleih, und die Falte zwiſchen 


: feinen Augenbrauen tourde immer tiefer. Er 


fagte nichts, aber von Zeit zu Zeit zudte es 
in feinem Gefiht, und die Augen waren 
gerötet. 

Alma ſah ihn an, während ſie ſich gegen 
die Bettlante lehnte. Lohnte es ſich, ſo darüber 
zu trauern, daß der Knabe von Sünde und 
Elend ſcheiden mußte? Beſſer wäre es, der 
Tod nähme auch die anderen Kinder, ehe ſie 
in Sünde und Schande verſänken. Noch 
waren fie rein und unjhuldig ... . 

Wohl hatte Arvi jetzt große Schmerzen. 
Aber bald würde er Nuhe haben, ewige Ruhe 
im Schoß der Erde. Mißgönnte fein Vater 
ihm dies Glück? . . . 

Ein letztes Raſſeln, dann verftummte alles. 
John verbarg das Antlig in den Händen. 
Alma ſaß unbeweglih tie eine Bildſäule. 
Warum erlojch nicht auch ihr Leben zu gleicher 
Zeit. .? 


Blinde Rippen. 


„Run, Grau Karel,” fagte der Arzt, als i 
er fab, daß Alma die Augen öffnete, „nun | 
dürfen Cie viele Tage nicht aus dem Bett 
heraus. Cie müflen zuerft al den Schlaf 
nachholen, den Sie in den Iehten Tagen ver: | 
fäumt haben. Durch Medizin, wenn es nicht ! 
anders gebt. Und durch Medizin wollen wir | 
auch verſuchen, Ihnen Epluft zu machen.“ 

Alma hörte zu. Cie fagte fein Wort, 
weder dafür, noch dagegen. Mochten fie mit 
ihr machen, was fie wollten. Tag um Tag 
lag fie zu Bett. Sprach nicht, klagte nicht 
und münfcpte nichts, aber antivortete doch, 
wenn man fie um etwas befragte. Zumeift 
lag fie unbeweglih. Hie und da zudte ihr 
Körper, ohne daß fie e8 wußte. Die Augen waren 
größer ala früher, der Blid müde und matt. 

Endlich fragte der Arzt eines Tages, ob 
fie nicht Luft habe, aufzuftehen. Sie ver- 
neinte. Aber fie ftand dennoch auf, als der 
Arzt es fie hieß. 

Von nun an faß fie gleich fill im Sofa. 
John war bei ihr, fo oft feine vielfachen 
Arbeiten es erlaubten. 

Er ftellte ihr vor, daß fie ja noch brei 
Kinder Hätten, und mie friſch, munter und 
liebensmürbig die feien. Im ihnen müßten 
fie Troft finden. Derartige Sorgen und 
Schichſalsſchläge müfje der Menſch eben durch⸗ 
maden; das Leben verfehone feinen damit, 
und man dürfe ſich davon nicht nieberfhmettern 
laſſen. Es nüge ja doch nichts, und das 
Unglüd würde dadurch nur noch größer. 

Alma erwiderte nichts, und aus ihrem 
geiftesabtvefenden Blick war ſchwer zu ent 
nehmen, ob fie gehört hatte oder nicht. Sie 
preßte nur die verſchlungenen Hände jeiter 
zuſammen, aber John merkte e3 nicht. 

Indeſſen ſchien es deutlich, daß fie am 
liebften allein fei und die Gegenwart anderer 
fie gleihfam peinigte. Mina verfuchte daher 
aud die Kinder entfernt zu halten und führte 
fie nur bie und da herein, um bie Mutter 
zu begrüßen. 

Sie faß immer auf berjelben Etelle, in 
einer Ede des Sofas. Sie ſchien e3 nicht zu 
merken, ja wandte nicht einmal den Kopf, 
wenn bie Rinder im Zimmer lärmten oder 
irgend ein Gefäß in der Küche mit ſtarkem 
Gellirr zerfhlagen wurde. 





178 


Nur einmal ertönte eine Stimme im Salon, 
bei deren Klang fie zufammenzudte und aufs 
ſprang. Als John dann eintrat, ftand fie da, 
beide Hände auf den Tiſch geftügt, den Blick 
entfegt auf die Thür gerichtet. 

Kommſt du nicht herein? Nymark ift da. 
Er fragt nad) dir.” 

„Nah mir? Warum?” 

Sie zitterte, und die Stimme ftodte in der 
Bruft. Aber alle Kräfte anfpannend, fuhr 
fie fort: 

„Ich Tann nit — muß mic) bald legen. 
Ih bin fo ſchwach.“ 

„Du zitterft ja. Haft du Schwindel? Laß 
mid) did zu Bett bringen.” 

„Nein, nein, id fann es allein. Geh nur 
hinein, daß er nicht kommt.“ 

„Hierher? In dein Zimmer? Das thut 
er nicht.” 

„Geh doch jedenfalls, John.” 

John ging und ſchloß die Thür hinter 
ſich. Nun aber jaßte Alma eine neue Angit. 
Eie fürchtete, Nymark könnte es John fagen, 
alles erzählen... . Sie verfuchte ihrem Ge: 
ſpräch zu lauſchen, konnte aber nur undeutliche 
Worte unterfcheiden; fie zitterte heftig, ihre 
Gebanten verwirrten fi, und es dunkelte vor 
ihren Augen. Jeden Augenblid erwartete fie, 
daß Sohn ſich wieder in der Thür zeigen und 
mit Strenge Rechenfchaft von ihr fordern würde. 

Sie wiederholte ſich, daß das ja unmöglich 
ſei. Nymark würde es nicht thun, wenigſtens 
nicht mit Abſicht. Es war ja Wahnſinn, das 
zu fürchten. 

Und dennoch fürchtete ſie. Hätte ſich der 
dunfle Schlund der ewigen Verdammnis plötz⸗ 
lich vor ihr geöffnet, ihre Seele wäre nicht in 
ſolchem Grauen zurüdgebebt wie nun. 

Ein ſchwacher Gedanke fuchte fi noch in 
ihrem Geifte Pla zu ſchaffen. 

„Und felbft wenn er es erzählte?” Hang 
es in ihr; „ärger fann es nicht werden, als 
es jegt ift. Möge alles zugleih an ben Tag 
tommen! Dann bin ic von biefer Angit 
befreit. Es wäre befier gewefen, ich hätte 
felbft gleich alles erzählt. Mein ganzes Herz 
geöffnet.” 

Aber fie hörte nicht auf dieſe Stimme. 
Und bald verftummte fie; — die Angit hatte 
fie erftidt. 


Blinde Mippen. 


zurüd, fo hielt fie die Hand auf bas Herz 
gedrüdt und flüfterte: „Gott fei Dant, es 
mar nur der und ber!” 

Ferner bemerkte die Näherin, dab fie 
niemald mit Trauer ober Bedauern von der 
bevorftehenden Abreife ihres Mannes ſprach 
und fi gar nicht zu Herzen zu nehmen ſchien, 
daß fie nun für den ganzen Vorfrühling allein 
bleiben ſollte N 

„Wird es Ihnen nicht ſchwer werben, 
Frau Karell, fo lange von dem Herrn Rektor 
getrennt zu fein?” fragte fie einmal. 

„Richt im mindejten,” erwiderte Alma. 
Wenn es auf mic) anläme, fo würde ih am 
liebften ganz allein twohnen, weit draußen im 
Wald, fo daß keiner mich finden könnte.“ 

„Aber da würden ja die Wölfe Eie freſſen.“ 

„Und wenn aud, meinethalben!” 

„Möchten Sie denn gern ſterben?“ 

„Sehr gern.” 

„Gott im Himmel, wahrhaftig? 
Beiſpiel jetzt gleich?” 

„Gleich im Augenblick.“ 

„Und Sie hätten nicht die geringſte Furcht?” 

„Wovor?“ 

„Nun, vor dem, was nach dem Tode kommt?“ 

Alma jah fie an. Sie erwiderte nichts, 
verſank aber in Gebanfen. 

Dann reifte John ab. Während ber 
legten Tage hatte er Alma unabläffig forſchend 
betrachtet. Aber fie merkte es und zeigte ſich 
ſtets heiterer Stimmung. Auch vor dem Arzt 
verficherte fie, daß fie fih gefund fühle und 
feine Schmerzen habe. 

Aber wenn fie allein war, Hang oft das 
Wort der Näherin in ihren Chren: „Nun, 
vor dem, was nad dem Tode kommt.“ 

Eines Nacht? hatte fie einen ſeltſamen 
Traum. Sie mar im Neid der Toten. 
Finſternis und Grauen umgaben fie von allen 
Seiten, und Seufzer und Klagen erfüllten die 
Luft. Je länger fie wanderte, deſto größer 
ſchien die Angft der Geifter. Die Jammerrufe 
wurden immer beutlicher, fie erholen von 
allen Richtungen, befonders aus dem euer 
ſchlund, dem fie ſich näherte. 

Blaue Flammen, Schlangen und Ecelen, 
die fi darin manden. 

Hölle der Ehebrecherinnen“ ftand mit 
Feuerſchrift darüber gefchrieben. 


Zum 





175 


Sie ftürzte nieder, hörte das Weinen um 
ſich und ſchrie felbit. Schrie, fo daß fie 
erwachte. Schon wachend, fchrie fie noch eine 
Weile, ebe fie ſich Mar gemacht hatte, daß es 
nur ein Traum gewvefen. 

Kalter Schweiß tropfte von ihrer Stirn, 
und dennoch fror fie. Es war bunfel und 
ſtill um fie her. Noch durchſchüttelte fie das 
Entfegen des Traums. Cie nahm die Dede 
um fih und ging in die Küche. 

„Jeſus Chriftus, was fehlt der Frau?“ 

„Ich träumte fo häßlich, ih mag nicht 
allein fein. Willſt du nicht auf dem Sofa 
bei mir liegen, Maja Liſa?“ 

Ja.“ 

Maja Liſa nahm Polſter und Decke mit 
ſich. Alma zündete die Nachtlampe an und 
ſtellte ſie auf den Edtiſch am andern Ende 
des Zimmers. 

„Was haben Sie geträumt?” fragte Maja 
Liſa, als fie auf dem Eofa lag. 

„Ich kann es nicht ſagen.“ 

„Bar es ſo ſchauerlich? Sie haben gewiß 
vergeſſen, den Segen zu beten, ehe Sie zu 
Bett gingen. Wenn ich es je vergeſſe, ſo 
kann ich ſicherlich die Nacht nicht ſchlafen.“ 

„Ich habe es in der legten Zeit verſäumt.“ 

„Guter Gott! Beten Sie denn nie mehr?” 

Nein.” 

„Aber das iſt ſchlecht.“ 

„Bete du für mich, Maja Liſa.“ 

„Ja, das will ich thun.“ 

Beide waren eine Weile ſtill. Maja Liſas 
Atemzüge wurden ſchwer und gleichmäßig. 
Aber Almas Augen waren immer noch offen. 

„Maja Lija, ſchläiſt du ſchon?“ 

„Was mwünfht die Frau?” klang eine 
ſchläfrige Stimme vom Sofa. 

„Ich fürchte mich fo.” 

„Ja, wenn die Frau fein Gebet fpricht. 
Tas kommt daher.” 

„Ich wage es nicht. Gott haßt mich.” 

„Gott habt niemand, jondern erbarmt ſich 
über alle und vergiebt die Zünden, wenn der 
Menſch bereut.” 

„Ich habe bereut, fo entjeglih bereut, 
aber es hilft nichts.” 

Maja Xifa konnte hierauf nichts fagen. 
Sie hatte beten wollen und die Hände fchon 
gefaltet auf die Bruft gelegt. Aber der Schlaf 


Blinde Alippen. 


„Kerrgott, wer?” 


Alma anttwortete nicht; fie begann fich zu ! 


befinnen. 

„Ich friere,” fagte fie ſchließlich. 

„Iſt das ein Munder, meine liebe Frau, 
wo Eie ganz naß vom Schweiß find. Gehen 
Sie nur ſchnell ins Bett zurüd.” 

„Nicht ind Bett. Ich will zu Arvis Grab. 
Wer fommt und hilft mir?” 

„Aber tönnen Eie das au, Frau Karel?” 

„I, ih kann; wenn ih nur erſt an: 
gefleidet bin.” 

„Ich werde Zie ankleiden. 
nehmen Sie wohl eine von ung mit. 


Und dann 
Wir 


lafien Eie nicht allein fahren, nahdem Sie ! 


bei Nacht fo trank waren.” 
„Nun bin id ganz gejund. 
könnt mitlommen.” 


Auf Minas Vorſchlag nahın man einen ' 
Alma jtieg ein, und Maja Yifa , 


Schlitten. 
ſetzte ſich auf den Kutſchbock neben den Kuticher. 
Ein Peitſchenknall, und fort ging's, daß ber 
Schnee unter den Kufen knirſchte. Eine alte 
Frau trat vom Wege beifeite und blidte 
ihnen nad). 

Der ſcharfe Mind peitfchte Almas Geſicht. 
Er erfrifchte fie und befreite ihr Gemüt von 
dem Grauen der Nacht. Es war nur ein 
Traum geweſen, ein Phantafiebild ihres franten 
Hirns. Niemand glaubte mehr an die Hölle 
ober den Teufel; gab es nah dem Tode 
irgend ein Gericht, irgend cine Strafe, ſo 
mußten fie anders befchaffen jein. Keine 
Hölle, kein Feuer... . Nah dem Tote? 


Woher mußte man, daß «3 überhaupt ein ! 


Leben danach gab? Vielleicht war alles damit 
zu Ende. 

Auf der Straße waren viel Leute. An 
einigen fuhren fie vorbei, andern begegneten 
fie. Alle ſahen friſch und fräftig aus. Sogar 
die Heinen, zerfeßten Betteljungen, bie einen 
Schlitten binter fih berzogen und in ibre 
roten Hände bliefen. Und auch der Bauer, 
der cine Fuhre zur Stabt brachte und mit 
den Zügeln in der Hand neben dem Pferde 
einherging. Wie gern hätte Alına Leib und 
Leben mit ihnen taufchen mögen! 

Das Pferd hielt bei der Friedhoipfo— 
Alma und Maja Lifa gingen hinein. Zi 
mußten zuerft ein Stüd geradeaus gehen und 








Doch ihr - 


177 


! dann rechts einbiegen, um zu Arvis Grab zu 
fommen. Der Schnee war weich, Almas 
| Schuhe und Aleiderfaum wurden naß. Rings⸗ 
ı umber ſtand Grabkreuz neben Grabkreuz. Sie 

blieb ſtehen, um bald dies, bald jenes zu be— 
trachten. Las den Namen, das Geburts- und 
Todesjahr und blieb noch eine Weile, als 
warte ſie auf irgend eine Aufklärung über 
das Leben, das zwiſchen dieſen beiden Jahres⸗ 
zahlen lag. Aber nichts verriet es. Stumm 
ſtanden die Kreuze mit ihren kurzen Inſchriften. 

Und wie viele es waren! Unter jedem 
ruhte mindeſtens einer, unter einigen mehrere 
nebeneinander. Alle dieſe waren geboren 
worden, herangewachſen, hatten ſich geircut, 
hatten geſündigt, gelitten und waren geſtorben. 
Ja, geſündigt hatten ſie alle, die Erwachſenen 
‚ mehr, die Kinder weniger. Aber war ein 
einziger von ihnen fo verbrecheriſch und fo tief 
gefunten wie fie? Nürde aud fie bier 
ruben fönnen, fo jtill und friedlich? . . . 
Würde ihr Grabmal es nicht den Überlebenden 
verkünden, wie twertlos und eitel ihr Leben 
geweſen und wie elend es geendet? Würde 
es nicht verfünden . . . 

Sie flüchtete vor ihren eigenen Gedanken 
und trat haftig zu Arvig Grab, wo fie ji 
in den Schnee feßte. 

„Thun Cie das nicht, liebe Frau, Sie 
erfälten fi,” fagte Maja Liſa. 

Alma hörte nicht. Sie hatte weinen 
wollen. Ehedem gaben die Thränen ibr einen 
fo fühen Troft, mit ihnen floß alle Dual und 
Angit aus dem Herzen. Aber fie hatte feine 
Thränen mehr. Und aud die hätten ibr 
nicht geboljen. Keine Thränenfluten bätten 
das Geſchehene ungeihehen machen fönnen. 

Die Kreuze nahmen ein drohendes Aus: 
ſehen an. Sie erfhienen ihr wie kalte, hart- 
herzige Feinde, die fie von allen Seiten an— 
griffe Die ſchwarzen Buchſtaben grinjten 
fie an; fie fagten ihr, fie babe bis zum letzten 
; Augenblid ihren Mann belogen und betrogen, 
babe fih nod in der Abjchiedsftunde von 
ibm umarmen lafjen, in tem Glauben, daß 
fie ein treues, fittfames und chrbares Weib 
ſei. Und fie fagten ibr, ihre Zeit ſei ger 
fommen, und das Gericht rufe fir. Gottes 
Gnade habe ſich von ihr gewandt, der Tod 
i wolle ihr Gebein. 

















12 


Du biſt bei mir. 


Eie zogen bie Garbine vor, warfen einen 


1 
' 


Blid auf Alma, die nun wirklich ſchlief, und 


ſchlichen auf den Behenfpigen aus dem Zimmer. 


Am neunten Tage danach ftand wieder 
eine Menſchenmenge um ein geöffnetes Grab. 
Der Priefter las den gewohnten Tert, warf 
Erde auf den Sarg und fprady noch ein Gebet. 
Als er geſchloſſen Hatte, drängten ſich auch 
die Fernerftehenden heran, um ben Earg zu 
fehen, der Almas Leib umſchloß. Eie warfen 
dabei teilnehmende Blide auf John, in deſſen 
Antlig und ganzer Haltung ſich tiefe Trauer, 
gepaart mit einer männlichen Selbftbeherrihung, 


179 


ausprägte. Maja Lifa und Mina ftanden 
nebeneinander auf der andern Seite bes Grabes. 
Sie hatten fo geweint, daß ihre Augen ge= 
ſchwollen waren, und fie meinten noch. Die 
Heine Lypli auf Maja Liſas Arm meinte 
auch, weil alle andern meinten, Papa und 
Ella und alle. Und fie meinte und mollte 
nicht aufhören, obwohl Tante Leiftin fie kußte 
und mit ihr ſprach. Nur Helmi meinte gar 
nicht, fondern ſchaute nur verwundert um fi, 
legte dann ihren Arm um Minas Hals und 
lehnte ihr Köpfchen an deren Wange. Und 
Mina drüdte fie feſt an fih und ſchluchzte 
noch ‚heftiger. 


2 


Du bi bei mir. 


&ir in der Nacht, 


Wenn kein Auge im müden Dorfe wacht, 
Saß ich den alten Wanderftab 
Und fchreite die dunkle Straße hinab. 


Wie's um mich fingt! 


Wie's aus allen Tiefen empor fich ringt 


Und mit leifem Klang 


Wandert die ftille Welt entlang! 


Wehmütige Sehnfucht fleigt 
Aus dem Dunfel herauf und neigt 


Sich leife raunend mir zu 


And diefe Sehnfucht bift du. 


In der Stille der Nacht, 
Auf weichen Sohlen, leife und facht, 


Treulich mir zugefellt 


Schreiteft du mit mir durchs fchlummernde Seld. 


Wilhelm Tobfien. 


A 


12* 


Frauenleben und · Streben. 


Tieß fie unbeachtet. Unbegreiflich erſcheint e&, wie | 
Frl. Helene Lange bie hiſtoriſche Thatſache ab: 
leugnen tann, daß bei der Gründung des Bundes 
ein derartiger Audfchluß erfolgt if, denn warum | 
hätten ‚rau Pina Worgenftern, rau Cnaud: 
Kühne, Frau von Gigndi und ich damals ſofort 
mündlich dagegen proteftiert mit ber bringenben 
Warnung vor den Folgen eines folhen Fehlers? 
Barum, fo fragen wir, ift denn früher nie die ' 
Thatfache des Protefted dieier bier ‚zrauen von 
Yundeövoritand auf Grund eines ficherlih vor: 
banbenen Protokoll abgeleugnet worden? Tab 
Iri Helene Yange den mündlichen Proteft dieſer 
vier rauen mit einer Petition verwechſelt, welche 
im Jahre 18%5 von Frau Gerhard, rau von Gi 
und mir dem Reichötage eingereicht worden iſt, 
Anderung der eingelftaatlihen Bereinögefeße be: 
treffend, gehört allerdings zu jenen Ungeheuerlich | 
teiten, welche uns jo oft in Erftaunen fegen, wenn | 
wir mit ben Anhängern älterer Richtung verkehren. 
Jene beiden Sachen haben gar feinen Zufammen: | 
hang. Hiſtoriſche Thatfachen richtig zu ftellen ift 
Pflicht, die Hiftorifche Wahrheit Duldet keine Beugung, 
und Verwechslungen find zurüdzumeifen.“ 

Ten beiden legten Sägen ftimme ich unbedingt 
zu. Zwar rechne ich einen Gedächtnisirrtum, der 
in der Distuſſion begangen wird, wo einem 
keinerlei Tuellen zu Gebote ftehen, fo wenig zu 
ben „Ungeeuerfichteiten“, daß ich bie von Frau 
Cauer in Dresden begangene Verwechslung von 
Arau Gebauer mit Frau Gnaud:tühne in meinem 
Artitel in der Novembernummer ber „rau“ gar 
nicht einmal erwähnt habe. Ganz anders liegt bie . 
Sache nad den oben angeführten, mit dem Pathos 
ſittlicher Entrüftung gegen die „Anhänger älterer 
Richtung” (!) vorgebrachten gedrudten Beicul- 
digungen. (sehen wir alio an die „Rictigftellung 
der hiſtoriſchen Thatiachen“. 

Tazu wird und nun vor allem eine Meine un: 
ſcheinbare Fußnote verhelfen, die ſich unter den 
oben erwähnten Auslaffungen von rau Cauer 
befindet und zu interejjant ift, als daß fie verbiente, 
nur Fußnote zu bleiben. Tas Schidial ſolcher 
Fußnoten ift befanntlich oft, überfeben zu werben. 
Ich möchte mich daher ihrer annehmen und fie hier 
zu genauerer Betrachtung in den Text einrüden, 
Diefe Fußnote lautet: 

„grau Gebauer, die Vorfigende des Vereins 
von Sebeammen, hatte ihre Zuftimmung zu ber 
Yaltung ber vier genannten grauen bei der Gründung 
des Bundes nur durch Zwiſchenrufe bekundet, eine 
fpäter in den Tageöblättern veröffentlichte Erklärung 
behufs Rechtfertigung von Angriffen der liberalen 
Brefie wurde von ihr mitunterzeichnet, von Frau 
Gnaud:tühne dagegen nicht.” 

Tiefe Heine Fußnote ift Beötwegen jo intereiiant, 
weil bie darin fo beiläufig erwähnte, „Ipäter“ ver: ' 
öffentlichte Erlärung gerade bie iſt, von de 
Stritt und ich in Dresden behaupteten, daß fie 
von Frau Cauer, Frau von Gigpei, Frau Yina 
Morgenftern und Frau Gebauer erlaſſen worden 















181 


fi. (Die nur momentane, und, wie rau Stritt 
fofort erlärte, von ihr veranlaßte Verwechslung 
der Namen Gerhard und (Hebauer ift aud von ihr 


ſelbſt vor der ganzen Verſammlung ſogleich be: 


richtigt worden, fo daß Frau Cauer jeder Vorwand 
fehlt, jene „ungeheuerliche" Verwechslung mit einer 
fpäter erſchienenen Petition auch jetzt noch ihren 
Leſern als Thatſache vorzuführen.) 

Dieſe Ertlärung erſchien „ipäter” — ja, das 
iſt buchſtäblich wahr, fie wurde nämlich genau 
einen Tag ſpäter abgefaßt, am 30. März 1894, 
als dem Tage, der dem Sipungstag unmittelbar 
folgte, und zwar nicht „behufs Rechtfertigung von 
Angriffen der liberalen Preſſe,“ (ich neftche zwar, 
daf mein Deutſch zum vollen Werftändniß dieſes 
Satzes nicht ausreicht), fondern als Beſchwichtigung 
des „Vorwärts auf eine ſpottiſche Notiz hin, die 
er am 30. März unter dem Titel: „Ein rauen: 
tongreß“ gebracht hatte. Ta nun bieie Erflärung 
ſelbſt, die am 31. März im „Vorwärts erichien, 
der unſcheinbaten Meinen Fußnote nicht beigefügt 
iſt, jo geitatte ich mir, fie bier zum Abbrud zu 
bringen. Sie dürfte doch zu manden überrafchenden 
Folgerungen führen. Sie lautet: 

„Die unterzeichneten ‚grauen, welche von ihren 
Xereinen zur Konſtituierung bed Bundes beuticher 


Frauenvereine delegiert worden find, erklären, daß 
der in Nr. 73 des „Vorwärts“ veröffentlichte 









Bericht über jene Verfanmlung, überfehrieben „cin 
Frauenfongreß”, infolern nicht richtig ift, ald die 
in Anführungsitridsen angeführten Worte: „Dan 


wolle die Sozialbemofratie u. 1. w..... fernhalten“, 
nur Worte der Vorfigenden waren und die Unter 
zeichneten aegen den Ausihluß der ſozialdemo. 
teatifen Arbeiterinnenvereine Einſpruch erboben 
haben. 
Frau Schulrat Cauer, 
Delegierte des Hilfävereins für weibliche Angeitellte. 
Frau Olga Gebauer, 
Delegierte des Berliner Hebanmenvereind. 
vilp vo. Gizndi, 
Delegierte der deutfchen Geſellchaft für ethiſche Kultur. 
yina Norgenitern, 
Delegierte des Vereins ber Volfstüchen und des 
Berliner Hausfrauenvereins. 


Es fei hier zunäßt die Meine Unwahrheit be 
richtigt, daf nur bie Vorfigende, Auguite Schmidt, 
gegen die Aufnahme ſozialdemotratiſcher, d. h. über: 
haupt politiiher Vereine, geiprechen habe. Es trat 
eine Reihe von Rednerinnen dagegen auf, und ſchon 
der Umftand, daß nur vier rauen Proteft erheben, 
beweift, daß die Majorität der Verſammlung mit 
dem Ausſchluß jogenannter politiicher Vereine aus 
dem jungen Bund völlig einveritanden war. 

Aus dieſer Erklärung ergeben fih nun nod 
nachftebende intereffante Kolgerungen: 

1. Am 30. März 1894 wußte Frau Schulrat Cauer 
ichr wohl, daß nur von einem Ausſchluß der ſozial 
demofratifchen Arbeiterinnenvereine die Rede war. 





Frauenleben und Streben. 


moſaiſchen Glauben? find allein 53 Ruffinnen. 
Bon den Ausländerinnen find 66 aus Rußland, 
31 aus Amerika, 4 aus Schottland, 3 aus Eng: 
land, je 2 aus Frankreich, Rumänien und Bul: 
garien, je l aus Befterreih, Schweden und aus 
der Schweiz. Bon den 371 Damen ftudieren 6 
Theologie (1 Religionsphilofophie), Zura ftubieren 2, 
Medizin 27. Die übrigen 338 pflegen die ver: 
Ihiedenartigen Fächer der philofophilchen Fakultät. 
Bevorzugt werden von den Frauen Litteratur: 
geichichte, Spraden und Kunſtgeſchichte, eine nicht 
unerbebliche Zahl betreibt auch Naturwifienfchaften 
und Nationalökonomie. Die Zahl der ftudierenden 
Frauen ift gegen das vorige Winterbalbjahr zurüd: 
gegangen. Die Urſache liegt in ben verfchärften 
Beftimmungen für die Aufnahme der Auffinnen. 
Numeriſch bat fich dad Frauenſtudium an ber Ber: 
liner Univerfität folgendermaßen entwidelt. Seit 
dem Sonmerbalbjahr 1896 waren bier zugelaſſen: 
40, 98, 116, 193, 169, 241, 186, 431, 301, und 
in dieſem Winter find es 371. 


* Die Gymnaſialkurſe für Mädchen, deren 
Einrichtung die Abteilung Frankfurt des Vereins 
„Frauenbildung- Frauenſtudium“ übernommen bat, 
werden Dftern 1901 ihre unterfte (fünfte) Klaſſe 
eröffnen. Die Schul: und Lebrordnung der 
Gymnaſialkurſe, die auch alle näheren Bedingungen 
des Eintrittd und Beſuchs enthält, Liegt bereit? 
im Drud vor und ift von der Vorfigenden ber 
Abteilung Frankfurt des Vereins Frauenbildung: 
Frauenſtudium, Frl. Dr. Winterbalter, zu 
bezieben. 


” Der Pommerſche Brovinzial:Eehrerverband 
madte die Lehrerinnenfrage zum Gegenſtand 
ber Berbandlungen feiner diesjährigen Generalver: 
tammlung. Die Thejen, die in einem 2!/, jtündigen 
Vortrag zur Annahme empfohlen wurden, erllärten 
die Lehrerin für körperlich und feelifch weniger 
geeignet zum Lehrberuf, als der Mann es Sei, für 
weniger geeignet aud) wegen „gewiſſer Einfeitigfeiten 
und Leiden, für welche die Urſache in der gejell: 
Ihaftlihen Stellung des weiblichen Geſchlechts und 
in der Chelofigkeit zu juchen iſt,“ außerdem für 
entbebrlih, da der Einfluß des Weibes in den 
meiften Fällen fchon durch die Familienerziehung 
gebührend zur Geltung komme ꝛc. Sie jchaden, fo 
lautet Bunft 4 der 1. Thefe, oft der Schule und 
ben Lehrern dadurch, a) daß fie hierarchiſchen Ein: 
flüſſen leicht zugänglich find, b) daß fie die männ— 
lichen Lehrkräfte aus den beffer dotierten Stellen 
verdrängen(). Was für die Verwendung ber 
Lehrerinnen fchließlich zugeftanden wurde, entiprach 
etwa ben oben feitgeftellten Anfichten über ihre 
erzieblichen Fähigkeiten. 


183 


In der Debatte, in ber bie zweite Vorſitzende des 
Landesvereind preußiicher Bolt3fchullehrerinnen, 
Fräulein Liſchnewska, ald Hauptopponentin gegen 
den Referenten auftrat, zeigte ſich bemerkenswerter 
Weife, daß unter den auftretenden Rebnern bie 
Mehrzahl nicht mit dem Referenten übereinftinimte, 
wenn aud die Majorität der Berfammlung fi 
in den weſentlichen Punkten auf feine Seite ftellte. 
Mer fih wundert, daß ſolche Verhandlungen mit 
folhen Refultaten überhaupt noch möglich find, 
der ziehe in Betracht, daß man ed eben mit 
„Binterpommern” zu thun bat. 


* Das zweite philologiihe Staatseramen 
beftand Frl. Dargarethe Heine in München mit 
der Note I. Sie erhält dadurch die Lehrbefähigung 
für alle Klafjen des humaniſtiſchen Gymnaſiums. 
Sp ift auch Bayern in der Zulaffung zum Eramen 
pro facultate docendi Preußen vorangegangen, 
und man fann nur wünjchen, daß das Bei piel wirft. 


* Die Organifation der Boarzellanarbeite- 
rinnen in Öfterreich ift Gegenftand folgender 
intereflanter Notiz der „Sozialen Praxis“ 
(Nr. 6): 

Die Union der Glas- und keramiſchen Arbeiter 
und Arbeiterinnen Dfterreich® war eine der erften 
Branchenorganifationen, melde die Wichtigkeit der 
Arbeiterinnenorganifation erfannt bat und mit vollem 
Ernft an die Organifierung der Arbeiterinnen ihrer 
Branche geichritten ift. Die Arbeiterinnenjektionen 
im Ssiergebirge find ein Beftanbteil der Union, 
und nunmehr ſoll aud die DOrganifierung der 
PVorzellanarbeiterinnen wieder in Angriff genommen 
werden. Es ift eine Thatfache, daß es nun bald 
feine Arbeit giebt in der Porzellaninduftrie, in der 
nicht Arbeiterinnen mit tbätig find. Bon Jahr zu 
Jahr fteigt die Zahl derjelben rapid, und ebenſo 
verringert fich die Zahl der männlichen Arbeiter. 
In der Malerei find Malerinnen, in der Druderei 
find Druderinnen, in der Dreberei find Dreberinnen 
in der Gießerei Gießerinnen, in der Packerei, 
Schleiferei, Sortiererei bauptfählih Mädchen be: 
Thäftigt. Die Union wird in nächſter Zeit ber 
Drganifation der Arbeiterinnen die vollite Auf: 
merkſamkeit zuwenden und ridıtete an alle Orts— 
gruppenleitungen das dringende Erſuchen, fie in 
diefer Arbeit zu unteritügen. Sie will trachten, 
den Beichluß des Ichten Gewerkſchaftskongreſſes 
durchzuführen und, wo es halbwegs möglich tft, 
Sektionen für die Arbeiterinnen zu errichten, um 
e8 ihnen zu ermöglichen, ihre Angelegenheiten im 
eigenen Kreife zu regeln. Im Siergebirge beftehen 
bereit3 16 Sektionen von Arbeiterinnen, ebenfo im 
Hatida-Steinfchönauer Verband. 


* Marie von Ebner⸗Eſchenbach. Ter Rede 
des Brofefjord der deutichen Litteratur Dr. Minor 
bei Überreihung des Ehrendoktoratsdiploms an 
Marie von Ebner-Eſchenbach entnehmen wir noch 
fulgende Sätze: 

„Sie werden e8 bier in diefem Diplome lejen, 
daß wir, wie alle Welt, in Ihnen nicht bloß die 





Frauenvereine. 


Während feines ganzen Lebens, ob in Deutſchland 
oder im Exil, bat mein Vater, wie ich wohl fagen 
tann, auf feine Weiſe immerbar, ob auch unbemußt, 
das geiltige Band geftärkt zwiſchen Deutſchland 
und England, dem Yande, bad er liebte, deſſen 
veitifhe und feziale Freiheit ihm Lebensluft war. 


Er bat das nicht zum wenit ften gethan durch ſeine 


herrlichen Überfegungen aus feiner 
englijhen £itteratur. Und von feinen vielen Über: 
tragungen ind Deutſche bürfte die erfte Stropl 
von Campbell® „England to Germany“ wohl bier 
am Blage fein: 

„Meerüber ruft Britannia 

Der Schwefter Deutfchland zu: 

Wach’ auf, o Allemannia, 

Brich beine Ketten du! 

Beim Blut, das und zu Brüdern macht, 

Allemannen, auf, ertracht! 

Und dreimal geheilige fei 

Unfrer Sergen eilig vand, 

Wenn ung jujauczt, endlich frei, 

Euer Yand — euer Yanb!” 


Mein Vater übericgte das Gedicht |. 3. wahr: 
ſcheinlich im Hinblid auf Deutſchlands politiſche 
Anechtung. Ich citiere ed mit dem gluhenden 





geliebten ' 
i ganz fo äußerte, wie es auf die heute beregte Frage 
: paßt. 








185 


Zeit wieder aufleben möge.” Und nicht auf ihren 
Vater allein beruft ſich ‚rau Kroeker. Sie führt 
auch einen noch unveröffentlichten Brief, geichrieben 
1854, von Johanna Kintel an, worin dieſe 
„tapfere beutiche rau, patriotifh und dennoch nicht 
blind für die Schwächen ihrer Landsleute, bie 
Mängel, wie die guten Eigenſchaften beuticher- und 
engliidperfeits Mar erfennend," fi) ſchon damais 





Tie als „ergöglih und zugleich lehrreich“ 
mitgeteilte Briefſtelle handelt von dem in manden 
Flücptlingötreifen herrichenden Widertilfen, bie Lor- 
züge des Yandes, im dem fie lebten, anzuertennen 





und „in Srieden mit ihrer Umgebung zu (eben.” 
" „Nöchten dieſe fhönen poſthumen Worte,“ jo ſchließt 


Vateriand gehegt habe, wie ich glei 


Wuniche, daß das Gefühl von Brüderlichfeit, das ; 
die fhöne Dicptung durajtrömt, in nicht zu ferner : 


Frau Freiligratb-Kroeter, „wie Ryigeniens Ich 
bringe ſüßes Rauchwert in bie Flamme wirten, 
und möge der zwiſchen den beiden Nationen leider 
unlängft fo erweiterte Bruch fich almäblih und 
fer febließen. Und bieier Hoffnung,“ fegt fie 
binzu, „Lebe ich vertrauendvoll mit der ganzen Yiebe, 
bie ich von meiner Kindheit an für mein deutſches 
tig England 
fiebe, bie Zufluchtöftätte meines verbannt geweſenen 
Vaters und meine Heimat fürs Yeben.” — Ticie 
aus beftem deutſchen Herzen Tommenden Wünſche 
werden gewiß in der beutichen Frauenwelt ein 
Ehe finden. Vertba Treumann:Koner. 





m. 


Ffrauenvereine. 


Mufitfeltion des Allgemeinen Deutſchen 
Xererinnenvereins. 


(Borfigende: Frl. Hentel: Frankfurt.) 


Über die Entwidlung und die Ziele der Mufitfettion : 


des Allgemeinen Deutſchen vehrerinnenvereins giebt 
Fel. Anna deffe in Nr. 19 des „Rlavierlehrer“ 
(Ned. Anna Mori, Berlin W., Pafjauerftr. 3) 
einen eingehenden Bericht, auf den wir alle, die ſich 
für die Sade der Mufitlehrerin interefjieren, auf. 
merffam machen möchten. 
ſich die große Aufgabe geftellt, die Forderung einer 
Staatöprüfung für die Mufitlehrerinnen ihrer Ver- 
wirklichung entgegenführen zu helfen und für bie 
Reform des Geiangunterrichts in den Mädchen 
ſchulen und die Anftellung von auögebilbeten (Sejang 
Icbrerinnen an denfelben zu arbeiten. Es ift fehr 
zu wünſchen, daß diefe Beftrebungen in weitere 
Kreiſe dringen. 





„Bereins-Gentralftelle für Rechtsſchutz.“ 
Xeiterin: Dr. jur. Marie Raſchke. 
Die V. €. St. für Rechtsſchutz bewedt: 





Die Nufitfettion hat . 


Materials aller durch ben Rechtsſchutz auf gütlichen 
Wege vermittelten Schlichtungen von Recht: 
ftreitigleiten ſowie aller durch Vermittlung der 
einzelnen ¶ Rechtoſchutß Vereine und Kectsichus 
ftellen auf gerichtlichen Wege erlangten Nechte: 
enticheidungen (Anlegung eines Archivs). 

5. Zie will allen Frauen Vereinen Nat und 
Hilfe bei Einrichtungen von Nebtöturien geben 
und ihnen geeignete Yehrfräite zuweiſen. 

Ein jeder Wechtöichug: Verein und eine jede 
Rechtsſchutzſtelle iſt berechtigt, gegen Zahlung von 
jährlich 2 Mart jih der ®. C. Si 
ihug anyugliedern und gegen Ci 
1 Mark fchriftlih Austunft in allen Redtäfragen 
zu verlangen. 

Tie angeglicderten Vereine und Nechtöfhut: 
ftellen verpflichten fi: 

a) für die Einrichtung von Rechtsſchuhzſtellen 








in allen größeren und mittleren Städten Teutſch 
* lands Sorge tragen zu wollen, 


b) ber Gentralftelle alle 3 ober 6 Vionate ihre 


Erfabrungen auf dem (ebiete des Rehtöichuges 


1. Die Verbindung aller derjenigen rauen: ' 


Vereine und Vereins Unternehmungen, welche dazu 
dienen, den frauen Rat und Hilie in Rechtsfragen 
und Rectöftreitigteiten zu gewähren. 

2. Sie will Anregung geben zur Schopfung 
neuer Rechtsſchus · Vereine oder Rehtöichugitellen. 

3. Sie will Auötunftöftelle in allen beſonderen 
Rechtsfragen und Rechtsfällen fein. 

4. Sie will als Mittelpunkt dienen zur ſchriit 
lichen Niederlegung aller Erfahrungen auf dem 
Gebiete des Rechtsſchuhes, zur Sammlung des 








den Verlauf ibrer Vermittlung bei Rechts. 
ſtreitigkeiten mitzuteilen, 

e) für bie Verbreitung ber Nechtöfenntnis unter 
den grauen zu fergen, fewohl durd Einrichtung 
von Nedtöfurien als durch Sinweis auf bie 
„aehicheit für Fepufüre Rectökunde." 

Tie v. €. für Nebteihug hat ihren 
Zig am Wohnerte der Leiterin derſelben 

Tas Burcau der 8. €. >t. für diechtsſchut 
befindet fh Berlin SW, Nüniggrägerftraiie 88, 
Sof pt. Mint. Zpreditunden: täglid von 
12—2 Ubr, am Mittwoch und Sonnabend auch 
von 3—9 Uhr abends. 





> 


Bücerfchau. 


dies Buch. Farbenprächtige und allzufarbengrelle * 


Bilder, daneben andere von zarterem Schmelz und 
biskreterem Timbre. Jeder Gedante, der den Hopf 
des Monologiften, der im Wittelpuntt des Yucca 
ftebt, durdyudt, wird in ein Gemälde umgejcht, 


und das wirkt auf die Tauer mehr ald ermüdend. | 


Und das Traumbild tritt gleich berechtigt gleich 
folgenſchwer neben bie Wirklichleitövifion. In 
bieler Folge der Bilder aber giebt fi) eigenartig 
eine ſeeliſche Entwicklung, bie im cigenartigem 
Gegenſatz zu dieſer ichfüchtigen Kunft fteht: eine 
Überwindung des Egoismus gilt «8, ein Yeben mit 
andren und für andre gewinnt lodende Kraft und 
ſcheint ſich in der Seele des Einſamen durchzufegen. 


„Die Geſchichte der jungen Renate Fuchs.“ 
Roman von Jacob Waijfermann. (Berlin 1900, 
2. Fiſcher, Verlag) „Ein Mann tann fallen, 
Frauen nicht,“ das ift dad Thema dieſes Roman: 
die Geſchichte der jungen Renate Fuchs ift die 
Gefchichte eined Näbchene, die in allem Niedergang 
des Lebens der Seele Neufchheit ſich bewahrt 
Und zwar tief innerlich bewahrt: wie eine Trauı 
wanblerin geht fie durch das Xeben, gewiſſe 
Saiten in ihrer Bruſt bleiben unberührt durch die 
Außenwelt, die fie umgiebt, durch bie Menichen, 
die fie mißkandeln. Es iſt gleihiam ein myſtiſch 
Dunſtkreis um ihre Perfönlichkeit, den meniges, 
und zwar das Homogene nur durchbricht. Renate 
Fuchs iſt die Toter eines reichen Fabritanten, 
einem Herzog ift fie verlobt. Aber in ihr it der 
Trang nad Selbftbeftimmung, fie giebt ben Herzog 
auf, um einem jungen Mann in freier Ehe zu 
folgen. Der kirchlichen Sanktion dieje® Bündniſſes 
wideritrebt fie felbft. Und ihre erite jelbftänbige 
Handlung ift der erfte ſchwere Mißgriff, den fie 
begeht. Neine innere Gemeinſchaft ift zwiichen ihr 
und diefem Mann, unb, als er verarmt, tritt 
vollends die feige Brutalität feiner Natur offen: 
tundig hervor. Sie verläßt ihn. Und nun der 
tiefe Mbftieg ihres Lebens; fie fommt in bentbar 
ſchiechteſte Gejelichaft, fie wird Gouvernante in 
einem dentbar fittlich tiefftchenden Haushalt, fie 
tritt in einem Variete der eleganten Lebewelt auf. 
Und von allevem bleibt ihre Scele unberührt. — 
Es ift viel Romanhaftes in der Durchführung des 
Lebensfcpidfals diefer Frau, viel unreife Wiltür 
und viel häplih) Cuäfendes. Doch tritt in alledem 
eine Kraft zu tage, Stimmungen zu verdichten, audı 
dem ungejprodenen Wort Geltung zu verihafien, 
in dem Vielerfei der Stimmungen die Grundmelodie 
durdpffingen zu laiſen, bie nicht alltäglich if. rei: 
fi, neben der Hauptgeſtalt bietet der Noman 
nur Schemen. 


Behler Herr als Knecht“. Roman von 
Fedor von Zobeltig (Berlin 1900, 7. Fontane 
& €o.). Zobeltig' neuer Roman ift ein ſpannendes 
Buch, dad man mit Vergnügen fchmöfert. Mit 
einem Galabiner beim alten Kaiſer Wilbelm fett 
es ein, und ber junge Kabet, ber ba aufivartend 
hinter dem Schah von Perfien fteht, wird jchlichlich 
ſelbſt auf einen Fürftentbron geführt. Seltſam 
und etwa® ronanbaft inupfen und fchlingen ſich 
die Fäden, aber wenn man nicht immer überzeugt 
ift, fo ift man doch immer gefefjelt. Anicaulidı 
und echt ift die Yeufnantägeit in einem märfiichen 
Neft gezeichnet, und man ift Zeuge, wie der junge 
Graf, der in den Mittelvunkt der Erzählung gerüdt 

















187 


ift, inmerli wird. Nachher auf dem SKerricher: 
thron Jlyriens bewährt er die gewonnene Kraft, 
— das wäre am fich gewiß nicht übel; aber bevor 
der frübe Tod ibn auf fiegreihem Schlachtfeld 
ereitt, beglüdt ibm noch recht romanhaft eine Yiche, 
in deren Schilderung das Märden von dem 
Prinzeſchen im Schäferinnenkleidve den Grundton 
abgiebt. Zobeltig' Roman ift auf breitere Schichten 
berechnet und offenbar werden dem Geichmad des 
Bubliftums Konzeſſionen gemacht; de ift eine 
getwifie Echtheit und Treue in der Charakterzeichnung 
gewahrt, jo daß au ein anipruchövoller Yefer das 
Buch gern in die Sand nehmen mag. 


„Gin frohes Farbenſpiel.“ Humoriſtiſche 
Plaubereien von Dito Ernft. (Perlag von 
x. Staadmann, Leipzig 1900.) Es ift ſchade, dak 
Dtto Ernft fein Buch mit dem Untertitel verfehen 
bat. Sp ein Untertitel erzeugt immer ein leijes 
Mißtrauen, cs erinnert etwas an die Anpreifung 
„großer Yacherfolg” auf Theaterzettein. Ind die 
Plaudereien rechtfertigen dies Mißtrauen durchaus 
nit. Duo Ernftß Sumor ijt frijcher, Bräftiger 
Burſchenhumor, dem man eine gelegentliche (se: 
fmadfofigteit nicht übel nimmt, ein Humor, ber 
alle guten Yeute in Stimmung bringt, wie ein 
Studentenlied, ohne gerade hoben äfthetiichen ober 
pinchologiichen An ſpruchen gerecht Ju werden. Und 
dann etwas Warmes, Heimatfrohes im ben 
Stiggen, viele Heine Züge verraten die Tiefe und 
b die dazu gehört, um die Poeſie ber vier 
Wände zu erjhöpfen. Um dieſer Kraft willen jei 
dem Berfafler die „vertvegene Plauderei” über die 
Frauen verzieben und bie thörichte Enquete; die 
Frauenbewegung ift ja zum Gfüd in der vage, 
dergleichen Ergüsie nicht mehr widerlegen zu müjen, 
fie fann nur an ihnen die Thatlache fonftatieren, 
daß es nod immer Yeute giebt, die mit ihren 
twirtlihen Zielen nicht decht Beicheid wifen. 


„Die Zeitihrift für die neuteſtamentliche 
Biffenfhaft und die Kunde des Urhriftentums" 
bringt in dem erften Seft ihres eriten Jahrgangs 
eine intereilante Abhandlung von Prof. I. Abelf 
Barnad, „Probabilia über die Adrejie und 
den Verfafier des Hebräerbriefes.“ Diele 
Abhandlung iei hier aus dem (Srunde erwähnt, 
weil darin in außerordentlich fcharffinniger Weije 
bie Hopoiheſe durchgeführt it, daß der Hebraer 
brief eine Verfaiferin gehabt habe, bezw. daß 
eine Frau an der Abfailung itark beteiligt deweſen 
fei. Sarnad führt durch eine Neipe von Beweis: 
führungen den Hebräerbrief auf das in der Geichichte 
bed Paulus oft erwähnte Ehepaar Ayuila und 
Briscilla zurüd und ertlärt vie Thatfache, dah 
der Name des Autors verloren gegangen, aus der 
abfehmenden Saltung, die bie Kirche ſchon im 
erften Jabrbundert und bis zum dritten in fteigendem 
Dafe gegen die Ichrenden Frauen eingenommen bat. 


„VBlumenmärden“. Bilder, Terte und Litho— 
graphien von Ernit Kreidolf. Pilot und Boehle, 
Münden. Cin Bub, fo reid an lichenswürbigen 
Eintällen, an feiner, bumervoller, friiher Belebung 
au’ der Weſen in Wald und Flur, daß es wie ein 
Eintauchen in ben Heichtum der Naturbeicelung des 
Vollsmärchen®  erquidt und entzüdt. \ehes 
Blümchen und jeder Käfer erhält feinen befonderen 
Charakter, jedes Blatt, jede Nante, jeder Yalm 
wird zur Geſialtung dieſes Charatteriftiichen anmutig 





























194 Frauen: yabrilarbeit und Yrauenfrage. 


zu können, fandten fie noch vor diejen amtlichen Veröffentlihungen eine Flut von 
Büchern und Brofchüren auf den Markt, die mit den befannten Argumenten die puß: 
jüchtige, pflichtvergeffene Fabrikarbeiterin für die häuslichen Pflichten des Weibes, für 
die Familientugenden zurüderobern wollten. 

Diefe zahlreichen Neuerjcheinungen bedürfen feiner Widerlegung. feiner ein: 
gehenden Erörterung mehr. Sie haben in den jegt vollzählig vorliegenden Berichten 
der Gemwerbeinfpeftoren der deutichen Bundesftaaten die befte Würdigung gefunden; 
der Wortlaut der Inſpektionsberichte kann ftellenmweife geradezu als Antwort, als 
Entgegnung dienen. Nur diejenigen Veröffentlichungen zu der, Frage des Ausſchluſſes 
der Frau aus der Fabrik müſſen in diefen Blättern erwähnt werden, deren Verfaſſer 
die gute Gelegenheit, fich mit der Frauenbewegung auseinanderzujegen, nicht unbenugt 
vorübergeben ließen. Unter dieſen verjucht das namentlicdy die Brofchüre: „Frauen: 
Fabrilarbeit und Frauenfrage Eine prinzipielle Antwort auf die Frage der 
Ausfchließung der verheirateten Frauen aus der Fabrif”!) von Dr. Ludwig Pohle 
und „Die Frau als Induſtrie-Arbeiterin. Ein Beitrag zur Löfung der Arbeiter: 
frage” ?) von Fr. Collet. Beide Brojchüren Haben auch außer den etwas ſchwer⸗ 
fälligen und anſpruchsvollen Titeln viel Gemeinfames: beide find entichtedene Tendenz: 
jchriften gegen die Sozialdemokratie; beide erklären fich mit aller Entfchiedenheit für 
den Ausjchluß der Frau aus der Fabrik und kennzeichnen ihre Verfaffer ala Gegner 
einer „unbedingten Frauenemanzipation.” Der Verfaffer der erfigenannten Schrift 
unterfcheidet fi) aber menigftend von Fr. Collet dadurch vorteilbaft baß er den 
Verſuch unternimmt, Bemweismaterial für feine Anfichten zu erbringen, während dieſer 
fih im allgemeinen mit Aufftelung von Behauptungen begnügt. Eine Erörterung 
der Pohle'ſchen, weit umfangreicheren Schrift wird daher jegliches Eingehen auf die 
Collet'ſche Brojchüre überflüffig machen. 


* * 
* 


Pohle Mmüpft mit feinen Ausführungen an den internationalen Arbeiterfchug- 
fongreß in Zürich (1897) an, auf dem ein Antrag, für ein Verbot der Frauen: 
Fabrikarbeit einzutreten, zu den beftigiten Auseinanderfegungen führte. Die Vertreter 
zweier Weltanfchauungen in Bezug auf die gejellichaftliche Stellung der Frau 
ftanden fich dort gegenüber. Der Antrag fiel; 165 gegen 98 Stimmen chen ſich 
für die Freiheit der Frau auf dem Arbeitsmarkt aus. Pohle ſagt von dieſer Ab— 
ſtimmung, daß merkwürdigerweiſe außer den Sozialiſten auch die anweſenden Vertreter 
der nationalſozialen Partei (und manche andere! Anmerk. der Verf.) in dieſem Sinne 
ftimmten, „die eigentlich fchon aus dem Grunde für ein Verbot der eheweiblichen 
Fabrikarbeit Hätten eintreten müfjen, damit ihre Partei eine Arbeiterfchugforderung 
erhalte, durch die fie fi von der Sozialdemokratie ‚reinlich‘ ſcheidet.“ 

Der Berfaffer, der offenbar nicht geneigt ift, fich in einzelnen Fällen mit politifchen 
Parteien zu verftändigen, die ihm nicht genehm find, giebt mit dieſen Worten bereits 
einen Anhaltspunkt für feine Stellungnahme zur Frauenbewegung. Er kann keine 
Sympathie für Beftrebungen haben, die vielfach in Bezug auf die gefellichaftliche 
Stellung der Frau diefelben Forderungen wie die Sozialdemokratie aufftellen, und die 
ein Verbot der Fabrifarbeit verbeirateter Frauen befämpfen, weil dadurch die völlige 
wirtfchaftliche Unabhängigkeit der Yrau vom Manne verhindert würde. 

Da Dr. Pohle verſucht, ein reichhaltiges Zahlenmaterial für feine Forderungen 
nugbar zu machen und die Durchführbarfeit des Verbot? der Frauenfabrilarbeit zu 
beweifen, fo türmen fich, troß feiner gegnerifchen Stellung zur Frauenbewegung, biejelben 
Schwierigkeiten vor ihm auf, die auch von den Frauen immer bei Erörterung der 
Frage betont worden find. Er giebt zu, daß ein ſolches Verbot nicht jede verheiratete 
Frau treffen dürfe, jondern nur die, welche „Mutterpflichten zu erfüllen bat, mas 
allerdings bei Ehefrauen der normale Fall jet.” 


Y Verlag: Veit u. Comp. Leipzig 1900. 
2) Berlag der Arbeiter:Verforgung. U. Trojchel. Berlin 1900. 





Frauen: yabritarbeit und Frauenfrage. 195 


Pohle erkennt alsdann die Notwendigkeit an „im Intereſſe derjenigen Ehefrauen 
eine Einſchränkung des Verbot? vorzunehmen, die durch die Erwerbsunfahigkeit ihres 
Gatten in die traurige Notlage verjegt find, durch ihre Arbeit die Koſten des Unterhalts 
der ganzen Familie allein aufbringen zu müjlen.” „Das Gleiche,“ fo fagt er, „gilt 
jelbftverftändlich auch für verwitwete Frauen, folange unfere Arbeiterverſicherung noch 
nicht durch eine hinlangliche Unterftügung gewährende Witwen: und Waifenverfiherung 
ergänzt ift. Die Pflicht, durch eigene Erwerbsarbeit für den Unterhalt der Ihrigen zu 
jorgen, behauptet bei den Frauen der beiden letztgenannten Kategorien ziveifellos den 
Vorrang vor der Pflicht, die feineren, mehr auf hygieiniſchem, intellektuellem und 
moralifhem Gebiete liegenden Aufgaben zu erfüllen, die einer Mutter gegen ihre 
Kinder obliegen. Erſt muß naturgemäß die Erhaltung des nadten Lebens gelichert 
fein, ehe an etwas anderes gedacht werden kann, mag dieſes andere und nod) fo fehr 
als das im Grunde Wichtigere und als da3 eigentliche Ziel der Entwidlung der 
Menſchheit erſcheinen. Den Witwen und den Frauen erwerbsunfähig gemordener 
Männer, fowie den geichiedenen Frauen find eventuell auch noch diejenigen Frauen 
nleichzuftellen, deren Männer nicht im ftande find, ausreichenden Unterhalt für ihre 
Familie zu beicaffen, die beiſpielsweiſe nicht den ortZüblichen Tagelohn verdienen.“ 

Nachdem Dr. Pohle felbft eine ſolche Einfchränkung des eventuellen, von ihm 
angeftrebten Verbots als notwendig anerkennt, drängt fi unwillkürlich die Frage auf: 
Wer bliebe für ein ſolches Verbot eigentlich übrig? Glaubt Dr. Pohle wirklich, daß 
die Frauen aus Vergnügungsfucht in die Fabrif gehen? Die von ihm angeführten 
Zahlen, nämlich von etiva 130 000 verheirateten Zabrifarbeiterinnen, von denen vielleicht 
80 000—90 000 Mutterpflichten zu erfüllen hätten, fönnen deshalb durchaus nicht für 
irgendwelche derartige Echlüffe nugbar gemacht werden, weil fie einer Statiſtik ent- 
nommen find (ber gewerblichen Betriebszählung vom 14. VI. 1895), die nur nad 
dem Stand, nicht nad) den wirtfchaftlichen Verbältniffen fragt. Wenn alſo auch die 
verwitweten und gefchiedenen Frauen nicht in dieſe Zahlen mit eingerechnet find, fo 
bleibt doch die Frage offen, wie viele won diefen 130 000 reſp. 80 000 Frauen zur 
Fabrifarbeit dur die wolle oder teilmeife Erwerbäunfähigfeit ihrer Männer 
geswungen waren. Die Geiwerbeinipeltionsberichte geben darauf eine beachtend- 
werte Antivort: 

In den Hamburgifchen Bericht Heißt e8: „Unter den fämtlihen 2220 in 
den Fabriken beihäftigten verheirateten Arbeiterinnen wurden nur 20 oder 0,9 Prozent 
ermittelt, die lediglich aus dem Grunde ihre Arbeitskraft in den Fabriken verwerteten, 
um bie 2ebenshaltung ihrer Familie beffer und reichlicher zu geftalten. Alle übrigen 
Frauen find zur Arbeit in der Fabrik gezwungen, weil fie durch die Ver: 
bältniffe zum weſentlichen, bisweilen zum Haupternährer, oft fogar zum 
einzigen Ernährer ber ganzen Familie geworden find.” 

Der württembergiiche Bericht jagt: „Der Grund der Veichäftigung der Frau 
in der Fabrik ift in den allermeiften Fällen, kurz gefagt, die bittere Not des 
Augenblicks, und nur vereinzelt kommt die Abjicht, für die Zukunft zu forgen oder 
ſich zu befonderen Ausgaben einen Nebenverdienft zu fchaffen, in Frage.“ 

In den beffifchen Berichten wird übereinjtimmend hervorgehoben, daß ber 
Hauptgrund für die Fabrifarbeit der Frauen in dem geringen Verdienſt der Männer 
zu fügen ift. Bei 333 Männern, deren Frauen in Fabriken befchäftigt find, ſtellt ſich 
der burchfchnittliche Wochenverdienft auf nur 13,10 Mark. Ihre Frauen hatten zum 
Teil die gleiche oder fogar eine größere wöchentliche Einnahme. Auch die bavriichen 
Berichte ſprechen fich dahin aus, daß Veranlajjung zur Fabrifarbeit bei allen Frauen 
mehr oder minder die wirtfchaftliche Notwendigkeit fei, für fi oder die Familie den 
zum Lebensunterhalt erforderlichen Verdienſt zu beſchaffen. So berichtet der ober= 
bayerifche Aufſichtsbeamte: 

„Bon den 1253 befragten Frauen bezeichneten 444 ungenügenden Verdienſt, 
45 unbeftinmte Einnahme, 30 Krankheit, 29 Erwerbsunfähigleit des Mannes, 47 
größere Ninderzahl, 95 die Erhaltung verdienftunfähiger Stinder, Eltern oder An: 
verwandten, 12 Zahlungsverpflichtungen, von der Arbeitslofigfeit des Mannes her: 

13* 


Frauen: Fabritarbeit und Frauenfrage. 197 


oder auch im Handel Beſchaftigung fuchen, oder fie kann Aufmartungen übernehmen, 
als Kochfrau oder Pflegerin den x.” Ob fie bei Ausübung diefer leider noch ganz 
ungejcügten Gewerbe, bie fie teilmeife noch für mehr ala 11 Stunden täglich von 
Haufe fern halten, „die Mutterpflichten gegen ihre neugeborenen Kinder” befjer erfüllen 
dürften? Übrigens macht der Verfaſſer an anderer Stelle gar fein Hehl daraus, daß 
für ihn das Verbot der Fabrikarbeit nur ein „Anfang“ fein fol, „um dem Unweſen 
der regelmäßigen Eriwerböthätigfeit verheirateter Frauen außer dem Haufe energiſch zu 
Leibe zu gehen.” „Denn,“ fo fagt er in der Einleitung, „daß man mit einem Verbot 
der Frauen-Fabrifarbeit anfängt, bedingt ja nicht, daß man damit auch wieder 
aufhören und hierbei in alle Ewigkeit ftehen bleiben muß;“ und weiter: „die Ent: 
widlung wird nicht bei bem Verbot der eheweiblichen Arbeit nur auf dem Gebiete der 
Fabrifinduftrie Halt machen, fondern das Verbot wird nah und nah aud die 
anderen Teile des Wirtichaftslebens ergreifen.“ 

Wenn die Prognofe des Herrn Pohle fich verwirklichen müßte, dann dürfte es 
Aufgabe der Frauenbewegung werden, allen Ehefrauen, die nicht vom Mann erhalten 
ober auskommlich ernährt werden fünnen, zu empfehlen, ins Waffer zu gehen. Pohle 

laubt allerdings, daß ed der Familienwirtfchaft geradezu einen pefuniären Gewinn 
Tingen wird, wenn die Frau durch das betreffende Verbot lediglich auf ihre — 
Thaligleit beſchrankt wird; einen Gewinn, der den Verluſtpoſten des fortfallenden 
Verdienſtes ausgleicht. „Die Frau wird nunmehr ihre Kräfte ungeteilt dem Haushalt 
widmen; fie wird Heine Vorteile, bie fie ehemals nicht fo wahrnehmen konnte, genau 
ausnügen, und duch ihre erbaltende und ausbeſſernde Thätigkeit mande 
Ausgabe ganz erfparen.” 

Die Ausführungen über die Durchführbarkeit eines Verbot? der Fabrikarbeit 
fchließt Pohle mit der Behauptung, daß der Gejeßgeber damit bie natürliche Entwidlung 
unterftlügen würde. Cr führt dazu Karl Bücher an: 

„Denn das muß vor allem feftgehalten werden, durch die ganze Geichichte und 
namentlih durch die Gefchichte unjeres Volkes geht ein mächtiger Zug, der darauf 
Binführt, die rau mehr und mehr von der fehweren aufreibenden Mühfal des Erwerbs 
zu entlaften und dieſe auf die flärferen Schultern des Mannes zu laden, den Manne 
die ſchaffende, die werbende Arbeit der Güterzeugung, ber Frau die verwaltende und 
erhaltende Thätigkeit in der Hausmwirtfchaft, dem Manne den waglichen Kampf ums 
Dafein, der Frau die behagliche Geftaltung desſelben zuzuweiſen. (Mit 13 Dart 
Woceneinnahme! Anm. der Verf.) Diefen Zug der Entwidlung nad, Möglichkeit zu 
fördern, ift bie Aufgabe einer gefunden, Hiftorifh aufbauenden Sozialpolitil. AL 
Gehilfin des Mannes im Rahmen der Familie mag die Frau zum eigenen und 
allgemeinen Beften auch in der eigentlichen Erwerbswirtſchaft thätig fein, nimmermehr 
jedoch als Konkurrentin des Mannes außerhalb diejes Rahmens.” Dieſe 
Worte bedürfen keines Kommentars. 


* * 
* 


Im zweiten Teil, in dem die Notwendigkeit der Ausfchließung der verheirateten 
Frau aus der Fabrik behandelt wird, fegt der Verfaffer ſich mit ber Sozialdemokratie 
und ber Seauenbervegung audeinander. Beide werden im fchönfter Harmonie mit 
einander abgemacht. Pohle erörtert die Frage, wie die Sozialdemokraten ihre ablehnende 
Haltung im Hinblid auf die ſchweren Nachteile aufrecht erhalten können, welche die 
eheweibliche Fabrikarbeit für das Familienleben und die Kindererziehung unleugbar 
hat. Ob ſie mit Blindheit gefhlagen find oder Scheuflappen vor den Augen tragen, 
jo daß fie dieſe Schäden nicht wahrnehmen! Cr macht ihnen daraus den Vorwurf, 
daß biejenigen, bie diefe Schäden anerkennen, trogdem die Forderung folgendermaßen 
ablehnen: „Es ift ein dringendes Kulturbebürfnis, der modernen Entwidlung der 
Frauenarbeit nicht ftrangulierende Feſſeln anzulegen. Ein allgemeines Verbot der 
Frauenarbeit wäre gleichbedeutend mit der Zurüdverfegung. der Frau in die alte 
abfolute mirtichaftliche Abhängigkeit vom Manne und nicht im Imereſſe der für die 


An da Reue Jahr. 189 


Pohles Ausführungen zu dem, was von ber Frauenbewegung für die Frau ber 
befigenden Klaffen gefordert wird, Aehen fo durchaus auf dem Niveau deſſen, was 
in biefen Blättern ſchon fo oft widerlegt ift, daß ein näheres Eingehen darauf 
überflüffig erſcheint. 

Zum Schluß noch ein Wort über die Widmung des Buches, Auch in ber 
Litteratur giebt ed Moden; es fcheint jegt an ber Tagedorbnung zu fein, daß Bücher, 
die ns en das freie Menfchentum des Weibes wenden, die für eine Verkümmerung 
ihrer Menichenrechte, für Unterdrüdung ihres Ringens und Strebens eintreten, von 
den Verfaffern ihren Frauen zugeeignet werben. Auch Pohle ift dem Beiſpiel 
bedeutender Borgänger darin gefolgt. Den Frauenrechtlerinnen muß dad wie ein 
Hohn erfcheinen. Beim Lefen des Pohleſchen Buches werden fie ſich des Gedankens 
nicht erwehren können, ob Frauen, die foldhe Widmungen annehmen, oder denen fie 
bargebracht werben, fich auch noch mit dem häuslichen Rahmen für ihre Bethätigung 
Beideiben würden, wenn fie in ihrer Wirtfchaftsführung, in der Pflege des Hauſes 
und der Kinder auf ein Ausgabenbudget angewiefen wären, das nur zur Beftreitung 
der unentbehrlichen Lebensbebürfniffe hinreicht. Vielleicht würden auch fie in den 
Verhältniffen, die ihre Männer heut der verheirateten Fabrikarbeiterin zumuten und 
aufzwingen wollen, den Wunſch empfinden, durch ihre Arbeit die Lebendhaltung 
ihrer Familie zu verbeffern, ihren Kindern zu einer befleren, glüdlicheren Zukunft 
emporzubelfen. Denn das ift der gewaltigſte Drud, der namentlich von dem intelligenteren 
Teil der Arbeiterichaft heut ſchwer empfunden wird, bie Unficherheit ihres Loſes, bie 
geringe Möglichkeit, ihren Kindern zu einer beſſeren Lebenäftellung zu verhelfen, als 
die Eltern fie einnehmen. Das mag auch die Frau, die Mutter oft zur Erwerböarbeit 
treiben, denn ftärker noch als im Mann wurzelt in ber Frau, in der Mutter der 
Gedanke: „Nicht nur fort folft du dich pflanzen, fondern hinauf.” 


BER 
Än das Arne Jahr. 


Hauer Jahr! Gieb Eins: gieb frifhen Mut! 
Gieb uns Kraft der Chat und des Genuffes! 
Um uns fchwillt die dunkle, kalte Shut 

Müden, glaubenslofen Ülberdruffes! 


Neues Jahr, o mach uns fühn und jung! 
Gieb uns ftarfe Cuſt und ftarfen Glauben! 
Neues Jahr, o gieb uns neuen Schwung! 
Laß die Nebel uns das Ziel nicht rauben, 


Daß der Blick das ferne Land gewahrt, 
Wo die großen, reinen Kichter blinfen! — 
Wie der Sährmann vor der liberfahrt 
Slehen wir: „Herr, laß uns nicht verfinten!“ 


Frida Schanj. 
Alygaen 


Eine Frau als Militärfcpriftftellerin. 201 


Nach Skizzierung ihrer Außeren Lebensumſtände möchte ich einige Worte der 
Perſon und dem Lebenswerk dieſer Frau wibmen. 

Ihr Bildnis, das das Titelblatt eined Manuffript3 der Pariſer Nationalbibliothel ' 
Ihmüdt, zeigt ein fchönes, feelenvolles Antlig. Weichheit des Gemuts war trog aller 
Tapferkeit und Energie der auch in den meiften Schriften hervortretende Zug biefer 
tüchtigen Frau und Mutter. Ihre Schriften atmen den Geift der Renaiſſance. Die 
meiflen find moraliſch⸗politiſchen und lehrhaften Inhalts, in Verſen oder in Profa. 
Einige möchte ich hervorheben. Zunächft ihr Erſtlingswerk: „Jeux à vendre ou Vente 
d’amours® — 100 Balladen. „Le Chemin de longue estude“ — ein umfangreiches 
Berl, in Proſa überfegt von Jehan Chaperon und zu Parid 1549 gebrudt, 1883 
einer deutſchen Überfegung von Rifchel für würdig befunden. „Les Dits moraux,“ 
die Belehrungen der Mutter für ihren Sohn enthalten. „Le Livre des faicts et 
des bonnes moeurs du sage roi Charles V.“ ober bie „Ilistoire du roi Charles 
le Sage“, bie der Abbe Leboeuf mit Anmerkungen in feinen „Dissertations sur 
lhistoire de Paris“ im Auszuge herausgegeben dat. Vollſtändig find fie in Petitots 
nMemoires“ fowie in Michaubs und Poujoulat3 „Collections“ enthalten. Das 1405 
vollendete Buch enthält namentlich in feinem zweiten Teile eine Menge — kriegs⸗ 
wiffenfchaftlicher Angaben. Noch bedeutender und in einer für eine Frau jener 
Zeit geradezu einzig daftehenden Weife methodiſch ift das 1410 entftandene berühmte 

Livre des faicts d’armes et de chevalerie“, eine Encpllopädie der Kriegswiſſen⸗ 
ſchaflen das beſte franzöſiſche Werk auf dieſem Gebiet aus dem 15. Jahrhundert. 
E ift fo bedeutend, daß Napoleon III. viele Steüen in feinen „Ftudes sur le passe 
et l’avenir de l’artillerie“ wiedergegeben hat. Das erft achtzig Jahre nach feiner 
Abfafjung 1488 zu Paris gedrudte Buch wurde ſchon ein Jahr darauf von W. Carton 
im Auftrage von Heinrich VILI. ind Englifche überfegt. Chriftine gehört zu denen, die 
gerechte Kriege nicht nur für erlaubt, jondern ald notwendige Regulatoren im Bölfer: 
leben anfehen. Sie fpricht das in der Vorrede des in vier Teile ſich gliedernden 
Werks aus. Obwohl ihre Ausführungen fi) nach damaliger Gewohnheit auf Frontin 
und namentlih auf Weges aufbauen, enthält ihr Werk doch zahlreiche durchaus 
ſelbſtandige Anfichten, namentlich aus dem Gebiete des Belagerungskrieges. Erſt viel 
fpäter war ed wieder eine Frau, die auf diefem fonft ausſchließlich und mit vollſtem 
Necht den Männern überlafienen Gebiete eine denkwürdige Arbeit gefchaffen, nämlich 
ihre Namensvetterin, die gelehrte Königin Chriftine von Schweden ( 1689) mit ihren 
„Reflexions sur la vie et les actions de Cesar“. 

Chriſtines Leben ift von 3. Boivin le jeune in dem 2. Band feiner „Memoires 
de l’academie des inscriptions“ und vom ſchon genannten Abbe Leboeuf in ber 
Einleitung zu ihrer „Histoire de Charles V.“ geſchtieben worden, in neuerer Zeit 
(1883) von Nobineau. Die beften Erzeugniffe ihrer Kunft find in dem 2. und 
3. Bande der „Collections des meilleurs ouvrages composes par des dames“, 
fowie in ber 1886—91 von Roy beforgten zweibändigen Ausgabe ihrer „Oeuvres 
poetiques“ enthalten. Auch hat 1838 Thonafiy einen „Essai sur les écrits 
politiques de Christine de Pisan“ verfaßt, auf die ich aufmerffam machen möchte. 

Das Schöne und Eeltene an der Erfcheinung Chriftined de Piſan aber ift nach 
meiner männlichen Auffaffung, daß mir in dieſer bedeutenden Schriftftellerin feinen 
jelehrten Blauftrumpf vor uns haben, fondern eine alle Freuden und Leiden einer 
ran und Mutter voll und gejund empfindende, edle, anmutige und geiftvolle Vers 
treterin echter Weiblichkeit und eine wahre Förderin der Wiffenfhaft. Den Wettbewerb 
folder Frauen werden ſich die Männer zu allen Zeiten gern gefallen lafien. 


BENAYSN?Z 
Re 


Das Fahrzeug der Zubunft. 203 


Scholle ber Zeit nach wirklich noch nicht gar lange ber, und was ihre Ausbildung 
anbetrifft, jo ift es bis vor kurzem damit vollends nicht weit hergeweſen und aud 
heute ficherlich noch lange nicht das legte Wort geſprochen. In Amerika macht man 
feit einigen Jahren Berfuche mit Riefenlofomotiven, die das Vielfache unferer gewöhn⸗ 
lichen Schnellyuglofomotiven leiften follen. Die Umwandlung des Dampfbetriebes in 
elektrifchen bei Kleinbahnen ift bereit mehrfach „angebahnt”; das Neg von Dampf: wie 
eleftriihen Bahnen wird von Jahr zu Jahr dichter; der Pferdebahnbetrieb der Städte 
wird allgemach abgeichafft und im eleftrifchen umgeftaltet. Das find die Fortichritte 
der nächften Zukunft für die Beförderung von Menfchen und Laften auf Schienen 
wegen. 

Aber in Preußen allein giebt es ſchon vierzehumal mehr Ortſchaften als Bahn: 
flationen, zu mehr als 50000 preußifchen Gemeinden führt noch fein Schienenweg, 
und dasfelbe Verhältnis dürfte in den andern deutſchen Ländern fein. ft es denkbar, 
daß im Laufe der Zeiten alle dieje kleinen und Eeinften Menfcenfiedelungen an das 
große Schienenneg einmal angeſchloſſen werben? Denkbar wohl, aber höchſt unwahr⸗ 
ſcheinlich. Und auch nicht nötig. Denn fchon ift das mechaniſche Fahrzeug da, das 
in allen den Fällen die tierische Zugkraft abzulöfen beflimmt ift, in denen eine Schienen= 
anlage nicht praftiich, weil nicht rentabel genug ift, oder fonft das Bedürfnis vorliegt, 
den Verkehr nicht an fefte Schienenmwege zu binden. Das ift das Automobil, der 
Selöftfahrer, der berufen ſcheint, einmal alle Arten von Zugvieh in den wohlverdienten 
Ruheſtand zu verfegen, das ftolge Rappenpaar vor dem Coupe auf Gummi und den 
leichtfüßigen Traber wie den fchweren Omnibusfriefen, die Ochfen und Kühe der länd⸗ 
lichen Gefpanne Wet: und Sübbeutichlands wie die Ejel und Hunde ber großftädtiichen 
Straßenhänbler. 


* * 
* 


Die Idee des Automobils iſt, wenn man bon dem alten Römerkaiſer Commodus 
(180—192 n. Chr.) abſieht, in deſſen Nachlaß fein Nachfolger in der Regierung, der 
Soldatenkaifer Pertinar, laut Bericht eines alten Gefchichtsfchreibers, mehrere kunſtvoll 
konſtruierte mechaniiche, ohne irgendwelche Zugtiere fortzubeiwegende und fogar mit 
automatifchem Wegemeffer verſehene Wagen gefunden haben foll, ein Vierteljahrtaufend 
alt. Eine Nürnberger Chronik aus dem Jahre 1649 berichtet von einem von Hand 
Hautſch konſtruierten Kunſtwagen, „welcher in einer Stund 2000 Schritt geht, man 
tan fill halten, wann man wil, und ift doch alle von uhrwerd gemacht“. Er blieb 
eine Spielerei wie der hundert Jahre fpäter von dem berühmten franzöfifchen Erfinder 
Baucanfon dem König Ludwig XV. vorgeführte Uhrfederwagen. Der König hatte 
ſich von der Brauchbarkeit der Erfindung bereit3 überzeugen laſſen und trotz des 
Bebentens, daB das gewöhnliche Volk fie für ein Werk der Zauberei halten könnte, 
für feinen Wagenpark ein ähnliches Gefährt beftellt, aber die Zweifel der zopfigen 
Alademiker an der Verwendbarkeit dieſes Vehilels im Straßenverkehr von Paris haben 
ihn dann feine Beftellung wieder vergeſſen lajien und damit den Wunderwagen über: 
haupt. Erſt die Erfindung der Dampfmafchine hat die Idee des mechanifchen Fort: 
beivegens von Perfonen und Laften wieder aufleben lajlen. Und, wie nicht allgemein 
befannt fein dürfte, nicht etwa erft in der Form des Schienenwagens, fondern gerade 
in der des fchienenlofen. Der erſte felbftfahrende Wagen mit Dampfbetrieb war die 
von dem Franzoſen Cugnot 1769 erbaute Dampflaroffe, die freilich noch mit einem 


Das Fahrzeug der Zukunft. 205 


Paris und St. Germain verkehrte — die 15 Kilometer betragende Strede wurde in 
anderthalb Stunden zurüdgelegt — und feitdem bat man dort fetig, wenn auch mit 
Außerft langfamem Vorfchreiten an der Vervolllommnung dieſes Vehikels gearbeitet, 
trog der Eiſenbahnen. Und fo ift Frankreich dasjenige Land geivorden, dem ber 
moderne Automobilismus feine wefentliche Entwidlung verdankt. Aber auch Bier 
haben erft die allerlegten Jahre diejenigen DVerbefferungen gebracht, die ihm fo mit 
einem Schlage die Bedeutung als Beförberungsmittel der Zukunft zumeifen. 

Dabei hat den größten Anteil an diefer überrafchenden Entwidlung nicht etiva 
der Wunfch gehabt, einen wirklich brauchbaren Erfag der als überlebt empfundenen 
tierifchen Motoren zu erhalten, fondern der bloße Sport. Im Grunde der Zweirad: 
fport. Als in den achtziger Jahren der Sport bed Bicyelefahrens in Aufnahme Fam, 
ahnte man nicht, daß ſchon ein Jahrzehnt fpäter dieſes ein allgemein gebrauchtes 
Beförberungdmittel, das Zweirad in Millionen von Händen fein twürde. Ziemlich 
gleichzeitig mit der Ausbildung des neuen Fahrſports gewann das Automobil dabei 
die Bebeutung eines Unterflügungsmittels, als Schrittmachermaichine, ſodann aber trat 
das Automobilfahren auch als eine befondere Abart und Ergänzung des Fahrradrenn⸗ 
ports auf. Deshalb Hat der Selbftfahrer feine wichtigften Vervolllommnungsmittel, 
wie etwa die elaftifhen Gummireifen, vom Zweirad ber; und in feinem Entwidlungs- 
gang hat noch bis vor ganz furzem die Renntüchtigfeit eine größere Rolle gefpielt als 
die praltifche Brauchbarkeit. Der franzöjifche Selbſtfahrerklub mit feinen aljährlichen 
Wettfahrten hat befonderd viel zur Ausbildung des Automobild beigetragen. Nachdem 
Sich ahnliche Klubs in England, Deutſchland, Defterreich, der Schweiz und Schweden 
gebilbet hatten, wurde am 30. September 1897 der mitteleuropäiiche Motorwagen⸗ 
verein gegründet. Die Leiftungsfähigfeit der Motoren in bezug auf Geſchwindigkeit ift 
infolge der Thätigkeit diefer Sportvereine in wenigen Jahren derart geftiegen, daß, 
während noch die Rennfahrten von 1895 und 96 eine Durchſchnittsgeſchwindigkeit von 
nur 24 bis 25 Nilometern pro Stunde erzielten, die von 1899 auf der Rennſtrecke 
Paris⸗Bordeaux auf 48 Kilometer flieg, ja ber ſchnellſte Wagen eine Stunde lang 
fogar die Geſchwindigleit von 60 Kilometern behielt. 

Aber auch ſchon an den Wettfahrten zwiſchen Paris und Vordeaur 1895 
nahmen, freilich noch ziemlich nebenſachlich, Gefährte teil, die bereit feinen Sport: 
zweden mehr, fondern ausgeſprochen praktiſchen Verkehrszwecken dienen wollten. So 
der von Bollde 1880 erbaute Dampfonnibus „La Nouvelle“, der durchaus mit Ehren 
aus dem Wettlampf mit den jüngeren Sportmaſchinen hervorging. Und 1896 bereits 
fanden im Maasdepartement umfaffende Verfuche mit einem Dampfftraßenwagen nach 
dem Syſtem Scotte ftatt, der es einzig und allein auf Verkehrätüchtigfeit abgefehen 
hatte. Es war ein fürmlicher Feiner Zug, der fi da auf den verfchiedenften Straßen 
des Departements verfuchte, beftehend aus einem 4170 Kilogramm ſchweren Motor: 
wagen, der außer ber Mafchine noch Pla für 14 Perfonen hatte, und einem 
1500 Kilogramm ſchweren Anhängeivagen für weitere 24 Perfonen. Der Zug fuhr 
auf den ebenen Straßen mit einer Geſchwindigkeit von 15—16 Kilometer in der 
Stunde, bei Steigungen nur mit einer ſolchen von 5—6 Kilometer, bei ftarfem Gefälle 
dafür mit 18—20 Kilometer. Der Durchſchnitt betrug bei 628 Kilometer durch: 
laufener Wegfirede 12 Kilometer pro Stunde. Selbft auf fchlecht unterhaltenen, 
ſtaubigen Landftraßen, fowie auf neuen, friſch beicotterten und noch nicht gewalzten 
erzielte er noch eine Durchfehnittögeichtwindigfeit von 11,4 Kilometer pro Stunde, 





Das Fahrzeug der Zukunft. 207 


Demnäcft folgt Öfterreih mit der Einrichtung offizieller Selbftfahrerberbindungen: 
zwiſchen Meran und Trafoi foll ein Geſellſchaftswagen mit 15—18 Sit: und Steh: 
plägen verfehren, und zwiſchen Meran und Landed ift fogar ein Eilverkehr durch 
Poſtſelbſtfahret geplant, die zugleich die Briefbeförderung übernehmen follen. 

So werben fi vielleicht wieder die feit dem Aufkommen der Eijenbahnen ver: 
einfamten Landſtraßen und mit ihnen bie entlegenen Fleden und ihre idylliſchen Gaft- 
böfe beleben wie zu Zeiten der guten, alten Poftkutfche. Und wo bdereinft das Horn 
des Schwager melodifh ertönte, da wird, weniger melodiſch freilih, in Zukunft das 
Signalhorn des Selbſtfahrers erfchallen, und mit ber Romantik wird es in dem mit 
12—20 Kilometer Geſchwindigkeit bahineilenden Motoromnibus zwar nicht fo viel 
fein wie im traumeriſch ſchunkelnden Poflwagen mit den bebächtig trabenden Gäulen, 
aber immerhin noch mehr als im faufenden Schnellzug. Vielleicht erobert diefe neuefte 
Technik und doch noch ein Stüdchen jener Reifepoefie zurüd, die und einmal aus 
Lenaus „Poſtillon“ wie ein lang verichollenes, fühes Märchen angeweht hat: 

„2iebli war die Maiennacht, 
Silberwoltlein flogen — " 

Weniger idylliſch if das Bild, das man von einer vorjährigen Automobil: 
ausftelung in Amerifa haben konnte. Da wurden nämlich Motorwagen vorgeführt, 
die mit Marimgefhigen und anderen Schnelfeuerfanonen montiert und mit einmaliger 
Benzinfülung im ftande waren, eine Strede von 70 Kilometern in drei Stunden zurüds 
zulegen. Und daß auch die deutſche Heeredleitung bie Wichtigkeit des Motorprinzips 
für Kriegszwecke zu würdigen weiß, zeigten bie legten großen Manöver, bei denen 
BVerfuche mit Motorwagen für den Transport ber Belagerungsartillerie in umfangreichem 
und anfcheinend völlig befriedigendem Maße angeflellt wurden. In England ift 
neuerdings ein 18pferbiger Benzinfelbfifahrer mit zwei Marimgefchügen und leichter 
Banzerung für militärifche Operationen in den Kolonien fonftruiert worden. 


* * 
* 


Bas nun das bewegende Prinzip der Selbftfahrer, den Motor felbft betrifft, 
fo werden Benzin, Petroleum, Gas-, Dampf: und eleftrifche Motoren angewendet. 
Am Alteften find, wie wir gefehen haben, und älter als felbft die Eifenbahnen, die 
Dampfmotoren. Die Dampffelbfifahrer, namentlich die nach Scottefhem, Le Blancſchem 
und Serpolletfhem Spftem, kommen befonder3 für das Großfuhrwert und ben 
öffentlichen Perfonenverfehr in Betracht. Regelmäßigkeit im Betriebe, Wegfall aller 
unliebfamen und unberechenbaren Betriebsftörungen zeichnet fie aus, und daher eignen 
fie fih für die Beförderung im Dienft der Poſt und Eifenbahn in erfter Reihe. 
Die meiften regelmäßigen Selbfifahrerlinien in Frantreih haben Dampfmotoren nad 
Scotteſchem Syſtem. Schon feit Anfang 1897 ift ein folder Scotteſcher Wagen in 
der Umgebung von Paris, zwiſchen Courbevoie und Colombes in Betrieb geweſen 
und bat in ben erften beiden Betriebsmonaten nicht weniger als 32 715 Reifende 
befördert. Die Gadmotoren find noch zu wenig bei fehienenlofem Betriebe in Anwendung 
gelommen. Um fo erfolgreicher Hat man fie bei Schienenbetrieb einzuführen begonnen; 
fo at die Deffauer Straßenbahn Leuchtgasmotoren, die da8 Gas in fomprimiertem 
Zuſtand mit fih führen. 


Hondoner Spezialitäten. 


Helene Tange. 


Nadbrud verboten. nn 


u. 
Eine Kochſchule für Zungen. " 


18 ich noch fo jung und unverftändig war, daß ich mit meinen Diner-Herren 
auf die Frauenfrage einging, vielleicht fogar in der ftilen Hoffnung, eine 
Belehrung zu vollbringen, erlebte ich einmal bei einem fonft fehr fanften und korrekten 
jungen Mann einen ganz unvorfcriftsmäßig heftigen Gefühlsausbrug. Während bie 
gewöhnliche Reaktion ber deutſchen Sünglinge von damals in einem gewiſſen Zuden 
der Mundwinkel beftand, das die höflicheren durch ein Streichen der Stelle, wo der 
Schnurrbart faß oder doch eriwartet werden konnte, zu maskieren fuchten, fuhr biefer 
junge Mann wahrhaft entfegt von feinem Stuhl in die Höhe mit dem Ausruf: „Da 
wäre es ja die höchſte Zeit, daß unfere Jungen kochen ernten!” Augenfcheinlich 
erichien ihm das Kochen als die niedrigfte aller menſchlichen Beichäftigungen; vb er 
wohl in dem Augenblid daran dachte, daf fo viele feiner Tiſchgenoſſen faft ihr halbes 
Leben diefer Beichäftigung widmeten? 


Das Heine Erlebnis kam mir wieder in den Sinn, als ich neulich eine lange 
Pilgerfahtt nach dem Außerfien Eaftend von London unternahm, zu der Kleinen board- 
school, „wo die Jungen kochen lernen”. Zwar bis zur „Bank von England” kam 
ich ſchnell mit Hilfe der neuften Londoner Einrichtung de3 „two penny-tube“, in dem 
eine eleftrifche Bahn mit unheimlicher Schnelligkeit und durch jo faubere Wände dahin: 
fauft, daß der Kenner der alten rauchigen „Underground“ beim Anblid der bligenden 
Radeln zunäcft ungläubig ſtillſteht. Bis zu Blackwall, Buw-Creek, Orchard 
Street, hatte der Führer bes Cabs, ein in London feltener Fall, fich vielfach zurecht 
zu fragen. In einer der Heinen, engen Straßen des Eastend fperrte eine Vollsmenge 
— und was für eine — unter mehrfachen kritiichen Bemerkungen über das Cab, den 
Weg. Sie erwarteten die Londoner Eüd-Afrifa:Volunteers, die unter einer Bededung 
von über hundert Schugleuten heranfamen. Das legte Stüd Wegs an der Themfe 
entlang zwiſchen den hohen Mauern der Dods machten wir in Begleitung einer Schar 
vergnüglich brülender Jungen: „A Cab! a Cab!“ Ihr Koftüm war dad der Dods 
und der Bow-Creek-Gegend. Bon ber uriprünglichen Hautfarbe fah man wenig, 
no weniger von dem urfprünglichen Schnitt und der Farbe der Kleider, die zum 
größten Teil Gebrauchsfranzen zeigten. 





14 


Londoner Spezialitäten. 2311 


2 Pfund Hammelnaden . . 7 Bence 


2 Pfund Kartoffeln . . . . 1 Penny 
Y, Pfund Zwiebeln. . . . Yu 
1 Pint fochendes Waller . . 0 
im Ganzen . . 81, Pence = ca. 70 Pfennig. 


Über Plan und Entftefung des Ganzen erfuhren wir dann noch folgendes: Eine 
Dame des School-board, Mı3. Homan, die Gelegenheit gehabt hatte, viel von dem 
Elend bes Eaflend zu fehen, war zuerft auf den Gebanten gekommen, daß aud bie 
Knaben kochen lernen müßten. Diele von ihnen gehen zur See und finden beſonders 
auf Meineren Segelſchiffen Unterkunft, deren Küche fich häufig in jämmerlichem Zuftande 
befindet. Andere gehen in bie Kolonien, two fie meift genötigt find, ihre eigenen 
Kachenchefs zu fpielen. Aber auch den armen Familienmüttern der Umgegend, bie 
gewöhnlich durch Sädenähen zum Unterhalt der Ihrigen beitragen müffen, fommt es 
zu gute, wenn nicht nur die Töchter, fondern auch die Söhne die Küche beforgen 
können. Und zwar fchon ganz Heine Burfchen. Der Unterricht wird — natürlich 
unentgeltlih — vom 12. bis zum 14. Jahr einmal wöchentlich erteilt. 

Der Anfang war nicht leicht. Man Hatte Schwierigleiten, Jungen für das 
Experiment zu bekommen, und über die ganze Idee wurde zuerft gelacht. Aber in 
England lacht man über ſolche Dinge weniger lange als in Deutfchland. Man. 
probiert, und wenn man überzeugt ift, bietet man gern Hilfreiche Hand. So kam es 
auch hier. Man führte dem zweifelnden Autoritäten einmal ein richtiges sea-cooking 
vor, und bie Folge war, daß ber jegt feit anderthalb Jahren beftehende Kochunterricht 
der Knaben zu einer dauernden Einrichtung gemacht und die Errichtung weiterer Koch— 
ſchulen in an der Themfe gelegenen Diftriften befchloffen twurde. Wie weit fi) dad 
Unternehmen noch ausdehnen wird, ift noch gar nicht abzufehen. Ein Gefuch des 
School-board bei dem Erziehungstepartement, den Kochunterricht der Knaben in den 
Lehrplan der Gemeindefchulen aufzunehmen, wurde freilich abfchlägig beichieden. 

Es ift mir nicht befannt, ob es bei uns etwa in den großen Seeftäbten Koch- 
ſchulen für angehende Echiffstäche giebt. Eine Einrichtung wie diefe ficherlich nicht. Ob 
nicht gerade eine ſolche Kochſchule für Jungen für Küften: und Fabrikviftrikte jehr am 
Platz wäre? 

Auch die übrige Schule wurde uns dann gezeigt. Sie mußte allen Bebürfnifjen 
der zwifchen den Docks eingefprengten Bevölkerung Nechnung tragen und bot daher 
ein etwas buntes Bild. Das Äußere der Kinder in der Krippe und den drei aufs 
feigenden Klaſſen verriet das hier nicht durch lange Blouſen verhülte Elend dieſes 
Eaſtend⸗Winkels, von dem doc die Volksſchulen felbft der verrufenften Viertel unſerer 
deutſchen Großftädte nicht einen entfernten Begriff geben. Aber die Kinder fchienen 
gut gezogen zu fein; nicht etiva nur, weil die Mädchen jo hübſch nirten, indem fie 
zugleich ihre Fingeripigen auf die Schultern Iegten, und die Knaben in Ermangelung 
einer Mütze kraftig an ihrem Vorderhaar zogen, jondern fie machten auch einen 
freundlichen und zufriedenen Eindrud und folgten ihren Lehrerinnen aufs Wort. Was 
mich beſonders frappierte, war, daß die Klaſſen von unten auf fchon zweiftimmig 
fangen. Bon fieben- oder achtjährigen Kindern wurde ein englifches Lied nach der 
Melodie von Brahms’ „Guten Abend, gute Nacht” vollitändig rein zweiſtimmig 
a capella vorgetragen, gewiß ein Zeugnis für eine ſehr mufifalifche Lehrerin. Mrs. 

14r 


213 


Ans Ser Kulturgeſchichte des „Kindes“. 


Ernf Beilborn. 
Rahbrud verboten. men 


Hr 


ein Vater fcheint mir,“ fo heißt es 

im „Dfterdingen” des Novalis, „bei 
aller feiner fühlen und durchaus feſten 
Denkungsart, die ihn alle Verhältnifie 
wie ein Stüd Metall und eine künftliche 
Arbeit anfehen läßt, doch unwillkurlich 
und ohne es felbft zu willen, eine ſtille 
Ehrfurcht und Gottesfurcht vor allen uns 
begreiflichen und höheren Erfcheinungen zu 
haben, und daher das Aufblühen eines 
Kindes mit demütiger Selbftverleugnung 
zu betrachten.” Altdeutſches Empfinden 

B dem Kinde gegenüber wollen dieſe Zeilen 

apft. eineh feit ca. 1470 thätigen Ronagrammifen. fpiegeln. Ein Gaft aus Himmelshöhen 

(Sand Bocfdi, Rinderleben. kommt das Kind zur Erden bernieber, 

Aehala 00. Gugen Dina) im Glanz feiner bewußtfeinslofen Augen 

iſt noch ein Schimmer früher erfchauter Herrlichkeiten. Die frommen Eltern ahnen 
und ehren das Überirdiſche in ihm. 

Anders zeichnet fich dies altbeutfche Empfinden dem Romantiker, anders dem 
hiſtoriſchen Forſcher, — doch foll damit keineswegs gefagt fein, daß legterer immer 
die tiefere Wahrheit auf feiner Seite haben müſſe. Ad! auch das vergilbtefte Do— 
tument fann lügen, und öfter als es ſich die glüdlich naive Schulweisheit träumen 
läßt, ergeben neunundneunzig Einzelfälle, die man mit Händen greifen Tann, ein 
falfches Bild vom Hundert. Es lügt fogar — man darf ed in unferer Zeit der ſozial⸗ 
„wiſſenſchaftlichen“ Kinderkrankheit nur nicht öffentlich fagen — es lügt vor allem bie 
Statiſtik. Aller Eulturgefchichtlichen Forſchung aber haftet der doppelte Fluch des zu: 
fähig Zufammengelefenen und des zufällig Erhaltenen an. Und doch hat auch das 
Kennenlernen einzelner Züge feinen eigenen Reiz. Ich Hab’ ihn in ber Darftellung des 
Kinderlebens in der deutſchen Vergangenheit von Hans Boeſch!), dem Direktor des 
Germanifchen Mufeumd zu Nürnberg, reich empfunden. Die Friedensſtimmung, 
die die Worte des Romantikers weden, man findet fie nicht felten in Boeſch's „Kinder- 
leben” wieber. 


m 


© DIÄg 





%) Hans Boeſch: Kinderleben in der deutſchen Vergangenheit. Mit 149 Abbildungen und Bei: 
lagen nach den Driginafen aus dem 15.—18. Jahrhundert. (Monographien zur beutihen Kultur: 
geſchichte.) Verlegt bei Eugen Diederichs in Leipzig 1900. 


Aus der Kulturgeihichte ded „Rinde“. 217 


worden, nebft Bronzefigürchen, die ben prähiftoriichen Kleinen als Spielzeug dienten. 
Nürnberg wurde fehr früh der Spielmarenplag. Schon um 1400 ift ein Dockenmacher 
Dit in ber lieben, alten Stabt urkundlich bezeugt. Den Mädchen bie Puppen, den Buben bie 
Soldaten und das Stedenpferd, — das gleichfalls ein urzaltdeutfches Tier zu fein fich 
rühmen darf. Kaifer Marimilian I., der „legte Ritter,“ fpielte bereit3 als Knabe mit 
turnierenden Reitersleuten. Nürnberger Patrizier und Fürften ließen für ihre Kinder 
ganz naturgetreue Puppenhäufer bauen, die mit jedem Hausrat bis ins Meinfte verſehen 
waren und mitunter arg koſtbares Spielzeug (der Preis überftieg zuweilen 1000 Gulden) 
darflellten. Daneben vollftändige Jagden und die lieben Archen Noäh. Sogar an 
Affen, die gar kunſtreich auf einem Pferde tanzten, Hat e8 nicht gefehlt, wie ein Ulmer 
Holzſchnitt aus den Jahren 1470—1480 bezeugt. Kreifel, Reifen und Stelzen find alt» 
ehrwürbige Gefellen. Friedrich der Große dann ſcheint das Verdienſt erworben zu haben, 
dem „altuellen” Spielzeug auf die Welt verholfen zu haben. Seinerzeit thaten's bie 
„Soldaten“ nicht mehr — es mußten Zieten-Huſaren und Seidlitz-Küraſſiere fein. 
Und zur Zeit Napoleons gab es Ausfchneidebögen —, Napoleons eigene Hochzeit 
wurde von den Kindern „ausgeichnitten“. 

Weifer Ben Aliba! Der Lurus auch ift immer ſchon dageweien. Aber trogdem 
ich die Kapuzinaden altdeuticher Schriftfteller gegen den Alamodeteufel und andere 
Hölifche Gefellen wohl gelefen, Ierne ich doch recht eigentlich erft von Hans Boeſch, 
wie verbreitet und wie ſtark der Lurus geweſen. Namentlich die Tauffeierlichfeiten 
fcheinen ſchon von früh am Gelegenheit zu weitgehender Verſchwendung geweſen zu 
fein. Es war ein foftfpieliges Vergnügen, zum Paten gebeten zu werden. Im 
Jahre 1631 wird aus der Grafichaft Wertheim berichtet, „daß fromme Herzen, fo zu 
Gevattern erbeten werden, anftatt daß fie fich deffen als eines chriftlichen Ehrenwerfes 
billig zu erfreuen Hätten, dagegen zum öfteren entjegen müſſen.“ In ber guten Stadt 
Nürnberg datieren die erften, ſcharfen Verordnungen gegen dies Taufunweſen ſchon 
aus dem 14. Jahrhundert — ihre ftete Wiederkehr beweiſt, wie wenig fie gefruchtet 
haben. Im Anfang des 17. Jahrhunderts waren troß gegenteiliger Verfügungen die 
Kirchentaufen zu Gunften der Haustaufen fo abgelommen, daß es Aufichen erregte, 
als der erſte Prediger an St. Lorenzen 1698 fein Kind in der Kirche taufen ließ. 
Und Wimpfeling ſchrieb: „Ich kenne Bauern, die bei der Hochzeit von Söhnen ober 
Töchtern oder bei Kindtaufen foviel Aufwand machen, daß man dafür ein Haus und 
ein Adergütchen nebft einigen Heinen Weinbergen kaufen könnte.” Es bürfte wirklich 
ſchwer Halten, die „gute, alte Zeit“, die Zeit fchlichter Lebensführung und einfältiger 
Frömmigkeit, chronologifch zu beftimmen. 

Auch mit der Strenge der Kinderzucht fcheint es nicht gar fo weit hergeweſen 
zu fein. Die vielen Mahnungen dazu fprechen dagegen. Man pflegt nicht das zu 
predigen, was man bat. Ein alter Vers aus dem 17. Jahrhundert, der die Pflichten 
der Kinder aufzählt, fchließt mit der Klage: „Aber adj! verkehrte Zeit, da bey ber jo 
großen Jugend, leider anzutreffen ift Heine, ja jchier feine Tugend!” Bekannt find 
Lutherd Mahnungen zu firenger Zucht. Der Gedanke, daß die Erbfünde in den 
Kleinen mächtig fei, fcheint ihn wor anderem dazu beftimmt zu haben. Dod) fand der 
ſchroffe Mann das fchöne Wort, daß der Apfel neben der Rute liegen müjje. Doch 
ift ein Brief des fchroffen Mannes an fein vierjähriges Söhnen Hans erhalten, der 
rührend von feinem weichen Gemüt und feiner Vaterzärtlichkeit Zeugnis ablegt. 
Draftifche Vorftellungen verfehrter Kinderzucht fehlten in der Reformationzzeit natürlich 


Aus der ulturgeſchichte des „Rindes“. 219 


Zu Heiratszweden oder teftamentarifch wurden ihnen Summen ausgeſetzt. Schroffe 
Bandlung ſolcher Zuftände brachte erft die Reformation. Nun wurde den armen 
Unehelichen ber Eintritt in die Innungen verfagt. Eine Augsburger Hebammens 
orbnung aus dem Jahre 1750 fehreibt den Hebammen vor, den Namen bed Vaters 
aus der Mutter herauszupreſſen, widrigenfalls fie nicht Hand anlegen dürften. Doc 
gab es im 14. Jahrhundert bereit3 Findelhäufer in Ulm, in Freiburg und Nürnberg. 
Diefem Beifpiel folgten dann andere Städte. In Tirol geftattete ein Dechant ben 
unehelichen Kindern nur altteftamentarifche Namen; ein andrer taufte fie alle „Daniel“, — 
vielleicht in weifer Vorausficht, daß e3 ihnen an der Löwengrube nicht fehlen würde. 

Die Findelinder zogen zu Zeiten durch die Straßen ber Stabt, Gaben fih zu 
erbitten. Nicht fo ganz fchlecht mögen fie dabei gefahren fein. Es war nod nicht 
die Zeit, in ber die foziale Weisheit betete: Lieber Staat, ich bitte dich, füttere mic) 
und meinen armen Bruder ſanftiglich. Selbft zu helfen galt höher. So ward 1484 
eine Stiftung in Nürnberg errichtet, Fraft deren die Findlinge Unterricht im Lefen und 
Schreiben erhielten — erft 1756 kam das Rechnen hinzu. Armenfchulen — deren es 
in Danzig in jedem Kitchfpiel eine gab — beftanden gleichfals durch öffentliche Mild- 
thätigkeit. Durch Singen bei den Beerbigungen auch erwarben fich die Kleinen Geld. 
Aus dem Jahre 1639 ift ein Kupfer erhalten: ein ftattliche® Haus auf ſtädtiſchem 
Plage ftellt e8 dar; auf der Straße ein langer Zug von Kindern. Unter dem Bilde 
aber ftehen die Worte: „Anno 1639 bat die berühmte Wohlthäterin Frau Elifabetha 
Kraußin unter andern gefliftet, daß man die Findeltinder jährlich in ihren Wohnhaufe 
auf St. Johanis Tage fpeilen, ihnen Geſottnes und Gebratned und jeden eine 
Bratwurft, ein Seidl Meth, Bier und Wein und einen Rofenfranz geben muß“. Das 
war zu Zeiten’ des breißigjährigen Krieges. Wie ein Gruß klingt das Lob werkthätiger 
Frauengüte aus biefer kriegverrohten Zeit. 

Der berühmten Wohlthäterin aber zum Trog ſah man im Mittelalter bis fpät 
in bie Neuzeit Hinein, die Geburt von Knaben als etwas Erfreuliches, die von 
Mädchen als etwas erheblich weniger Erfreuliches an. In manchen Gemeinden erhielt 
die Wöchnerin eine Lieferung Holz und zwar, hatte fie einen Knaben zur Welt gebracht, 
doppelt ſoviel ala bei einem Mädchen. Der Aberglaube raunte: ein Mädchen als Erft: 
geborenes bedeutet fpäteren Zanf. Und Luftig fehreibt Abraham a Santa Clara: „Herr 
Zobocus! Mein lieber Herr Jodocus! neue Zeitung! neue Zeitung! Eypogtaufend! 
nur geſchwind den Mantel, um zum Gevattern bitten: Der Herr ift Heut mit einem 
hergigen, fchergigen, fchönen, ftarfen, gefunden, anmuthigen Zeibeserben erfreut worden; 
es erfreuet fich hierüber und gratulirt das gange Haus, ja die gange Nachbarichaft; nur 
geihtwind 30 Gulden auf bad Kindsmahl! He! Juchheh! Der Herr Jodocus hat einen 
Sohn überkommen ... Alfo ſchreyen und froloden die eitle Menſchen, wenn ein Knab 
zur Welt gebohren wird... wird aber ein Mägdlein gebohren, fo ift alle Freude 
verlohren, gleich wäre ſich nicht ſowohl über ihre Geburth zu erfreuen als über die 
Geburt eines Knäbleins.“ 

Für folchen unfreundlihen Empfang zu Beginn des Erdenwallens wurden bie 
Heinen Mädchen aber bald entihädigt: Metlinger empfahl, — eine Tochter wärmer 
zu baben ala einen Sohn. 


Einfamteit. 


in die Wolfen und das Blättergewirr. Ohne 
ein Bud, nur träumend, vegetierend, bie 
Natur einfaugend. 

Lifa lad während dem. Sie belam regel: 
mäßig bie neueften Bücherfendungen von 
ihrem Buchhändler. Sie intereffierte fih für 
die Fortſchritte von allen Kollegen Ernfts, die 
fie zum größten Teil perſönlich kannte. Und 
wenn fie etwas fehr Gutes las, hatte fie zu= 
erft feine reine Freude daran, fondern ein 
böfes, pridelndes Gefühl, das ihr den Atem 
benahm. Sie hatte das früher, ala Ernſt 
noch arbeitete, ihr davon erzählte und fertiges 
vorlas, nie gefannt. Jetzt ſprach er gar nicht 
mehr davon, als fei das mit einemmal ab» 
geſchnitten. Sein Schreibtiſch ftand unberührt, 
er faß nie daran. Die Briefe von Zeit⸗ 
ſchriften und Verlegen warf er achſelzucend 
zur Seite, 

Sie hätte nur gewünſcht, daß er fein 
Drama beendete, dies Stüd, das doch wahre 
Kraft und Leidenfhaft in fih trug. Es war 
bie Tragödie einer reihen Künftlernatur, die 
an einem befabenten Weibe zu Grunde ging. 
Emft hatte ihr den Inhalt einmal in kurzen 
Zügen ffigziert, felbft von der Glut feiner 
Erfindung erfaßt. Nun follte es liegen bleiben 
und vergefjen werben, während andre Eeicht: 
linge Lorbeeren ernteten und durch angeftrengte 
Arbeit wirklich etwas erreichten. Daß man 
einen Menſchen nicht zu feinem Beften zwingen 
tonnte, daß er bartnädig mit verbundenen 
Augen den falfchen Weg zu Ende lief! Wäre 
Ernft in Berlin geweſen, fein Stüd wäre 
Tange beendet geivefen. 

Ernft merkte, daß die kleine Hand, bie fo 
lange in ber feinen geruht, ihm entglitten 
mar, aber er merkte es halb wie im Traum. 
Er konnte ja immer noch ftehen bleiben und 
rufen, es war ja nicht möglid, daß bie Ent: 
fernung ganz trennend wurde. Und jet war 
er wirklich fehr in Anfprud genommen, ganz 
tiefinnerlih beſchäftigt. Tauſend wogende 
Träume gärten in ihm und rangen nad 
Geftaltung. Er arbeitete auf feinen Spazier: 
gängen mie fonft am Echreibtii und mar 
deshalb Fieber mit fih allein. Aber dieſe 
Arbeit war fruchtloſer. Er fühlte reichere 
Möglichkeiten in fi als je zuvor, aber fie 
zerronnen ihm alle, ehe er fie prägen konnte. 





Und er ließ fie zerrinnen, teil neues nach⸗ 
drängte, ihn überftrömte. ' 

Es mar herrlih, jo mit rhythmifchen 
Schritten zu wandern, um fi den Frieden 
des Waldes, den Duft der Ferne, um ſich 
das immer lebendige Sein und Streben von 
taufend tinzigen Wefen. Auch mit den Land» 
leuten fam er bei diefen weiten Partieen ein 
wenig in Berührung, fehrte hier und da in 
ein Bauernhaus ein, fi) erquiden zu lafien. 
Er gewann einen Blid für ihre Welt, Ver- 
ſtändnis für ihre Art. Er fah viel Gutes, 
viel Schlimmes, aber es gab fi) alles natür: 
licher, harmlofer, greifbarer. Auch die Guts- 
befiger, bei denen fie pflichtſchuldige Beſuche 
gemadt hatten, waren einfah, offen. Ein 
bißchen lärmend, aber gar nicht ohne ſtarkes 
Innenleben, etwas ſchlichter vielleicht, weniger 
reflektiert, dafür urfprünglicher, erquidlicher 
als Großftabtmenfchen. 

Übrigens famen fie nicht viel miteinander 
in Berührung. Ernſt brauchte und liebte eine 
ihm holde Einförmigfeit des Dafeind. Jeder 
Wechſel ftörte ihn, jeder Zwang war ihm 
läſtig. In Berlin kannten fie ihn gut, er 
hatte kommen und gehen dürfen, wie er 
mochte, und feiner hatte e8 ihm übel genommen. 
fa Hatte dann den lebendigen, immer 
feflelnden Mittelpunft für die Leute gebilbet, 
denen fie viel war, ba alles in ihrem 
empfänglichen Gemüt Anklang fand. Mit 
den Menſchen hier wußte fie nicht viel anzu= 
fangen. Es war nun einmal nicht ihre Art. 
Selbſt der ehrliche Baumann fiel ihr auf die 
Dauer auf die Nerven, und fie zog ſich zurüd, 
wenn er fam. 

Und ihm jelbft boten fie auch nicht viel. 
Beim Himmel, er ſprach lieber mit Lorenz 
ober einem von ben andern Knechten, er ruhte 
lieber im Wald und fah auf das Spiel der 
Fliegen, Libellen und Echmetterlinge. Bor 
allem, er träumte lieber und kämpfte an ber 
großen Ummandlung, die fih, faft unabhängig 
von ihm, in ihm felbft vollzog, an feiner 
großen Heimkehr zu fi, zu feiner Gottheit. 
Das war ihm wichtig, das war ihm Leben, 
nur bad. Er fühlte jetzt erft, wie jung er 
war, wie unreif er Mannesworte geſprochen, 
die er nicht durchlebt; wie er lebendiges, 
unfaßbares, überftrömendes Sein in Schablonen 


Einfamteit. 


„Ich bin mit ihm groß geworben,” war 
ihre Antwort. „Mein Bruder, ber viel älter 
war als ich, kannte nichts Höhered. In 
allem und allem fam er auf ihn zurüd. Da 
lernte ich ihn denn lieben.” 

Ernft nidte. „Der war ganz, voll, jet, 
Mar. Sie können fein beſſeres Map für alles 
Menſchliche haben als ihn.” 

„Richt wahr?” rief fie eifrig. „Und fo 
viele, bie ihm nicht kennen, laſſen ihn grade 
als Menſchen nicht gelten. Was kann uns 
denn ein Dichter fein, wenn er nicht auch ein 
ganzer Menſch it?” 

Sie waren, während fie fprachen, langſam 
ins Gehen geraten. Der Hund, von ber 
Hige müde gemacht, trottete läffig nebenher. 
Jetzt blieb Ernft ftehen. Died alles war ihm 
fo ganz Herzensſache. 

„Woher wiſſen Cie das, Kind?” fragte 
er, ohne daran zu benfen, daß er fie faum 
fannte. „Wie feltiam, daß Sie das denken 
und ausſprechen, was ich jeßt lebe.“ 

Cie mußte wieder nicht recht, mas fie 
erwidern follte und ſah ihm nur freundlich 
und teilnehmend an. 

„Mein großes Werk, das id in dieſer 
Stille ausarbeiten will,” fagte er mit ernftem 


Lächeln, „bin ich felbft. Verftehen Sie das | 


wohl?“ 


Sie nidte leicht und ſah nadbentlih aus. | 
„Das vornehmfte Geheimnis in Goethe,” | 


fuhr er fort, „war, daß er feine Seile fchrieb, 
die er nicht erlebt hatte, im innerlichſten Zinn 
genommen. Aber wie zerfplittert find bie 
Gefühlen in dem zerrifjenen, modernen Leben. 
Ich will hier wieder ganz werben, mid) felbjt 
fühlen lernen. 
Schidjal Sie bedachte, als es Sie auf dem 
Lande groß werben ließ?” 

„Woher wiſſen Cie denn, daß das ber 
Fall war?” fragte fie mit leifem Lächeln. 

Er warf ihr einen prüfenden Blick zu. 


„Sole Menſchen habe ih in der Stadt 


nie getroffen,” fagte er fur. Es mar eine 
Hulbigung. 
„Sie haben recht,“ fagte fie nun. 


bin glüdlih genug darüber. Mein Vater ift 
Dberförfter,” fette fie erläuternd hinzu. 
„Herr von Bartels?” fragte er überrafcht. 


Ahnen Sie, wie reih das , 


„Ich 
lenne kaum etwas andres als den Wald und ! 





28 


„Meine Frau und ich haben vor einigen Tagen 
unfern Antrittsbeſuch bei Ihnen gemacht.” 

„Ih weiß,” fagte fie, „und wir wollten 
ihn in diefen Tagen erwidern.“ 

„Dann beißt es alfo auf Wieberfehen,” 
fagte er herzlich und ftredte ihr die Hand hin. 
„Ich freue mich, daß meine Frau Sie kennen 
lernen wird. Sie fühlt fi bier einfam und 
hat noch nicht recht einen Menfchen gefunden.” 

„a, wir Landleute kommen Ctädtern 
immer etwas barbariſch vor,” fagte das junge 
Mädchen lachend und erwiderte fräftig feinen 
Händedrud. „Auf Wiederſehen, Herr Stein.” 

Er ſah ihr nad. Sie ging gelaflen, die 
Glockenblumen in der Hand mwiegend. Yhre 
Träftige, wohlgewachſene Geftalt paßte in ven 
Wald. Lila war viel zierliher. Er hätte 
nod lange mit ihr reben mögen, ihr vieles 
fagen, „vielleicht, weil all dies, das ihm noch 
ein Neues, Angeftauntes war, in ihr fo ſelbſt⸗ 
verftändlic, natürlich gelebt, feinen Ausprud 
fand. Ein fhöner, graber Menſch, gut, einfach, 
wahr. Eine rechte Herzensfreude gegen bie 
Grofftabtmenihen, ein Weſen, das ſich 
behaupten konnte, felbft Irma gegenüber. 
Denn Irma war immerhin ein Schatz und 
eine Köſtlichleit, an die er gern dachte. 

Er ſchlenderte langſam zurüd. Etwas 
trivial und deutlich war der Schluß nach dem 
poetiſchen Anfang geweſen. Und doch, es 
nahm dem Zauber nichts. Sie war feine 


! mondfüchtige Waldpringeffin, die geheimnie- 


volles Tunfel um fih brauchte. Plötzlich 
lachte er laut und unwillkürlich. Es mar 
eine feltfame Idee, fi einfam in den Wald 
zu fegen und dort mit lauter Stimme Goethe 
zu leſen. Er fam gerade an dem Platz vorbei. 
Da lag nod eine von den Glodenblumen. 


; Die hob er auf und nahm fie mit. 


Der Vormittag mar weit borgefchritten, 
ald er nad Haufe kam. Das Etüd vom 
Walde her über das Feld war wie ein Gang 
durd Glut. AN die weißen Wolfen blendeten 
ihn, daß feine Augen ſchmerzten. Er mar 
erſchöpft. Lifa faß mit breittandigem Stroh: 
but und in hellem, leihtem Sommertleit, das 
die Arme bis zum Ellbogen frei ließ, auf der 
Veranda und fernte Echoten aus. Er legte 
fi bequem in einen Stuhl und fah auf die 
zierlichen, bebenden Finger. 


Einfamteit. 


den Flur betrat, hörte er aus dem Wohn⸗ 
zimmer Stimmengeräufc fallen. Raſch trat 
er ein, unb das Erfte, was er erblidte, war 
fein Waldfräulein, die ihm lächelnd entgegen: 
blidte. Die ganze Überförftersfamilie war 
verfammelt. Die Eltern hatten fie bei ihrem 
Beſuch ſchon kennen gelernt; außer Freda, fo 
hieß ſeine junge Freundin, war noch eine 
andre Tochter anweſend, die weniger Eigen: 
art, weniger Perfönlichkeit hatte, wie es Ernft 
fchien. 

„Das ift lieb von Ihnen,” fagte er ver 
gnugt und drüdte Fredas Hand. Dann fügte 
er vorwurjsvoll hinzu: „Aber draußen hält 
der Wagen.” 

„Oh,“ rief Liſa munter. 
einen Eieg erfohten. Die Herrihaften find 
fo liebenswürbig und bleiben zum Kaffee.” 

„Wer fol auch fold einer lieben Ein- 
labung wiederſtehen,“ meinte Frau von Bartels 
lãchelnd. 

Ernſt eilte hinaus, um den Kutſcher aus⸗ 
ſpannen zu laſſen. Als er wiederkehrte, nahm 
er ſeinen Platz neben Freda. Die ſah ſich 
mit bewundernden Augen im Zimmer um, 
das durch Liſas Bemühungen ſoviel beſondere 
und intime Schönheiten aufwies. 


„Ich babe ſchon 





„Daran haben Sie keinen Anteil,” jagte ' 


fie lãchelnd. „Dem allen merkt man Frauen: 
band an.” 

„In biefem Fall haben Sie recht,” ant: 
wortete Ernft, „und doch hätten Sie fih 


gründlich irren können. Sie follten nur unſere 


Berliner Künftler ſehen, mit welcher Feinbeit 
und Berechnung die jebes Fältchen legen, jede 
Vaſe abtönen, jeve Blume biegen. Sie würden 


niemalö glauben, daß plumpe Männerhänte 


das vermögen.” 

Sie fab auf feine ſchlanke, überzarte Hand 
und lächelte ein wenig. 

„Ich liebe viel Licht und viel Blumen,“ 
Tagte fie. 

„Das fieht man Jhnen an,” erwiberte er 
einfach. 

Die Unterhaltung blieb munter und ans 
geregt. Herr une Frau von Bartels maren 
früber viel gereift, hatten viel geſeben und 
viel verftanden. Ibre Töchter waren mit den 
Erzählungen, Bildern und Erinnerungen an 
all vie Schönheiten groß geworden. Zie 





225 


fühlten fid) vertraut mit taufend Dingen, bie 
fie nie gefehen und bie nun wirklich fennen zu 
lernen fie auch feinen fonberlihen Drang 
fpürten. Es diente ihnen nur dazu, in ihrer 
Einfamteit ſich einen Begriff von Größe zu 
ſchaffen, der ihre jungen Seelen weitete. 

Lifa wurde ganz warm bei all den Dingen, 
die zur Sprache kamen, fie hatte lange feine 
ſolche Gelegenheit gehabt, ſich gehörig auszu⸗ 
plaudern. Ihr Geift fprühte und bligte, ihr 
Verſtändnis mar ſchnell und überraſchend. 
Freda, die gar nichts Geiſtreiches hatte, nur 
eine ruhige, natürlihe Klugheit, ſah ganz 
ehrfürchtig zu ihr auf. 

„Sie müfjen fih doch hier recht einfam 
fühlen,” fagte fie. „Wer fo viel Intereſſen 
Hat.“ 

Liſa war einen Augenblid überraſcht, dies 


ı einfache Berftändnis, das Ernſt fo völlig zu 


fehlen fchien, bei dem fremden Mädchen zu 
finden. 

„Ich helſe mir, fo gut ih kann,“ erwiderte 
fie, „lefe viel, fchreibe viel Briefe und hoffe 
auf den Winter.” 

Ten gebenfen Sie alfo wieder in Berlin 
zuzubringen?“ 

„Ja,“ ſagte Life. 

Ernſt, der gerade mit Herrn von Bartels 
über Jagd ſprach, hatte doch mit halbem Chr 
bingebört. 

„Es wird noch ſchreckliche Kämpfe geben,” 
fagte er lächeln. „Ich will nämlid Bier: 
bleiben.“ 

Einen Augenblid kreuzten ſich beider Blide 
wie Alingen, und Ernjt wurde jtugig über bie 
barte Kälte in Lifas Augen. Ein fröjtelndes 
Gerühl ihlih ihm am Herzen empor und 
machte ihn veritimmt. Cr ſaß ſchweigſam, 
abweſend, unfähig, fid in das leichte Geplauder 
einzumifchen. 

Nachdem ter Kaffee gerrunfen war, ſchlug 
Liſa einen Gang durch den Garten vor. Herr 
von Bartels, ter ein lebhaites Intereſſe für 
Landwirrihait hatte, bat aber eifrig um einen 
Rundgang turb ten Hof, und ta auch die 
Tamen Verſtändnis für erde und Ztälle 
keiaßen und Freude daran hatten, wandte man 
ine Schritte ven Zirrihaitsgebäuden zu. 

Schon von meitem trang lautes, ſchimpfen⸗ 
tes Schreien an ihr Ihr. Ernſt jtieg eine 

15 





Einfamteit. 


entlaffe ih natürlih. Schiden Sie ihn aber 
zu mir. Ich will fehen, was fih für ibn 
thun läßt. 
daran. 
er herzlicher fort, „will ich bier nicht mehr 
als Schmaroger figen. 
nehmen Sie mid in Ihre Schulung, damit 
ih doch etwas aus und ein weiß. Das 
erbitte ih als Freundſchaftsdienſt von 
Ihnen.” 

Der Inſpeltor ſchnitt im ftillen über dieſe 
neue Mühe eine gewaltige Grimaſſe. Es 
regiert ſich immer befjer, wenn bie Zügel in 
einer Hand liegen. Aber was fonnte er 
thun? 

Als Ernſt Lifa feinen Plan auseinander: 
fette, ftieß er auf fein Entgegenfommen. Cie 
bielt ihren blonden Kopf geſenlt und trommelte 
mit den fhmalen Fingern an der Etuhllehne 
auf und nieder. Als er mit feinem Vorſchlag 
tam, daß auch fie an ben wirtſchaftlichen 
Sorgen teilnehmen, den Gemüfegarten, bie 
Milchtammer als ihr Gebiet betrachten follte, 
fab fie nur mit ſchnellem, ſpöttiſchem Lächeln 
auf. Dann füttelte fie den Kopf und 
fagte: 

nGieb dir feine Mühe. Ich bin nicht der 
Menſch, für den du mich hältft. Die Zeit, die 
ich bier zugebracht habe, ift mir eine tief- 
verhaßte geivejen. 
gemerkt haft. Ich habe nur in dem Gebanten 


Wir haben alle unfern Teil Schuld | 
Und dann, lieber Baumann,“ fuhr ' 


Von morgen an, | 





Ich weiß nicht, ob du es | 
ziehen magft ober nicht. 


gelebt, daß aud wieder einmal meine Zeit ; 
lommen würde, daß du mich in Verhältniſſe 


zurüdführft, von denen du meißt, daß fie mir 
Lebensbedingung find. Du bift der Stärfere. 


Ich habe es jaft für deine Pflicht gehalten. , 


Es fcheint, daß ich mich geirrt habe.” 

Fragend blidte fie ihn an. Ihr hübſches, 
zierliches Geſicht hatte in feinem Ernft einen 
wunderlichen Ausbrud, ber ihm ganz fremb 
berührte. Er fühlte, daß fie hier in einer 
Lebensfrage aneinandergerieten. 

„Wir müflen uns verftändigen, Liſa,“ 
fagte er ernft und ruhig. „Für mich ift das 
Zurüdgehen nad Berlin der Tod. Magſt 
du es nicht verfuchen, bir die Mühe zu geben, 


227 


du immer lefen und leſen? Du weißt nicht, 
mie verzweifelt mich das oft macht.” 

Ihre Augen fahen feft und gelafien zu 
ihm hin. 

na, wenn zwei Wege jo auseinander 
führen,” fagte fie mit herber Stimme; „dann 
giebt es wohl nur noch eins: Scheidung.” 

Er lächelte faft. 

„Ih wußte all die Thorheit im voraus,” 
fagte er mil. „Glaubft du wirklich, daß das 
genügt, zwei Menfchen auseinander zu reißen, 
die ſich lieb haben?” 

„Die ſich lieb haben,” wiederholte Lifa. 

Sie ftand auf und ging an das Fenfter, 
wandte ihm den Rüden zu, um nicht feine 


; ftillen Augen auf ſich gerichtet zu fühlen. 


Hatte fie ihn noch lieb? Konnte man fo viel 
Bitterleit, Empörung gegen bie ſichere 
Berfönlichkeit eines Menfchen fühlen, den man 
liebte? Fügt man fih da nicht gern? Ceit 
Tagen und Wochen fchrie alles in ihr, wie 
unter den Fußtritten eines Gehaßten, weil fie 
ihre Wunſche, ihre Perfönlichkeit ihm opfern 
follte, weil er died Opfer wie etwas Selbſt⸗ 
verftänbliches erwartete, forberie. 

Sie wandte fi um. „Im Grunde bleibt 
es doch dasſelbe,“ fagte fie mit rauher Stimme. 
„Ich fol nachgeben, nachgeben, nachgeben; 
binleben, wie es eben geht, und auf beine 
Gnade warten, ob bu mich in dein Leben 
Ich bin es dir ja 
gar nicht einmal wert, daß du mit mir rebeft.“ 

Eie fhüttelte haftig den Kopf, die Stimme 
verfagte ihr, fie eilte zur Thür hinaus, che 
er daran benten konnte, fie zurüdzuhalten. 

Müde blidte er nah draußen in all bie 
warme Sommerfeir. In früheren Jahren 
waren fie um biefe Zeit in irgend einem 
Babeort geweſen. Das mar immer fold ein 
eiliged Durchtoſten, fold ein haftiges Sichzu⸗ 
eigenmachen geivefen, dahinter hatten in feiner 
Phantafie immer die glühenden Straßen von 
Berlin gebroht. Einen ähnlichen Frieden wie 
diefen hatte er nie geſpürt. Und ben follte 
er nun opfern, um Launen zu bejriebigen? 
Ahnte Lija gar nicht, wie raffiniert graufam 


mir zu Siebe did bier einzuleben, durch fie mar? Aber in diefem Fall wollte er nicht 


Thätigleit ein Intereſſe an diefem Leben zu 
finden? Empfindeft du denn gar nicht das 
unmittelbare Sein um bid herum? 


nachgeben, er konnte und durfte es nicht. 
Er nahm feinen Hut und ging hinaus, 


Mußt ! um ein wenig ins Gleichgewicht zu kommen. 


15* 


228 


In vielem hatte fie ja recht. Der Wechſel 
war für fie, die von Kind auf an ein gejelliges 
Leben gewöhnt war, ein zu jäber geweſen. 
Sie entbehrte zu ſehr diefe Anregung von 
außen. Sie brauchte Menfchen, und er brauchte 
feine. Sta, feine Natur verlangte nad) einer 
Einfanteit, die einfach Feine Störung vertrug, 
ſelbſt nicht von den liebften Menſchen, die doch 
immer ein Außen, ein Fremdes bleiben. Oder 
war es möglich, daß eine Ceele in Schweigen 
und Berftehen neben einem ſchritt, mit einem 
duldete, immer zur Seite, wenn man fein 
Auge hinwandte, mit urfprünglicher, Findlicher 
Meisheit einen fühlend und erratend? 

Da war er wieder bei ſich jelbft angelangt, 
und er wollte doch an Lila denken und ihr 
helfen. Wenn zmei nicht weiter willen, ruft 
man den dritten zu Hilfe, und er fannte einen, 
ber ein guter Freund und Helfer war: Schwartz. 
Warum batte er an ihn nicht fehon früher 
gedacht, ihn gebeten zu fommen? Cr ging 
noch einmal zurüd und fehrieb ihm in Eile 
ein paar herzliche Worte. Ihm mwürbe er ja 
jet und bier auch nicht viel fein, aber es gab 
ihm ein gutes, ftille8 Gefühl, daß er Liſa 
eine Freude machen konnte. 

Dann endlich ging er wieder hinaus, um 
mit erleichtertem Herzen den berrlichen Abend 
zu genießen. Er war mit all feinen Gebanfen 
fo in Berlin geweſen, daß ihm nun die 
Schönheit und Stille der fanft welligen Land— 
Schaft wie ein ganz Neues entgegendrängte. 
Der Himmel war unendlih Kar, die Sonne 
ftand als ftrahlende, fegnende, unnahbare 
Gottheit in ungetrübter Reinheit an der 
lichten Bläue. Jeder Naturglaube ward bier 
verftänblih.. Um biefer kleinen Erbe willen 
ftiegen all die ewigen Geſtirne am Himmel 
auf und nieder und dienten ihren Bewohnern 
zu Troft und Leuchte. 

Auf den fanften Erhöhungen Jah er 
Menſchen fchreiten, Frauen aus dem Dorf, 
Haufierer mit ihren Bündeln, aber fie erfchienen 
in dem langfamen, gelajjenen Borwärtömallen, 
wie er fie fo von meiten ſah, edel, dem 
Boden angehörig, ihr Reich durchichreitend. 
Auch ihre Stimmen flangen melodiſch durch 
die reine Abendluft. Hie und da fuhr ein 
Haſe auf und jagte pfeilgefchwind einen 
Aderftreifen hinauf. 


Einfamteit. 


Emft ging dem Walde zu. Er wollte zu 
den Oberförſters. Liſa Hatte gemeint, er 
müſſe fich bei ihnen noch einmal entfchuldigen. 
ALS er fich nach ziemlich Tangfamem Schlendern 
ihrem Haufe näherte, tünte ihm Klavierfpiel 
entgegen. Fenſter und Thüren waren nad 
dem Garten geöffnet, eine dunkle, leiden- 
Ihaftlid traurige Mufif ftrömte dur die 
weiche LZufi. In dem bämmerigen Zimmer 
ſah er nur ein paar belle Geftalten, die fich 
faum beivegten. Er war aber bemerkt worden, 
und Freda fam ihm entgegen. Sie begrüßte 
ihn heiter und ging neben ihm in das Zimmer 
zurüd. Frau von Bartels nidte ihm aus 
ihrem Stuhl lächelnd zu, winkte ihm aber, 
nit durh Begrüßung den Zauber vieler 
Muſik zu ftören. Es waren noch ein paar 
fremde Damen anweſend, die Epielende war 
Fredas Schwelter. 

Ernft lehnte fich gegen das Fenſter und 
batte ein trauliches Gefühl, wie er fo ein- 
gefügt ward, wie irgend ein Zangbefannter 
und Zugehörige. Freda, im bellen, lichten 
Kleid, mar lautlos an das Klavier zurüd- 
getreten. Draußen ging der Gärtner mit 
einer riefigen Gießkanne und tränfte bie 
durftigen Blumenbeete, der Hauch von biefer 
feuchten Friſche wehte ind immer. 

„Hier werden die aufrichtigen, graben, 
unbefümmerten Menfchen,” dachte Ernit ſehn⸗ 
füchtig. 

Als das Spiel beendet war, begrüßte er 
die Damen und blieb ein Weilchen zu harm⸗ 
[ofem Geplauder. Man wollte ihn zum Abenb 
da behalten, aber er mochte Liſas wegen nicht 
bleiben. Er verjpradh, bald mit ihr wieder—⸗ 
zufommen. , Dann ging er nad Haufe. 3 
war faſt dunkel, die Sterne leucdhteten fchon, 
am Waldesrand hufchten die Fledermäuſe 
lautlos dur die graue Dämmerluft. Lila 
hatte ſchon gegeilen, als er fam. Er ging 
mit etwas zaghaften Empfinden zu ihr und 
ſah fie an. 

„sh habe Schwartz eingeladen,” fagte er 
und jtredte ihr feine Hand hin. 

Sie ſah auf und verfuchte zu lächeln. Ihre 
Augenlider waren gerötet. 

„Das ift lieb von dir,” fagte fie, Teile 


nidend. 
* * 








Einfamteit. 


Doktor Ehmwark kam ſchon nad einigen : 


Tagen und brachte in feiner ganzen Art und 


Weile des Seins gleihfam halb Berlin mit , 


fi. Erſtens hatte er endlos zu berichten, und 
Liſa konnte nicht genug hören. 

Der junge Bergen hatte Berlin verlafjen 
und war auf Reifen in Stalien und Gricchen- 
land. Schwartz mit feinem äſthetiſchen 
Gebahren lächelte eiwas vornehm bei dem 
Gedanken, wie der vierfchrötige, derbe Künftler 
feine ungefchidte Perfönlichleit an all dem 
Schönen vorbeifchieben würde, mit dem 
rüdfihtölofen Blick unter den bufchigen 
Brauen alles wertend und mejjend. Aber 
er konnte ihm, num wo er fern tar, eine 
betoundernbe Anerfennung body nicht verfagen. 
Irma war, nah feinen Erzählungen zu 
fliegen, noch ein wenig gleichgiltiger und 


noch ein wenig liebliher geworben, auf ihre h 
hatte ein Gefühl, als lebte er viel intenfiver 


eigne Art an dem Lebensrätfel herumgrübelnd 
und in inbifcher Beſchaulichleit auf jedes 
Wirken nah außen in die trügerifche Welt 
der Dinge verzichtend. 

Aber Strom war der große Mann, ja, 
er war ber Held bes Tages, ein Mittelpunkt 
jebeö Kreiſes, in dem er mit feiner fonzentrierten, 
ſeltſam gefpannten Perfönlichkeit erſchien. 
Durch gefhidte Zeitungsrellame war es ſchon 
der ganzen Welt kund gethan, daß er an 
einem höchſt naturaliſtiſchen Drama arbeitete, 
das vorausſichtlich in einem ber erften Theater 
zur Aufführung gelangen würde. Und da er, 
wie Schwark fih ausbrüdte, den ganzen 
Tag mit zufammengebiffenen Zähnen und 
gerungelter Stine ſchrieb, erfchienen außerdem 
in allen modernen Beitfchriften feine feltfam 
einfeitigen und barum frappierenten Arbeiten. 
Schwark, der ein gewiſſes Intereſſe für ihn 
nicht ableugnen fonnte, fah ihn oft, befonders 
da Strom jegt auch zu Irmas Kreis gehörte, 
der er eine nahezu wunderliche Huldigung 
entgegenbrachte. 

Liſa ſah während biefer Erzählungen mit 
nachdenklichen Augen auf Ernft, der halb 
amüftert, halb gleichgiltig dem Redeſtrom des 
Freundes lauſchte. Gin dunkles Empfinden 
hatte ihr immer gejagt, daß in Strom etwas 
ſtedte, die Steigerung einer gewiſſen Ver— 
anlagung, tie fie auch Ernſt hatte. Daneben 
nur ein rüdfichtslofes Zichbefchränfen und 





229 


ein Wiſſen, wie man ſich hinaufarbeitet. Und 
das fehlte Emft. Müde und gleichgiltig hatte 
er den Rampfplat verlafien. 

Ernſt feinerfeits fonnte nicht ohne einen 
gewiffen Spott auf Gerharb fehen, wenn der 
in feinem mobifchen Anzug mit dem enblojen 
Rod, einen Kneifer auf ber Nafe, in ber 
Gartenthür ftand, über irgend etwas bocierend, 
mit den bleihen Händen bie Luft durchfahrend 
und ſich mandmal den Kneifer zurecht rüdend, 
um den prädtigen Sonnenuntergang fein 
glänzendes Pfauenrab ausbreiten zu fehen. 
Er fühlte fih bewußt und gern von Gerharb 
und von Lifa geſchieden. AN die ſanften 
Gefühle, die ihm durchſtrömten, wenn ein 
linder Duft vom Garten hereinwehte oder eine 
bleiche, duftige Wolfe fih müde am Himmel 
auflöfte und zerrann, waren ihm viel mehr, 
als das geiftvolle Geplauder der beiden. Er 
als fie, als müßten fie faum, mas 
Leben fei. 

„Heute kommt Freda,“ fagte er eines 
Tages. „Paß auf, Gerhard, wie fie bir 
gefällt. Cie ift eine Natur vol kindlicher 
Weisheit und innerer Heiligkeit des Lebens.” 

„Wogegen ich die perfonifizierte Unweis— 
heit bin,” fagte Liſa nicht ohne Schärfe. „Der 
ungebulbige Menſch, der das Gegebene nicht 
binnimmt.” 

Schwarg war in dieſer Zeit ſchon öfter 
Zeuge ſolcher Heinen Seitenbiebe geweſen und 
hatte im ftillen feine Gedanken darüber. Er 
ſah oft mit nachbenflihen Augen auf bie 
beiden Menfchen, die ſich in biefem unmittel⸗ 
baren Zufammenfein fo fremd geworben waren, 
daß er manchmal erf—hraf. Und Ernft ging 
in tiefer Ruhe dahin, ohne viel danach zu 
fragen, während in Lifa alles zitterte und 
hinter ſcheinbarer Ruhe einem Entſchluß 
entgegenbrängte. 

Ernft nahm jeßt feinen breiten Strohhut, 
nidte ihnen zu und ging, um Freda auf 
balbem Wege zu treffen. In feinem einfachen 
Zeinenanzug und mit den hadenlofen Schuhen, 
auf denen er weich bahinging, pahte er freilich 
beſſer in die Natur ala Schwartz. 

Liſa fab ihm nad und wandte fi dann 
an den nachdenklichen Freund. 

Denken Cie noch an die letzte Unter= 


ia, 


Einfamteit. 231 


Eonne ſchimmernd und glänzend, war ibm 
biefes Bild des gefättigten Reichtums innig 
and Herz gegangen. Cr batte cin Gefühl 
gehabt, als finge auch für ibn bie Erntezeit 
an, ald neigten fib tie Halme ſchwer und 
demütig unter ihrer Frucht. 


Beim Eſſen waren alle ziemlich ſchweigſam. 
Nach Tiſch frug Schwarg ihn, ob cr ein paar 
Augenblide für ihm übrig babe. Nein, er 
hatte fie nicht, er mußte jet allein und un: 
geftört fein. 

Er war wieber Dichter, er lonnte ſchaffen. 
Nun ſaß er ſchon feit Stunden und ſchrieb. 
Bon dem geöffneten Fenfter fah er in Baum 
fronen und in ben Himmel. 
Bolten wuchſen daran empor. 
Luft wiegten jih die Schwalben. 


Durch bie 


irgend eine Meifterarbeit vor, in deren Ent: 
deden er immer groß war. Und ibm jtrömte 
aus allem eine Fülle von Stimmung, cin 


Reichtum an Worten, unter feinen Händen ; 
wuchs wie felbftändig eine Dichtung, von ber ! 


er fih jagen mußte, fie fei gut. 

Als er das legte Wort gefchrichen hatte, 
faß er noch eine Weile ftill da und fah hin— 
aus. Eein Herz ging ruhig, ſtark und voll, 
feine Gebanfen jegneten ftumm alles Sein, 
feine Seele neigte fih in überftrömenver 


Dankbarkeit und Liebe vor einer großen | 


Gewalt, die aus und in ihm webte. 


Endlich fammelte er die lofen Blätter und ' 


ging zu den beiden unten. Sein Geſicht 
leuchtete. Er las ihnen vor, was er gefchrieben 
hatte. Es fam mie aus einer andern Welt. 
Es war mie eine Ruhe barin und Frieden 
und das ftarfe Fühlen eines in ſich gefeſtigten 
Menſchen. 

Und Liſa fing an ihn zu begreifen, mit 
einem ganz eben, zerreißenden Schmerz in 
der Bruft zu verſtehen, daß er gehen durite, 


wo er ging, daß er das Recht hatte, fie . 


zurüdzulafien, daß er größer war als fie. 
Die Thränen brannten in ihren Augen, aber 
fie kämpfte fie nieder. Sie wollte ihn mit 
ihrem perfönlihen Sein nicht mehr bebelligen. 
Eie wollte ſtill und leicht das Band löfen, 
das fie wie Kinder gefnüpit hatten, ohne eins 
das andere zu fennen. 


Das war eine ı 
unenbliche, ernfibafte Freude, Die ihm bewegte. | 


Große, weiße | 


Gebämpite ; 
Stimmen Hangen. Unten lag Schwartz Liſa 





As cr geendet hatte, ſah er mit fragenden 
Biden auf, aber er ſah Gerbarb an. Er 
wußte einen Menſchen, auf deſſen Urteil er 
ein größeres Gewicht legte. Gerhard ftredte 
ihm bie Hand hin. 

„Du bift gewachſen, reif geworben, Ernſt,“ 
fagte er. „Man bat das Gefühl, als möchte 
man dir ganz perfönli banten, daß du fo 
etwas fehreiben durfteſt.“ 

„Ja,“ ſagte Yifa mit ſchwachem Lächeln. 

„Es ift etwas Ganzes darin.” 

Emft ſah mit leuchtenden Augen auf die 
beiden. Er war fo froh, fo bewegt, daß er 
eine Sehnſucht empfand, allein zu fein. 

„Entſchuldigt mich,” fügte er berzlic. 
„Run muß ich mich ein bischen fammeln und 
träumen.” 

Er ging dur den ftillen Abend, ber 
Sonnenglanz war rötlich. Die Arbeiter 
famen gruppenweiſe nah Haufe, ihre Senfen 
auf den Rüden. Hie und ba ertönte Geſang 
aus ihrer Mitte, ungefchulte, ſchwermütige 
Weiſen. Aus den Dorjhäufern ftieg der Rauch. 
Und in feierlicher Große wölbte fih der Himmel. 
Ernft ging dur die Wiefen, wo das iriſch 
gemähte Gras lag und füßen, berauſchenden 
Duft ausftrömte. Er warf fih da hinein und 
fab empor in bie weite, unendliche Yuit, in 
Die großen, ewigen fernen, in denen tünende 
Welten freiften, deren Kräfte niederwirkten bis 
zu ihm. Überall ftrömte in gewaltigen Yebens: 
hören das Sein, das feltjame, köſtliche Sein, 
deſſen furchtbare Thatfächlichkeit wir fo leicht 
im Leben bes Tages vergeijen, um nur in 
einzelnen Momenten mit Jubel und Grauen 
zu empfinden, daß wir ewig und unendlich 
find. Dann halten wir uns mit angſwoller Liebe 
an das Nächte und Nahe, die Kraft unferer 
Erde, die um uns wirft und unjerer Yiebe 
mit taujend Gebilben entgegendrängt. Emit 
fühlte fih im jtummer Dankbarkeit als ihr 
Rind, das nur an ihrem Herzen Nube und 
Krast finden fonnte. 

In einiger Entiemung tauchte Gerbard 





’ auf, der ſich ihm näherte, ihn zu fuchen ſchien. 


Am liebjten hätte er fih vor ihm verborgen, 
aber Gerhard ſchwenlkte jein zierliches Stödchen 
zum Zeichen, daß er ihn entbedt hätte Mit 
feinem etwas ftelgenden Gang kam er über 
ten unebnen Boden. So war die Dankes- 


Einfamteit. 


glüdliher Zufall, da fie im allgemeinen fchr ' 


gefellig lebten. Sie faßen beim Nachmittags: 
laffee im Garten. Als er fragte, ob er etwas 


Neues von ſich vorlefen dürfe, war der Jubel | 
Aber jchon | 


groß. Und fo begann er. 
während des Leſens empfand er ein unbeftimm= 
hares Gefühl des Unbehagens, fo daß es ihm 
wahre Mühe foftete, bis zu Ende zu gelangen. 


Er legte am Schluß zögernd die Blätter | 


zuſammen und fah dann mit einem leicht 
Fragenden Blid in Fredas Geficht. 


„Aber jehr nett!” rief Frau von Bartels. ' 


„Eine reizende, Heine Gefchichte.” 

„Ja,“ fagte Freda, „an einzelnen Etellen 
fo ſtimmungsvoll.“ 

Er zog die Brauen ein Mein wenig zu: 
fammen und fah einen Augenblid recht feit 
in das geheimnisvolle Braun ihrer Augen. 


Sie errötete etwas und ftredte die Hand nad | 


den Blättern aus, 
„Ich habe es noch nicht ganz verſtanden,“ 
ſagte fie leicht entfehuldigend. „Meinen Sic, daß 


man fo etwas gleich völlig begreifen Tann?“ | 


Er gab ihr das Manuffript. 

„Ich münfchte wohl, daß Sie Freude 
daran fänben,” fagte er dabei, und dann fing 
er an, bon anberm zu reben. 
nad) der lauen Aufnahme gequält, noch weitere 
Urteile über das Werk zu hören, das ihm 
felbft fo lieb war. 

Als er nach Haufe ging, dachte er darüber 
nad, wie felten unmittelbares Verjtändnis für 
Nunftiverfe zu finden fei, wie das ein wenig 
jernftehende Publikum die 
Künſtlers fo gar nicht zu begreifen vermöchte, 
wie erft die Kenner der Menge den Star 
ſtechen müßten und wie dann das Urteil fo 
feltfam, fo verblüffend, fo mißtrauiſch machend 
übereinftimmenb würde. Cr hatte von ben 


Barteld mehr erwartet, auf Grund feiner : 


Sympathie für diefe guten, frifchen Menfchen; 
aber mit welchem Neht? Warum follten 
grade fie in einem unmittelbaren Verhältnis 
zur Wahrheit und Echönheit fteben? 

Nah einigen Tagen aber fam Freda in 
einem leichten Ponywagen anlkutſchiert. Zie 
brachte die [Novelle zurüd und erzählte mit 
geröteten Wangen, wie deren Araft und 
Stimmung fie almählih immer mehr gefaßt 
hätte, wie fie hinter all der Einfachheit der 


Es hätte ihn | 


Abfichten des B 


233 


Worte nach und.nach den vollen Reichtum einer 
| reifen Natur hätte auf fie wirken fühlen. 
| Selbft Schwartz wunderte ſich über ihr gutes, 
verftändiged Urteil, und Ernſt mar völlig 
verföhnt. Cie gerieten den Abend in eins 
jener ſeſſelnden Gefprädhe, die aus ungeahnten 
Tiefen die beften Gebanten Ioden, und Fredas 
! Augen ftaunten über al das Neue, das fie 
börte. 


* ” 
. 


Im Cpätfommer war Emit allein in 
| Steinau. Er wußte, daß cr auch den Winter 
über allein bleiben würde und dann wohl 
viele Jahre, eins nad) dem andern. Liſa war 
| gegangen. Nicht im Sturm nad erbitterten 
! Worten — fie wollte eine Freundin befuchen, 
! die in Helgoland wohnte, im Herbſt nach 
| Berlin zurüdfehren und bableiben und ihn 
erwarten, bis er hinkäme. Sie wußten beide, 
| daß das nur Worte waren, aber fie ſprachen 
ı diefe Morte mit Lächeln und plauberten heiter 
über ihre Pläne, wenn fie zufammen waren. 
Tas Wiffen, was daraus folgen würde, lag 
| nur im Grunde ihrer Seele. 
N Er brachte fie zur Bahn. Eie fuhren 
| denſelben Weg, wie an jenem erften Abend, 
der jchon alles, mas folgte, im Heim geborgen 
i hatte. Gr balf ihr in das Coupe, er winkte 
ihr zu, als der Zug fid langjam in Bewegung 
ſetzte und ſchwenkte grüßend ben Hut. Sie ſaß 
dann, als fie durch das Land fuhr, mit 
jtarrem, wie verfteintem Geſicht. Sie dachte 
nicht daran, was die Leute fagen würden, fie 
dachte nur, daß es fo bitterlih ſchwer wäre, 
! zu thun, was zu laſſen unmöglid war. 
Er fuhr indes nach Haufe und dachte an 
' feine neue Arbeit. In all biefer letzten Zeit 
batte er ein Wachſen und Schwellen feines 
Talentes gefpürt, ein Beziehen jeder innern 
Negung auf fein Schaffen, das ihm fehr 
glüdlib machte. Die Pferde liefen ſchnell und 
‘ froh. Der Inſpektor begegnete ihm und gab 
irgend einen Bericht über bie Herbftarbeiten. 
Dann fuhr er dur das Dorf, bog in bie 
Allee ein und fam zu Haufe an. 
' Er ging durch die Zimmer, fie waren weit 
und leer. Die Sonne kam bereingeglitten und 
ſpielte auf ſchweren, müben Sonnenblumen, 
i die in einer großen Vaſe jtanden. Auf dem 





Einfamfeit. 


Wangen waren gerötet von ber frifchen Herbft: 
luft, ihre ſchlanke, kräftige Geftalt ſah vor- 
trefflich aus zu Pferbe. 

Meine Frau ift noch nicht zurüdgefommen, ” 
fagte er und ſchaute mit lächelnder Bewunderung 
in ihr ſchönes Geſicht. 

„Und Sie haufen hier wie ein Einfiebler 
und zeigen ſich feinem Menfchen?“ fragte fie 
erftaunt. 

Dabei fah fie ipn an und fand ihn blaffer, 
vergeiftigter, ein innerliches Leuchten in dem 
ruhigen Auge. Er trat näher und Hopfte dem 
Pferde den Hals. 

„Ich arbeite und leſe viel,” erwiderte er. 

„Das fieht man Ihnen an,” fagte fie 
nidend. „Es ift aber nicht recht, feine Freunde 
fo zu vernadpläffigen.” 

Nein,” antwortete er veuig. „Und id) 
lomme noch in biefen Tagen.” 

„Was fange id num damit an?” fragte 
fie und ſah auf ihre Ebereſchen. 

Er lächelte ſtill und ftredte feine Hand 
danach aus. Sie reichte es ihm mit einem 
ruhigen, freundlichen Gruß ber Augen und 
ritt wieder davon. 

Bon da an war er fehr oft bei den Ober- 
förfterd. Und fein Auge gemöhnte fih an 
Fredas Geficht, das es ihm lieber ward, als 
irgend eins auf der Welt, er gemöhnte ſich 
an ihre Stimme, daß er, wenn fie ſprach, es 
durch jedes Stimmengewirr hindurch vernahm, 
er gewöhnte ſich an ihr ruhiges, ehrliches 
Weſen, daß er dachte, den wahren Frieden 
könne er nur finden, wo ſie ſei. Das entſtand 
ſo unmerklich, daß er meinte, es ſei immer ſo 
geweſen und es empfand, als ſeien ihre 
Naturen für einander beſtimmt von Urbeginn an. 

Und der Winter kam mit Stürmen und 
Schneetreiben, mit Rohreif und klaren, froſtigen 
Tagen. Die Sonne ging über endloſe Schnee: 
felber auf, wanderte ihren einförmigen Weg 
fo raſch mie möglich und verfanf twieber, in 
leuchtender Glut den Echnee färben. Ernſt 
Tief auf den gefrorenen Eeen Schlittſchuh und 


freute fih an all der ftummen Größe der , 
i bunte Fähnden. Niefige Gas: und Wafler: 


Winterlandſchaft. Er laufchte in feinem ein 
famen Arbeitszimmer dem Braufen, Erfterben 
und Wicberauffeufzen des Windes und ſchwieg 
und wagte nicht an dem Neichtum zu rühren, 
den feine Seele hütete: der Liebe zu Freda. 


1 





| Gefühlen ſah er 


285 


Als Liſa auch nicht zu Weihnachten zurüds 
kehrte und Ernft nicht zu ihr fuhr, ſprach man 
allgemein darüber und fam zu ber Anficht, 
daß fie in Scheidung lebten. Ernſt aber 
ſchrieb an fie und fragte fie, was fie in der 
Zeit, in ber fie getrennt gelebt hätten, 
beſchloſſen hätte. Sie fehrieb zurüd: Scheidung. 
Er las den kurzen, ernften Brief vielmals, 
aber er fand feine verfühnende Antwort darauf, 
bie irgend wie aus aufrichtigem Herzen gelommen 
wäre. Er empfand es einfach, daß dies ein 
Ende war. Da begann er, die nötigen 
Schritte einzuleiten. 

Seine Arbeit, ein Noman, wuchs mittler⸗ 
weile feinem Ende entgegen. Er fammelte 
ſich ganz in diefem Schaffen und beſchloß, bis 
zu feiner Fertigftellung und ber enbgiltigen 
Scheidung feinen Menſchen mehr zu fehen, 
nur für fi zu leben. Er ſchrieb an Frau 
von Bartels und bat fie, ihn zu entfchuldigen. 
Er wollte auch Freda in biefer Zeit fern 
bleiben. Was danach kommen follte oder 
fönnte, machte er fi felbft nicht flar, es 
bewegte nur feine Gedanken, als erwartete 
ihn dann ein großes Glüd. 

Mittlertveile erhielt er ausführliche Briefe 
von Schwartz, der fi ihm, wie die Trennung 
von Lifa vor ſich gegangen war, wieder innig 
in ber alten Art ihrer Jugendfreundſchaft ger 
nähert hatte. Nur war ber Klang jegt ein 
wenig anders, der Mann fprad zum Manne, 
nicht mehr tie früher zum Jüngling. 

Gegen Ende Mai war Emft auf dem 
Wege nad Berlin, um perfönlid bei dem 
Scheidungstermin anweſend zu fein. Ein 
volles Jahr war er fern gewefen, das ihm 
ungeahnte Wandlungen, tiefgreifende Ent: 
toidlungen gebraht. Mit wunderlichen 
auf die mohlbefannten 
Gegenden, durd die der Zug rüttelnd und 
wiegend fuhr. Die bürftigen, dünnen Kiefern 
des Grunewalds flogen an ihm vorbei, die 
ftruppigen Kohlgärtchen, in denen Bretterbuben 
ftanden, begannen, Kinder ftredten ihre Arme 
nah dem Zug aus und ſchwenkten johlend 


türme ftanden wie Koloſſe auf brachem Feld, 
auf einem Stückchen Wiefe war eine Ziege 
angebunden und ftieß mit ihren Hörnern 
ungeduldig in das Gras. Und nun wuchſen 


Einfamteit. 


fi, ohne ein Wort zu fagen, auf jie zueilte, 
ihre Hand ergriff und fie an bie Lippen drückte. 
Dabei betrachtete er fie mit liebreichen Bliden 
unb rief enblid: 


ih Sie entbehren müflen!” 

„And wirklich entbehrt?” fragte fie mit 
ihrer gebämpften Stimme. 

„Namenlos,“ fagte er und fühlte jegt, als 
wäre es fo geweſen. 

Sie lächelte etwas traurig zu ihm empor 
und fagte dann: 

„So laſſen Sie es fo fein, tie früher und 
berichten Eie. Man hat mir fo manches ge- 
fagt, aber id) muß es von Ihnen felbit hören. 
Wir find ja beide um ein ganzes Jahr weiler 
geworben.” 


f&büttelte den Kopf. „Ich ftede zu fehr in 
mir drin, fann immer nur eins begreifen, eins 
fehen, eins fühlen. Und die Welt ijt fo viel: 
fältig.“ 


Aber er fing doch an zu erzählen, dies 
und das, und wie ihm Liſa jo jern geworden 


und ein andrer Menſch fo nah, fo innig nah, 
daß er ihn immer alö gegenwärtig fühle. Und 
wie er zu einem neuen Anfchauen und Bes 
trachten des Lebens gelommen, zu einem neuen 
Werten ber Dinge. 
freie, einfache Hinſchreiten fo ftarf und ruhig 
gemacht, daß er nur immer ein ſchauerndes 
„Ja“ zu allem Leben fagen könne, zu allem 
Iren, zu jedem Schmerz. Und wie Fredas 
vornehme, heilige Seele ihn nun völlig zum 
graden, wahren, freudigen Menſchen machen 
würde. 


„Wir werben do alle unglüdlich,” fagte f 


fie leiſe und feüttelte den Kopf. „Der im 
feinem Erreichen und der in feinem Entbebren. 
Und wiſſen Cie, daß ich die Leidenden nicht 
bemitleide? Ich babe auch fein Bebauern 
gefühlt, daß Sie beide auseinander gingen. 
Ich finde nur, es hätte Ihnen mehr nehmen 
und geben follen,” und fie ſah ihn mit düſtern, 
fremden, leibflagenden Augen an. „Wie fünnen 
Eie nur, ein Menſch, der fühlt und erkennt, 
an Glück glauben?” 

„Ich glaube an Glüd,” jagte er, und fein 
geiftwolles Geficht mit den ausgearbeiteten 
Zügen neigte ſich ihr zu, feine Augen leuch— 


: Irma. 
Sie guter, treuer Freund, wie lange habe | 





Und wie ihm dies große, ; 


\ 


237 


teten in einem warm flutenden Licht, als fühe 
er Freda in ihrem kraftvollen Frichen. 

„Die Liebe vor allem ift Schmerz,” fagte 
„Von Anfang an ein Fürdten und 
Verzehren, ein endlos endlofes Sehnen, das 
nie völlig Genügen findet. Und doch,“ fagte 
fie und fah ihn mit einem trüben Lächeln an, 


„wünſche id auch Ihnen, daß Sie das jo 


fühlen lernten, und würde enttäuſcht fein, 
wenn Sie anders bächten.” 

Er jah fie unruhig an. 

„Ich fürdte, Ihre Anfchauung vom Leben 
ift krank. Sie find mübe und fchlaff. Ahnen 
fehlt Freudigfeit und Widerſtandskraft.“ 

„Ein Glüd tenne ih auch,“ gab fie zur 
Antwort. „Das Glüd der Schmerzen. Und 


ich glaube faft,“ fuhr fie fort und betrachtete 
„Ich werde wohl nie weile,” fagte er und 


ihn mit einem warmen, fanften Blid, „ich liebe 
die am meiften, bie mir bie meiften Schmerzen 
zugefügt haben.” 

Sie waren auf und ab gegangen durch 
die Säle, und er begleitete fie dann noch bis 
nad Haufe. Sie gingen durch bie breiten, 
lauten Straßen. Neben ihnen ſchrie und 
tämpfte das Leben, mie ein grimmiges Tier. 
Ihr Auge ſah nur Leid, wohin e3 blidte. 
Er aber ſchaute darüber hinweg, bielt fein 
Herz feft und ſprach zu fi: 

„Einigen ift es gegeben, glüclich zu fein. 
Ich will zu ihnen gehören, den Mutigen, die 
es wagen, das Glüd zu halten, dieje Kraft 
tes Seins.” 

Dann nahm er Abſchied von Irma. 

„Wir fehen uns wohl nod einmal in 
dieſem Leben?” fragte fie mit ſchwachem Lächeln. 

„SH bringe Ihnen Freda,“ fagte er, und 
feine Augen glänzten. — 

Und fe nahte denn endlich der Scheibungs- 
tag, an dem er auch Lija wicderjah. Cie war 
ganz ruhig und feſt, aber er hatte ein Gefühl, 
als ob fie litte, und ein unrubiger und be: 
fümmerter Schmerz ſchnürte fein Herz zu— 
fammen. Es war furdtbar, wie das Yeben 
die Dinge ineinander fügte und daß alles 
fommen durfte und mußte, wie es fam. 
iederjehen nach der langen Trennung, 
ihirembfühlen und doch Vertrautiein 
dur taufend und taufend kleine Tinge, riß 
an jvinem Herzen und jeinen Nerven. Er 
fühlte ſoviel Weiches und Gutes für fie, und 





Einſamleit. 


Garten beſchäftigte ihn, fo daß er oft ſtunden⸗ 
lang mit dem Gärtner ſprach, Pläne zeichnete 
und Anteifungen gab. 

Und dann fam der Tag, an bem er ſich 
Tagte, daß es nun nicht zu überhaftet wäre, 
wenn er zu Barteld ginge. Er mollte mit 
der Mutter fprechen, ihr von ber Scheidung 
erzählen, fie fragen, ob ihm das in ihren 
Augen Abbruch thäte, und wenn nicht, ob 
er um das ftarke, liebliche Mädchen merben 
dürfe. 

Es mar fo heiß, daß er fi) den Wagen 
anfpannen ließ, auch deshalb, weil feine 
Ungebuld zu groß tar, biefen langen Weg 
in banger Erwartung zu Fuß zurüdzulegen. 
Die ſchönen Pferde ftampften ungebulbig und 
mirbelten mit ihrem tängelnden und anmutigen 
Lauf diden Staub von dem Landivege auf. 
Dunkle Wolfen ſchoben fih gegen Weſten 
durcheinander. Der Kutſcher ſchnalzte mit der 
Zunge und fnallte mit der Peitiche. 

„Das kann ein Wetter geben, gnäb’ger 
Herr," fagte er mit Kennermiene. 

Dann fam die Fahrt. dur den kühlen 
Bald. Als fie in die Nähe der Oberförfterei 
kamen, ließ Emft halten, ftieg aus und ſchickte 
den Wagen zurüd. In diefer Kühle kam ihm 
feine Spannkraft wieder. Mit belebten 
Schritten eilte er vorwärts und erreichte bald 
den Garten. Das erfte, was ihn überrafchte, 
mar, auf dem großen Rafenplag die ganze 
Geſellſchaft mit Lawn Tennis befchäftigt zu 
finden. Das war eine Neuerung gegen das 
vorige Jahr. Ein zweiter raſcher Blick be 
lehrte ihn, daß Fremde anmwefend waren. Das 
ftörte natürlich feinen Vorſatz, und er zögerte 
faft, ob er näher treten follte. Eein Auge 
ſuchte Fredas. Cie war mitten im Spiel; ein 
paar Damen, die er von früher her fannte, 
fahen zu. Ihre biegfame Geftalt nahm ſich 
anmutig genug aus in den bligfchnell wechſeln⸗ 
den Stellungen. Ihr Gegner war ein ſchlanker, 
brünetter Herr, ber meifterhaft fpielte und deſſen 
ganze Geftalt wie aus Stahl gegofien mar. 
Er ſchien der Überlegene zu fein. Freda lachte 
und warf das Racket hin. Da fprang er mit 
einem leichten Satz über das Ne, eilte auf 
fie zu, faßte ihre Hände und fagte ihr etwas 
mit einem zärtlich gebieteriſchen, gewinnenden 
Lächeln auf den Lippen. 


239 


Ernſt fah, daß Fredas Schweſter ſich ihm 
näherte. Er zwang ſich ein geiſterhaftes 
Lächeln ab. 

„Ich war recht lange nicht hier,“ ſagte er, 
indem er ſie förmlich begrüßte. 

„Mir ſcheint, Sie waren viel zu lange 
nicht hier,“ ſagte das junge Mädchen mit 
freundlichem Ernſt. 

Er ſah auf den Tennisplatz hinüber und 
ſagte mit tonloſer Stimme: 

„Das find recht große Änderungen bier.“ 

Und dann noch einmal, gleichfam ſich einen 
Nud gebend, mit lauterer Stimme, die aber 
doch heiſer und erftidt ſich vorrang: 

„Das find recht große Änderungen hier.” 

Dabei fah er auf, dem jungen Mädchen 
ins Geficht, und als das ein weiches Mitleid 
! auszubrüden ſchien, wurde er auf einmal ganz 
ernft und bleich wie der Tod und fagte in einer 
Art, die ihr an da Herz ging: „Ich möchte 
die Ihrigen begrüßen, gnädiges Fräulein.” 

„Freda!“ rief fie mit einer faſt weinenden 
Stimme. „Freda!“ 

Die wandte fih um, das ſchöne, flille, 
glüdglängende Geficht ihm zu. Sie fagte ein 
paar Worte zu dem jungen Mann, banı 
näherten ſich beide. " 

„Guten Tag, Herr Stein,” rief Freda und 
ftredte ihre Hand mit gutem, glüdlihem Lachen 
aus. „Darf ih Ihnen meinen Bräutigam, 
Herrn von Franf, vorftellen?“ 

Ernſt verneigte fich leicht und höflich. 

Nehmen Sie meinen herzlichſten Glüd: 
wunſch, gnäbiges Fräulein,” fagte er mit 
etwas eintöniger Stimme. 

Tann fragte er nach Frau von Bartels. 
Sie gingen alle zum Haus zurüd, Ernſt immer 
in ber ftilfen, monotonen Art leichte Fragen 
ftellend oder auch erwidernd, dabei ganz blaß 
und mit einem faft unbeweglichen Ausdruck 
der Erftarrung im Geſicht. 

Die es am tiefften fühlte, war Fredas 
Schweſter, weil fie ihn im Augenblick fafjungs- 
Iofen Wehes gefehen. Sie wünſchte, daß die 
andern es nicht merken follten, Fteda nicht, 
die fo glüdli war, Frank nicht, die Mutter 
nit, um Ernſts willen, weil fie eine Scham 
für dies grenzenlos tiefe Empfinden hegte, 
weil fie begriff, wie jeder Nerv in ihm fi 
I fpannte in ber fortgefegten, ftillen Arbeit, feine 





Profeſſor Carl Goldbed. 


„Weiß Irma um deine Liebe?“ fragte 
Ernft. 

„Ja. Sie fagte mir, daß fie einen andern 
Tiebe, aud gang und für immer, und aud 
hoffnungslos.“ 

Ernſt ſchwieg und ſah nicht, wie des 
Freundes Blid auf ihm ruhte. 

„Es giebt eine Liebe, die auch das Vor- 


übergehen vergiebt,“ fagte der mit nachbenf= | 


lihem Niden. 

„Heute zum erftenmal frage ich mich,” 
fagte Ernft nad einer Paufe aus tiefem 
Sinnen. „Hätte es nicht anders fommen 
tönnen mit Liſa und mir? ft es nicht un= 
verzeihlih, daß wir uns fo trennten?” 


A 


i „Nein, Ernſt,“ rief Gerhard und legte 
| feine Hand auf die ſchlanke, bebende des jungen 

Freundes. „Alles mußte diefen Weg nehmen. 

Wie follten wir das Leben tragen, wenn uns 

immer bie Frage bliebe, hätte es anders 
! fommen fünnen? Still, ftill das Geſchehene 
auf fih nehmen, als etwas Notwendiges und 
darım Kraft und Fügung darin finden. Mit 
ruhigem, getroftem Blick vor und zurüd jehen 
und dies alles als ein Außen empfinden. Das 
ift nicht leicht, aber verſuche es nur.” 

Nun war doch noch eine Wolke aufge 
zogen, und ein leichter Regen fiel, in ber 
Abendfonne fprühend. Die beiden Freunde 
jaßen zufammen und fahen ſchweigend hinaus. 


ee 


PRrofeffor Carl Golobeck. 


Rlice Tandsbern. 


Nadprud verboten. 


Jor wenigen Wochen hat man auf dem Zwöolf-Apoſtelkirchhof in Schöneberg einen 
Mann zur legten Ruhe beftattet, der vielen Hunderten von Berliner Frauen 

ze und Mädchen ein felten treuer Lehrer und Freund geweſen, einen Mann, der 
ein wahrhaft Berufener war für die ernfte und fchiwierige Aufgabe des Lehrers. 
Profeſſor Carl Goldbed, der langjährige Direktor der Berliner Charlottenfchule, ift 
am 24. September d. I. nach längerem, ſchweren Leiden geftorben, nachdem er Anfang 
des Jahres jeine Lehrthätigkeit und feine amtlichen Verpflichtungen niedergelegt hatte. 
Er bat fein ganzes Leben mit voller Hingabe feinen Schülerinnen gewidmet, und wenn 
ihm heut in diefen Zeilen eine von ihnen im Namen der vielen einige Worte treuen 
Gedentens und Erinnernd über das Grab hinaus nachruft, jo möge dad als ein 
Heiner Tribut der Dankbarkeit und Verehrung hingenommen werben. 

Carl Goldbet war ein Lehrer — und bei ihm ift der Lehrer vom Menfchen 
nicht zu trennen — wie man unter Taufenden faum einen tiederfindet. Hier war 
nichts von Schablone, von Pedanterie. ine originelle, geiftvolle Natur, gab er fi 
eben felbft, er fette jeine ganze Perfünlichfeit ein, Intelleft und Gemüt der jungen 
Schülerinnen zu feſſeln. Voll ungewöhnlicher politiver Kenntnifje — er war unter 
anderem ein feltener Kenner der franzöfiichen und italienischen Sprade und Litteratur — 
wirkte er in jeinem Unterricht doch hauptſächlich durch feine ſprühend lebhafte Vortrags: 
meife. Er beſaß die Gabe, durch Erzählen von Anekdoten aus Gedichte und Leben 
den oft trodnen Stoff des Schulmeifterd anregend und intereffant zu machen. Durch 
fteten Hinweis auf das fcheinbar Unbedeutende, auf die „Kleinigkeiten des Dafeins“, in 
denen fich für das fundige Auge das Leben oft am köſtlichſten jpiegelt, wollte er feine 
Schülerinnen „Andacht zum Kleinen“ lehren, wie er ihnen Begeifterung für das 
Erhabene und Große einzuflößen verftand, Verehrung für die freien, großen Geifter 
aller Nationen. Zu felbjtändiger Arbeit und innerer Fortbildung fuchte er feine 
Schülerinnen anzuleiten; in jungen Jahren ſchon follten jie lernen, ihre Zeit aus: 
zunügen, von feinem Tage follte es auch bei ihnen heißen: „diem perdidi!“ 

„Du bajt fein Auge für diefe Dinge, weil du feine Liebe dafür haft, und Auge 
und Liebe gehören immer zufammen“. Dieſe jchönen Worte Theodor Fontanes 

16 





Leiden und Rechte des Kindes. 


Adele Schreiber. 


Raqhdruc verboten. 


Mede Gefeggebung entipringt der Notwendigkeit, den Schwachen vor der Vernichtung 
durch den Starken zu bewahren, ihre Aufgabe ift e8, regulierend auf den Dafeins: 
tampf im Menjchheitähaushalt zu wirken. Je vorgeichrittener ein Staat, umſomehr 
läßt er ſich die Eorge für feine ſchwachen Glieder angelegen fein; jo jehen wir bei 
reifen Staatengebilden, neben den urfprünglichen Formen der Legislation, eine neue 
Ergänzungsgejeggebung ſich aufbauen, die den Schuß der twirtichaftlich Benachteiligten 
gegenüber dem mächtigen Drud des neuen Produktionsmechanismus bezwedt. 

Diefed Syſtem, zufanmengefaßt unter dem Namen: jozialpolitifche Gefeggebung, 
murzelt in feinen erften Anfängen teilweife in der Privatwohlipätigfeit. Einrichtungen, 
die urfprüngli dem mitleidsvollen Eingreifen von Einzelperfonen oder Vereinen übers 
faflen waren, find ald Pflicht der Gejellihaft anerkannt und in ftaatliche Inftitutionen 
umgewandelt worden; jo in verichiedenen Staaten die Kranken-, Jnvaliden- und 
Alterdverforgung, Wöchnerinnenunterftügung, die Erziedung von Taubftummen, Blinden, 
Waifen und Findeltindern, die ÜUberwachung der Haltekinder ꝛc. 

Zahlreih find noch die Gebiete, die in Deutichland einer völlig unzureichenden 
Privatforge überlaffen blieben; eins derfelben ift der Echug von Kindern gegen Miß— 
handlung und Ausbeutung. 

Es ift eine ſchwer verftändliche foziale Erſcheinung, daß der natürlichen Pflicht 
der Eltern, die beften Beſchützer ihrer Rinder zu fein, jo Häufig zuwidergehandelt wird 
und e3 des Auftretens Fremder gegen die Schädigung durch die eigenen Eltern bedarf. 
Diefe Erfcheinung läßt jih nur auf angeborme graujame und gewalttgätige Inſtinkte 
zurüdführen, die fih an dem bilflojen Kind, ohne Furt vor Vergeltung, bethätigen. 

Kindermißhandlungen find bei Natur: und Kulturvölkern verbreitet, fie waren 
ein Übel der alten Zeiten, wie fie eines der Gegenwart find, aber der Kampf dagegen 
ift eine Errungenſchaft der legten Jahrzehnte. Mit ihm baben wir aud) erſt begonnen, 
genauere Kenntniffe über Häufigkeit und Weſen des Übels zu erlangen. 

Während ehedem die Beftrebungen für das Kinderwohl darauf beſchränkt waren, 
Waiſen und Findelfinder zu verforgen, entitand zu New-York im Jahre 1875 die erfte 
Geſellſchaft zum Schug der Kinder gegen Mißhandlung und Ausbeutung. In 25 jähriger 
Thatigkeit ift fie für 382 782 Kinder eingetreten, fie hat 47077 ſchuldige Perfonen 
zur Verurteilung geführt und 83 141 Kinder in geeigneter Weife untergebracht. 

Nach dem Mufter der New-Yorker Geſellſchaft bildeten ji über 300 Vereine 
mit ähnlichen Zielen, von denen die 1884 durd Benjamin Waugh zu London 
gegründete „Society for the Prevention uf (ruelty to Children“ die hervor: 
tagendfte ift. 

Im Jahre 1889 fchloffen ſich ihr die in den andern Städten Englands beftchenden 
Kinderfchugvereine an, und von da ab entjtand unter dem Namen „National Society“ 
eine Inftitution, die in ihrer Art als die bedeutendite der Welt bezeichnet werden darf. 

Die Thatigkeit der englifchen Gejelichaft iſt ſchon des öfteren in diefen Blättern 
eingebend gewürdigt worden; in zehn Jahren hat fie 411947 Kinder beichügt, fie ift 
gegen 209032 Schuldige eingefchritten und bat 17537 Gerichtsverhandlungen eingeleitet. 

Ihre Grundidee iſt, ſich nicht damit zu begnügen im engen, philanthroͤpiſchen 
Sinne Linderung zu bringen, jondern in erjter Linie dem Rinde eine gejeglich geihüßte 
und geficherte Stellung zu erfümpfen. 

16“ 


Leiden und Rechte des Kindes. 245 


Mißhandlungen in der Zunahme begriffen wären. Einen Beweis jedoch für die 
Wirkfamkeit rechtzeitigen Eingreifens bietet die ftete Abnahme der durch Mibhandlung 
herbeigeführten Todeẽ falle. 

m Jahre 1893 auf 94 endeten von 37 642 Mißhandlungen 272 tödlich. Im 
Jahre 1898 auf 99 von 75 732 Mißhandlungen 199. Es kamen Ietal endende Fälle 
auf je 1000 Mißhandlungen 


im Jahre 90-91 . . . . 5,60, 
"nn AR .. 0. 0. 5,99, 
nu RB... . 444, 
nn BA .... 720, 
nn 4-5... 0. 5,48, 
nm Bm... . 440, 
nm 9-97... .. 331, 
nn MB... . 300, 


nn 8-9... . 361. 

In dem Wirkungskreife der Gejelichaft find innerhalb neun Jahren 1763 Kinder 
an den unmittelbaren Folgen von Mißhandlungen geftorben, eine Zahl, die wohl mehr 
als alle Verteidigungsreden beweift, daß die Inſchutznahme von Kindern gegen Eltern 
ober deren Stellvertreter feiner Humanitätsbufelei entipringt, fondern bitterfte Not: 
wenbigfeit ift. 

Die Graufamteit wendet ſich am beftigften gegen die Hilflofeften, die fiher am 
allerwenigften durch ihre Unarten oder Bosheiten Anlaß zu Gewaltthätigkeiten geben 
tönnen. Das Durchſchnittsalter beträgt 6'/, Jahre, 37 Prozent aller Opfer ftanden 
unter dem 10. Lebensjahre, 51 Prozent unter dem 7., 28 Prozent zählten 0—4 Jahre. 

Von den Schützlingen des Jahres 1898—99 waren 70197 eheliche Kinder, 
3685 uneheliche, 736 Stieffinder, 430 Haltelinder. Das Verhältnis der mißhandelten 
legitimen von 5,24 auf 100 Legitime fpricht nicht zu befonderen Ungunften der 
Illegitimitat, da die Unehelichleitäquote Englands in den Jahren 1887—91 3. B. 
4,50 Prozent betrug. 

Die großen finanziellen Laften der Gefellfhaft werden ausſchließlich durch 
Mitgliedsbeiträge, Spenden, Legate ꝛc. aufgebracht, die Ausgaben beliefen fih im 
Jahre 1898 auf 52773 £ alio 1055460 Mark! Die Thätigfeit der National 
Society erfiredt fih auf */, des Areald von Großbritannien. 

In den Vereinigten Staaten giebt e8 noch eine Anzahl von Geſellſchaften mit 
denfelben Grundzügen; die bedeutendfte davon ift (nach der New: Yorker) die zu Boſton. 
Erwähnenswert ift ferner der in Montreal (Kanada) beſtehende Verein, der feinen 
Schuß nicht nur Kindern, fondern auch mißhandelten Frauen angedeihen läßt '). 

Während die gefchilderten Geſellſchaften ihr Augenmerk darauf richten, Graufuns 
feiten audfindig zu machen und zu verhüten, dienen verfchiedene andere Vereine der 
Fürforge für verlaſſene, vermahrlofte und verfommene Kinder. 

In London find ed die bekannten, von Barnardo begründeten Heime, die etiva 
34 000 Kinder dem Untergang entriffen haben. Die Heime nehmen Straßenjungen, 
Vagabunden, jugendliche Verbrecher und heimatlofe Kinder auf, um fie zu nüglicher 
Arbeit heranzubilden. Vielfach werden dafelbft Knaben für die Landwirtichaft in den 
Kolonien erzogen. Die Barnardofche Gründung umfaßt heute 110 Anflalten, wovon 
35 in London, 71 im übrigen England und 4 in Kanada. 

In ähnlicher Weife wirkt in New-York die „Childrens Aid Society“, mit ber 
Heime, Gewerbeihulen und landwirtſchaftliche Schulen in Verbindung ftehen. 

Der Schutz von Kindern gegen Mibhandlung ift in Franfreih noch wenig 
entwidelt. Die „Societe protectrice des enfants“ befaßt ſich mit Verminderung der 
Säuglingäfterblichkeit und Verhütung der Engelmacherei, nicht jedoch mit Überwahung 


') Eine Anzafl der hier angeführten Daten verbanfe ih dem Werk: „Der Schu der Frauen 
und finder gegen Nippandfungen“ von Dr. Narl Walder (Leipzig, Roßbergice Kojbuchhandlung), auf 
da8 ich ganz befonber8 aufmertfam machen möchte, 


Leiden und Rechte bed Kindes. ur 


nahezu die Sehraft ein und wurde ohne jede Entſchädigung entlaffen. Zahlreiche ihrer 
Mitſchulerinnen ſah fie ihren Qualen erliegen, einmal fünf binnen vierzehn Tagen. 

Marie Marehal brachte 12 Jahre in demfelben Inſtitut zu, fie verließ das 
Haus völlig entkräftet, ohne Entlohnung. Ihr Erihöpfungszuftand war derart, daß 
ihr Magen heute noch jede Aufnahme fefter Nahrung verweigert. In ihrer Rlafje 
farben innerhalb eines Jahres elf Zöglinge. 

Eine Leidensgefährtin von ihr, Melanie Laurent, Waife, arbeitete 22 Jahre 
lang in der genannten Anftalt; fie lernte weder leſen noch fchreiben, wurde im Zuftand 
Bodgrabigfer Entkräftung, ſchwer herzleidend aus dem Haufe gefandt. Sie war drei 
Jahre ganz arbeitunfähig und ift dauernd nahezu invalide geblieben. An einem 
Tage ftarben drei ihrer Mitzöglinge. 5 

Im Klofter zu Angerd wurden die Kinder ftrafiveife nacht? in die Leichenhalle 
eingeihloffen, ober bei Waffer und Brot in Zellen gefperrt, wenn es ihnen nicht gelang 
zwei Männerhemden an einem Tage fertigäuftellen. Diefelbe Methode beftand im 
Inflitut zu Mans. Dort wurde ihnen auch der Kopf und das Geficht mit naffen 
Tüchern umwickelt, bis fie zu_erftiden drohien; einmal wurde ein junges Mädchen, 
dad man fo züchtigte, auf der Stelle von einem Blutfturz befallen und ftarb drei Tage 
darauf. Die Zöglinge mußten aus den Gruben die Fakalien in Fäffer ſchöpfen und 
forttragen, eine Arbeit, die fie, bei ihren völlig entkräfteten Organismen, nur unter 
Übelteiten und Obnmachtsanfällen verrichten fonnten. AU dies wird übertroffen vom 
Schidjal eines adtjährigen Kindes, das, ſchwach und frank, fein Bett verunreinigte 
und dafür gezwungen wurde, Brot mit feinem eigenen Unrat zu eflen. 

Siebenjährig farb an den Folgen ſchwerer Verlegungen ein Kind im Stlofter zu 
Annonay. Das Leben der dort internierten Ninder war fo fürchterlich, daB die 
armen Kleinen fromme Gelübde ablegten, damit der Tod fie bald von ihren Leiden erlöfe. 

Fanny Pangot (Waife) arbeitete von ihrem ſechsten bis zwölften Lebensjahr in 
einem Parifer Klofter von 5 Uhr morgens bis 9 Uhr abends; fie lernte weder leſen 
noch ſchreiben und wurde fchließlich mitten im Winter, nur mit Hemd und Perkalfleid 
bededt, fortgefandt. 

In einem Klofter des Departement du Nord diente als Schlafraum ein feuchter, 
mit feheibenlofen Fenstern verfehener Saal. In der Nacht vom 7. zum 8. Dezember 1890 
erfroren zehn Heinen Mädchen die Füße, einem berfelben mußten unverzüglich beide 
Füße amputiert werden. 

Ins Ungemeffene ließe fich diefe Lifte fortjegen! 

Von den genannten Anftalten wird außerdem ein ſchwunghafter Vettel betrieben, 
angeblich zu Gunften der armen Waifenfinder, die den Klöftern die Koften ihres elenden 
Unterhaltes zehnfach durch Arbeit einbringen. Das Vermögen ber Häufer wächſt 
zufehends, die frommen Schweitern bauen Kapellen und Kirchen, ftiften Meßgewänder, 
bereichern den Peteröpfennig und kaufen Ländereien von dem Geld, das bad Lebens 
mark der unglüdlichen Jugend darftellt. . 

Leider befigt die Regierung feine Rechte zur Überwachung der aus Privat 
mitteln geichaffenen „Wohlfahrtseinrichtungen”; feit Jahren führt die Assistance 
Publique einen fruchtlofen Kampf um die Sanierung diefer Zuftände. 

Im Jahre 1896 wurde eine Refolution eingebracht, die die nachitehenden 
Forderungen enthält: 

1. Die von Privaten oder Affoziationen gegründeten Wohlfahrtseinrichtungen, 
die Kinder, Kranke, Sieche oder Greife aufnehmen, oder mit Arbeit befchäftigen, 
müffen ihre Eröffnung unter Darlegung ihrer Ziele und Schilderung ihrer Lokalitäten 
binnen acht Tagen zur Anzeige bringen. 

2. Innerhalb längftens eines Monats erfolgt die Prüfung und die Lofalbefichtigung. 

3. Die Überwachung bleibt in Permanenz. . 

4. Die Leiter der Inftitutionen find verpflichtet, den Kegierungsdelegierten 
Auskunft über die moraliſche und finanzielle Lage der Anftalt zu erteilen, ihnen 
Einblid in die Hausordnung und Einfchreibeliften zu gewähren und ihnen die Haus: 
bewohner vorzuführen. 


Die nene Lehranftalt für 
Annft- und Hansweberei in Kiel. 
Bon Hildegard Jacobi 
Naddrud verboten. 

Der Berein zur Förderung der Kunft: und 
Hausweberei in Schledwig: Holftein bat eine neue 
Webeichule errichtet. 

Diefelbe Hat ſich die Aufgabe geftellt, wie in 
andern Zändern, namentlich in Norwegen, Schweden, 
in England und Finland, auch bei uns alte Zweige 
des Haudgewerbefleißes zu neuem Leben zu eriveden, 
nachdem fie im Laufe bed legten Jahrhunderts 
durch die Maſchinen faft gänzlich verdrängt worden 
waren. Selbftverftändlih kann die Hand nicht 
eine erfolgreiche Konkurrenz mit der Maſchine 
magen, unb etwa biefelbe ganz zurüddrängen 
oder den handiwerfömäßigen Betrieb wieder auf- 
nehmen. Doch hat bie Handarbeit das unbeftrittene 
Übergetwicht auf dem Gebiete ber Kunſtweberei, 
indem fie Bünftleriiche Wirkungen berauszubringen 
vermag, welche der Mafchine verfagt bleiben. Tie 
noch jegt muftergiltigen Stüde aus alter geit 


beweiſen genugfam, daß bie Numftiveberei in ihrer | 


böchften Blüte Technifen außgebildet hat, bie auch 


Heute von den Mafchinen noch nicht völlig wieder· 


gegeben werben fünnen. Ebenſo fann nur Sand: 
arbeit ſolche Gewebe herftellen, die bejtimmt gegebenen 
Verhältniffen in Beziehung auf Form, 
Zeichnung, Farbe u. ſ. w. Rechnung tragen follen. 


Die Kunftweberei ann fi den anderen bildenden | 


Künften, wie Malerei, Bildhauerei, Schnigerei wohl 
zur Seite ftellen und den gebildeten Klaſſen 
deshalb auch eine vollbefriedigende Beſchäftigung 
bieten, im der fi} Aunftfinn, Geihmad, Phantafic 
und Geftaltungäfraft voll bethötigen können. 

Die herrlichen, preisgekrönten Mebereien von 
Frl. Frieda Hanfen auf der Barijer Weltausftellung 


Größe, | 





! 


„ erforderlichen Garne berjuftellen. 


beioeifen uns am beften, welch vortreiffich tünftferifche | 


Arbeiten bereit in biefem Face geleiftet werden. 
Und unfere Zeit bietet eine mannigfache Verwendung 


derartiger Lurußarbeiten wie Gobelin: (die eigentliche ' 


Bildweberei), Anüpf:, Nobben: und Floſſaarbeiten, 
die auf den Hochwebſtühlen verfertigt werben. 





u 


Andrerfeit® will die neue Webefchule die Dauf, 
weberei am Flachwebſtuhle als Lohnende Haus: 


induſtrie wieder unferer Yanbbevölterung zurüd: 
; getoinnen. 


Es giebt beſonders auf dem Lande 
vielſach brad liegende Kräfte, deshalb fol die 
Handfpinnerei ald Füllarbeit in fonft müßig zu: 
gebrachter Zeit dienen und weſentlich die Derftellung 
von dem eigenen Bedarf bienendem Stoffe im 
Auge behalten. Hier gilt es die Herftellung aller 
jener Stoffe, die für die Vetleidung, für ben Bedarf 
des Haushalies ald Vett:, Tifh: und Möbelzeug, 
Drell, Köper und ſonſtige Webercien gebraucht 
werden. Die auf dem Flachwebſtuhl bergeftellten 
Stoffe find von einer faſt unverwüftbaren Dauer. 
Und derartiger haltbarer Stoffe bedürfen Seeleute, 
Fiſcher, Jäger, die bei jeder Witterung im freien 
beichäftigten Arbeiter; ferner verlangen auch die 
verfchiedenen neuerdings fo üblichen Sportbeſchäfti— 
gungen, die immer größere Ausdehnung gewinnen, 
diefer Schug gewährenden Stoffe, die Wind und 
Wetter trogen Fönnen. Diefelben find in England 
in alten Geſellſchaftstreiſen fehr beliebt, und die 
fogenannten „home-spun:Zeuge“ werden mit grofer 
Vorliebe von dem weiblichen Geſchlechte getragen. 
Sole Zeuge aber laſſen ſich vorzugsweiſe durch 
den Handbetrich herſtellen. 

Es iſt natürlich von hoher Bedeutung, daß die 
Landbevölterung die zum Weben erforderlichen 
Rohſtoffe felbft produzieren ann, alſo felbft den 
Flachs baut, Wolle gewinnt und das erforderliche 
Baummwollenmaterial aus inländifhen Fabriken 
befommen kann. Angeftellte Unterſuchungen haben 
dargethan, daß die einheimiſchen Schafraſſen eine 
Wolle liefern, die durch ihre beſondere Beſchaffenheit 
gerade vorzugsweiſe geeignet ift, daraus die hier 
Auch der bier 
gewonnene Flachs genügt volfftändig. Tas Spinnen 
der Wolle erfordert gewifie Vorbereitungsarbeiten; 
gegen einen fehr geringen Yohnfag übernehmen 
Fabriten das PVerfpinnen ber Wolle zu fertigem 
Garn. 

Tas Perfpinnen der fo vorbereiteten Wolle 
macht dann feine weiteren Schwierigteiten und 


Frauenleben 


Aurfus teilnehmen, oder nad) Übereintommen mit der 
Vorſieherin zu beftimmten Zeiten bie Schufe befuchen 
IV. Die Koften des Webeunterrichtes. 


Die Entrichtung an die Webeſchule befteht im ! 


Honorar für den Unterricht und in ber Miete für 
Webeftühle. Das Unterrihtöhonerar beträgt für 
den vollftändigen Jahredturfus 90 M., für zwei 


Kurfe am Flachftuhl 60 M. und für einen Kurfus : 


am Hochſtuhl 40 M. 
Der Unterricht im Zeichnen für Hochſtuhlweberei 
iſt befonderd zu bezahlen. 


und ⸗Streben. 251 
Die Biete ift vorläufig feftgelegt: für einen 
Flachftuhl auf wöchentlich 1 M., für einen Hoch 
ı ftuhl wöchentlich 0,60 M. Die Schule Liefert alle 
Materialien und Webegerätfchaften gegen einen 
den Selbfttoften entſprechenden Preiß. 
Auswärtigen Schülerinnen wird bereitwilligft 
N durch ben „Schleswig Holſteiniſchen Verein zur 
Förderung der Aunft: und Dausweberei“ Kiel, 
Preußenftr. 19, Frau (eheimrat Selig, Bor 
figende, bilfige Unterkunft verſchafft, ebenfo find 
| von dort Brofpette zu bediehen. 


u 


Tranenleben 


Raberud mit Quellenangabe erlaubt. 


* Zum Arbeiterinsenfhung find unter den 
ſozialpolitiſchen Anträgen im Reichstag von der 
fozialdemotratifhen Partei bie folgenden 
eingebradit: In Bezug auf die Gewerbegerichte 
wird u. a. gefordert, daß ben Arbeiterinnen das 


attive und paffive Wahlrecht gewährt werben fell. ' 


Im Bezug auf dad Recht der Berfammlung und 
Bereinigung und bad Hecht der Noalition wird 
gefordert: $. 1. Die Reichdangebörigen ohne 
Unterfchied des Geſchlechts haben das Necht, fich 
zu verfammeln. 8. 2. Tie Reihsangehörigen ohne 
Unterfejied des Geſchlechts Haben das Recht, Vereine 
zu bilden. In Bezug auf die Gewerbeinſpektion: 
Weibliche Beamte und Beigeordnete find entſprechend 
der Zahl der in den Betrieben beichäftigten 
weiblichen Silfsperfonen anzuftellen bezw. zu 
mählen. — Es ift gewiß bedauerlich, daß viele 
Forderungen, bie mit denen ber ‚Frauenbewegung 
übereinftimmen, nur von der ſozialdemotratiſchen 
Partei erhoben werben, und dic fogenannten 
liberalen Parteien, die naturgemäß bie größte 
Stüge für die Frauenbewegung jein müßten, nur 
in fehr feltenen Fällen ihr gegenüber ihre Yiberalität 
bethätigen. 

* Auf der Weihnachtsmeſſe des Vereins der 
Künftlerinnen, Berlin, hat Geheimrat Mießner 
nachſtehende Gegenftände für den Kailer an 
getauft: Etagere ven Paula Bonte, einen Blot 
von Fr. d. Bibra, eine Vaſe von Hedwig v. d. Groeben, 
Bildchen von Marie v. Keudell, Bücheritänder von 
Sina Hraufe, Teller von Marie v. Tlier, zwei 
Briefmappen von Clara Lobedan, eine Etagere von 
S. L. Schlieder. 

* Die Abteilung Berlin des Nereins 
„srauenbildung — Frauenſtudium“ läßt 
Oftern 1901 einen privaten Gymnaſialzirtel für 
12 jährige Mädchen mit 7 jährigem Aurfus in den 





und -Streben. 


{ Räumen der Veogeler ſchen Schule, Burggrafen 
ftraße 17 ins Leben treten. Die Leitung des 


Ziriels wird Frau MWenfheider: Ziegler, 
| Dr. phil, übernehmen. 
* Die Agitation für die Reihratöwahlen, 





die die öſtreichiſchen Frauen in Ausſicht ftellten, 
| Hat mit einer großen öffentlichen Frauenverſammlung 
am 23. November in Wien begonnen, in der einige 
für den Reichsrat aufgeftellte Kanditaten der frei: 
finnigen Parteien ihre Progranıme entwidelten. 
Der Umftand, daß die Frauen ihr Intereffe an 
der Politit ihres Landes zum Gegenftand einer 
öffentliden Temonftratien maden und in 
organifiertem Worgehen bethätigen, daß ferner bie 
Kandidaten der Parteien durch ihr Erſcheinen zeigen, 
daß fie Wert auf dieſes Intereſſe und diefe Arbeit 
legen, ift entfchieden in der Geſchichte der öftreichifchen 
Frauenbewegung ein erfreulicher Fortſchritt. Eine 
andere Frage ift es, ob bie Ausführung der 
Temonitration, die Rejolution, die gefaßt wurde, 
ein taftiich richtiger Schritt war. Man lich die 
betreffenden Partei-Nandibaten ibre Barteiprı 
entwideln und faßte den bereits in der Eri 
rede der Einberuferin, Fräulein Ficert, 





an: 
gebeuteten Beſchluß, in der fünften Kurie für die 


Zozialdemotraten, in ber Städtecurie für bie 
Soialpolititer einzutreten, ohne damit bie eigene 
„bofitiihe Criginalität" aufzugeben. Maßgebend 
für diefe Entſcheidung war die Thatſache, daß nur 
von diefer Zeite für die Frauenſache Unterftütung 
zu erwarten fei. Der veitartifel, in dem bie 
„Dotumente der Frauen“ die Verſammlung 
behandeln, weiſt darauf hin, daß entſchieden eine 
untlarheit darin liege, die Kandidaten zur Er 
örterung ihrer politiſchen Anſichten aufjufordern 
und nachher dieſe politiſchen Anfichten für die 
Refolution gar nicht in Betracht zu ziehen, ſondern 





„Arbeiterhanshaltungdbüpget3 aus dem deut · 
{chen Buchdruckergewerbe.“ Bon Dr. W. Abels: 
dorf. (Tübingen. ©. Laupp, Druderei) Unter: 
ſuchungen über Haushaltungsbüdgets von Arbeiter: 
familien gehören zu den wichtigften Hilfsmitteln bei der 
Erſorſchung und Feftftellung der Xebensbebingungen 


der Arbeitertlaffe. Die vorliegende Beine Schrift | 


iſt beſonders deshalb intereſſant, weil fie nicht die 
Büdgetd von Arbeiterfamilien an einem Orte ver: 
öffentficht, fondern Xuffchluß über bie Einnahmen 
und Ausgaben einer der beftgeftelltejten Arbeiter. 
tategorieen in den verſchiedenen Teilen des Yandeö 
giebt, nämlih von Arbeitern bed Buchdruder: 
gewerbed in Münden, Stuttgart, Karlsruhe, 
Seidelberg, Schwetzingen, Meg, Berlin, Hamburg, 
Leipzig, Bromberg. Die zahlreichen forgfältig 
gearbeiteten Tabellen zeigen, daß jelbft bei dem 
für Arbeiterfamilien verhältnismäßig hohen Ein: 
tommen (dad Durchſchnittsverdienſt der befragten 
Arbeiter ftellt fih auf 16,77 Mart jährlih) nur 
bei fparfamfter Wirtſchaftsführung ein Durchtommen 
möglid ift. &o haben die meiften aus 4 Berfonen 
beftehenden Familien ein monatlihes Nonte von 


ungefähr 60 Mark für Lebensmittel, d. b. von | 


50 ®f. pro Perjon und Tag. 
Die Ausgaben für Wohnung betragen faft 
überall Y/,—'/; des Gefamteinfommeng der Familie; 


bemerlensowert ift dabei, daß ein Berliner Druder . 
genau den doppelten Betrag für feine Wohnung | 


audgiebt tie ein Setzer in Meß, trogbem die Zahl 
der bewohnbaren Räume die gleiche ült. 





| Wortes der Empfehlung mebr. 


Die Heine Brofgüre Tann den Frauenvereinen! die | 
ſich mit der Arbeiterfrage beicäftigen wellen, zum ! 


Studium warm empfohlen werden; fie enthält ein 
reichhaltiges Thatſachenmaterial in fnapper Form 
und überfichtlicher Darftellung. Sie ift auch geeignet, 


die Anregung zur Führung von Haushaltungsbühgets : 


zu geben, und es bürfte deshalb für bie Mitglieder 
von Frauenvereinen, die Fühlung mit Arbeiter: 
familien haben, angebracht fein, die Heine Schrift 
zu verteilen und an der Hand derfelben auf bie 
Führung eines Ginnahmen: und Ausgabenfontos 
hinzuwirken. 

Die erziehlihe Witkung einer gewiſſenhaften 
Buchführung würde fib in befferer Verteilung ber 
Ausgaben auf das ganze Jahr ſchon nah kurzer 
Zeit bemerkbar madjen; dadurch würde in vielen 
Fällen der Hleine Krebit, der den Preis der Waren 
erhöht, entbehrlich. Wie wenig in Arbeitertreifen 
auf ſolche kleinen Hilfsmittel einer geordneten 
Wirtfhaftsführung Wert gelegt wird, betweift der 
Umftand, dab Leine der Arbeiterfamilien, deren 
Büdgets in der Arbeit mitgeteilt werben, vor ber 


i bes 


253 


Aufforderung des Berfaflers über Einnahmen und 
Ausgaben Bub führte. Je weniger Verftänbnis 
aber bie Arbeiterfrauen, die nur allzu oft ſchon 
mit Arbeit überlaftet find, für derartige Aufgaben 
haben, defto notwendiger ift es, fie mit dem Wert 
derſelben befannt zu machen. 


„Geſchichte der Bädagogif umd des gelehrten 
Unterrichts‘ im Abrijje dargeftellt von Dr. Erwin 
Raufd. Leipzig, 1900. A. Deicertihe Verlags: 
handlung Nacht. (reis broſch 2,4 Bart, elen. 
geb. 2,80 Dart.) Tas Yuch, beitimmt Studierenden 
höheren Lehramts das Wictigfte aus der 
Gefchichte der Pädagogik zu bieten, zeichnet ſich 
vor manden andern ähnlichen durch Burze, Marc 
Faflung, durch präzife und überfichtlihe Darſtellung 
der Richtungen und Spfteme vorteilhaft aus. Es 


| beruht mebenbei auf einem gründlichen Stubium 


der neueften vitteratur auf diefem Gebiet und. tft 
jebent zu empfehlen, der zu eingehenderen Stubiunt 
feine Zeit und Neigung bat und doch über die 
Hauptfragen orientiert fein möchte. 


„Heinrich Seidels erzähfende Schriften.“ 
«Eriheinen vollftändig in 53 Lieferungen zu 40 Bf., 
alle 14 Tage einctieferung. Stuttgart. 3. ©. Cottaſche 

9.) Die eben 
en ben 






. Band der „Beimatgeihic : 
Shluß. Wer fie tennt, für den bedarf do feines 
Wer fie in ber 
neuen Ausgabe zum eritenmal_ lieft, den wird 
ber eigentümlidhe Zauber Seibelicher Pocfie, der 
Zauber liebenswürdiger, friſcher und reiner, ge: 
nügiamer Aleinmalerei auch in ihnen wieder ge: 
fangen nehmen, und jo werden dieſe neuen 
xieferungen dem Unternehmen bed Verlags die 
alten Zreunde erhalten und neuc gewinnen. 


„Ingenieur Horftmann.“ Roman von Wil 
heim Hegeler. (Berlin 1900. 3. Fontane u. Co.) 
Hegelers neuer Roman ift cin fehr ſpannendes 
Bud, und die Charaktere find mit ſcharfen Pinien 
getenngeichnet — damit find aber auch die Vorzuge 
des Romans erſchöpft. Heillos oft geht bie an 
fih {harfe Charatteriftit in Karitatur über, pinbe: 
logifce Motivierungen fehlen gerade da, wo fie 
am wenigften fehlen dürften, und fänftiglich gleitet 
die Sandlung aus dem Gebiet des Wahrfchein- 
lichen in das des Senſationellen üben Rein 
litierariſch beurteilt macht Hegeler in feinem 
neuen Roman einen etwas „Iteden gebliebenen“ 
Eindrud. 





Volitit und Frauenbewegung. 259 


Punkt zu dem entfcheidenden gemacht: Die bürgerliche Frauenbewegung beichließt, in 
der fünften Kurie für die Sozialdemokraten, in der Städtelurie für die Sozialpolitifer 
zu arbeiten, in erfter Linie, weil fie fi dadurch den größten Erfolg für fich ſelbſt ver- 
ſpricht. Diefe Refolution if, ſoviel mir befannt if, von allen folgenden Wahl- 
verfammlungen bekräftigt. 

Der Außenftehende Tann ſich des Zweifels nicht enthalten, ob die Verquidung 
diefer beiden Ziele: Frauenrechte und politifcher Einfluß — eine glückliche und durchführ⸗ 
bare if. Wie vereinigt die bürgerliche Frau, die nicht Sozialdemofratin ift und 
deshalb von der fozialdemokratifchen Politit das Wohl ihres Landes nicht erwartet, 
ihre Arbeit für die Kandidaten diefer Partei mit ihrem politiſchen Gewiffen? Und 
andrerfeitd — der Klerikalismus ift die ungeheure nationale Gefahr in Oſterreich; daß 
fie als ſolche empfunden wird, zeigt die Schärfe, mit der in den „Dokumenten ber 
Frauen“ felbft der Kampf gegen die Chriſtlich-Sozialen geführt wird — fie ift eine nicht 
eben gewählte, aber jedenfalls gebotene Nutzanwendung ber Wahrheit, daß auf einen 
groben Klotz ein grober Keil gehört — ob es angeſichts einer ſolchen nationalen Gefahr 
richtig ift, feine Arbeit an Bedingungen zu Inüpfen und durch Bedingungen zu befchränten? 
Frauen mit ftarfen politifchen Überzeugungen werden da am leiftungsfähigften fein, 
wo fie ganz für diefe Überzeugungen arbeiten dürfen, und es ift unter allen Umftänden 
ein bedenklicher Weg zu Gunften der Frauenrechte auf die Gefeggebung einzuwirken, 
wenn man feine Arbeit an ben Meiftbietenden verkauft und babei feine „politifche 
Driginalität” wahren will. 

Der Konflit, in dem die Öfterreichifche bürgerliche Frauenbewegung fi in ihrer 
jungen politiihen Arbeit begeben mußte, ift ein notwendiges Stadium der Frauen: 
bewegung aller Länder, beſonders derer, die feine feminiftifche Partei in ihrem Parlament 
haben. In England ſchwebt die Frage: Women’s Suffrage a test question? heute 
noch. Aber man hat fie dort ganz anders, gabe entgegengefegt, behandelt. 

Es ift ein harakteriftifcher Zug der englifchen Frauenbewegung, daß fie von dem 
Augenblid an, da Anna Jamefon mit ihrem berühmten Brief an Lord Ruſſell den 
Heinen beftehenden Anfängen eine ganz beftimmte Richtung wied, die Gemeinſamkeit 
der Intereffen und der Arbeit von Mann und Frau vor allem betont, ja die 
Anerkennung diefer Gemeinfamteit als ihr Ziel aufftelt. Der Ausdrud „Frauenrechte” 
iſt von Anfang an verpönt und wird von ben Führerinnen felbft immer wieder 
abgelehnt. In der duch John Stuart Mil geichaffenen Frauenftimmrechtsbewegung 
fpielen politifche Überzeugungen noch gar keine Role. Bon dem Moment aber, da 
die Frauen in den achtziger Jahren an der großen nationalen Politik teilzunehmen 
beginnen, gründen ſich Parteiorganifationen: Die große Women's Primnrose-League 
und die Women’s Liberal Association, von ber ſich fpäter, durch die Irland Politik 
Gladftone’3 veranlaßt, die Unionist Association abzweigte. Diefe Parteiorganifationen 
beftehen volllommen geſondert neben den Stimmrechtävereinen, fie haben mit der Frauen: 
bewegung als folder nichts zu thun. Für die Primrose-League gilt das bis heute, 
fie ift ein Zweig des fonfervativen Verbandes der Männer und bat feinerlei Sonder: 
ziel. In der Women’s Liberal Association liegt die Frage etwas anders. Gie 
wurde gegründet zur Vertretung und Verbreitung liberaler Grundfäge. Damit ift die 
Bugehörigfeit zu dem Bunde auf eine ziemlich breite Baſis geftelt, denn der Begriff 
„liberal“ läßt neben feinem Hauptinhalt: Home Rule, allgemeines Stimmrecht, Reform 
des House of Lords noch Raum genug für meitere Forderungen. Eine folde 

17° 


_ 


260 Politik und Frauenbewegung. 


Forderung konnte und follte — nach Anficht vieler Mitglieder de Bundes — daB 
Frauenftimmrecht fein. Es fchien in der Konfequenz einer der Hauptforderungen des 
Liberalismus: allgemeines Stimmrecht, zu liegen und konnte um jo eher von ber 
liberalen Frauenliga als ein Punkt ihres Liberalen Programms aufgenommen werden, 
als man fich nicht verpflichtet hatte, nur das zu vertreten, wofür fich bie liberalen 
Männer bereit? als Bartei erklärt batten. So ftellte man ſchon bei der Gründung 
der Liga neben den erften, Förderung liberaler Prinzipien, einen zweiten Hauptpunkt 
in das Statut: gerechte Gefeßgebung für Frauen und Kinder und Wahrung ihrer 
Intereſſen. Bon Anfang an aber und durch alle Jahresverfammlungen der nächſten 
Zeit hindurch wird um diefen Punkt geftritten. Es fcheidet fich die fogenannte „fort 
jchrittliche” von der „Antiftimmrechtöpartei”. Dan darf fi dieſe Gegenfäte aber 
nicht zu fcharf denken. Sie find weniger fachlicher als taktifcher Art. Perjönlich 
vertritt jedes einzelne Mitglied der Untiftimmrechtöpartei durchaus die Forderung des 
Frauenftimmrechts, nur als Partei, aus taktifchen Gründen, um die Gefchloffenheit der 
politiichen Aktion des Bundes nirgends zu gefährden, lehnt man es ab, das Frauen⸗ 
ftimmrecht zu einem Programmpunkt der Women’s Liberal Association zu machen. 
Andrerfeitd will die „Fortichrittliche Partei” das Frauenſtimmrecht nur als einen 
Punkt neben den ſchon genannten anderen aufgenommen wiſſen, ohne aber eine „test 
question“ daraus zu machen, d. 5. die Zuftimmung zu diefem Punkte zur Bedingung 
für die Zugehörigkeit zum Bunde zu machen oder fie im einzelnen Falle ala entjcheidend 
dafür anzujehen, ob man für einen liberalen Kandidaten arbeiten wolle. 

Mehr als ein Jahrzehnt ift über diefer „Suffrage Controversy'‘ in ber 
Women’s Liberal Association dabingegangen, ein Jahrzehnt Fraftwoller, uneigennügiger 
Arbeit für Home-Rule, Welsh disestablishment, und General Suffrage. Die 
Women’s Liberal Association ift eine Macht geworden in der Zeit. Sie zählt 
448 Zweigvereine und 57488 Mitglieder. Sie fonnte nun das Frauenftimmrect 
zu einem Punkte ihres Programms erheben, wohl verftanden, zu einem Punkte neben 
den andern, der als einzelner ebenfo wenig Gegenftand einer test question werben 
fonnte, als eine andere einzelne liberale Reform. Seitdem hat aber die nationale 
liberale Federation der Männer zweimal eine Refolution zu Gunften des Frauenjtimm- 
recht? gefaßt. Nun erft wird die Frage, ob jeßt nicht der Zeitpunkt gefommen jei, Women’s 
Suffrage zur test question zu machen, zur Diskuffion geftellt. Auf den legten Jahres: 
verfammlungen 1899 und 1900 wurde eine Refolution eingebracht, „daß nach Anficht 
der Generalverfammlung bei Wahlen fein Parlaments-Kandidat irgendwelche Unter: 
ftügung von feiten der Frauen erfahren follte, wenn er nicht als Freund bed rauen: 
ftimmrechtes befannt fei.” Die Refolution wurde aber abgelehnt, und eine andere an- 
genommen, die verlangt: „daß feine einzelne Frage im Programm der Women's 
Liberal Federation zur „test question“ dafür gemacht werden folle, ob ein 
liberaler Kandidat die offizielle Unterftügung der Federation erhalten folle oder nicht.” 
Die Begründung diefes Antrags ift fo charafteriftiih für die Auffaffung des Ver: 
bältniffe® von Politif und Frauenrechten bei den liberalen Frauen, daß ein paar 
Säße daraus bier im Wortlaut ftehen mögen: 

„Diele von uns haben ein ſtarkes Sntereffe für irgend eine bejondere Reform, 
aber unfere Hingebung für den Liberalismus follte fo ftarf fein, daß wir und weigern, 
einen Kurd einzufchlagen, der den Erfolg unferer liberalen Kandidaten ſchwächen 
würde. — — Al treue Anhänger unferer liberalen Prinzipien müflen wir uns gegen alles 





Politik und Frauenbewegung. 2861 


verwahren, was dazu führen könnte unfere Sache zu ſchwächen, und ich frage die hier 
verfammelten Frauen, ob es je eine Zeit in unferer politifchen Gefchichte gegeben hat, 
wo es nötiger war, daß mir bad ganze Gewicht unſeres Einfluffes in die Wagichale 
werfen zu Gunften der Männer, die wir wahre und eifrige Liberale nennen können, 
ſelbſt wenn fie nicht in jedem Punkte mit uns übereinflimmen. — — Laffen Sie 
unferen Liberalismus fo ftark fein, daß wir unfern eigenen befonderen Wunfch beifeite 
fegen im Intereſſe der allgemeinen Einigkeit der liberalen Partei, denn aus unferer 
Uneinigeit würde unfere Unfähigkeit folgen, zufammenzuarbeiten, fie würde und als 
einen Bund liberaler Frauen ſchwächen, und ſchwächen würde fie unfere Sache und 
die Förderung liberaler Prinzipien.” 

Auch in den Reihen der eigentlichen Frauenflimmrechtövereine wird diefe Taktik 
durchaus gebilligt. Mir ift wiederholt die Anficht entgegengetreten, daß erft, wenn 
einmal zu irgend einer Zeit feine Reformfrage von nationaler Bedeutung durch ben 
Ausfall der Wahlen nach der einen oder anderen Seite zu beeinfluffen fein würde, 
daß dann erft bie Frauen die Erfüllung ihrer eigenen Forderung zur Bedingung ihrer 
Bahlarbeit machen dürften, dab dann erſt Woman Suffrage eine test question 
werden dürfe. Dann aber wird das ganze Gewicht ihrer durch Jahrzehnte gereiften 
politifchen Thätigkeit, ihres in Jahrzehnte Langer jelbftlofer Mitarbeit bewieſenen 
politifchen Ernſtes dieſem Mittel den Erfolg fichern. 

Man fcheint in Oſterreich mit dem beginnen zu wollen, womit man in England 
aufgören will. Ich glaube, daß die Erfolge der englifchen Frauenbewegung auf 
politifchem Gebiet ein ſtarker Beweis dafür find, daß ihr Weg der richtige war. Aber 
vieleicht gehört die Erziehung einer Jahrhunderte alten parlamentarifchen Verfaſſung 
dazu, um die Frauen eines Volles für diefen Weg fähig zu machen. 

Es wird nicht lange mehr dauern, dann wird die deutſche Frauenbewegung in 
das Entwidlungsftadium treten, dem fie jegt in Öfterreich zufehen darf. Wie wird fie 
darin beftehen? Wir haben ja fo viel Muße, die Sache theoretiich kennen zu lernen, 
wird man bie Früchte unferer Muße nachher in unferer Arbeit erkennen? Ich bin 
nicht fier, ob bie beutfche Frauenbewegung bie ruhige Zurücdhaltung der engliſchen 
Stimmrechtsbewegung in ihrer politifchen Arbeit durchweg innehalten wird. Es giebt 
gerade da, wo mit „politiſchen“ Intereſſen etwas Dftentation getrieben wird, jetzt 
ſchon allerlei Symptome, die den Zweifel daran rechtfertigen. 

Das ftärkfte ift die geringe Veranfchlagung der „gemeinnügigen Arbeit” gegen= 
über der Agitation. Ihr liegt diefelbe Einfeitigfeit zu Grunde, wie ber als unreif 
verpönten test Politik in England, dasfelbe rüdficht3lofe Beſtehen auf feinem Schein, 
was auch darüber ungelhan und ungefchehen bleiben möge; fie ruht wie bie test: 
Politik der politischen Frauenvereine auf der begrenzteren Bafis der „Fraueninterefjen”, 
während auch die Fortichritte der Frauenbewegung nur auf ber breiten Grundlage 
der „Volksintereſſen“ zu erreichen fein werden. 


nn 


262 


Ans der Berliner Koſtümſchneiderei. 


Von 


Karl Boyridt. 


ILL IL ELLI NIS 


Nachdruck mit Duellenangabe geitattet. 
Zu und Blüten; zwar nicht draußen in ber Natur, aber im bellerleuchteten 
* Ballfaal der Haute:volee und Finanz. Die Empireform und Pelzverbrämung 
find e8, die, neben reichlihem Gold: und Perlmutterflitter, das Feld der Beutigen 
Winters, beffer gejagt Ballmode beberrfchen. 

In der Fülle elektrifchen Bogen: und Glühlichts ſchweben fie, die Glüdlichen, 
dahin, eingehüllt in eine Woge von Tül und Chiffon, Duft und Glan. Was 
fünftlerifches Können nur vermag, ift bier gegeben, um das Gute mit dem Schönen, 
das Praktiſche mit dem Zierenden zu verbinden, um jo, in der Harmonie der Farben, 
in ben Schwingungen des Körper? und jeinen Linien, ein Bild von unendlichen 
Liebreiz zu jchaffen. 

Wer arbeitet aber auch nicht alles an diefen feenbaften Werfen! In allem 
Anfang die Mutter Erde und ihre Befteller,; ber Schaf: und Seidenraupen- Züchter, 
der Deutfche, der Chinefe und fo fort. Und dann weiter der Spinner und Weber 
zur Herftellung des Stoffes; der Künftler im Entwerfen der Modelle; Schneider und 
Schneiderin in der Verarbeitung des Stoffes zu dem, was die Leute macht; felbft 
der Maler fehlt nicht, und auch der Metall-Arbeiter bietet in Schnallen und Gürtel: 
ſchlöſſern jein Beſtes. Ein herrlicher Anblid, diefe großen Schlöffer und Schnallen 
aus Stahl und anderen orhdierten Metallen im Lichte funkeln und bligen zu fehen! 
Und doch bildet dies alles nur erft die eine Hälfte der Koftümfchneiderei, die, wie der 
fachliche Ausdrud lautet „franzöfifche Branche”. Neben dem Franzofen der Engländer; 
neben Spigen, Tül, Chiffon und Bändchen ber gediegene engliiche Stoff; neben 
duftigen Balltoiletten die einfache aber gediegene Arbeit der Konfeltion der Straßen: 
bekleidung, furz neben der franzöfifchen die englifche Branche. 

Hierzu ein paar Worte! Als um das Jahr 1880 die englifhe Mode bei uns 
Eingang fand, das beißt, jene Kleidung, die eng den Körper umſpannt und in ihrer 
Art und Verarbeitung der Herrenkleidung nahe fommt, die ohne jeden Fylitter, nur 
durch Sig und gediegene Arbeit, die Vornehmheit der Trägerin befundet, eröffneten 
fh bier in Berlin die erften Atelier, um den Wünfchen nach diejer Kleidung gerecht 
zu werden. Hatte biöher das weibliche Element den Belleidungsmarft für dad eigene 
Geſchlecht behauptet, jo hörte dies nunmehr auf. Die englifche Branche machte 
ftärfere Hände und exaktere Ausbildung notwendig und beſchränkte die weibliche 
Arbeitskraft auf Haus-, Ball-, Hochzeitstoiletten u. |. w., während bie feine Konfeltion 
— GStraßenbelleidung — an die männlichen Arbeiter überging. 

E3 dürfte intereflant fein, einmal einen Blid in das Leben und Treiben diefer 
„Arbeiter-Künſtler“, wie fie fich nennen, zu werfen, um im Anfchluß daran den Ent: 
widlung®gang der engliichen Branche zu ſchildern. Wie ſtets bei neu auftauchenden 
Moden oder Erwerbszweigen, fehlten, ala Mitte der achtziger Jahre die englifche Mode 
immer mebr der Herrichaft zuftrebte, die hierfür qualifizierten Arbeiter, und jo fam es 
denn, daß die Geichäfte, um ihre Kundſchaft zufrieden zu ftellen, fich Arbeiter aus aller 
Herren Länder verjchreiben ließen und ihre Werkitätten zu einem Sammelpunlt der 
verfchiedeniten Sprachen machten. England, bejonderd aber da® Land der „ſchwarz⸗ 





Aus der Berliner Koftümfchneiberei. 268 


gelben Grenzpfahle“, ſchickte feine Söhne, die fih wiederum alle für „echte Wiener“ 
ausgaben, nach Deutichland. . Wien, wo die englifche Mode etwas früher Fuß gefaßt 
hatte, war gewiflermaßen der Lehrmeifter in der Biefigen, ja ich darf wohl jagen 
deuiſchen Koſtumſchneiderei“, und noch jet ift die Wiener Herkunft bei Gefellen und 
Meiftern ein gutes Aushangeſchild. Neben diefen „echten Wienern“ und all ben 
anderen Nationen, find «8 dann noch Hauptfäclih die Böhmen, die ein großes 
Kontingent zur Arbeiterfchaft der Koſtümbranche ftellen und bie, ihren Weg über 
Bredlau, Dresden, Frankfurt a. M. nehmend, nad Berlin kommen, um bier, nad 
Srlernung der deutſchen Sprache, von den „goldenen“ Früchten ihrer künſtleriſchen 
Bethätigung zu leben. Aber auch die Zahl der deutſchen Arbeiter ift, beſonders 
innerhalb der legten fieben bis acht Jahre, bedeutend gewachien und fteht, was bie 
Qualität ihrer Leiſtung betrifft, Hinter den Angehörigen feiner anderen Nation zurüd. 

Wie alle Erwerbäzweige, die ihren Mann ernähren, breitete ſich auch die Koflüm- 
branche immer mehr aus; zu dem Handwerker - Künftler kam der Kaufmann, 
aus befcheidenen Atelier3 wurden große, mit allem Komfort der Zeit außgeftattete 
„Modeſalons“, und während, zum Teil durch eine eigenartige Verſchmelzung der 
englifhen und franzöfifchen Schneiderei, die Anfprüche an dad Können der Gehilfen 
und Meifter beftändig ftiegen, machte fi in den Lohn: und Arbeitöverhältnifien ein 
beftändiger Rudgang bemerkbar, der allerdings durch ein Überangebot von Arbeits- 
träften weſentlich erleichtert wurde. Man hatte Kapital in dad Unternehmen geftedt 
und wollte nun nicht nur verzinfen, fondern auch und möglichſt ſchnell amortifieren, 
von dem Gewinn und der möglichft glänzend in Rechnung geftelten Arbeitskraft der 
Unternehmer ganz zu ſchweigen. 

&o kam es, daß die Löhne, die fi anfänglich auf 40—45 Mark pro Woche 
beliefen (die Höhe derſelben ift, angeſichts ber Außerft langen Zeit der Arbeitzlofigkeit 
und der an den Koftümfchneider berantretenden Anſprüche — die Koftümfchneider 
werden vom Berliner Magiftrat als Kunſthandwerker eingeſchätzt — keineswegs 
bedeutend) ftatt mit der Zeit, die Miete und Lebensmittel im Preife bedeutend erhöhte, 
zu fteigen, beftändig ſanken. Die Arbeitszeit wurde ausgedehnt, die für den Arbeiter 
fat unmögliche Stüdarbeit eingeführt, und das alles, obwohl die Anfertigungspreife 
— das Facongeld — mit der Zeit abfolut mitgingen und fih am Steigen wader 
beteiligten. 

Da kam mit dem Jahr 1896 das gewaltige Drama in ber Lagerfonfeltion, das 
den Koftümfchneidern den Weg der Selbfthilfe wies. In der Erkenntnis, daß es fo 
wie biöher nicht weiter gehen könne, verlangten fie von der Unternehmerfchaft den 
neunftündigen Arbeitötag, den fie durch einmũtiges Zufammenhalten denn auch erhielten. 
In den nun folgenden Jahren war es befonder die feiner Vereinbarung oder richtiger, 
der freien Vereinbarung zwiſchen „PBrinzipalen und Gehilfen” unterliegende Lohn: 
zahlung, die fortwährend Stoff zu Konflikten lieferte. Diefen durch Aushängen eines 
Tarif, wie er in anderen Berufen ſchon vorhanden, zu befeitigen, wurde im vorigen Jahre 
befchloffen. Da dieſes Verlangen von der Arbeiterjchaft geftellt wurde, ftieß es, obwohl 
die im Tarif feftgelegten Löhne — 40 Mark im Höcftfall — keineswegs über bie 
bereit3 bezahlten binausgingen, auf den heftigfien Widerftand der Unternehmer. Als 
diefe den Tarif und feine Ausbängung fchließlich doch anerkannten, kam es zur Ein- 
führung der Hausinduſtrie- und Heimarbeit mit al den Gefahren für bie 
Kundſchaft und mit all dem Elend und der Not für die Arbeiter, die dieſe mit fi) bringt. 

Zur Charakterifierung diefer Art Produktion ein paar Worte aus den Reichstags: 
verhandlungen des Jahres 1896 zur Zeit des großen Konfeltiondarbeiterausftandes. 
Damals füßcte der Interpellant der nationalliberalen Partei Freiherr Heyl zu Hernsheim 
aus: „Die Arbeiterinnen lehnen fih auf, und wie ich glaube mit einem gemwiflen 
Recht, gegen die Ausbeutung diefer „sweater“, welche in ganz Europa als ein Krebs⸗ 
heben „merkannt find am Leben und an ber Thätigkeit diefer hausinduſtriellen 

tbeiter”. 

Und wie der Interpellant, fo die Redner aller übrigen Parteien. Selbft die 
Antwort der Regierung verhält fih durchaus zuſtimmend. Vom Staatsſekretar des 


264 Aus der Berliner Koftümfchneiderei. 


Innern Freiheren von Bötticher wird die Beleitigung der heregten Zufände, die er 
als eine der „Ichlimmften Wunden” unferes toirtichafttichen Lebens bezeichnet, allen 
Baterlandäfreunden zur dringenden Pflicht gemacht. 

Aber auch der Kundfchaft ermächft durch Verlegung ber Arbeit aus den Werf- 
ftätten der Gejchäfte in die Hausinduftrie und Heimarbeit eine immenfe Gefahr, und 
zwar liegt diefelbe in der Übertragung von Krankheiten durch in ber Hausinduftrie 
bergeitellte Kleidungsftüde. Auch Hierüber bietet die Debatte reichliches Material'). 


Sp führte unter anderem der Abgeordnete Filcher aus: „Denn, meine Herren, 
diefe Sweaterſtuben find ja nicht bloß Wohn:, Schlaf: und Arbeitsftuben zugleich, fie 
aA zugleich auch noch Krankenaſyle, man kann fagen, fie find die Brutftätten typhöſer 

pidemieen.“ 

Auch andere Autoritäten äußern ſich ebenſo. So ſagt der Kaſſenarzt und Kreis⸗ 
phyſikus Dr. Knopf in Weimar: „Auf Ihre Anfrage, betreffend die Übertragung von 
Krankheiten durch Kleider, möchte ich erwidern, daß folche viel häufiger geſchieht, als 
gewöhnlich angenommen wird. Insbeſondere möchte ich nicht bezweifeln, daß eine 
MWeiterverbreitung von anftedenden Krankheiten, 3. B. Diphtherie, Scharlach, Schwind⸗ 
ſucht, Mafern u. ſ. mw. leicht aus den Stuben folcher Schneider, deren Räume zugleich 
als Arbeitz:, Wohn:, Krankenzimmer und Kochraum dienen müflen, ftattfindet.” 

Und ein anderer Arzt jchreibt in Ddiefer Beziehung, wie die Brofchüre des 
Fl. Oda Olberg citiert: „ch erachte die Übertragung von Krankheiten durch Stoffe, 
die mit erkrankten Perſonen in längeren Kontaft gefommen find, für möglich bei 
folgenden Krankheiten: Diphtherie, Rofe, Scharlah, Mafern und allen afuten 
Exanthemen, bei Phthiſis, und zwar hier, weil jede hygieniſche Vorfchrift außer acht 
gelafien zu werden pflegt, und auch bei Syphilis im Stadium der Eiterung, falls 
diefer Eiter die Stoffe berührt.“ 

Alles dies würde auch in der Koftümbranche die Frucht fein, wenn die Hauß- 
induftrie noch weiter zur Einführung gelangen würde. Daß dies in ber Abficht der 
Unternehmer liegt, wurde mir von einem Arbeiter, der mit, dem Vorſitzenden des 
Arbeitgebervereind über diefe Frage verhandelte, verbürgt. Schon jegt bat die Haus: 
induftrie bedeutend zugenommen; Gejchäfte, die bis vor furzem 25 und mehr Arbeiter 
beichäftigten, haben deren jett noch 6—7, während alle andere Arbeit in der Haus: 
induftrie angefertigt wird. Und wer bat ein Intereſſe an ber Einführung der Haus: 
induftrie und Heimarbeit? Eine kleine Gruppe von Unternehmern, während bie 
Gefundheit der Kundjchaft und die Wohlfahrt einer großen Arbeiterichaft dringend bie 
Befeitigung der Hausinduftrie fordert. 

Und darum muß im Intereſſe einer Kundjchaft, die für ihre Garderobe Preife 
bezablt, welche die Anfertigung bderjelben in eigenen und gejunden Räumen geftatten, 
im Intereſſe eines intelligenten Arbeiterftandes, im Intereſſe und zur Wohlfahrt aller 
Beteiligten die Parole aller Kundſchaft: Herftellung der Garderobe in den eigenen 
Werkftätten der Gejchäfte fein. 

Denn: „Sch möchte mir zu bemerken geitatten, daß der Kampf gegen das 
sweating-Cpftem in ganz Europa aufgenommen ift, daß man in allen Kulturftaaten 
es al3 eine ernite Aufgabe aufgefaßt Hat, das sweating-Syſtem vollftändig aus: 
zurotten.” (Freiherr von Heyl zu Hernsheim im Reichätage.) 

Doch weder der Streik der Konfeltiongarbeiterinnen im Sabre 96 noch all bie 
Ihönen Reden des Interpellanten und Negierungdvertreter® haben auch nur das 
Geringfte genügt. Eine Verordnung des Bundesrats vom Sommer 97, die für die 
weiblichen Arbeiter die tägliche Arbeitszeit auf 11 Stunden feitießte, bat die Arbeit 
nur noch mehr in dad Heim der Arbeiter und Arbeiterinnen verlegt, wo man aus 
der 11 bequem eine 14, ja 18jtündige Arbeitszeit machen kann. 


) Es Sei bier auch an die bekannte heftige Erkrankung eines engliſchen Lord-Mayors durch ein in 
der Sausinduftrie bergeitellte® Uniformſtück erinnert. Wie erwieſen, tft mit demfelben ein an Scharlady 
erkranktes Kind zugededt worden. 


Lebensbild. 265 


Und wie in der Konfektion, fo in der Koftüm-Brande! Helfen kann Hier allein 
eine fih immer mehr außbreitende Erkenntnis von der Schäblichkeit der Haus: und 
Heimarbeit, die, weit davon entfernt, die Familie zu erhalten, die Familie untergräbt; 
die v das Nolmenbigfte zur Führung eines Heims, eben dad Heim, nimmt, die aus 
der ſchon fo Meinen Wohnung des Arbeiters eine vom Arbeiter für den Unternehmer 
zu bezahlende Werkftatt macht und der Familie die Ruhe und den Frieden taubt. 

Bor mir liegt das Januarheft der „Frau“ vom vorigen Jahr, wo Dr. W. Bode: 
Weimar in einem trefflichen Artifel „Sozialpolitifche Kauferinnen-Vereine“ betitelt, den 
Weg zeigt, der im Intereſſe von Konfumenten und Produzenten gegangen werden 
muß, um den Mißftänden, wie fie ſich jegt mieder in der Roftüm-Branche jo unliebfam 
bemerkbar machen, entgegen zu treten. 

Es dürfte die — Zeit fein, daß auch bei uns das kaufende Publikum in 
einer Konfumenten:Liga vereint darauf achtet, daß an den von ihnen getragenen und 
Konfumierten Waren nicht dad Blut armer Arbeiter und Arbeiterinnen haftet. 

Dazu wird das näcfte Frühjahr Gelegenheit bieten. Die Arbeiter und 
Arbeiterinnen der Koftüm-Branche erbitten zum erftenmal die thatkräftige Hilfe aller 
Konfumentinnen ihrer Brande im Kampf gegen die Hausindufltie und Heimarbeit. 
Es wird Sade aller Konfumentinnen fein, darauf zu achten, daß die von ihnen 
beftellte Garderobe in den eigenen Werkftätten der Gefchäfte angefertigt wird. Zur 
Erreichung dieſes Ziels beabfichtigen die Arbeiter, die Geſchafte, die zum Teil oder 
durchweg Hausinbuftrie führen, der Kundſchaft zu gei meter Zeit befannt zu geben. 
Hoffen wir, daß durch das vereinte Bemühen der Konfumenten und Produzenten die 
Hausinduftrie in der Koſtumbranche vollftändig befeitigt werde. 


Er 
&ebensbilt. 


& haben auch Not zu koſten befommen 
Als tägliches Brot. 

Mit fchwellenden Segeln fam fie gefchwommen 
Beim früheften Rot. 


Sie hatte den Zwei'n den Mut nicht genommen, 
Sie paden fich feft 

Die Hände, wenn fie vom hunger beflommen 
Die Sicherheit läßt. 


Sie find fo durchs Leben leidlich gefommen. 
Es nahte der Tod 

Und hat nur das Eine mit fich genommen — 
Da fam erft die Not. 


Maja Watihey. 
ae 2 = Se 


Ein Hochzeitätag. 


„Weißt du, worüber ich eben nachdachte ?" 
fragte fie nad einer Paufe. „Wie es dem 
Menſchen ergehen mürbe, der fih fo los 
machte vom Troß und bahinftürmte vol Mut 
und Feuer!” 

Er lädelte halb gutmütig, halb traurig. 

„Rein liebes Kind, das kommt im ganzen 
zu felten vor, als daß es lohnte, darüber 
nachzudenken. Wahrſcheinlich würde ſolch ein 
Wildling auch manchmal Heimweh haben nach 
dem Troß. Das iſt nun ſchon einmal ſo.“ 

Sie ſah ihn bittend an. 

„Und doc,” begann fie langfam und mit 
überredendem Ausbrud, „könnte ein folder 
Augenblid vollerfaßten Lebens nicht ein langes, 
ödes Durchſchnittsdaſein auftwiegen?” 

„Nein,“ ſagte er entſchieden. „Das iſt 
nimmermehr Wirklichkeit, das iſt deine ge: 
fährliche Poefie. Vollerfaßtes Leben ſieht 
anders aus.“ 

Darauf ſchwieg fie und fenkte den Kopf 
noch tiefer. Im Weitergehen beobachtete er 
fie ab und an mit forfhenden Augen, in 
denen fi} eine Beforgnis fpiegelte, die viele 
Jahre gefchiviegen hatte. — 

Allmahlich begann es unmerllich zu dunfeln. 
Über den Himmel floffen die fanften Farben 
der Frühlingsdämmerung, lichte blaue und 
grüne Töne, ineinander verſchmelzend. Das 
Paar näherte fi jegt ber inneren Alıftabt, 
und die Frau ſah wieder auf. Ihr Blid 
bing an ben altväterlichen Giebeln und Efien, 
die ſchwarz und wunberlid in ben abenbhellen 
Himmel aufragten. 

Unter diefen Giebeln und Efjen mar fie 
groß getvorden, in früh geäußertem, viel- 
gerügtem Widerſpruch gegen die Drbnung und 
den Brauch, die fie hüteten. In Auflehnung 
gegen das allgemeine Einverftänbnis in Dingen 
eines zügellofen Egoismus und einer heuch⸗ 
lerifhen Moral. Im Sehnen und Taften 
nad) einem Andern, Neuen, Namenlofen, das, 
wenn es auch nicht unmögliche Vollfommenheit 
mit fi führte, doch von der troftlofen Uns 
ſchönheit und Brutalität des menſchlichen 
Drängens und Treiben erlöfte. Jetzt mußte 
fie, daß der gewaltige Grundlaut der Natur 
{don in jenen Tagen in ihr erklungen 
war, als fie in Beobachtung und Erfaffung 
alles Lebens und feiner Probleme quälende 





267 


Empfindungen einer ungeheuren Leere und 
zehrende Wehmut ihr Herz zerreißen fühlte. 
Damals wies fie freilich jede derartige An- 
fpielung mit Entrüftung zurüd. Denn gerade 
das Hohnlächeln und die mitleidige Überlegen: 
beit, die man für das „überfpannte, junge 
Mädchen” hatte, fteigerten ihren Widerftand 
und ihre Abfage an das Gewöhnliche, ja, an 
das Natürlihe. So gedachte fie fih von 
ihrer natürlichen Beftimmung aus freiem Ent: 
ſchluß zu emanzipieren. Sie entbedte ohnehin 
zuviel Komik in dem bewußten und unbewußten 
Drängen der Gefährtinnen ringsum zu bem 
einen Biel, dem Manne, und wollte über 
diefer natürlichen Treibjagd ftehen. Vergeblich 
riet ihre Sippe zur Erhörung eines ber ftatt- 
lichen Freier, die Mut genug hatten, um fie 
zu werben, unb zerbrach ſich den Kopf darüber, 
wie ber weibliche Sproß ber ehrbaren Familie 
zu dem unholden Funken aus bämonifcher 
Heimat gelommen fei. Yanatifer unter ben 
Giebeln fahen fie bereit? im Irrenhauſe, 
während wohlwollenbere Kenner noch immer 
bie Che als geeignetes Inftitut für fie 
empfahlen. Und eines Tages fchienen biefe 
legteren zu triumphieren. Cie ging wirklich 
jubelnd den Richtweg alles Weiblichen. Aber 
nur, weil fie einen gleichgefinnten Menſchen 
gefunden Hatte, defien Erfdeinung über- 
mältigenb auf fie gewirkt hatte. Sein offen 
bare Zufunftshelventum, die Weite feines 
Horizontes, fein ſcharfer und ſicherer Blid, 
der zerfegenb in Irrtümer und Schädlich- 
feiten drang, feine überfhäumende Kampf: 
bereitſchaft hatten fie mächtig zu ihm gezogen. 
Begeiftert fah fie zu ihm auf. 

Fortan erfchütterte fie auch Fein Einfluß 
mehr aus unbefannter Sphäre. Die geliebte, 
ſchützende Geftalt an ihrer Seite leitete alle 
rätfelvollen Stimmungen ab. Aber ad, eins 
blieb aus. Gerade aus dem Sturm auf bie 
alten Giebel und Eſſen wurde nichts. Die 
ftrahlende Hochburg, die an ihre Etelle rüden 
follte, wurbe nicht gebaut. In der Ehe begann 
ihr Held über das große Thema einfilbig zu 
werben, bis zum Widerfpruch, bis zu völligen 
Verftummen. Und fie litt beinahe phyſiſch 
darunter, fih dem ihr nächſten, geliebten 
Menfhen in dieſem Drange nicht mehr er= 
ließen zu können. Cie faßte es nicht, daß 


268 Ein Hochzeitätag. 


diefer ſtille Mann, der jebt ganz und nur in 
feiner ſchlichten, bürgerliden Stellung und 
Arbeit um das Brot zu leben jchien, ver 
feine rau mit fanfter, aber fefter Hand in 
die Alltäglichkeit niederzwang, ihr Mann fei. 
Manchmal beobachtete und umlaufchte fie ihn 
mit Hingebung, um auf den eigentlichen Kern 
feiner neuerlichen Überzeugung zu kommen. 
Aber dann erfchredte er fie immer durch ein 
abwehrendes, ernüchterndes Wort, und fie 
trodnete heimliche Thränen. — 

Er blieb plöglich ftehen und drückte ihren 
Arm leife an fih. „Denkſt du auch daran?” 
fragte er herzlich. 

Eine ſchmale Seitenftraße, aus ver es 
etwas ftidig roch, that ſich vor ihnen auf. 
Verwitterte Häufer ftanden umflort von ber 
Dämmerung mit dumpfer Botfchaft der Ver: 
gangenbeit. 

„Sa, ich denfe daran,” ermiberte fie ein- 
tönig. „Heute vor zwölf Jahren, da zogen 
wir bier ein. Wir waren eben getraut. Unb 
das Haus war ſchon damals fanitätswibrig.“ 
Sie machte fih von feinem Arm los und ftand 
da, allein und nachdenklich. Zerſtreut lächelnd, 
faft ironifch ließ fie ihre Augen an befagtem 
Haufe entlang wandern. 

Er lächelte auch, aber ein fchönes, marmes 
Lächeln. 

„Es ift unrecht, daß wir den Tag beinahe 
unerwähnt haben verftreichen laſſen,“ fagte er. 
„Bir begründeten an ihm unfer Glüd.” 

„Unfer Glück?“ erwiderte fie fragend. Sie 
fah ihn dabei rafch und durchdringend an. 

„Iſt es möglich?“ ſagte er balblaut. 
„Du zweifelſt an unſerem Glück?“ 

„O nein,“ erwiderte ſie, und ihre Stimme 
klang heller als gewöhnlich. „Aber ich finde, 
daß wir mit jenem Tage unfrei geworden ſind.“ 

„Unfrei ſind wir immer, ob verheiratet 
oder nicht,“ kam es ihm von den Lippen. 

Sie war ſehr froh, endlich einmal von 
ihm wieder ein lang vermißtes Wort zu hören. 
„Gewiß; immer unfrei,“ ſagte ſie eifrig. „Aber 
nach der Verbindung mit einem anderen Weſen 
doch noch unfreier.“ 

„Und das, was wir durch die Verbindung 
gewinnen, willſt du gar nicht gelten laſſen?“ 
fragte er, ſofort einlenkend. „Ich meine, 
gerade wir beide haben keinen Grund zu 


ſolcher Undankbarkeit.“ Da fie etwas hinter 
ihm herging, zog er ſie wieder an ſich heran. 

„Weshalb verſtehſt du mich nicht?“ 
erwiderte ſie dagegen unmulig. „Wir gehören 
natürlich zu den glücklichſten Eheleuten auf 
Erden. Aber — es iſt nicht das Glück, das 
wir erſtrebten, damals vor der Ehe.“ 

Da war es, da hatte ſie es rund heraus 
geſagt. Er ging ſchweigend neben ihr weiter 
und ſah häufiger noch in ernſtem Sinnen auf 
ihre zarte Geſtalt nieder. 

Es hatte eine Zeit gegeben, da ihres 
Weſens Gründe ihm durchſichtig erſchienen 
waren. Später mußte er ſich eingeſtehen, 
daß er geirrt habe. Aber um ſo gründlicher 


gab er ſich darauf dem Studium ihrer reiz⸗ 


vollen Pſyche hin, und ſo herb und dunkel ſie 
oft reagiert hatte, jetzt meinte er in ihr beinahe 
ebenſo gut leſen zu können wie in ſeiner 
eigenen. Und nun ſchien ſie willens zu ſein, 
laut und entſchieden über all das zu ſprechen, 
was er jahrelang umgangen hatte. Mit 
einem kleinen Seufzer ſagte er ſich, daß es 
eine bittere Aufgabe ſein werde, dieſe dramatiſch 
bewegte Seele aufzuhalten und dabei eigene, 
überwundene Weltſchmerzen zu wecken. Und 
wie würde es weiter gehen? Würde ſie gleich 
ihm ſich fügen und ergeben? Sorge erwuchs 
ihm aus Sorge. 

Sie hatten nun die Stadt durchquert und 
gingen eine andere dämmewolle Straße hin⸗ 
unter, die ſich auf den Fluß öffnete. Mit 
mattem Spiegel ruhte unten das Waſſer und 
ſandte einen feinen Silberglanz in die Straße. 
Ein großes, fremdes Schiff ankerte da. Seine 
hohen Maſten ſpannten ſich geſpenſtiſch gegen 
den Abendhimmel. 

Einen Augenblick hoffte er, daß dieſer 
Anblick ſie zerſtreuen werde. Wenn ſie ſonſt 
durch dieſe dunkelnde Straße gegangen waren, 
das glänzende Waſſer und den weiten Horizont 
vor Augen, hatte ſie ſich immer über den 
großen Ausblick gefreut und die fremden 
Schiffe angelacht wie ein Kind. Heute hob ſie 
kaum den Kopf, und eilend ſtrebte fie vor: 
wärt3, der Brüde zu. 

Hier gerieten die beiden in einen gewaltigen 
Menichenitrom. Denn um diefe Zeit warf bie 
große Fabrikſtadt einen Teil ihrer Bürger 
aus, zumeilt das arbeitende Element. Hin 








Ein Hochzeitstag. 


und wieder tauchten aus dem Gebränge auch 
verivegene Mienen, wilde Augen auf, in ber 
matten Beleuchtung doppelt bänglih zu 
ſchauen. Unwillkurlich fah fi er nad ihr 
um. Unter folden Umftänden drängte fie ſich 
immer wie ein ängftlicher Bogel an ihn. Under 
erſchrak, als er fremde Gefichter um ſich ſah 
und fie dann meit voraus gewahrte. Er war 
irgendwie ein Stüd zurüdgeblieben, und fie 
batte nicht auf ihn und feinen Schuß gewartet. 
Und als er fie eingeholt hatte und ſich ihr 
gejellte, nahm fie feinen Arm nit, und eine 
Heine Bewegung fagte ihm, daß fie allein 
gehen wolle. — 

Jenſeits befanden fie fih bald in faſt 
länbliher Umgebung und Ruhe. Fern und 
grollend verflangen die Geräuſche der Stabt. 
Über den Zäunen wehte im Abendwind ganz 
junges Laub, und am Horizonte ftand eine 
dichte Wipfelreife. Von hier und von bort 
tam ein füßer Geruch, fo herb und fo friſch 
dabei, wie ihn nur neuentſproſſenes Blattwerk 
entfendet. Was fühlte da die Frau im Boden 
unter ihren Füßen quellen und fi melben? 
— Ein Schauer überflog fie. Sie meinte, 
der Mutterarbeit der Natur gelauſcht zu haben, 
und fie empfand die laftende Schwere ihres 
eigenften Zuſammenhanges mit dem ungeheuren 
mütterlihen Urſchoß. 

Aber fie gab fi damit nicht zufrieden. 
Sie ließ ih von dem verräterifchen Traum: 
fpiel der Natur nicht einlullen. Der große 
Entſchluß, der feit Jahren langſam in ihr 
geleimt hatte, ward plötzlich reif und feft. 

Mit haftiger Frage wandte fie fi dem 
Mann zu, der ftumm an ihrer Seite fchritt. 
Weshalb ſchweigſt du? Haft du Feine Antwort 
auf das, was id dir fagtet Iſt es nicht 
endlich an der Zeit, uns auszuſprechen?“ 

„Du willſt ja das nicht hören, was allein 
ih dir erwibern kann,“ fagte er mit einem 
trüben Lächeln. „Du verlangft zuviel. Laß 
dir genügen an unferm Teil Erbenfeligteit. 
Wir genießen fie thatfählid. Millionen ift 
fie nicht beſchieden.“ 

Wieder zeigten fih Unmut und Ungebuld 
in ihrem Blid, aber fie beſann ſich. In 
ihren Worten freilich zitterte die große, ſeeliſche 
Erregung nad. „So muß id dir fagen, daß 
du bein wahres Empfinden vergeblid vor mir 





269 


verbirgft in beiner Herzenägüte und Bartheit. 
Denn ich bin deſſen gewiß, daß bu meißt, 
was ich unter Glüd verſtehe. Nicht Spieß⸗ 
bürgerzufriedenheit. Ich weiß, daß du haberft 
wie ih mit der ungeheuerliden Macht, bie 
unverftänblid um ung raunt, die und zufammen= 
getrieben, uns betrogen hat. Was hat fie 
uns verheißen und was gegeben?” 

Er umterbrady fie. „Du denkt an unfer 
Tränfelndes Kind?“ fragte er vorfichtig. 

Sein Ablenten und abſichtliches Miß— 
verftehen reizten fie. 

„Ich denke an beibe,” war ihre herbe 
Antwort. „Ich fehe fie beide, auch unfer 
ftarfes, begabtes Kind, kränkeln an der alten 
Kultur, in bie fie hineinwachſen. Unb id 
ſehe, daß du ihnen dabei Vorſchub leiſteſt, 
unferer Überzeugung entgegen. Du zeigft 
ihnen bie Ideale der Menge. Meine Kinder 
lernen Befig und Anfehen ſchätzen. Ich denfe 
an unfer beiber ftumpfe, paffive Exiftenz unter 
Zuftänden, an beren Gefundung wir einft mit 
ganzer Kraft arbeiten wollten. Ja — damals! 
Und nun, nun tappen wir ſchweigend durch 
al die Lüge und Verkehrtheit und Unmöglid- 
feit und ziehen ala Gipfel des Leides unfere 
Geſchöpfe, unfere armen Kinder mit hinein. 
Und daß du es fo haben willſt! — Daß du 
mid dazu zwingſt und die Kinder nad; dem 
alten Mufter erziehft! Aber ich weiß aud, 
daß bein Kampf ums Brot di foweit ges 
bracht hat. Willft du mir alfo nod länger 
Erdenſeligleit vortäufchen? Unſer egoiftiiches, 
Heine Glüd betonen? Ad, laß doch dies 
Verftedfpiel, laß uns uns finden wie damals, 
in freien Gedanken!” 

„Du weißt, gegen wen bu fämpfft, mein 
armes, unfluges Kind,” fagte er fanft. 

Nun nahm fie ihren legten Anlauf. „Ja,“ 
rief fie, „ich Tämpfe gegen die Selbſtknechtung 
der Menfchheit vor ihren alten Gößenbilbern. 
Ih kämpfe für die neue Kultur, die in ber 
Luft liegt, die geboren werden will. Und 
mir, wir haben fie ſchon fo lange, Harer wohl 
noch als andere vor uns, gejehen. Weißt du 
es benn gar nicht mehr? Damals, als wir 
nod frei und mutig waren. Gerade bu 
machteſt dich ja zum Streiche fertig. Doc 
dann, ad dann kamen eben die Brotforgen, 
die Kinderforgen, du mußteft an den Arbeits: 


Ein Hochzeitätag. 


Ein ftehender Schmerz durchzudte fie. 
Nun gab es feinen Zweifel mehr, ihr Gatte 
mar feine auserwählte Edelnatur. Cr dachte 
nit daran, den gewaltigen Kampf auf- 
zunehmen, in ben fie ihm fanbte, an deſſen 
Berechtigung und Erfolg fie feinen Augenblid 
gegweifelt hatte. Damit brach die Welt ihrer 
Träume, in der er bisher als Held aufgeragt 
hatte, zufammen. 

Ihr Schweigen beunruhigte ihn. Mit 
einem Anflug von Erregung verfuchte er ihr 
eingehender Harzulegen, wie leicht es ji von 
neuen Grundlagen des Seins und ber Ge- 
ſellſchaft reden laſſe, wie undenkbar jedoch 
ihre Verwirklichung fei, wenn man bie menſch⸗ 
lie Natur in Betracht ziehe. 

„Dann,“ fagte fie endlich falt, „bleibt mir 
nur noch meine Ahnung bon der Erlöfung 
des Menſchen durch das Weib, das feinen 
Dämon nieberringt. Wenn mein Ahnen von 
der Selbfterlöfung ber ſittlich gereiften Menſch⸗ 
heit nichtig ift. Wenn meine Sehnſucht nad 
ſchöner und gefunder Wirllichkeit für jedes 
Gefhöpf im Leid des Daſeins untergehn 
fol, ohne je Stilung zu finden!” 

„Aber mein liebes Kind, wer hat denn 
von ſolchem Untergang geſprochen,“ rief er. 
„Deine Sehnfucht, deine Ahnungen, ſoweit fie 
nit mörderiſch find, will ih bir um feinen 
Preis beeinträchtigen. Sie reden ja aud in 
meiner Bruft gebieterifh, fie gehören feit 
Jahrtaufenden zum beften geiftigen Befig der 
Menſchheit. Nur verlange nicht gleich, fie zu 
verwirklichen, Ideale an die Straße zu ftellen, 
für die die Erde nicht reif ift. Noch lange 
nicht. Raum ganz leife verheißende Zeichen 
bemerkt der, der ſcharf hinausſpäht und horcht. 
Eines freilich habe ich foeben am eignen Leibe 
verfpürt,” lachte er dann heiter auf. „Hat 
meine vielgeliebte Frau mir nicht heute freitoillig, 
ebeliten Motiven folgend, meine Freiheit zurüd: 
geben wollen? ft die veritable Überfrau 
damit nicht geprägt?” 

Ihre Eeele zog fich ſchaudernd zurüd. 
Mit ſolchem Scherz konnte er fließen, nad: 
dem fie ihres Weſens ftärkiten Drang ihm 
geoffenbart Hatte. Das mar alles! Und 
immer biefer troftlofe Hinweis auf die Uns 
mwirklicleit der höchſten und reinften Impulſe 
des Menſchen! Eeit Yabrtaufenden nur 





erı 


geiftiger, nur toter Befig, nie eine Möglichkeit 
denkbar, ihn in wirklich pulfierendes Leben in 
Haus und Eirafe umpufegen. Berzweiflung 
wollte fie überfommen. Wenn ihr Gatte, 
diefer Mann mit dem tiefen Gemüt und bem 
groß angelegten Charakter, ſich zu den Trieb: 
menſchen und bem Mittelmaß ſchlug — dann 
lebten die Evelnaturen wohl nur fchattenhaft 
und blutlos in ihren ſehnſüchtigen Träumen. 
Uber der Glaube an fie und dabei immer 
zugleih an ihren Mann gehörte ja zu ihren 
Lebensbedingungen! 

Unter laftendem Schweigen gingen fie 
weiter. Er empfand ihren ftummen Schmerz 
und ihre Empörung, aber ſchließlich befiel ihn 
ein gelinder Ärger. Sollte ihr Cheglüd nun 
wirklich leiden? War nicht eigentlih ſchon 
etwas Pathologiſches in ihren Afpirationen? 
— Er betradhtete fie ängftlich, aber er empfand 
nur mit ungewöhnlicher Stärke ihren hoben, 
geiftigen Reiz, eine fehr große, ſtrenge Schön- 
heit, bie fich freilich ihm zu entziehen fuchte. 
Sie blieb eben unter allen Umftänden bie 
Poeſie feines Daſeins. Und nun warf er fi 
vor, daß er fie auf feinen Wegen zu feiner 
nur zu getreuen Gehilfin gemacht hatte. 
Mußte fie bei ihrem glühenden Intereſſe nicht 
unenbli viel mehr und viel tiefer fehen ala 
andere Frauen, als viele Männer? War es 
ein Wunder, daß fie ſich in ftolger Ohnmacht 
binausfehnte und binausredte über die Erde? 
Und war e8 nicht andererſeits fein ftilles Ent⸗ 
züden, daß ihr Herz von armer Liebe und 
Selbftvergeffenheit überquoll für alles, was 
fonft von verftändigen Leuten nicht eben ge: 
liebt und zart behandelt wird! Würde er dieſe 
Heine, leichte, gefegnete Hand je miſſen fönnen? 

Daraufhin dachte er nur noch daran, ihren 
Konflikt zu befeitigen, und da fam ihm ein 
Gedanke. 

„Übrigens, mein Kind,” fagte er plötzlich 
in ganz berändertem Tone, „till ich wenigſtens 
nicht hinter dir zurüdfftehen. Sch begreife voll⸗ 
ftändig, daß du mit einem fo gewöhnlichen 
Gefellen, der ih wohl bin, nicht weiterleben 
tannft. Deshalb gebe ich dir meinerfeitö deine 
Freiheit zurüd. Vielleicht findeft du draußen 
die Größe, die mir abgeht.” 

Sie hatte aufgehorht, war zufammen- 
gefahren und fah ihn jegt mißtrauiſch von der 


272 


Seite an. „Solde Scherze laß’ doch,” fagte 
fie ſchroff. 

„Bewahre,” ermwiberte er. „Es ift mir 
mit meinem Borfchlag ganz ebenfo ernit wie 
dir mit dem deinen. Es wäre ja graufam 
bon mir, dich meiter an meine Perfon zu 
feſſeln, nachdem id) deine Erwartungen fo ge⸗ 
täufcht babe. Wie follte beine auf Helden 
und Großes gerichtete Natur weiter mit mir 
ausfommen! — Ob du draußen das finden 
wirft, was du fuchit, bezweifle ich zwar. Für 
das, was bein großes, warmes Frauenberz 
plant, ift in der wirklichen Welt fein Platz. 
Sn ihr behaupten ſich höchſtens die land⸗ 
läufigen MWeltbeglüder und Träger neuer 
Kultur, und auch die mit Mühe und Not. 
Und denen würdeſt du auch wahrſcheinlich 
anheimfallen. Freilich graut mir bei dem 
Gedanken, dich, mein fenfttives Kind, in folchen 
Händen zu willen, und was bei beinem 
Sceiden aus mir wird, brauche ich dir nicht 
zu fagen. Trotzdem — dein flummes Mar- 
tyrium neben mir fönnte ih erft recht nicht 
ertragen. Deshalb geh’!“ 

No einmal fah fie ihn zmeifelnd an. Er 
war fehr ernft, ein entfchloßner Zug machte 
fein Gefiht faft hart. Und fie fpürte jebt 
unwillkürlich weiter in feinem Antlitz und ſah 
darin wie immer die reichlihen Spuren eines 
tieffinnenden, feinen Geiftes. Zahlloſe Äuße⸗ 
rungen besjelben wurden ihr lebendig, damit 
aber auch der ganze intime Reiz, die elementare 
Stärke ihres Zuſammenhanges. Und mehr 
noch erfpähte fie. Stärker ging der Wind 
durch die ſchwankenden, jungen Fichtenzweige, 
fühl ftrih er um ihre Schultern. Sie fah 
nun alles, wie ed war, matt, filberbläulich, 
fühl. Eie ſelbſt war wieder flein und zart 
und furdtfam geworden. Und fein klingendes 
„Geh'“ Täutete fort. 

Zu gleicher Zeit verließen fie das MWälbchen 
und kehrten zu einer Fleinen Straße bes 
erreichten Borort3 ab. Einige allerbefcheibenfte 
Landhäuſer bargen fich hier hinter alten, hoben 
Bäumen. Ganz hinten auch ihr kleines, 
weißes Haus. Diefes Haus umſpannte bie 
Frau jetzt in ihrem bangen Sinnen. Sie fah 
im Sommer Roſen wehen und im Herbſt den 
Mein. Sie fpürte die reine, friſche Atmofphäre 
des kleinen, weißen, roſenlachenden Hauſes, 


Ein Hochzeitstag. 


den Schimmer von Schönheit, der in ihm 
allüberallher leuchtete. Sie fühlte ihr Daſein 
getragen und erleichtert durch die rührende 
Liebe und zarteſte Aufmerkſamkeit eines guten 
Menſchen. Sie meinte den Engelsgruß 
mahnend zu hören. Wie ſchmerzlich tief 
mußte da die Stimmung ſein, die ſie ihr 
Glück nicht ruhig hinnehmen und genießen 
ließ, die ſie in ſtetem, leiſem Auflehnen da⸗ 
gegen hielt und einen leidenſchaftlichen Kampf 
gegen Urgeſetze in ihr ſchürte. Dennoch, was 
da in ihr brannte, es mußte echt ſein, Feuer 
von dem Feuer, das reinigend über die alte 
Erde hinfahren ſollte. Wenn ſie nur mit ihm, 
der mit wachenden Augen und erſchreckender 
Entſchloſſenheit ſie an ſich zwang, obgleich er 
ſie mit ſeinen Worten von ſich wies, fertig 
werden könnte! Wenigſtens ein Kämpfer 
mußte aus ihm geſchaffen werden, wenn denn 
kein Held. 

Und nun verſuchte ſie ihn zu fangen. 

„Alſo wirklich, du willſt mich deinerſeits 
freigeben?“ ſagte ſie. „Aber wenn das dein 
Ernſt iſt, wenn du das kannſt, ſo wie wir 
miteinander ſtehen, dann biſt du doch keiner 
aus der Menge. Und ich habe ſonſt noch 
tauſendfach Beweiſe dafür, daß du auf Höhen 
ſtehſt, die ſo leicht kein anderer erreicht. Wie 
kannſt du da mit den unwürdigen Idolen der 
Welt paktieren? Unſere Kinder darauf ab⸗ 
richten? Wie kannſt du mir ſo grauſam ruhig 
unterſagen, nach der Verwirklichung meiner 
Ideale zu ſtreben?“ 

Sie ſah ihn beſchwörend an. 

Er ſann nach, und wieder klang ſeine 
Stimme anders, als er zu ſprechen begann. 

„Sieh, mein Kind, über die natürlichen 
Grundlagen alles Seins und Weſens find 
wir jebt wohl einig. Sie gefallen uns nicht, 
aber wir wurden nun einmal in die Welt der 
Habgier und Ehrgier geftellt und müſſen 
damit rechnen. So lange wir in bürgerlidher 
Gemeinfchaft bleiben, die und in ihre ſchweren 
Ketten fchließt. Und für diefe Melt müſſen 
wir unfere Kinder erziehen. Wir haben nicht 
das Recht, Einfiebler und Anachoreten aus 
ihnen zu machen, zumal ihre ftarken, welt⸗ 
freudigen Inbivibualitäten ſchon jetzt bemerkbar 
find. Der Gedanke ift bitter, Daß unfere 
Kinder und einft in Lebensnöten ihr Dafein 











Ein Hodjgeitätag. 


vortverfen könnten, wenn auch nur in Ge- 
danten, aber noch bitterer wäre es doch, wenn 
wir fie fampfunfähig machten, fie über bie 
Wirklichkeit im unklaren ließen. Ober ihnen 
gar etwas vortäufchten, was es nicht giebt, 
auf lange, lange Zeit hinaus nicht geben 
Tann. Unfere eigentlihen Anſchauungen und 
deren Bethätigung haben fie täglich vor Sinnen. 
Iſt der entſprechende Keim im fie gelegt, fo 
werben fie fi demgemäß entwideln. Vergiß 
nicht, daß wir felbft aus halb mittelalterlich 
gefinnten Kreifen heraus relativ freie Menſchen 
geworben find. Im übrigen, mein find, 
bringe ich der Wirklichkeit, wie fie nun einmal 
ift, taufend Opfer meiner Überzeugung, und 
id würde habern mit dem Lebenstrieb wie 


du, mern eben unfer inniges Glüd nicht 


unerfhütterlih wäre. Ya, ja, ih weiß,” 
wehrte er ihren haftigen Einwand ab, „id 
weiß, du willſt es nicht anerkennen, bein gar 
zu zartes Gewiſſen fträubt fih gegen ein 
Göttergefhent, das ber großen Überzahl ver- 
fagt if. Du verlangft unbedingt für jeden 
Mann und für jedes Weib auf Erden das- 
felbe. Aber fage, follen wir nun wirklich 
wegen biefer Unmöglichkeit unfer eigenes, 
ſchönes Glüd verftoßen? Es genießen, ift 
nicht einmal fo egoiftifch, wie du es hinftellft. 
Ja, fühlft du nicht felbft, wie auf unferm 
Glüd ſchon ein Hau deiner neuen Kultur 
liegt? Ich möchte fagen, daf wir in unferem 
Denken und Handeln einer gewiſſen Voll- 
kommenheit auf der Spur find, fo weit Menſchen 
das vermögen. Vielleicht arbeiten wir wirklich 
in aller Stille an unferm Heinen Teile neuen 
Überzeugungen, einer neuen Zeit entgegen. 
Und fo mollen wir unferen Hochzeitstag zum 
guten Ende doch preifen. Kein Wort mehr 
von Trennung, ed waren unmenſchliche Ent: 
ſchlüſſe. Wie folten wir ohne einander 
leben!” — 

Sie fand nicht glei eine Antwort. Sie 
konnte nichts, gar nicht? gegen feine ſchönen, 
tief innerlih wahren Worte einwenden, und 
doch berührten fie fie ein wenig mie eine 
glänzende Schlußwendung. Sie fühlte durch, 
mie er fie wie immer zu beſchwichtigen und 
binzuhalten ſuchte. Es follte beim alten bleiben, 


bei den Haffenden Übeln, den furdtbaren | 


Miplauten und all der Unfhönheit — das 





278 


war ber forgfam verhüllte Kern. Und fie 
beide, trotz aller „eigentlichen“ Überzeugungen, 
in ſolche Gefolgihaft fi fügen! Ah — 
und ihre Rinder! Anachoreten gedachte auch 
fie niche aus ihnen zu maden, wohl aber 
ganze und gefunde Menfchen, die die Schön- 
heit des Dafeind und natürliche Schmerzen 
vol durchleben follten. Nicht diefe Freude 
und biefen Schmerz, die eine fiebernde Menſch⸗ 
heit fih zu Würgern berangezüchtet hat! Ob 
er wirklich an bie leife Pionierarbeit glaubte? 
Der war aud das nur eine Vertröftung? 

So fann fie und ftieß ſich ſchmerzhaft 
überall in ihren Gebanfen, ja felbft in ber 
halb unterbrüdten Genugthuung über ihr 
eigenes, ehrliches Glüd, das fi nun freilich 
nicht wegleugnen ließ. Uber fie hätte es 
ſchelten mögen, fie zürnte dem Manne, ſich 
felbft, diefes ihres Glüdes wegen. Wie konnte, 
wie durfte fie glüdlich fein angeſichts folder 
Zweifel und Ängfte? — 

Aber dabei entfaltete das Glüdsbetoußtfein 
fh nun mit Macht in ihrer Seele, wie eine 
wunderbare Blume, aus deren geheimnis- 
vollem Kelche eine grenzenlofe Seligkeit ſich 
über ihr ganzes Wefen verbreitete. Muhſam 
erwehrte fie ſich ihrer. 

Näher und näher Tamen fie ihrem Heim. 
Sie fahen fein Licht in den Fenftern, die dem 
Abendwind geöffnet waren. Nur die Dors 
hänge vegten fi) hell dahinter — ob bie 
Kleinen ſchon fhliefen? Und dann hörten fie 
deren Stimmen und bie gute Großmutter 
liebevoll ſchelten. 

Vor dem Lattenpförthen im Zaun blieben 
fie ftehen und lauſchten. Das eine Kind 
weinte, grämlid und unzufrieden, dad andere 
fang unbefümmert nad} eigner Melodie. Lang⸗ 
gehaltene Töne, viele dem Singen der Mutter 
abgelaufcht. 

Noch immer hielt fie fih von ihm fern 
und wandte fi aud von dem Häuschen, um 
ihre Augen gleichfam ſuchend zum bunfler 
blauenden Himmel zu heben. Tief am Horizont 
mar ein fanft ftrahlender Abendfonnenftreif 
verblieben, in deſſen Gold die Wälder ftill 
ihre Spigen tauchten. Und nun mußte fie 
nicht mehr, was fie wollte: Frieden ober 
Kampf. Denn von ber fernen Stabt ber 
börte fie es tofen. Die heiße, mübe Erde 

18 


Bismard intime. 275 


Sprade, die kraftvoll gefaßten Bilder, das leidenſchaftliche Gefühl, die innere 
Künftlerfchaft im Fühlen und Erleben aller Eindrüde, das rüdt hier an erfle Stelle, 
und das Staatöniännifche, die Aufgaben des großen, Öffentlichen Berufs, von dem 
Bismarck mehr ald er der fchlichten Hausfrau eingeftand, erfaßt, dämonifch bejeflen 
war, wirft nur von weitem feinen Schatten herein. 

Hiftorie wird man nach diefen Briefen, die von 1847 bis 1892 gehen und zum 
Hintergrund die großen Ereigniffe der neueren Gefchichte haben, nicht fchreiben können. 

Bismard zeigt fich bier nicht als der geniale Schachfpieler, der auf der Karte 
von Europa feine Züge macht, fondern als der arbeitsüberhäufte Beamte, den Gott 
und der König auf feinen Platz geftellt Haben. Und auf dieſem Platz hat er aus⸗ 
zuharren, wenn er auch in der Unftäte feiner diplomatifchen Sendung, verſchlagen nach 
Frankfurt, Petersburg, Paris, monatelang getrennt von der Frau und den Kindern, 
jaßrelang im ungewiffen, wohin ihn das Schiefal führen wird, oft genug fehnfüchtig 
träumt: „Wann wird die Zeit kommen, anhaltend unter einem Dach zu leben; bie 
Ruheloſigkeit der Eriftenz ift unerträglich.” 

Und dieſe Regungen find zweifellos edit. Sie hatten in ber Vielheit diefer 
Seele, neben mancdem Anderen, Widerfprechenden, der Herricherleidenschaft und dem 
Willen zu Reich, Macht und Herrlichkeit Raum. Sie entwideln fi in diefen Briefen 
freier, rüdhaltlofer, weil in ihnen die andere Bismardfeele, die Herrenfeele, ftiller if. 


* * 
* 


Am reichſten ſind die Briefe der frühen Zeit, die Briefe des Schönhauſener 
Deichhauptmanns und „eingefleiſchten Landwirts“ an die Braut in ſiebzig Meilen 
Entfernung. Beim alten Putikamer hat er in feierlicher Form geworben und fein 
Velenntnis jo abgelegt, wie es die etwas eng und ängftlich gläubige Familie verftehen 
tonnte. An die Braut aber jchreibt er ganz Percy Heißfporn: „Reiten mußt Du, 
und wenn ich mich felbft in ein Pferd verwandeln follte, um Dich zu tragen.” 

Diefer pommerfche Gutsherr wirkt wie das Vorbild eines Liliencronfchen Junkers 
in feiner Mifhung. Jäger mit Stiefel und Sporn hinter den Hunden, von ftarken 
Erregungen trunfen, voll Gemitter: und Sturmflimmung, immer im Rhythmus: „es 
ſchlug mein Herz geſchwind zu Pferd“; macht? an der Elbe im Donnerlärm des Eid: 
gangs und ber gligernden Schollen, die ihm „ben Pappenheimer Marſch fpielen”, daß 
fein Herz in frifchem Leben aufjauchzt, und dann wieder am fnatternden Kaminfeuer, 
Byronverfe erzerpierend und Walter Scott Iefend, zur Seite der Hund, im Knäuel 
zuſammengerollt. 

Und Liliencronſche und Fontaneſche Stimmungen ſind es, wenn er erzählt, wie 
er in Nacht und Nebel, die alte Turmuhr ſchlug gerade 11, in feinem alten Schön— 
haufen ankommt, wo alles ſchon fchläft. Hildebrandt beforgt die Pferde, und der 
Deihhauptmann ftedt fih an „der fchlafbefoffenen Kahle thraniger Lampe” feinen 
Wachsſtock an. Und Liliencronſch, wenn er von feinen Vätern ſpricht, die in „biefen 
jelben Zimmern gewohnt haben, geboren und geftorben find, wie die Bilder im Haufe 
und in ber Kirche fie zeigen, vom eifenklirrenden Nitter auf den Ianggelodten zwickel⸗ 
bärtigen Kavalier de3 breißigiährigen Krieges, dann die Träger ber riefenhaften 
Alongeperüden, bie mit talons rouges auf biefen Dielen einherftolzierten, der 
bezopfte Reiter, der in Friedrichs des Großen Schlachten blieb, bis zu dem ver- 
weichlichten Sproffen, der jegt einem ſchwarzhaarigen Mädchen zu Füßen liegt“. 

18% 


Bismard intime. am 


dem König ift das fehr unlieb, wenn er erfahren hat, daß ich nicht wollte; er hält 
e für etwas fehr Großes, wenn einer Kammerherr wird.” Und mit ruhevollſter, 
philoſophiſcher Betrachtung ſpricht er 1852 von der „ganzen goldbeblechten Schügen= 
tönigöherrlichkeit, die vieleicht übermorgen vorbei if“. 

Er giebt feiner Frau die weltlichen Ratſchläge, damit ihre Füße auf dem neuen, 
glatten Boden ficherer gehen. Ihm felbft aber ift fie gerade fo, wie fie ift, lieb: „Du 
bi meine Frau und nicht der Diplomaten ihre, und fie fönnen ebenfo gut Deutſch 
lernen, wie Du Franzöfiih. Nur wenn Du Muße baft, oder doch leſen willſt, fo 
nimm einen franzöftfchen Roman; haſt Du aber feine Luft, fo fieh dies als nicht 
geichrieben an, denn ich babe Dich geheiratet, um Dich in Gott und nad dem 
Bedürfnis meines Herzens zu lieben und um in der fremden Welt eine Stelle für 
mein Herz zu haben, die alle ihre dürren Winde nicht erfälten und an ber ich die 
Bärme des beimatlichen Kaminfeuers finde; nicht aber um eine Geſellſchaftsfrau für 
andere zu haben, und ich will Dein Kaminchen begen und pflegen und Holz zulegen 
und paden, und fehügen und ſchirmen gegen alles Böſe und Fremde, denn ed giebt 
nichts, was nächft Gottes Barmherzigkeit mir teurer, lieber und notwendiger ift als Deine 
Liebe und der heimatliche Herd, der überall auch in ber Fremde zwifchen uns fteht, 
wenn wir beieinander find“. 

Was diefe Frau, die von ihrem Mann im hohen Alter nicht minder liebevolle 
Briefe befam, ald in ihrer Jugend, Bismard geweſen ift, das zählen die Briefe nicht 
diret in Form von Eigenfchaften oder Charakterinventaren auf. Indirekt geben fie 
es zu erfennen. 

Er fchreibt einmal: „Allen, außer Dir, erfcheine ich falt“. Und diefes Wort 
führt auf den richtigen Weg. Diefe Frau mar ber einzige Menfch, der die Fähigkeit 
befaß, aus ihm alle jene Gefühle rein auszulöfen, die feinen oder nur einen ganz 
geringen Plag in dem Leben zu beanſpruchen hatten, das ihm das Schidfal zuerteilt 
und das er auf fi genommen. Bismard felber aber liebte jened andere Leben, jene 
Träume von ber elementaren Eriftenz in der Natur, auf der Scholle, ala Jäger und 
Landmann, und feine Sehnfuht „aus dem Winter des politifchen Lebens im Geifte 
nad dem bäußlichen Herde zu bliden, wie der Wanderer in böfer Nacht nach dem 
Licht der Herberge”. 

In diefer Mifhung widerſpruchsvoller Gefühle, daß einer, der fih zum Herrſchen 
geboren fühlt, immer und immer wieder in die große Ruheſehnſucht fält, natürlich 
ohne fie zu erfüllen, erkennen wir das Geniale diefer Natur. Bei einem Staatsmann 
find wir diefe Mifchung nicht gewöhnt, ſogleich aber wird fie Har, wenn wir an den 
Künftler denken. Der Dilettant ſchmiedet munter, glüdlich und zufrieden feine Reime, 
die Großen aber haben alle an ihrem Werk gelitten, le malheur d’&tre poete. Sie 
empfanden ihre Aufgabe jchwer und ſchmerzlich: 

Der Dämon nimmt Dein Herz, fliehlt Dir die Seele... 
Dünkt Euch) dies Schidfal jo beneidenswert, 

Ertrüg es einer, der es wenden Könnte? 

O Himmel! wenn ich könnte, ginge mir 

Im Alter noch ein neues Leben auf, 

Ein Leben voller Ruhe, voller Frieden. 


Doc dies Verlangen kann ihnen nie befriedigt werben. Der wahre Künftler 
Kann nie ablaffen von dem, was ihm die größten Dualen und die größten Wonnen fchafft. 


Bißmard intime. Lu] 


Durch den Tiergarten geht er mit Fontaneaugen. Er figt auf ber Bank am 
Schwanenteih und fieht den Schwänen zu: Sie ſchwimmen bid, grau und blafiert 
zwiſchen den fchmugigen Enten flott umher, und die Alten legen fchläfrig den Kopf 
auf den Rüden. Der Ahorn ſteht dunkelrot, der Golbfifchteich ift faſt außgetrodnet. 
Linde und Faulbaum beftreuen die Steige mit gelbem rajchelnden Laube, und bie 
runden Kuppeln der Kaſtanien fpielen in allen Schattierungen des Herbfted. 

Und Fontane Lönnte jene Iyrifche Abendftimmung aus der Großftabt feftgehalten 
haben: . 
„Mein Liebchen, ich fige hier in meiner Edftube zwei Treppen Hoch und betrachte 
den Himmel voll lauter Heiner abendroter Schäfchen, wie er die Taubenftraße entlang 
und über den Baumfpigen von Prinz Carls-Garten zu fehen ift, und die Friedrichftraße 
entlang if es ganz goldig und wolkenlos .. .“ 

In die Fontanefche Beſchaulichkeit zudt dann Liliencronfches Jägerblut. 

Im Morgennebel einfam über die Herbſtwege ziwifchen den Bäumen, da ift ihm 
wie Kniephof, Waldjchnepfenjagd und Dohnenſtrich. 

Und dann die Jagdlyrik vol Herzihlag, ftil und wild und leidenfchaftlih: um 
Mitternacht im Gebirge auf den Auerhahn, bis drei unaufhaltfam geftiegen, unter 
fallendem Regen, den ſchweren Mantel um, über fteile Wände auf Händen und Füßen; 
tieffted Dunkel im Tannendidicht, unten in purpurner Tiefe der Waldbach; tobmattes 
Umfinfen in triefendes Haidefraut, von Regen überftrömt. 

Und dann ber Tag: ber Uhu macht der Droffel Platz, der Vögelchor fingt 
betäubend dem Sonnenaufgang zu, die Bergtauben im Baß dabei. 

Und wie Liliencrons jubelt Bismarcks Herz in ber Soldatenpoefie: Eifenraffeln, 
Trompeterfignale, Attade der Kavallerie. 

Dies Skizzenbuch hat viele Blätter und mannigfadhen Stoff. Es führt in 
ſtandinaviſche und ruffische Einöden, wo der Elch gejagt wird; es malt die ungarische 
Pußta mit Czards, wilden Pferden, drei Noffen vor dem Wagen, gelbbraunen Weibern 
mit brennenden, ſchwarzen Augen und Zigeunerweifen in Mol, in Tönen, die an ben 
Wind erinnern, wenn er im Schornftein lettiſche Lieder fingt oder an „Krankes Wolfs- 
geheul im der Herbſtnacht“. VBismard ftichelt mit zierlicher Kleinkunſt niederländifche 
Genrebilder: Rotterdam mit venctianifchen Kanälen, lindenbefegten, ſchmalen Wegen vor 
den Häufern, Glodenfpiel, phantaftiih geformten Giebeln, „jonderbar und räuchrig, 
fait ſpukhaft, mit Schornfteinen, al3 ob ein Mann auf dem Kopf ftände und bie 
Beine breit audeinanderfpreizte” und in biefem Rahmen Bismarcks Selbfiporträt in 
bolländifcher Manier: mit der langen Thonpfeife im Mund auf die in der Dämmerung 
abenteuerlich vertifchten Giebel und Schornfteine blidend. Und er mifcht die lodernden 
Farben füdlicher Paletten zu leuchtenden Aquarellen aus ber Baskenwelt Pierre Lotis: 
Pas de Roland, Schluchten mit reigenden Bergitrömen und feltfam gefrümmten 
ſchlangenartigen Feigenbäumen, Sonnenuntergang mit Pyrenäenglühen, Halb Spanien 
im Feuer jenfeit der See, tiefes Dunkelſchwarzblau über phantaftiichen Gebirgszaden. 


* * 
* 


Dieſer Stimmungsdichter hat aber auch Humor. Und wenn hier die Welten fo 


mander Dichter als verwandt angerufen wurden, fo darf man einen nicht vergefien, 
Heine. Viele der Bismardchen Reifebriefe haben ganz den Heinefchen Ton, die Freude 


Bißmard intime, 288 


Soldat war und ſchließlich ein in fi) Gewandter, der auf das Leben zurüdblidt, wie 
auf ein verhalltes Gelächter: 

An hellen Tagen liebt in Hof und Saal 

Ich nicht das Bild des Schmerzes und der Dual; 

Doch Dual und Schmerz ift auch ein irdiſch Teil, 

Das mußte Chriſt und ſchuf am Kreuz das Heil. 

Je länger ich betrachte, wirb die Laft 

Mir abgenommen um bie Hälfte faſt; 

Denn ftatt des einen leiden unfet zwei, 

Mein borngefrönter Bruber fteht mir bei. 


Aber nicht die einzige Form Bismardichen Glaubens ift das. Diefer Biel: 
* geftaltige ift auch in den religiöfen Stimmungen nicht ohne Wechfel. 

Sehr irdiſch vernunftmäßige Erwägungen können dominieren. Dann proteftiert . 
er fehr energifch gegen die Puttkamerſche Gläubigfeit, die in Krankheitsfällen die 
Hoffnung auf Gottes Hilfe der Arztlichen Ronfultation vorzieht: „Gebet ift freilich beffer 
ala Pillen, aber vernachläffige doch nicht die Menfchenhilfe, die Gott bietet, und ſcheue 
in dieſem Face feine Koflen“. 

Zu anderen Malen wieder behandelt er den primitiven Kinderglauben feiner 
Frau mit einer überlegenen Bonhommie und rät ihr gut zu, „Gott zeigt uns bie 
Zuchtrute wohl, die er für uns in Bereitfchaft hält“, aber er „Aedt fie wieder hinter 
den Spiegel”. . 

Viel wefentlicher aber find die Stellen, wo Bismards Künftlertum wieder auch in 
der Religiofität zu Tage tritt. Wie alle Afthetifchen Menfchen befennt er eine Schönheits: 
neigung zum Katholizismus. Der proteftantifhe Gefang mit den falſchen Tönen und 
ber „recht bürgerlichen Berlinfchen” Ausſprache degoutiert ihn, und er fehreibt mit der= 
felden großartigen Offenheit, mit der er feine allerevangelifchften Stunden ber Andacht 
geichildert, in diefer Stimmung: „Es iſt mir lieber bei guter Kirchenmuſik, von Leuten, 
die es verftehn, gemacht, zu beten für mich und dazu eine Kirche zu haben, wie die 
Teinfirche inwendig war, und Morlachiſche Meffen, mit weißgefleideten Prieftern im 
Dampf von Kerzen und Weihraud, das iſt doch würdiger, nicht wahr, Angela?“ 
Und derfelbe Aſthet fhreibt das Baterunfer italienifch auf, weil dad „melobifcher” Klingt. 

Der Glaube, bei dem Bismard ſchließlich landete, Hatte nicht von der gebeugten 
Stubenandacht des Puttlamerfchen Haufe und auch nicht? von jener vorübergehenden 
aſthetiſchen Neligiofität. Seine Gottevorftellung war nicht jo frei und weit wie bie 
Goetheſche. Sie hatte ein perfönlicheres Geficht. Aber etwas Pantheiftifches war duch, 
in ihr. Bismard fühlte das Ewige im Enblichen und nirgends tiefer als in der 
umzogenen Enge feiner häuslichen Welt, und fein Belenntnis lautet nun: 

„Gott, Du und bie Kinder... Wehmut, Heimweh, Sehnfucht nad Wald, See, 
Wieſe, Dir und den Kindern, alles mit Sonnenuntergang und Beethovenfcher Symphonie 
vermifcht ...“ 





Nusfin und bie Frauen. 285 


fih aber, weil die Zeit dort reif war, unter den außerwählten Vertretern des ftarfen 
Geflecht? Anwälte gefunden, die die Denkweife zu Gunften der höher ftrebenden 
Frauen beeinflußt haben. Iſi doch das Werk des englifchen Philofophen John Stuart 
Mil, „die Hörigkeit der Frau,“ das unübertrefflihe Tertbuch aller Frauenrechtler ges 
worden. Und mehr noch als die Forderungen’ des abfiraften Denkers haben bie 
Leben und Liebe atmenden Worte John Ruskins in vielen taufend Männer: und 
Frauenherzen die Überzeugung gewedt, daf die beften Früchte der Civilifation nur in 
gemeinfamem Streben errungen werden fünnen, daß die fchönere Zukunft nur aus 
dem friedlichen Zufammenwirken beider Geichlechter hervorblühen kann. 

Er war ein gar gewaltiger Geift, diefer John Ruskin, der zugleich Afthetifer 
und Ethiker, Künftler und Kunſikritiker, Univerfitätsprofeflor, praftifcher Reformer und 
Wanderprediger geweſen. Eine feline Vereinigung von Güte und Größe fand fi in 
ihm; fein FM: erftredte fich auf faft alle Gebiete menfchlicher Tätigkeit, und feine 
geiftige Herrihaft umfaßte gleichmäßig Kunft und Leben. Dasfelbe Leben, das 
Philoſophen und Schwärmer oft jo armjelig finden, ihm erſchien e8 voll wunder 
barfter Möglichkeiten; er hatte den unendlichen Reichtum, die köſtlichen Schäge erkannt, 
die dem gehören, der das Schöne und dad Erhabne diefer Welt zu erfaffen gelernt; 
fein ganzes Streben ging dahin, die unerjchöpfliche Dafeindfreude, die er für fi 
entdedt, den andern mitzuteilen. Sein Geilt war kein jchaffender, fondern ein 
erkennender; die Natur, die ihm Schöpferfraft verfagt, hatte ihm dafür die Gabe ver- 
liefen, alles Seiende und Werdende, Natur und Menfchenmwerk in einem neuen Licht 
zu ſehen; fie batte ihm gleichzeitig einen nimmer taftenden Geift, ein heiß empfindendes 
Herz und ein unendlich fein organifiertes Gemiflen gegeben — fo mußte er zum 
Erzieher allergrößten Maßftabed werden, und er, der zu Beginn des anbredhenden 
Jahrhunderts dahingegangen, hat in feinem Vaterland dem verflofienen Jahrhundert 
den Stempel feines Geifte® unverwiſchbar aufgedrüdt. Es geht eine mächtige Anz 
iehungstraft von feinem Weſen und feinen Worten aus, die jedem fühlbar wird, der 
jeine Schriften mit offenem Herzen aufnimmt, und er meiß alle, die in den Bannkreis 
feiner Ideen treten, unmwiderftehlich feſtzuhalten; weil er fich nicht nur der Gedanken 
zu bemächtigen, fondern auch die Gewiſſen aufzurütteln weiß; weil er über Thun und 
Denten Rechenſchaft verlangt. 

Es foll hier weder auf jeine Funftkritifche noch auf feine fozialreformatorifche Thätig: 
feit näher eingegangen werden. Er hat auf beiden Gebieten in einer Weile anregend 
gewirkt, wie vielleicht noch nie vor ihm ein einzelner. Im Anfchluß an feine äfthetifche 
Thätigleit bat fih die Wandlung im engliſchen Kunftgeihmad vollzogen, die unter 
anderm zur Auferftehung bes Kunſthandwerks geführt bat. Seine genialen Beiträge 
zur fozialen Ethik aber, in denen er den Beweis erbrachte, daß Gerechtigkeit und 
Nächitenliebe erhaltend und der Eigennug zerfegend auf den Staatshaushalt und das 
Individuum wirken, haben nicht allein den Glauben an das danıald herrſchende 
Prinzip des laissez faire zerftören helfen; er bat vielmehr fo gut verftanden, auf 
uraltem, unerfchütterlihem Fundament das Neue aufzubauen, daß es ihm fogar ge: 
lungen ift, in den Herzen feiner im Materialismus erzogenen Zeitgenoffen die Flamme 
der Begeifterung für foziale Ideale zu entfachen. 

Diefe flüchtige Andeutung über feine allgemeine Wirkſamkeit muß hier genügen, 
wo des weiteren nur feine Ideen über die Million der Frau befprochen werben follen. 
Die ruhige Selbftbeherrfhung und opfermutige Liebestraft der Frau, ihr klares Urteil, 
das nicht fo leicht durch blinde Leidenfchaft getrübt werden kann, gaben ihr in feinen 
Augen, in den Dingen des täglichen Lebens das geiftige Übergewicht, und er ſah 
ihre Beflimmung darin, Beraterin und Zührerin der Männer zu fein. Stellte er 
doch einft in einem öffentlichen Vortrag die kühne Behauptung auf, daß fein Mann 
auf Erden ein rechtmaͤßiges Leben geführt, der nicht durch Frauenliebe geläutert, durch 
Frauenmut geftärft und von Frauentakt geleitet worden wäre. Ob er in ber Lage 
war, fih in biefer wie in andern Fragen ein Urteil zu bilden und verftanden bat, 
feine Anſchauungsweiſe über die Frauen zu begründen, darüber mögen die folgenden 
flüchtigen Andeutungen oberflächlich Aufſchluß geben. 


Ausfin und bie Frauen. . 287 


feiner Männer und bringen fie zu Fal. Dagegen giebt e8 kaum ein Shakeſpeareſches 
Stüd, in dem nicht eine vollendete Frau zur Darftellung kame. „Feſt und ftark, in 
ernfter Soffnung, unfehlbar ſich ihres Ziels bewußt,“ find fie faft mafellos und bringen 
den Typus hochſten Heldentums zum Ausdrud. Auch wird die Kataſtrophe ſtets durch 
die Thorheit oder den Sehler eined Mannes herbeigeführt; wo bie Erlöfung kommt, 
erfolgt fie durch die isheit und die Tugend einer Frau. Es giebt nur ein 
Shaleſpeareſches Stüd, in dem einem ſchwachen Weibe eine wichtige Role zuerteilt 
wird, und hier wird ihre Schwäche zum Verhängnis; weil Ophelias Kraft im Fritifchen 
Moment verfagt, weil fie Hamlet feine Führerin fein fan, als er ihrer Leitung am 
dringendften bebarf, deshalb muß das Schidfal ihn und fie ereilen. Schließlich deutet 
Nusfin an biefer Stelle darauf hin, daß die drei weiblichen Böfetwichter Lady Macbeth, 
Regan und Goneril, die Shakeſpeare als Hauptcharaktere geſchildert, als fürchterliche 
Ausnahmen allen Naturgefegen ind Geficht ſchlagen und in dem gleichen Maße verderblich 
wirken, in dem fie ihre weibliche Beſtimmung, das Gute zu wollen, verraten haben. 

„So lautet mit vollfter Klarheit Shakeſpeares Zeugenichaft über den Charakter 
der Frauen und über ihre Stellung im menſchlichen Leben,” fchreibt Nusfin. „Er 
ftelt fie dar als unfehlbar treue und weile Berater — unbeftechlich, gerechte und 
reine Vorbilder —, ſieis ftark genug zu läutern, ſelbſt wenn fie nicht retten können.“ 
UndYer begnügt jich nicht mit Shalefpeares Zeugenfchaft. Unter den Geringeren der 
Großen feines eignen Vaterlandes, die in dieſem Punkte feiner Meinung waren, nennt 
er Walter Scott; dann führt er Dantes Beifpiel an, der feine unfterbliche Dichtung 
zum Preiſe der toten Geliebten geſchrieben, von der er feine Seele behütet glaubte. 
Er citiert das Lied eines —— Sängers des dreizehnten Jahrhunderts, der davon 
ſingt, wie er im gehorſamen Dienſte der geliebten Frau vom wilden Tier zum reinen 
Menſchen ward; er deutet darauf hin, va felbft in Griechenland, wo der unmittelbare 
Einfluß der Frauen ein fo befchränfter gewefen, dennoch in den Dichtungen die weib- 
lichen Charaktere, wie Andromache, Penelope, Gaffandra, Antigone, Iphigenia und 
Alceftis, den Typus ſchönſter Menichlichkeit verkörpern; daß die Hgypter, das weiſeſte 
Volt des Altertums, dem Geift der Weisheit weibliche Geftalt verliehen, und daß 
diefe Göttin der Weisheit von den Griechen übernommen wurde, die im gehorfamen 
Glauben an Athene die größten Geifteswerke fchufen, die die Welt bis auf ben 
heutigen Tag befigt. 

Die alltägliche Meinung ift nun aber, daß die Frau nicht führen, ja, daß fie 
nicht einmal felbftändig denken fol, jagt Ruskin und frägt dann: „Täufchen fih num 
alle diefe Großen, oder täufchen wir und? Haben Shafejpeare und Aeſchylus, Dante 
und Homer nur Puppen für uns aufgepugt? Oder, ſchlimmer noch, haben fie und 
unnatürliche Vifionen vorgeführt, deren Verwirklichung, wenn fie überhaupt möglich 
wäre, Anarchie in jeden Haushalt und Verderben allen unfern Gefühlen brächte? 
Wenn ihr das felbft glauben könnt, jo müßt ihr dennoch die Zeugenichaft der That: 
jachen annehmen, die das menfchliche Herz ablegt.” Und er führt aus, daß es der 
natürliche Impuls jedes edlen Zünglings ift, dem Mädchen, das er liebt, blind zu 
gehorshen, daß da, wo treuer Glaube, reine Liebe im Herzen des Mannes fehlen, 
aunifche Leidenfchaft und finnliche Begierde hertſchen müfjen. Liegt doch in dem bes 
lüdenden Gehorfam, den der Jüngling ber reinen Geliebten feiner Jugend leiftet, 
Fine befte Kraft und zugleich die fiherfte Gewähr der Beftändigfeit in dem, was er 
Beftes erfirebt. Niemand, meint Ruskin, wird das in Frage ftellen; wie aber mit 
der weit verbreiteten Anficht, daß die Rollen in der Ehe vertaujcht werden müffen 
und die Frau — Gehorſam leiſten fol? „Seht ihr nicht,” antwortet Ruskin, 
„wie unedel diefe Auffaffung ift und zugleich wie unvernünftig? Fühlt ihr nicht, daß die 
Schließung einer echten Ehe nur den Übergang bedeutet, der den worübergehenden Dienft 
zu einem unermüdlichen und die wandelbare Liebe zu einer unvergänglichen ftempelt?” 

Jedoch nur die Führerpfliht nimmt Ruskin für die Frau in Anſpruch; das 
Beſtimmungsrecht fol und muß in der Hand des thatkräftigeren Mannes bleiben. 
Gerade darum aber ift e8 fo unendlich wichtig, daß die Frau zu führen wiſſe, und 
fie wird es dann nur willen, wenn Erziehung ihr die Welt großer Gedanken und 


Sans, unſer Bohtor. 


Max Hoffmann. 


Nagbrud verboten. 


En ungeheurer Lärm mar in der Rlaffe. 
Man erwartete zwar jeden Augenblid die Anz 
kunft des Profeſſors Hedemann; aber die 
meiften dieſer boffnungsvollen Dbertertianer 
hatten ihre Pläge verlafien und ftanden in 
Gruppen an ben enftern oder neben ben 
Tiſchen. Der Heine Hinze ſchlug in regel⸗ 
mäßigem Takt mit feinem Cäfar auf ben 
Tiſch, daß es jebesmal einen Knall wie ein 
Piſtolenſchuß gab, und ber dicke Beiersborff 
beluftigte fih damit, Papierrollen vermittelft 
einer Gummiſchnur gegen die hinten hängende 
Landkarte zu hießen. Die Eifrigeren hatten 
die Köpfe zufammengeftedt unb gingen noch 
ſchnell und unter Benugung einer Heinen 
ſchmutzigen Klatſche“ das heute zur Übers 
fegung herankommende Stüd durd, während 
der Primus im Bewußtfein guter häuslicher 
Präparation im Klaſſenbuch ruhig einige 
Linien zog. Außer ihm war noch ein Schüler 
da, der ſich nicht an dem lauten Gefpräch und 
dem Epettatel beteiligte, ein neu Angefommener, 
der erft geftern beim Direltor angemelbet war 
und heut zum erftenmal biefe Rlafje betreten 
hatte. Der Rod mit den langen Schößen, 
die Müte, die er ftatt des allgemein ge= 
tragenen Hutes aufgehabt hatte, und feine 
friſchen Wangen verrieten, daß er fein Groß: 
ftabtfind war, die Schüchternheit in feiner 
Haltung ließ durhbliden, daß er aus Heinen 
Verhältnifien ftammte. Sein übermäßig großer 
Kopf, den er wohl wegen feiner Schwere 
etwas nad) vorn geneigt hielt, Hatte ihm von 
Seiten des witzigen Löwenberg fofort den Beis 
namen „Bouillonfopf” eingetragen, was ein 
Gelächter verurfachte, von dem bärbeißigen 
Jaſchkat aber mit der Bemerkung „wird wohl 
mehr Wafler als Bouillon drin fein” zurüd- 
gewieſen wurde. 








Plotzlich ſtürzte Beißert, der an ber kaum 
merklich geöffneten Thür Wache gehalten hatte, 
auf feinen Pla; feinem Beifpiel folgten alle 
anderen, und in ber Öffnung erſchien die kurze 
Geftalt Profefjor Hedemanns. Seine Blide 
glitten befriedigt über bie ruhig daſtehenden 
Jünglinge, und nachdem einer die Thür hinter 
ihm geſchloſſen und ein anderer ihm Hut und 
Mantel abgenommen, trat er würdevoll bis 
zum Katheder. Der Primus ſprach mit uns 
glaublicher Geſchwindigleit ein Gebet, und mit 
dem feftftehenden „Nun!“ — woher der Pros 
feffor den Spignamen „Nunne” hatte — 
follte die Stunde beginnen. Der Primus 
aber war ftehen geblieben und meldete: „Herr 
Profeſſor, es ift ein Neuer ba!” 

Der Oberlehrer rüdte feine goldene Brille 
zurecht, mufterte die Schüler, und feine Blide 
blieben an dem aufgeftandenen Neuling 
haften. 

„Wie heißen Sie?” 

\ „Schmidtden.” 
Wo waren Sie auf dem Gymnafium?” 

Schmidtchen nannte eine Meine Etabt 
Oberſchleſiens, und der Profeffor fuhr fort: 
„Nun zeigen Cie mal, was Sie können. 
ie haben doch Cäfar gelefen?” 

„Ja, Herr Profeſſor.“ 

„Alſo funftes Buch, 
Kapitel!” 

Er hörte eine Weile zu und fagte dann 
mißmutig: „Sie lönnen ja fo gut wie gar 
nichts! Sie find gar nicht reif für unfere 
Kaffe. Haben Sie Ihr Zeugnis da?” 

Schmidtchen fuchte in feiner Mappe und 
brachte das Gewünfchte hervor. 

„Ja,“ bemerkte der Profeſſor, nachdem er 
es durchgelefen, „wir müſſen Sie bier be= 
halten, Sie waren ja dort ſchon in Obertertia. 

19 


ſechsunddreißigſtes 


Sand, unfer Doktor. 


Haft nad} allen Zeiten, ein Iautes Rufen und 
Schreien, ein Donnern mwälzte fih näher und 
näher, und inmitten bes mwüften Braufens und 
Raſens in wilder Jagd ein Pferd mit einem 
mütend fortgerifjenen Bierwagen. Der Kutſcher 
war bereit3 in weitem Bogen vom Bod ge: 
flogen, und das ſich frei fühlende Tier fprengte 
in ſchäumender Luft gerade vorwärts, ben 
Kopf mit den weit geöffneten Nüftern hoch— 
baltend und das Pflafter mit den Eifen 
ſchlagend, daß die Funken fprühten. Ein 
Strom Rettung und Hilfe ſuchender Menfchen 
mogte ringsum, ſchon mar ein Schugmann, 
der nad) den Zügeln greifen wollte, zur Seite 
getaumelt, ein Laternenpfahl vom Anprall des 
fplitternden Wagens mitten durchgefnidt, und 
immer weiter ging das wahnfinnige Rennen. 
Nun lenkte das Pferd auf den Bürgerfteig, 
gerade auf den Heinen Profefjor Hedemann 
zu. Der ftand wie hypnotiſiert, feine Hefte 
waren zur Erbe gefallen, bie beiden Arme 
hatte er nad) vorn geftredt, als fönne er das 
Tier aufhalten, und fo, ein Bild der Schwäche 
und des Jammers, mußte er im nächſten 
Augenblid überrannt und zerfchmettert fein. 
Wer ſchießt da windſchnell mit einem 
ſchrillen Schrei über den Etraßendamm, dem 
Pferde gerade entgegen? Das ift ja ber ftille 
Knabe, der ſchon feit einer Stunde fo betrübt 
drüben an der Straßenede geftanden hat! 
Seine Mappe bat er von fich gefchleubert, 
daß die Bücher hinausgewirbelt find, die 
Fäufte feit zufammengeballt, die Beine unglaub: 
lich ſchnell Hinter fich werfend, das dide Geficht 
dunkelrot, fo ftürmt er mit flatterndem Haar 
heran. Dicht vor dem Profefjor wirft er ſich 
gegen das Tier und faßt es feſt beim Zügel, 
daß es fih hoch aufbäumt und den Mutigen 
wie einen Ball mit emporreißt, dann giebt es 
einen Stoß, ein Praffeln und Knirfhen, und 
Roß, Wagen und Menſch brechen mit einem 
furchtbaren Krach zu einem Klumpen zufammen. 
Bon allen Seiten eilte man herbei. Der 
faft geiftesabmwefende Profefjor fammelte ſich 
wieder und trat zu dem dichten Menfchenhaufen, 
der ſich gebilbet hatte. Das Pferd hatte beibe 
Vorderbeine gebrochen und lag leife ftöhnend 
da, unter feinem Kopf zog man ben Körper 
Schmidtchens hervor. Er hatte den tödlichen 
Schlag des einen Hufe empfangen und war 





2493 


lautlos niebergefallen. in Polizeileutnant 
manbte fih zu dem Profeſſor. „Der junge 
Menſch da hat Ihnen das Leben gerettet,“ 
fagte er ernſt, „leider hat er das feinige da⸗ 
bei gelafjen!” 

Profeſſor Hedemann kam bleich und zitternd 
heran und blidte ſchaudernd nieder. Ja, er 
hatte doch Gehirn gehabt, der arme, dumme 
Junge! Sehr viel fogar! Der alte Mann 
fah mit Grauen, daß er zu Unrecht daran ges 
zweifelt hatte. Da quoll es aus der Haffen- 
den Wunde und färbte die Steine mit feiner 
grauen, blutigen Maſſe! 

. . 
. 

Nah drei Tagen war das Begräbnis. 
Der Gefangdor, in dem Schmibthen nun 
nicht mehr mitbrummen konnte, follte am 
Grabe fingen; vorher aber verfammelten fi) 
die Oberllafjen und die Obertertia, um im 
Beifein des ganzen Lehrerfollegiums eine er- 
greifende Rede des Direltors anzuhören. In 
ſchönen, Haffifhen Worten wies er auf den 
Heldenmut der Alten bin, wie fie das Leben 
gering geachtet hätten im Dienft des Vater- 
landes und einer Idee. „Die tieffinnigften 
Dichter und Philofophen,” ſchloß er feierlich, 
„haben es uns verfündet, daß das Leben nicht 
der Güter höchftes fei, und es hat immer 
Menſchen gegeben, die nad) diefem Ausſpruch 
als leuchtende Helden der That handelten. 
Zu ihnen gehört auch der, den wir heut zur 
Ruhe bringen. Er ift als ein Sieger dahin- 
gegangen und wird als ein folder in unferer 
Erinnerung bleiben, ung zum Gebädhtnis, euch 
zur Naceiferung!” 

Ganz im Hintergrunde des Saals wohnte 
der Feier ein in dürftiges Schwarz gefleidetes 
Ehepaar bei. Der Mann mit einer merk— 
würdig vorfpringenden Stim, der feinen Hut 
in den harten Arbeithänden hielt, fah mit 
glänzenden Augen nad) dem Redner; das Ge- 
fiht der von Schluchzen erjhütterten Frau 
war beftändig hinter dem meißen Taſchentuch 
verborgen. Als aber der Direktor die Philos 
fophen erwähnte, beugte fih der Mann zu der 
ſtill weinenden Frau, und mährend ihm die 
plöglih hervorbrechenden Thränen über bie 
Wangen liefen, flüfterte er ſtolz: „Siehft du, 
Mutter, ich hab's doch immer gejagt, unfer 
Doktor hatte einen philofophifchen Kopf.“ 


— 


Drei Monate Kündigungsfrift. 


Die Gelegenheit fand ſich ohne ihr Zuthun. 
Am andern Morgen wiederholte das junge 
Mädchen feine Kündigung. Sie brauchte fait 
biefelben beſcheidenen Worte wie vor einem 
Vierteljahr, aber in ihren Augen lag bereits 
der Ausdrud eines getifien Gekränktſeins, und 
Frau Oberamtmann legte in ihren Ton jene 
Geringfehägung, die gerade in Frauenmund 
zu einer fo befonbers ſchneidenden Waffe 
wird. 

„Alſo zum 1. November. Es liegt uns 
natürlich fern, Ihnen irgend etwas in ben 
Weg legen zu tollen. Ich weiß nur nicht, 
wie Eie es fo lange bei uns ertragen haben. 
Drei Jahre. Böllig verlorene Zeit!” 

Um den blafien Mund der Kindergärtnerin 
zudte es. „Das till ich nicht annehmen, 
gnäbige Frau. Ich habe den Kindern das 
Befte, was ich hatte, gegeben und bafür fo 
viel Liebe von ihnen empfangen —“ Die 
zurnende Gebieterin unterbrach fie. 

„Na, die ſcheint aber auch reichlich in ber 
Abnahme begriffen zu fein, feit — feit —“ 

Sie ſchludte, es fiel ihr im Augenblid 
nichts ein, was fie dem jungen Mäbchen hätte 
vorhalten können. Aber etwas andre kam 
ihr mit großer Deutlickeit in den Einn: wies 
viel Ärger fie wieder mit einer „Neuen“ haben 
würde. Und bei biefer Erkenntnis preßte fie 
bie Lippen zuſammen und verließ das Zimmer. 

Die erften Tage nah der Kündigung 
gingen in ftiller Einförmigfeit dahin. Fräulein 
Magda nahm ihre ganze Kraft zufammen. 
Sie erteilte den Unterriht mit peinlichfter 
Genauigkeit und erfand zum Amüfement ber 
Kinder neue Epiele. Und abends, wenn fie 
fchliefen, ftand fie lange an ihren Betten. 
Ihr war das Herz fo ſchwer, recht ſchwer. 
Sie dachte an das Scheiden, wie an einen 
noch nicht zu faſſenden, grenzenlofen Echmerz. 
„Wie fol ich's tragen? Wie foll ich's über- 
mwinden?” Und fie drüdte das Geſicht in das 
weiße Kiffen der Heinen Eli und weinte. 


Am vierten Tage hatte Kurt Feine Schul- 


arbeiten gemacht, und als Magda ihn deshalb 
zur Rebe ftellte, gab er ungezogene Antworten. 
Sie tabelte ihn, aber ihre Stimme ſchwankte. 
Es war merfwürbig, bei der Heinften Erregung 
hatte fie jegt immer ein eigentümlich würgendes 
Gefühl im Halfe und ein faft unerträglices 





295 


Herzllopfen. Sie mochte nicht zeigen, wie 
elend ihr zu Mut war und ging auf ein 
paar Minuten hinaus. Kurt fühlte fih als 
Sieger. 

Als die Kindergärtnerin fih wieder dem 
Schulzimmer näherte, hörte fie, wie Nora fagte: 

„Du follteft dich ſchämen, Kurt, Fräulein 
Magda fah aus, als ob fie fterben wollte.“ 
Und dazu die Antivort: „Unfinn, die verftellt 
fh bloß. Mama hat geftern zur Tante 
Wilmsdorf gefagt, fie hat ſich die gange Zeit 
über verftellt. Und wenn fie fortgeht” — er 
ſchnippte mit den Fingern — „id made mir 
nit fo viel daraus.” 

Das junge Mädchen trat ein. Sie ging 
ans Fenfter und fchaute wie geiſtesabweſend 
hinaus. 

„Nimm bein Lefebuch, Kurt.” 

Sie wandte fi Iangfam zurüd. Da hatte 
ihr der Heine Burſche die Zunge ausgeftredt. 

Und da war es geſchehen, noch ehe fie ſich 
deſſen ſelbſt bewußt war. 

Kurt ſtieß ein entſetzliches Geheul aus und 
geberdete ſich wie wahnſinnig. Eine Ohrfeige 
ihm — ihm, dem verwöhnten Einzigen von 
Oberamtmanns, der in abſehbarer Zeit ein 
Reitpferd und einen Hauslehrer bekommen 
ſollte. Es war empörend, es war haarſträubend! 

Als Magda ſpäter zu Tiſch kam, hatte 
Kurt bereits ſeinen Platz, der ſonſt ihr zur 
Linklen war, neben dem Stuhl der Mutter 
erhalten. Ihr Gruß blieb allerſeits unerwidert 
— man ignorierte fie vollftändig. Nach dem 
Eſſen minkte fie der Hausherr in fein 
Zimmer. r 

„Mein Fräulein, jegt wird die Sache denn 
doch aud mir etwas zu ftart. Sch habe viel 
von Ihnen gehalten, fehr viel. Aber daß Sie 
im ftande find, Ihre Wut an einem un» 
ſchuldigen Kinde auszulafien, bringt mir eine 
andere Meinung von Ihnen bei. Der Unter- 
richt findet von jegt ab im Zimmer meiner 
Frau ftatt.” 

Magda wollte etwas erwidern, aber fie 
fonnte ſich nicht auf den Hergang befinnen. 
Ihr mar, als ob alle Gebanfen aus ihrem 
Him herausgeriſſen wären. Sie bog ben 
Kopf ein wenig hintenüber, ihr fonft fo 
fompathifches Geficht hatte einen ftarren Aus— 
drud. 


Drei Monate Künbigungsfrift. 


Naturgefchichte zugeſchidt befommen. Yamos. 
Darf ich es Ihnen zur Einfiht fenden?” 

Eie wechſelten noch ein paar freundliche 
Worte miteinander, reichten fi die Hand und 
gingen auseinander. 

Eli pflüdte fi die erfehnten Aftern, und 
Magda dachte dabei zum hunderiftenmal, daß 
es nichts Sußeres, Wonnigeres gebe, als dieſes 
Kind, das fie nun bald verlaſſen müßte. 

Am andern Tag ſaß Elli ganz ftill in 
ihrer Epielede, und als bie andern Kindern 
fich ihr näherten, fing fie heftig an zu weinen, 
kam zu Magda gelaufen und legte den Kopf 
auf ihren Schoß. 

„Um Gotteswillen, gnäbige Frau, das 
Kind ift krank.“ 

Die Yrau Oberamtmann war mit brei 
Schritten bei der Gruppe. Ya natürlich. Das 
Köpfchen glühte, und bie Heinen Hände zudten. 

So refolut die Dame fonft erſchien, mas 
Krankheiten anbetraf, war fie fehr ängſtlich. 
Ein Hüften bei den Kindern war für fie 
das Zeichen einer ausgeſprochenen Lungen: 
entzündung, und ein heißer Kopf — mas 
lonnte fi) da nicht alles entwideln! B 

Überdies fchienen die Symptome diesmal 
wirllich ernfter Natur zu fein. 

„Run möchte ich nur willen, wo das arme 
Kind fih das wieder geholt hat? Sie find 
doch nicht etwa geftern mit ihr noch draußen 
getvefen?” 

„Das wohl, gnädige Frau, aber es war 
ganz ftil im Garten und recht warm.” 

Eli hob für einen Moment das Köpfchen 
in bie Höhe. „Und wir trafen aud ben 
guten Onfel Stern. Der bat ein Heines, 
weißes Hüundchen, das möchte ich haben.“ 

Die Frau Oberamtmann war außer fid. 
Da war die Sache ja erwieſen: die größefte 
Fahrläffigkeit, die es je auf Gottes Erdboden 
gegeben. Die Perfon trifft fih mit dem 
Lehrer, und mein Kind zahlt dafür fein 
Leben. 

Sie ſprach nicht mehr, fie ſchrie förmlich. 

Magda zitterte fo heftig, daß es einen 
Stein hätte erbarmen fönnen. Sie fuchte zu 
erflären. Es war umfonft. Die Mutter hatte 
ihr das Kind bereitd vom Arm geriffen und 
mar im Echlafjimmer verſchwunden. — 





297 


Landarztes von dem Gutshof. Die Frau 
Dberamtmann blidte ihm mit fehr gemifchten 
Empfindungen nad. Alſo die Mafern! Na, 
die mußten ja alle Kinder durchmachen, das 
war ſchließlich nicht ſchlimm. Ein Seufzer 
unfäglicher Erleichterung hob ihre Bruft. 

Aber, daß eine Erfältung durchaus nicht 
anzunehmen fei, machte fie ein wenig unruhig. 
Schließlich mußte man Fräulein Magda ein 
Wort der Erklärung fagen. 

Doch da fiel ihr noch zur rechten Zeit 
ein, daß ihr Mann einmal für das junge 
Mädchen Partei ergriffen — und Kurtchens 
Obrfeige — und die teure Zeitungsannonce 
wegen der „Neuen” — und ber Lehrer 
Stern. 

Da machte das nörgelnde Gefühl des 
Unbehagen der gewohnten Erbitterung Platz. 

Es klopfte. 

Die Frau Oberamtmann öffnete ein wenig 
und ſah unmutig durch die Spalte. 

„Was waunſchen Sie,” fragte fie das 
junge Mädchen kurz, das mit ſchlaffherunter⸗ 
hängenden Armen und verweintem Gefidht vor 
ihr ftand. 

„IH möchte — ich möchte gern wiſſen, 
mas Elli fehlt und ob ich Ihnen nicht bei der 
Pflege helfen dürfte!” 

Der Dame mochte es in den Einn fommen, 
wie Magda vor einem Jahr viele Nächte 
bindurh am Kranlenbetichen der Kleinen 
gewacht und welches Lob fie von Dr. Holz 
geerntet. 

Sie bilvet ſich wohl gar ein, fie kann's 
beffer als ich, dachte fie, und ihre Stimme 
wurde ſchroff und abmeifend. 

„Ich danke Ihnen, ich pflege mein Kind 
ſelbſt. Eli werde ich Ihnen überhaupt nicht 
mehr übergeben.” 

Ohne einen Laut der Erwiderung ver- 
ſchwand das junge Mädchen im dunkeln 
Korridor. 

Sie brachte die Nacht angelleivet auf dem 
Sofa zu. 

Am andern Morgen fah fie aus wie eine 
Todkranke. Es hatte fie bis ins Herz ge 
troffen. — — — Die legten Wochen gingen 
ohne meiteren Zwiſchenfall vorüber. „Sie 
lann einen mit ihrem ſtarren Geficht verrüdt 


Zwei Stunden fpäter fuhr der Wagen des machen,“ fagte der lebensfrohe Hausherr und 


Die Frauen in Birma. 299 


Nehmen Sie,” fuhr er, nachdem feine kurze bulldog-pipe angezündet war, fort, 
„nehmen Sie beiſpielsweiſe einmal die Frauenfrage. Wir befinden uns auf dem Wege 
"dahin, wo ſchon feit Jahrhunderten die Frauen in Birma ganz unangefochten leben! 
Im Gebiet des birmanifchen Reiches — ſowohl in der britiſchen wie in ber fran- 
zöfifchen Einflußfphäre — befigen die Frauen die unbebingtefte perjönliche Freiheit, 
die in Zweifel zu ziehen ben Männern überhaupt gar nicht einfält, Uralte religidfe 
Gebräuche und Landeögefege ſichern der Frau volllommene Gleichberechtigung mit dem 
Mann, auch in ölonomifcher Beziehung. Jedes unverheiratete Mädchen und jede ver: 
heiratete Frau ift felbfländige Verwalterin ihres eigenen Vermögens ober Beſitzes. 
Keiner der Ehegatten ‚hat das Recht, den andern zu bevormunden. Die jungen 
Mädchen heiraten zwiſchen dem 18. und 22. Jahre, felten fpäter, aber auch nicht 
früher. Kinderehen, wie in Indien, giebt es nicht in Birma. In Folge ihrer 
Selbfländigteit dürfen fie ganz nach Belieben den Mann ihrer Wahl heiraten. Die 
Erziehung der Kinder ift ebenfalls von ganz eigentümlicher Art in Birma: nachdem 
die Knaben und Mädchen laufen können, bleiben fie fich felbft überlaflen und können 
ſich in allen Lebenslagen früh helfen, ohne dazu ‚erzogen‘ zu werben... . 

Vielleicht könnten Sie daraus fchließen, daß die Konſequenz diefer Nichterziehung 
eine anmutige Verdummung und Verwilberung wäre. Keineswegs. Wenn die Kinder 
heranwachſen, lernen fie arbeiten, und bie nötigen Kenntniffe werden ihnen in ben 
Schulen beigebracht. Obwohl manche Gegenden des Landes dicht bevölfert find, hat 
der Kampf ums Dafein dort nicht bie fcharfen Formen mie bei und angenommen. 
Das beruht zum Teil auf der Freiheit und Gleichberechtigung der Frauen, wodurch 
der Verkehr auf eine breitere Grundlage geftellt ift, die die Konkurrenzfurcht zwiſchen 
Männern und Frauen nicht auffommen läßt. 

Auch in Bezug auf bie Frauenbildung war ich fehr durch die Thatfachen über: 
raſcht, denn nicht nur bie Stadtbewohnerinnen, fondern viele Landmädchen und 
Bäuerinnen können lefen, ſchreiben und rechnen, außer den häuslichen Arbeiten, in 
denen fie fehr geihidt find. Praktiſche Erwerböthätigfeit finden fie vor allem als 
Verkauferinnen in den großen öffentlichen Bazaren von Mandalay und Rangoon; fie 
zeigen fih in der Warenkunde hervorragend tüchtig. Immer gleichmäßig höflich und 
aufmerkfam, felbft wenn man nichts kauft, plaudern und ſcherzen fie mit jedem Vorüber: 

jehenden, ohne ihre Intereſſen zu vernadläffigen. Sagt man ihnen 3. 8. irgend eine 
ttigteit, jo haben fie gar nichts dagegen einzuwenden — erhöhen aber dafür den 
Preis der Waare um einige Rupeeen. Beim Einkaufen von Seidentüchern paffierte 
mir das felbft einmal, als ich der Verkäuferin mein „Wohlgefallen“ an ihrem ſchnee⸗ 
meißen Kleid und den bunten Blumen im Haar, die fie anmutig kleideten, aus: 
geiprochen hatte. 

Natüstice Anmut ift überhaupt eine hervorragende Eigenfchaft der Birmanerin, 
von der ein britifcher Staatsbeamter (Henry Fielding) fhreibt: „fie ift weder eine 
Helena, noch eine Afpafia, aber noch weniger eine Amazone.“ Fielding bat recht. 
Ich felbft Habe viele Europäer, Chinejen und Japaner bort im Lande kennen gelernt, 
die ſich mit einheimifchen Frauen verheiratet haben, fogar Hindus — die fo fehnfüchtig 
an ihrer Heimat hängen — verzichten oft auf die Rüdfehr, wenn fie eine Birmanerin 
zur Frau haben. 

Sehr vernünftig und frei von Prüderie find die Anfchauungen der Birmanerinnen 
in Bezug auf die Ehe. Wie ich Ihnen ſchon fagte, Heiraten die jungen Mädchen 
wann und wen fie tollen. Dabei find fie durchaus nicht profaifch veranlagt, ſondern 
wiffen die Präliminarien zur Verlobung mit einem Schimmer von Romantik zu 
umgeben. Eine alte Landesfitte, die „der Zeitpunkt des Hofmachens“ Heißt, bringt 
die Liebenden zufammen. Abends, wenn der fühlende Sudwind (der vom Meere 
kommt) die Hige des Tages vergeflen macht, während der Mond jeden Zweig und 
jebes Blatt mit einem filbernen Schimmer überftrahlt, beginnt das Spiel, indem 
reizende Balkonſcenen improvifiert werden! Die Mädchen figen, hinter dichtem Laub 
möglichft verfledt, auf ihrer drei biß vier Fuß über dem Boden gebauten Heinen Holz 


Die neue kunftleriſche Bewegung. 808 


ift, konform fein dürfte — wie daher die ganze materielle Bafis, auf der wir leben, 
eine andre geworben ift, fo müffen fchließlich uch alle idealen Lebensfaltoren davon 
berüßrt werben, fo muß enblih auch die Kunit, als Gradmeſſer ber jeweiligen 
kulturellen Verhältniffe, diefe Ummandlung zum unmittelbaren Ausdrud bringen. 

Mit andern Worten: Es ift doch felbfiverftändlih, daß man in der Zeit der 
Gothik anders baute, anders malte, dichtete und komponierte als im Rofofozeitalter. 
Zur Zeit des eifengepanzerten Nittertumd mußte die Zimmereinrichtung, die Raum- 
verteilung im Haufe eine andre fein als etwa zur Zeit der Allongeperüden und ber 
feidenen Strümpfe. So jei denn bier der Leidenſchaft mancher Menichen, das öde 
Einerlei und Untünftleriiche der Wohnungseinrichtungen ber Iegten fünfzig Jahre mit 
Möbeln aus der Renaiffance oder Gothit zu unterbrecyen und zu beleben, als einer 
hochſt thörichten gedacht. Es ift ja nicht zu leugnen, daß dieſe Paffion jehr häufig 
mit einer Liebe für Kunft und Fünftleriihen Schmud des Haufes zufammenhängt, zu 
gleicher Zeit aber bekundet fie auch ein Unverftänbnis dafür und Verfländnislofigfeit 
gegendber den fünftlerifchen Forderungen ber eigenen Zeit. Es fei geftattet, Bier einige 

utoritäten auf diefem Gebiete zu citieren. Cornelius Gurlitt fchrieb im Jahre 1887 
ein lefenswerted Büchlein: „Im Bürgerhaus“. Dort verfucht er gegen die Leidenſchaft 
der alten Stileinrichtungen zu fämpfen. „Der Stil“, jo meint er, „Ihmüdt nicht da 
Haus, fobald und berielbe fremd ift. Der Künftler kann uns noch fein wohnliches 
Haus fehaffen, fondern wir felber müflen das thun. Es gilt nicht eine ideale, fondern 
eine eigene Einrichtung zu ſchaffen, nicht Schönheit an fi, jondern Erfüllung des 
Zwedes gilt es zu erzeugen. Scaffe dir jelbft ein eigenes, deinem Wefen entiprechendes 
Neft, und ed wird dir gefallen — fchaffe es dir in Durchbildung deiner Anfichten 
über fhön und Häßlich, und es wird ficher ſchön werden, wenn in dir die edlen Züge 
des Menfchenherzend obmalten. Nicht die filiflifchen Formen machen ein Haus zum 
Eigenwefen, dad fih von der Mafie der Mittelmäßigkeit wohlthuend unterfcheidet, 
fondern der Gedanfeninhalt, der unbemerfbar und doch beflimmend in den Dingen 
waltet. Nicht die Raumgeftaltung, nicht die Pracht machen ein Zimmer ſchön, fondern 
feine Beziehung zu unferm Leben”. 

Sollen wir nun flilvoll fein im Geifte früßerer Jahrhunderte? Sollen wir eine 
Kunſt der Selbftentäußerung fortfegen, deren Ziel doch nie ganz von und erreicht 
werben ann? Wer bad Alte befigt, wen es in irgend einer Form überfommen ift, 
der freue fich feines Neichtums — es bat dann einen Zufammenhang mit ihm —, 
wer es ſich aber neu ſchaffen will, der ift wie einer, der ſich nachträglich Ahnenbilder 
malen läßt. Nicht geſchichtlich, ſondern fachlich flilvol fol man ſchaffen. Stil ift 
gleichbedeutend mit innerer Zwedmäßigkeit, ſtilvoll ift, mas dem Weſen eines Werkes 
in feiner ganzen Anlage und Ausbildung kunſileriſch entipricht. Erſte Forderung des 
Stils ift innere Wahrheit. Der echte Künftler hat dabei den Blid nad vorwärts 
und nicht auf alte Formen zu richten. Alles Alte ift ihm nur Unterlage, Vorarbeit. 
Er ift erfült vom Geift feiner Zeit und will diefen durch fein Werk zum Ausdrud 
bringen. Immer wieder wandelt fi die Zeit und mit ihr der ihr eigene Ausdruck, 
die Kunſt. Nur ftilftehende Zeiten haben eine ſtillſtehende Kunft. So lange die 
Herzen der Völker fchlagen, geht der Weg vorwärts. Es giebt fein Verweilen auf 
fonnenbeglänzter Höhe, der Künftler muß weiter, fein Wert muß aus dem Rahmen 
des Alten hinaus, e8 muß modern werden, muß bie alten Gejege der Äſihetik 
durchbrechen. 

Und weiter prophezeit Gurlitt: „Mir will ed fcheinen, als werde Hinter dem, 
mas fih als neue Kunft im Gewerbe jegt zeigt, bald das kommen, was ich einen 
eigenartigen Stil nennen möchte, nämlich, daß man Käufer und Möbel fchaftt, wie 
man Bildniffe malt, in Anfehung der Perſon, nach dem Wefen des Beftellers.“ 

Auch Alfred Lichtwark, der geniale Leiter der Semburger Kunſthalle, urteilt in 
diefer Sache genau fo, wenn er fagt, daß man ſich feinen Lehnftuhl anmeſſen laſſen 
folle wie einen Rod. — 

Zange ſchon Hat man von einer mobernen Kunſt gefprochen und — was zunächft 
die Bildermalerei anbelangt — fie fo verflanden, daß von Malern, die gerade in 


Die neue kunſtleriſche Bewegung. 805 


des litterarifch Geiftreichen forderte, die Gelehrten dem Künftler den Inhalt feiner. 
Bilder vorſchrieben — ſah man in ihm nichts weiter ald einen Handwerker, um fo 
mehr, als durch Fleiß, bei einigem Geſchich, die Technik, das Handwerkliche der Kunft 
zu erlernen war. So ſank die Technik immer mehr und mehr zum Nebenfächlichen 
herab. Daß die bildende Kunft auf der Schärfe de finnlichen und feelifchen Erfaſſens 
berube, daß das vollendete Werk nur aus fünftlericher Anfchauung geboren werden 
tönne, daß die reale künfileriſche Wahrheit über der inhaltlichen ve, begriff man 
nicht. Der Wert eines Bildes wurde an der Richtigkeit der Wiedergabe des Stoffes 
gemeflen. Goethe, der feine Kenner antiker Kunft, Hatte fein Empfinden für die 
Schwächen der zeitgenöffifchen. Die armfeligften Erzeugniffe befriedigten ihn, wenn 
fie nur irgend einen erhabenen Gedanken darzuftellen beabfichtigten. — 

Ebenſo fonderbar berührt uns jegt die Anſicht Leifings, wenn er fagt, ein 
Maler, der nad) irgend einer Beichreibung des englifchen Dichter? Thomfon z. B. eine 
Landſchaft darftelle, habe mehr gethan als der, welcher fie vor der Natur felbft male. 
Denn dieſer ſehe das Urbild vor fi, während jener feine Phantafie fo anftrengen 
müffe, bis er es vor fi zu ſehen glaube. 

Die Künftler fonnten der Macht gelehrter Logik nicht widerftehen. Sie fingen 
an, dad Heil für ihr Schaffen einzig vom Studium ber Alten zu erwarten und 
begannen, fih an der Schöpfung einer wiſſenſchaftlichen Äfthetik zu beteiligen. 

Schon Raphael Meng hatte in feinem Buche „Ueber die Schönheit” feinen 
Zeitgenofien den rechten Weg zeigen wollen. Und gerade er ift ein Beweis dafür, 
daß ein Maler alle Regeln der Logik und Aſthetik innehaben kann, und doch fein 
einziged Werk jchaffen, da den nur aus eigenem innerften künſtleriſchen Erfaſſen heraus: 
geborenen Werfen eines ungelehrien Meifterd wie Dürer, Holbein, Rembrandt, Franz 
Hals u. f. w. ebenbürtig iſt. Der Künftler kann nichts vom Gelehrten lernen. Er 
muß unbewußt naiv fchaffen, er muß feine Individualität, feine Art, die Welt zu 
ſehen, zur Geltung bringen. 

Wenn Raffael in den Bildern feiner legten Schaffensperiode den pyramibalen 
Aufbau bevorzugt, fo war das richtig für ihn. Allein es war nicht richtig, den 
pyramidalen Aufbau zu einem Gefeß zu machen. Sept ift man wieder zur horizontalen 
und vertifalen Linie zurüdgelehrt, und mwir freuen uns diefer Errungenfchaft. Früher 
fagte man, eine Landſchaft müfle fo komponiert fein, daß alle Linien in einen Mittel: 
punkt zufammenfließen — ein Bild müſſe mindeftens balanciert fein, d. h. dem ſtarken 
Effelt auf einer Seite müſſe ein annähernd ſtarker auf der andern entiprechen, fonft 
falle das Bild auseinander — heute denkt man nicht daran, fondern malt die Natur 
jo, wie man fie ſieht. Gemwiß werden auf diefe Weife manche Abfurditäten auf die 
Leinwand gebracht, und mande Bilder, die wir jet auf Kunftausftellungen einen 
erften Plag einnehmen fehen, werden ficher fpäter in die Rumpellammer geworfen 
oder werden doch nur in Zukunft ein biftorifches Intereſſe haben, wie wir ja auch 
beute in den Mufeen manche biftorifch intereffanten Abfurditäten vergangener Zeiten 
finden. — Dennoch ift der Weg, den fie einihlagen, die jungen Fraufetöpfe, der 
richtige, und das Befunde, Echte wird feinen Platz behaupten. 

Jeder Künftler, in feiner Eigenart, wurzelt feft in feiner Zeit; die Kunft ift eng 
mit allen Zeiterfcheinungen verwachſen; jo mußte fie auch im zwanzigften Jahrhundert 
die alten ererbten Gefege durchbrechen. 

Unfere Zeit aber ift die Zeit der Entdedungen auf dem Gebiet der Natur: 
wifienfchaften, der Chemie, der Phyſik, und fo ift es auch feine Zufälligkeit, daß die 
Umwandlung in der Malerei von den Ericheinungen der Natur, vom Lichte ausging. 
Daher der Pleinairismus, bie Freilichtmalerei, der Impreſſionismus. Und da das 
Licht Farbe ift, wie ung das Prisma beweift, fo mußte die neue fünftlerifche Bewegung 
eine beforativ-farbige fein. Nun haben ängftlihe Gemüter die Befürchtung aus— 
geſprochen, daß wir in einigen Jahren überhaupt fein abjolutes reines Kunſtwerk 
mehr zu fehen befommen werden, jondern nur noch dekorativ ftilifierte. Der Plakatftil, 
meinte man, wird fich breit machen und alles andre verdrängen. Indes, dieſe Be: 
fürchtung ift unbegründet: die neue fünftlerische Bewegung ift auch differenzierender 

20 


806 Die neue Tünftlerifche Bewegung. 


‚Art. Sie weilt der reinen Kunft ihren Plag an, und der angewandten, der ftilifierenden 
den ihren. Es liegt das in den materiellen Berbältniffen unfrer Seit bearünbet. 
Unfre Wohnung bat in der That einen andern Charakter bekommen. Die Thätigfeit 
der meilten Menjchen jpielt fich außerhalb des Hauſes ab, das öffentliche Leben ift 
vielgeftaltiger geworden, auch die Frau tritt mehr in die Öffentlichkeit als früher. 
Die Wohnung ift mehr und mehr zur Erholungsftätte geworden. Dadurch wird fie 
ja einerfeit3 zur Aufnahme von Kunſtwerken geeigneter, nur muß auch andrerfeits das 
Kunſtwerk, wenn es diejer feiner Beltimmung nachlommen fol, in andrer Form auf: 
treten als bisher. Die abjoluten Kunſtwerke früherer Epochen waren zunächſt auch 
nicht für die eigentlichen Wohnräume gedacht. Die Kunft ftand zuerft im Dienfte des 
‚Rultus. Später, als ſich die profane Kunſt von der kirchlichen löfte, fand die erftere 
eine Stätte in den Prunfjälen der Fürften, der Mächtigen und Reichen, von wo aus 
fie in neuerer Zeit in die Mufeen, als die Sammelpläge abjoluter Kunſtwerke, über: 
gegangen ift. 

Diefe Mufeen find in der That der geeignetite Platz, um Kunftwerfe unter den 
denkbar günftigften Bedingungen auf fich wirken zu laffen. An ihnen follte ein Staat 
mebr und mehr arbeiten; er würde fich dadurch um die Förderung der Kunft größere 
Berdienfte erwerben ald Durch das Arrangieren der alljährlichen großen Kunftaußftellungen, 
die nur zu einer Verflachung und überaus fchädlichen Überprobuftion führen. Sie 
richten in der That mehr Unheil an, als man denken follte. Die Künftler, die meinen, 
für jede Sahresausftellung etwas Neues bringen zu müſſen, werfen flüchtige, ober: 
flächliche Sachen auf den Markt. Sie ſuchen ſich gegenfeitig zu überbieten im Auf» 
fallenwollen, und jo entiteht an allen Eden und Enden viel Lnerfreuliches und 
Abftoßende2. 

Auch der neuen Kunftbeftrebung bat dad alljährliche Ausſtellungsweſen weit mehr 
geſchadet als genügt. Die junge Kunſt hätte, als fie faum erwacht war, noch Sabre 
lang ftiller, ernfter Arbeit an fich jelbft bedurft, anftatt zur Unzeit fchon ans Tage: 
licht gefördert zu werden. Auch die Preſſe machte, zum Zeil in beiter Abficht, viel zu 
früh ein lärmendes Aufjehen von ihr. Dadurch ift viel Unheil angerichtet worden. 
Einigen jtrebjamen Künftlern wurde, da man fie in den Himmel erhob, der Kopf 
verdreht, fo daß fie fich fchon für fertige Meifter hielten, als fie doch eben erft anfingen 
zu werden. Und auch das Publikum wurde verwirrt. Es nahm die Ateliererperimente 
und jpielenden Berfuche für ernft. Der eine Teil kaufte Sachen, die eben nur als 
Verſuchsobjekte Wert hatten, oder oberflächliche Skizzen und verbarb ſich an den teils 
unfertigen, teil® unverftandenen Dingen den Gejchmad. Der andere und zivar bei 
weitem größere Teil begriff überhaupt nicht, um was ed ſich handelte, aber er verhöhnte 
und verlachte da3 Unbegriffene. Und fo ift e8 denn gefommen, daß man im allgemeinen 
von ‚der neuen Kunft ald von einer Thorbeit fpricht, und fie belächelt oder fie als 
eine Berirrung beklagt. 

Aber wie nun einmal die Saden liegen, das Achjelzuden nüßt der Menge 
nicht — es Tann die neue Kunft nicht aus der Welt jchaffen. Sie ift nun einmal 
da, und man kann fich ihrem Einfluß auf das Leben jchließlich eben fo wenig entziehen 
als dem der Elektrizität, der Dampfmaschine, des Telegraphen und des Telephons. 

Das Schöne an der neuen Bewegung aber ift der Standpunft, daß e3 fich nicht 
mehr lediglich um die Ausbildung einiger Zurußerjcheinungen wie die Bildermalerei, 
die Skulptur es ift, handeln darf, jondern daß e3 in eriter Linie auf die Harmonifierung 
des Ganzen ankommt. Wir dürfen nicht alle Fünftlerifchen Bedürfniffe in den reinen 
Künften Eonzentrieren und alles Übrige vernachläffigen. E3 kommt darauf an, die 
fünftlerifchen Güter, die bisher auf dem Wege der reinen Kunft erworben find, zu 
erhalten und zu verwerten. Der fchroffe Gegenjag zwilchen dem hoben Stand ber 
legteren und der rohen Geſchmackloſigkeit des ganzen Volkes ſoll ausgeglichen werden. 

Um ſich von diefem graffierenden Ungefhmad ein klares Bild zu machen, ver: 
gegenwärtige man fich einmal die fogenannte gute Stube der Durchfchnittämenfchen 
oder die Schaufenfter unferer „billigen“ Galanteriewarenhandlungen — und dann 
werfe man einen Blid in die Nationalmufeen von München, Nürnberg u. |. w, wo 


Die höhere Mäpdgenfjule ald Unterbau für die Gymmaſialkurſe. 807 


bie Gebrauchögegenftände aller Art aus frügeten, glüdlicheren Kunſtepochen aufbewahrt 
find. Ober man gedenke des Standes des heutigen japanifchen Kunftgewerbes. Jeber 
Stoff, in den die vornehme Japanerin ſich Heidet, ift ein Kunſtwerk, desgleichen jede 
Kleinigleit, mit der fie ſich umgiebt, ihre Kaffetten, ihre Etuis, ihre Fächer und 
Schmudgegenftände. Gewiß, wenn eine Japanerin unfere deutſchen Tapifierie: 
fchaufenfter’ ſahe, fie würde mitunter erflaunen über die europäifche Unkultur. Gott 
fei Dank, daß die neue Kunft auch dies Gebiet neu zu beleben beginnt, auf dem 
unfere weibliche Jugend mit herangebildet werden kann zu einem wirklich aſthetiſchen 
Empfinden, zu künftlerifchem Denken in allen Dingen, in der Wohnungsausftattung, 
der Toilette, dem Schmud und endlich auch der abjoluten Kunft. 

Das verfloffene Jahrhundert war ein wiſſenſchaftliches, das jeßt begonnene hat 
den Anſchein, als wolle ed ein künftlerifches werden. „Glüd auf“ alſo der neuen 
kunſtleriſchen Bewegung! Nicht aber kann diefelbe beſſer fördern, als ein Heranziehen 
der gebildeten, tunftfinnigen Frauenwelt. 


u  . 


Die höhere Wäshenfänle als Unterbau für die 
Spmnafialhurfe. 


Bon 


Belene Tange. 





Nacdrud verboten. 

®- preußifhe Kultusminifterium hat fih in bezug auf die Gymnaſialbildung 

der Mädchen für dad Syſtem der Gymnaſialkurſe entfchieden, das fi in 
Berlin feit einer Reihe von Jahren gut bewährt hat. In Hannover und Breslau 
find bereit3 auf fünf Klaſſen berechnete Gymnaſialkurſe den ftädtiichen höheren Mädchen- 
ſchulen angegliedert. Man darf fie wohl als eine Art von Experiment anfehen, bad 
die Regierung, nachdem ber rein private Verſuch in Berlin vorangegangen if, nuns 
mehr anftellt, um, fo darf man doch wohl annehmen, darauf ein weiteres Vorgehen 
zu gründen. Nach einem Erlaß des Kultusminiſters im Dezemberheft des „Central 
blatts für die gefamte Unterrichtöverwaltung in Preußen” fcheint dies Experiment 
nicht ganz glatt von Statten zu gehen. Der Erlaß lautet folgendermaßen: 


Handhabung des Unterrichts in den Gymnaſiglkurſen für Mädchen. 


S Berlin, den 6. November 1900. 

Aus einem Berichte meines Fachreferenten über feinen Befuch der dortigen ſtädtiſchen Gymnafiat- 
turfe für Dlädepen habe ich erfehen, daß es bis jet noch nicht gelungen ift, im Unterricht dieſer 
erwachſenen Schülerinnen die auf ber Höheren Madchenſchule gewonnene und In der Aufnahmeprüfung 
nachgewieſene Bildung mit ben Anforderungen ghmnaſialen Unterrichts in Einklang zu fegen, und fo 
eine innere Verbindung beider Bildungsgänge berzuftellen. Ich muß dies als einen ſchwer wiegenden 
Mangel bezeichnen. . 

Neu find für die Schülerinnen der Gymnaſialkurſe die alten Sprachen und die Mathematil. In 
diefen Disziplinen iſt felbftverftändlih von den Elementen auszugehen, wenn aud die unterridhtliche 
Behandlung der geiftigen Entridelungäftufe der Schülerinnen angemeffen fein muß. Die anderen Fächer 
find dem Gymnafium und der höheren Mädchenſchule gemeinfam. Hier wird bei Auswahl und Bemeffung 

20* 


Die höhere Mabdchenſchule ald Unterbau für die Gymnaſialkurſe. 309 


das programmmäßig in einer Höheren Mädchenfchule zu erwerbende Wiffen befaßen, 
fo barf ich wohl aus den hier gefammelten Erfahrungen allgemeine Schlüffe ziehen. 
Von den ganz untauglichen Schülerinnen, wie fie einmal durd jede Schule Laufen, 
ſehe ich dabei vollftändig ab. 

Als Geſamireſultat ergiebt fig mir da folgendes: Das pofitive Wiffen war, mit 
wenigen Ausnahmen, dürftig und zufammenhangslos. Fragte man, etwa in Litteratur, 
nad den inneren Beziehungen der Erjcheinungen, jo durfte man, wenn überhaupt eine 
Antwort am, ziemlich ficher auf eine Reminiszenz aus Kluge oder Werner Hahn 
rechnen. In den neueren Sprachen, bie doch als Spezialität der höheren Mädchen: 
ſchule gelten, herrfchte eine unglaubliche Unficherheit felbft in den Elementen. Ich bin 
bei der Prüfung, um der Befangenheit der jungen Mädchen Rechnung zu tragen, nie 
über das Penfum des achten Schuljahres hinausgegangen; von Ungeheuerlichkeiten, 
von Formen wie „cettes“ und „bienne“, „eraigni“, „mouru* will ich gar nicht 
eben, trotzdem fie nicht eben zu den feltenen Ausnahmen gehörten; ich will nur an= 
führen, daß man bei der Mehrzahl der Schülerinnen den richtigen Gebrauch weder 
der verbes pronominaux und der unregelmäßigen Verben, noch die Grundregeln bes 
Subjonctif und ber Partizipien als einen ficheren Befig bezeichnen fonnte. Das 
Rechenpenfum der Volksſchule, an dem die höhere Mädchenfchule fih neun Jahre lang 
quält, figt fo wenig feft, daß nicht felten die einfachften Bruch: und Regeldetri— 
rechnungen ungelöft bleiben. Ein wahrhaft fompromittierendes Zeugnis für bie 
höhere Madchenſchule find aber die deutſchen Aufäge. Selten waren die Schülerinnen 
imftande, ein einfaches Thema felbftändig zu disponieren; was fie zu Papier brachten, 
war meift eine Reihe von zufälligen Affociationen, deren Inhalt und Zufammenhang 
auf die Vorbilbung der Verfafferin allerlei nicht eben ermutigende Schlüffe zuließen. 

Einer „gründlichen und ernften” Aufnahmeprüfung, wie fie der Erlaß den 
Gymnafialkurfen zur Pflicht macht, d. h. einer Prüfung auf Grund des Lehrplan 
der höheren Mädchenfchule vom 31. Mai 1894, wäre faft die Hälfte der von mir 
in Seminar und Gymnafium aufgenommenen Schülerinnen nicht gewachſen geweſen. 
Ich habe deshalb Tängft davon abgefehen, die Aufnahme von dem Beftand des Wiſſens 
abhängig zu machen, fondern meine Prüfung nur darauf eingerichtet, mir ein Urteil 
über die Intelligenz der jungen Mädchen zu bilden, 

Die thatfächliche Beſchaffenheit des Unterbaus ftelt nun allerdings bie Lehrer 
des erſten Gymnafialfurfus, die die organifche Angliederung bed neuen Penfums 
vollziehen follen, vor eine fchwierige Aufgabe. Ich muß geftehen, daß ich bie 
Unbefangenheit, mit der ein Gymnafiallehrer an bie geiftige Leiftungsfähigfeit der 
Mädchen von vorn herein genau biefelben Anfprüche ftellt wie er fie an die Knaben 
zu ſtellen gewohnt war, ſiets als ein fehr wertvolles Rüſtzeug zur Überwindung 
diefer Schwierigkeiten angejehen habe. Denn immer fteigen die Leiftungen mit den 
Anfprüchen. Der Unterricht der höheren Mädchenfchule trägt nun einmal in feiner 
ganzen Haltung und feinen Anforderungen die Spuren der alten Doltrin von ber 
geiftigen Inferiorität des Weibes. „Mäcen können nicht rechnen“, pflegte mir ber 
Nechenlehrer einer ftäbtifchen höheren Mädchenfchule zu verfihern. Und in der That, 
die von ihm unterrichteten „Mächen” konnten nicht rechnen, was fie nicht Hinderte, 
nachher Tüchtiges in der Mathematik zu leiften. 

„Mädchen Tönnen nicht rechnen!” In diefem Dogma liegt ein Grund für die 
geringen Leiftungen der höheren Mädchenfchule. Aus feinen Konfequenzen aber ergiebt 


Naqhdruc mit Duelenangabe erlaubt. 


* Eine deutſche Geſellſchaft für ſoziale 
Reform hat ſich unter ber Führung des Freiherrn 
von Berlepfh am 6. Januar in Berlin ge 
gründet. Die Geſellſchaft ift eine Landesſektion 
der internationalen Bereinigung für gefeglichen 
Arbeiterfchug, deren Gründung burd den Barifer 
Internationalen Kongreß vom Juli 1900 voll: 
zogen wurde. Die neugegrünbete Geſellſchaft will 
die deutſchen Sozialreformer der verſchiedenſten 
Richtungen und Berufe vereinigen zur Hebung ber 
Zage ber Loßmarbeiter durch Gefehgebung des 
Staates und Stärkung ber Selbſthilfe. Die Ge: 
ſellſchaft wird vor allem für die Auögeftaltung 
des Roalitiondrechtes eintreten. 

In der Begründung des Statutenentwurfes 
führte Profeffor Sombart: Breslau aus, daß der 
Berein zweifellos ein politifcher fei, und man da⸗ 
ber um ber Bereindgefege in Preußen, 
Bayern und Sachſen willen auf bie 
namentlich auf dem Gebiete des Arbeiter: 
ſchutzes fo wichtige Mitarbeit der Frauen 
verzichten müffe. Diefer Punkt des Statuts 
erregte eine heftige Debatte, in der alljeitig der 
Wunſch geäußert wurde, (Frauen zulaflen zu künnen, 
die aber doch ſchließlich zu einer Faffung des 
Paragraphen führte, nad der die Frage der 
Zulaffung von Frauen in ben Berein 
offen bleibt. Der Bund beutfcher Frauenvereine 
Hatte bereit® feinen Beitritt angemeldet, er hält 
felbftverftänblich feine Meldung aufrecht. 

Benn man bebenft, daß bie Thätigfeit fo 
vieler beftebender Frauenvereine basfelbe Gebiet, 
auf dem bie Geſellſchaft für ſoziale Reform arbeiten 
wird, Bereit unangefochten lange behauptet, 
fo ilfuftriert der Grund des Ausſchluſſes wieder 
einmal ſchlagend die Nüdftänbigleit unſerer 
Vereindgejeggebung. Wenn nur bie neue Gefell: 
ſchaft, die im ihr Programm den Ausbau des 
Noalitionsrechts aufgenommen, die formalen Gründe, 
die die Aufnahme von Frauen hindern, möglichft 
bald befeitigen helfen möchte! 





su 


* Mäpdengymuafium Karlöruße. Der Berein 
„Frauenbildung-Frauenftubium" Bat, veranlaßt 
dur den in erfreuficher Weiſe fich forttwähren 
fteigernden Befuh des Karlsruher Mädchen: 
gymnafiumd, ein eigened Haus für die Zwecke 
des Internat .gefauft. So wird in nächfter Zeit 
wieder den Gefuchen um Aufnahme in das Internat 
entſprochen werben Können, während im Augenblid 
feine Pläge mehr zur Verfügung ftehen. 


* 18 gleiäberehtigte Armenpflegerinnen 
find nunmehr Frauen in Berlin zugelaffen. Der 
Ausſchuß zur Borberatung ber Aenderung und 
Berbefferung ber Verwaltung ber öffentlichen Armen: 
pflege in Berlin hat folgenden Magiftratgantrag 
nad} einer ausführlichen Beratung und Begründung 
durch den Stadtrat Dr. Münfterberg angenommen: 

„1. Wahlbar zu Mitglievern einer Armen: 
tonmiffion ſind ohne Unterſchied des Geſchlechts 
alle großjährigen Angehörigen eines deutſchen 
Yunbedftantes, die ſich im Veſit der burgerlichen 
Ebrenrechte befinden und in Berlin wohnhaft find. 
Die Witglieber der Armentommiffion werden ald 
Armenpfleger und Armenpflegerinnen bezeichnet. 
Tie Amtödauer ber Mitglieder ber Armen: 
fommiffionen beträgt brei Jahre (bisher ſechs Jahre!). 
2. Die Armenbireltion wird ermächtigt, Armenkreiſe 
(Degentralifation) einzurichten. Die Kreisvorſteher 
werden durch bie Armenbireftion aus bem Kreife 
ihrer Mitglieder oder auß Borftehern von Armen: 
tommiffionen ernannt.“ 


* Über „Geuoſſenſchaftliche Erziehung der 
herauwachſenden weiblichen Jugend“ ſprach Herr 
Profeſſor Zimmer kürzlich im Verein, Jugendſchutz“⸗ 
Berlin und zeigte an der Entwidlung ber vier ſchon 
beftehenden, auf genoſſenſchaftlicher Vaſis ger 
gründeten, Arbeiterinnenheime, wie vortrefflich dies 
Vorbild für ähnliche Erziehungsheime für gefährdete 
Jugendliche nugbar gemacht werben könnte. — 
Eine dauernd zugeficerte Arbeit zu feftftehendem 
Zohn, Gelegenheit gur Erlernung tüchtiger haus: 


Der Schwäbifde Frauenverein 
Borfigende: Frau Präfident v. Weizfäder), 
veröffentlicht feinen 27. Jahreöbericht. Das Jahr | 
1900 hat er zur Bervollftändigung und Weiter: 
entwidlung feiner Anftalten benugt. Die Frauen: 
arbeitäfpule nimmt jet, durch ihr geiepmäßiges 
Weiterfchreiten, durch dad Spftematiihe in allen 
Unterrichtefächern, durch die anerfannt vortreffliche 
Xchrmethobe bed Heichenunterrichts, unter den 
Frauenarbeitöfdjulen Deutihland® eine der aller: . 
erften Stellen ein. Sie erhielt ein Diplom für ! 
hervorragende Leiſtungen durch die fünigliche 
Regierung zuerkannt infolge ihrer Teilnahme an ' 
ber —e— ——— im Auguſt 1899; und 
auf Beranlafjung der königlichen Komiſſion für die | 
gewerblichen Foribildungsſchulen traten zwei Lehre⸗ 
rinnen anderer Schulen in die Frauenarbeitsſchule 
ein, um die bort geübte, eigenartige Methode der 
organiſchen Verbindung von Zeichnen und Stiden | 
zu erlernen. Die rauenarbeitßfchule murde in 
biefem SBereindjahre, dad von Juli IRHM bie 
Jufi 1900 geht, voh 343 Schülerinnen befucht. 
Durch Anfertigung beftellter Arbeiten baben die . 
vorgerüdteren Schülerinnen 1460 Mark verdient. 

Nachdem im Auguft 1899 vom Staate die 
Gefamtftellung, die Alterdzulagen, die Alters: und 
Krantenverforgung der Yehrerinnen an Frauen: 
arbeitäfehulen in gleicher Weile wie bei ben 
xehrerinnen anderer Schulen gefeglich jeftgeftellt 
wurden, reichte ber Ausichuß an die königliche 
Kommilfion für bie gewerblichen Fortbildungsſchulen 
das Gefuh ein: Die Frauenarbeitsichule des 
Schwäbifchen Frauenvereins möge der genannten 
Behörde in einer den geieplichen Beftimmungen 
entſprechenden Weife unterjtellt werben, damit die 
Yehrerinnen ihrer Anftalten die gleichen Redıte 
genießen vie biejenigen der ftäbtifhfen Cdyulen. ! 

Diefem Gefuch ift von der Föniglihen Regierung ı 
entiproden worden und aud die Bitte der 
Arbeitälehrerinnen um ftaatlihe Beftätigung ihrer 
Anftellung wurde in böchft dankenswerter Weile 
zuftimmend beantwortet. 

Der Kindergarten, die Froebelſchen Unterrichts: 
turfe erfreuen fich guten Befuch8; ebenfo bie Koch 
ſchule und Haushaltungsſchule. Cs haben auf 
Veranlafjung des Vereins 71 Wanderkochturſe in 
21 mürttembergifhen Oberämtern ftattgefunden, 
darunter viele Abendkurfe für Fabrikmädchen Tie ' 
Wandertoclehrerinnen, 14 an der Zahl, jieben mit 
ihrem NRochgeräte von Gemeinde zu Gemeinde und 
haben überall gute Aufnahme gefunden. Auch 
die Töchter dandelsſchuie wurde gut befucht, 
111 Schülerinnen wurden nad ihrer Entlaflung ' 
‚Stellen vermittelt. Die vom Verein herauögegebene 





313 


Woch engeitſchrift „Frauenberuf” ift feit dem I. April 
1900 vom Verein in Selbftverlag genommen. Ein 
Neubau, ben ber Berein für feine Anftalten unter: 
nimmt, tird in einiger Zeit vollendet fein und 
für eine weitere Entwidlung Raum ſchaffen. 


Nener Boltsfhullchrerinnen-Berein zu Berlin. 


Tie Tarlehnötafje bed Neuen Boltsihul: 
lehrerinnen: Verein ift, nachdem der Berein 
in bad Vereinsregifter eingetragen worden 
ift, in Kraft getreten. Die Rafle hat den Zwech 
den Lereinsmitgliedern in Arankheitsfällen und 
befonderen Notlagen, fowie zu Fortbilbungsjweden 
Darlehn zu gewähren. (Bejuche find an die Vor: 
figende der Haffe, Fri. 9. Jaftrow, N., £inien: 
ftraße 110, zu richten. 





Heim des Allgemeinen deutfhen Lehreriunen- 
jereins zu Berlin 
Worfigende: Frau Elly von Siemend) 
veröffentlicht feinen Jahreöberidht für 1899/1900. 


: Die Frequens des deims mar im verfloffenen 


Vereinsjabr eine jehr zufriebenftellenbe, der Zudrang 
ein fo großer, daß vielfach Intereſſenten abgewieſen 
erden mußten. Tas Yebürfni® nad; abermaliger 
Vergrößerung des Heims ftet fi heraus, die 
Mittel erlauben aber noch teine Erweiterung der 
Räume. Ter Borftand hat den Tod eines feiner 
Mitglieder zu bellagen, der Frau Kathi Warſchauer, 
die ihm feit Begründung des Berein® angehörte. 
Herr Robert Warſchauer hat nach dem Ableben 
feiner rau, um ihren jährlihen Beitrag zu 

italifieren, dem Verein 3000 Mark zugehen 
lafien. Unter dem Namen „Kathi Warichauer: 
Stiftung” fol diefe Summe, bie in Papieren 
angelegt worden ift, den Grundſtock zu einem ‚Fonds 
bilden, ber, wenn er ſich nad und nach vergrößert, 
den Werein befähigt, halbe und auch ganze Frei: 
ftellen zu Tcaffen. 





Der Berliner Zranen! von 1900 
(Lorfigende: Frl. Dr. Franzista Tiburtius, 
Bülowftr. 14) veröffentlicht feinen eriten Jahred: 
bericht. Tas außerordentlich raſche Aufblühen des 
Klubs iſt dem Umftande zu danken, daß er den 
Bedürfniſſen der erwerbenden Frauen, denen er 
dienen wollte, in jeber Beziehung ausgezeichnet 
entiprodhen hat. Der Alub bat im Laufe feines 
eriten Jahres durch Eintragung in da8 Pereine: 
tegiiter Hectäfäbigleit erlangt. Die Nerwaltung 
wird geleitet durch cine Wirtfhaftstommiffion, eine 
Aufnahme: und eine Unterhaltungstommiffion. Die 





vacherſchau 


bie vornehmſte Weiblichkeit alle Schritte in dieſem 
Kampf und jeden Federzug in dieſer Darftellung 
beftimmte. 


„The Junior Temple Reader.“ Edited 
by Clara Linklater Thomson and E. E. Speight, 
with many original illustrations. London, 
Horace Marshall & Son 1900. (1 sh. 6 d.) 
Die Serauögeberinnen find in ber Auswahl und 
Bearbeitung der Geſchichten von der Abficht aus: 
gegangen, den Kindern Volksmärchen aller Länder 
fo zu vermitteln, baß fie ihnen verftändlid find 
und doch möglichft die Eigenart, den Reiz und den 
fünftlerifchen Wert de8 Original behalten. Tie 
Sammlung enthält neben einigen AÄnderſenſchen 
und Grimmfden Märchen, bie in einer muiter: 
gültigen Überfegung ganz wie Originale“ wirten, 
inbifche, japanifche, neufeelänbifche, norbifche volts 
märden und -fagen, und man muß fagen, daß 
bie Serausgeberinnen den felbftgejegten Zweck 
taum befier hätten erreichen fönnen. In doppelter 
Beziehung Tann dieſe Sammlung für unfere veutiche 
Jugenblitteratur wertvoll werden. Jede Mutter 
wird ihren Märchenvorrat durch bei und unbelannte 
Gedichten, wie das reizende Märchen von „Sampo 
Lappelil”, vom „Schiff, das auf dem Lande fegelte” 
und mande anderen bereichert finden. Bor allem 
aber könnte die Sammlung, der aud eine Reihe 
leichter und wirklich wertvoller Gedichte beigefügt 
ift, für den Anfangsunterricht im Englifchen an 
unferen Mädcjenichulen Verwendung finden. Die 
außerordentlich einfache Sprache, bie immer in 
gewifſem Sinne internationalen Wenbungen ber 
Märchenerzählung, die zum Teil in ähnlicher Form 
{hen belannten Stoffe machen das vuch dazu in 
ganz bejonderem Maße geeignet. 

Die dem Buche beigegebenen Illuſtrationen 
— Heine bunten — find 3. T. von fünftleriichem 
Bert und entfpredien dem Bived der Sammlung. 


enden zur Orientierung über bie 
Wefaltöverhäftnifie der preufifcen Boltafhul. 
Teßreriunen‘‘. Auf Grund eigener ftatiftiicher 
Aufnahmen herausgegeben vom Borftande des 
Yandeövereins preufifher voltsſchuiiebrerinnen 
Berlin 1900. Im Selbftverlage de Xereins. 
(Preis 0,75 Marl), Mit der Gerausgabe feines 
bandbuches hat der Preußifche Voltsfepuffchrerinnen: 
verein den Intereſſen feines Standes einen wichtigen 
Dienft geleiftet unb zugleich einen Beweis für die 
Leiftungsfähigteit feiner Lrganifation in einer 
weitläufigen gemeinfamen Arbeit geliefert. Turch 
die große Bollftändigteit, die überfichtliche Anordnung 
und bejonnene Berwertung ber ftatiftifchen Reiultate 
giebt das Buch einen ausgezeichneten Überblid über 
die Lage der Boltöfchullehrerinnen unter dem 
Lehrerbefoldungägejeg vom 3. März 1897. 

Stoatöminifter D. Dr. Bofle äußerte fih dem 
Torftande des Bereins gegenüber wie folgt: 

„Dem Borftande des Landesvereins fage ich für 
die freundliche Überfendung des Sanbbuche zur 
Orientierung über die Gehaltsverhältniſſe der 
preufifchen Voiloſchuliebrerinnen herzlichen Tant. 
Tas Handbud) macht mir befonbere Freude. Einmal 





weil es auf dem geiunden Gebanten beruht, dab 


bie Beteiligten felbft dandreichung thun müflen, 
um das Ergebnis der Durchführung des Geſetzes 
in® Sicht zu ftellen und die billige Ausgleihung 
örtlicher Härten anzubahnen. Sodann wegen ber 


315 


sähen Thatkraft und bed einbringenden Berftänbnified, 
mit der bie Schwierigkeiten einer fo umfangreichen 
und verwidelten ftatiftifhen Arbeit überwunden 
worden find. Endlich wegen des nüglihen und 
überfichtlichen Ergebniffed. Ich ameifle nicht, daß 
diefe rühmliche Arbeit aud für die Zukunft ihren 
Segen haben wird.“ 

Veftellungen auf das Handbuch find unter Ein: 
fendung des Betrages von 0,75 Mart inkl. Borto 
an bie Schriftführerin ber Hauptzentrale Frl. Fitt: 
bogen — Berlin SW., Reuenburgerftr. 34 zu richten. 


„Braun Märe“. Märchen und Schwänte für 
Jung und Alt. Seinen indern erzählt von 
Rudolf Vogel. Freiburg und Seipyig, Berlag 
von Paul Naegel (Preis 2,50 M). Unfere geit 
lönne feine Märchen mehr erzäblen, bat man ge: 
meint. ubolf Bogel zeigt, dab fie ed noch fann. 
Zwar find es die alten Motive vom Königsfohn 
und der Müllerin, vom armen Holzbauer, dem die 
gZwerglein helfen, vom verfuntenen Schloß, vom 
luftigen Schneiderlein, dem ber Teufel nichts an⸗ 
haben darf. Aber eine Dichterphantafie hat fie 
neu ausgeftaltet und verwendet. Dazu fommt, daß, 
der friſche Luftige, mandmal derbe Bollton ber 
Frau Märe fehr gut getroffen ift. Cin Bebenten: 
die Märchen find ein wenig zu lang und enthalten 
zu vielerlei, fie dürften in bezug auf bie Zabel 
einfacher fein. Alles in allem find fie ein wert- 
voller Beitrag zu unferer Jugendlitteratur, die 
endlich die erfehnte gründliche Regeneration erleben 
zu wollen fdeint. 


„Stimmungsbilder, von Malvida von 
Neyfenbug. Dritte und vermehrte Auflage. 
1900. Scufter & Löffler. Berlin und Leipzig. 
In Dalvida von Meyfenbug, der „Fbcaliftin” redet 
eine vergangene Zeit, eine Generation zu und, die 
und fremd zu werben beginnt. Wohl harren viele 
der Gedanken, bie einft bie beneifterte Achtund: 
vierzigerin ausgeſprochen und vertreten, noch der 
Berwirtlihung, und das foziale Programm ber 
„Idealiſtin“ ift noch heute „modern“. Aber cben 
das tritt in den Stimmungsbildern, wie in dem 
Lebensabend“ zurüd hinter ein feines (Seniefen, 
ein Huges Aeftbetifieren und Gthifieren über das 
2eben und feine Beziehungen. Und gegen dies 
betrachtenbe, abftrahierende Heniehen, das Hinein: 
diehen einer doch immer bilettantifch getriebenen 
Wiſſenſchaft in den Ausdrud der Freude am 
Schönen oder des Ergriffenfeins von dem Großen 
find wir Modernen empfindlich. Es wirkt auf uns 
erfältend und verftimmend. Cs rüdt uns bie 
Tinge ferner, ftatt fie und nahe zu bringen, 
febendig zu machen. Tie Stimmungsbilder find 
ein Buch, dad nian fid in „unfern Kreiſen“ beö 
Abends vorlefen wird, wegen feiner außerordentlich 
intereffanten Bezichungen, feiner „[dönen Gebanten“, 
feiner feinen Urteile, feiner ariftoratijchen Daltung. 
Die „Jbealiftin“ ohne eigentlich ſich felbft 
untreu zu werben, bie geiftreiche Süterin einer 
erlufiven Salontultur geworden, in der die Ein: 





drücke von Jtalien und Bayreuth, von großem Welt: 


Gefchehen und tiffenfchaftlichen Errungenicaften, 
von Menfgenfeelen und Neniyenfidialen zu einem 


fanften, matten, aber barmonifhen Farbenſpiel 
verblaffen. 
Und eins ann man in folhem Dafein 


ftubieren und beneiden — Lebenskunſt. 


vacherſchau. 


in auf Driginafität, aber es läge doch im 
Intereffe ber Lefer, die fich weiter zu orientieren 
wunſchen, daß Entlehnungen als ſolche gekenn 
zeichnet werden. 


FEudlich Känſtleriſches für die Kinder!“ 
mit "Beiträgen von Heinrih Wolgaft und 
Wilhelm Spohr. Dad Heine Schriften will 
Eltern und Ninderfreunden eine Anleitung bieten 
für die Wahl fünftferifd und nerariſch wertvoller 
Geſchenie ¶ Durg eine Notiz auf dem Umichlag 
erfahren wir, daß verſchiedene Artikel von W. Spohr 
in ber geitfchrift „Ernfte® Wollen“ über „Kunft 
und Schule‘, „Das Kind und die Aunft“ Anlaß 
zu einer Bewegung gegeben haben, der namhafte 
Künftler, Schrütfteller, Lehrer zc. angehören. — 
Das Schriften ift im Verlag des „Ernften 
Wollen“, Berlin W., Adenbadftr. 2, erfhienen 
und zum Preife von 1U Pig. zu beziehen, partien: 
weifer Bezug billiger. — 


„Der Wäfhefhrant”. Waſche· Album der 
„Wiener Mode”. Über 600 Wäfheftüde und 
Ronogramme. 40 Tafeln Nluftrationen. Bon 
Regine Ulmann, Tirectrice ber Fachſchulen des 
Mädchen:Unterftügungs: Vereins in Wien Nerlag 
der „Wiener Mode“, Wien, Yeipzig, Berlin, Stutt: 
gart. Das vorliegende Werk will denen als Rat: 
geber dienen, die nicht wiſſen, wie der Gebrauch 
ber Wäfche zu regeln ift, damit nicht einiges vor: 
zeitig abgenugt, anderes bem Dergilben ausgeſetht 
werde, bei Radanfhaffungen Wibgriffe verhüten 
helfen und für die Belorgung von Ausſtattungen 
ein praktifdjer Führer fein. Es find in gefonderten 
Abſchnitten bie Haus: und Leibwäſche bebandelt. 
Der Rinderwa ſche ift befondere Aufmerlfamteit ge: 
ſchenkt, und auch die Kapitel: Bade, Diener: und 
Küchenwäiche haben eniſprechende Beachtung ge: 
Funden. Bei den einzelnen Abf—nitten find die 
zu den Wäfcheftüden verwendeten Stoffe, die Art 
der Anfertigung und Berzierung beiproden und in 
den Beilagen illuftriert. Ein Anhang bringt mit 
vorzüglichen Yluftrationen den Xehrgang des 

Nähen® und ymar ded Hand: und Mafchinennähens 
Fr der verfehiedenen Stopfarten. Es find ferner 

* angefügt 10 Bons für Gratisfhnitte zu Wäfche: 
ftüden. Auch erhält jede Näuferin des Werkes 
Schnitte nad Maß für Wäfche zu denfelben Be: 
dingungen tie bie Abonnentinnen der „Wiener 
Hode'. Schöne Ymitialen und fünftlih ver: 
fhlungene Nonogramme find in reicher Auswahl 
beigegeben. 


In demjelben Werlage erfhien „Kreuzſiich ⸗ 
mufter im nenen Stil“. Herausgegeben von 
Pauline und Xohanna Nabilta. (freie 
2 Bart) Die Bappe enthält 25 Blätter mit 
65 Wuftern zur Verzierung aller Arten von 
Deden, Borhängen, Kiffen, Behängen x. Wir 
tönnen beide Werte aufs befte empfehlen. 


Der Zeihenunterricht für Mädchen‘. Ein 
Lehrbuch für Voltkoſchulen, höhere Schulen und 
Familien von Johanna Hipp, Zeichenichrerin in 
Wüplpaufen i. €. Hit 10 Tafeln in Lithographie, 





317 
20 vichtorud: und 2 Barbentafetn. Verlag von 
Friedrich Bull, Straßburg i. Ein vor: 


treffliches Wert, das ber fallen alle Ehre 
macht, da es einen wahrhaft kunſtleriſchen Geſchmack 
offenbart und eine große metbodifche Umficht und 
Sicherheit. Es bietet einen vollftänbigen Lehrgang 
bes Zeidjenunterricht® in der fiebentlaffigen Boltd: 
fhule. Die Verfafferin geht bei bem Aufbau ihres 
Wertes von der fehr richtigen Anfiht aud, daß 
„ein Lünftlerifcher Zeihenunterricht in ber Boltd- 
{Qule" oder eine „volfötümliche Erziedung des 
Schönheitöfinned” eine Übung in der Kunft bes 
Verzierend fei. Diefe Übung ift daher die aus 
fhlieplihe Aufgabe des Zeihenunterrichtd in ber 
Voltsſchule. Wir können dem nur zuftimmen, 
denn gany gewiß hat die grünbfihe Durchführung 
einer einzigen Aufgabe mehr erziehlihen Wert als 
die flüchtige Behandlung mehrerer Tinge zugleich, 

Nachdem Auge und Geift durch die elementarjten 
Grundformen (die geometriichen Figuren: Duabrat, 
Rechted, Dreied, Kreis u. |. w.) für das Verftänbnid 
freierer Gebilde vorbereitet find, werden die Motive 
der Drnamentit in der Natur gefudt unb zwar 
find fie — zu unferer Freude — fämtlih der 
heimiſchen Flora entnommen. 

Die Verzierungsaufgaben, welde die Berfaflerin 
für den ganzen Berlauf de Jeichenunterrichts 
zufammengeftelt hat, find außerorbentlich reich: 
haltig, für die Cberftufe finden wir deren 270. 

Siebzig mehr oder weniger ausgeführte Katechefen, 
welche für Alaffenunterricht gedacht find, behandeln 
das Zeichnen der einzelnen Naturformen und — 
mas mir beſonders werwoll eridheint -- auch die 
ornantentale Verwendung berfelben. 

Wir wünfchen der gedlegenen Arbeit, bie wirklich 
allen modernen ‚Forderungen angepaßt ift, von 
ganzem Herzen die weitefte Terbreitung. 





„Deutſche Heimat‘, Blätter für Litteratur und 
Voltdtum. Wöchentlich ein veft für 10 Bf., viertel: 
jäprlid 1 WM. erlag von Georg Yeinrih Mever, 
Berlin 3.®. Die „Deutiche Heimat” eriheint ald 
neue Folge der Halbmonatfehrift „Deimat” vom 
1. Cftober bes Jahres an. Cie beabfightigt, in: 
mitten der überall in Extreme, Künfteleien aus: 
laufenden modernen Richtungen einen Wittelpuntt 
zu ſchaffen für echte, warme, einfache deutſche Volks: 
art; zugleich will fie die Runft der Gegenwart und 
Vergangenheit, die ein fraftvoller Ausbrud biefed 
Ureignen des deutſchen Voikes ift, au dem Ver 
ftändni® des Woltes zugänglich machen Ban 
muß anertennen, daß bie bis jest erſchienenen 
‚Hefte diefe Tendenz des Blattes ſehr glüdlich zum 
Ausdrud bringen. Das gilt vor allem für bie 
Veiprehung der befannten fulturgefchichtlichen 
Monographien des TDieberihöigen Merlags von 
Adolf Bartels im Heft I, wie für den Leitartifel 
des 3. Hefted „Die Kunft dem Volle“ von Bruno 
Wille, das gilt aber auch für den belfetriftiihen 
und feitiihen Teil der Hefte, obne dab damit 
geiagt fein fol, daß wir und mit ben Refultaten 
dieſer Kritit durchaus einverftanden ertlären. Dem 
Unternehmen ift auf® mwärmfte eine kräftige Ent: 
widlung zu wünfchen. 


BR 


828 


Königin Viktoria von England. 
Gertrud Bäumer. 
Rachdrud verboten. 


lizabeth Cady Stanton, die energiſche Führerin der amerikanifchen Frauenbewegung, 

erzählt in ihren Erinnerungen an einen Beſuch in England, daß die englifchen 

Frauen in al ihren Verfammlungen und öffentlichen Reden der Königin dankbar 
und liebevoll gebächten. Die felbitbewußte Republifanerin zudt darüber die Achſeln 
als über eine loyale Schwäche. Der Königin hat die englifche Frauenbewegung ihrer 
Anſicht nach wahrhaftig wenig genug zu danken. 

Die englifhen Frauen denken anders darüber. Es ift wahr, daß die englifche - 
Frauenbewegung niemals unter der Flagge des „Allerhöcften Proteltorats“ gefämpft 
und gefiegt hat. So wenig wie irgend eine andere einzelne politiſch-ſoziale oder 
wirtfchaftliche Bewegung. der „Victorian Era“. Wer das bedauern, wer es gar als 
einen Mangel in der Regierung der königlichen Frau bezeichnen wollte, würde bie 
Bedingungen eines Eonftitutionellen Staates verfennen, würde aber auch den Wert 
eines Königlichen Proteftorat3 für die Frauenbewegung überfhägen. Die englifche 
Frauenbewegung würde fih in Widerſpruch mit dem Grundgedanken aller fozial: 
politifhen Entwidlung ihres Landes geſetzt haben, Hätte fie für ihre Arbeit eine 
befondere Förderung vom Thron ber erwartet. Als ein Kampf um freie Entfaltung 
gebundener Kräfte im Volfsleben vollzog fie fi auf einem Gebiet, auf dem königliche 
Bevormundung in feiner Weife und nad) feiner Richtung Hin frommen konnte. Seit 
fie ſich Ende der fechziger Jahre in dem Kampf um das Stimmrecht konzentriert hat, 
ift fie in jene große Reformbewegung eingemündet, die den engliſchen Staat im Lauf 
der legten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts in eine Demokratie gewandelt hat. 
Und es hätte doch geheißen, die Frauenbewegung unter unpolitiſche Wohlfahrts⸗ 
beftrebungen rangieren, wenn ihre Führerinnen an dieſen königlichen Schuß gedacht hätten. 

Hat die englifche Frauenbewegung deshalb der Regierung der Königin Viktoria 
nichts zu danken? 

Es ließen fih ja natürlich einzelne Fälle aufzählen, in denen die Königin Einzel 
beftrebungen der Frauenbewegung unterftügt hat, Veftrebungen vorwiegend „gemein 
nügigen“ Charakter. Man könnte da auf die Ausbildung von Arztinnen für die 
indifche Zenana-Miffion hinweiſen, oder etwa auf die befannte Victoria Women’s 
Printing Press, bei deren Gründung die Königin ber Leiterin des Unternehmens 
verfichern ließ, „daß alle ſolche neuen und praftifhen Schritte, gebildeten Frauen neue 
Berufszweige zu eröffnen, Ihrer Majeftät volle Zuftimmung fänden.” Für den Fort 
gang ber ganzen Bewegung ift das doch nur von untergeordneter Bedeutung geweſen. 
Höher wird man den Wert der Thatfache veranfchlagen, daß eine Frau den höchſten 
Poſten im Königreich inne Hatte, eine Frau, die zugleich bewies, daß fie ihm gewachſen 

21* 


Königin Viktoria von England. 825 


um bie breißiger Jahre, das Arbeiterelend, den Pauperismus, die furchtbare Ver: 
nachlaſſigung des Volles in jeder Beziehung auch nur einigermaßen fennt, ber weiß, 
daß England in den legten fechzig Jahren eine Regeneration bed fozialen Lebens, des 
fozialen Empfindens erfahren, wie fie fih in feinem europäifchen Staat jo rafch und 
durchgehend vollgogen bat. Bon einer unmittelbaren Initiative in Bezug auf biefe 
Entwidlung ſchloß die englifche Verfaffung die Königin aus. Wie vorurteilslos fie 
ihr aber gegenüber ftand, wie lebendig fie fie mitlebte, davon zeugt jo mande That 
fache, von ber ihre Minifter berichten. Ganz beſonders charakteriftifch ſcheint mir in 
dieſer Beziehung das Urteil der Königin über Charles Didens. Männer, die wie er 
die Mifftände in dem Verwaltungswefen des Reiches mit fo fchonungslofer Wahr: 
haftigkeit, mit fo fcharfer Satire bloßlegen, pflegen feine königlichen Anerfennungen 
zu erhalten. Bekanntlich fcidte die Königin dem Schriftfteller ihre „Leaves from 
our Journal in the Highlands“ mit der Widmung „From one of the humblest 
of writers to one of the greatest“. 

In dem Zeichen der Regeneration der Victorian Era errang die engliſche 
Frauenbewegung ihre Erfolge. In dem Zeichen einer Entwidlung, beren Grund: 
gedanke die vollwertige Repräfentation des Volkes in ber gefeggebenden Körperichaft 
war, befchritten auch bie englifchen Frauen den Weg zu politifchen Rechten. Und 
foweit jene Regeneration von ber Perfönlichkeit ber Königin ihre Impulfe empfing, 
foweit der freie Gang biefer Entwidlung ihrer weifen Zurüdhaltung zu danken, ift 
die engliſche Frauenbewegung der Königin Viktoria verpflichtet. In der Anerkennung 
diefer Verpflichtung, nicht in einer fonventionellen Loyalität ift die dankbare Verehrung 
für die Königin begründet, der bie englifchen Frauen immer wieder Ausbrud gegeben 
haben. Sie wiſſen — was dem naiven Urteil der radikalen Amerikanerin zu tief lag — 
was fie der Vietorian Era verdanken, wenn auch ihre Königin nicht den Ehrenvorfig 
in der Frauenſtimmrechtsliga führte. Sie wiſſen, daß es andere Wege giebt, foziale 
Umgeftaltungen herbeizuführen, als bie fogenannten „radikalen“. 

So miſcht fi in die Trauer der englifchen Frauen um den Tod der Herricherin 
nicht die Sorge um bie eigene Zukunft. Ihr eigenes Werk, feine Treibhauspflanze 
föniglicyer Gunft, fondern emporgewachſen aus dem Leben der Nation, getragen von 
ihren beſten Kräften, geht ſicherem Gelingen entgegen. Der Kranz, den bie engliichen 
Frauen am Grabe der Königin niederlegten, ift der Ausbrud reiner Verehrung für 
die Frau auf dem Throne, deren Wirken ein Ausbrud jenes Verantwortlichkeitsgefühls 
gegenüber der Allgemeinheit war, das auch ber Frauenbewegung Richtung und Ziele 
beftimmt. 


326 


Bodenreform. 


Bor 


Fr. Wolff- Berlin, 
Schatzmeiſter des Bundes Deutfcher Bodenreformer. 


Nachbrud verboten. α 


n einer mittelgroßen hannoverſchen Stadt befürwortete vor einigen Jahrzehnten 

der damalige Oberbürgermeijter die Einführung einer erhöhten Grunbdfteuer. 
Bei diefer Gelegenheit Hielt er feinen Stadtvätern eine Rebe, in ber auch ungefähr 
folgende Säge vorlfamen: „Gehen Sie alle, die Sie Belißer von Häufern find, aus 
biefer Sigung heim. Schreiben Sie den jetigen Wert Ihrer Grundftüde und ber 
darauf ftehenden Gebäude in Ziffern an die Hausmauern und kehren Sie wieder 
aufs Rathaus zurüd. Und nun verfallen Sie in einen langen, jagen wir breißig- 
jährigen, Schlaf. Draußen geht das Leben feinen Gang. Die Menſchen arbeiten 
mit Kopf und Hand. Die Bevölferung fteigt. Der Wohlftand nimmt zu: Sie figen 
bier und Schlafen. Nad dreißig Jahren endlich wachen Sie auf. Was meinen Sie 
wohl, ob jene Ziffern dann noch den richtigen Wert Ihrer Häufer angeben werben? 
Sicherlich nicht! Ausnahmslos wird der Wert gewachſen fein, bier und da vielleicht 
gar auf das Doppelte oder Dreifache.” 

Der Herr Oberbürgermeifter war ein äußerit Eluger Mann. Wir haben, um 
dies zu erhärten, gar nicht mehr nötig, zu berichten, daß er jpäter in eine hohe 
preußifche Staatzftelle einrüdte. Schon jene kleine Redeprobe kann und genügen. 
Sie beweift, daß der Mann, feiner Zeit voraußeilend, früher als fat alle anderen, 
das Weſen des höchſt wichtigen Bodenproblems erfaßt hatte. 

Gehen wir einmal den Weg, den der Herr Oberbürgermeifter feine Hörer führte, 
in der entgegengejebten Nichtung. 

Inm Jahre 1899 wurde ein 4 qm große® Stüd Bauland an den Königs: 
folonnaden in Berlin mit dem ungeheuren Preife von 50 000 Mark bezahlt. Der 
Morgen beften Aderbodens Eoftet in der Mark höchſtens 600 Marl. Würde man 
gezivungen jein, in der Umgegend der Königsfolonnaden einen Morgen Baugrund zu 
demjelben Preife zu faufen, der für die erwähnten 4qm gezahlt wurde, jo hätte man 
die Kleinigkeit von 31 Millionen nötig, Man vergleiche: dort guter Aderboden: 
600 Mark, bier unfruchtbarer Sandboden: 31 Millionen! Und nun die Frage: Wenn 
e3 möglich wäre, daß die Bewohner Berlin die Stadt alle an einem Tage verließen, 
würde fi dann noch jemand finden, der auch nur halb jo hohe Preiſe für Berliner 
Grund und Boden zahlte? 

Mer Ichafft alfo die hoben Grundwerte? Etwa der Grundbeltger? Bor dem 
Hallefchen Thore in Berlin wurde im Jahre 1842 das Rotherſtift eingeweiht. Alte 
Damen haben breiundfünfzig Sabre lang in dem Haufe gelebt. Wertichaffende Arbeit 
wurde in ihm nicht betrieben. Und doc ftieg fein Wert von 34000 Mark auf 
1975 000 Dark, für welchen Preis es im Jahre 1895 in den Belig der Firma 
Jandorf überging. 





Bobenreform. 837 


Der Landmann, ber dur Düngung, Entwäfferung ober ähnliche Arbeiten 
feinen Ader verbeffert, fchafft ben Wertzumachs feined Bodens felbft. Dasfelbe gilt 
von dem Bauherrn, ber ein Stüd Land etwa durch Einrammen von Pfählen bebauungs⸗ 
fähig macht. Ale die Wertvergrößerungen aber, mit denen der Spelulant, ber Meine 
oder der große, rechnet, die bedingt find durch die Lage eined Grundftüds, durch 
das Wachstum eines Gemeinweſens oder Staates und endlich durch jeden Aufſchwung 
des wirtfchaftlichen Lebens, fie lönnen nie und nimmer durch bie Arbeit eines einzelnen 
Menfcen erzeugt werden. Ihr Erzeuger ift bie Arbeit ber Gefamtheit. Alle die 
Menfchen, die dazu beitragen, daß ein Ort oder ein Land mwirtfchaftlich höher kommt, 
die Arbeiter, die Leiter der Induftrie, die Kaufleute, die Gelehrten, auch die Beamten 
und Soldaten, die das Ganze verwalten und beifügen, fie alle bringen den Wert: 
zuwachs hervor, von dem wir vorher fprachen. Darum nennen ihn die Engländer 
auch: unearned increment, „unverdienten” Wertzumachs. 

Die Sache wird noch Marer, wenn es fi um ein ganz beftimmtes, großes 
Werk handelt, das die Gefamtheit unterninmt. Wenn der Staat eine Eiſenbahn baut, 
fo ift die allererfie Folge ein Steigen der Grunbftüdpreife in der Nähe der Haltepunfte. 
Kürzlich erzählte mir ein Tegeler Arbeiter, daß in feinem Wohnorte die Mieten genau 
zur ſelben Zeit gefliegen feien, ald die Straßenbahn den elektriſchen Betrieb einrichtete. 
Leute, die auf das Zuftandelommen des Mittellandfanald rechnen, betreiben ſchon 
heute eine wüfte Grundftüdipefulation in den Gegenden, die der Kanal berühren fol. 
Aberall diefelbe Erſcheinung: Die Arbeit der Gefamtheit bewirkt zunächft ein Steigen 
der Grundwerte. 

Bei dem heute giltigen Recht des Privatbefiges an Grund und Boden hat der 
Grunbbefiger den Hauptvorteil von jedem Fortichritt des mwirtfchaftlichen Lebens, und 
zwar hat er diefen Vorteil ohne Arbeit. Er kann ſchlafen, wie wir eingangs gehört 
haben, — fein Grundftüd fteigt doch im Werte. Und ber, der die Werte mit geichaffen 
bat — bat nur geringen oder gar feinen Vorteil, fofern er nicht etiva felbft Grund» 
befiger ifl. Der Arbeiter freut fi nur kurze Zeit über den höheren Lohn, den er fich 
ertämpft hat, der Beamte hat noch nicht lange die legte Aufbeflerung im Gehalt Hinter 
fih, der Kaufmann ift froh darüber, daß fein Gefchäft endlich geht! — da kommt 
der Kündigungstag, und ber Hauswirt zieht in Geftalt einer Mietsfteigerung bei 
Heller und Pfennig wieder ein, was die drei mehr zu haben glaubten. Nachher aber 
wundert fi) ber Fabrikbefiger über die Ungenügfamkeit der Arbeiter, die nach der 
legten Lohnerhöhung ſchon wieder behaupten, fie fünnten mit dem, maß fie erhalten, 
nicht auskommen. Da tadelt mar auf der Regierung die „ewig unzufriedenen Beamten“. 
Ja, ja, Zufriedenheit giebt es ſchon lange nicht mehr in ber Welt, und Schuld daran 
iſt — nun je nachdem, entweder die Gottlofigkeit oder die Sozialdemokratie. 

Manchmal tritt dad Widerfinnige der augenblidlichen Rechtöverhältnifie fo recht 
unverhüllt. zu tage. Cin Beifpiel davon: 

Der Dortmund:Emdlanal war gebaut worden. Die Stadt Dortmund hatte 
auf eigene Koften einen Hafen hergeftellt. Leider hatte man fich die zum Bau von 
Verwaltungsgebäuben nötigen Grundflüde nicht vor dem Hafenbau gefichert. Erſt 
nad ber Fertigftellung des Hafens trat man mit den Eigentümern des umliegenden 
Landes in Unterhandlungen. Sie forderten für die gewünfchten Parzellen bedeutend 
mehr, als die Stadt für den Grund und Boden gegeben Hatte, ben fie früher zum 
Zweck des Hafenbaues kaufte. 


Frieden. 329 


gekauft und darauf ein Haus für 30000 Mark errichtet, fo ift ba Grundſtück nad 
Vollendung des Baues 45 000 Mark wert. Die 30000 Mark Mehrwert hat ber 
Befiger felbft erzeugt; fie find alfo nicht „unverdient“. Verkauft der Eigentümer das 
Haus aber nach einiger Zeit für 51.000 Marl, fo ift ein Wertzuwachs von 6 000 Mark 
feftzuftelen, der allein das Ergebnis der Entwidlung des Ganzen, der Kolonie, if. 
Von diefen 6 000 Mark nimmt der Staat ein Drittel als Zuwachsſteuer. 

Andere Steuern außer den genannten giebt es in Kiautſchou nicht. Man beftraft 
nicht unfinnigerweife, wie im Mutterlande, einen Menfchen dafür, daß er fleißig ift; 
eine Geiwerbefteuer giebt es nicht. Jede ehrliche Arbeit ift frei von Abgaben. Jeder⸗ 
mann kann feine Kräfte voll entfalten, ohne ſich dafür noch befondere Erlaubnis ers 
taufen zu müſſen. Auch Zölle erhebt man nicht. In Kiautſchou herrſcht Freihandel 
und Gewerbefreiheit in vollſten Umfang. Der Staat nimmt an Steuern, was er 
feibft erzeugt. 

Dies Syſtem hat ſich in Kiautſchou durchaus bewährt. Die Denkichriften des 
Gouvernements ſowohl wie die Berichte der Reifenden, die die Stadt fahen, erzählen 
von einem überrafchenden Aufblühen der Kolonie. Daß dies auf die Landorbnung 
zurüdgeführt wirb, die den Verzicht auf jede Zolleinnahme möglich macht, beweift der 
Umftand, daß die englifchen Großlaufleute in Hongkong ihren Gouverneur um Eins 
führung einer ahnlichen Einrichtung, wie die der deutſchen Pachtung, gebeten haben. 

Wir Bodenreformer hoflen, daß das, was in Kiautſchou fo fegensreich wirkt, 
auch im deutichen Vaterlande nicht ohne Nutzen fein würde. Wir haben die feite 
Zuverficht, daß mit der Beichräntung und endlichen Befeitigung bed Bodenmonopols 
eine der wichtigften Seiten ber fozialen Frage erledigt fein wird. 


a 


Frieden. 


En Selfen blühten im Mondenfchein, 

Als wir auf heimlihem Pfad zu Zwei'n 
Durchs blaue Zwielicht fchritten. 

Was hab ich damals weinen gemußt, 

Und doch ftand meine Jugend in voller Bluft, 
Und mein Haar glänzte wie Bold. 


Der Mond glitt hinab von Glanze fchwer, 
Und es wurde ftiller um mich her, 

Mein Sweiter war fortgezogen. 

Keine Chräne hat mein Aug betaut, 

Nur bangend hab ich mich umgefhaut ....... . 
Mein Haar war dunfel geworden. 


Wie fonderbar! Wie fonderbar! 
Jeßt fteh ich und lach’ in die Welt, 
Und filbern glänzt mein Haar. 
Maria Janitfchek. 


— — — 


Der Gemüfebau im Hausgarten. 381 


Das dritte Mittel zur Verbefferung der phyſiſchen Eigenfchaften des Bodens ift 
in der Bearbeitung zu fuchen. Daß hierbei in Privatgärten am meiften gefündigt 
wird, bebarf feine Wortes. Geht die Loderung bed Erdreichs nur bis etwa 25 cm, 
und die Wurzel der Gemüfepflanze wie bei den meiften Kohlarten bis 60 cm hinab, 
fo kann von genügender Ernährung der Pflanzen keine Rede fein. 

Die Bearbeitung bezwedt Durdlüftung des Bodens und Hierdurch neben ber 
Befriedigung des Atembebürfniffe der Wurzeln die Auffchließung der an oder in den 
Erdkornchen vorhandenen löglichen Nährfloffe. Beides muß felbftverftändlich fo weit 
wirkſam fein, wie die Wurzeln in den Boden eindringen. 

Sehr wertvoll ift Hierbei die Mitwirkung des Froftes, deshalb ift die Haupt 
bearbeitung vor Winter (Schollern) anzuempfehlen. Wo dies verjäumt wurde, wird 
fie fo früh wie möglich vorgenommen, fobald fi die Winterfeuchtigfeit verzogen hat. 
Dem Rigolen folgt dann bei der Befamung oder Bepflanzung ber einzelnen Beete 
nochmals eine oberflächliche Loderung und biefer die Ebenung der Beete mittels der 
Harle. Es kann dad Gemüfeland nicht forgfältig genug vorbereitet werden. 

Ich brauche meinen Leferinnen die Verrichtungen felbft nicht zu beſchreiben, da 
wohl wenige fie perſonlich ausführen; doc) müjjen die Arbeiter dabei ftet3 beauffichtigt 
werben, Ordnung und Regelmäßigleit muß auch bei diefer einfachen Thätigfeit zur 
rRichtſchnur genommen werden. Gerade dieſe beiden Eigenfchaften fehlen in Privat: 
gärten am allerhäufigften. Es kann auch der Gemüfegarten zum Luftwandeln ein 
laden, und wenn er auch durch feine fommetrifche Anordnung den Schönbeitsfinn nicht 
immer befriedigt, fo bietet doch feine Beobachtung fo viel des Yntereffanten, daß man 
ftundenlang in ihm ftudieren kann. Der Gemüfegarten ift die befte Speifefammer des 
Haufed, und man weiß, wie viel in einer ſolchen durch Unordnung perberben und 
verloren gehen kann. 

Ich komme nun zum eigentlichen Erſatz der Nührfloffe im Boden, zur Düngung. 
Hierbei werden in ben Gemüfegärten die meiften Fehler gemacht, und zwar wird 
in dem Glauben, daß alle Gewächle die gleichen Vedürfniffe haben, auf der einen 
Seite ded Guten zu viel, auf der anderen zu wenig gethan, indem alljährlich dem 
ganzen Garten eine durchgängige, gleiämäbige Düngung zugeführt wird. 

Das Wort Fruchtfolge ift auch Laien befannt. Es ift dies eine Einrichtung im 
landwirtſchaftlichen Betriebe, bei der die Beftellung bed Landes in der Weife geregelt 
wird, daß die nädhftjährige Kultur die Bodennährftuffe verwertet, welche die diesjährige 
unbenugt ließ. Sie befommt alſo eventuell gar feine Düngung oder nur die Stoffe, 
die neben den ebengenannten’ gebraucht werden. Es ift die nicht nur eine weſentliche 
Erfparnis, man vermeidet dabei auch, den Gewachſen die Stoffe gleichlam aufzudrängen, 
die fie nicht beaueen und bie ihnen eher Schaden ald Nugen bringen. Wie bei Menden 
und Tieren, fo iſt auch bei Pflanzen ein Überfüttern geſundheitſchädigend. 

Es ift alfo auch im Garten eine Fruchtfolge einzuführen, modurd ſich nahezu 
zwei Drittel des Dungs erfparen läßt, der bei allgemeiner Düngung aufgewendet 
werden muß. Das Refultat aber ift ein bedeutend befjeres. 

Die Einteilung der Gemüfearten zu diefer Reihenfolge richtet ſich faſt ganz nah 
den Pflanzenorganen, die wir als Speifen genießen. Es find dies Blätter, Wurzeln 
und Früchte. 

Der meiften Nahrung bedürfen die Blattgemüfe, von denen namentlich die 
Kopftohlarten eine enorme Blättermaffe produzieren, die faum noch an das 
natürlihe Wachstum der Brassica oleracea erinnert. Diefen folgt der Wirfing, 
dann der Roſenkohl und endlich der Blätterkohl, defien Blätter ſich normal entwideln. 

Zu den Blattgemüfen gehören ferner die Spinatarten und die Salate. Letztere 
werben meiftend als Zwifchenfultur gebaut, verlangen aber gut gebüngten Boden. 

Endlich ftehen den Blattgemüfen im Verlangen nach reichliher Düngung bie 
Gemüfe gleih, von denen wir die fleifchig gewordenen Stengel genießen. Alles 
fleifchige Gemüfe muß fchnell wachen, follen die betreffenden Teile zart fein; bier 
fteht der Blumenkohl obenan, dann folgt der Kohlrabi, dann die Gemüfe, deren 
Blattrippen und Speije liefern. Diefe (Cardy, Meerkohl, Bleichiellerie) werden 


Der Gemüfebau im Hausgarten. 381 


Das dritte Mittel zur Verbefferung der phyſiſchen Eigenfchaften des Vodens ift 
in der Bearbeitung zu fuchen. Daß hierbei in Privatgärten am meiften gefündigt 
wird, bedarf feines Wortes. Geht die Loderung des Erdreichs nur bis etwa 25 cm, 
und die Wurzel der Gemüfepflanze wie bei den meiften Kohlarten bis 60 cm hinab, 
fo kann von genügender Ernährung der Pflanzen keine Rede fein. 

Die Bearbeitung bezwedt Duͤrchlüftung des Bodens und Hierdurch neben der 
Befriedigung des Atembebürfniffes der Wurzeln die Auffchliegung der an oder in ben 
Erdkornchen vorhandenen löglichen Nährſtoffe. Beides muß felbitverftändlich fo weit 
wirkſam fein, wie die Wurzeln in den Boden eindringen. 

Sehr wertvoll ift hierbei die Mitwirkung des Froſtes, deshalb iſt die Haupt 
bearbeitung vor Winter (Schollern) anzuempfehlen. Wo dies verjäumt wurde, wird 
fie fo früh wie möglich vorgenommen, fobald ſich die Winterfeuchtigfeit verzogen bat. 
Dem Nigolen folgt dann bei der Beſamung oder Bepflanzung ber einzelnen Beete 
nochmals eine oberflächliche Loderung und diefer die Ebenung der Beete mitteld ber 
Harke. Es kann das Gemitfeland nicht forgfältig genug vorbereitet werden. 

Ich brauche meinen Lejerinnen die Verrichtungen felbft nicht zu befchreiben, ba 
wohl wenige fie perfünlich ausführen; doch müſſen die Arbeiter dabei ſtets beauffichtigt 
werden, Ordnung und Regelmäßigkeit muß aud bei biefer einfachen Thätigteit zur 
rRichtſchnur genommen werden. Gerade dieſe beiden Eigenfaften fehlen in Privats 
gärten am allerhäufigften. Es kann aud ber Gemüfegarten zum Luftwandeln ein 
laden, und wenn er auch durch feine ſymmetriſche Anordnung den Schönheitsfinn nicht 
immer befriedigt, jo bietet doch feine Beobachtung fo viel des Jnterelfanten, daß man 
ftundenlang in ihm ftudieren Tann. Der Gemüfegarten ift die beſte Speiſekammer des 
Haufes, und man weiß, wie viel in einer folden durch Unordnung perderben und 
verloren gehen Tann. 

Ich komme nun zum eigentlichen Erfaß der Nährfloffe im Boden, zur Düngung. 
Hierbei werden in den Gemüfegärten die meiften ‘Fehler gemacht, und zwar wird 
in dem Glauben, daß alle Gewächſe die gleichen Bebürfniffe haben, auf der einen 
Eeite des Guten zu viel, auf der anderen zu wenig gethan, indem alljährlich dem 
ganzen Garten eine durchgängige, gleichmäßige Düngung zugeführt wird. 

Das Wort Fruchtfolge ift auch Laien bekannt. Es iſt dies eine Einrichtung im 
landwirtſchaftlichen Vetriebe, bei der die Beſtellung des Landes in der Weife geregelt 
wird, daß die nachſtjahrige Kultur die Bodennährftoffe verwertet, welche die diesjährige 
unbenugt ließ. Cie befommt aljo eventuell gar feine Düngung oder nur die Stoffe, 
die neben den ebengenannten gebraucht werben. Es ift dies nicht nur eine weſentliche 
Erfparnis, man vermeidet dabei auch, den Gewächſen die Etoffe gleichſam aufzubrängen, 
die fie nicht brauchen und die ihnen eher Schaden als Nugen bringen. Wie bei Menſchen 
und Tieren, jo iſt auch bei Pflanzen ein Überfüttern gejunbheitichädigend. 

Es ift alfo auch im Garten eine Fruchtfolge einzuführen, wodurch ſich nahezu 
zwei Drittel des Dungs eriparen läßt, der bei allgemeiner Düngung aufgemwendet 
werden muß. Das Rejultat aber ift ein bedeutend beijeres. 

Die Einteilung der Gemüſearten zu diefer Reihenfolge richtet fich fait ganz nad 

Zpeijen genießen. Es find dies Blätter, Wurzeln 


: die Blattgemüfe, von denen namentlich bie 
ttermaffe produzieren, die faum noch an das 
oleracea erinnert. Diefen folgt der Wirjing, 
Blätterkohl, deſſen Blätter fih normal entwideln. 
ferner die Spinatarten und die Salate. Leßtere 
gebaut, verlangen aber gut gedüngten Boden. 
aſen im Verlangen nad zeihlider Düngung, bie 
iſchig gewordenen Stengel genießen. Alles 
inflen bie betreffenden Teile zart fein; hier 

der Kohlrabi, dann die Gemüfe, deren 
(Caroy, Meerkohl, Bleichjelerie) werden 


Der Gemüfebau im Hausgarten. 333 


Schafft Luft und Licht in euren Gärten! Pflanzt und fäet weitläufig, lichtet 
eure Dbftbäume! Der Kohlenftoff der Luft bildet den Bauftoff für ale Gewächfe, das 
Waſſer gleichfam den Mörtel und der Sauerftoff der Luft ift der Baumeifter. Die 
ausführenden Arbeiter aber find die Lichtftrahlen. Gebt ihnen Gelegenheit, zu jedem 
Blatt Hinzugelangen. Nur dann kann von freudigem Gebeihen die Sede fein. 

Die Düngung beginnt auf dem Quartier, auf dem Blattgemüfe kultiviert werben 
follen, und wird im Gemüfegarten hauptjächlih duch Stalldung ausgeführt, dem 
Univerfalmittel, das alle Bedürfniffe der Pflanzen enthält und nebenbei den Boden 
durchlüftet, erwärmt und duch Humusbildung verbeflert. Haben mir es nicht mit 
fehr ſchwerem Boden zu thun, fo ift Kuhdung allen anderen Erfrementen borzu= 
ziehen. Reiner Pferdedung ift zuweilen für Kohlarten durch Beförderung der Kohl: 
krankheit berhängritvoll 

Um das Blattwachstum zu fördern ift eine Kalidüngung nebenbei von Erfolg. 
Diefe wird durch Holzaſche oder geringe Überfireuung des Dungs mit Kainit gegeben. 

Bei der ftarfen Düngung und dem Tiefgehen der Wurzeln ber Kohlpflanzen ift 
Nigolen auf ca. 60 Zentimeter Tiefe unerläßlih; Hierbei wird der Dünger moͤglichſt 
innig mit der umgegrabenen Erde gemifcht. 

Das im vorigen Jahr ebenjo bearbeitete vorjährige Vlattgemüfequartier bes 
kommt in biefem Jahr für die Wurzelgemüfe gar feinen Dung. Gerade die Düngung 
mit frifchem Dung erzeugt die fo oft beflagten madigen Rüben und Zwiebeln. Sobald 
die Pflanzen zu wachſen beginnen, ift eine dünne Überftreuung mit Chilifalpeter, der 
als Stidjtoffpüngung auf die Ausbildung fleifchiger Pflanzenteile einwirkt, von Erfolg. 
Fe fi igen Stengel und Wurzelorgane, die zart fein follen, müſſen ſchnell 

‚anwadhlen. 

Nun kommen die Hülfenfrüchte, die als Nachfolger der Wurzelgemüfe feiner be 
fonderen Stalldunggabe bebürfen, wenn wir ihnen zur Stengelbildung im Herbft 
dor ber Ausfaat etwas Kali (Rainit) geben und den Fruchtanfag durch Einbringen 
irgend eines Phosphorbungmittel® fördern; hier find Sinochenmehl oder Thomasichladen 
langfam, Superphosphate ſchnell wirfend. Ale derartigen Dungmittel werben in ver- 
Hältnismäßig geringer Doſis verwendet. 

Eid bedürfen die Hülfenfrüchte nicht, da fie ihn von den Meinen, ſich 
Tolonienweife an ihre Wurzeln fchmiegenden Pilzchen (Bodenbafterien) empfangen, 
denen fie dafür wieder andere Lebensmittel abgeben. Ja, e3 giebt auch „gute Geifter” 
unter den fo gefürchteten Spaltpilzen: Diefe Symbioſe ift ein eigentümliches Freund» 
ſchaftsverhaltnis im Pflanzenreich, wie e8 unter Menjchen felten vortommen mag. 

Haben wir fo die Bebürfnifje der Gemüfepflanzen im allgemeinen befprochen, fo 
wollen wir in einem zweiten Auffag die Hauptarten in ihren Eigenheiten vorführen 
und die Anzucht der Pflanzen betrachten. Wer das Leben der Gewächſe mit Intereſſe 
zu beobachten verfteht, für den ift die Arbeit im Gemüfegarten ein ebenjo hoher Genuß, 
wie die unter Blumen. Vielleicht intereffiert e8 dann auch noch, einen Blid in den 
Obftgarten, der ja meiftend mit dem Gemüfegarten verbunden ift, zu mwerfen. 

Der Februar bringt das langſame Hinfcheiden des Winters, die Märzfonne 
erwedt Millionen von Keimen und Trieben. Wir aber find berufen, das fich ent: 
faltende Leben zu überwachen und die heranwachienden Pflanzen zu erziehen, daß 
fie zur Erhaltung der Menſchen beitragen. In einer gut geführten Gemüfegärtnerei 
find es vielleicht 5 Prozent der Pflanzen, die ald wertlos entfernt werden, in Privat: 
Ben 50—60 Prozent. Deshalb an die Arbeit; forgen wir, daß es bei uns nicht 


jo ausſehe. 


Stella'3 Wankelmut. 


„Jetzt bift du eben ſchon fo ein bißchen 
auf dem Abmarfh. Da vermindern fi 
natürlich bie Geiftesfräfte.” 

„Spotte du noch. So ein Grünfchnabel 
wie bul“ . 

„Nun, wenn ich fo ein Gudinbiewelt bin, 
was nüßt bir mein Rat?” 

„Da haft du recht.“ — Eie ſaß mieder 
neben feinem Ruhebett auf der Erbe, hatte 
die Arme um ihre beiden Kniee gefchlungen, 
die Hände in einander verſchränkt und blidte 
nachdenklich gradeaus vor fih hin. „Ja, im 
Grunde nüßt er mir gar nichts. Nicht das 
mindefte. — Und doch ...“ 

„Sieb, Eugen,” begann fie nad einer 
Pauſe ganz leife, „ich will ja auch nicht grade 
Rat von bir haben. Und gewiß nicht dich 
mit Verantwortung belaften für das, was id) 
thue. Ich werd’ dir nie fagen: Du rietft 
mir, es ift deine Schuld. — Nur reden möcht" 
id, mir felbft Mar werben. Nachher . 
nachher thu’ ich dann dies oder was anderes, — 
ober auch gar nichts.” 

„Alſo, leg’ 108.” 

„Ja, wenn du's nur begreifen Tönnteft. 
Damals war eben alles fo anders. Ich fo 
jung. Under fo, fo... Was ihrjeßt alle Stella's 
Wankelmut nennt, das hat's überhaupt noch 
nicht gegeben. Es war im Garten, er ſchaukelte 
mid. Dann hielt er plöglih an, mitten im 
Schwunge: Du, willft du mi? Und er hob 
mid) hinunter zu fi auf die Erde. — Ich 
gab ihm Feine Antwort. Auch nicht ein 





Vor! — — Wir find dann zu ben 
Eltern gegangen. Unb ihr Brüder fchriet: 
Hurrah! und die Dienftleute kamen und 


gratulierten. Mama fagte: wir müfjen ihr 
ein Kleid beftellen für die Brautvifiten, bie 
Kleine hat gar nichts! — Was war denn 
damals zu überlegen? Ob das Kleid blau 
ober rofa fein ſollte. Weiter doch nichts. 
Es gab Heine Tontraftierenden Pflichten, es 
ging alles fo glatt und fo einfah. Und war 
fo ſchön! Ich, Etella, die heute bedenkt und 
verwirft und zögert und fi zu nichts ent 
ſchließen Tann, id} glaube, ich eriftierte noch 
gar nicht. Und dann — — — als id) dann 
zwanzig war und er jtarb und der Kleine gleich 
darauf, — ich dachte, ich wär’ mit dem Leben 
fertig. Ja fertig! Da hat's erft angefangen.” 





„Arme Stella! Kein Menfh kann dir's 
verbenfen, wenn bu bir wieder ein eigenes 
Glüd ſuchſt, fie haben e8 bir ſchwer genug 
gemacht.“ 

„Sie? wen meinſt du, feine Schweſtern? 
Ad, das doch nicht! Sie raiſonnieren, rümpfen 
die Nafe über mid. Und dann zahl ich ihren 
Söhnen die Schulden, und dann müffen fie 
ſchweigen.“ 

„Hm, in dem Fall müßte ich alfo auch ...“ 

„Aber nein, das ift doch mas anderes: 
Du gehörft zu mir. Und dann verleumbeft 
du mid) aud nicht hinterm Rüden, fondern 
bift mir grob ins Gefiht. Das mag ich 
grade.“ 

„So? werd' mir's merlen.“ 

„Eugen,“ bat fie und drüdte die Wange 
an feine Schulter, „Lannft bu dir's nicht denlen, 
wie einem ift, ber ganz allein ift, immerfort, 
und fi vor allen, allen Leuten höflich, in 
Gefelichaftstoilette zeigen muß und nie im 
Schlafrock?“ 

„Nun, den da, von heute, könnteſt du vor 
den fremdeſten Leuten ſehen laſſen.“ 

„Willſt du mid) wieder nicht verſtehen ? 
Ich meine ein innerliches laisser aller. Mit 
dir bin ich natürlich, weil du's auch biſt. 
Wie's mich freut, wenn du ſo herausgähnſt! 
Das weißt du ja gar nicht.“ 

Er lachte: „Am Zuhausfühlen bei dir 
fehlt's mir wahrhaftig nicht. Wenn du die 
Schwäger und Schwägerinnen auch ſo hier 
aufs Gut einladen würdeſt, daß ſie ſich von 
dir geſund pflegen ließen, — ich glaube, ſie 
fühlten ſich bald genug heimiſch. Nämlich, du 
haſt wirklich Talent zur Krankenſchweſter. 
Wenn der Profeſſor erſt einmal dein Mann 
wird ....“ 

„Ja, wird er das denn?“ 

„Das mußt du wiſſen“. 

Eie fprang auf und ging zur Thür, ftieß 
fie weit auf, ſah hinaus in den Garten, kam 
zurüd und warf fi) wieder auf beide Kniee 
neben dem Kranken. 

„Ich weiß es nicht,” flüfterte fie, „ich 
weiß nicht!” 

Und dann lag fie eine Weile, das Geſicht 
in bie Lehne feines Ruhebettes vergraben, und 
an dem Zuden ihrer Schultern ſah er, daß 
fie meinte, 


Stella's Wankelmut. 


Inſpeltor ließe fragen, mann gnädige Frau ! 


zu ſprechen wäre. Ob der Herr Leutnant es 
fagen fönne? 

„Seht nicht. Überhaupt Heute...” Eugen 
mollte fagen: heut’ gar nicht. Aber dann 
befann er ſich, daß ein Inſpeltor doch manchmal 
Geſchaͤfte habe, die vieleicht auch wichtig fein 
fönnten. „Nachher,“ fagte er. „Um brei ober 
vier. Ich erwarte den Arzt. Jedenfalls erſt, 
wenn der Herr Profefjor fort ift. Eagen Eie 
das.“ 

Er hatte fein Buch wieder aufgenommen, 
aud bie richtige Eeite darin gefunden. Aber 


obwohl’3 eines von Ompteda war, das alfo 


feinen Stand ſchilderte und das er lieber las 
als jedes andere, er fonnte nicht folgen. Gr 
horchte hinaus. 

Und dann fuhr ein Wagen am Haus vor. 
Man hörte es bier, obwohl dies Gartens 
zimmer nad) binten hinaus lag, fo raſch fuhr 
er vor, jo ſcharf vor der Rampe wurden bie 
beiden Pferde gezügelt. Profeſſor Salzer hatte 
immer prächtige Tiere. Merkwürdig doch, daß 
fo ein Gelehrter auf Pferde was gab. Über: 
haupt auf Außerlichteiten. Und daß biefer 
Mann, fo ernft, jo gehalten, fo ganz anders, 
fh grade in Etella.... Aber natürlich, 
darum grade. Eie zog ihn an durch ihren 
Weltton, ihre Grazie, durch all das, was er 
nicht befaß. — 

Da kam der Profeffor ſchon herein. Ein 
raſcher, ſuchender Blid durch das Zimmer. 
Dann tar er ganz bei feinem Patienten. 

„Sehr gut getwidelt,” fagte er nur halb» 
laut ein paarmal, als er den Verband von 
dem Knie nahm, „wirklich, fehr gut, ganz 
mufterhaft.” Aber dann hielt er's nicht aus: 
Ihre Frau Schweſter heut’ nicht zu Haufe?” 
— fragte er. 

Indem trat fie von der Terrafie ein. Sie 
Icgte raſch ihre Gartenhandfhuhe und den 
großen, runden Schutzhut auf den erften beften 
Stuhl. Augenſcheinlich war fie gelaufen, als 


fie den Wagen vernommen hatte, um recht= | 
! feinem ſchon ein wenig angegrauten, großen 


zeitig da zu fein. Nun fniete fie und ftügte 
das Bein. Sie fah erhigt aus, das Haar ein 
wenig vom Wind zerzauft, jo mädchenhaft 
jung. Er war nicht grade jung und nicht 
ſchön. Aber er war ein ganzer Mann. Eugen, 





der am mindeften von ben dreien bei der | 


887 


Sache war, obwohl fie ihn eigentlich doch am 
meiften anging, denn die Unterfuchung feines 
kranken Knies that ihm recht weh — beobachtete 
feine beiden einiger. Wie fie zufammen 
arbeiteten, als erriete jeder von ihnen des 
andern Gedanken und fuchte ihnen zuvor: 
zukommen! 

Aber nun ſollte der arme Patient wieder 
Gehverſuche machen, einen Arm um Profeſſor 
Salzers Nacken, einen um ſeine Schweſter 
geſchlungen. Dabei konnten die zwei ſich nicht 
ſo recht ſehen. Oder ob ſie hinter ſeinem 
Kopf dennoch ſich verſtändigen würden? Er 
wollt' es ihnen nicht verwehren. Tragiſch 
war's doch, ſich zum Krüppel fallen zu müſſen, 
damit zwei ſich kriegen können! Denn wenn 
er nicht damals mit der Stute, ... der gute 
Salzer hätte auch noch meitere fünf Jahre 
wie bisher die ſchöne Frau fo von fern ans 
ſchwärmen können. 

„Aber, mas machen Sie denn, Herr 
Leutnant,” rief der Profeſſor, „Sie geben ſich 
ja gar feine Mühe. Ihre Frau Schweſter 
muß Sie fürmlid tragen.” 

„Ach fo,” Eugen lachte, „aber das ſchadet 
nichts. Sie ijt mir nur dankbar, daß ich ihr 
etwas Übung ſchaffe. Sie behauptet ja immer, 
für das Krankenpflegen zu ſchwärmen. Na 
alſo — iſt's fo recht?“ 

Und der Profeſſor: „Ja, gnädige Frau, 
wie Sie dafür begabt ſind! Hätten wir in 
der Klinik lauter ſolche Pflegeſchweſtern!“ 

„Nun,“ ſagte fie „vielleicht werde ich noch 
Schweſter. Ich hab' manchmal Luft dazu. 
In Ihrer Klinik oder wo anders. Darüber 
bin ich nur noch nicht recht ſchluſſig.“ — 

Der ärztliche Teil der Viſite war beendet. 
Der Profeſſor ſah ſich nach ſeinem Hut um. 
Aber auf den hatte grade Frau Stella Hut 
und Handſchuhe geworfen. Er mußte ſie 
aufheben. Das that er mit zögernd vor⸗ 
fihtigen Fingern, als gelte es jeßt erft eine 
wirklich ſchwierige Operation auszuführen. 
Sie griff gleichzeitig nach ihren Sachen. Unter 


Bart konnte man ein Erröten erfennen. Cr 
verbeugte fih und reichte ihr ihr Eigentum 
hin. Dabei berührten fi) wohl die Finger. 
Nun errötete fie auch. 
„Wollen Sie denn ſchon fort, Brofefjor?” 
22 


Stella's Wanfelmut. 


er blieb ruhig figen, ſprach in feinem dozierenden 
NRatheberton weiter und erkundigte fih nad 
ihrem legten Aufenthalt in Ztalien. Er venfe 
aud) einmal hinzureifen. Später, mit jemandem, 
der das Land, die Sprache dort, die Kunft 
tennen würde... . 

Eugen wetterte innerlih. So ein trodener 
Stubengelehrter kann eben Frauen nicht vers 
fiehen! Wenn er fie will, fo muß er fie 
zwingen. Meint er wohl, daß fie fich felber 
ihm anbieten fol? Na, da kennt er fie 
ſchlecht. — 

Aber ganz fo ſchlecht, wie der Bruber es 
meinte, verftand der Gelehrte ſich doch wohl 
nit darauf, feinen Vorteil wahrzunehmen. 
Sie waren in Iebhafter Unterhaltung vom 
Tiſch aufgeftanden, und er führte fie wieder 
in das Terraffenzimmer. Als Eugen ihnen 
nachgerollt worden, fand er bie zwei an dem 
feuerlofen Kamin, auf dem die großen Bronze⸗ 
abgüffe von Micyelangelos Florentiner Grab: 
mälern ftanden. Stella ftügte ben einen 
Ellbogen auf die Platte und hatte die Stim 
in die Hand gebrüdt. Er Iehnte ihr gegenüber. 
Von der Wand fah das Lenbachſche Porträt 
des verftorbenen Hausherrn auf fie herab. 
An das dachten fie wohl nicht in dieſer 
Minute. Sie ſchwiegen beide. 

Dann büdte er ſich und nahm ihre Rechte, 
die ihr in den alten des Kleides herabhing. 
Er hielt fie fo leife, zaghaft, fragend ..... . 
„Auf morgen alſo?“ 

„Ja, auf morgen,” ſagte fie. 

Er ging aus dem Zimmer, den Blid rüd- 
wärts, zu ihr gewendet, ohne feinem Patienten 
Eugen nur Adieu zu fagen. Und Stella 
ftand und fah ihm nad. Dann drehte fie 
langfam fi zu ihrem Bruder: „Nun, was 
fagft du? ift dir's fo recht?” 

Und fie kam zu ihm und nahm feine 
Hand und brüdte fie ſich an bie heiße 
Bade: 

„Du, er ift nett, nein, toirflich nett. Und er 
iſt fo... fo verliebt. Das thut mir wohl. 
Es ift doch ſchön, daß es fo was noch giebt! 
Ich glaube, .... ihm konnt' id es nicht 
gleih fagen. Aber, — ja — ich hab’ ihn 
auch gern! — wir werben noch ganz glüdlich 
werben... . .” 

Inder wurde der Inſpektor gemeldet. 





389 


„Nein!“ rief fie, „mein, ich will nicht, 
jegt nit! Sagen Sie, ih bin nit an- 
gezogen.” 

Aber er war dem Diener auf dem Fuß 
gefolgt und ftand in feinen Reitftiefeln, be 
ftaubt, erhißt, fo, wie er vom Felde am, die 
lurze Peitfche mit feiner Müte in ber Hand, 
ſchon mitten im Zimmer und vor ihr... . 

„Gnäbige Frau!" — 

„Ach, Herr von Thielendorff, Eie ver- 
zeihen, ich habe nicht Beit jetzt.“ 

n®itte, es bebarf feiner Beit. 
nur erfuchen wollen, nur... 
Abſchied —“ 

„Sie!“ — Frau Stella trat einen Schritt 
zurück 

„Ja, gnädige Frau, ich muß um meine 
Entlaſſung bitten.“ 

„Herr von Thielendorff, nein, das thun 
Sie mir nicht. Sie wiſſen doch, ich verſtehe 
gar nichts. Und überhaupt.. Sprich du 
mit ihm, Eugen!“ 

„Der Herr Leutnant wird Ihnen nicht 
helfen. Er wünfcht, daß ich gehe.” 

nAber ih wünſche es nicht, ih will's 
nit! Sie haben mir ja auch verfprochen, 
zu bleiben, damals, ala Ihr Onfel ftarb und 
Ihnen fein Gut... Sie hätten längft dort 
ſchon Ihr eigener Herr fein können. Aber 
Sie fagten mir, diefen Winter... .” 

„3a,“ murmelte er, „da haben Sie mic 
glauben machen . . .” 

„Daß Sie mein Freund find, das glaubte 
ich!“ 

„Daß ich nicht nur Ihr bezahlter An— 
geſtellter, ſondern ein Menſch in Ihren 
Augen, ein Mann ſei, dem Sie's erlaubten, 
Sie zu ... zu bewundern. Erſt ſeit Ihr 
Bruder herlam... Und dann der Profeſſor ... 
Seitdem natürlich . . .” 

„Herr von Thielendorff,“ rief Eugen und 
richtete fi auf, fo weit er konnte, „Cie 
fagen ſchon zum zweitenmal etwas, als ob 
ih Eie bier verleumbet hätte... . Sch bielt 
es für meine Pflicht, meiner Schwefter . . .” 

„Was weißt du von ihm!“ rief Stella 
dagegen. „Was man eben beim Regiment 
hört. Ich weiß mehr. Bon ihm felbft.” 

„Gnädige Frau,” fagte der Infpektor leiſe, 
„ich tenne Sie, Cie würden nie eine An— 

22* 


36 Hatte 


nur meinen 


Stella's Wanlelmut. 


„Barum verſuchen Sie, mich zu täuſchen? 
— Ich ritt an feinem Wagen vorüber, als 
er zur Stadt fuhr. Ich ſah fein Geſicht. — 
Da las ich die Wahrheit.“ 

Welche Wahrheit? daß er um mich ans 
gehalten hat? mill ih denn das leugnen? 
Dbgleih Sie's nichts angeht, ich will Ihnen 
auch noch mehr erzählen. Er erbat fi meine 
Entſcheidung für morgen. Ich veriprad fie 
ihm. Und morgen alfo... . ja, da ſchreibe 
ich ihm ab!“ 

„Stella!“ 

Wer hatte es gerufen? Thielenborff ober 
Eugen, oder beide? Sie baten feiner an 
den andern. Der Inſpeltor hatte ihre Hände 
ergriffen und hielt fie und ftammelte irgend 
etwas. Sie verftand’3 nicht, er wußte nicht 
mas. Das war auch gleichgiltig. Eugen 
hatte ſich aufgerichtet, er griff nad feiner 
Krüde, er tappte fi von feinem Ruhebett in 
die Höhe, zum nächſten Stuhl bin, zum Tiſch, 
zu ihr... es ging nur nicht fo ſchnell, wie 
er wollte. 

Frau Stella hatte inzwiſchen ihre Hände 
aus denen bed Herrn Inſpeltor gelöft. — 
„Alfo, darüber find Sie nun beruhigt. Mas 
Ihnen auch einfiel! Wenn id mich wieder: 
verheiratet hätte, fo wollten Eie fort? Nun, 
da's damit nichts ift, bleiben Eie alfo? gewiß? 
Ihr Wort?" 

„Mein Wort, Frau Stella!” fagte der 
Mann mit leifer Stimme. 

„Ich danke Ihnen. Ich danke Ihnen! Was 
auch fommen, was ich thun mag, — bis ich mich 
einmal verheiraten werde, bleiben Sie alfo hier 
ala Infpeltor. — So, das wär’ in Drbnung. 
So, gehen Sie jet. — Ich muß nad) meinem 
Patienten fehen. . . . Adieu für heut! —“ 

„Du, Eugen,” fagte fie und wandte fih 
zu dem Bruder und kehrte jenem jo entſchieden 
den Rüden, daß er nicht anders fonnte als 
fortgehen, — „mas machſt denn du ba für 
Experimente? Du ſollſt doch nicht aufftehen, 
ohne den Doktor! Komm, ich ftüß dich, fomm . .” 
Sie wollte ihn zu feiner Chaifelogue zurüd⸗ 
bringen. 

Er aber, halb atemlo8 vor Erregung, 
ftand, zwiſchen Stuhl und Krüde fih haltend: 
„Nein ih will nicht, laß mich! Nein! Ich 
will wiſſen, was das heißt. Wann haft du 





341 


gelogen, jeßt oder erft? Und welchen von ben 
zwei Männern betrügft du, den Profeſſor, 
den edlen, guten, berühmten, großen Mann? 
Oder biefen, diefen da!” — 

Sie nahm ihm einfach die Hand von ber 
Stuhllehne fort, an die er fih angeflammert 
hatte, unb legte feinen Arm um ihre 
Schulter. Um nicht zu fallen, mußte er fi 
nun an ihr halten, fi) von ihr führen laſſen. 
So brachte fie ihn zum Sofa zurüd, half ihm 
fi) Iegen, lagerte ihm das Bein. 

„Stred di aus. Thut es noch meh? 
Was du aud für Gedichten anfängft. Und 
die großen Worte: lügen, betrügen! Du bift 
ein Kind. Und id) bin eine rau, weiter gar 
nichts.” 

„Was willſt du denn nun eigentlich?" rief 
der junge Mentor heftig. „Auch Frauen, meine 
ich, müßten ſchließlich wiſſen, was fie wollen.” 

„DH ja,” fagte fie. Sie richtete fi in 
die Höhe, nachdem fie ihn forgfam gebettet 
hatte, „ob ja, zuletzt!“ — 

Und fie ging von ihm fort zu dem Heinen 
Schreibtiſch an der andern Seite der Terraſſen⸗ 
thür, feßte fich, fchrieb. 

„Was ſchreibſt du,” rief er, „eine Abfage 
an den Profefjor? Stella, du thuft ein großes 
Unrecht. Du ließeft ihn durch deine Art ein 
Ja erwarten. Und diefen Thielendorff heiraten, 
deinen eignen Inſpeltor, der wegen Schulden 
und Schwindeleien vom Regiment fort mußte, 
nein, das fannft du doch nit, ganz un- 
möglih!" ... 

Sie ſchrieb noch, ohne ſich ftören zu laſſen. 
Dann fam fie zu ihm, mit dem fertigen Brief 
in der Hand. 

„Auch Frauen müfjen wiſſen, was fie 
tollen, fagteft du? Nicht immer, Eugen. Ich 
menigftens, vorhin, — du haft recht, ich ließ 
ihn glauben, es würde ein Ja fein. Ich meint’ 
es felbft jo. Fünf Minuten drauf den In— 
ſpeltor ... den ließ ich's auch glauben. Ober 
vielleicht nicht heut. Diefen Winter aber, ſchon 
oft... Und andere auch früher. Aber nie 
lang. Weil es eben nichts war. Cingerebet, 
gewollt, nicht gefühlt. Ich fagt’ es dir vorher. 
Ih made mir zu viel Ideale und will zu 


viel. Darum kann ich nichts Ganzes mehr 
fühlen. Und überhaupt... Da nimm und 
lieg —" 


342 


„Stella,” rief er, da er auf dem Brief, 
ben fie ihm bingab, nur die Adreſſe gefehen 
hatte, „warum an die jeßt? das bedeutet . . 2” 

„Sa eben dad. Daß ich mich bei der 
Oberfchweiter ala Pflegerin melde. Dazu palfe 
ih, mie du meißt. Dann brauche ich mid 
nicht mehr zu fragen, was ich will, Tann ganz 
einfach nur thun, was ich muß. Ach, wird 
das bequem fein!” Sie ftredte fich in dem 
Strohlehnituhl aus, die Hände hinter bem 
Kopf gefaltet. „Ihielendorff bleibt hier auf 
dem Gut, ih babe fein Wort. Dann mirb 
e3 gut bemwirtichaftet, daß mir Leos Verwandte 
nicht nach meinem Tod noch Vorwürfe machen. 
Und er, der arme Kerl, er ift hier geborgen, 
gefhübt vor feinem Leichtſinn. Das freut 
mih für ihn. — Na, und der andere — 
ein großer Gelehrter, wie du felbit jagft, ber 
hat feinen Ruhm, feine Kranken, feine Arbeit. — 
Er wird ſich fchon tröften.” 

„Aber bu, Stella, du — in dem weißen 
Kleid da, in deinem Salon, mit ber offenen 
Thür zum Park und dann nahher ..... Das 
ift ja nicht möglich!” | 

„Ach,“ fagte fie, „fo ſchlimm ift das nicht. 
Die modernen Kranfenbaraden find gut gelüftet. 
Und die Tracht ift gar nicht unfleibfam. 


Dad Buch der Weisheit. 


| Überhaupt —” fie war ſchon wieder auf: 


gefprungen, ftand nahe über ihn gebeugt und 
ihre Augen blisten ihn an — „meinft du, es 
wär’ nicht fchön, mas Schweres, jo was recht 
berzbeengend Großes, Schweres zu thun? 
Menn man fühlt, daß man’ fann? Sch 
hab's mir fhon oft früher gewünfht. Und 
dann wünſcht id) mir das Seiraten mehr. 
Aber nun heute... . menn bad Heiraten fein 
Glück ift, kein zwingendes, blaues, fraglos 
helles, warum benn dann? Und warum muß 
ich glücklich werden, grade ih? Go viele ſind's 
nit... — Weiß ich des Morgens, warum ich 
aufiteh’, daß ih am Plab fein muß, die eine 
zu waſchen, die zu beiten, den zu verbinden, 
fo ift das genug. Sch babe einen Zweck dann 
im Leben. Meinft bu, dad wär' mir nicht 
wert aller Mühe? —“ 

„Stella,“ fagte er leife, „ihr rauen! Und 
ich dachte, ich fenne dich. Ob viele fo find?“ 

„Mandje. Und manche find wieder andere. 
Und ich bin fo. Du fragteft vorhin, ob ich 
denn nicht weiß, mas ich will® Sch meiß es 
ja, jet. Man kann Überhaupt fi fo was 
nicht lange überlegen. Es fommt, und man 
muß. Dann ift man nicht mehr unentichloffen. 
Dann bleibt e8 dabei. —“ 


— 8— 


Das Buch der Weisheit. 


Prometheus erderfchaffenem Gefchlecht 
aht’ auch Athene fih im Götterglanze 


Geſchenke bringend: 


„Teilet recht”, 


So fprechend reichte fie dem Menfchenpaar, 
Dem erften, ihre Gaben dar; 
Ein Spinnrad war’s, ein Buch und eine Kane. 


Rafch nach der fchweren Waffe ariff der Mann, 
Die trefflich feiner grimmen Stärfe paßte, 


Und maßte auch das Buch fich 


an; 


Derweil des Weibes zarte Hand 
Das eben nahm, was fie noch fand, 
Und froh das zierlich fchöne Spinnrad faßte. 


So blieb es auch, bis einmal Streit fich fand, 
(Athene felber mag den Swift entfcheiden) 
Das Buch der Weisheit war der Gegenftand. 


Die Göttin ſprach: 


„So war's nach meinem Sinn; 


Wohl ift für zwei genug darin 
Un Weisheit; es gehöre allen beiden!” 


Arthur Thielert. 


— —— — 











Aesculapia Victrix. 


Belene Tange. 


Racbrud verboten. 
Er Jahre 1886 erfchien in der „Fortnightly Review“ ein Artikel von Robert 

Wilfon, betitelt: „Aesculapia Victrix“. Er ſchildert darin die Kämpfe, die 
auch in Großbritannien durchgefochten werden mußten, ehe die Frauen zum Stubium 
der Medizin zugelaffen wurden, Kämpfe bis zum bandgreiflichften Sinne des Worts. 
Denn in Edinburg mußten die Studentinnen vor den Steinwürfen ihrer männlichen 
Kollegen flüchten. Aber „Aesculapia“ ging als Siegerin aus diefen Kämpfen hervor, 
und fleinerne Monumente, Hofpitäler, in denen Frauen von Frauen behandelt werben, 
geben heute davon Kunde. 

Mit den fleinernen Monumenten hat's bei ung noch gute Weile. Aber auch 
wir dürfen zufrieden fein, auch wir dürfen fagen „Aesculapia Vietrix“, wobei wir 
allerdings noch eine Heine Anweifung auf die Zukunft mit in den Kauf nehmen müffen. 
Und wenn wir zurüdbliden auf bie fehweren Jahre, die hinter uns liegen, fo haben 
wir alle Urfache, dankbar derer zu gedenken, die die erfte Brefche fchlugen. 

Es war zu ber Zeit, da ber Jubel über das neu erftandene Reich aller Herzen 
und Gedanken erfüllte, da alltäglich jeder eifrig zur Zeitung griff, um die Welt: 
ereigniffe zu verfolgen. Da kann möglicherweiſe mancher Leſer mit einem unwillkürlichen 
Zuden der Mundwinkel eine Heine beſcheidene Notiz überflogen haben, daß die erſten 
deutfchen Studentinnen in Zürich ihren Einzug gehalten hatten, vorausgefegt, daß die 
beutfchen Zeitungen dieſe Thatfache überhaupt des Berichtens wert erachteten. Heute 
dürfen die beiden Studentinnen, die damals die mebizinifchen Hörfäle befuchten, auf 
25 Jahre einer fegensreichen, von Jahr zu Jahr wachfenden Praxis zurüdbliden. 
Aesculapia Victrix! 

Emilie Lehmus, die Tochter eines Prediger aus Fürth, die, wie jo manche, 
dur den Lehrberuf zum Studium kam, war ſchon feit etwa einem Jahr in Zürich 
immatrifuliert, ala Franziska Tiburtius (geb. in Bisdamig auf Rügen) ſich als 
die zweite Deutſche in der mebdizinifchen Fakultät einfchreiben ließ. Auch fie war 
Lehrerin geweſen; wie Fräulein Lehmus in Paris, fo hatte fie in England fid die freiere 
Anfhauung erworben, die ihr half, die in Deutfchland- noch eng verbundenen 
Begriffe „ungewöhnlich“ und „unweiblich“ von einander zu trennen. Nicht wenig hatte zu 
ihrem Entſchluß, Medizin zu ftudieren, ihr Bruder beigetragen, der als Arzt den Krieg 
mitmachte und mit dem fie in eifriger Korrefpondenz ihre Pläne erörterte. 

Von der Züriher Studentin war bis dahin nicht viel die Rede geweſen. Es 
batten nur eine geringe Zahl Schweizerinnen die neu erfchloffene Gelegenheit benugt. 
Gerade um dieſe Zeit aber, in den Jahren 1871 und 72 fand jene Invafion von 
ruſſiſchen Studenten und Studentinnen ftatt, die zu fo fchiefen Darftellungen des 


344 Aesculapia Victrix. 


Züricher Studentinnenweſens in der Prefle geführt hat. Franziska Tiburtius hat in 
ihrem Artikel „Frauenuniverfitäten oder gemeinfames Stubium“ im fünften Jahrgang 
der Frau über ihre ruffifchen Kolleginnen ein Urteil abgegeben, das doch weſentlich 
anders lautet. Wohl verleugneten all diefe, zum Teil blutjungen „Umftürzlerinnen 
mit den kurz gefchnittenen Haaren, großen runden Brillengläfern, die Cigarette im 




















Dr. med. Emilie Zchmus. 


Munde, in den engen, fuizen, völlig ſchmuckloſen und nicht immer ganz einwands⸗ 
freien ſchwarzen Kleidchen“, im Umgang mit den Studenten und untereinander ab⸗ 
fihtlich jede hergebrachte Convention, aber durchaus nicht aus fittlicher Laxheit, fondern 
als begeifterte Jünger und Märtyrer ihrer politifchen Überzeugungen. Daß e8 ihnen 
heiliger Ernft damit war, haben viele nachher gezeigt, als das Martyrium Wirklichkeit 








346 Aesculapia Victrix. 


Medizinerinnen damals noch weit ſchwerer zu erlangen war als jegt, Fräulein Lehmus 
ging zu diefem Zweck nach Prag, wo fie in der Univerfitäts-Entbindungsanftalt unter 
Profefjor Weber praftizierte. Fräulein Tiburtius hatte Schon längere Zeit in Zürich unter 
Profeflor Huguenin auf der inneren Abteilung für Frauen gemrbeitet. 1876 ging fie 
nach Dresden, um dort in der kgl. Entbindungsanftalt der Frauenklinik unter Geheim- 
rat von Windel zu arbeiten. Hier traf fie wieder mit Fräulein Lehmus zufammen. 

Es ift befannt, daß Geheimrat von Windel einer der märmften und verftänbnig- 
vollften Förderer der Ürztinnenfache in Deutfchland geweſen ift. In Kirchhoffs Buch 
„die alademifche Frau“ fält er felbft über die bei ihm beichäftigten Volontärärztinnen 
folgendes Urteil: „Pflichtgetreu, fleißig, gemwillenhaft und aufs eifrigfte beitrebt, al 
ihre Zeit beiten? auszunügen, babe ich die Leiftungen der meiften dieſer Schülerinnen 
mit Freuden als mindeftens gleichwertig mit denjenigen ihrer Mitvolontärärzte an- 
erkennen müſſen.“ 

Die Beziehung dieſes Ausfpruch® zu meinem Thema liegt nahe genug. Und 
in der Praris follten beide Ärztinnen bald genug das Vertrauen glänzend rechtfertigen, 
bad ihnen von allen Seiten entgegengebracdht wurde, ala fie im Jahre 1876 ihre 
Thätigleit in Berlin begannen. In der Neichshauptftadt fielen manche von den 
Schwierigkeiten fort, die Fleinere Städte damals boten und wohl jest noch bieten. 
Der Gefichtäfreid der Frauen war doch jchon genügend erweitert, daß fie ohne Bor: 
urteil und Mißtrauen dem Ungewöhnlichen gegenüberzutreten vermochten. Überdies 
war der Salon von Frau Dr. Tiburtius — Fräulein Dr. Tiburtiuß war in den 
Haushalt ihres Bruderd übergefiedelt — fchon lange der Sammelplag aller im ärzt⸗ 
lichen oder in anderen Berufen arbeitenden Frauen, die befonder8 von Amerifa und 
England aus Berlin “auffuchten. Die ftile Propaganda, die von diefem Haufe aus: 
ing, bat unendlich viel mehr und viel wertvollere Projelyten für die Frauenjache 
gewonnen, als jo mancher Trompetenftoß auf offenem Marlt. 

Dem feinen, im ebdeliten Sinne weiblichen Auftreten unferer beiden eriten 
Ärztinnen ift e8 wohl auch zu danken, daß ſehr wenig Neibungen mit den Kollegen 
entitanden, und das Bewußtſein, gerade von den Belten unter ihnen anerfannt und 
geſchätzt zu fein, konnte fie gelegentliche Chikanen mit Humor ertragen lafjen. 

Neben ihrer PBrivatpraris jchufen ſich die beiden Frauen ein ausgedehntes 
Arbeitsfeld durch die Errichtung einer Poliklinik für unbemittelte Frauen. Die nötigen 
Räumlichkeiten dazu in der Alten Schönhauferftraße gaben auf die Bitte von Frau 
Dr. Tiburtius, die dieſer Angelegenheit das größte Intereſſe bewies, Herr und Frau Bötzow 
ber. Dieſe Vergünftigung wurde — eine unendliche Wohlthat für die armen Patienten 
— aud weiter gewährt, als das Haus in andere Hände überging. Von 1878-1896 
leifteten die beiden Ärztinnen, erft feit 1890 durch Fräulein Dr. Agnes Bluhm unterftügt, 
die große damit verbundene Arbeit. Was das bedeuten will, beweilt die Zahl der in 
diefer Zeit behandelten Patientinnen, fie belief fich auf über 20 000. Bis heute bat 
die Poliklinik, die 1896 an die jüngeren Kolleginnen überging, die fich feitdem in 
Berlin niedergelaffen hatten, nahezu 25 000 franfen Frauen ärztlichen Rat gewährt. 

Immer lebhafter hatten die beiden Ärztinnen das Bedürfnis empfunden, ihren 
armen Patientinnen auch in Fällen, wo eine längere Elinifche Behandlung nötig war, 
Aufnahme gewähren zu fünnen. Zuerſt wurde eine folche Pflegeftation in befcheibenften 
Dimenfionen im Tiburtiuß’fchen Haufe eingerichtet, wieder unter thätigfter Beihilfe von 
Frau Dr. Tiburtius. Vom Jahre 1894 an wurde die Station nach der Bülomfir. 14 








Ein Kapitel zur Kindererziehung. 347 


verlegt und der Verwaltung bed Berliner Frauenvereind unterftellt. Ein beſonderes 
Komitee, deſſen Vorfigende Frau Dr. Tiburtius if, beforgt diefe Verwaltung, während 
die ärztliche Behandlung nach wie vor in den Händen von Fräulein Dr. Tiburtius und 
Fräulein Dr. Lehmus blieb, denen fpäter die jüngeren Arztinnen Berlins affiftierten. 

Das Jahr 1900 brachte für Fräulein Dr. Lehmus eine ſchwere Erkrankung, die 
fie nötigte, ihre Praxis aufzugeben, um im Süden Erholung und im Kreiſe ber 
Ihren die mohlverbiente Ruhe zu fuchen. Der warme Dank eine großen Patientinnen= 
kreiſes gilt ihr nicht minder als Fräulein Tiburtius, der er inmitten ihrer Berufsthatigkeit 
perfönlich außgefprochen und betätigt werben konnte in einer Form, die ihr unzweifelhaft 
die Tiebfte ift: einer Frauziska Tibnrtins-Stiftung, durch welche die Zahl der Frauen, 
denen bie Pflegeftation unentgeltliche Hilfe gewährt, erhöht werben kann. 

Ich weiß, wie wenig es dem Sinne unferer beiden erften Ärztinnen entfpräche, 
wenn ich diefe furze Skizze ihres Wirkens mit einem Panegyritus abſchlöſſe. Sie mag 
für fich felbft fprechen. 


Er 


Lin Kapitel zur Kindererziehung. 


m 


Helene Chriſtaller. 


Ragprud verboten. —J 


8 giebt wohl kaum eine Kinderfrage, die von Müttern und Erziehern fo oft 

ungeſchickt und thöricht beantwortet wird, als die Frage nad dem Urfprung 

der Kinder. Durch die Leichtigkeit verführt, mit der die Kleinen alles als 
Wahrheit hinnehmen, kommen die Eltern ſchon frühzeitig dazu, bei diefer Frage von 
vornherein ſich Schwierigkeiten aufzubauen, die fie fpäter vergeblich zu überwinden 
ſuchen. Dan muß fi wirklich wundern, daß eine fo verfehlte Praris nicht ſchon 
längft aufgegeben worden ift. Haben denn die Eltern ihre eigene Jugend vergeffen? 
Biffen fie nicht mehr, daß alles Angftlich Verhehlte, forgfältig Verfchleierte unfehlbar 
von andrer und meift Höchft ungeeigneter Seite offenbart wird — und wie offenbart! 
Es ift wahrhaftig, als ob fie ein fectes Gewiſſen hätten, daß fie Eltern fein — 
fo faßt es wenigſtens das num von ber Wahrheit unterrichtete Kind auf und blickt 
mit mißtrauifchen Augen auf die, die es vielleicht zum erftenmal auf Unwahrhaftigfeit 
ertappt bat. Zum Unglüd verhehlen die Kinder meift ihre hinter dem Rüden ber 
Eltern erworbene Lebenskenntnis und verraten fie ihnen erſt gelegentlich durch ein 
unreines Lächeln, oder durch ein peinliches Erröten, wenn von irgend etwas bie Rede 
iſt, was mit ihrem Geheimnis zufammenhängt. Im Prinzip geben die meiflen ver- 
nünftigen Eltern dem, der auf diefe Schäden hinweiſt, recht — und bei ihren eignen 
Kindern befolgen fie die alte Praris. 

Wenn man Stabtlinder und Landkinder vergleicht, fo fällt fofort ein großer 
Unterfchieb auf: die legteren find miflender, auch derber, aber natürlicher, offener und 
darum fittlicher. 

Wer kann einen Frühling auf dem Lande erleben, ohne Blid für die unendliche 
Fruchtbarkeit der Natur zu gewinnen? Kinder, bie für nicht fo vol Intereſſe find 
als für Tiere, Pflanzen, Blumen werben ganz fortgeriffen und begeiftert von dieſem 
überflutenden Leben. Sie fehen den Vogel Nefter bauen, fie freuen fih mit der 


Ein Kapitel zur Kindererziehung. 349 


alle Papas.“ „Gelt, unjrer!” riefen alle vier einftimmig. „Sa, unfrer,” fagte ich 
lachend, „ben bringen wir drum auch nicht um, fondern . .. .?” „Wir lieben ihn!“ 
Und da er gerade den Gartenweg herunter kam, mußten fie ihm gleich zeigen, daß fie 
feine Fürforge im Gegenfag zu den fchlechten Vienenvätern zu fhägen mußten. 

Eine Tages fragte mein neunjähriges Töchterchen beim Anblid der Krippe mit 
dem Jefuskind mich nachdenklich: „Mama, du haft und gezeigt, wie die Früchte wachfen, 
aber von den Menfchen weiß ich es nicht recht.” Ich hatte die Frage fchon längere 
Zeit erwartet und befchlofien, Wahrheit zu geben, wenn auch noch nicht die volle. 
„Nun,” antwortete ich, „tie bei den Pflanzen verſchiedene Bedingungen zufammentreffen 
müffen, bis es Früchte giebt, nämlich: fie müfjen blühn, die Sonne muß fcheinen, der 
Regen fie befruchten, jo auch bei den Menſchen. Bor allen Dingen müjfen Mann 
und Frau ſchon große Leute geworden fein, die felber einen Haushalt führen und eine 
Familie ernähren können. Dazu gehört auch, daß fie fi fo lieb haben, daß fie ihr 
ganzes Leben zufammen fein möchten, daß, wenn das eine traurig ift, das andre 
mitweint, und wenn eins froh ift, das andre ſich mitfreut, und wenn fie fich nichts 
Lieberes mwünfchen, ald bei einander zu fein bei Tag und Nacht, im Wachen und 
Schlajen .. .” „Gelt, dann heiraten fie?” „Sa, jo nennt man's, und jet be- 
tommen fie auch eine Kinder, die wachſen dann in der Mutter, wie die Äpfel auf 
dem Baum.” 

Mit diefer Erklarung gaben ſich die Kinder zufrieden und werben es auch noch 
lange fein. Etwaige Fragen nad. unglüdlichen Ehen, unehelichen Kindern, kinderloſen 
Ehen wird jede Mutter leicht den Kindern ſelbſt beantworten können, indem fie ihnen 
das als etwas Unnormaled darftellt, was in der Schwäche der menſchlichen Natur 
feinen Urfprung hat. 

Ich glaube, je früher wir die Kinder über die grundlegenden Fragen aufs 
Mlären, deito beſſer wird es fein, damit nicht ein Unberufner zuvorfommt und 
die Mutter ſchon ein giftige Unkraut findet, wo fie noch unberührten Boden 
vermutet hat. Mit wadendem Verftändnis kann man dann die Erfenntnis der Kinder 
erweitern. Man lehre fie, welche ernfte Pflicht für Knaben und Mädchen es ift, den 
Körper rein und heilig zu halten, und welches Elend eine Vernachlaſſigung dieſer 
Pflicht für fie und einft für ihre Kinder nach ſich ziehen wird. Auch ein für die 
Geſchlechter getrennter Kurfus in Anatomie und Geſundheitslehre wird für 14 jährige 
ober ältere Kinder von Nugen fein. Es ift unwürdig und gefährlich, wenn der Menſch 
über etwas, das ihn fo nah angeht, im Dunkel bleibt, während er vieleicht über die 
Lebensbedingungen der Krofodile genau unterrichtet wird. Mancher leichtfinnige Frevel 
an ber Gejundheit junger Mädchen würde unterbleiben, den fie begehen, weil fie 
feine Tragweite nicht genau fennen, und die allgemeine Warnung, die man ihnen 
zukommen läßt, wegen ihrer Unbeftimmtheit feinen Eindrud macht. 

Es kann Fälle geben, wo die Eltern früher deutlicher werben follten, als erft 
im Alter der beginnenden Reife; nämlich überall da, wo fie ihre Kinder aus Erziehungs- 
oder andern Gründen jung aus dem Haufe geben und da, wo fie Verführung fürchten 
müffen oder erbliche Veranlagung vermuten. Man kann die zu Belehrenden darauf 
binmweifen, wie die zarten Blumenknoſpen auch feine derbe Berührung vertragen, und 
wie bei einem Berfehlen dagegen die Blüten ſich gar nicht oder nur fümmerlich ent» 
wideln und dann fchlechte — geben. Daß man aber ein Kind, das ſich ſchon 
verfehlt hat, nicht zu fehr fchredt, jo daß es alle Hoffnung für die Zufunft verliert, 
iſt felbftverftändlich. 

Ich glaube, daß wir manche Klippe meiden fünnen, an ber ſchon viel junges 
Leben geftrandet if, wenn wir fo die Kinder mit der Natur aufwachſen laffen, voller 
Unfhuld, wenn aud nicht in Unwiſſenheit. Letztere ift eine feltene Zufallsgabe, erſtere 
aber die Folge einer vernünftigen Erziehung, die feine Mutter in thörichter Vor— 


eingenommenheit fcheuen follte. 


Die Veftimmungen über bad Univerfitätäftubium ber Frauen in Deutichland ꝛc. 861 


Freiburg durch einen Beichluß des Senats im Sommer 1895 den einzelnen Dozenten 
die Zulafjung von Frauen zu einzelnen Vorlefungen freigeftellt; in Heidelberg hatten 
die theologifche, philofophifche und naturwiffenihaftliche, nicht alfo die juriſtiſche und 
die mebizinifche Fakultät im jeweiligen Einverftändnis mit ben betreffenden Lehrern 
folge Frauen, deren Vorbildung und Studienzwed genügend Gewähr zu bieten 
ichienen, zu den Vorleſungen zugelafien. Am 28. Februar 1900 hat dann aber ein 
Erlaß des badiſchen Kultusminifteriums, der auf Grund ber Äußerungen der Senate 
und der Fakultäten der beiden Landesuniverfitäten erging, beftimmt, daß „Frauen, 
welche das Reifezeugnis eines deutfchen, ftantlich anerfannten Gymnaſiums bejiehungs- 
weiſe in den Kane beftimmten befonderen Fällen (Studium der Mathematik, der 
Naturwiſſenſchaften oder ber neueren Sprachen) eined derartigen Realgymnafiums oder 
einer derartigen Oberrealſchule vorlegen und im übrigen bie erforderlichen Nach— 
weifungen für die Immatrikulation erbringen, zur Immatrikulation an den beiden 
Zandeduniverfitäten, vorerft nur verfuchd: und probeweiſe, zugelaffen werden.” Im 
Fall des Zweifels darüber, ob eine Lehranftalt der fraglichen Art als eine ftaatlich 
anerlannte und damit den flaatlichen Lehranftalten teicteend zu erachten fei, haben 
die Immatrikulationskommiſſionen das Geſuch nebit den betreffenden Nachweiſungen 
unter Beifügung ihrer Anfichtäußerung durch ben Senat an das Kultusminifterium 
zur Entſcheidung vorzulegen. Daneben ift die Einrichtung, daß Damen als Hofpis 
tantinnen zugelaffen werden, unverändert beibehalten. In Heidelberg Haben ſich die 
betreffenden Damen unter Vorlegung der Zeugniffe Über ihre Vorbildung an bie 
Dekane der oben genannten drei Fakultäten zu wenden. Die Zulafiung erfolgt dann 
im Einverftändnis mit den in Frage kommenden afademifchen Lehrern, nur vergünſtigungs⸗ 
weiſe und jeder Zeit wiberruflih; aud erhalten die „Hörerinnen“ nicht den für 
männliche Hofpitanten vorgefehenen „Hofpitantenfchein“, der zum ftändigen Befuch der 
Vorleſungen berechtigt, fondern immer nur einen befonderen Erlaubnißfchein für das 
laufende Semefter. Ebenſo wird ihnen auch in Freiburg, wo nad mie vor bie 
einzelnen Dozenten direkt die Erlaubnis erteilen, der erwähnte allgemeine Hofpitanten- 
ſchein nicht ausgeſtellt. 

In Roftod iſt die Zulaſſung der Frauen als Hoſpitantinnen auf die philoſophiſche 
Fakultät befchränkt. Das medlenburgiiche Minifterium hat in einem Erlaß vom 
9. Dftober 1896 erklärt, obwohl die Univerfität eine ausichließlih für Männer 
beſtimmte wiflenfchaftliche Anftalt fei, fo wolle es doch bis auf weiteres fein Bedenken 
gegen die Teilnahme von Zuhörerinnen an den Vorlefungen im Bereich der philofophifchen 
Fakultät erheben, fo lange diefe Teilnahme überhaupt der Zahl nad fowie für die 
einzelnen Vorlefungen im Verhältnis zur Menge der immatrikulierten Hörer gering 
bleibe und ſich auf ſolche Mädchen und Frauen beſchränke, die ein außerorbentliches 
Intereſſe, insbefondere ein Berufsintereffe an dem Hören der betreffenden Vorlefungen 
nachweiſen und ihren Aufenthalt in einer Familie zu Roftod haben. Die Zulaffung 
iſt bebingt durch die Genehmigung bed Rektors. Auch ift jeder Dozent verpflichtet, 
don einer folchen Zulafjung unter Angabe ber perjönlichen Verhältniffe der Zuhörerinnen 
aeg anler Mitteilung zu machen, dem gegen die Zulaflung ein Einſpruchsrecht 
zuſteht. 

An den übrigen 17 Univerfitäten des deutſchen Reiches iſt den Frauen ohne 
weitere grundfägliche Einfchränfung hinfichtlich der Fakultäten die Möglichkeit gewährt, 
an den Borlefungen und Übungen als Hofpitantinnen teilzunehmen. Gemeinfam ift 
allen der Grundjag, daß überall in legter Linie immer der einzelne Dozent endgiltig 
über die Zulafjung oder Ablehnung beichließen kann, daß alfo kein Univerfitätslehrer 
gezwungen wird, wider feinen Willen Frauen in feinen Vorlefungen fehen zu müſſen. 
Im einzelnen find die Bedingungen wiederum fehr verfchiebene. 

In Preußen ift bis zum Ende der 80er Jahre fireng an dem Ausichluß der 
Frauen vom Univerfitätzftudium feftgehalten worden. Im Jahre 1886 hat ſich der 

urator einer preußifchen Univerfität mit einer darauf bezüglichen Anfrage an ben 
Kultusminifter gewandt, tworauf von leßterem die im „Zentralblatt der preußifchen 
Unterrichtsverwaitung“ veröffentlichte Antwort ergangen ift, „daß auf preußifchen 


Die Beftimmungen über bad Univerfitätöftubium der Frauen in Deutſchland 2c. 353 


Breslau getroffen worden. An beiden Univerfitäten laſſen die Mitglieder der 
medizinifhen Fakultät grundfäglih nur ſolche Frauen zu den Vorlefungen zu, die das 
Zeugnis der Reife von einem humaniftiihen Gymnafium befigen. Die philofophiiche 
Fakultät in Breslau aber verlangt entweder da Zeugnis der Reife von einem ftaatlich 
anerkannten Gymnafium ober einer gleichftehenden Anftalt, oder einen an einer 
Univerfität erworbenen akademiſchen Grad oder endlich die Ablegung des Lehrerinnen- 
eramend für höhere Töchterfchulen oder einer gleichwertigen Brufang; Damen, die 
nicht eined dieſer Zeugnifle vorlegen können, werben nur ausnahmsweiſe zugelaffen, 
wenn fie in irgend welcher anderen Form nachweifen, daß fie die zur Vorbereitung 
auf einen wiſſenſchaftlichen Beruf erforderlichen Kenntniſſe befigen. Auf einem 
ähnlichen firengen Standpunkt fteht die Univerfität Göttingen; in einem beitimmten 
Fall ift einer Dame, die bei dem dortigen Rektorat angefragt hatte, der Beſcheid 
zugegangen, es werde eine Schulbildung vorausgefegt, die ber der übrigen 
Studierenden entfpreche; zu deren Nachweis würde fi) die Dame eventuell einer 
Prüfung durch den Profeffor des in Frage ftehenden Faches zu unterziehen haben. 
Von ähnlichen befonderen Vereinbarungen an den übrigen preußifchen Univerfitäten 
ift uns nichts befannt geworden. 

Nicht unerwähnt bleiben darf, daß an einigen preußifchen Hochſchulen von 
dortigen Univerfitätslehrern befondere Kurje für Frauen abgehalten werden. So findet 
in Greifswald aljährlih im Auguft ein drei biß vierwöchentlicer Ferienkurs für 
Lehrer und Lehrerinnen flatt. Dann find eigentliche Vorbereitungsfurfe für das 
Oberlehrerinneneramen mit zweijähriger Dauer eingerichtet in Bonn und Göttingen. 
Bei diefen Kuren wird ber größere Teil der Vorlefungen von Univerſitätslehrern 
ſpeziell für die Teilnehmerinnen an dem Kurfe gehalten, zum Teil aber find aud) bie 
betreffenden allgemeinen Vorleſungen der Univerfität in den Kurs bineingezogen. 


An der Univerfität Leipzig werden den Frauen auf Grund von Ausweiſen 
über genügende Vorbildung von der Jmmatrikulationstommiffion Erlaubnisfcheine zum 
— der Vorleſungen erteilt, die immer nur für das laufende Semeſter gelten. 
Dabei bleibt es den einzelnen Dozenten überlaffen, ob fie Frauen, bie mit ſolchem 
Erlaubnisichein verfehen find, den Zutritt zu ihren Vorlefungen gewähren vollen oder 
nit. Solchen Frauen, die dem Deutfchen Reich nicht angehören, kann der Erlaubnis- 
ſchein nur mit Genehmigung de3 Minifteriums des Kultus und öffentlichen Unterrichts 
erteilt werben. Für diefe Erlaubnisfcheine it eine Gebühr von 3 Mark zu entrichten. 
Als genügend vorgebildet gelten Frauen, die in einem deutſchen Bundesftaat die 
Reifeprtfun eine® Gymnafiums oder Realgymnafiums beftanden oder die Befähigung 
zur bernahme eines felbftändigen Lehramis als Lehrerinnen erworben oder eine 
gleichwertige Vorbildung genofjen haben; fojern es fih um das Studium der Zahn: 
beiltunde handelt, ift der Nachweis der dafür gefeglich geforderten Vorbildung, Reife 
für Prima, zu erbringen. Bis vor einem Jahr ungefähr waren die Geſüche um 
Zulaffung zu den Vorlefungen unmittelbar an das genannte Minifterium einzureichen, 
von dem fie nad) entfpredender Äußerung der Univerjität bejchieden wurden. Diefe 
Einrichtung ift heute noch in Bayern (für die Univerfitäten Münden, Erlangen 
und Würzburg) und in Württemberg (für Tübingen) beibehalten. Auch hier 
handelt es fich durchweg um die Zulafjung als Hörerinnen. In Tübingen wird diefe 
Erlaubnis des Kultusmirifteriums vom alademijchen Senat beantragt. In Würzburg 
fcheint in jedem einzelnen Fall die betreffende Fakultät ein Gutachten abzugeben und 
daraufhin der Senat befürmortend oder ablehnend Stellung zu nehmen. Auch hier 
iſt überall die Zuftimmung des betreffenden Dozenten felbft die erfte Vorausfegung. 


An der Univerfität Gießen mar bis zu Dftern 1900 den Frauen der Zutritt 
zu den Vorlefungen nicht geftattet. Unter dem erften März de3 genannten Jahres 
bat aber daS heifiiche Minifterium de3 Innern die Beftimmung getroffen, daB vom 
1. April 1900 ab an der Landesuniverfität Gießen auch Frauen als Hofpitantinnen 
aufgenommen werden können. Sie haben ein fchriftlihes Geſuch an den Rektor zu 
tihten und darin anzugeben, weldem Fach fie fi) hauptſächlich widmen wollen. 

23 


Vebermeiſter Votter. 


Erna Viereck. 


NRagbrud verboten. - 


er Lehrer trat aus dem Haufe des 
Webermeifters. Cr hielt fi das Taſchentuch 
dor Mund und Nafe und fämpfte ſichtlich mit 
einer Übelleit. Ein ftrammer, militäriſch aus- 
febender Mann in Hembärmeln begleitete ihn 
durch das Vorgärtchen. 

„Wie Eie den Geruch da drinnen aushalten 
lonnen — es ift fürchterlich!” preßte der Lehrer 
heraus und ſchnappte dann gierig die frifche, 
eine Herbftluft ein. Der Hemdärmlige zudte 
die Edulten. „Man gewöhnt's fchon. 
Schlafen aber thu' ich Tängft drüben in ber 
Werfftätten. Dort iſt's zivar falt, aber gefund.” 
„Und der große Bub'?“ „Der ſchlaft am 
Boden.” ie gingen einige Schritte. Danach 
zu fragen, wie's das Weib tagaus, tagein in 
mder Luft” außhielt, fiel dem Lehrer nicht ein. 
Er fpudte aus, ala wolle er damit den Ekel 
los werben, der ihn noch fchüttelte und reichte 
dem Webermeifter die Hand. „Auf Wieder 
fehn, Rotter. Sie kommen doch heut’ zu : 
einem Tarot ins Kreuz?“ „Werd' nicht | 
fehlen, Herr Lehrer. Danke für den freund» 
lichen Beſuch.“ 

Die Lehrerin erwartete ihren Mann fchon 
mit der bampfenden Suppe. Sie war eine 
Bauerstochter, mit derbem, knochigem Außeren 
unb einem guten, meiden Herzen. Solche 
Herzen findet man broben im Gebirge gar oft, 
ohne daß man groß darauf achtet, oder Auf- 
hebens davon macht. Es giebt fo viel Not 
und Elend dort, daß das Wohlthun, Helfen 
ober doch wenigſtens Mitfühlen fi ganz von 
felbft lernt und ſchickt. Die Frau war's auch 
geweſen, die den Gatten zu dem Befuch bei 
Rotters beftimmt hatte. „Wie geht's heut’ 
dem Tonerl?” fragte fie den Heimfehrenden, 
der fofort zum Wandſchrank trat, und haftig 
ein „Stamperl Ungebleichten“ hinunter ftürzte. | 





Wie ſoll's gehn? Schlecht, elend! Der 
Rotter fagte mir, der Doktor hab’ ihm gefagt, 
zu helfen wär’ nichts mehr. Die einzige 
Rettung wär’ vielleicht, den Fuß abzunehmen. 
Aber auch das hielt der Bub’ nimmer aus. 
Dazu ift er ſchon viel zu ſehr berunten.“ - 
„Und warum hat er’3 nicht cher than?” 
Die Frage überhörte der Lehrer; vielleicht fand 
er auch nur feine Antivort darauf. Er löffelte 
an feiner Suppe, ſchob aber den noch halb 
gefüllten Teller plöglich zurüd. Schier ärgerlich 
fing er an, in ber Stube auf und ab zu 
ſchreiten. „Was haft denn, Ferdl?“ „Was 
werd' ich haben?! Eſſen fann ich nicht. 's 
ift auch fein Wunder, nad ber Kranfenvifiten, 
zu ber mich g’habt haft. Mich beutelt's noch, 
wenn ich dran denk.” „Aber Ferdl, der Toni 
war doch bein bravſter Schüler und ift ſoviel 
fehr an dir g’hangen! Weißt nod, mie er 
ung vorig's Jahr, fo fleißig im Schulgartl 
g'holfen hat? Schier verfpürt hat man’ 
heuer, daß der Tonerl fehlte. Nit halb fo 
nett und al'rat ſchaut er brein.” „Na ja, 
Ratti, ift ja ſchon recht. Ich bin ja auch 
hin’gangen, dir zu G’fallen, denn dem Buben 
liegt zehnmal mehr an deinen Vifiten, ala an 
mir. Aber nicht wieder, Alte, nicht für's 
allerfhönfte Wunder!” „Mas meinft denn, 
jegt, nachdem ihn g'ſehn haft? Wird fih der 
arme Kerl noch lang’ ſchleppen? Man muß 
ja g’rad nein wünſchen, daß ihn unfer Herrgott 
bald zu fi nehmet, wegen feiner und wegen 
der Mutter.” „Na, 's wird ſchon noch bis 
in den Winter ’nein dauern! Die Weberin 
futtert den Buben gut, ba zieht ſich's länger. 
Aber das Bein fhaut aus... .!! Ich hätt 
mir's nicht anſchau'n fol’n, jet werd’ ich's 
nimmer 108.” 

Die Lehrerin nidte nur. Wie oft fah fie 

23* 


Webermeifter Rotter. 


Für die Arbeitäfräfte hatte er zu forgen. 
Wöchentlich oder alle vierzehn Tage ging er 
„liefern“. Die Arbeit feiner Gehilfen — Ge- 
fellen, Lehrbuben und Epulmeiber — warf 
auch ihm Prozente ab, und ba er felbft fleißig 
und gefchidt mitarbeitete, fam fein Verdienſt 
auf 12—15 fl. per Woche. 
Hinterbörfer Geld genug, um in einem ges 
wiſſen Wohlitand Ieben zu können. Rotter 
verftand’3 befjer, als manch einer. Er zählte 
zu ben „Honoratioren“ des Dorfes, ſaß im 
Gafthaufe mit Pfarrer, Lehrer und Kaufmann 
beim Glafe Bier und Tarof, und fein Weib 
ging Eonntags mit einem Hut — ber ihr zwar 
fürdterlih ftand, aber do ein Hut war — 
zur Kirche. Er war ausgedienter Feldwebel 
und Veteranen-Hauptmann=-Stellvertreter. Am 
Sonntagsrocke hing die filberne Tapferleitss 
mebaille. Auch hatte er die „Welt“ gefehen. 
Was er nicht wußte, oder ſchon vergeſſen 
hatte, erfand er einfah dazu. Seine Zuhörer 
merften es nicht, ober doch nur felten, und 
unterhielten ſich ebenfogut dabei, tie er, deſſen 
höchſte Wonne es war, fih reden zu hören. 
Er galt allgemein für einen „Eugen Kopf.“ 

Zu der Krankenpflege aber war der „kluge 
Kopf“ nicht zu brauchen. Er prebigte zwar viel 
und gab gute Lehren bie ſchwere Menge. 
Aber einmal eine Nacht fein zum Tode er- 
ſchöpftes Weib abzulöfen, daran dachte er nicht. 
Da war die Lehreröfrau die einzige Stüße der 
armen Mutter. Die fragte nicht lange, erbot 
fich nicht erft zehnmal dazu. Wenn der Abend 
am, war fie einfach da, padte ihren groben, 
grauen Stridtrumpf und ein abgegriffenes 
„wunderſchön's“ Büchel aus der Schulbibliothet 
aus und fegte ſich ruhig an Tonerls Bett. 
Der erwartete fie ſchon mit glühenden Wangen 
unb ſehnſüchtigen Augen. Das langſame, 
ſtockende Vorlefen war ihm das Liebfte, Schönſte 
des ganzen Tages. Darnach, wenn fie ihn 
friſch gebettet hatte und mit leife klappernden 
Nadeln bei ihm faß, fchlief er am beften ein. 
Es ging eine Ruhe und Zuberfiht von der 
gefunden, Träftigen Frau zu dem Kinde über, 
die die ſchwache, abgehärmte, wenn auch ab: 
göttifch geliebte Mutter nicht geben konnte. 
Die litt mehr faft unter feinen Schmerzen, 
als er felbft, fonnte nur mit ihm lagen, beten 
und teinen. 


Für unfere | 


857 


Anfangs fträubte fih die Webermeifterin 
und machte Redensarten. Dann aber, als fie 
ſah, daß es ver Lehrerin mit dem Helfen ernft 
war, und fie regelmäßig fam, jeden Abend 
Schlag acht Uhr, nüßte fie lieber die Zeit zum 
Schlafen aus. Und fie fchlief oft fo feft, daß 
die Lehrerin fie erft weden mußte, wenn fie 
nad Mitternadht in ihr Heim zurüdfehrte. 
So ertrug die Frau doch länger die Strapazen 
der Krankenpflege. Auf die Dauer aber war 
ihr ſchwacher Körper ihnen doch nicht ges 
wachſen, gar als noch ein „freudiges Ereignis” 
in Sicht kam. Sie wurde täglich matter und 
elender, und es fragte ſich nur, wer's länger 
machen würde, der Kranke oder die Pflegerin, 
Mutter oder Sohn. „Es fragte ſich,“ das iſt 
ſo eine Redensart. In Wahrheit fragte gar 
niemand danach, bemerkte es nicht einmal. 
Daß ein ſchwangeres Weib ſchlecht ausſieht, 
iſt ja nichts Abſonderliches. Ihr ſelbſt, freilich, 
war's klar genug, wie es um fie ftand. 

Am Abend desſelben Tages, da der Lehrer 
den Beſuch bei feinem ehemaligen Schüler ge— 
macht hatte, kam's aber body nicht zu ber 
beſprochenen Tarofpartie. Die Lehrerin befam 
ihr Kopfweh — Migräne, nennen es bie 
feinen Leute — und mußte fi Iegen, fo 
hart es ihr anlam, diefe Nacht die Weber: 
meifterin nicht ablöfen zu Zönnen. Als ber 
Lehrer gegen elf aus dem Gaithaufe kam, 
fragte fie fofort, ob Notter nicht gejagt habe, 
wie es daheim ſtünde. „Er mar gar nicht 
dort,“ berichtete der Gatte. Die rau atmete 
erleichtert auf. So hatte er doch ein Einfehen 
gehabt und dies eine mal, ftatt ihrer, das 
Weib entlaftet. Beruhigt Lehrte fie ſich zur 
Wand und fohlief ein. 

Gegen vier Uhr wedten polternde Schläge 
an bie Thür das Ehepaar. In Rod und 
Jade, mit bloßen Füßen lief die Frau hinaus, 
ſehn, was es gäbe. Heulend und frierend 
ſtand Webermeiſters, Großer“ draußen. „Mit 
dem Tonerl iſt's aus. Goit fhen® der armen 
unſchuld'gen Eee die ewige Ruh'“, fuhr's 
durch den Kopf der Lehrerin, während ſie den 
ſchweren Balten fortzog und öffnete. Sie 
fragte aud gar nicht, fondern zog nur den 
Heinen „Großen“ in das imarme Zimmer, 
mährend fie ſich in fliegender Haft zurecht machte. 
| „3 foll erſt no ſchnell zum Pfarrheren laufen,” 





Webermeiſter Rotter. 


nah Sch. ins Epital. Der Dorfvorfteher 
hatte das verlangte Armutszeugnis anſtands⸗ 
108 auögeftellt. Mein Gott! Arm mar ber 
Bub doc gewiß, und auch der Vater hatte 
nichts Überflüffiges. Seine Gemeinde wurde 
ja bamit nicht belaftet, und die Stäbter, die 
mochten nur ruhig zahlen. in Bauern 
gewiſſen ift fein al’zu empfindliches Ding, 
und bier fprad ein groß” Teil Mitleid und 
Gutmütigfeit auch mit. 

Nun war Weihnacht, Neujahr, heilige drei 
König vorbei, und Toni Rotter Iebte noch 


immer. Die Lehrerin war vor bem Feſt 


einmal in der Stabt gemefen, ihn zu beſuchen, 
und hatte ihm unverändert gefunden, doch 


fühlte fih das Kind zufrieden und wohl ge: | 


borgen. Zu Lichtmeß kam an den Vater bie 
Anfrage, ob er fi) einverftanden erfläre, daß 
dem Knaben das Bein amputiert würde. 
„Z'was den arm Kerl noh a fo plagen“ 
brummte Rotter, mwilligte aber ein. Er nahm 
fih auch feit vor, den Buben „noch amal” 
zu beſuchen. Aber im Winter iſt's beſchwerlich 
und unbequem. Es gab auch viel Arbeit, 


und fo verfhob er e3 von Woche zu Woche. : 


Die Lehrerin ſah er jet felten. Sie hatte 
nichts mehr im Weberhaufe zu thun und zu 


helfen und ging dort hin, wo fie nötiger | 


war. Als ihr Mann ihr die Kunde von ber 
Amputation brachte, weinte fie bitterlich. „Das 
arme Haſcherl, das! Was die Doftorn erft 
noch an ihm ’rum ſchnatzeln. Ich hab's ja 
g'wußt, daß fie ihm noch was anthun wer'n“, 
lautete auch ihre Klage. Der Tonerl war 
rettungslos bem Tode verfallen, das ftand 
allen fo feft, wie das Amen im Gebet. 

Um fo maßlofer war das Erftaunen, als 
es anberd kam. Nah Oſtern erhielt ber 


Webermeifter abermal® einen Bericht von der ' 


ES pitalsleitung. Er wurde fur; aufgefordert, 
ſich Sonntag Vormittag den fo und fo vielten 
dortfelbft einzufinden. Es paßte ihm gar 





nit. Er ging auf Freierfüßen und wollte 
es juft an dem Tage „g'wiß“ (feft) machen. 
Als alter Soldat aber war er das Folgen 
gewöhnt, und fo that er's auch diesmal. 
Überdies nahm er feft an, es gelte, „Abſchied 
ynehmen“ vom Tonerl. Cr verſprach dem 
Lehrer, ihm abends im Gafthaufe das 
Refultat feiner Wanderung mitzuteilen. 
Später als gewöhnlich fam ber Lehrer an 
dem Abend heim. Die Frau erwartete ihn, 
aufrecht im Bett figend, mit weit offenen Augen, 
voll Iebhafter Teilnahme. „Na, was hat's 
mit dem Tonerl? #’geht wohl zu End, mit 
dem armen Schaferl ? So reb’ doch nur ſchon!“ 
drängte fie den Gatten. Der zog fih um: 
ſtändlich mit dem Stiefelknecht die Schuhe aus. 
„Ja, Schneden! G’fund wird er. In vierzehn 
Tagen, drei Wochen fol ihn der Vater holen.” 
Die Lehrerin wurde ganz rot im Geficht vor 
Freude; die guten Blauaugen füllten fi 
mit Thränen. „Jeſſas na, Jeſſas na, die 
Gnaden, die Gnaden! Wenn das fei Mutterl 
d'erlebt hätt. O, du mein lieb's brav's 
Tonerl du, mie ih mi auf did freu!” 
ftammelte fie, ganz verwirrt und felig. 
„Was ſagt denn der Bater dazu?“ — 
„Schimpfen thut er wie g’drudt, und ein 
Rauſch hat er fi ang’hängt. Achtzig Gulden 
fol er geben auf ein künftlih’3 Bein, und 
zu einem Schneiber in d'Lehr foll der Tonerl. 
Das ift aud nicht umafunft. Das fehlt ihm 
jetzt g’rab, wo er die Iſidor Theke heiraten 
will, die feinen lumpigen Kreuger hat, und 
er für alles felbft auffommen muß, von der 
Hochzeit ang’fangen. Nur reiche Leut' konnten 
ſich's erlauben einen Krüppel in der Familie 
groß zu ziehen. Ruhig fterben hätten's den 
Buben laſſen follen, dann wär' allen Teilen 
beſſer g'ſchehn, — fagt der Webermeifter”, 
und fo ſprechend warf fih ber Lehrer ins 
Bett, daß es krachte. Ein bißl vom Rotter 
feinen Rauſch hatte auch er abbefommen. 


Frauenfrage in Indien. 361 


Bildung eines Charakters, der Seiftetrichtung if weit größer ald der aller Lehrer und 
des Vaters felbft. Die legen ſich erft ins Mittel, wenn das in ber erften Kindheit fo 
eindrudsfähige Gehirn bereits fein Gepräge erhalten hat. Der Menſch wird zwiefach 
vom Stempel der Mutter geaeihnet: im mütterlihen Schoß, an ber Mutter Bruft 
und die darauf folgenden Lebensjahre hindurch. Das ift enticheidend. Man beobachtet 
an dem Charakter bedeutender Männer, daß fie alle mehr oder meniger nach der 
Mutter arten. Wenn die Römer im Beſitz des ausgeſprochenſten Rechtsfinnes das 
größte Volt der Erde geweſen find, fo verdanken fie dad mit an erfter Stelle ber in 
ihren Gefegen gemwahrten Bee und Würde des Weibes: wie das Weib, fo die 
Familie, wie die Familie, jo das Volt. 

Man müßte, um die Eriftenz einer Frauenfrage in Indien zu leugnen, gleichfalls 
die Beſtimmung de3 indifchen Volkes, früher oder fpäter der Segnungen ſittlicher 
Bildung, zu der das Chriftentum die Nachkommen des erfien Menſchen berufen hat, 
teilhaftig zu werden, verneinen. Dieſe Verneinung wäre fühn; fie widerſpräche den 
göttlichen Verheißungen; fie widerſpräche der einfachen Beobachtung von Thatſachen. 
Das indifche Volk iſt bilbungsfähig wie faum ein anderes. Von großer körperlicher 
Schönheit, ift es in fittlicher Hinficht bewunderungsmürdig begabt. Sein einziger 
Fehler ift ein Übermag an Sanftmut und Indolenz. Aber darin fteht es noch immer 
wie einft eher unter einem biftorifchen als einem natürlichen Verhängnis. Wohl kommt 
das Klima in Betracht, allein Indien umfaßt ſehr verfchiedene Regionen; die Haupt: 
urfache dieſes Mangels am Energie Liegt im Buddhismus. Das Kaftenfyftem Hatte 
bereits feinen Einfluß geübt; es hatte bis zu einem gewiſſen Grade dad Streben des 
Einzelnen nach Verbefferung feiner individuellen Stellung und damit das foziale Streben 
gelähmt. Die Philojophie des lebensmüden Schwärmerd aber, der den gegenwärtigen 
Buddhismus begründet hat, hat das nationale Temperament noch weit mehr beeinflußt. 
Man impft nicht ungeftraft ganzen Völkern den Geift ber Paflivität und ber Ent: 
fagung ein. Indien hat mehrere philofophiiche Syfteme gekannt; die einen waren 
atheiftifch, andere materialiftifch; die pantheiſtiſchen und idealiftiihen aber haben allein 
wahrhaft zum Geifte der Maſſen geſprochen und weite Verbreitung gefunden. Aller: 
dings erfaſſen, wie anderwärts, fo auch in Indien nur wenige dieſe Syſteme gründlich 
und werben ihnen in vollem Umfang gerecht, aber alle haben ſich einiges davon 
angeeignet. Sie haben daraus die Terminologie, den wenig praftifchen Geift, die 
verſchwommene, träumerifche Poefie übernommen. Der Verfaſſer einer in der „Duarterly 
Review” (Nr. 276) veröffentlichten Studie über die chriſtliche Miffion in Indien jagt, 
daß „jegliche Duelle, an der die Phantafie des Volkes ihren Durft ftillt, vergiftet iſt.“ 
Die Sehnfucht nach dem Nirwana ergreift von den Höhen der befchaulichen Philofophie 
eines Safjamuni herab den legten der Paria. Je mehr der Menfch leidet, um jo 
eher erfaßt ihn diefe Sehnjucht. Es ift der feeliiche Selbftmord des Verzweifelnden: 
ein langfamer, aber unabläffiger Selbftinord des Individuums, der Familie, der ganzen 
Geſellſchaft, ein Selbftmord, der ein defto ficherered Ende herbeiführt, ala dad allgemeine 
Elend zunimmt — eine fpitematifche Überantwortung des Menfchen an den Tod, die 
ganzen Völkern die Fähigkeit nimmt, fih dagegen aufzulehnen, 

Almählih den Einfluß des Buddhismus und des Islam hemmen, ift alfo die 
erfle Bedingung zum Forticritt für diefen durch feine ungeheure Ausdehnung — 
Indien umfaßt ein Territorium, beinah ebenfo ausgedehnt wie dad Europas — fein 
ehrwürbdiged Alter und den angebornen Adel feiner Bewohner in jeder Hinſicht fo 
intereffanten Teil der Erde. Nun will aber ein Geſetz der Moral, das zugleich ein 
hiſtoriſches Gefeg ift, daß eine Religion nur einer höher flehenden Religion weiche. 
Ungeachtet der feheinbar geringen Erfolge der chriftlichen Miffion in Indien wird das 
Chriſtentum auch dieſes Land geivinnen. Wenn es die ungeheuren Maflen, bie der 
Buddhismus ihm entgegenftellt, bisher nicht ftärker gepadt Hat, fo liegt das zum 
großen Teil an einem von feiner Kraft und feinem Einfluß unabhängigen Umftand. 

Das ift die römische Politit Englands. Die Engländer haben für ihre Handels: 
politit das von den Römern in deren Eroberungapolitit gehandhabte Suftem adoptiert: 
Schonung der fremden Götter und Freiheit de Kultus der Befiegten. Sie find einft 


Frauenftage in Indien. 363 


die Unabhängigkeit der Jungfrauen. Auf der Wanderfchaft begegnet ihr Satiavan, 
der Sohn eineß geftürzten, blinden Könige, der tief verſtedt in einer Waldhütte lebt 
und fi dank der Sorgfalt feines frommen Sohnes von wilden Früchten nährt. In 
Satiavan erfennt Savitri mit höherem Scharffinn — ein Beweis für die Achtung, 
in der die Frau ſtand — troß des Köhlergewandes ben Adelsmenſchen und erflärt 
in zu ihrem Gemahl, mit der heitern Sicherheit einer Königin, die einen ihrer Unter: 
janen zu fich erhebt. Beweis genug, dab unter dem Gejeg de3 Manu bie Frau 
ihren Gatten vieleicht mit größerer Freiheit wählte, als es heutzutage in ben Ver— 
einigten Staaten Amerikas gefcieht. Der Savitri geleitende göttliche Bote verkündet 
ihr, daß Satiavan am Ende des Jahres fterben werde, ihre Mahl daher eine 
verhängnisvolle fei. Mit echt weiblicher Hingebung und der feelifchen Kraft ihres 
Geſchlechts erklärt ſich Sapitri bereit, nad einem Jahr des Glücks, des Glücks und 
der Hingebung, zu fterben. 
Es bebürfte feines weitern Beweiſes, als diejer Legende zur Klarlegung, daß zu 
Beginn der hiſtoriſchen Zeiten der Frau in Indien eine befondere Verehrung gezollt 
worden ift. ur 


Auf welche Weife hatte ſich ihre Knechtſchaft noch vor der Unterjochung durch die 
Mufelmänner entwidelt? Die Gefchichte weift in diefer Hinficht eine Lüde auf. Warum 
haben die Brahmanen lange vor ber Lehre des Säfjamuni die Frau von dem Piedeftal, 
auf bad die Veda fie ftellten, geftürzt, warum fie für untein, folglich zur Erfüllung 
der Begräbnisceremonieen unfähig erflärt und ihr das Leſen des vom heiligen Manu, 
dem Mofes der Inder, verfaßten Geſetzbuchs unterfagt? Vielleicht hatten fie in ihrem 
fteten Grübeln in der Frau das geahnt, was das Chriflentum voll erkannt hat, die 
Befreierin des gefnechteten Menfchen, die „Königin der Propheten und Apoftel”, die 
„Thür des Himmels” und den „Morgenftern“, von denen die Schrift ſpricht — und 
hatten, als Priefterfafte eiferfüchtig auf abfolute Herrſchaft und Unterbrüdung der 
übrigen Kaften bedacht, die Politik verfolgt, die Frau als ihre Feindin zu betrachten. 
Im Chriftentum, der eigentlichen Befreiungsreligion, ift der Frau eine aftive Rolle 
zuerteilt; im Brahmanentum, dem in religiöfer wie politifcher Hinficht außgefprochenften 
Unterbrüdungsfgften der Welt, ift ihr Einfluß mit Bebacht unterbunden. Gin ganzes 
Netz von Hinderniffen umftridt fie. Die Brahmanen haben dem Volk die auch den 
Griechen eigene Anfchauung eingeimpft, daß die Erfüllung der Funeralien für die 
Ruhe der Seele unerläßlih fei, daß fie um fo ehrenvoller Ha und um fo 
bebeutfamer fürd Jenſeits, wenn dieſe Pflicht von einem Sohne des Verftorbenen 
erfüllt würde. Da die Frau alfo Hierzu für unfähig gilt, wird die Geburt eined Mädchens 
bei ben Indern als ein Unglüd betrachtet. Der bis vor wenigen Jahren im weiteften 
Umfang geübte Kindermord hat ſich von jeher nur auf die Kinder weiblichen Geſchlechts 
erftredt. In entlegenen Diftrikten, in denen das religiöfe Vorurteil fi in feiner 
ganzen Macht erhalten hat, fegte man fie außerhalb der Dörfer den wilden Tieren 
zum Fraße aus. Ein Mann, der nur Töchter und feinen Sohn hatte, war befhämt 
darüber, denn in Indien ift auch noch die andere Anfchauung verbreitet, wohl 
dazu geeignet, die Leiden des armen Menſchengeſchlechts zu verfchlimmern: daß 
jegliches Unglüd verdient fei. Da nad der Lehre von ber Seelenwanderung bie 
Seelen nie aufhören in Leibern zu mohnen, fondern ewig aus einem in ben andern 
übergehen, nimmt man an, baß fie auf Erden ihr Purgatorium und ihre Hölle durch⸗ 
machen. Jegliche von Menſchen und Tieren erduldete Leiden find eine Sühne; giebt 
es in einer Familie keine Söhne, jo haben Vater oder Mutter in irgend einer früheren 
Exiſtenz diefe Schmach verdient. — Freilich zieht man ed meift vor, die Schuld der 
Mutter zuzufchreiben, und das arme Geihöpf wird zum Gegenftande der Verachtung 
feiner Umgebung. Das gleiche Los wird ihr zu teil, wenn der Gatte frühzeitig 
firbt, beſonders, wenn er einen geachteten Namen Binterläßt. Eine von foldem 
Unglüd ereilte Frau muß es verdient haben, d. 5. ihre Seele ift in einer andern 
Eriftenz von einer Miſſethat befledt worden. So verhält es ſich deſto ficherer, je 
malellofer das gegenwärtige Leben der Frau ift. Da fie für die Gegenwart nichts 


Frauenfrage in Indien. 365 


j III. 

Dieſe Verheißung ſcheint ſich zu erfüllen. Die indiſchen Frauen richten ſich auf, 
nit mit Stolz — fie find insgeſamt demütig und beſcheiden — wohl aber mit Mut 
und Vertrauen. Eine nach der andern heben fie in den höhern Ständen die Köpfe, 
wie von dem Regen niedergebeugte Ähren unter den Strahlen der Sonne. Es ift in 
der That ein feſſelndes Schaufpiel, wie diefe wenigen, zarten und tapfern Gejchöpfe 
— ohne ſich der ihrem Geſchlecht gebührenden Beſcheidenheit zu entichlagen — unter 
dem wohlwollenden Auge ber englifchen Frauen für die Befreiung ihrer Schweflern 
tämpfen. Vor etwa zehn Jahren brachte die „Duarterly Review“ eine Anzahl intimer, 
von Frauen der höheren Kalten an Engländerinnen gerichteter Briefe. Sie find durch⸗ 
aus charakteriftiich für die indiiche Sanftmut und jenes Verftändnis für fittliche Fragen, 
das die Frauengeftalten der alten Legenden des Landes hebt und abelt. 


„Liebe Schwefter in England,“ fehreibt eine von ihnen, „ich twerde nie bie Ihrerſeits mir in 
meiner Verlaſſenheit ertviefene (Güte vergeffen. Als ich Ihren ſchönen Brief in die Hand nahm, habe 
ich von neuem meine Unkenntnis der engliſchen Sprache beflagt. Sie find in allen Dingen unterrichtet, 
und Ihr Wiffen erfhließt Ihnen die Schönheiten Ihrer Religion. Wir fehen fie nur unvolltommen, 
weil wir im Dunkel der Unmiffenheit feben. Der Vabu (ihr Mann) muß fie beffer verftchen ala ich. 
Ich danke Ihnen für die meinen Kindern erwiejene Teilnahme. Die inaben beſuchen bie Schule, meine 
Töchter lernen zu Haufe leſen Was joll id) von mir jagen? Meine geiftige Armut ift groß. Ach 
ieſe einige Bücher in bengalifcher Spradie, aber ohne Zufammenhang und Methode, weil id nicht gelernt 
Habe, zu fernen. Mein Yeben wird ein fruchtlofes geweſen fein, ich werde fein einziges nüßlidhes Wert 
dolibracht haben, denn man vermag nichts, iwenn man nicht8 gelernt hat.“ 


Ein PHilofoph würde faum richtiger denken. 


„Teure Schwefter in England,” fehrieb eine andere, „wie gern möchte ich Ihnen engliſch ſchreiben 
können, was ich benfe! Vielleicht werde ich das nie können, denn ich habe niemand, ber es mich lehrt. 
Ich verſuche allein zu lernen, wohl wiffend, daß der beharrlichen Arbeit nichts unmöglid ift. Sie, Sie 
fhreiben vorzüglich dengaliſch. IA tann Ihnen nicht jagen, wie fehr mich die wahrhaftige Derzendgüte 
unb der Geiftesreichtum, die aus Ihrem Briefe fprechen, entzüdt haben. Sie fagen mit Recht: ‚Ein 
demütiged Gerz, das in Gott feinen Frieden jucht, ift allenthalben glüdtich. Nichts gleicht dem Glaa 
einer Seele, bie ſich rüdhaltlo® dem Herrn ergiebt.‘ 3 ift mir unbegreiflih, wie man in biefer Welt 
glüdtich fein tann ohne Gott, weil ich mein Vertrauen in unfern barmberzigen Vater gefeht habe, weil 
ich mich unter feinem Schuge fühle und mein Herz (Frieden hat. Kennen Sie die Worte einer unferer 
Symnen: ‚Du bift die Tuelle des Guten, und du breiteft e8 aus über bie Erbe. Wie follte mich die 
Buhunft ſchreaen· 

Eine Chriſtin könnte ſich nicht Höher erheben. Aber vielleicht war die Frau, die 
fo ſchrieb, Chriflin. Wir laſſen nadyfolgend eine andere reden, die ed offenbar nicht 
ift, deren Gefühle und Gedanken deswegen feinen geringern Aufſchwung nehinen. 

„Sie fragen mich, welches mein Leben fei? ch ftche um ſechs Uhr auf und verrichte meine 
Andacht; darauf wede ich meinen älteften, jehsjährigen Sohn und laſſe ihn ein von feinem Jater vor: 
gelchriebene® Gebet berfagen; «3 lautet: ‚Du Beichüger ber Schwachen, ich fühle deine Gegenwart. 
Bater der Menfchen, erhöre mein Gebet. Wenn alles, das da Icbet, in Schlaf gefunten, behütelt du es 
und bereiteft fein Erwachen. Du bift die Drüde der Yarmberzigteit, großer Gott! Tu haft mich biefe 
Nacht hindurch bewacht: alled, mas mein ift, will ich heute in deinem Dienft gebrauchen. Hilf mir, der 
ich Hein und ſchwach bin! Mad) joldem Gebet reitet mein ältefter Sohn aus und der jüngere, vier: 
ige, geht oder fährt in Begleitung eines Dienftboten. Unterded beforge ih die Küche und Leifte 
meiner Schwiegermutter Dienfte. Wenn die Bereitung der Mahlzeiten mir etwas Zeit übrig läßt, ſuche 
ih mic) aus den Büchern, bie mein Mann mir giebt, zu belehren. Sobald die Kinder Heimtehren, Iaffe 
id fie effen, worauf fie mit dem Bater in die Schule gehn. Dann beginne ih in einem Gemache 
unferes Hauſes den Unterricht ber Heinen Mädchen unferer Schule; ich darf zu biefem Zmed bad Haus 
nicht verlajfen, denn wir find Gefangene und bürfen weber auf bie Straße gehen, nod mit einem 
Wanne reden. Danach bereite ich die Abendmahlzeit. Erſt fpeifen meine Kinder, nad ihnen mein 
Mann, darauf feine Brüder, meine Schwiegermutter, meine Schwägerin und endlich ich jelbft.” 

Ein folder Brief it ein Cittengemälde, Wir fehen Hier den frommen Sinn 
ber Buddhiſten, die mufelmännifche Gefangenfhaft der grauen, die brahmanifchen 
Vorurteile und den Zwang, die Mahlzeiten jelbft zu bereiten, damit die Speiſen nicht 
von Perfonen geringerer Kaften berührt werden, und endlich bie Dienftbarkeit der 
Gattin gegenüber der Familie, in die fie hineingeheiratet hat. Obgleich diefe Briefe 
aus Diöfretion anonym mitgeteilt und veröffentlicht worden find, errät man, daß es 
ſich in dieſer Lebenzfgilderung um die Familie eines Gliedes des Brahmo:Somai 
handelt, eines angeſehnen Mannes, der zugleich ein Freund der Bildung des Jahr: 





Frauenfrage in Indien. 867 


ein fehr junges Mädchen geheiratet, das aber geftorben war; nun fchidte er fich zu 
einem neuen Erziehungserperiment mit dem Meinen Mädchen an, dad er an den Ufern 
des Godavery gefunden hatte. 

Der Widerftand feitens feiner Umgebung, der Frauen feiner Familie und haupt: 
fächlich feiner Mutter war aber fo groß, daß Ananta Shaftri, des vielen Widerſpruchs 
müde, endlich das Haus verließ. Kleine häusliche Widerwärtigfeiten machen großen 
Geiſtern das Leben unerträglich; der edle Mann ertrug fie nicht. Mit dem unpraftifchen 
Sinn des Gelehrten verließ er leider den Ort mit feiner jungen Frau, ohne fich felbft, 
noch ihr die Eriftenzmittel zu ſichern. Sie irrten im Lande umher und nährten ſich 
von wilden Früchten. An den Abhängen der Weftghat fchnitt Ananta, nahe ber 
Duelle eines heiligen Stromes, die Aſte eines Baumes ab, fchlug eine Laubhütte auf 
und begann in ber nur vom Lachen ber Hyane und der Stimme des Tigers belebten 
Einſamkeit das Kind feinem Plane gemäß zu unterrichten. 

Bon den zwei Töchtern, die ihm in ber Folge geboren wurden, verheiratete 
Ananta Shaftri die ältere im zarten Kindesalter mit einem wenig Altern Knaben, 
feinem Syftem getreu unter der Bedingung, daß ber Findliche Ehemann bei ihm 
wohnen und von ihm erzogen werben follte. Doc Menfchen feines Schlages jehen 
nicht weit voraus. Ananta hatte außer Acht gelafien, daß nach den Geſetzen des 
Landes die Frau in dad Haus des Mannes übergehen muß. Die Bedingung wurde 
nicht innegehalten; die Familie des Ehemanns ftrengte einen Prozeß an und gewann 
ihn. Des Gelehrten Pläne wurden nady diefer Richtung hin vereitelt. 

Es blieb ihm feine zweite, im Jahre 1858 geborne Tochter Ramabai. Yon 
einer gebildeten Mutter und einem Vater, der feine ganze Hoffnung auf fie fegte, 
erzogen, zeigte fie eine bewunderungsmwürbige Begabung. Nie find Zuverficht und 
Streben in würdigerer Weife belohnt worden. Mit neun Jahren Fannte fie das 
Sanskrit, wie die lebende indifche, außerdem die englifche Sprache, die Gefchichte des 
Drient3 und Decidents, bie religidfen Dichtungen und vieled andre. Dabei war ihr 
Charakter ihrem Geifte benbürtig, 

Indeſſen kehrte mit dem Erfolg auch dad Elend in die Laubhütte ein. Seit 
Ananta jein Heim verlaffen Hatte, war er zwar arm geweſen, hatte aber durch Urbar= 
madung unbebauten Lande im Gebirge von feiner Hände Arbeit gelebt. ALS fein 
Ruf zahlreiche Pilger herbeilodte, denen er Gaftfreundfchaft zu ſchulden glaubte, kehrte 
der Mangel bei ihm ein. Außerdem erblindete er. Cr mar gezwungen, feinen 
Bufluchtsort aufzugeben und zog als wandernder Prediger und Katechet von Tempel 
zu Tempel, von Walfahrtsort zu Walfahrtsort. Unter ſolchen Bedingungen kann 
man, ohne fich deffen zu fchämen, von Almofen leben. Das liegt übrigens in den 
Sitten des Landes. So lebte Ananta in ehrbarem und frommem Wandel fieben 
daeg Ing, dann ftarb er unterwegs, und feine Frau folgte ipm wenige Tage nachher 
ins Grab. 

Zu diefer Zeit war Ramabai 16 Jahre alt, als Inderin im vollen Alter der 
Reife. Sie hatte mit ihrem Vater die Liebe zur Wiſſenſchaft und die Neigung zum 
Lehren und Predigen gemein und trat in feine Fußſtapfen. Zum Unterrichten in den 
teligiöjen Wiſſenſchaften nicht berechtigt, lehrte fie die_profanen. Mit der Kenntnis 
ſamilicher, 30 Dialekte und Nebendialekte umfajenden Sprachen Indiens ausgeftattet, 
in der Geſchichte, Philoſophie und Soziologie bewandert, war fie für ihren Xehrberuf 
wohl vorbereitet. Durch Vorträge, die fie fpäterhin bis am ihr Lebensende fortfegte, 
ſchlug fie fich bis and Ziel ihrer Reife durd. 

Diefes Ziel war Calcutta. Hier war ihr der Ruf einer außergemöhnlichen Frau 
vorangegangen. Die Panditen, die gelehrten Männer der Stadt, trauten ihr nicht 
und forderten fie auf, vor ihnen zu erfcheinen. Freudig unterwarf fie ſich einem 
Eramen, das ihr den Ehrentitel Saraswati eintrug. 

In Calcutta lernte fie einen rechtichaffnen Mann fennen, den das Renommee 
einer unabhängigen Frau nicht abſchredte. Vihari Mebhavi war als gebildeter 
Bengalefe einer jener in Indien gegenwärtig zahlreichen Männer, die, ohne zum 
Chriftentum übergetreten zu fein, teilweife die Sitten desſelben angenommen haben 





Frauenfrage in Indien. 368 


Lehrerinnen aufnehmen und übertrug die beim Anjhauungsunterricht gebräuchlichen 
Bücher ind Indifche. Im Jahre 1889 kehrte fie in die Heimat zurüd. 

Von nun an benügte Ramabai ihre Fähigfeiten, ihre Thatkraft, den Einfluß ber 
Freunde, die fie allenthalben gewonnen hatte, das durch Vorträge erivorbene Geld 
zur Gründung von Schulen für arme und verwaiſte Mädchen. Eine ihr befonderd 
ans Herz gewachſene Stiftung ift das Aſyl für junge Witwen der höheren Kaflen. 
Ähnliche Anftalten exiftierten bereits in Indien dank dem Eifer der Miſſionare und der 
engliſchen Mildthätigkeit, allein die Macht des religiöfen Vorurteils ift noch fo groß, 
va nur die Verlajlenften darin Aufnahme fuchen. Gehört ein Kind einer. Familie 
an, jo befürchtet man für dasfelbe den Religiongeifer der Miffionare und bauptächlich 
den Verluſt der Kaſte. So mande junge Witwe, von der Familie des Mannes bis 
zum Lebensüberdruß gepeinigt, zieht der Zuflucht in einem Haufe, das fie zur Paria 
macht, den Selbftmord vor. Ramabai überfah die Lage der Dinge beffer als fonft 
irgend jemand und wußte Rat. In dem von ihr gegründeten Heim widerfährt allen 
nationalen Sitten Gerechtigkeit; bei den Mahlzeiten find die Penfionärinnen nad) 
Kaſten geordnet, jede darf ſich felbft das Efjen bereiten, die Witwentrauer ift bei— 
behalten, und die Religion kommt gar nicht in Frage. Im Fluge hatte die Gründerin 
fih zu der religiöfen Toleranz der Neuzeit emporgefchtwungen. Auf einen Vorwurf 
feitend der Glaubengeiferer Hat fie durch den New-NYork Evangelift die kluge und weile 
Antwort gegeben: 

„Ih bewundere das Werk der Miſſionare; diefe Bewunderung trübt mir jedoch 
nicht den Blick für die wahre Lage meiner Schweftern und die Ohnmacht der Miffionare, 
fie daraus zu befreien... . Allerdings legen wir in unferen Anftalten den Mädchen 
und Witwen, denen wir Aufnahme gewähren, nicht die Pflicht auf, den Glauben ihrer 
Väter abzuſchwören. Das wäre unferer Anficht nach weder techtichaffen noch politifch. 
Dagegen bieten wir ihnen die Möglichkeit, die chriftliche Religion kennen zu lernen 
und ermutigen fie dazu, wenn fie den Wunjch Außern, fie anzunehmen. Die chriftliche 
Litteratur findet in umferer Bibliothek ihren Plag neben der indifchen, und wir 
beabfigtigen, jeder unferer Schülerinnen ein Eremplar der Bibel zu fchenten.” 

Die Frau, die jo ſprach, wollte, obgleich Ehriftin, felbft in allem eine Hindu 
bleiben. Sogar während ihres Aufenthalt3 in Europa hat fie den weißen Witwen: 
ſhawl beibehalten, fih jeden Morgen das Abzeichen ihres Standes auf die Stim 
gemalt, ſich felbft die Nahrung bereitet. Das hat zu ihrem großen Erfolg in ihrem 
Zande beigetragen. Sie wußte, daß eine einzige Hindu hier mehr wirken kann als 
taufend Fremde. 

Die Pandita Ramabai Saraswati iſt nicht die einzige außergewöhnliche Frau 
Indiens der Gegenwart. Jene Anandibai Zofhee, die der Ramabai eine jo groß: 
mütige Gaftfreundichaft angeboten hatte, war eine Mahrattin von bewunderuͤngs⸗ 
würdigem Charakter. Die Mahratten find die einftigen Eroberer, der mächtigfte Volks: 
ftamm Indiens, die Jofhee, zur Zeit der Eroberung unter der Zahl der Häuptlinge, 
maren mächtige Befiger ungeheurer Ländereien geworden und bewohnten in Poona 
einen feenhaften Palaft. 

In Indien kann man Dörfer und Paläfte bejigen, ohne deswegen befonders 
reich zu fein. Das war mit den Joſhee der Fall; mand einer von ihnen hatte bei 
der englifchen Regierung um irgend ein geringes Amt nachſuchen müſſen. Anandibai 
hatte in ihrer Kindheit einen Traum gehabt, in dem der Stammvater ihr verkündet 
hatte, fie allein würde den Glanz der Familie wieder herſtellen. In den Vereinigten 
Staaten bat fie ihren Stüßpunft gefucht, aber bauptfählih in der „National 
Association for supplying female medical aid to the women of India“ ihn 
gefunden. Leider war diefe Laufbahn ebenjo kurz mie verdienftvoll. Sie ftarb im 
Jahre 1887 im Alter von 22 Jahren, nachdem fie ſchon durch ihr Beifpiel viel für 
ihre Mitfchweftern gethan hatte. 

Die Sorabji, Mutter und Töchter, find jo glücklich geweſen, noch mehr gethan 
zu haben. Nicht nur bildeten fie eine zahlreiche Familie, fie lebten und wirkten auch 
in der Präfidentfchaft Bombay, dem civilifierteften Teil Indiens, in dem von jeher 

2 


871 


Line Berliner „Unterkunft für hilfsbedürftige 
Wochnerinnen und deren Sänglinge“. 


Kon 


€. Pely. 


Rachdruc verboten. 








N die „glüdlichen Mütter” in ausfömmlichen Verhältniffen, wenn fie ſich an 
BR, dem Gedeihen ihrer rofigen Kinder freuen, ob die „geitrengen Hausfrauen“, 
BA tvenn fie ein Dienftmädchen fortichiden, das der Mutterfchaft entgegen fieht, 
fih wohl einmal fragen, was aus den armen Frauen und ihren Säuglingen wird, 
die neun Tage nach der Entbindung die Charit& oder die Univerfitäts-Frauen-Klinit 
verlafien müflen? Da fiehen zahllofe arme Gefchöpfe mit ihrem Kinde auf dem Arm 
buchftäblih auf der Straße, die Frage: Wohin? auf den Lippen. 

Faſt nicht eine ift bis zulegt imftande gewefen zu arbeiten oder hat ein Obdach 
gefunden, für das fie nicht ihre Heinen Eriparniffe angreifen mußte. Körperlich ent 
fräftet durch alles, was vorangegangen, bedrüdt von der qualvollen Sorge, wo das 
Kind laffen, wenn die Friſt um ift, wo eine Stelle, eine Pflegefrau finden, was 
Wunder, wenn mand eine bad Unmilltonmene mit gehäfligen Bliden anfieht. Nur 
vereinzelte Fälle find es, in denen im Getriebe der Großftabt ein Vater ſich um die 
tümmert, deren Fehltritt ihr, nicht ihm angerechnet wird. Siechtum, Verlorengehn 
für’3 ganze Leben, wenn nicht gar „Mord“ bilden die Refultate diefer grengenlofen, Bei 
erbarmenden Verlaſſenheit. Eine Pilegefrau will Geld fehen, oder fihere Garantie 
haben, daß die Mutter eine Stellung antritt und abzahlen kann; felbft um im Afyl 
Obdach zu erhalten, find Formalitäten zu erfüllen, muß man fi) nad) den Sprech: 
ftunden de3 Armenlommifjar richten. Und da fteht mandes im Strudel und in ber 
Gemeinheit der Großftadt geftrauchelte Geihöpf mit ſchwachem Kopf und matten 
Körper — für ſich felber hat es kaum den Lebensfampf führen können, num ift da 
ein neucd Leben, das mit wimmernden Tönen um fein Recht am Dafein fchreit. 

Dies alles ſich Mar machen, beißt der Menfchheit größten Jammer verftehen. 
Und eine Vereinigung thatkräftiger Männer und Frauen bat das gethan, und fo 
entftand in der Vlumenſiraße eine „Unterkunft für hilfsbedürftige Wöchnerinnen und 
deren Säuglinge“, ein Verein, dem ſich fchon zahlreiche Mitglieder angeſchloſſen haben. 
Zwölf Vorftandsmitglieder, Herren und Damen, vertreten feine Intereffen. Vorſitzende ift 
Frau Bianca Israel, eine junge Mutter mit blühenden Kindern. 

Die Fürforge gefchieht den Statuten entfprechend in der Weile, daß die bebürftigen 
Wöchnerinnen nebft ihren neugeborenen Kindern in die Unterkunftsftelle aufgenommen 
und dort während eines Zeitraums, der gewöhnlich zwei Wochen nicht überjteigen foll, 
verpflegt werden. Daß ferner während diefer Zeit alles gefchieht, was erforderlich ift, 
um den Wöchnerinnen ein fpätere® Fortkommen und die Sorge für ihre Neugeborenen 
zu erleichtern, insbeſondere Arbeitsvermittlung und Verhandlung mit etwa unter: 
ftügungspflichtigen Perfonen oder Kajjen, fowie mit Gerichten oder andern Behörden. 

Natürlich Hat der Verein bejcheiden begonnen — er befteht jeit Oftober 1899. — 
Erft konnte nur fünf Perfonen mit ihren Kindern Unterkunft gegeben werden, dann 
ftieg die Zahl auf zwölf, und binnen Jahrezfrift fanden 145 junge Wöchnerinnen Aufnahme. 

Helle, Iuftige Räume mit je ein paar Betten, zu deren Füßen die Kinderivagen 
ſtehn; prattiiche Möbel und Waſchtiſche, alles von Sauberkeit bligend; die „Couveuſen“ 
Pa at nicht und werden oft gebraucht. Sämtliche Unterünftlerinnen tragen die 

austrachi. 










21 * 


Chemikerinnen in der Zuderinduitric. 
Von Hildegard Jacobi. 
Raydrud verboten. 
Wie viele Frauenberufe ihre Eröffnung dem 


873 


’ geräuicvollen (Vetriebe, ſondern in der Stille des 


Umſtande danten, daß ſich feine männlichen Arbeitd- , 


teäfte mehr aur Verfügung ftellten, fo liegen auch 
der Befcäftigung von Frauen in der Zuderinduftrie 
ähnliche Verhältniſſe zu Grunde. 


fhtwierig, „Chemiter zu erhalten. 
an der Thatjache, daß biefe Stellungen nur für 
die einige Monate währende, fogenannte Zuder: 
campagne dauern, und das Gehalt infolgebeifen nur 
12—1500 Dart beträgt, dann aber auch daran, daß 
die Ausficht, von diejem Poften aufwärts zu einer 
Diretionäftelle zu rüden, äußerft gering ift. So 
waren bie meiften Zabriten in der üblen Lage, von 
einer Campagne zur anderen mit neuen Chemifern 
arbeiten zu müffen. Und jo beſchloſſen viele 
Direktoren, diejen Mißftänden abzuhelien und den 
Verſuch zu machen, weibliche Chemiterinnen an: 
zuſtellen. Sie folgten darin dem Beijpiele anderer 
großer Zuderfabriten bei Halle und Jena, bie ſchon 
feit Jahren ihre eigenen weiblichen Chemiterinnen aus⸗ 
‚gebildet und dabei gute Erfahrungen gemacht hatten. 

Tie Arbeiten 
würden folgende fein: Tas für die Fabritation des 
Zuders erforderliche Rohmaterial, Chemitalien, das 


Waſſer :c. müffen im Yaboratorium genau auf ihre | 


BVeftandteile unterfucht werden. Tann finden in 
der Gampage täglich mehrere Proben des Zuder: 
ſaftes in feinen einzelnen Stabien während des 
Preſſens ftatt, un ben Budergehalt genau feit: 
zuftellen. Da all dieſe Arbeiten im Paboratorium 


meift unter Aufſicht des Direttors ausgeführt | 


werben, fo kommt bie Chemiterin kaum mit dem 
übrigen Fabritperfonal in Berüh: Der Dienft 





in einer derartigen Stellung | 


Son feit einer : 
Reibe von Jahren ift es für die Zuderfabritation | 
Teils liegt das ; 





beginnt in einer Zuderfabrit früh 7 Uhr ums 


dauert mit Mittagspauſe dis Abends 7 Uhr. 
bald der Direktor fieht, daß die Unterfuchungen 
peinfih und exatt ausgeführt werden, ift die 
Stellung eine durchaus jelbftändige und hochſi 
angenehme, da alle Arbeiten nicht mitten im 


So: - 


Laboratoriums ausgeführt werden. 

Mann die ausgebildete Chemiterin noch über 
taufmänniſche Renntniffe verfügen, fo kann fie um 
fo eber eine dauernde und gut bezahlte Stellung 
erhoffen. Größere Fabriten pilegen auch nur für 
die Zeit der Campagne Chemiterinnen anzuftellen; die 
felben beziehen ein Nonatögehalt von 100-150 Wart 
bei meift freier Wohnung, Licht und Heizung, haben 
alſo nur das veben zu beftreiten; dazu kommt nach 
erfolgter Gampagne noch eine Sratifitation von ca. 
100-150 Mart. Was nun die Ausbildungdgelegen: 
heiten zu biejent Beruf betrifft, jo iſt im biefer 
geitfrift ſchon einmal erwähnt, daß im Yabora: 
toriun ber Berliner landwirtſchaftlichen Hochſchule 
bereits jeit einem Jahr ſechswöchentliche Kurfe für 
Frauen eröffnet worden find. Neuerdings ift die 
Hauptleitung diefer Kurfe in die Hand einer rau 
gelegt worden, welche ihre praftiichen Erfahrungen 
und theoretiſchen Kenntniffe in langjähriger Tpätig- 
teit al Chemiterin in einer Zuderfabrif erworben 
hat. Zugelaffen zu ben Kurſen werben rauen 
und Mädchen vom 19.—30. Lebensjahre. Als 
Eintrittöbebingung wird weiter ber erfolgreiche Beſuch 
einer höheren Maͤdchenſchulanſtalt oder fonft ber 
Nachweis einer guten Allgemeinbildung verlangt. 
Jedenfalls find tüchtige Vortenntniſſe im Rechnen 
und ſcharfe gefunde Augen zu dieſem Berufe er: 
forderlih. Die furze Dauer des Berliner Kurſus 
bat allerbingd in Bezug auf die Gründlichteit der 
Ausbildung und die an fo geringe Kenntniſſe 
gefnüpften Auöfichten ihre Bedenken. Um fo freubiger 
ift es zu begrüßen, daß jept der Verfud einer 
grünblicheren Borbilbung gemacht ift. In Dalle a./S. 
hat fih nun bie erjte Fachſchule für Chemiterinnen 
in der Zuderinduftrie unter der Leitung von Seren 
Dr. Georg Schneider auigethan, und zwar 
bildet fie ihre Schülerinnen in einem dreimonat- 
lichen Kurſus aus. Cs ift aud die Anficht der 
Sachverſtändigen, daß trog der Beſchränkung des 
(Gebiets mindeiten® cin viermonatlicher Kurfus dazu 
nebört, um ſich eimerieits die tbeoretifchen Fach: 
tenntnifje auf einem den meiften Frauen noch 








374 Frauenleben 


ziemlich fremden Gebiete zu verſchaffen, um andrer: 


wandten Handhabungen beim Experimentieren im 
Laboratorium zu eriwerben. 

Durch die vielfachen Beziehungen, die der Leiter 
der halliſchen Kurfe mit Zuderfabrikvirettoren bat, 
ift zu erhoffen, daß nach erfolgter Ausbildung 
jofort Anftellung in Ausſicht ftcht. 

Der Lehrplan der Fachſchule ift folgender: Der 


und Streben. 


erfte Kurfud datiert vom 15. Januar bis zum ' 


15. Mai, der zweite foll Anfang April beginnen, 
— ſich eine genügende Anzahl von Schülerinnen 
ndet 
Das Honorar ift im voraus zu entrichten und 
beträgt für den Kurfus 300 Mark (incl. Ntenfilien). 
Der Unterricht umfaßt: 


1. 
Allgemeine Chemie. 


II. 
Analytiſche Chemie. 


Zuckerrübenbau, Gewinnung des Zuckers und Er— 
läuterung der chemiſchen Eigenſchaften desſelben. 


IV. 
Phyg Einführung in die Grundlehren derſelben, 
Mechanik. 


— — —— u u 


- 


feit3 die nötige Übung, die fichere Hand, die ge Maſchinenkunde und Kefjelanlagen. 


VI. 
Buchführung, Kontorwiſſenſchaften und Verſicherungs 
geſetze (Fakultativ). 


VII. 
Praktiſche Arbeiten im Laboratorium. 
Die für bie einzelnen Gegenftände angeſetzten 
Stunden verteilen ſich mie folgt: 


1. Allgemeine Chemie . . . 45 
2. Analytifche Chemie . 2 
3. Zuderrübenbau, Gewinnung 
des Zuderd und Erläuterung 
der chemifchen Eigenjyaften 
des ſelben 
4. Phyſik und Mechanik . 
5. Maſchinenkunde und Keſſel⸗ 
Anlagen . . 2 
6. Buchführung, Kontorwiffen: 
fchaften und Berficherung®: 
Gelege (Hakultativ). . . 4 „ „ 
7. Praktiſche Arbeiten im 
Zaboratoriun . .. 18 „ „ 


36 Std. wöchentlich. 

Anmeldungen und Bitten um nähere Audfunft 

find zu richten an Herrn Dr. G. Schneider, Halle 
(S.), Gr. Ulrichſtr. 51. 


td. wöchentlich 


” ” 


— - 


Irauenleben und -Streben, 


Nachdruck mit Duclienangabe erlaubt. 


* Die befannte Auflage gegen Frl. Dr. med. 
Frauziska Tiburtind wegen Führung faljchen 
Titels, die ein Anonyınus bei der Staatsanwaltſchaft 
eingereicht hatte, bat, wie zu erwarten war, durd) 
ein freifprechendes Urteil ihre Erledigung gefunden. 
An die Blätter zur Bekämpfung bes Kurpfufcer: 
tumö, in denen |. 3. Herr Dr. med. Koßmann 
die weiblihen Arzte als Nurpfufcher bezeichnet 
hatte, fandte Frl. Dr. med. Tiburtius folgenden 
Brief, der am 1. März dort erfcheinen ſoll: 


Berlin, 7. 11. 1901. 
Sehr geehrter Herr! 

Am 28. Novenber vorigen Jahres batte ich 
mich auf eine anonyme Tenunziation bin vor dem 
Schöffengericht in Moabit zu verantworten, da, wie 
cs in der Anklageichrift Heißt „Durch die Bezeichnung 
Dr. med., bezw. Dr. med. der Univerſität Zürich“ 
— fo ftcht auf meinem Straßenſchild — „ber 
Glaube erweckt werten fönnte, ich fei eine geprüfte 
Medizinalperfon!” — E83 erfolgte Freiſprechung. 
In dem mir vor einigen Tagen zugegangenen Urteil 
heißt es: 


| 
| 
| 
| 
| 


geführt. Ein anonymer Denunziant bat daran 
Anftoß genommen, und ift auf feine Anregung bin 
diefe Anklage erhoben.” 

„Ferner befindet ih an dem Haufe der An- 
geklagten ein Straßenſchild mit der Aufſchrift: 
Franziska Tiburtius, Dr. med. der Univerſität 


Zuürich.“ 


„Die Angeklagte iſt nun aber, wie ſie durch 
Vorlegung des betreffenden Diploms der Univerſität 
Zürich nachgewieſen bat, von dieſer zum Doktor 
der Medizin ernannt worden und daher auch 


zweifellos zur Führung dieſes Doktortitels berechtigt. 


„Die Angeklagte iſt im Adreßbuch für Berlin | 


im Bande 1 als ‚Dr. med., für frauen und 


Kinder‘, und 
‚Krztinnen, in Deutfchland nicht approbiert‘ auf: 


im Bande Il unter der Rubrik 


Wan kann ihr daher nicht den Vorwurf machen, 
das fie ſich einen ihr nicht gebübrenden Titel 
‚beigelegt‘ babe.“ 

„Ferner ift Sewicht darauf zu Icgen, daß fir 
unter dieſem Titel ca. 25 Jahre lang die ärztliche 
Praxis bierielbft unbeanftandet feiten® Polizei und 
(sericht ausgeübt bat.” 

„Endlich ſagt auch das Adreßbuch, deſſen beibe 
Teile als cin organiſches Ganzes aufzufaffen ift, 
und deren einichlägige Angaben ftets nur auf Grund 
eigener Erklärungen der dort Aufgeführten gemacht 
werden, nichts anderes, ala mad wahre Thatſache 
ift. Und aus der Schild Aufichrift geht mit aller 
Deutlichteit bervor, daß die Angellagte wicht bie 


Frauenleben 


Abficht gehabt hat, das Publitum über ihre Nicht 
approbation in Deutichland zu täufchen. Im Adreh. 
tatender jteht ausbrüdli in Band IT über ihrem 


Namen, daß ſie in Teutichland nicht approbiert iit, | 


und berußt, wie erwähnt, dieſe Mitteilung auf 
eigener Angabe der Angellagten.” 

„Dieje bat nach alledem nicht abſichtlich verſucht, 
das Publifum über ihre ärztliche Stellung in 
Deutichland zu täuſchen. Man fann aud nicht 
behaupten, daß fie hierbei etwa jahrläffig gehandelt 
habe, denn fie mußte mit den Normalmenicen, 


d. $. dem Durchſchnittsmenſchen aus dem Publiftun | 
| erbenttich 


rechnen, und folche willen ſehr wohl einen Unter: 
icbieb zwiſchen bier ftaatlich geprüften einerjeits, und 
im Auslande geprüften und hier nicht approbierten 
Medizinalperjonen zu machen, ferner zwifchen bloßen 
Doktoren und ſtaatlich geprüften Arzten.” 
Bezugnehmend auf einen in Ihrer geitſchrift 
am 1. Juli vorigen Jahres erſchienenen Aufſatz 
des Herrn Profeifor Dr. Koßmann, der die aleichen 
Antlagen gegen die weiblichen Ärzte enthält und 
fpegiel auch meine Angaben im Adreßbuch einer 
abfälligen Kritit unterzieht, erlaube ib mir, Ihnen 
diefe Mitteilungen zu machen, mit der Bitte, den 
Brief in extenso in Ihrer Zeitichrift zu ver: 
öffentlichen. 
Hochachtungevoll 
Franzista Tiburtius, 
Dr. med. d. Univ. Zürich 


* Die Koftämfchneiderei nnd bie Gefahren 
der Hand: und Heimarbeit für Konfumenten 
und YWrbeiter behandelte ein Vortrag, den Herr 
Erich Stoboy am 14. Februar in einer Ver— 
ſammlung des Berliner Frauenvereins bielt. 
In ſachtundiger und ergreifenker Weiſe ſchildert er 
die Beſtrebungen der Koſtũmſchneider und -Schneide 
rinnen, den Verſuchen der Arbeitgeber entgegen 
quarbeiten, die auch für dieſe Branche die daus 
induftrie und Seimarbeit mehr und mehr einführen 


wollen. Die verhältnismäßig günitigen Yohn: 
bedingungen, die die Arbeiter dieſes früher | 


ſehr Hochftehenden Gewerbes ſich unter ſchweren 
Nämpfen zu wahren gefucht haben, jollen nun im 
Intereſſe des Arbeitgeberverbandes, 
Zpibe der Inhaber der detannten Firma V. Mann 
heimer, Herr Ferdinand Mannheimer, ſteht, dadurch 
vertürzt werden, daß bie Betriebswerkſtätten cin: 
geſchrantt und der Heimarbeit ein breiterer Raum 
gegeben werben foll. Die Folge dieſer Maßregel be 
deutet für die Arbeiterin neben dem geringeren 
Lohn unbegrenzte Arbeitszeit, ſchlechtere Arbeits 


unb «Streben. 





an deſſen 


bedingungen und bie völige Unmöglichfeit, von den ; 


Organifationdverfucien erreicht zu werben. 


Für! 


die Käuferinnen bedeutet aber die Herftellung der 


Roftüme in der Wohnung der Arbeiterin eine ; 


375 


ichwere geſundheitliche Gefahr, werben doch zahl 
reiche Nranfheiten aus dem Heim ber 
Arbeiterin, das zugleich ihre Arbeireftätte, 
Schlaf und Kodhraum und der Aufenthalt ihrer 
inder ift, durch die dort angefertigten Aleibungs. 
ftüde auf deren Näuferinnen und ihre Familien 
übertragen! Der Aufforderung des Redners, die 
er im Namen der Koftümſchneider und »Schneide. 
rinnen Berlins, deren Gewerkichaft cr angebört, an 
die Verſammlung richtete, nicht bei den Firmen zu 
kaufen, die ſich an der Bewegung zur Einführung 
der Hausinduſirie beteiligen, folgte eine außer: 
Iebbafte Tistuffien. Zu ftarten 
Meinungsverſchiedenheiten führte die Frage, was 
die Regierung zur Befeitigung der Hausinduſtrie 
und Heimarbeit thun fönne, und in wieweit die 
Arbeiterinnen diefer Betriebsarten organifations 
fäig feien. Zr. Mellien, Dr. Wilbrandt, 
Frau Gnaud-Kübne, rl. Helene Lange, Frl. 
Vehm, Herr Möbius, Fr. Plothow, Frl. 
Salomon vrörterten die bisherigen ausländifchen 
Verſuche auf dieſem Gebiet, Gejehe zur Ein 
igräntung der Sausinduitrie, obligatoriſche 
Einigungsänter und dergl. Einige Rednerinnen 
ſprachen fich gegen die Einfhräntung der Sein: 
arbeit aus, um den Kindern bie Pflege der Mutter 
nicht zu entziehen. Bor andern wurbe dieſer 
Standpunft energiih befämpft, weil bei den 
traurigen Verhältnifſen in ber Hausinduſtrie von 
mütterlicher Pflege und Erziehung überhaupt 
nicht die Rede fein fann. Much der Heferent hob 
in ieinem Schlußwort hervor, wie für ihn die Er: 
zichung im Wailenhaus geradezu ein Segen ge 
wefen fei, im Vergleich zu den Verhältniffen, die 
er vorber im Haus jeiner Mutter, die ſich ale 
Heimarbeiterin durchzubringen verſuchte, lennen 
gelernt hatte. Dieſe ergreifenden Worte des 
Redners dürften auch ben Anhängern ber Heim— 
arbeit, die der Verſammlung beimohnten, mandes 
zu benfen geben. Cs wurde denn auch ein— 
ftinmmig von ber Verſammlung folgende Reiofution 
angenommen: 

„Die am 14. Februar 1901 tagende Ver 
fammlung des Berliner Frauenvereino 
verpflichtet fi, nah Kräften dafür ein 
zutreten, daß innerhalb der Berliner 
Roftümfchneiderei Betriebswerkſtätten 
eingerichtet werden.“ 

Zur Ausführung des Beſchluſſes wurde eine 
Kommiifion gewählt, bie in Gemeinſchaft mit den 
Vertreter der Koſtümſchneider und -Schneiderinnen 
über Maßnahmen beraten fol, um nad) Art der 
ameritaniihen Ronjumentenvereine weiße 
viften ber empiehlenswerten Firmen in 
Verlin zu verbreiten. Auf diefe Weiſe wird 








Frauenleben 


der Wochenpflegerinnen mehr geichehen fol und 
den Ärzten empfohlen, darauf hinzumirten, daß die 
Hilfsthätigfeit der Hebammen in der Geburtäpilfe 
nicht eingeengt werde. Hebammen und Wachen: 
pilegerinnen follen nebeneinander wirken; 


Art untergeordneter Hebammen aus ihnen zu 


machen, die Verpflichtung zu einer ſtaatlichen 
Brüfung auferlegt werden. In der Winifterial 
verfügung heißt es: 


„Die Hebamme ift vermöge ihrer Vorbildung 
und" prattifgen Crfahrung im Stande, ſaus der 
Arzt die Kreißende anderer Berufspflichten wegen 
vorübergehend verlaffen muß, gefabrbrohende Cr- 
eigniffe rechtzeitig zu erfennen und die oft erforder: 
lichen fojortigen Maßnahmen anzuordnen. Ihr 
Erjag dur die fogen. Erftwärterinnen tann als 
ein volgiltiger nad feiner Richtung gelten und 
birgt unter Amftänden eine Gefährdung ber 


‚Kreißenden in ſich felbft wenn bie Pflegerin nebenbei | 


auch etwas vom Geburtöverlaufe, wie der Entwurf 
vorfeplägt, gelernt haben folte. Die Arzte baben 
hiernach alle Veranlaffung, auf die Zuziebung von 
Hebammen bei den von ihnen geleiteten Geburten 
zu dringen unb das unberechtigte Vorurteil gegen 
die Hebammen in den Nreiien der Bevölkerung, 
welche nad; Angabe des ärztlichen Leſevereins zur 
Zeit von der Zugichung der Hebamme neben dem 
Arpte nichts wiſſen wollen, zu befämpfen. Eine 
BVeſſerung in biefer Beziehung ift neben der Auf; 
flärung des Rublitumd aud dann zu erhoffen, 
wenn ber ärztliche Yejeverein nad dem Borgange 
mehrerer ärztlichen Vereine im Regierungsbezirt 
Tüffeldorf feine Mitglieder verpflichten würde, die 
£eitung von Geburtöfällen ohne Zuziehung einer 
Hebamme fernerhin nicht mehr zu übernehmen. 
Der beklagenswerten Berdrängung der Hebammen 
aus den wohlhabenden Familien dürfte alddann 
bald ein Ziel gefegt fein und die Gebamme auch 
in jenen reifen wieder als bie fachtundige, be: 


rufene Helferin angeſehen werden, wie fie es fonit | 


überall und anfcdeinend biöher unbeftritten aud 
dort in ber minder wohlhabenden Bevöfterung ift.“ 
Die Hebung der fachlichen Ausbildung der Wochen 
pflegerinnen will der Minijter zur Sade der 
‚Frauenvereine gemacht willen. Tie Ausbildung 
oli in geburtöhilflichen Anftalten und Wöchnerinnen: 
aſhlen erfolgen und zwei bis drei Monate dauern. 


* Zür die größere Konfolidierung nnferer 
Gymnafialturfe iſt es ein gutes Zeichen, daß 
ſowohl in Berlin als in Stuttgart Penſionate ein 
gerichtet werden, in denen die Schülerinnen der 
Kurfe Unterkunft finden. An Berlin wird Fräu 
fein Lucie Hermann, die lange Jahre als vehrerin 
an den Kurfen thätig war, ein Penfionat errichten, 
das in erfter Linie für die Schülerinnen der Kurje 
beftimmt ift, aber auch andere ftubierende Tamen 
aufnimmt. Das Benfionat wird zu Oſtern d. J. 
in Berlin S.W., Großbeerenitr. Y, eröffnet werben. 
Um nähere Auskunft wolle man jih noch an bie 





den : 
Wochenpflegerinnen ſoll aber nicht, um nicht eine | 


und «Streben. 


' 





377 


Empfehlungen durch befannte Berfönlichteiten inner 
halb und außerhalb des Kuratoriums ftehen dem 
Unternehmen zur Seite. 

Zum gleichen Termin wird unter der Voraus 
fegung einer binreichenden Zahl von Anmeldungen 
Frau Anna von Gottberg in Stuttgart, 
Foltertftr. 39 11 (Spredhftunde von 0—I1 br 
Zorm.), ein Internat für die Schülerinnen bes 
dortigen Madchengymnaſiums eröffnen. Es find 
zu dieſem Ziel im Haufe des Gymnaſiums, 
Urbanjtr. 42, freundliche Räume in Ausficht geſtellt 
worden. Ter Plan dazu wurde noch mit der leider 
io früß verftorbenen bisherigen Leiterin der Kurfe, 
Frau Schwend:lrfüll, eingehend beſprochen. Ter 
Penſionopreis beträgt 900 Mark jährlich, doch ift 
ev. eine Ermäßigung nicht ausgeſchloſſen. 





Betreffend die Zulaflung von Frauen an 
der Univerfität Strafburg iſt durch Erlaß bed 
Statthalterd vom 28. Januar genehmigt worden, 
daß folgende, vom Zenat der Univerfität unter 


| dem 31. Nuli vorigen Jahres befchloffenen Be: 


ſtimmungen in Kraft treten: 


„Unbefjabet des Rechtes jedes einzelnen 
Dozenten, rauen zu feinen Vorleſungen zuzulaſſen 
oder abzuweiſen, können rauen, die entweder an 
einem beutffen Oymmafium oder Realgymnafium 
oder einer deutfchen Oberrealſchule bie Reifeprüfung 
beftanden oder, foweit «8 ſich um Borlefungen 
innerhalb der philoſophiſchen und der matkemmatifhen 
und naturwijſenſchaftlichen Fakultät handelt, bie 
vehrbefäbigung für eine beutiche höhere Mädchen: 
ſchule erwerben haben, durch den Reftor Hofpitanten: 
büder zum An: und Mbmelden ber Vorlefungen, 
fotwie beim Abgang amtliche veſcheinigungen über 
die gehörten Porlefungen erhalt Durch diefe 
neuen Veſtimmungen bleibt das bißher ſchon geübte 
erfahren in der Hauptſache unverändert: Jeder 
einzelne Togent kann nad völlig freiem Ermefien 
Frauen zu feinen Porlefungen zulaſſen oder es 
ihnen allgemein oder im einzelnen falle vermehren. 
Dagegen find jetzt thatſächlich zwei verfchiedene 
Kategorien von Holpitantinnen geſchaffen, je nachdem 
die zugelaijenen ‚rauen den männlichen Stubenten 
gegenüber gleichtvertige orbildung befigen ober 
nicht; für die erfteren bedeutet die Erteilung von 
Hofpitantenbühern und von beionderen Be: 
ſcheinigungen über die gehörten Borlefungen eine 
ben immatritulierten Studenten ähnliche Stellung. 
Daß ihnen damit gleichzeitig auch für fpäterhin, 
wenn fie fih um Zulailung zu ben betreffenden 
itaatlihen oder alabemiichen Prüfungen bewerben 
wollen, der Nachtweis über die bier zugebrachte 





| Ztubiengeit jehr weientlich erleichtert und vereinfacht 


iehige Adreſſe von Fräulein Hermann, Berlin W., , 


Blumenthalftr. 18 III, wenden. -- 





beiten . 


wird, wird zweifellos von den beteiligten Tamen 
ſehr dantbar empfunden werden. 


+ Die Abteilung Frankfurt a. M. des Bereins 
Frrauenbildung — Frauenftudium veranftaltete in 
(emeinfhaft mit der Trtögruppe ded Allgemeinen 
Teutihen Frauenvereind und dem Verein der 
Yehrerinnen und Erzieherinnen am 14. Januar einen 


Bucherſchau. 


Vorſtellungen und verlangten volftändigen Erjag 
für ihre Auslagen und Verfäumniffe, wogegen fie 
von allem anderen Abftand nehmen wollten. 
die Verdingerin ſich weigerte, irgendwelche Ent: 
ſchadigung zu bezahlen, wenbeten fi die Ge: 
Ichädigten an einen hiefigen Rechtsanwalt, um die 
Entſchadigungsklagen gegen bie Berbingerin an- 
zuſtrengen. Zu gleicher Zeit bat bie königliche 
Staatdanwaltipaft die Unterfuchungäverpandlungen 
gegen die Berdingerin anfgenommen, da begründeter 
Verdacht befteht, daß dieſe Frau von der Art ber 
Stellenvermittelung in Belgien Nenntnis gchabt 
und bereit8 früher bortbin Mädchen verbungen hat. 


* Helen Zimmern, die durch ihre gründlichen 
Arbeiten auf dem Gebiet der Kunftlitteratur be: 
dannte Schriftftellerin, wirft auch durch Vorträge 
über die Ergebnifte ihrer Forſchungen an ben be: 
rüßmten Aunftftätten Ztaliend. NIS fie im derbft 
1887 querft in Floren,, ihrem langjährigen Wohn: 
ort, mit ihren im englijcher Sprace gehaltenen 
und vermittelft Laterna Magica erläuterten 
„Lectures“ Bervortrat, fiherten ihre gebiegenen, 
birelt aus italieniihen Duellen gefammelten Kennt: 
niffe und ihre lebhafte, geiftvolle Vortragsweiſe 
ihr von vornherein den Grfolg. "Nach diefem er: 
genden Anfang erhielt fie aus funftfinnigen 
Kreifen Englands mehrfach bie Aufforderung, auch 








Ta 


379 


dort über altflorentinifdhe Nunft zu ſprechen, — 
ein Ruf, dent fie fhon einige Mal folge leiftete. 
So hielt fie erft jüngft in London am Ning's 
College einen Cytlus von ſechs Vorlefungen, der 
zur Zeit in Florenz unter dem Protektorat bes 
britifhen Gejandten Yord Currie und fine hai 
mablin von ihr wiederholt wird. R. T. 


Totenſchau. In Stuttgart ftarb die jugend- 
liche Yeiterin des dortigen Mädchenghmnaſiums, 
Frau Gertrud Schwend, geb. Baroneſſe Urkül: 
Gpllenband, lic. &s lettres. Die Begründung der 
jungen Anftalt ift ihr zu banten, und in ihren 





Handen lag feit den zwei Jahren des Beſtehens 


die Leitung ſowohl als eine große Anzahl von 
Stunden. Seit dem Herbſt 1900 leitete fie außer: 
dem die Abteilung Stuttgart bes Bereind Frauen. 
Bildung: Frauenflubium, bie fie ins Yeben gerufen 
hatte. Die Frauenſache verliert in ihr eine be. 
gabte und begeifterte Vertreterin, die in der kurzen 
zeit ihre Schaffens fo zahlreiche Beweife ihrer 
Nraft und ihres Wollend gegeben, daß wir mit 
ihrem Tode die Jerftörung fo mancher froben 
Hoffnung für die Zufunft beilagen. 


— ⸗ 


Bücherſchau. 


„Zwiſchen zwei Welten“ von ©. Breltwig. ' 


Eine Weltanihauung im dramatiſchen Bilde. Fünf 
Akte. Freiburg i.Br. Friedrich Ernft Fehfenfeld 1401. 
Wie in Gertrub Breliwig erftem Drama „Übipus“, 
fo tämpfen auch Bier nicht eigentlich vien ſchen von 
Fleiſch und Blut, fondern die Geiſier in der Luft 
Sie tämpfen aud) nicht eigentlich über dem Schlacht: 
felbe, das die Dichterin zum Schauplag ber Handlung 
macht: Byzanz zur Zeit des untergehenben 
Griedentumd und ber werdenden Sirde, fie 
tämpfen ben Kampf bes neungebuten, deö zwanzigſten 
Jahrhunderts. Un der Schwelle des neuen Jahr: 


Bunberts, dem die Dichtung ais Frühlingeweigegruß | 


dargebradht ift, Barrt eine Frage der Yöfung: Ob 
Menfchentvefen fi) heiligt und vollendet in ftolgem, 
reinem, frohem (enieen, oder im Entſagen und 
Bergichten, in Selbftzucht unb Selbftbeihräntung 
und Selbftverneinung. Kann der unſer eigeniter 
Sott fein, den wir nur erreichen können, wenn 
wir uns felbft ertöten? Sollen wir Schönbeit 


fuchen, ober giebt es etwas Höheres, dem alles, 
auch fie felbft, geopfert werden muß? In vornehmem 
Glanz fteht an der Schwelle des neuen Jahrhunderts, 
mas am Anfang des vergangenen als verächtlich 
icht 


empfunden wurde, das Hecht ber Sinne. Rerii 
leiften, two man nehmen koͤnnte, ift es feige? 
cs groß? 

Tiefe Fragen projiziert die Digpterin auf einen 
biftorifchen Hintergrund. Sie findet zu ihrer Ver: 
Törperung die Geftalt des Apoftata. Diele Geitalt 
hehe *8 als eine hiſtoriſche in zu ſcharfen 
da, ais dak man an ihr das Problem und 
hıng durchführen könnte. So wird fie ftilifiert zu 
Heliodor, „dem legten Jüngling, den die müben 
Götter ſchufen, um an ichmerzlich jhönem Unter: 














"ber Kirche 





gang ſich zu meiden.” Heliodor hat auß ber reinen 
Schönheit der Antite feines eigenen reinen Weſens 
Deutung gelefen, und entrüftet wendet er fi von 
„deren matter Blid vor des natürlichen 
Menſchendafeins glanzvoller Reinheit mißtrauiſch 
erfohridt.” Zur heiligen Freude win er fein Wolt 
führen. Doch muß er einfchen, daß er auf feinem 
Wege, im der verborbenen Welt, die ihn umgiebt, 
feine guten, heiligen Nräfte zu weden vermag. 
Ten wahren Weg zeigt ihm Janthe, die Propbetin, 
die ihn im moftifhen Erlebnis gefunden: (ort 
wohni in der Welt! „Nur ſich hineinleben, hinein: 
lieben, tiefer, tiefer, mit ernfter Arbeit! Das Ich 
dahinien laffen! Denn dad Ich, das triecht burdı 
die lichten Räume und fpäht nach Nahrung und 
Nugen, und fieht nur, was nah vor Augen und 
feufzt des Jammerthald.” Und noch tiefere Wahrheit 
fündet fie ihm, eine Wahrheit, die nicht in Worte 
zu fallen, fondern nur im Erleben ergriffen werden 
tann: „im Blühen, Welten und Auferfteben 





feiert der fchaffende Gott der Melt felig das Fei 


des ewigen Lebens.” Zu dieſem Erleben führt ihn 
fein Geihid. Der Fanatismus der an ohnmächtige 
Worte gefejlelten Briefter, die Stumpfheit und 
Kobeit des Voltes läßt ihm nur einen Weg, fein 
„Heiligtum heilig zu bewahren,“ den Tod. nd 
fo lernt er das (Scheimnis des Kreuzes verftehen, 
fo wird er ein Chrift, ein Jünger des Finſteren 
von Nazareth, den er gehaht hat. 

Ta® Theoretiiche in dem „dramatifhen Bilde“ 
bleibt wie im Edipus wieder auf halbem Wehe in 
die Wirklichkeit fteden. Und das ift verhängnis- 
voller ald dort, denn nun beſteht ein fortbauernder 
ftörender Wideriprudh wiichen deutlichen hüiteriicpen 
Angaben und einem Milieu, das im übrigen unter 


880 


die Bedingungen ded: „In alten Zeiten lebte einft 
ein König u. |. w.” geftellt ift. Ind wie im Odipus, 
nody mehr ala im Odipus, fehlt jebe indivibuelle 
Charalteriftif, ein Mangel, über den man allerdings 
zeitweife hinwegkommt durch die fehr Lebendige 
Führung des Dialogs. 


„Freigeboren.“ Roman von Friedrich Spiel: 
bagen. (Leipzig 1901, Verlag von 2. Staadmann). 
Spielbagend neuer Roman iſt in einer Beziehung 
dag befte Buch, das er je gefchrieben: es ift inner: 
licher als Die lange Reihe feiner früheren Schöpfungen 
auf dem Gebiet der Erzählungstunft. Alles Roman— 
hafte, alles derb Handlungsmäßige ift abgeftreift. 
Schlicht und dabei folgerichtig giebt fich die Ent: 
widlung eined® Menfchen, einer Frau. ALS junges 
Mädchen ſchon ift fie ein ganz felbftändiger Charakter. 
Alles Phraſenhafte, Angelernte, UÜbernommene ift 
ihr zumider. Sie denkt ſelbſt; mit eigenen Augen 
jiebt fie die Welt an; fie ſcheut ſich nicht, Dinge 
zu thun, die nach der Leute Meinung für Mädchen 
unftatthaft find. Früh verwaift, ift fie fich felber 
Richterin. Sie bewahrt das Bemwußtiein, richtig 
gehandelt zu haben, auch als einer ihrer Lehrer, 
in deſſen Haus ſie Iebte, fich das Leben nimmt, 
da fie feine Yiebe nicht erwidert. Sie nimmt eine 
Stellung ald Gefellichafterin in einem jüdilchen 
Haufe an, Sie, die zzreigeborene, die Adlige. Und 
dann will es ihr Schidfal, daß fie einem Mann 
der Phrafe als Gattin in fein Haus folgt. Die 
Ehe wird unglüdlich, ift e8 im Grunde. von Anfang 
an, und es iſt nur ein unbedeutend Mehr an Leiden, 
als fie erfährt, dag ihr Mann mit ihrer Schwägerin 
fie hintergeht. Auch fie jelbft bat ihren Herzens— 
roman inzwifchen erlebt. Cine Zeit lang täujcht 
fie fih über die Leere ihres Daſeins dadurch hinweg, 
daß fie eine glänzende, tonangebende Rolle in ber 
Berliner Geſellſchaft ſpielt. Doc hält das nicht 
vor. Wieder geftaltet fich ihr Leben ganz innerlich, 
und zu Feſtigkeit und Selbſttreue ringt fie fich 
durd. Wenn fie ſich nachher trotzdem das Leben 
nimmt, fo ift das fein Widerſpruch; dieſer Selbft: 
mord bedeutet nicht Flucht, jondern ein freiwilliges 
Sceiden aus Berbältnifien, die unerträglich ge: 
worden find. In Form eines Tagebuches ift ber 
Roman geichrieben. Vorzüglich tft auch die Zeichnung 
einiger Nebenperjonen, vor allem das alte 
Kommerzienratäpaar, bei dem fie ald Sefellfchafterin 
Stellung findet: jelten hat Spielhagen fo tief 
innerlich liebenswerte Geſtalten geſchaffen. 


„Das Weiberdorf”. Roman von C. Viebig. 
7. zontane u. Co. Berlin 1900. „Das Weiber: 
dorf” wird unter den fozialen Romanen der neueren 
Litteratur einen hervorragenden Rlag beanspruchen 
fönnen. Die Berfafferin führt in ein Eifeldorf, 
das feine Männer in die Snduftriebezirfe Rheinlands 
und Weftfalend entjendet, da der heimiſche Boden 
nicht Brot für alle bietet. Nur zweimal im Jahre 
kehren fie auf wenige Tage in die Heimat zu Frau 
und Kind zurüd. Und nun entwideln ſich auf 
dem ungejunden Boden dieſer Verbältniffe, einem 
Boden, der die Heiligung des Geſchlechtslebens zur 
Familiengemeinſchaft unmöglich macht, die niebrigften 
Inſtinkte zu alles beherrjchenten Mächten. Fraglos 
ift die Behandlung des Motive frag, an einzelnen 
Stellen mehr noch als dag, zweifellos tft fie auch 
einfeitig, die Menfchen des Romans find eben nichts 
als Gejchlechtöweien. Aber die Gejtaltungsfraft 


Bücherfchau. 


der Künftlerin giebt ben Geſchilderten das Giepräge 
erfchütternder Mahrbeit, und bie in dem Bud er- 
bobene Anklage gegen bie Gefellichaft, die ſolche 
Zuftände gezeitigt bat, rechtfertigt auch das von 
künſtleriſchem Standpunkt Anfechtbare bis zu einen 
gewiſſen Grade. Bis zu einen gewiffen Grade — 
denn ftellt man dies Buch in bie Heihe der littera: 
rifchen Frauenproduktion unferer Tage, bedenkt man 
die Zahl von modernen Frauenbüchern, bie dies 
Broblem behandeln, jo Tann man fi des Eindruds 
nicht erwehren, daß man es hier mit einer gewiſſen 
Abfichtlichteit zu thun hat, bie vielleicht zu erklären, 
faum aber zu rechtfertigen und auf jeden Fall zu 
bedauern ift. 


„Bergauf“. Gedichte von Eliſabeth Gnade. 
Dresden und Leipzig. Verlag von Karl Reißner, 
1900. „Wurzeltief und mwurzelecht” find Clifabeth 
Gnades Gedichte, aber ihre Farben find matt, faft 
verfchwimmend, ihre Töne leife, faft einfürmig; 
ihre Schönheit zart und anſpruchslos. „Siegbaften 
Wiederhall zu erzwingen” find fte nicht gemacht, 
ed fehlt ihnen dad Clemtare, Starke, es fehlt 
ihnen an Intenſität und Lebensfülle. Der Ausdrud 
auch für tief und Iebendig Empfundened iſt ge: 
dämpft, die Gedichte erzählen vom Yeben, fie find 
nicht das Leben jelbft. Gedichte, deren Eigenart 
ſich fo wenig kräftig giebt, an jo feinen, leiſen 
Zügen nur faßbar iſt, follten nicht in fo umfang: 
reihen Sammlungen erjcheinen, fie wirken dann 
notwendig einförmig; es hätte eine Fritifchere Aus: 
wahl überhaupt dem wirklich Wertuollen in der 
Sammlung einen ftärferen Eindruck gefichert. Die 
Dichterin beherrſcht ſpielend die Form. Auch bier 
liegt die Schönheit mehr in Wohlklang, Weichheit. 
Biegfamkeit ald in Kraft und Eigenart. Aber eben 
in dieſer ihrer ftillen, faft müben Art find die 
Lieder perfönlihd wahr. Es gebt cine Sehnſucht 
hindurch, für deren Weſen eins der Lieder be 
ſonders charakterijtiich ift: 

Mein Flüfchen, das vom Bergeshang 
Friſch und beberzt binunterfprang — 

Wie fchleihft du elend jegt und träg’ . 
Landeinwärts deinen ſand'gen Zen. 

Man ſieht's dir an! Die Müp ift fchwer, 
Dein Daſein freut dich felbft nicht mehr. 
Tod börft du nicht den tiefen Ton 

Tes großen Stromd von ferne ſchon? 
Nur kurze Friſt, und deinen Lauf, 

Dein Leben ſaugt der Etarte auf, 


„Gedichte von Frieda Jung. Königsberg. 
Verlag von Gräfe und Unzer. Es gcht ein er: 
friichender Hauch durch dieſe einfachen Lieder, ein 
Hauch wie von Wiefenblumen und tauigem Gras, 
Sie find die Melodie eines ſchlicht, Har und warın 
gelebten und erfaßten Lebens, eined Lebens, bas 
neben allem Leid, das feinen Grundton giebt, doch 
noch Raum bat für tiefes beicheidencd Glücklichſein 
und herzliches Genießen An Johanna Aınbrofius 
erinnern die Gedichte durch die Verwandtſchaft bes 
Lebenskreiſes, des Schidfald, dem fie angehören, 
durch die Schlichtheit de8 Empfindens und Tenfen?, 
die fie ausjprechen. Aber fie find — das gilt be- 
ſonders von denen unter der Aufichrift „Liebe“ — 
frifcher und Fraftvoller, es ift doch nicht alles ftille 
Reſignation, fondern man fühlt durch das Verzichten 
hierdurch das ungelebte Yeben ftarf und warm 
pulfieren, und da wo es noch ungebrochen zum 
Ausdruck fommt, ift der Ausdrud voll unb un: 
mittelbar. 








Gouvernantenbriefe. 887 


„Ex iſt für euch wohlwollend bis zur Zärtlichkeit. Voll des Lobes der techniſchen 
Künfte der modernen Austoren und -törinnen.“ 

„Ah pah — das Techniſche!“ ſprach fie wegwerfend. 

„Mir aber war,“ fuhr ich fort, „als läfe ich ein Referat über die Vorgänge in 
einem Spital bufterifcher Meerkatzen. Iſt denn noch etwas Menſchliches an all den 
Vopanzen, Falfüchtigen, Neurafthenifchen, die mir da vorgeführt werben in ihren 
ignoblen Gelüften? Ich bin eine alte Frau, wenn id) aber eine großartige Leidenschaft 
in ihrer vollen Kraft und Glorie dargeftellt ſehe, beuge ich mich und muß fie bewundern. 
Und ware fie für einen unheiligen Gegenftand entflammt — in ihrem Feuer ift 
etwas Heiliged. Aus dem erbärmlichen Gloften, in den ihr euren Zundſtoff verfegt, 
quillt nur brenzliher Rauch und entwidelt tödliche Gafe, nicht Wärme und Licht.” 

„Er entwidelt Piychologie”, entgegnete fie mit Überlegenheit. „Wir erweitern 
ihre Grenzen, indem wir alles barftellen, was da iſt.“ 

„In einer Richtung befonder8 — der nieberften.” 

„Was ift hoch, was ift nieder? Wir laffen gar feinen Rangunterſchied gelten, 
wiſſen beshalb nicht? mehr von Prüderie. So find wir, rufen wir ber Welt zu, 
nehmt und wie wir find oder laßt uns flehen.“ 

„Der Welt rufen Sie das zu — der Männerwelt?” 

„Meinetiwegen, der Männerwelt.“ 

„Die hat es jegt leicht. Diefe Herren werden beides thun: euch nehmen und 
ſtehen laſſen.“ 

„Auch recht. Ich bin für die freie Liebe.“ 

Da mußt ich auflachen. Sie ſaß vor mir, anmutig und jung, und aus ihren 
großen graublauen Augen ſah noch die im Innerſten von all dem ſchmutzigen Wiſſen, 
das über fie hingeflogen war, unberührte Seele. 

Mein Lachen hatte fie beleidigt; fie ſprudelte ihren Unwillen Fräftig heraus. 
& wurde ein ernfter Kampf, den wir führten, wenn ich auch nicht den geringften 
Anlaß fand, perfönlich zu werden. Einem in die Stromfchnelle geratenen Weißfiſchchen 
nimmt man nicht übel, daß es von ihr mitgeriffen wird. Der Strömung aber bin 
ih von Herzen feind. Daß fie eine Naturerfheinung ift — tie alles was ift — 
verfößnt mich nicht mit ihr. Die Veit ift aud) eine Naturerſcheinung, und ic) kenne 
teinen, der fie in Schuß gegen ihre Belämpfer nimmt. Ich bin gewiß nicht die ein: 
zige, bie fie eben fo verderblich, troftlos und häßlich findet, wie die ſchwere Erkrankung 
des Schamgefühls in der Frau. 

Als die Neophytin der neuen Richtung feinen andern Ausweg mehr fand, nahm 
fie fogar die Peft in Schug und behauptete, fie hätte ihr Guted. An meinen Ans 
ſchauungen Hingegen ließ fie feinen guten Faden, erklärte mir zulegt ihren unauß- 
Töfchlichen Haß und verließ mich mit einem Lebewohl für immer. 

Ich aber rief ihr voll heiterer Zuverficht nad: „Auf Wiederfehen!” 


Marie von Ebner-Eſchenbach. 
— ISRLELNT Aa 
a 


25* 


Ellen Key. 889 


neueren, religiöß vergeiftigten Individualismus iſt. Darum mußte ih mit ihm bie 
Schilderung einer fchriftftellerifchen Perjönlichkeit, wie Ellen Key beginnen, die Kierlegaard 
fo fern wie möglich fteht. Ausgenommen in einem Punkt! In dem Glauben an die 
große Bedeutung und den unendlichen Wert des Einzelnen. Alles kann in dieſer 
Welt erfegt werben, nur bie wirkliche Perfönlichkeit nicht, eine Seele, in der daß 
Bild Gottes in unbefledter Reinheit und unüberwindlicher Kraft ftrahlt. Nur die allein 
hat dad Recht, Individuum genannt zu werden, d. h. ein Individuum, dad niemals 
vorher eriftiert hat und niemals wiederkehrt. Diefer Glaube an das Individuum ift 
Ellen Keys Religion, Philofophie und Politik. 


u. 

Ellen Karolina Sofie Key it den 11. Dezember 1849 auf Sundöholm in 
Smaaland geboren. Ihr Water ift der bekannte, freifinnige Politiler und Gelehrte 
E. A. U. Key, Rektor des Karolinſchen Ynftituts in Stodholm. Bis Ellen Key im 
Jahre 1895 den polemifchen Vortrag „Mißbrauchte Frauenkraft“ und bie Schrift 
Raturgemäßes Arbeitsgebiet der Frau“ herausgab, war fie hauptfächlid als mutige 
und emergifche Vorkampferin der radikalen Frauenemancipation bekannt. Diele 
Nichtung wurde ja vornehmlich durch den politifchen Intereſſenkampf hervorgerufen 
und zielte zuerft und vor allem darauf bin, der Frau Macht im Staate zu fichern. 
Außerdem ift fie unlöslich mit der Politit verknüpft, die wir jegt Alt:Liberaliamus 
nennen, das will fagen, fie frankte an einer beichränften und kleinlichen Auffafung 
des täglichen Lebens, dem mir alle unteriworfen find, und einem einfeitigen, pedantiſchen 
Streben nah bloßem formalen Recht. Wie übrigens die Reaktion der abftraften 
Sreipeiteichmärmere gegenüber die Naturfeite des Menfchen und die unveränderlichen 

eſetze für alles Lebende betont hat, that fie es auch binfichtlich der Frauenfrage. 
Mit unmiderlegbarem Recht wurde hervorgehoben, daß die Wutterfchaft, für die 
Frau und das ganze menjchliche Gefellichaftsichen das Entfcheidenfte, die erfte und oft 
einzige Aufgabe fein müfle und darum heiliger fei, als alle Freiheitsbeftrebungen, die 
Neformatoren und Moraliften als Ideale aufftellen können. Im Grunde war es 
aud eine ſolche rein menfchliche Emancipation oder befier religiöfe Befreiung vom 
Weiblichen, die den Kern in Camilla Collet3 Frauenrechtäfampf bildete. 

Nach diefer Richtung Hin hat auch Ellen Key in den legten Jahren die mannig⸗ 
faltigen Fragen in Betreff der Etellung der Frau in ber Geſellſchaft, ſowie der 
Frauenpſychologie behandelt. 

Bezeichnend für Ellen Keys befondere, individuelle Auffaflung if, daß fie ihre 
Anfihten in Iebensvollen Bildern, — als biographiiche Charaktericilderungen 
eigenartige, hervorragender Frauen dargelegt hat. Eine ihrer erften Arbeiten biejer 
Art war der feine, verfländnisvole Eſſay über E. Ahlgren!), dem das Buch über 
Anne Charlotte Leftler, mit den darin enthaltenen intereffanten Mitteilungen über 
Sonja Kowalewsky folgte. Diefe Charalteriftiten find Lebensbilder im wahrften 
Sinn des Worted. Was Ellen Key ins volle Licht zu rüden fucht, ift das Menſchliche; 
die fitterarifche und Lünftlerifche Eigenart des Gegenftandes interejfiert fie nur als Mittel 
zum Verftändnis des Menichen. Für fie hat die Kunft vor allem als vornehmfter 
Anlaß zum Seelenftudium Wert. 

Erſt in den legten biographiſchen Eſſayhs ift es ihr ganz geglüdt, die Inappe, 
prägnante, der Seelenmalerei allein angemefjene Form zu finden. Ich erwähne unter 
diefen die enthufiaftiiche Charakteriftit von C. 3. L. Almquift, den Ellen Key für 
Schwebens mobernften Dichter hält, wie das meifterhafte Kapitel in den „Gedanken⸗ 
bildern” Evolution der Seele, (Deutiche Ausgabe: Eſſays von Ellen Key. Berlin, 
©. Fiſcher, Verlag) mit den tiefen, innerlihen Schilderungen von Vauvenargues, Amiel, 
Maeterlind und Richard Jefferies und in ihrem legten Werk die befeelten, hoch 
pathetifchen Stimmungsbilder aus dem Leben des Dichterpaars Browning und des 
Olympiers Goethe. 


’) Zn deutſcher Überfegung erſchienen in der „grau“, 7. Jahrgang Heft 11 und 12. 


Ellen Keh. 391 


errungen haben, darf man hoffen, daß fie bie Welt ein wenig befjer und weiter machen 
werben, als fie es jegt ift. 

Erft dur die im Jahre 1898 herausgegebenen „Gedankenbilder“ war Ellen 
Keys Ruf als Schriftitellerin durchgedrungen. Sie offenbart fih darin ganz als bie 
kluge, bochgebilbete, feurige Perfönlichfeit, die fie it, — als die glaubenäfreudige, 
tiefe, innerlich begeifterte Kulturmiflionarin des Nordens. Diefe Gedantenbilder 
tönnen nur mit gewiffen feltenen Büchern der neueren europäifchen Litteratur ver: 
glichen werden, — ich denke an fo unzünftige, unmethodifche, aphoriftifche Bücher wie 
Rembrandt als Erzieher, Vernon Lee's Dialoge, Paul de Lagardes Deutſche Schriften 
oder einzelne von Ruskins myſtiſch betitelten moralifchen Phantafien. Es find leicht 
bingemworfene, freie, ftimmungbefeelte Reflexionen, über denen noch die ganze Friſche 
des erſten Augenblids Liegt, aber immer fünftlerifh ausgeftaltet. Da ift nicht feierlich 
die Rebe von Philofophie, — diefe ehriwürdige Weisheitöquelle fpendet uns heutzutage 
nicht allzu viel Geift, — fondern von einfachem, natürlich menſchlichem Denken, defjen 
einzig. ſicheres Beweismitiel individuelles Fühlen und perfönliches Erfaſſen iſt. Das 
Anziehendfte diefer Aphorismen ift eine eigne Anmut, eine echt weibliche Anmut. Jede 
Seite, jedes Wort offenbart die reine Naivetät, die tiefe, rüdhaltloje Einfachheit, die 
man nur bei Menfchen findet, die fich ihr ganzes Leben hindurch ben reinen, uns 
berührten, empfänglichen Jugendfinn bewahrt haben. Nur die allein haben den Mut, 
fih unbeirrt von Spott und Zweifel den fehwierigften Fragen hinzugeben, und feiner 
vermag wie fie andern von ihrem Mute mitzuteilen. Diele werden darin einig 
mit mir fein, daß Ellen Key dieſe Kunſt bis zur Volllommenheit befigt. Mutgeberin 
wäre die rechte Bezeichnung für fie. 

Wer Ellen Key kennen lernen will, follte fich ausfchließlih mit den beiden 
Bänden „Gedankenbilder“ befchäftigen. Sie enthalten alles, was fie über Menfchen 
und menſchliche Ideale der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gedacht, empfunden 
und geträumt hat. Und — keins ihrer übrigen Werke zeigt einen Behr, geiſtvollen 
Stil. Obwohl die verſchiedenen Effays, die den Inhalt des Buches bilden, als eine 
hohe, aber ganz unmethobifche Reflexionskunſt charafterijiert werden fönnten, haben fie 
dennoch etwas ſyſtematiſch Abgeſchloſſenes. Es finden fi darin ſowohl Grundfteine 
zur Aftgetit, wie zur Geſellſchaftslehre und Moral. Und im Zufammengang geiehen, 
offenbaren fie eine Weltanfhauung von vagem, religidfem Charakter. Vage, weil fie 
abftraft und nur in einzelnen Grundlinien angedeutet find, — ber Glaube, de: dem 
Ganzen zu Grunde liegt, ift fe und Har. 


V. 


Religion iſt nach Ellen Keys Definition „alles was unſer Herz weiten und er— 
heben kann“. Es will jagen, daß ſie überall die pofitiven Werte zu finden und den 
Menfchen zugänglich zu machen fucht. Die Lehre von göttlichen Dingen, von einem 
ewigen, feligen, überirdiſchen Dafein wird zur bildlichen Umschreibung für die Sehn: 
fuht und den Willen zu einem reineren, höheren, reicheren Leben. Sie führt oft 
Spinozas Gedanken an, daß Freude und Luft Vollkommenheit bedeuten; fie verleihen 
unferm Geift ftärfere Macht und Kraft und vermehren unfere Glücksmöglichkeiten. 
Und Glüd ift, wieder nad) Spinoza, Volltommenheit. Der freie Menich fol ftark fein 
und Hug, damit er feine Beftimmung erfüllen kann: im Lebenskampf immer zu fiegen. 
Der freie Menfch beichäftigt ſich mit nichts weniger, als mit dem Tode, feine Weisheit 
befteht darin, an das Leben zu denken und den Tod zu vergeſſen. 

Diefer Gedanfe Spinozas ift der Kern des tiefften Weltbegriffs der neueren 
Zeit, der Goetheichen Dichtung. Goethe war ja der große Heide. Aber wiewohl 
Spinozas Philofophie einen entſchieden naturaliſtiſchen Charakter trägt und infofern 
eine Erneuerung der idealen Werte antiker Kultur bedeutet, enthält fie ebenfo aus: 

jeprägte chriftliche Elemente. Der große Denker felbft lebte wie ein Asket, und feiner 
da tiefere und ſchönere Ausdrüde für die Hoheit und Herrlichkeit des frommen, nad) 
innen gefehrten Lebens, jene® amor dei intellectualis gefunden, deſſen treibende 


Mitjta — ber Ausreißer. 883 


VI. 

Sp ungefähr kann Ellen Keys Religion mit ihren eigenen Worten ausgedrückt 
werben. Ihr Himmel ift das kommende Reich der Gerechtigkeit. Deren einziges 
Myſterium die Heilige Frage: Wie ſollen wir neue Menfchen werden? Wo entipringen 
die neuen Lebenäquellen zu dem Babe der Wiedergeburt für den, der nod von einer 
Empörung des Menfcengeiftes träumt? 

len Key hat viele Antivorten auf diefe Fragen gefunden. Das ganze, große 
Kapitel „Evolution der Seele” im zweiten Teil der Gedanfenbilder ift Betrachtungen 
und Phantafieen über diefe dunfelften Rätfel der Zukunft gewidmet. Ich weife haupt: 
ſachlich auf die ſchönen, geiftreichen Dialoge „Auf dem Jagdſchloß“ Hin, — fie laſſen 
fih nicht wiedergeben, und kaum in umjere nüchterne Sprache überſetzen. Sie find 
fo gefchrieben „wie fpricht ein Geift zum andern Geifl”, und verwandte Seelen ein 
zelner inuſſen fie frei in fich aufnehmen. 

Aber die befte Antwort auf alle Fragen über die neuen Menſchen und bie 
Zebendquellen der Zukunft hat Ellen Key gegeben, wo fie bie ihr feelenverwanbte, 
Heine Gemeinde im Norden fchildert. Ihre tieffte Eigentümlichkeit it, daß fie ſtets 
jung ift und imftande, Augenblide der Infpiration zu erleben, wo eine große Wahrheit, 
eine große Schönheit oder ein großes Glüd fie ganz erfüllen, wo Thränen ftrömen 
und Arme fi emporfireden, um dad Weltall zu umfaffen. In ſolchen Augenbliden 
haben wir das intenfiofte Gefühl unferer eigenen Perfönlichkeit und empfinden zugleich 
die volllommenfte Vereinigung mit all denen, die in der Welt um uns her leben 
und leiden. 

Und wahrhaft groß ift nur ein Menfchenleben, das in tagtäglicher Arbeit die 
Stunden der Begeifterung zu einer leuchtenden Kette kräftiger Thaten fnüpfen kann. 
Edler Sinn blüht in guten Thaten. Und ein edler Sinn allein vermag das kommende 


Reich der Gerechtigkeit zu gründen. 


Me 


Hitika — der Husreißer. 
Aus dem Ruſſiſchen des FJalkowsky. 


Nacbrud verboten. 


‚nna Petrovna war mit ihrer Tochter 
auf dem Heimweg begriffen. Sie fam von 
einem Befuch beim „Batjufchla” (Pfarrer) zu⸗ 
-rüd, wo fie biß zehn Uhr gefefien hatte, da 
noch der junge Sandwirt Anbreev bazus 
gelommen war. 

Es war dunkel und ſchmutzig. Der ein 
fpännige Wagen planfchte durch die tiefen 
Löcher des abfcheulichen Weges. Anna Petrovna 
kutſchierte felbft und blidte, fi weit hinab⸗ 
beugend, auf den Echmuß, der fi einförmig 
unter den Füßen des Pferdes hinzog, wobei 
fie haftig an den Zügeln riß, wenn eines ber 
Näder über einen von ihr unbemerkten Stein 
hinwegging oder bis zur Achſe in einer Pfüge 
verfant. Und ungeachtet des gräßlichen Weges, 


mM. Swerd. 


der Feuchtigkeit, des Dunkels und der Möglich: 
feit, jeden Augenblid aus dem hohen, engen 
Einfpänner in den Graben zu fliegen, gaben 
fi beide Frauen, an all dieſes gewöhnt, 
| völlig ihren abgerifjenen, bunten Gebanfen 
bin, die ihnen bie zehn Werft Iange Fahrt 
bis zu ihrem Haufe mefentli verkürzten. 

Alles war ftil. Die Umriffe des Pierdes 
verſchwanden in der Finfternis; es ſchien, als 
ob ein Etwas ſich leblos, mechaniſch, einförmig 
vorwärts bewegte und die dunkle Nacht mit 
ſichtbarer Anſtrengung zerteilte, wie ein Dampfer 
das trübe Herbſtwaſſer durchſchneidet. 

Man empfand den gemähten Klee im Felde, 
den ſchläfrigen Atem des reifenden Kornes 
oder den träumenden Fichtenwald, in dem die 





Mitjla — der Außreifer. 


„Natürlich war er das!” unterbrach fie 
Anna Petrovna. „Und mie konnte ih auch 
nur feine dämliche Muſik verfennen?” 

Die barfüßige Alte führte das Pferd mit 
Geãchze und Geftöhn fort und brachte es 
irgendwie zuſtande, feinen fchweißtriefenden 
Hals aus dem Geſchirr zu befreien. 

Die Frauen traten in das Haus. Maſcha 
ging fogleih nach oben auf ihr Bimmer, ent 
Hleidete ſich haftig und halb im Schlaf und 
warf fi) aufs Bett, die Luft in vollen Zügen 
in ihre junge, lebensburftige Bruft einziehend; 
nad ein paar Minuten fchlief fie ſchon; um 
ihre halbgeöffneten, friſchen Lippen fpielte cin 
glüdlihes Läheln: fie träumte von einer 
bunten Kravatte, einem ſich Träufelnden Schnurr⸗ 
bart, dem fchmugigen Weg, dem Ausreißer 
Mitjka. 

Anna Petrovna begab ſich ins Schlaf⸗ 
zimmer. Ihr Mann war ſchon zu Bett und 
ſchnarchte; auf feiner entblößten, haarigen 
Bruft lief ein Heiner ſchwarzer Kreis herum, 
wie eine Maus; es war der Schatten, den bie 
in der Ede jladernde Ampel warf; Anna 
Petrovna zog bie verſchobene Dede zurecht, 
entlleidete ſich, entfernte ſich aber mit einem 
Eeufzer vom Bett und feßte ſich auf das Sofa; 
fie hatte feine Luft zu fchlafen, fie war über: 
reizt, und trübe Gebanfen bemädtigten ſich 
ihrer. Seit dreißig Jahren trat fie jeden 
Abend in dieſe Schlafftube ein, fah fie diefe 
behaarte Bruft, hörte fie dieſes Schnarchen. 
Seit dreißig Jahren hatte fie beftändig diefen 
unleivlihen Abdrud eines galoppierenden 
General im Papprahmen vor Augen; der 
General galoppiert, galoppiert in einemfort 
und kann doch nicht einen halben Zollbreit 
vom Slede fommen. 

Auch im Leben fommt man nie vom 
Flech! .. denkt Anna Petropna, voller Haß 
auf den General blidend. 

Morgen früb, genau um vier Uhr, wird 
ihr Mann aufitehen; er wirt huften und fi 
ſchneuzen, danach wird er anfangen die Zünd⸗ 


bhölger zu ſuchen, er wird fchreien, daß man | 


ihm ganze Schachteln voll unter der Naie 
wegſtiehlt: bie Zündhölzer werben fi jedoch 
unbedingt in feiner rechten Hofentafche vorfinden; 
dann wird er fein jtoppeliges, ſpitzes Kinn 
rafieren, ſich dabei ſchneiden und brüllen, daß 





305 


man ihm kaltes Waſſer gebracht habe, anftatt 
des heißen; darauf wird er über das Eſſen, 
über die Tochter, über ben Arbeiter, über ben 
Hund, über die Katzen und namentlich über fic, 
feine treue, duldende Gattin räfonnieren; und 
fie, die duldende Gattin, twird den ganzen Tag 
umberlaufen, hinter dem Mann ber, um ihm 
das ewig offene Hembe zuzufnöpfen, hinter ber 
Vichmagb, deren Haare ſtets in der Milch 
bherumfahren, hinter den Hühnern, bie die Eier 
verlegen, hinter Trefor, der die Entlein zu 
würgen liebt, hinter dem Vich, hinter ber halb» 
blöbfinnigen Alten, der Säuferin und Diebin, 
inter... .. ja, es ift nicht iveniges, mohinter 
fie den ganzen Tag berrennen, worüber fie 
ſchelten, ſich aufregen wird in Küche und Keller, 
in Garten und Viehhof .... Nachher, 
phyſiſch und moralifh am Ende ihrer Kräfte 
angelangt, wird fie in diefe Schlafftube zurüd: 
fehren, um wieder dieſe behaarte Bruft, dieſen 
galoppierenden General und biefen offenen 
Mund "zu fehen, der, wie aus einem Rohr, 
beifere Töne ausftößt. Und um das Maß 
ganz vol zu maden, war Mitjla davonge⸗ 
laufen. Oh, es war fürchterlich! 

Vor fünf Wochen hatte Mitjlas Vater, 
ein großer, hagerer Mann mit gelbem Geficht, 
den Burſchen zu ihnen gebracht. Cie hatte 
fofort gefehen, daß dieſer dummlächelnde 
Bengel mit der Ziehharmonifa unter dem 
Arm zu nichts taugte. Aber es blieb ihr 
feine Wahl übrig, ein Hirte war dem Vieh fo 
notwendig wie das Futter, und Mitjta bürgerte 
ſich ein. Seit dem Augenblid fannte fie feine 
Nuhe mehr; bei Sonnenaufgang tedten fie 
die dünnen, Hlagenden Töne ber Harmonila, 
den ganzen Tag über war fie in Angit, daß 
Mitjta das Vieh im Walde verlieren ober die 
Wölfe mit Kalbfleiſch regalieren werde, und 
nachts, wenn fie troß ber Muſik des Hirten- 
jungen eingeſchlafen war, erwachte fie mit 
Entjegen, da fie geträumt hatte, daß Mitjla 
wieder bavongelaufen fei. 

Treimal war dieſer Unband ausgeriſſen! 
Treimal hatte ihn jein Vater zurüdgebradht 
und, ſich tief verbeugend, um Verzeihung ges 
beten. Mitjla dagegen drehte, mit feiner 
Harmonifa unter dem Arm, die Müße in ben 
Händen und ſchaute allen ins Gefiht mit 
feinen hellen, Haren Augen, als ob ihm, 


Mitjka — ber Ausreißer. 


Mit fuchtelndem Stod ging er im Stall 
auf und ab und trieb bie apathiichen Tiere 
hinaus; dabei ſchrie er und that fehr wichtig 
und fah nicht, daß er bei jedem Edhritte in 
den bünnen Mift einfank, wie in einen Moraft. 

Und an biefem benfwürbigen Tage er= 
blidten die Fichten, die auf dem Hügel Wache 
hielten, und das reifende Kom und biefe 
ganze lebende, aber ſtumme Welt, — ein bis⸗ 
ber nie gejehenes Schaufpiel: der Gutsbeſitzer 
Iwan Semyönitfc trieb fein Vieh eigenhändig 
auf bie Weide! 

Seine Frau, feine Tochter, die barfüßige 
Alte, die barfüßige Milchmagd, der barfüßige 
Arbeiter, alle ftarrten fie, faum ihrer Sinne 
mädtig, die Hand vor den Augen zum Schutz 
gegen die Sonne, der Geftalt des Gutsbeſitzers 
nad, der inmitten der Herde auf und nieder 
tauchte mit feinen hochgefrämpelten Beins 
Heidern und feiner Jade aus Bauernleinwand, 
die ungelen? an feinem alternden Körper 
berabhing. 

* * 
* 

Diefer erfte Berfuch des Iman Semyönitſch 
mißglüdte volftändig. Höchſt erftaunlichers 
und unbegreiflihermeife geriet Die ganze Herbe 
in den Hafer, in eben benfelben Hafer, der 
den Neid aller Nachbarn erregte, und verblich 
dort über eine Stunde, da weder das Geſchrei 
noch die Prügel des Iwan Eemyönitich 
irgendwelchen Eindruck auf die eigenfinnigen 
Tiere ‘machten. Und, du lieber Gott, was 
war aus dem wundervollen Hafer geworben! 
ALS die arme Anna Petrovna die Riefenglagen 
und bie unzähligen Irrgänge darin erblidte, 
verfagten ihr bie Aniee, und mit weit offenen 
Augen fank fie nieder und blieb lange in 
dieſer Stellung, che fie nur hervorbringen 
Tonnte: 

„Oh, Herrgott! Herrgott!“ 

Außerdem verlor fi der prächtige junge 
tier, der Liebling der ganzen Familie, und 
trieb fih jetzt wahrſcheinlich im gräflichen 
Walde umher. Und um alle Übel voll zu 
maden lag Iwan Semyönitſch im Bett, mit 
Senfpflaftern bebedt, ftöhnte und fehrie, daß 
fein Herz zu ſchlagen aufhöre. Der arme 
Iman Semyönitſch hatte fi überanftrengt ! 


Das ganze Haus war auf den Beinen. Plan | 


897 


ſprach davon, nad dem Arzte zu fchiden. 
Die barfüßige Alte kramte Ameifenfpiritus aus 
ihrem Koffer aus, die Wirtichafterin Fochte 
Lindenblütenthee, der Arbeiter heizte ben Babe: 
ofen, Maſcha ſah nach den Wärmeflafchen, Anna 
Petrovna ſaß am Bett ihres franfen Mannes, 
hielt feine Hand, hörte feine bittern Klagen an 
und blidte hoffnungslos auf den galoppierenden 
General. 

Auch im Leben fommt man nicht vom 
Flech dachte fie verzweiflungsvoll. 

Und vor dem fenfter heulte der Trefor 
Häglich; es war ihm ſchon langweilig geworben, 
an ber Kette zu liegen. 

Plöglih hörte man vom Hof ber bünne, 
wohlbelannte Töne, die allen mit freubigem 
Schreden durch die Glieder fuhren, und gleich 
darauf Fam die barfüßige Alte ins Zimmer 
geftürzt mit der Nachricht: „Der Mitjka ift 
wiedergelommen!“ 

Kalte und heiße Umſchläge, Deden, Kiffen 
flogen zuerft in die Höhe und dann auf den 
Boden. Iwan Semyönitſch fprang aus dem 
Bett und ftürzte in die Küche, fo vie er war. 
Anna Petrovna ergriff den Schlafrod und 
warf ihn im Lauf dem Mann über die Schultern. 
Bei der Küchenthür ftand ein hoher Mann, 
hager, mit gelbem Gefiht, Mitjka's Vater. 
Als er den Herrn erblidte, verbeugte er fich tief. 

„Verzeihen Sie ſchon, Iwan Semyönitſch, 
der Bengel iſt rein von Sinnen. Verbeuge 
dich doch vor dem Herrn, du Schafskopf!“ 

Mitjla mit feiner Ziehharmonika unter dem 
Arm, drehte die Müte in den Händen. Dumm: 
lãchelnd nidte er mit bem Kopf und ſtarrte 
mit feinen hellen, glüdjeligen Augen den 
Herm an. 

„AG, du ..!“ fing Iwan Semyönitſch 
ſchäumend vor Wut an und hielt plötzlich inne, 
durch diefe gutmütigen, Haren Augen aus ber 
Faſſung gebradt. „Er ift ja wahrhaftig der 
reinfte Schafskopf“, — enbigte er lahm, fih 
fefter in feinen Echlafrod hüllend. 

Anna Petrovna begann von den Erlebniſſen 
‚ des Tages zu erzählen. Als fie von ben 
Mifgefhiden des Herm ſprach, ftöhnte und 
feufzte der hagere Bauer, aber hinter feinem 
dünnen Schnurtbart barg ſich ein höhnifches 
Lächeln. Mitjka blidte mie zuvor glüdfelig 
| drein; als er des Fräuleins anfichtig wurde, 





Mitjta — der Außreißer. 


blaue Himmel, unten erftredt ſich das bunt⸗ 
farbige, trodene Moos. Wenn man da jeßt 
ein Zundhölzchen hineintoürfe, wie prächtig 
würde das euer auflobern und ſich ver= 
breiten... Da — läuft ein rotlöpfiger 
Specht den Stamm entlang und klopft mit 
dem Echnabel an den Baum, wie mit einem 
Hammer. — Mitjka drehte ſich auf bie linke 
Eeite und erblidte den roten Sonnenſchirm 
des Fraͤuleins; er ſetzte fih auf und fing an 
zu lächeln. Der junge Stier betradtete den 
näherfommenben roten Gegenftand ſehr aufs 
merkfam. 

Maſcha blieb ftehen; fie hatte einen Korb 
mit Pilzen in der Hand. 

„Guten Tag, Mitjla, was treibft du 
denn?“ 

„Ich Liege.“ 

Das Fräulein lächelte. 

Weißt du, Mitjla, deine Augen, find 
gerabe fo blau und Har, wie der Himmel.” 

„J was nicht gar!” 

„Und du bift überhaupt fehr niedlich . . 
Wenn du millft, werde ich dich Leſen und 
Schreiben lehren“. 

„Gut, lehre mich, ich werbe dir eine Pfeife 
ſchneiden.“ 

Das Fräulein lachte und ging weiter. 
Nitjla und der junge Stier blidten ihr beide 


mit der gleichen Neugierde nad, und als fie 


verſchwand, ftieß der junge Stier nadläffig 
die Schnauze ins Gras, während Mitjfa feine 
Harmonifa nahm und dem Fräulein ein paar 
wilde Töne nachſandte. 

Aber zu diefer Tageszeit liebte Mitja die 
Stille über alles; er ließ feine Muſik im 
Stich und begann wieder mit den Augen zu 
blinzeln, um „bie Seelen ber Gerechten” zu 
ſehen. 

Und wahrſcheinlich ſah er fie auch ... 
Sein Geſicht war ruhig und klar, wie die ganze 
ihn umgebende Natur: fein Wöllchen, kein 
aut.... 


oo. 

Als die Sonne errötete, größer wurde und 
wie eine feurige Kugel hinter dem Walde unter: 
ging, trieb Mitjta feine Herde heim. Woran 
ſchritt, langſam und gewichtig, mit vollem 





899 


fallen Anna Petrobnas, da eine ſchwarze Kuh 
als erfte der Herde — Regen bebeutet, und 
man brauchte grade feinen Regen; hinter ihr 
kamen die übrigen müben Tiere, ganze Wollen 
Staubes aufwirbelnd. Den Schluß bildete 
Mitjka, friſch, ftrahlend, vom Abenbrot be= 
leuchtet, vermittels feiner Bichharmonifa laut 
bie glüdfiche Heimkehr verlündend. 

Nachdem die Tiere in den Stall getrieben 
waren, begab ſich Mitjfa ind Leutezimmer, 
wo ihm die Alte ein Abenbbrot zubereitete; 
bald fam er wieder von dort heraus mit der 
Harmonifa unterm Arm, um in ber Echeune 
ſchlafen zu gehen. 

Im alten Herrenhaus wurbe bald Feier⸗ 
abend gemadt. Die flahbrüftige Viehmagd 
und bie Alte trugen einen mächtigen Eimer 
voll frifchgemoltener Milch an einer Stange 
vorüber. Jeffim, mit einem Etrid über ber 
Schulter, ſchloß das Getreibehaus und ging 
in die Küche, mit den Schlüffeln klirrend. Der 
barfüßige Arbeiter kam aus dem Stall heraus 
und goß das bon den Arbeitöpferden übrig« 
gelafjene Trinkwaſſer mit weitem Schwunge 
aus. Iwan Semyönitſch erhob fich hüftelnd 
vom Ballon und trat mit den Worten „ed 
fängt an feucht zu werben” ins Haus. Anna 
Petrovna verließ den Geflügelhof mit aufs 
gefrempelten Ärmeln. Das Fräulein klapperte 
oben auf ihrem Zimmer mit dem enter. 
Der Treſor ftredte fich fchläfrig, gähnte laut 
und rollte ſich neben feiner Hundehutte zu einem 
Ball zufammen. 

Alles Leben erloſch allmählich. Der 
Himmel färbte ſich dunkler, und aus ſeiner 
nebelhaften Tieſe tauchten, eines nach dem 
andern, blinfende Flämmchen auf... . Grünes 
verwandelte fih in Schwarz, Durchſichtiges in 
Undurchdringliches. Der ferne Wald nahm 
die Geftalt einer langen Scheune an, während 
die Scheune einem formlofen Walde ähnlich 
wurde. Mitjfa lag unbeweglih im Heu. 
Irgendwo im Nebengebäude wirtfhafteten Kälber 
herum, grunzten Schweine, knirſchte ein Pferd 
mit den Zähnen. 

Wie ſtets um dieſe Stunde, wurde es 
Mitjka traurig zu Mut. Schlafen wollte er 
nicht, zu thun gab es nichts. Mitjfa ſetzte 


ſich auf und fing an, monotone Laute aus 


Euter, die ſchwarze Kuh, zum großen Mik: ı feiner Biehharmonifa hervorzuloden . . . 


Nitjla — der Ausreißer. 


Die dräuende Art und Weife, dad dräuende 
Verhör übten jedoch nicht die geringfte Wirkung 
aus. Mitjla blidte von einem zum anbern 
und lädelte ruhig, freubig weiter. Der 
Beamte verlor endgiltig die Geduld. 

„Weißt du auch“, — fuhr er ihn an, fi 
über den Tiſch Iehnend: — „daß du für jeden 
Tag beiner freiwilligen Entfernung vom Dienfte 
einen Rubel Strafe zahlen mußt? Demnach 
werben bir, wenn bu fortfährft, fo auszureißen, 
für den Sommer über hundert Rubel Etrafe 
zuerlannt werben! ..“ 

„J was bu nicht ſagſt!“ ſtrahlte Mitjka. 

Der Beamte ſpie wütend auf ben Boden, 
tauchte die Feder ein und fing an zu fchreiben, 
ſich felbft Taut biktierend: 

Der Bauernfohn Mitjka wird wegen frei« 
williger Entfernung aus dem Dienfte für 
ſchuldig befunden ... fürfchulbig befunden. ... 1” 

Kaum hatte der Beamte, Bruft und Ell- 
bogen gegen ben Tiſch geftemmt, angefangen, 


ſchwarze Leitern aufs Papier zu malen, als | 


ſich Mitjlas Gefiht plötzlich veränderte, gerabe 
ala ob die Tinte einen ſchwarzen Schatten 
darauf geworfen hätte; bie Haren Augen bes 
Jungen verfolgten mißtrauiſch und furchtſam 
die Spige der Feder, die, wie ihn dünkte, 
allerband Unheil auf fein Haupt herab» 
beſchwor. ... Jeder neue Buchſtabe gab 
Mitjla einen Stich ins Herz und erftand vor 
ihm als ein geheimnisvolles, aber entjegliches 
Gefpenft. Endlich hielt der Junge es nicht 
länger aus; mit fchriller, völlig veränderter 
Stimme rief er: 

„So ſchreib doch nicht! 
denn?! ..“ 

Bei dem unverhofften Schrei ſchreckten alle 
zuerſt zuſammen, dann lächelten fie. Der 
Beamte blidte Anna Petrovna vielbedeutend 
an und fuhr enblid fort: „Schuldig befunden 
und geht... . aller Rechte verluftig, jogar 
der Harmonifa. . . .” 

„So ſchreib doch nicht! . . . Ich fage bir, 
ſchreib doch nicht!” und Mitjka ftürzte vor, 
wurde aber noch rechtzeitig vom Vater er: 
griffen und flog zum Zimmer hinaus. 


Was fchreibft du 


401 


n Das bat geholfen!” — verkündete bie 
Obrigkeit. 

Alles lachte. Iwan Semyönitſch kredenzte 
dem langen Bauern ein Glas Branntwein und 
ſagte dabei: 

„Der Vertrag zwiſchen dir und mir iſt 
eine Sündenbuße für mic) geworben.” 

Abends fpät trat die abgehetzte Anna 
Petrovna ins Schlafjimmer ein und begann 
fih zu entlleiven, hoffnungslos dabei den 
galoppierenden General, den offenen Mund 
und bie behaarte Bruft ihres Gatten be— 
trachtend, — aber plögli fing fie an, ges 
fpannt zu horchen. 

„Wie kommt denn das, man hört ihn ja 
nit? ... Er wird bod etwa nicht ſchon 
wieder fortgelaufen fein?” 

Ohne Mitjlas Muſil einfchlafen, hieß mit 
dem Bewußtſein einfdlafen, daß morgen 
niemand ba fein twürde, um das Vieh auf 
die Weide zu treiben. 

Anna Petrovna warf ein Tuch über die 
Schultern und ging mit Hopfendem Herzen in 
die Scheune. 

Statt der wohl befannten Töne hörte fie 
ein dumpfes, erftidtes Schluchzen. 

Der Mitjla meinte? Das war ja etwas 
ganz Unwahrſcheinliches. 

Unmöglich flofien jet fiber biefes ewig 
lächelnde, ewig glüdliche Geficht Thränen? 

Ganz betroffen fragte Anna Petropna mit 
zitternder Stimme: 

„Mitjka, was fehlt bir denn? ... So 
antworte bo. Tu Dummchen, was haft du?” 

Und erft nad langem Fragen hörte fie 
dur das Schluchzen hindurch: 

„Tantchen, ich fürchte mih ... . ich fürchte 
mich fo fehr . . .” 


” * 


* 


| Der Bolizeibeamte erwies ſich als erfahrener 
I Piochologe: Mitjka lief nie wieder davon. 
| 
j 
i 





Aber jedesmal, wenn fein Blid mit dem ihm 
bisher fremden Ausdrud der Furcht und Trauer 
auf Anna Petropna fiel, wurde ihr meh ums 


Herz. 


26 


Die Frauen und ber Getreibezoll. 408 


fondern nur Kartoffeln, den zugehörigen Kartoffelichnaps und Kaffeeſurrogat, die 
werben von ber Brotfteuer nicht getroffen. Ja, es ift doch eine gerechte Steuer! 

Man kann wirklich nicht behaupten, daß durch fie die Armften zu Gunften 
ber Reichften befteuert iwerden. Denn dieſes Ideal von Steuergerechtigkeit würde erft 
erreicht, wenn alle Rartoffeleffer eine Steuer zu Gunften des notleidenden Krupp bezahlen 
müßten, ber ein jährliches Einkommen von 16 Millionen Mark verfteuert. Aber die 
Brotfteuer kommt diefem Ideal fo nahe wie möglich. Ihr Prinzip lautet: je größer 
der Latifundienbefig des Getreideproduzenten, um fo mehr befommt er, und je ärmer 
und je finberreicher die brotefiende Familie, um fo mehr muß fie Brotfteuer bezahlen. 
Das ift die gerechte Strafe dafür, ihr Mütter, daß ihr fo viel Kinder geboren habt! 

Mleinftehende und alternde Arbeiterinnen, wie die Konfeltionsnäherinnen in 
Berlin, deren Jahreslohn von 3—400 Mark zum Leben unmöglich ausreicht, die 
daher geztoungen find, ihren verblühten Leib ab und zu einmal billig, für ein 
Abendefien, zu verkaufen, müflen da ein paar mal öfter thun, wenn fie für Brot 
6 Mark mehr jährlich ausgeben muſſen. Aber fie ftehn allein — die Familien 
möütter dagegen, die die hungrigen Kinder mit bünner gefchnittenem Brot nicht 
betrügen tönnen, fie leiden am ſchwerſten unter der Verteuerung des Brotd. Sie 
muſſen noch mehr als bisher außer Haus auf Arbeit gehen, noch mehr als bisher 
wird die Familie aufgelöft, durch die chriftlihe und familienerhaltende Politik der 
Brotverteuerung, noch mehr als bisher fterben und verderben, verrohen und ver- 
mildern die Kinder, die der Mutter beraubt find — oder die Mutter arbeitet noch 
länger zu Haus an ber Nähmaschine, noch länger als die 12—18 Stunden, bie 
Tinderreiche Witwen in der Konfeltionsheimarbeit zu arbeiten pflegen. 

Aber find die Löhne in der Induftrie nicht fo bedeutend geftiegen, daß eine 
Heine Mebrbelaftung durch teureres Brot wenig ausmacht? Gewiß, im großen und 
ganzen find fie geftiegen. Uber noch mehr geftiegen find in berfelben Zeit die 
Wohnungsmieten, die ein Drittel des Arbeitslohnes verfchlingen, die Zleifchpreife und 
befonder3 die Kohlenpreife, kurz alles, was die Hausfrau für den Haushalt am 
nötigften braucht — abgejehen von Brot und Mehl, das jest an die Reihe kommt. 
Und wie hoch find denn nun im Durchſchnitt die fo fehr hoch geftiegenen Löhne? 
Nah der letzten Berufszählung (1895) giebt es in Preußen 13'/, Millionen Boll: 
erwerböthätige; von diefen haben nad) der Statiſtik der preußifchen Einkommenſteuer 
wenig über 2'/, Millionen ein Einfommen von mehr als 900 Marl. Alfo faft 
11 Millionen, unter biefen die ungeheure Mehrzahl der Familienväter, haben ein 
Jahreseintommen von weniger als 900 Marl. Und die Statiftit der Invaliditäts- 
und Altersverſicherung ergiebt, daß (im Jahr 1896) 2,3 Millionen einen Jahreslohn 
von durchſchnittlich 1000 Marl, 2,5 Millionen einen folgen von durchſchnittlich 
720 Marl, 4,3 Millionen einen Durchſchnittslohn von 500 Mark und endlich 
2,5 Millionen einen folden von 300 Mark erhielten. Selbitverftändlih gilt das 
ungefähr auch für Heute: 603 Mark ift danach der Durdfchnittsjahreslohn in 
Deutihland. Daß er in der Großftadt, 3. B. Hamburg, auf 864 Mark fteigt, wird 
durch die teureren Mieten wieder ausgeglichen. Und wenn man felbft annimmt, daß die 
Löhne etwas Höher find, als fie angegeben werben, wenn wir daher 700 Mark (aljo 
100 Mark mehr) als den Durchichnitt anfehen, fo find 42 Mark mehr für teureres 
Brot doch eine Befteuerung von 6 Prozent, während die preußifche Eintommenfteuer 
die Einkommen von mehr al3 900 Mark mit %/,, Prozent befteuert. 

26* 


Die Frauen und ber Getreidezoll 405 


gewefen, dann wird man ben Zoll wieber zu befeitigen ſuchen, dann kommt das 
wirkliche Leiden der deutſchen Landwirtſchaft. Ihr Grunbübel, der zu hohe Bodens 
preis, ift dann maßlos gefteigert, die Konkurrenz mit dem Ausland ift ihr noch mehr 
erſchwert. Die Erhöhung des Getreidezolls ift daher ein Schaden für die Land: 
wirtſchaft und nur ein Geſchenk an bie jegigen Befiger, bei Erhöhung des Zolls auf 
8 Mark ein jährliches Gefchent von ungefähr 6 x 56, das ift 336 Millionen, eine 
beträchtliche Steigerung der arbeitslofen Rente und eine um fo beträchtlichere des 
Kapitals, auf Koften der probuktiven Arbeit des übrigen Volkes. 

Ja, wenn unſer ganzer grundbefigender Adel oder gar die Landwirtſchaft zu 
Grunde ginge und nur durch ein ſolches Mittel erhalten werden könnte, fo könnte ich 
in Zweifel geraten, denn ich Liebe die Kraft, die in unferem Adel ſteckt und möchte 
fie nicht aus Deutfchland verſchwinden fehen; aber davon ift ja gar feine Rede. Und 
ein großer Teil, ein Drittel oder die Hälfte, des Großgrundbefiged wird allerdings 
Bauern weichen müflen, eher ift auch an eine Vefeitigung der „Leutenot” nicht zu 
denken. Ein Grund mehr, nicht den großgrundbefigerifchen Getreidebau gegenüber 
der bäuerlichen Viehzucht zu begünftigen. 

Bas für die Landwirtichaft geſchehen müffe, Habe ich Hier nicht auseinanderzufegen. 
Es genügt, daß die Erhöhung des Getreidezold das Mittel nicht ift. Friedrich Lift, 
der erſte große Schugzöllner in Deutichland, erklärte ausdrücklich: „Die innere Agris 
kultur durch Schugzölle heben zu wollen, ift ein thörichtes Beginnen.” Diefe Erkenntnis 
genügt und, und es ift nur ein Zeichen für den Tiefftand nationalöfonomifchen 
Wiffens in unfern Barlamenten, daß immer noch barüber Hin und her geftritten wird, 
ob das Inland oder das Ausland den Zol zu tragen habe. So weit das Inland 
ihn trägt, verteuert er dem Arbeiter das Brot, foweit dad Ausland ihn trägt, verkürzt 
er ihm den Lohn: denn das aderbauende Ausland, das durch den Zoll gefchädigt wird, 
iſt dann ein fchlechterer Abnehmer für die Waren unferer Erportinduftrie, diefe kann 
daher weniger produzieren, muß Arbeiter entlaffen oder den Lohn herabfegen. Und 
das wirft weiter auch auf die wirklich Notleidenden auf dem Lande, bie Landarbeiter: 
wenn die Induftrie Arbeiter entlaffen oder die Löhne verkürzen muß, fo können auch 
die Gutöbefiger ihren Arbeitern wieder geringere Löhne zahlen, ohne fürchten zu 
müffen, baß die Arbeiter ihnen weglaufen, gelodt von den höheren Löhnen der Induſtrie. 
Nebenbei müffen die vielen Landarbeiter, die nicht mehr in Getreide, fondern nur 
nod in Geld gelohnt werben, auch ihr Brot teurer kaufen — von ihren getreide— 
verfaufenden Herren. 

Doch man Hat den Arbeitern, beſonders auch den Frauen und Kindern, auch 
etwas geboten mit ben Getreidezol. Daß die Hunberttaufende von Müttern, die 
außer Haus arbeiten, und die Million Kinder, die erwerbsthätig find, dies noch mehr 
müffen al3 bisher, ift zwar nicht verlodend — aber die Arbeiterverficherung, vielleicht 
die langſt erfehnte Witwen und Waifenverficherung, fol durch die Mehreinnahmen des 
Reichs aus dem höheren Getreidezoll gefördert werben: ein Plan, der um fo fomifcher 
wirft, wenn man fi das Verſprechen der Agrarier, bei höherem Zoll Deutichland 
ganz mit Getreide verforgen zu fönnen, verwirklicht denkt: dann kommt natürlich aus 
dem Auslande überhaupt fein Getreide mehr Herein, und die Neichdeinnahmen aus 
dem Getreidezoll verſchwinden völig! Und je höher der Zoll, um jo weniger Getreide 
Kann noch eingeführt werden, um fo geringer alfo die Zolleinnafmen. Überhaupt 
wird auch jegt nur ungefähr ein Fünftel eingeführt, im beften Fall alfo fließt von der 


Niethſche und feine Freunde. 


Felix Poppenberg. 


NRadbrud verboten. W 


etzſches Leben iſt eine Freundſchaftstragödie. Cr, ber feine weiche Seele zur 
unerbittlich ftählernen Lehre zwang, zu einfam hartem Wandel auf dem 
„Iharfen und gefährlichen Felögraten des Gehirns“, beſaß im Grunde feines 
Beiens die tieffte Hingebungsfehnfucht, die leidenſchaftlichſte Luft am Verehren, das 
probuftivfte Genie zur Freundfchaft. „Meine freundfchaftliche Empfindung für jemanden 
hängt fi ein wie ein Dorn, man twirb fie nicht 108,” fagt er felbft von fi, und 
einem Neugewonnenen fehreibt er in überftrömendem Glüdägefühl: „Ich fehe die ſchöne 
Gewißheit vor mir, einen wahren Freund mehr zu gewinnen. Und wenn Sie wüßten, 
was dies für mich bedeutet. Bin ich doc immer auf Menfcenraub aus, wie nur 
irgend ein Korſar.“ \ 

Und bderfelbe muß in der firengen und eifrigen Frohn feines Werkes, das ihm 
feine Raft an ftillen Herden und fein Verweilen verftattete, jondern im bämonifchen 
Bann zu immer höherem Steigen in gletſcherkalte Einfamfeit trieb, ein liebes Band 
nad dem andern löfen. Die unerbittliche Wahrhaftigkeit feiner Natur forderte von 
ihm Opfer über Opfer. Und das ſchwerſte Opfer, das er brachte und das ihn faft 
brach, war die Abfage an Richard Wagner. Als Zarathuftras Höhenpfad von Parfifals 
Bußweg fih für immer ſchied, da mußte Niegfche ein Heiligtum feiner Jugend, für 
das er gelämpft, geblutet und gejauchzt hatte, brennenden Auges einreißen. 

Das Leben wird ihm von nun an ein dauerndes Loslöſen. Er gleicht dem 
Abenteurer auf Bödlind Bilde. Am Horizont verſchwindet ber Nachen mit den legten 
Gefährten, und ber Ritter ftarrt auf felfiger Neulanblüfte, auf ber die Gebeine bleichen, 
in die Unendlichkeit: „Ich bin, faft ohne den Willen dazu, aber gemäß einer unerbitt- 
lichen Notwendigkeit, gerade mitten darin, mit Menſch und Ding bei mir abzurechnen 
und mein ganzes ‚Bisher‘ ad acta zu legen. Faſt alles, mas ich jegt thue, if 
einen Strich drunter ziehn. Die Vehemenz der inneren Schwingungen war erfchredlich 
die legten Jahre hindurch; nunmehr, wo ich zu einer höheren Form übergehen muß, 
brauche ich zu allererft eine neue Entfremdung, eine noch höhere Entperfönlichung.” 

Und er felbft leidet qualvoll auf diefem „furchibaren Weg” mit feinen „Viamala⸗ 
KRonfequenzen”. Er jhämt fi zu verraten, wie fehr er leidet, er verkriecht fih — 
„la böte philosophe — wie ein krankes Tier in feine Höhle Und er Hagt: 
„Jahre lang kein Labfal, fein Tropfen Menfchlichkeit, nicht ein Hauch von Liebe, ich 
bin jegt allein, abfurd allein; und in meinem unerbittlichen und unterirbifchen Kampfe 
gegen alles, was bisher von den Menjchen verehrt und geliebt worden ift (— bie 
Formel dafür iſt Ummwertung aller Werte) ift unvermerft aus mir felber etwas wie 
eine Höhle geworden — etwas Verborgnes, das man nicht mehr findet, felbft, wenn 
man außginge, es zu fuchen. Aber man gebt nit darauf aus”... Sein 
Denen büßt er beftändig „durch eine immer wachjende, immer eifigere, immer 
fchneidendere Abfonderung.” 





Riegfche und feine Freunde. 409 


Hohe Zeiten, die Krifis mit ſchweren Törperlichen Leiden, Erkenntnis feines Zwieſpaltes 
mit Wagner, Entdedung feines Ichs, Abbrechung aller Zelte, Philoſophenleben in Stille 
und Einfamteit find die Stationen, die in wechfelnder Beleuchtung als ein Wandel 
panorama fi hier immer wieder um una drehn. 

Und haben wir's mit einem Freunde durchlebt, fo fangen wir's mit dem nächften 
wieder von neuem an. Troßdem ift durch die Variationen der Säge dieſe Lebens: 
fymphonie nicht monoton. 

In den Briefen an den Freiherrn von Gersdorff, den Jugendfreund von Schul: 
pforta, die Nechenfchaft geben von der Zeit der „philologifchen Lumpenſammelei“ in 
Leipzig bis zur Zarathuftramelt in Stille, Höhe und Einfamkeit zu Sils-Maria, über 
wiegt alles Männlich-Wehrhafte. Die Gersborff find eine Soldatenfamilie, ber junge 
Freiherr macht dem Krieg mit, fein Bruder fält als Offizier. Nietzſche verehrt in 
diefem Freund, mit dem ihn natürlich auch ftarke geiftige Lebensinterefien, Schopen: 
bauer: und Wagnergefühle vereinten, die energiich ftraffe Form des Lebens. Niegiches 
Hellenentum betonte ja fo nachdrücklich die Vereinigung Lörperlicher und geifliger 
Tüchtigfeit: „Die Griechen waren feine Gelehrten, fie waren aber auch nicht geiftlofe 
Turner“. Nichts war Niegiche verhaßter ald der Begriff des Philologen als ver: 
fümmerten, früppeligen Lebeweſens: „Sollte nicht das Bild eines Sopholles jeden 
Gelehrten beihämen, der fo elegant zu tanzen und Ball zu fchlagen verftand und 
babei doch auch einige Geifteffertigfeiten aufzeigte.” So ſchätzte er an dem Freund, 
daß der „mit fühnem Griff das allerbefte Loos erwählt, den wirffamen Kontraft, bie 
umgebrehte Anfchauungsweife, die entgegengefegte Stellung zum Leben, zum Menichen, 
zur Arbeit, zur Pflicht”. 

Aufrecht, feft, warm und ftetig durch alle Zeiten und Wechſel Hindurch Hat fich 
diefer Freund erprobt, die beiden haben fefte Überzeugung für einander, und mas für 
Niegiche das Bewundernswerteſte an der Menfchlichleit des Freundes fcheint, das ift 
deſſen „herrliche Fähigkeit zur Mitfreude”, fie bünft ihm „feltener und ebeler als die 
des Mitleidens“. 

Anders der Ton in den Briefen an zwei andere Yugendfreunde. 

Bei Ger&borff Mingt immer die Stimme ganz felbftverftändlichen Sich-Verſtehens 
und menſchlichen Einander-Wohlgefalens: „Wir willen, daß mir und von Herzen 
freuen, auch nur bei einander zu fiten, ich glaube, twir brauchen und nichts zu vers 
fprecden und geloben, weil wir einen recht guten Glauben zu einander haben.” 

Eine dichtere Luftſchicht hängt zwiſchen Niegiche und den beiden Studiengefährten 
Deufien und Krug. Es herrſcht in den Briefen an fie mehr die Erinnerungsneigung 
vergangner Gemeinfamteiten, als das fichere Bewußtſein innerer Zufammengehörigfeit. 

Zu Deuffen, dem fpäteren Philofophieprofeffor, fpricht er fih, von jeder 
Überlegenheit fern, mit Achtung vor deſſen „vernunftvollen Lebensplänen” aus. 
Hier ſehen wir bie Vorurteildlofigkeit Nietzſches in richtigem Licht, diefe Integrität, 
die nicht Profelyten machen will („Niemand hat jo wie ich vor dem Gefährlichen des 
freien Geiſtes gewarnt und zurüdgeichredt“), diejen felbftverftändlichen Refpelt vor 
jedem, der einen felbitgewählten Weg entichlofien geht. Mit fachlichen Augen fieht er 
die Bemühungen der Menfchen an, und er jchreibt: „es macht mir großes Vergnügen, 
einmal den klaſſiſchen Ausdrud der mir fremdeften Denfweife kennen zu lernen.” Und 
ex felbft, der Feinfchmeder des Geiftes, zaudert nicht mit gern geipendeter Anerkennung 
rechtſchaffen ernten Fleißes: „Der Himmel weiß es: ohne rechtichaffenen Fleiß wächſt 


Riegibe und feine Freunde. E11 


Nietzſche bat ein überaus feines Gefühl fir Neizbarkeiten und für bie Wer 
fimmungen anderer und weiß fie mit einer unfagbar rüdjichtswollen Hergensdiplomatie 
zu heilen. Ein „Übelnehmen” kennt er nicht. Wenn er aus fehwerften, inneren 
Gründen feine Hand aus der eine Vergangenbeitsgeführten Löfen mußte, dann that 
er es mit umerbittliher Härte gegen ſich ſelbſt, — „in feinen Hauptfachen muß ſich 
der Menſch rein halten,“ das ift feine flille Forderung an jedermann und an fi, -- 
aber in den Rleinigleiten war er von größter Duldfamkeit, er wußte in feiner weits 
überfchauenden Erkenntnis alles Menſchlichen, daß er fich nichts vergab und vergeben 
fonnte, wenn er fo oft zuerft die Hand wieder bot. So ift er immer bemilbt, 
Mißverftändniffe aufzuklären: „Schonung bedürfen wir alle, jeder hat feine Ausdruds-, 
jeder feine Berfländnisweife, daher. jo viel Mißverſtehen. Jedenfalls aber habe ich 
mi nicht gut ausgedrüdt”. „Man muß feine Empfindung für einen DMenfchen 
immer von Zeit zu Zeit angeſichts dieſes Menfchen Fontrollieren fünnen. Sonft giebt 
fie Phantafiebilder: und man bringt Züge Hinein aus günftigen oder ungünftigen 
Erzählungen anderer”. 

Aus ſolchem Verftehen und folder größeren Auffaſſung ſchrieb er auch von 
Richard Wagner, nachdem er ihm abgefagt hatte: „Über Wagner empfinde id) ganz 
frei. Diefer ganze Vorgang mußte fo fommen, er ift wohlthätig und ich verwende 
meine Emanzipation von ihm reichlich zu geiftiger Förderung. Jemand fagte mir ‚der 
Karilaturenzeichner von Bayreuth ift ein Undankbarer und ein Narr‘ und ich 
antwortete: Menfchen von fo hoher Beftimmung muß man in Bezug auf die bürgerliche 
Tugend der Dankbarkeit nach dem Maß ihrer Beftimmung meffen.” 

Das fchrieb Niegihe dem Mann, dem er fi von biefen Adreffaten am 
rüdhaltlofeften erichließt, dem Freiherrn von Seyblig. Ihm gegenüber iſt jene 
Genialität der Freundfchaft, von ber eingangs gefprochen wurde, am reichften entwidelt. 
Diefe Freundichaft und Hingebung ift aber nicht weichlich, wenn auch Niepfche dieſem 
Freund rüdhaltlofer als anderen anvertraut, wie ſchwer ihm das Werk ift, das er 
auf fih genommen, wie fehr er fih nach Licht und Lachen fehnt, wie weit er ſich 
entfernt glaubt, von jenem „vollkommenen und hochgearteten Eremitenfinn“; biefe 
Freundſchaft wird vielmehr zu einer herben Reife gefteigert, deren höchfte Forderung 
iſt: „Thun Sie mir die Ehre an, mich nie zu verteidigen. Meine Pofition ift bafür 
zu Rolz, Verzeifung! — Ich denke, meine Freunde follen mit mir zufammen aud) 
ſtolz fein.“ 


* * 
* 


Unter dieſen Brieffteunden ſind auch zwei Frauen. Was und wie er an ſie 
ſchreibt, beſtätigt, wie Nietzſche wirklich von den Frauen dachte. Allzu einſeitig werden 
immer nur die paar Stadheljäge aus dem dichteriſchen Zuſammenhang feiner Bücher 
geriffen. Daß Niegiche in Wahrheit gerade Frauen gegenüber, die etwas bebeuteten, 
ein Verehrender war, das erfuhren wir aus den Mitteilungen feiner Schweiter, und 
das erfennen wir hier wieder. 

Mit welcher Bewunderung und Verehrung ſpricht er immer wieder von Malwida 
von Meyſenbug, die in Sorrent in den Tagen des Symphiloſophierens die „Abtiſſin 
de Kloſters der freien Geiſter“ war. Im ähnlicher Verehrung blidt er zur Frau 
Marie Baumgarten auf. Durch ihre Überjegung der „Unzeitgemäßen Betrachtungen” 
in das Franzöfifche tritt fie ihm nahe, und er kann nicht genug fein Glüd rühmen, 


Nie iſche und feine Freunde. aus 


Palaſte, wie ſie uns zu Sinnen reden, nicht Renaiſſanceburgen. Und daß man mitten 
in der Stadt die Schneealpen ſieht. Daß die Straßen ſchnurgrade in ſie hinein zu 
laufen feinen! Die Luft troden, ſublim-klar. Ich glaubte nie, daß eine Stadt durch 
Licht fo ſchön werden könnte.” 

Und die Steigerung des Lebens zur fröhlichen Wiffenfchaft in Nizza: „es wimmelt 
von Nichtsthuern, Grecd und anderen Philofophen, es wimmelt von ‚Deinesgleichen‘, 
und dieſe Farben, alle mit einem leuchtenden Cilbergrau durchfiebt; geiftige, geiftteiche 
Farben, nicht ein Reſt mehr von der Banalität der Grundtöne.” Und immer neue 
Scenen und „feltner erprobte Reize des Daſeins“, wie jene Erbbebenpanil, während 
der Nietzſche „Comme gaillard“, nachts die Runde durch die Strafen macht, nach 
Furcht zu fpähen, der „einzig heitere Menſch unter lauter Larven”. 

In Venedig fucht er träumerifche Gondelftimmung und für die vom vielen Licht 
trunfenen, müden Augen das fchlafende Dunkel der Gäßchen. 

Die wahre Höhenmwelt Zarathuſtras des Bergſteigers aber ift Sils- Maria, das 
Dberengabin, „meine Landſchaft, fo fern vom Leben, fo metaphyfiſch; Hier wohnen meine 
Mufen, ſchon im ‚Wandrer und fein Schatten‘ Habe ich gefagt, diefe Gegend fei mir 
blutsverwandt, ja noch mehr.” 

Wenn der Himmel bel ift, dann breitet Sils feinen alten Pfauenfchweif 
verführerifch fühlicher Farben aus. Doch kommen auch Lawinen, Winter und Sommer 
in unfeligem Wechfel, dicht verhängter Himmel, die Stimmung der Verfe: 

Hier faß ich wachend, wachend — body auf nichts 
Jenſeits von Gut und Böfe, bald des Lichts 
Genießend, bald des Schattend, ganz nur Spiel, 
Ganz Ser, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel. 

Und jener anderen: 

Kein Pfad mehr! Abgrund rings und Totenftille 
So woltteft du'3! Vom Pfade wid dein Wie! 
Run Wanbrer, gilt's! Nun blide talt und Mar! . 

Hier reift, wie unbewußt, in feltfamften Infpirationen, in dammernder Konzeption 
das große Zerſtörungswerk der „Entwertung aller Werte”: „ich fland (oder fprang) 
Öfterd nachts um zwei auf, um ‚von Geift getrieben‘ etwas hinzuwerfen. Dann 
hörte ich wohl die Hausthür gehen: Mein Wirt fchlih auf die Gemfenjagd. Wer 
von und beiden war mehr auf der Gemjenjagd?” 

Die „Gemfenjagd“, das ift ein Zarathuftrabild. 

Doch nicht im Zarathuftra dürfte jene andere Stelle ftehen, die Stelle voll 
Depreffion und Müdigkeit von 1888: 

„Wie alles davon läuft. Wie alles auseinander läuft! Wie fill dad Leben 
wird! Kein Menſch, der mich fennte, weit und breit. Meine Schweſter in Südamerika, 
Briefe immer feltener. Und man ift noch nicht einmal alt! Nur Philofoph! Nur 
abfeit3! Nur kompromittierend abſeits!“ 

Hier fpricht nicht der Bergiteiger, bier erſchließt ſich Nietzſches Menſchlich⸗ 
Alzumenfchliches. 

Und das unverhüllt einmal ſchauen zu dürfen, aus ihm ben zeriiörenden 
Widerſpruch dieſes Lebens erkennen zu fönnen, das verdanken wir bdiefen Briefen. 


ua 


Der Mönd von Heifterbadh. 416 


anftaltungen und Unternehmungen, die den Zived haben, das Weib für ſolche Berufe 
vorzubereiten.” — Es ift nur gut, daß man nicht weiß, auf weflen Haupt dies 
Anathema sit! Herniederfauft, da wohl feiner „waſchechten Frauenrechtlerin“ Vers 
anftaltungen und Unternehmungen befannt fein werben, bie fi damit abgeben, 
Frauen für ein „marktfchreierifches und agitatoriſches“ Auftreten in der Offentlichkeit 
auszubilden. 

„Ja“, wird weiterhin Tonftatiert, „die meiften Frauen und Mädchen find den 
Berufen, die fie ſich gewählt haben, auch gar nicht gewachſen; mehr oder weniger 
leiden fie alle Schaden darunter, und zwar meift an ber Seele noch mehr als an 
ihrem Körper.” Das gilt vom Lehrerinnenberuf. „Für Volksſchulen ift bad Weib 
prinzipiell nicht geſchaffen. Beweis: bie zahlreichen Ruinen auf biefem Gebiet.” Und 
gar der ärztliche Beruf! „Es ift ein faft rührendes Zeichen für die Naivetät, für 
den Idealismus eines weiblichen Herzens, daß fie beſonders für den Beruf eines 
Arztes gefchaffen zu fein glaubt.“ Und nun erft die niederen Berufe. „Die Frauen 
wiſſen gar nicht, was fie thun, wenn fie danach begehrten!” — Merkwürdig, wie viel 
Ruinen es in Mölln geben muß! 

Ja, aber nun giebt es doch Fälle, — fo argumentiert der Mönd ſelbſt — wo 
bie Eltern fein Vermögen und viele Töchter haben, von denen fie nicht wiffen, ob fie 
heiraten werben; was dann? 

Was dann? Aber, meint er, habt ihr denn den lieben Gott ganz vergeflen? 
Der wird dann ſchon forgen. Wenn nur die Eltern ein Mein wenig mehr Gott: 
vertrauen befäßen! „Sie follten fi die Mädchen naturgemäß entwideln, follten fie 
harmlos ihre Jugend genießen laffen, follten fie zugleich aber auch in allen häuslichen 
Tugenden unterweifen, fie an Einfachheit und Anfpruchslofigkeit gewöhnen, zu Frömmig- 
keit und Gottvertrauen erziehen.“ Dann werden fie ſchon durch die Welt kommen. — 
So ein Gottvertrauen, wie jene Frau hatte. Die fragte ihr Pfarrer: „Na, was 
meinen Sie, Mutter Müller, wird's eine gute Kirfchenernte geben?” „Der liebe Gott 
wird's fchon geben, Herr Paftor, — geblüht Haben fie ja nich!” 


* * 
* 


Es giebt Dinge, über die lacht man, weil man nicht über ſie weinen will, oder 
weil man über ſie nicht in Zorn geraten will. Und ſo könnte man ja auch über den 
Beitrag zur prinzipiellen Loſung der Frauenfrage) des Herrn Pfarrer Küßner zu 
Mölln lachen. Aber als Symptom hat dieſer Beitrag auch eine fehr ernſte Eeite. 
Zu Stößen häufen fih die geichmadfofeften Abhandlungen von beutfchen Männern 
über die Natur und Beflimmung des „Weibes” und die Sphäre, bie der Frau auf 
Grund diefer Beftimmung „anzuweiſen“ fei. Zu Stößen häufen ſich die Abhandlungen, 
in denen die deutfche Frauenbewegung, über deren Ziele eine auch nur oberflächliche 
Kenntnis der Litteratur Klarheit geben könnte, mißdeutet und farikiert wird. Und 
das alles angefichts der nadten Thatſache, daß e3 in Deutichland ca. 6'/, Million haupt 
beruflich erwerböthätiger Frauen giebt, eine Zahl, von der man nur willen möchte, 
wie die Herren fie ſich erflären, die behaupten, eine berufliche Thätigfeit entipräche 
der Natur der Frau nicht und fei auch feine Notwendigfeit. 


’) Berlag von Lipſius und Tifcher, Kiel und Leipzig, 1901. 


Das Töchterheim „Comeninshaut”, 47 


halt für ihr Leben zu gewähren vermag. (Bewährte Schitlerinnen erbalten auf Wunſch 
durch die Anjtaltsleitung Stellen vermittelt; bei der Arbeit in der Diakonie innerbalb 
des Evangeliichen Diatonievereind erhalten fie durch diefen eine nach innen und aufen 
geſicherte Anjtellung mit Penfionsberechtigung.) 

Dies find die allgemeinen Grundfige für alle Töchterbeime; ſie haben auch 
ſonſt gewiſſe wichtige Fächer gemeinfam. 

In allen Töchterheimen ziemlich gleichmäßig wird Unterricht gegeben in der 
Religion (Gefchichte des chriftlichen Lebens, bejonders der Licbesthätigkeit; Lebens: und 
Tagesfragen im Lichte des Evangeliums), Gedichte, Litteraturgefchichte unter gemeinz 
famer Lejung klaſſiſcher Schriften, Kunftgefchichte unter Führung in die öffentlichen 
Kunſtſammlungen, allgemeine Etziehungoͤlehre, deutſche Sprache (fchriftliche Aus 
arbeitungen und mündliher Vortrag), englifhe und franzöfifche Nonverfation und 
Lektüre, hauswirtichaftliche Naturkunde, Nechnen und Buchführung, Bürgerkunde, Ge: 
yenbheitchee, Samariterfurfus, Turnen, Tanzen und Anftandslchre, Zeichnen, Chor: 
gefang. 

In der bejonderen Berufs:Ausbildung find die einzelnen Töchterheime unter 
ſchieden. Es dienen der Ausbildung: 


1. in der Hauswirtſchaft das Luifenhaus, 
2. für den Erzicherinnenberuf das Comeniushaus. 


Das Comeniushaus bietet alfo außer der wiſſenſchaftlichen Weiterbildung als 
Berufsbildung dad, was als Grundlage einer gebiegenen Bildung überhaupt erſtrebt 
werden follte, die Padagogik de3 Kindergartens und durch diefe die Gewöhnung an 
den Grundfag ber Selbftthätigfeit in der Erziehung. Durch einjährigen Veſuch wird die 
Ausbildung für die Erzichungsthätigkeit in eigner oder fremder Familie erzielt. Das 
Jahr jchließt mit der Kindergärtnerinnenprüfung ab. Nach Ablegung derfelben werden 
die Schlilerinnen, wenn fie nicht den Beruf einer Kindergärtnerin ergreifen wollen, 
auf Wunfh entweder in einem britten Semefter zu Nindergartenvorfieherinnen 
(Leiterinnen von Kindergärten oder Kinderhorten) vorbereitet, oder fie flellen fich zur 
Aufnahmeprüfung für die zweite Klaſſe eines im Lehrplan fih an das Comeniushaus 
anfchließenden Lehrerinnenfeminard. Für junge Mädchen, die Lehrerin werden wollen, 
kommt deshalb das Comeniushaus beſonders in Betracht. 

Die Anftalt ift alfo eine Vereinigung von breierlei verſchiedenen Veranftaltungen. 
Eie ift erftend ein Mädchenpenſionat zum Zived der Erziehung und Allgemeinbildung, 
fie if ferner ein Kindergärtnerinnenfeminar, umd fie ift endlich die Unterklaſſe eines 
Lehrerinnenſeminars. 

Solche Verbindungen können ſehr feſte ſein und die Geſamtheit aller einzelnen 
Teile tragen, nicht nur, wie verſchiedene Stride zuſammengeſchlungen erſt ein jeſtes 
Seil geben, fondern auch mie ein und dasjelbe organiidie Leben die einzelnen Aſte 
durchdringt. Das wird der Fall fein, wenn ein gemeinjamer Grundgedante ſich nad) 
den verfchiedenen Richtungen bin organiſch gliedert. Im andern Fall werden die ver: 
fchiedenen Zwede ſich nur einander widerſprechen. 

Nun aber glaube ih, dar die Vereinigung dieſer Zwede hier eine durchaus 
glüctiche it, und fie bat fich zum größten Teil bereits als eine ſolche eriwieien. 

Unſere Familien, die ihre Töchter au& allerlei Grünten auf ein Jahr in Peniion 
zu jenden pflegen, abnen großenteils nod nicht, welche erziebliche Bedeutung ein ſolches 
Jahr für die jungen Mädchen notwentigerweije bat. Tas Penñonsjahr erzieht, aber in 
vielen Fällen verzicht e3 auch. Es fommt deshalb darauf an, hier einen wertvollen erzieh: 
lien Grundgedanken zu geben, damit Das Jahr wirklich einen wertvellen Ertrag für 
das Leben abwerie. Nun verteben es die Eltern meiit leicht, daß es wunſchenswert ilt, 
daß das junge Mädchen ſich gejellihaftlib weiterbilde — darum ſind bie Lurus: und 
die Sprachen⸗ Penñonate noch immer ſebr beliebt —, aber fie lernen es aub in 
fteigendem Maße veriichen, dab Das Leben an die jungen Wädchen wirticäftlide 
Anforderungen jtellt, und namentlib den Müttern it es recht erwunicht, wenn tie 
Töchter gut die Hauswirtſchaft lernen und darin die Mutter unterrägen fennen. 

wi 


419 


— Harie Htritt. > 
Ika Frendenberg. 


Radbrud verboten. 


B ift für einen jeden, der ein fehwieriges und verantwortungsvolles Amt antritt, 
eine bedenkliche Situation, einen Vorgänger zu haben, der in befonder3 hohem 
Grade Anfehen, Vertrauen und Verehrung genoffen hat; doppelt bedenklich, wenn 
diefe jo ganz ausnahmsweiſe verehrte Perfünlichkeit den betreffenden Poften geichaffen, 
zum erftenmale bekleidet und dadurch fo fehr mit fich identifiziert hat, daß es vielen 
ſchwer wird, ſich überhaupt an den Gedanken einer Veränderung zu gewöhnen. 

Alle Beforgniffe diefer Situation mag Frau Marie Stritt durchgekoftet haben, 
als die Aufforderung an fie herantrat, zuerft proviſoriſch, dann definitiv die Stelle 
einzunehmen, von der aus feither Augufte Schmidt den Bund deutſcher Frauenvereine 
mit der ihr eignen, unvergleichlichen Würde geleitet. Und es mag bed Zuredens 
genug bedurft Haben, biß fie ſich entichloffen hat, zu ihrer ohnehin außgebehnten, viel- 
feitigen Thätigfeit noch die Arbeitslaft, die enorme Verantwortung auf fih zu nehmen, 
die Augufte Schmidt, bei ihren großen Aufgaben als Vorfigende des Allgemeinen 
Deutfchen Frauenvereind, nicht länger tragen konnte. Denn es liegt auf der Hand, 
daß die Anfprüche, die der Bund an die Geifted: und Nervenkraft feiner Vorfigenden 
flelt, von Jahr zu Jahr größer werden. Mit dem Wachfen der Frauenbewegung 
wachſt auch das zu überfehende und zu beherrichende Arbeitögebiet des Bundes in 
außerorbentlichem Maße. Innerhalb diefes Arbeitsgebiete prägen ſich die einzelnen 
Intereffen immer fchärfer aus; Gruppen fchließen fi) zufammen und verlangen Ber: 
fändnis für ihre fpeziellen Bedürfniſſe. Nachdem die Fundamente der Bundeseinheit 
ihre Seftigfeit und Dauerhaftigfeit bewährt haben und ein Gefühl der Sicherheit 
Plag gegriffen hat, wollen die einen den inneren Ausbau der Organifation befchleunigen, 
die andern ziehen ein langjameres und bebächtigeres Fortfchreiten an der Hand ber 
Erfahrung vor. AN diefes In: und Aufeinander-Wirken der mannigfachen Tendenzen 
und Parteiftrömungen ift natürlich und erfreulih — wenn es auch mitunter zu über- 
füffigen und unerquidlichen Komplikationen führt — denn auf ihm beruht ja das innere 
Leben de3 Bundes; aber melche Aufgabe für die eine, die über allem ftehn, alles 
erfennen und begreifen und jedem gerecht werben fol! — Marie Stritt hat zwei 
Jahre lang, vom Hamburger (1898) bis zum Dresdener Bundestage (1900) die 
Geichäfte interimiftiich geleitet und ſich in diefer Zeit die gründliche Erfahrung und 
Sachkenntnis erworben, die fie befähigte, als Vorfigende der Dresdener Verſammlung 
dem großen Ganzen ber vielgeftaltigen Bundesthätigfeit in jeder Weile gerecht zu 
werden. Die freudige Anerkennung der Delegierten fam denn auch in der einmütigen 
Wahl durch Acclamation zum Ausdrud, 

a7* 


Marie Stritt. 421 


Einfluß weitreichender Arbeit dahin gewirkt wird, die große Maſſe der Frauen aus 
ihrer Unſelbſtandigkeit, Unfreiheit und Wehrloſigkeit aufzurichten. 

Daß der Dresdener Rechtsſchutzverein, in dem mehrere ungewöhnlich tüchtige 
Kräfte der Vorſitzenden zur Seite ſtehn, auch in einem weiteren Sinne für Frauen— 
rechte eintritt und eine vielſeitige allgemeine Propaganda entfaltet, verficht fih von 




















%- = 


Marie tritt. 





ſelbſt. Die freieren fächfiihen Vereinzgefege geben ihm ja in mancher Hinficht eine 
etwas günftigere Stellung, als fie die Vereine der andern deutſchen Staaten zur Zeit 
noch befigen. 

63 hieße die Wirkjamfeit Marie Etritts nur unvolitändig charakterifieren, wenn 
man nicht erwähnte, daß fie jeit dem Tode von Jeannette Schwerin Herausgeberin 
des Bundesorgans, des „Centralblattes“ ift. Hiermit war ein wichtiger Teil Bundes: 





uw 


Die Beſtimmungen über das Univerfitätstusium 
der Frauen in Dentſchland, SMerreih- Ungarn und in 
der HSchweiz. 


Dr. 5. Hausmann. 


Naqhdrua verboten. (Eihluf von Zeite anen 


F- Öfterreich war durch eine Verorbnung des Minifteriums fir Kultus und 
z Unterricht vom 6. Mai 1878 feftgefegt worden, daß von allgemeiner Zulaſſung 
der Frauen zum Univerfitätäftudiun. feine Rebe fein Zünne, daß aber nad) zwei 
Richtungen Ausnahmen ftatthaft feien: einmal könnten mit jebesmaliger, befonderer 
Ermächtigung des Minifters beftimmte Vorlefungen ausſchließlich für Frauen eingerichtet 
werden, fobann bürften ausnahmsweiſe Frauen zu einzelnen Worlefungen augelaffen 
werden buch Genehmigung der Fakultät im Einverftändnis mit dem betreffenden 
Lehrer. , Die auf letztere Weife zugelaffenen Frauen, heißt es dann ausdrüdlich in 
ber Verorbnung, gelten weder als ordentliche, noch als außerordentliche Hörerinnen, 
es wird ihnen nur ber faktifche Beſuch einzelner Vorlefungen geftattet, fie erhalten 
darüber keine amtlichen Dokumente und feine amtliche Beſuchsbeſiatigung, birfen alfo 
auch zu feinen Prüfungen zugelaffen werben. 

Diefe Beftimmungen haben erft durch einen Minifterialerlaf vom 23. März 1847 
eine Abänderung und Fortbildung erfahren. Im allgemeinen werben fie in biefem 
Erlaß aufrecht erhalten; für die philofophifchen Fakultäten aber wird nunmehr die 
Zulaffung der Frauen al3 ordentliche und als außerordentliche Hörerinnen feſtgeſebt. 
Gemeinfame Vorausſetzung für beides ift die öfterreichifche Staatsbürgerfchaft und die 
Zurüdlegung bed 18. Lebensjahrs in dem Kalenderjahr, in dem die Einfchreibung 
beantragt wird. Ausländerinnen find alfo nad mwie vor von biefer Vergünſtigung 
ausgeſchloſſen. Die Einfchreibung als ordentliche Hörerinnen fegt dann weiter bie 
erfolgreiche Ablegung einer Neifeprüfung voraus, bei der genau bie Anforderungen 
wie bei denen der jungen Männer geftellt werben. Tiber die Zulaffung entfcjeidet der 
Dekan der Fakultät, bei Nichtzulafiung ift Rekurs an das Aultusminifterium zuläffig. 
Bei dem Verlaſſen der Univerjität wird dieſen ordentlichen Hörerinnen von dem 
Delan ein Abgangszeugnis außgefertigt, ohne das fie an einer anderen Univerfität 
nicht angenommen werden bürfen. Nach vierjähriger Studienzeit fünnen fie unter den 
gleichen Bedingungen wie die Männer zum Doltorat der Philoſophie zugelaffen 
werben. ALS außerordentliche Hörerin wird eingejchrieben, wer zwar nicht eine Reife⸗ 
prüfung, wohl aber die Prüfung einer Lehrerinnenbildungsanftalt oder beitimmter 
böherer Mädchenfortbildungsichulen, die von dem Minifter von Fall zu Fall ala 
gleichwertig anerfannt werden, beitanden hat. Dieje außerorbentlihen Hörerinnen 
müjjen mindeftens zebn Vorlefungsitunden per Woche belegen. Die Erlaubnis zum 
Beſuch einzelner BVorlefungen fann ‚rauen nur ausnahmsweile auf Antrag eines 
Dozenten von dent Profeiiorenfollegium geftattet werben. 

Einen merfwürbigen Begentng zu dieſer Behandlung der Frauen bei der 
philoſophiſchen Fakultät bildet die Thatjache, daß bei den mediziniſchen Fakultäten in 
Üfterreich die Frauen das Doftorat bis vor furzem überhaupt nicht unmittelbar 
erwerben fonnten. Nah dem Minijterialerlag vom 19. März 164% fonnte das 


Die Beftimmungen über dad Univerfitätäftubium ber Frauen in Deutichland :c. 425 


Beftimmungen, als bier auch Ausländerinnen in der philofophifchen Fakultät als 
ordentliche ober außerordentliche Hörerinnen eingejchrieben werden können; dabei ift 
aber in jedem einzelnen Fal von dem Profeforentolegium die Genehmigung des 
Minifteriums einzuholen. 


* * 
* 


Am früheſten iſt die Zulaſſung der Frauen zur vollgiltigen Immatrikulation an 
ſchweizeriſchen Univerfitäten erfolgt: in Zürich im Jahre 1867, in Genf 1872, in 
Bern 1874. Un allen dreien find die Frauen grundfäglid) in den Pilichten wie in 
den Rechten mit ben Männern auf gleiche Linie geftellt worden. In Zürich haben 
die Angehörigen des Kantons ein Maturitätszeugnis, die übrigen aber Zeugniſſe vor- 
zuweiſen, bie nicht wefentlich geringeren Wertes find. Außerdem müſſen die legteren 
das 18. Lebensjahr zurüdgelegt haben und, wenn ihre Mutterſprache nicht die deutiche 
ift, fi über ein genügendes Verftändnis berfelben ausweifen, fei es durch Zeugnifje 
in: oder auslandiſcher höherer Bildungsanftalten oder durch cine befondere Prüfung. 
Natürlich genügen auch Abgangazeugniffe von ſolchen Univerjitäten, die ungefähr die 
gleichen Anforderungen an Vorbildung ftellen wie Zürich ſelbſt. Ebenfo find in Genf 
die Aufnabmebedingungen für Männer und Frauen völlig gleich. Auch bier wird in 
wejentlichen die Gymnaſialteife oder bei auswärtigen eine entfprecyende Vorbildung 
verlangt. Bei der Univerſitat Bern müffen Frauen, außer den Zeugniffen über ihre 
Ausbildung, noch den Nachweis über Vollendung des 18. Lebensjahres erbringen, 
fowie entweder durch eine beglaubigte Beſcheinigung ſich über den Zuftand eigenen 
Rechtes ausweiſen oder aber eine beglaubigte Einwilligung ihres Rechisvertreters bei— 
bringen, daß ihnen das Studium an einer Hocjichule geftattet it. An allen drei Hoch— 
Schulen werden auch jolche Frauen, deren Studienzeugnifje den für die Jmmatrifulation 
geltenden Beſtimmuͤngen nicht entiprechen, die ſich aber ſonſt über eine folde Vor— 
bildung ausweifen, daß fie den Vorleſungen folgen können, als „Hörerinnen” 
zugelaffen. In Laufanne wurden ſchon in ber Zeit, da es noch eine Akademie war, 
in vereinzelten Fällen Frauen geduldet. Seit ter Ummandlung in eine Univerfität, 
1890, werden bie nicht dem Kanton Waadt angehörenden Frauen als immatrikulierte 
Studentinnen zugelaſſen, wenn fie den Nachweis über den vollſtändigen und erfolge 
reichen Beſuch einer höheren Mädchenfchule erbringen; wenn fie ſich aber dem Staatẽ— 
eramen unterziehen wollen, müſſen fie entweder Gymnaſialmaturiiät nachweiſen oder 
falls fie letztere nicht volftändig befigen, fih einer Ergänzungsprüfung unteriverfen; 
bei den einheimifchen wird der erfolgreiche Beſuch der höheren Mädchenichule im 
Lauſanne felbft, die gleichzeitig ein Mädchengumnafium ift, und insbejondere Kenntnis 
der lateinischen Sprache vorausgefegt. Im gleichen Jahr, da Laufanne ih zu einer 
vollen Univerfität umgeftaltete, am 8. März 1890, wurde auch am der Univerfitit 
Bafel durch Beichluß des Negierungsrates den Frauen die Zulaffung zu der vollen 
Immatrikulation gewährt. Es wurde „verſuchsweiſe bis auf weiteres“ bejtimmt, daß 
Schweizerinnen und jolche Ausländerinnen, die ihre Ausbildung im Stanton Bafel 
erhalten haben, immatrikuliert werden können, wenn fie das 18. Lebensjahr zurüd- 
gelegt haben und ein Zeugnis der Neife befigen, „im Fall der noch nicht erlangten 
Mehrjährigkeit ift die Zuſtimmung des gefeglichen Vertreters erforderlich.” Die 
Erlaubnis, als Hörerinnen einzelne Borlefungen zu beſuchen, wird ſolchen Frauen erteilt, 
die „im Belig eines Fähigkeitẽnachweiſes find, der fie zur Bewerbung um Lehreritellen 
an den Primar: und Mittelfchulen des Kantons berechtigt” ; folche nicht immatrikulierten 
Hörerinnen werden aber nur bei der philofophifchen Fakultät zugelafien. Vei der 
Univerfität Freiburg endlich wird den Tamen nad) einem Beſchluß des Senats die 
Immatrikulation nicht gewährt, wohl aber werden fie bei allen Fakultäten als 
Hörerinnen zugelafien. 





Stärfer ald ber Tod. 


Lieber Freund“, hatte fie ihm erwidert, 
„bei dem liebenden Weib hört eben alle 
Theorie auf, da giebt's nur noch Praris, und 
die muß jebe felber finden”. 

Zivei Kinder wurden ihnen geboren und 
ftarben; zufammen hatten fie weinend vor den 
Särgen geftanden. 

„Ich danke Gott, daß er mir dich ließ, bu 
bift mir mehr als alles auf ber Welt“, 
ſchluchzte fie. Wortlos hielten fie fi um: 
ſchlungen, und fie wußte, fie waren verbunden 
in alle Ewigkeit; es gab nichts, mas fie 
ſcheiden konnte. 

Und dann waren ſchwere Jahre gelommen; 
langſam nahmen ſeine Geiſteskräfte ab, zu 
früh für fein Alter; fein Körper blieb rüftig. 
Was die Angft feines Lebens ausgemacht hatte 
in gefunden Tagen, es tar eingetroffen — 
er ward langfam zum Kind, und das 
Schredlichte war, er fühlte e8 Fommen. Sein 
Gedächtnis verließ ihm zuerft; da ward fie 
ihm feine rechte Hand bei feinen Arbeiten und 
verbarg ihm, fo gut es ging, daß fie es tar. 
Sie mußten fi einſchränken, feine Manuftripte 
wurden ihm zurüdgeichidt; fie mußte, daß fie 
wiederlommen würden. Da fchrieb fie um 
fo eifriger, um das fehlende zu erſetzen. 
Man fragte den Arzt, er beruhigte ben 
Kranken. 

„Was iſt das Ende?“ fragte Eliſabeth 
vor ber Thür den bewährten Freund. 

„Seniler Schwachſinn“. 

Eie ward blaß bis an die Lippen, aber 
mit einem Scherzwort trat fie raſch wieder 
ins Zimmer; er ſollte nichts ahnen. 

Die Freunde des Mannes famen immer 
noch, Eliſabeths friſche Unterhaltung zog fie 
an. Da bemerkte fie, daß es ihrem Mann 
ſchwer wurde, dem Gefpräch zu folgen; fie 
ſchraubte es auf ein niebreres Niveau herab, 
und nad) und nach famen die Freunde feltner. 
Es mar aud) fo traurig, biefen Verfall mit 
anzufehn. So vereinfamten fie immer mehr; 
der Doktor ließ feine Frau faum aus dem 
Haus; mit dem Egoismus des Kindes 
Hammerte er ſich an fie an und fühlte ſich ver: 
laſſen und einfam ohne fie. Schließlich wurde 
er vollftänbig ftunpf. 

Bei alledem war fie nicht ganz unglüdlic. 


Nah wie vor fühlte fie ſich ihm in tieffter ; 





427 


Seele verbunden, nur manbelte fie jetzt im 
Glauben und nit im Schauen. Was fie vor 
fi$ fah, war nur feine Hülle, bie fie mit 
Kiebe pflegte, wie man Gegenftände, die ges 
liebten Toten gehörten, behanbelt. 

„Wo ift feine Perfönlichfeit, diefer große, 
edle Geift geblieben?“ fragte fie ſich oft. 
„Hat er fi in das tieffte Innere zurüds 
gezogen, und fann fein Feuer die alt und 
untüchtig getvordene Hülle nicht mehr durch⸗ 
ftrahlen?” 

Dit fah fie ibn an, fchaute ihm in bie 
blöben, erloſchnen Augen mit einer Liebe, die 
dur Mauern brechen zu fönnen meint. Er 
verftand fie nicht und blinzelte ſcheu nach ihr 
bin. Trotzdem teilte fie ihr ganzes geiftiges 
Leben mit ihm, nur fonnte fie, was fie bes 
wegte, nicht mehr in Worte fallen. Eie 
mußte, mir find untrennbar, wenn auch jeßt 
feine Mitteilungskraft erlahmt ift. 

Leidet er, daß es fo it? Vielleicht — 
ja gewiß; mie muß ihm grauen vor feinem 
häßlichen Kleid. Aber fie kann es ihm leichter 
machen durch Glauben, fie fehaut nicht auf 
die Zumpen, mit denen der blöde Körper den 
unfterblichen Geiſt bebedt; fie liebt ihn, fein 
innerftes Wefen, fein wahres Ich; nicht das 
Bettlerfleid, das jegt alle von ihm abftößt. 

Schredlich iſt's ihr, wenn andere in feiner 
Gegentvart über ihm reden. Vielleicht bäumt 
ſich jegt ingrimmig der arme, gefangene Geift 
auf, er nimmt alle Kraft zufammen, und ein 
blöbes Lächeln ift das Refultat — ein Künftler, 
der einem verborbenen Inſtrumente ſchrille 
Miptöne entlodt. 


* * 
— 


Der Greis im Seſſel regt ſich, ſeine Augen 
blicken nach Eliſabeth; dieſe erloſchnen, thränenden 
Augen thun ihr weh. 

Er will ſich erheben, die Dede rutſcht auf 
die Erde. Liebevoll fpringt fie hin, Hilft ihm 
auf und lächelt ihn an: 

„But geſchlafen, Lieber?” und freundlich 
ftreicht fie ihm über das Haar. 

„Jetzt trinfft du deine Milh, und dann 
gehn wir in den Garten“. 

Der Alte nidt und lat: „Ja — ja — 
Milch — — tr... trinfen — —“ er lallt 
mie ein Kind. 


428 


Elifabetb eilt in die Küche und Tommt 
bald mit dem Eſſen wieder. Sie muß. ihn 
füttern, wie ein Meines Kind; er fchmast, 
und die Milch rinnt in feinen Bart. Gebuldig 
trodnet fie die Tropfen ab und ermuntert 
ihn zum Weitertrinten: „Gute Mil, ſüße 
Milch!“ 

„Gute Milch“, ahmt er nach und trinkt. 

Er iſt fertig! Eliſabeth ſchließt einen Augen⸗ 
blick die Augen vor dem traurigen Anblick 
und jagt leife:. 


„Dein Friedrich, mein Lieber, mein Lieber 


— ich bin bei bir, ich verlaſſe dich nicht“. 

Die Thränen drängen fih ihr in bie 
Augen, der Greiz ftarrt fie verftändnislos an. 
Dann rafft fie ihre Korrefturbogen zufammen, 
fie müflen beute noch erledigt werben, und 
liebevoll den Arm um ibn legend und ihn 
ftügend, verläßt fie das Zimmer, um ihn in 
den Garten zu führen. 

* % * 

Monate find vergangen, und Friedrich 
Weidner liegt auf dem Sterbebett. Durch die 
offnen Fenſter weht ein lauer Frühlingswind, 
bläbt die weißen Vorhänge auf und führt den 
Duft der blühenden Akazienbäume ing Kranken⸗ 
zimmer. 

Elifabeth figt im Lehnſtuhl, ihr Geficht ift 
noch blafjer geworden, und tiefe Ringe liegen 
um ihre Augen; es ijt lange ber, daß fie ge- 
fchlafen bat. 

Der Kranke ift unruhig; leis und ober⸗ 
flächlich geht der Atem. Haar und Bart find 
ganz weiß geworben, die Züge fcheinen hagerer, 
und ſtark tritt die edel gebogene Nafe hervor. 
Die Augen find halb von den Lidern bebedt, 
und die abgezehrten, blaſſen Hände mit den 
Inochigen Gelenken fcharren raftlo8 auf der 
Dede, zupfen am Leintuch oder greifen ängjtlich 
in die Luft. 

Eliſabeth ift „ehr gefaßt”, fo jagen bie 
teilnehmenden Beſucher und wundern fich ein 
wenig; man mar fo gewohnt, fie ala Ehe. 
heilige zu verehren; — nun, es ift ja fein 
Wunder, nad drei fo fchredlichen Sahren, 
— die Erleichterung ift ihr zu gönnen, und 
fie ift noch fo jung. 

Verſtändnislos hatte fie zuerſt die An- 
deutungen der Belannten entgegengenommen, 


Stärker ald der Top. 


enblich begriff fie. Ein feines Lächeln ohne 
Bitterfeit hatte um ihre Lippen gefpielt, aber 
fie fagte nichts, nur die dunfeln Augen 
ſchauten mit einem klaren Blid, aus dem bie 
ganze Freiheit ihrer Seele leuchtete, den 
Beſucher an, ſodaß der das unbehaglicdhe 
Gefühl nicht los warb, foeben etwas fehr 
Unpaffendes gefagt zu Haben; er empfahl 
ſich eilig. 

Es iſt fehr ftil im Kranfenzimmer; ein 
Bienchen Tommt durchs offne Fenſter und fucht 
ängftlid) brummend einen Ausweg. 

Eliſabeth jißt regungslos neben dem Kranken⸗ 
bett; ihr ganzes inneres Tongentriert fi auf 
einen Gedanken: wird er fie vor feinem Tod 
noch einmal grüßen, wird er ihr ein Zeichen 
geben, daß er ihr feelifch nahe ift, daß er ihre 
Liebe fühlt und erwibert? In den le&ten 
Wochen bat fie fein einziges Erkennungs⸗ 
zeihen mehr von ibm gehabt; mie eine 
Mafchine, die langfam ihr lebte Feuer aus: 
atmet, erſchien ihr der Körper des geliebten 
Manns. Nun war die Stunde gefonmen, in 
der der gefeflelte Geift endlich frei werben 
folte von der langen, ſchweren, Gott allein 
weiß, mie ſchweren Laſt. 

Die Atemzüge des Sterbenden werden be: 
Hommener, unruhig wirft er fein Haupt hin 
und ber. Eliſabeth erhebt ſich und ergreift 
feine zudenden Hände, ihre Lippen bewegen 
ſich tonlos, ihre Seele fpricht zu feiner Seele: 

„Mein Geliebter, fühlſt du, wie ich bir 
nabe bin in biefer fchredensvollen Stunde; 
ach, wenn Liebe diefen Weg erleichtern kann, 
fo ift er dir erleichtert. Ob, könnt ich mit 
bir gehn, meine Hand in deiner Hand. Ach, 
nur einmal noch deine Stimme hören, einmal 
dir ind Auge bliden. Hörſt du mih? Ich 
weiß, daß du mich hörft, und wenn bu mich 
nicht börft, mich jeßt nicht hörft, jo weiß ich, 
daß es Täufchung war, nichts könne uns 
ſcheiden. — Friedrich, Lieber, Guter, anttvorte 
mir, deiner Elifabeth!” 

Sie ſah ihn flebend an. Er war ganz 
ftill geworben, als ob er den unbörbaren 
Worten gelaufcht habe. Nun flog ein Bittern 
durch den Körper, angſtvoll und feuchend ging 
der Atem, er öffnete den Mund und ſchloß ihn 
wieder, Schmeißtropfen ftanden auf feiner 
Stirn. eine Augen ivaren meit offen, eine 

















Ankunft des Morgens. 


fürchterliche Angft glomm in dem ftarren 
Blid, mit dem er fi) in Eliſabeths Augen 
einzubohren fuchte. Seine Hände zudten, der 
ganze Körper ſchien einem inneren Gebot ger 
horchen zu tollen; mehrmals öffneten und 
ſchloſſen fi die Lippen, enblid ein Laut: 
"2... . liebe”. 
Elifabeth liefen die Thränen über die 
Wangen, „ichdanfedirriebrich, mein Friedrich”. 
Der Eterbende war zurüdgefunfen, Friede 
breitete ſich über fein Gefiht, die Augen 
ſchloſſen fi wieder. Cie beugte fi über 
ihn und Füßte ihn, dann nahm fie ftill 
ihren Platz ein, ihre Hände hielten bie 
feinen, ber Blid kehrte fi) nach innen. Ihre 
ganze Seele, ihre ganze Kraft war nun bei 
dem Geliebten; fie fpürte nicht® mehr vom 
eigenen Leben, all ihr Denken und Fühlen 
mar bei ihm, half ihm die Feſſeln abftreifen. 
Der Atem wurde röchelnd und ſetzte aus; 
"Elifabeth rührte fih nicht; er begann von 
neuem unb blieb immer öfter aus, immer 
ſchwaͤcher hob und fenkte ſich bie Bruft, einige 
Tropfen ſchwarzroten Bluts rannen in ben 
weißen Bart, und fcließlih war's ftill, 
ganz ftil. 





49 


Auch in Eliſabeths Eeele ift es ſtill. 
Wohl kann fie den Thränen nicht wehren, da 
nun das letzte fihtbare Band, das fie mit 
dem Freund verbunden hatte, geriſſen ift, aber 
im Grund ihre Herzens rubt ſchweigend ein 
tiefes Danfgefühl, daß ber Geliebte durch 
dieſes Thor durch ift, und ihr noch ein Zeichen 
feiner Liebe gegeben hat. 

Ihr ift feierlich .zu Mut, wie einft an 
ihrem Hochzeitstage. — Wie vernadläffigt 
diefe Kleidung ift, denkt fie, da® mürde ihm 
nicht gefallen, gern fah er fie ſchön. 

Von der Etraße tönt ber Jubel der 
fpielenden Kinder; fie löft ihre Haare auf, die 
fie wie ein Mantel umgeben; wie hatte er es 
geliebt, damit zu fpielen. Träumend betrachtet 
fie ihr Spiegelbild; plötzlich weiß fie, er fteht 
neben ihr, ſchaut mit ihr in das Glas, mie fo 
oft in glüdlichen Tagen; faft meint fie, feinen 
Atem zu fpüren. Tünen nicht Worte an ihr 
Ohr? Sagt er nicht „mein Liebling, mein 
Liefel?” Nein, mit dem Ohr hat fie es nicht 
gehört; mit dem Herzen hat ſie's vernommen. 
ie lächelt in den Spiegel, ald grüße fie den 
Geliebten, und leiſe flüftert fie vor ſich hin: 
„Ja, Liebe ift ftärker ald der Tod“. 


—— 


Ankunft des Forgens. 


Wenn und Wipfel erwachen. 
Kräufelnd wiegt jich die Flut. 


Rofenbeladener 


Nahen, 


Silbernes, fel’ges Lachen — 
Schaut, wie der Morgen auf Rofen ruht! 


Sanftes, beruhigtes Bleiten, 


Cocken, perlend von 


Tau. 


Purpume Schleier breiten, 
Segnend die Einfamteiten, 
Liebende Eaften aufs Dämmergrau. 


öitternde Klänge erhuben 

Schwingen fchwebend zum Ficht. 

Nadte und rofige Buben 

Blafen auf goldenen Tuben: 

Erde, wie fchön ift dein Angeficht! 
Erde, wie fchön ift dein Angeficht! 


Maurire von Stern. 


VAN 


Der Gemüfebau im Hausgarten 431 


Bliden wir die Gemüfenrten einzeln genauer an, fo finden wir als die begehr- 
lichften die Weiß: und Rotkrautarten und ben Blumenkohl. Ale brei produzieren 
im Verhältnis zur wildwachſenden Braffica-Pflanze enorme Blätter refp. fleifchige 
Organe, die nur bei ftarfer Nahrungs: und Waſſetzufuhr fich zart, ſchnell und groß 
entwideln. Alle drei wollen in ihren Früh: und Spätjorten forgfältig gepflanzt 
werben; fie können, wie auch die Wirfingarten, falls zur Frühkultur feine warmen 
Miftbeete zur Verfügung ftehen, ſchon im Oktober außgefäet, in kalte Fenfterbeete 
pifiert und darin durchwintert werden. Sie liefern dann, im Mai ausgepflanzt, im 
Juli fertige Köpfe. 

Der Beirfing iſt ja etwas genügfamer, dankt aber auch die forgiame Pflege 
durch ſchön entwidelte Köpfe. Die verichiedenen Sorten biefer Kohlarten find in 
jedem Samenverzeichnis angegeben; man hält fih am beften an bie altbewährten an 
ben betreffenden Orten eingebürgerten. Die mit viel Reklame angepriefenen „Neuheiten“ 
wollen mit der größten Vorficht geprüft werben. 

Dem Wirfing folgt der Roſenkohl, der fi ſchon mehr dem fehr genügfamen 
Grünkopl nähert. Wer feite Röschen wünfcht, giebt aber auch bier genügend Dung 
und Wafler, vor allem aber freien Standort, fo daß das Licht den Stengel mit den 
Nöschen beicheinen ann. Man fegt am beften nur je eine Reihe mitten auf ein Beet 
niebriger Gemüfe. Zum Herbft Hin werden bie großen Blätter bis auf den fiehen- 
bleibenden Blattftiel abgefchnitten. Die Kronenblätter bleiben figen. 

Der nun folgende Grüntohl wird ala Nachfrucht gebaut, da er meiftens nur 
Wintergemüfe ift. (Im Süden auch im Sommer). Der niebrige ift in Schneewintern 
am ficherften vor Hafenfraß, oder es müßte der Grün und der Roſenkohl im Winter 
in der Näbe des Haufe eingeichlagen werben. Zu ben Koblarten zählt dann noch 
der Kohlrabi, der in feinen Frühſorten, je nachdem man nur die Stengel-Stnollen 
oder auch dad Grün benugt, Hle ober weniger eng gepflanzt werben kann; bie großen 
Spätforten müſſen weitläufig ftehen. 

A Die Rohlrübe kann mie Grünkohl behandelt werden; fie wird Ende Mai 
gepflanzt. 

Unter den ‚Dlattgemüfen folgen nun die Spinate. Hier ift für Herbft und 
Winter der gewöhnliche Spinat maßgebend. Er wird breitwürfig im Auguft ausgefäet. 
Bewirkt im Frühling die fteigende Sonnenwärme ſchnelle Blütenbildung, fo bietet der 
Neufeeländer Spinat den beiten Erjag. Diefer wird in Blumentöpfen außgefäet und 
Mitte Mai auf 5 cm Abftand ausgepflanät, Die Blätter werden einzeln abgepflüdt. 
An einigen Orten wird der grünblättrige Mangold, an anderen die großblättrige 
Melde als Spinat genoffen. Die übrigen hier und da als Spinat benugten Kräuter 
bedürfen feiner befonderen Beete, jondern werden, wo fie befannt find, gelegentlich in 
Heinen Quantitäten audgefäet. ö 

Es find nun noch die Salatfräuter übrig. Hier fteht der Kopfſalat obenan. 
Es giebt unzählige Abarten desfelben, von benen die für den befonderen Gefchmad 
gewünfchten ausprobiert werden müflen. Sie werden im Sommer meiftens als 
Zwiſchenfrucht zwifchen Sellerie zc. außgepflanzt und lieben reichlicheg Gießen. Früh: 
falate laffen ficy leicht im Miftbeet treiben. Diefe Sorten wie die Treibgurfen find 
in den Samenverzeichniffen beſonders angeführt, fie taugen, mie jene, meiftens nur 
für die Treiberei. Dann find die Winterfalate bei Dftober:Ausfaat leicht zu durch 
wintern. Sie geben im Mai gute, aber nicht ganz zarte Köpfe. Das zu fchnelle 
Auffchiegen verhindert man durch Halbdurchſchneiden der Stengel. Abarten des Kopf: 
ſalats (Lactuca) find der Pflüdjalat und der Spargelfalat, beides aufſchießende 
Pflanzen; von erfterer genießt man die abgepflüdten Blätter, von letzterer die Stengel 
ſelbſt, folange fie noch zart find. Das kann übrigens bei jedem aufgeſchoſſenen 
Salatkopf geichehen; die Stengel haben aber durchaus nicht den Nährwert der Spargel, 
wenn fie auch jo zubereitet werben. 

Der Schnittſalat ift ein ſchnell wachſender, aber nicht Topfbildender Salat, 
der fi im Zimmer, in Käften ausgejäet, gewinnen läßt. Salatausfaaten müſſen wie 
3. B. NRadiesausfaaten während des Sommers wiederholt werden. 


Der Gemüfebau im Haudgarten. 438 


Eine noch viel zu wenig verbreitete ARübenart ift bie Kerbelrübe. Sie wird 
im September breitwürfig gefäet und im nächſten Sommer derart geerntet, baß man 
nach Abfterben der Triebe die obere Erde durchfiebt und die Heinen Rübchen auslieft. 
Die Heinften runden können noch einmal gepflanzt werden. 

Die Kohlrübe (Stedrübe) habe ich ſchon unter den Koblarten erwähnt. Sie 
wird wie die Kohlarten außgefäet und auf ca. 40 cm Abftand gepflanzt. Sie leidet 
wie alle Kohle jehr am Raupenfraß. 

Den Beſchluß der rübenartigen Wurzelgemüfe machen bie Rettige mit ihrer 
Heinen reizenden Abart, den Radieschen. Die Rettige werden in den großen fpäten 
Sorten im Juni als Zwiſchenfrucht oder in Reihen mit 30 cm gegenfeitigem Abftand 
ausgefäet, die Heineren Sommerrettige fönnen enger ftehen, und die Radieschen werben 
dünn in Breitfaat den ganzen Sommer hindurch wiederholt auegeſäet, während ber 
heißeften Zeit nicht an zu fonniger Stelle. Beim Säen der Rettige werden in Heine 
mit dem Finger gemachte Löcher je 3—4 Korn eingelegt und von ben entleimenden 
Pflanzen nur je eine belaffen. 

Rettige müffen wie auch Radieschen ſchnell wachien, alfo genügend gegoffen werben. 
Letztere —8 ſich im Miſtbeet ſchon vom Januar ab treiben. 

Unter den knollenartigen Wurzelgemüfen fleht der Sellerie obenan. 
Er verlangt, wie ſchon erwähnt, ftarte Düngung, wird im März im Miftbeet aus: 
jefäet, pikiert und dann auf 50—60 cm Abftand ausgepflanzt. Das Hauptbebürfnis 
jeiner Pflege ift Wafler. Dies kann ihm kaum genug gegeben werden. Die Zwiſchen⸗ 
tulturen von Salat und Rettigen habe ich fchon erwähnt. Reinhalten von Unkraut 
und wiederholte Behaden find bei allen gepflanzten Gemüfen felbftverftändliche 
Verrichtungen. 

Der in England beliebte Bleichſellerie bringt Feine Knollen. Seine Behandlung iſt 
diefelbe, wie bie des Knollſelleries, nur muß er ohne Zwifchenkultur weitläufiger gepflanzt 
werden, da man ihn im Herbft durch Anhäufeln bleicht. Vorher werden die Blätter 
leicht mit Stroh umbunden, damit fie nicht ſchmutzig werden. Eine befiere Bleichmethode 
ift das Einfteden der Pflanzen in weite Drainröhren; die Spigen der Blätter dürfen 
hervorſehen. Die vielerort3 Fultivierten Erbbirnen (Topinambour) haben für die 
Küche geringen Wert, da fie zu weichlich find, um ald Erſatz der Kartoffel zu dienen. 
Die Knollen werden wie Kartoffeln gepflanzt, die hochgehenden Triebe im Herbft nad 
dem Gelbwerden abgeſchnitten; die nicht erfrierenden Knollen können nad Bedarf 
geerntet werden. 

Bierliche, Heine Knöllchen geben auch die Oralis, die ald Glüdsklee häufig in 
Töpfen verkauft werden; fie gedeihen im freien Lande fehr gut, die Knöllchen muͤſſen 
aber, in Sand eingeichlagen, —8 durchwintert werden. 

Der Meerrettig wird in Privatgärten faſt nur als Unkraut gefunden, und doch 
iſt es leicht, fehöne, lange Stangen zu erziehen. Man kauft von einer Erfurter 
Gärtnerei Sepftangen, legt fie möglichft wagereht in ca. 25 cm Tiefe in die Erbe, 
daß das bdidere Ende etwas hervorblidt und hält fie feucht. Im Auguft wird die 
Stange entblößt und durch Abreiben von den etwaigen Faſerwurzelchen gereinigt. 
Die am dünneren Ende fteil in die Erde gehende Wurzel bleibt erhalten und dient 
im näcjften Jahr als Setzſtange. Die wieder mit Erde bededte Hauptftange bildet 
fih bis zum Herbft zur ftarten Verbrauchäftange aus. Meerrettig verlangt tief: 
gelodertes Land; Zwiſchenkulturen find nicht ziwedmäßig. 

Der vor längerer Zeit mit vieler Reklame empfohlene Knollen=Zieft ift fehr 
bald aus ben Küchengärten wieder verſchwunden, da die Knöllchen zu Mein und zu 
meichfich find; aud wird die Pflanze zu leicht zum Unkraut, das man nicht wieder 
108 wird. 

Bataten, Ignamen und Erbmandeln, die in unfern Rolonieen vielfach als 
Gemüſe gebaut werden, gedeihen hier nur in warmen Miftbeeten und bringen nur 
wenig Knollen. Es folgen die zwiebeltragenden Gemüfe. Streng genommen 
find dies ja feine Wurzelgemüfe, da man die Zwiebelfchuppen, alfo die Blätter, 
genießt. Sie find aber wie die Wurzelftöde (Rhizome) der Knollengemüfe, Nährſtoffe 

28 


Der Gemüfchau im Hausgarten. B 435 


Reinhalten von Unkraut und Behaden macht bei Erbien und Bohnen bie 
Sommerpflege aus. Es ift aber durchaus faljch, wenn man fagt, fie dürften nicht 
gegoffen werden. Bei anhaltender Dürre wird eben alles gegoflen, fei es was e& 
wolle! Nur vermeidet man, die Blüten zu benegen; man täflert nur den Erdboden, 
diefen aber energifch! Die verichiedenen Sorten find in jedem Samenverzeichnid ge: 
nügend erflärt. Es find Cchneidebohnen, Brehbobnen und die ganz kleinen 
Perlbohnen. Es giebt faft von jeder Sorte Stangen: und Bufchformen, doch find 
die erfleren meiften® größer und ergiebiger. Bei den Bohnen dürfen nicht die fchönen, 
zu den Widen zählenden Ruffbohnen übergangen werden. Diefe werden zeitig im 
Frühjahr zu je 3—4 in 30 cm Abftänden mitteltief gelegt und entwideln ca. 1'/, m 
hohen Stengel. Daran erfcheinen die wohlriechenden Boten, denen breite, wollige 
Hülfen mit je 4—5 Bohnen folgen. Die fih ſtets an den Stengelfpigen einftellenden 
Blattläufe werden durch Abſchneiden der Spigen, fobald die eriten Früchte anfegen, 
vertilgt. Die Bohnen find folange brauchbar, als der Meine Nabel an der Spige 
noch grün ift. 

Die oft empfohlene Sojabohne ift für das norddeutſche Alima nicht brauchbar. 

Gehen wir zu_ den Fruchtfleifhgemüfen über, die namentlich durd Gurken 
und Kürbis repräfentiert werden. Die Kultur der Freilandgurken bedarf ſtark, 
aber mit altem abgelagerten Dung gebüngter Beete. Es werden Mitte Mai auf 
jedes Beet nur je eine Reihe Gurkenkerne gelegt, und die daraus entftehenden Pflanzen 
werben auf ca. 25 cm Abftand verzogen. Dann werden fie bis an die Samenlappen 
angehäufelt. Ehe fich die Triebe ausbreiten, können nebenbei noch Kopfſalat, Radieschen, 
Früßlartoffeln 2c. geerntet werben. 

Breiten fi die Triebe aus, fo bedeckt man das Beet mit altem Dung und 
pflegt nun die Gurken mit genügendem Gießen, wozu aber nur weiches oder mindeſtens 
einen Tag an der Sonne geftandenes Waſſer benugt werden darf. Zu Salat werden 
Schlangengurfen, zum Einfäuern mittellange Gurfen gezogen; Eſſiggurken 
werben von den fog. Traubengurfen bereitet, oder man nimmt die Heineren Früchtchen 
der beiden ebengenannten Arten. Azia und Zudergurlen werden aus dem Fieiſche 
völlig außgereifter Früchte bereitet. Hiernach kann fi jeder bezüglich der 
anzubauenden Sorten richten. . 

Den Schluß meiner Betrachtung möge ber Kürbis bilden, da die Melone fi 
bei und nur in Miftbeeten erziehen läßt und bie Epargelfultur einer befonderen 
Beſprechung bebürfte. 

Der Kürbis laßt fih am beſten auf Kompofl oder Dunghaufen in fonniger 
Lage erziehen, auf dem die Kerne in ca. Im Nbftand gelegt iverden. Muß man 
Beete benugen, fo gleicht die Pflanzung der der Gurken bei größerem Abſtande. Bet 
der Pflege Heißt das Hauptbebürfnis Waller. Davon kann man kaum zu_ viel 
verabreihen. Die Früchte müſſen, da fie nur vollteif benugt werben, durd Unter: 
legen von Brettftücdchen vor Fäulnis befchügt werden; der hohle Ton beim Anklopfen 
zeigt die Reife an. “ 

iermit hoffe ich in der Kürze, die durch den Raum dieſer Zeitfehrift geboten ift, 
einen Überblid über die Produkte gegeben zu haben, die man dem Gemüjebau abgewinnen 
ann. Immer wieder heißt es tie bei jeder menfchlichen Thätigfeit, danach fireben, 
nur befte, volfommene Nefultate zu erzielen. Minderwertige Produkte verlangen 
denjelben Aufwand an Kraft und Zeit. 

Iſt e8 doch mit ben Obftgärten ebenfo. Wir laffen lieber Millionen nah 
Amerika wandern, ald daß wir una Mühe gäben, in unferen Gärten gleiche Erfolge 
zu erzielen, wo bdiefelben Grundlagen dafür gegeben find tie in Amerifa.. Warum 
geht’ in Süddeutſchland befier? Nicht etwa des Klimas wegen — dad Völkchen ift 
dort regſamer, und — ſich regen bringt Eegen. 


ae 


28* 


Ertverbötkätigteit, 


der Breite, Stärke und Mufterung der Ware abs 
hängt, fo ift doch bie Bewältigung von 240 Zuch 
in ber Minute eine Leiftung, bie und ftaunen 
macht, und dies um fo mehr, ald ein einfaches 
Rechenexempel und ben ftünblih vom Schügen 
zurüdgelegten Weg auf 25200 Meter angiebt. 
Biermal in der Sekunde fliegt der Schügen auf 
feiner Bahn hin und her; dem Auge nicht fichtbar, 
mit bligartiger Geſchwindigkeit, und ebenfo oft 
ſchlagt der Schlagbaum ben Schuß zu feinem Bor: 
gänger. Wie gering ift Biergegen bie Kraft ber 
Hand, bie es bei angeftrengteftem Fleiß auf höchſtens 
35—40 Schuß in ber Minute bringt. Gebenten 
wir nun noch der Maſchinen, bie fih beim Reißen 
aud nur eined einzigen Fadens felbftthätig aud- 
ſchalten und den ganzen Koloß im Augenblid zum 
Stilftand bringen, jo glauben wir bad Wiſſens⸗ 
wertefte gezeichnet zu haben. Im Handwebeſaal 
finden wir in entfprechend vereinfachter Art und 
geringerer Farbenpracht biefelben Stoffe wie auf 
den mechaniſchen Webftühlen. Auch Krimmer wird 
bier angefertigt. Doch wie mühfam ift dies alles, 
mie langfam geht der Schügen durch die Kette, 
und wie ſchwer Kommt ber Krimmermeber, ber 
jeden Stab zur Hervorbringung des Zuchs einzeln 
zwiſchen Kette und Schuß fticht, vorwärts! 

Aus der Weberei zur Wirkerei: und Pofamentier: 
Abteilung. In der Ausſtellung der Abteilung für 
die Wirkerei finden wir alles, was mit ber Be: 
zeichnung Untertleidung“ umfaßt werden Tann. 
Außerdem wird Trikot zu Turmanzügen hergeftellt 
und werben Felle imitiert, die dad teure Fell, 
wenigftend dem Auge, erfegen. 

In der Bofamentier-Abteilung finden wir eben: 
falls alle Erzeugnifie diefer Branche auögeftellt. 
Hälelarbeiten in reizenden Muftern, Schnüre, Be 
hänge und Duaften für Gardinen und Bortieren, 
Bandgürtel ıc. in reicher Auswahl. Hierzu die 
nötigen Nöppel, Hälek, Plattier-, Chenille- 
Maſchinen u. f. f. Ein den beiden legten Gruppen 
Gemeinfames ſcheint eine geringere Verwendbarkeit 
motorifcher Kraft zu fein; wird doch in ber 
Vofamentier-Abteilung fo mander Schügen noch 
mit der Hand durch die ja nur ſchmal aufgebäumte 
Kette gezogen. 

Roch drei Abteilungen, und nicht bie uninter- 
effanteften, giebt es in biefer, das Handwerk mit 
wiffenfchaftlicher Tiefe Ichrenden Schule und zwar, 
die Stiderei, Mufterzeichnung und das chemifche 
Laboratorium. Bevor wir jeboch auf diefe legten 
drei Abteilungen eingehen, wollen wir bie Zu: 
fammenfegung ber Schule, d. h. ihren Lehrförper, 
die Unterrichtöfächer und die zum Beſuch der Schule 
notwendigen Borbebingungen, Fury durchgehen. 

Die Schule zerfällt in Taged:, Abend: und 





487 


Sonntagskurſe und unterrichtet außer in den ſchon 
angeführten Abteilungen noch in ber Buchführung, 
Taufmännifchem Rechnen, Materiallehre und Gefehed: 
kunde (Gewerbe und Sozial:Gefeggebung). Die 
Schüler werben in Vollſchuler, Tagesſchüler und 
Halbſchüler, Sonntags: und Abendſchüler eingeteilt. 
Bon ben Bolfhirlern wird in ber Regel, mit 
Ausnahme der Stider: und Muſterzeichner, die 
Abfolvierung ber erften Alaſſe einer Realſchule 
verlangt. Es kommen bier in erfter Linie 
Fabritanten, Fabrildirektoren und folde, bie es 
werben wollen, in Betracht. Die anderen Kurfe 
find einem jeden gegen Hinterlegung des Schul: 
gelbes zugänglih. Zu dem Unterricht gehört 
Bindungslehre, Materiallehre, Muſterausnehmen, 
Montieren und Demontieren der Mafchinen und 
Webftühle und prattiſche Übung. 

Die Kurfe für Mufterzeichnen und Stiden find 
aud weiblichen Schülern zugänglich; das Schul: 
geld beträgt in den Kurfen für Mufterzeichnen für 
Preußen und Deutfche 60 Mark, für Ausländer 
800 Marl, für Stiden vierteljährlih 50 Mark. 
Diefe Angaben gelten für Tagesfhüler. Die Kurfe 
beginnen zu Oſtern und Michaelis ) und erftreden 
ſich beim Wufterzeichnen auf 2 Jahr, beim Stiden 
auf % Jahr. Außerdem wirb in beiden Fächern 
auch Abends und Sonntags unterrichtet, wobei bie 
Unterrichtöftunden nad ben Verhältniffen der 
Teilnehmer feftgelegt werben. Die Schule erteilt 
Zeugniffe über Betragen, Fleiß und Leiftung; 
den Teilnehmern der höheren Kurſe fteht es frei, 
fih einer Prüfung zu unterziehen ober nit. Der 
Lehrlörper befteht aus zwei Direktoren, Chemitern, 
Mufterzeichnern und Fachleuten. Das Unterrichtd: 
geld wird von Preußen, Deutfhen und Aus: 
ländern in ungleicher Höhe erhoben, Preußen 
zahlen am wenigſten. Doch nun zurüd und 
zur Stidere. Ein weißes Alastiffen mit Gold: 
ftiderei, ein volles Schilfbouquet mit goldgelben 
Bafierrofen darftellend, weiße Tifchgebede mit 
einem Blumengewinde in ber Mitte und herrlich 
ftififierter Randzeichnung, in allen Farben beftidte 
Vorhänge, Portieren und Lambrequind find aus: 
geftellt und nehmen dad Auge gefangen. Auch 
Soutache und Perlarbeiten auf Caped und Damen: 
jadetS find vorfanden. Auf einem Langen Flur 
find die verſchiedenen Spfteme ber Kurbelſtick- 
maſchinen aufgeftellt. Es werden fämtlihe Stid: 
arten (Tambour:, Mevos-, Einlagen und Zierftic) 
gelehrt. In der Abteilung für Muſterzeichnen finden 
mir geradezu Meifterwerte der Zeichen: und Mal: 
tunft. Unterrichtet wird in brei Semeftern und 
zwar im erften nad Vorlage; im zweiten nad) 

d In diefem Jahr am 15. April Proſpetie find in der 
Säule Loftenfrei erhältlich. 


Frauenleben und »Streben, 


daß es nicht mehr als hauptſächliches Nahrungs: 
mittel von den arbeitenden Klafien gefauft werden 
tann, fo werden dieſe zu einer bie Gefunb: 
heit gefährdenden Verſchlechterung ber 
Lebenshaltung gezwungen. Was können alle 
Gefege zum Schuß ber arbeitenden Klaſſe nügen, 
alle Berfuche, die Arbeiterin ihrem Haus, ihrer 
Familie, ihren Kindern zurüdzugeiinnen, wenn 
man ihr die Möglichkeit erſchwert, gefunde Träftige 
Kinder heranzuziehen; wenn man ihr mit ber 
einen Hand giebt, um mit ber andern zu nehmen? 

Eine Teuerung, bie ald unabwendbares Schidfal 
gebuldet und getragen werben müßte, wenn fie 
durch Mißernten oder Krieg verurfacht wäre, will 


man fünftli dur Zölle und Steuern herbei: | 


führen. Aus ſolchen Maßregeln würde aber nur 
einer Meinen Minderheit des ganzen Volles ein 
vorübergebender Vorteil erwachſen; weite Kreiſe 
ber Bevölterung würden ſchwer geſchadigt werben: 
auf bie Frauen aber wird bie Hauptlaft ber 
Verteuerung fallen! 

An alle deutſchen Frauen richten wir deshalb 
die Bitte, alles zu thun, was in ihren Kräften 
fteht, um die Sorgen und Mühen abzuwenden, die 
ihren Geſchlechtsgenoſſinnen durch eine Erhöhung 
der Getreibezölle auferlegt würden, der Not ent: 
gegenzutreten, mit ber biefe Maßregel unabweisbar 
die arbeitenden Volksklaſſen bedroht, ber Ber. 
tümmernng ber Broternährung, ber Berteuerung 
des täglicden Broted! 

Helene Lange-Berlin. Alice Salomen-Berlin. 
Auguſte Schmibdt:Leipzig. Anna Simfon-Breslau. 
Marie Stritt-Dreöben. 





* Der prenfifche Qultubminiſter hat in Sagen 
des Mäbdengyinnafiums unter dem 14. Januar 
folgenden Erlaß auögehen Laffen: 


Die Eingabe vom 5. Ottober v. Is. betreffs Er: 
richtung eined neunflaffigen humaniftifchen Mädchen: 
gummafiums in R., habe ich nach allen Seiten einer 
erneuten und forgfältigen Prüfung unterzogen. Ich 
erlenne die felbftlofe Abficht des Vereins, denjenigen 
Mädchen, welche fih afademifchen Studien widmen 
wollen, die Gelegenheit zu guter und grünblicher 
Vorbildung zu gewähren, gern an, vermag mid 
aber davon, daß ber gecignetfte Weg hierzu bie 
Gründung eines humaniftifhen Sollgomnafiums 
fe, um fo weniger zu überzeugen, als gerabe 
jegt in Berfolg des Allerhöchſten Erlaſſes von 
26. November v. Is. auf dem Gebiete bed höheren 
Schulweſens Wandlungen fi vorbereiten, welche 
die Vorausfegungen, von denen die Eingabe des 
Vereins ausgeht, in weſentlichen Punkten als bin 
fällig erſcheinen Laffen. Auch beruht es auf einer 
Pertennung des Wefend und ber Beftimmung der 
befteenden Gumnafialkurfe für Mädchen, wenn der 
Verein ihnen bie Aufgabe zumweifen will, mit ihren 

üferinnen in vier ober fünf Jahren den neun: 
jährigen Lehrgang des Gymnafiums zu durgeifen. 





439 


Ihre Aufgabe werden fie vielmehr darin zu erfennen 
haben, die beiden Bildungdgänge in organifcen 
Bufammenhang zu fegen und auf Grund der all: 
gemeinen Bildung, wie bie höhere Mädchenfchule 
fie zu gewähren vermag, in einer Lehrform, bie 
dem Berftändniffe erwachſener Mädchen entſpricht, 
ihre Schülerinnen zu den Sielen des Gymnafiums 
zu führen, nicht in ber Art einer Preſſe für die 
Reifeprüfung, fondern in georbnetem, imethodiſch 
fortfchreitendem Lehrgange, der naturgemäß auf 
diejenigen Gebiete fich Tonzentrieren wird, welche 
neu an die Schülerinnen herantreten. 

Ic vermag daher bie Genehmigung zur Er⸗ 
Öffnung einer Gymnaftalferta und einer Gymnafial- 
tertia für Mädchen in R. zu Oftern d. Is. nicht 
zu erteilen. 

Dabei vertenne ich keineswegs, daß bem 
höheren Unterrichte der Mädchen im Laufe ber 
Jahre neue Aufgaben erwachien find, und baf bie 
gegenwärtige Lehrorbnung der höheren HMäbchen: 
fulen, zunächft wenigftenß bie der höchftentwidelten 
Anftalten, einer zeitgemäßen Fortbildung fähig und 
bedürftig ift. Ih bin aber überzeugt, daß bie 
höhere Nädchenichufe, bie, den Bebürfniffen folgend, 
im weſentlichen ohne behördlichen Zwang und obne 
Prüfungsdrud, ald freie Bildung ſich entwidelt hat, 
allgemein als Einheitsſchule und al® Grundlage 
für weitere Bildungsgänge, welcher Art fie auch 
feien, erhalten bleiben muß, und daß ed ein ver: 
hängnisvoller Jrrtum märe, fie ihrem eigentlichen 
Berufe zu entfremmden, und von dem Bebürfniffe 
und ben Neigungen einer beichräntten Minderzahl 
die Bildungdeinritungen für die große Mehrheit 
der Mäbchen abhängig machen zu wollen.“ 

* Die Reform der höheren Mädcgenfchuie 
tam im Abgeordnetenhaus bei Gelegenheit der Be: 
ratung bed Aultusetats am 11. März zur Bes 
ſprechung. Die üblichen Warnungen ber Herren 
Dittrich, Shall und ihrer Gefinnungsgenofien 
vor weiteren Konzeffionen an die ſchon zu weit 
getriebene Frauenbewegung lonnen fuͤglich über: 
gangen werden. Von Intereſſe iſt die Ertlärung 
de Regierungstommiſſars Geheimrat Wae doldt. 
daß für die höheren Mädchenſchulen „eine Prüfung 
der Frage unumgänglich wird, ob ihr ganzer 
Bildungsgang und bie Art, wie fie lehren, noch 
den Forderungen ber Zeit entſpricht · Wir fönnen 
nur hoffen, baf durch bie geplante Mäbchenfhul: 
reform wirtlich die Möglichkeit geſchaffen wird, die 
niederen und höheren Lehrgänge zu verſchmelzen, 
geſchaffen nämlich durch eine gründliche Umgeftaltung 
des Unterbaued, auf den die Gpmnafialbilbung fid) 
zu gründen hat. 


I * Über den Ansfdhinf der Frauen von der 
Mitgliedfchaft der Geſellſchaft für foziale Re- 
form äußert fih die „Soziale Praris · (Spalte 
534 f. in Rr. 22) wie folgt: 

Bu ihrem lebhaften Bedauern hat die „Gefell: 
ı haft für Soziale Reform" zur Zeit auf bie Mit: 
; gliebfehaft der Frauen verzichten müffen. Nachdem 
! bie fonftituierende Verſammlung am 6. Januar 





Brauenleben und «Streben. 4l 


beichäftigt, find bereits weitere Kreiſe gewonnen 
worben. (frauen, die ben erften Berliner Geſellſchafts⸗ 
reifen angehören, Künftlerinnen und Borfigende 
don Frauenvereinen haben eine Anfrage an bie 
Inhaber der Berliner Koftüm:Detailgefchäfte ge⸗ 
richtet, um beren Stellungnahme zu ber Frage der 
Heimarbeit zu erfahren. Außer dem Berein ber 
Berliner Damenmäntel: und Roftüm:Detailgefchäfte 
haben 82 Gefchäftsinhaber die Anfrage beanttvortet. 
Die Mitteilungen ber Herren, bie allerdings ſehr 
twiberfprechend lauten, beftätigen bie Befürdhtung, da 
von vielen Geſchäften die Einführung reſp. Aus: 
dehnung ber Heimarbeit ind Auge gefaßt wird, um 
die Lohnforberungen der Arbeiter umgehen zu 
Tonnen. Die Kommiffion beſchäftigt fi nun damit, 
die Sache durch Herbeiſchaffung weiteren Materials 
zu fördern. Es wird über ben Verlauf der Be: 
wegung weiter berichtet werben. 


* Die Anftellung von Frauen in ber öffent 
lichen Armerpflege hat jegt auch der Charlotten: 
burger Magiſtrat beſchloſſen, nachdem fi früher 
bie Armenbireltion nahezu einftimmig dagegen aus: 
geiprochen hatte. Da die Charlottenburger Armen: 
bireltion heute einen ber Sache freundlichen Stanb- 
punft einnimmt, hat der Magiftrat bei der Stadt: 
verorbnetenverfammlung einen Antrag eingebracht, 
in dem er um Zuftimmung zu ber von ihm be: 
ſchlofſenen Zuziehung von Frauen zur öffentlichen 
Armenpflege erfucht. — Die Heranziehung von 
Frauen zur Armen: und Waifenpflege wird auch in 
Rirborf bei Berlin angeftrebt. Cine Berfammlung 
der Gemeindewaifenräte von Rixdorf und Brig 
faßte den Beſchluß, unter Hinweis auf die an 
anderen Orten, befonder® in Berlin, gemachten 
guten Erfahrungen den Rirdorfer Magijtrat auf: 
zufordern, Frauen zu ben unbefolbeten Gemeinde: 
ämtern heranzuziehen und mit der Anftellung von 
BWaifenpflegerinnen den Anfang zu machen. 


* Das Deutidhe Laud · Erziehungsheim für 
Mädchen (Leiterin: Frau von Peterjenn) am Stolper 
See bei Potsdam, das in ber Mainummer bed 
vorigen Jahrgangs ausführlich beiprochen worden ift, 
beginnt am 1. April fein neues GSommerfemefter. 
Bir entnehmen dem Bericht über dad vergangene 
BWinterhalbjahr zu unferer Freude, baf das Unter: 
nehmen ſich in den neuen, ihm beffer entfpredenden 
Räumligpteiten Träftig enttwidelt Hat, und empfehlen 
an diefer Stelle die Anftalt allen Eltern, die ge: 
nötigt find, ihre Kinder fortzugeben, aufs wärmſie. 
Um die Ziele des Deutſchen Land:Erziehungheims 
unfern £efern noch einmal in Grinnerung zu 
bringen, entnehmen wir ben kürzlich erfchienenen 
Mitteilungen ber Leiterin folgendes: „Wir wollen 
die Lörperliche Ausbildung der Mädchen in weit: 
gehendem Mafıe pflegen; denn das umfangreichite 
Säulwifien fann fie nicht entfcäbigen, wenn fie 
es im geringften mit irgend welchen förperlichen 
Nachteilen erfauft Haben. Wir fuchen dies zu ver: 





meiden durch: 1) größtmögliche Einfchräntung ber 
wiffenfchaftlicgen Arbeitägeit; wirb angefpannt ge: 
arbeitet und mit Aufmerffamteit, fo tann man da 
weſentlich abweichen von bem gewöhnlichen Maß; 
2) burd viel Bewegung im ifreien; dem dient 
unfere Garten: und Feldarbeit, die Pflege ber Tiere, 
Turnen, Rudern, Saufen, Radfahren, 8) durch Ab: 
Härtung, tägliches Baden, falt Abreiben, nicht zu 
warme Kleidung, gefunbe Betten (mollene Teen 
anftatt Federn), gefunde Ernährung (viel Wild, 
Eier, Mehlipeifen, Obſt, Fleiſch, fein Altopol, teine 
ftar! gewürgten Speifen). 

Gleich wichtig, wie die Pflege des Körpers muß 
und bie des Charakters fein, und wir haben und 
gefreut die Erfahrung zu maden, daß eine Ein: 
wirkung in biefer Richtung viel beffer möglich ift 
durch unfer inniges Zufammenleben mit den Kindern, 
al3 etwa in einer Tagedihule, wo außerhalb der 
Schulzeit unberechenbare Einflüffe auf fie einwirken. 
Die_fleipige Arbeit, die jede Stunde des Tages 
ausfüllt, läßt ohnehin ſchon nicht viel Rebenger 
danten auflommen und wenn man ben Kindern ge: 
nügend Freiheit läßt, felbft Teil nimmt an ihren 
Bergnügungen, Liebe und Aufmerkfamteit zeigt für 
alles, was fie angeht, nicht durch Strafen, ſondern 
durch Einfehenfernen zu wirten fuct, fo it faft 
alled damit zu erreichen. Mächtig fördert ferner 
ein der Eigenart entfprechender Unterricht und dad 
Betonen der ibealen Ziele bei demſelben. Doch 
nicht nur diefem idealen Biele fol Rechnung ger 
tragen werden. Die Frage: „Was willft Tu 
werben?“ ift bei und an der Tagesordnung. Wir 
wiffen, daß eine jede von und das Ziel ber 
Selbftändigkeit erreichen muß, je nachdem es ihren 
Fähigkeiten entfprit. Darin [lichen wir uns 
den berechtigten Beftrebungen einer befonnenen 
modernen Frauenbewegung an unb wenn eins ber 
Kinder fo lernen möchte, daß einem etwaigen 
Abiturienteneramen nicht im Wege ftände, jo 
fände «8 bie hierzu nötigen Hilfämittel fo gut vor: 
handen, wie zu irgend welchem anderen Berufe.“ 


* Die Wirtfchaftlihe Fraueuſchule auf 
dem Lande zu Nieder Ofleiden, in ber 
ſchönen Gegend bei Marburg a. db. 2, wird 
manchem unferer 2efer ſchon befannt fein, aud in 
der „grau“ ift ihrer bereits gedacht worden. Mas 
biefer Schule und den von ihr verfolgten Zielen 
einen eigemartigen Charakter verleiht, ift, daß fie 
toeber eine „Daußhaltungafejule“ im gewöhnlichen 
Ianbläufigen Sinne ift, — noch eine Erziehungs: 
anftalt, wie bie meiften Penfionate, die der Schule 
entwachfenen jungen Mädchen eine weitere Aus: 
bildung, auch in den häuslichen Rubrifen, geben 
follen. Sie bejwedt vor allem, Damen aus 
den höheren Ständen durch twiflenfchaftliche und 
theoretifche, ſowie prattiſche Unterweifung all die 
Kenntniffe zu vermitteln, die eine wirklich tüchtige 
Reiterin eines Oaudwejend, — in der Stadt oder 
auf dem Lande, — fei es als Hausfrau felbft, als 
Nepräfentantin ober Borfteherin, fei es als hauss 
wirtfgaftliche Zehrerin, (der Schule ift eine Haus: 
haltungsſchule für Bauernmäbchen mit Abteilung für 
weibliches Dienftperfonal angegliedert, und fo fann 
fih an dieſen Schulen die Seminarklaſſe im Unter: 
richten üben) ähnlicher, noc) zu errichtender Anftalten 
befigen muß, um den heutigen Anfprüchen zu genügen. 
Deshalb gehört zum Eintritt auch ſchon eine 
gewiſſe Reife und ift als nicdrigfte Alterögrenze 


442 


die Vollendung des 17. Lebensjahres angefeht. 
Außer dem alle Gruppen des nötigen Wiſſens um: 
faffenden und von bewährten Kräften geleiteten 
Unterricht bietet gerade die Schule von Nieder: 
Dfleiden durch Lage und klimatiſche Berhältnifie, 
Wafferleitung, materielle Verpflegung u. |. w. auch 
in fanitärer Hinficht die größten Borteile. — Wir 


Frauenvereine. 


können dem Unternehmen nur immer weitere Un: 
erfennung und die notmenbige Tnterftügung ber 
betreffenden Kreiſe wünſchen. Wer fich näher dafür 
intereffiert, möge fih um Brofpelte ober genauere 
Nachrichten an den Borftand wenden, — zu Händen ber 
Freifrau Dorette Schent gu Schweinsberg in 
Nieder:Ofleiden bei Homberg a. d. Ohm, Oberheffen. 


BIS 


Frauenvereine. 


Der Berein Berliner Dienſtherrſchaften und 
Dienftangeftellter 

bat während feines bald einjährigen Beſtehens 
durch häufige Zufammenfünfte und Beiprechungen 
feiner Mitglieder an der Klärung ber Dienftboten: 
frage gearbeitet. Referate wurden gehalten von 
befannten Rebnern, von Hausfrauen und auch von 
Dienftangeftellten über die Lage der Dienjtboten 
im Ins und Auslande, über Stellennadhmeis u. ſ. w. 
Im Monat Februar fanden 3 Berfanmlungen ftatt: 
eine Bereinsverfammlung für Herrichaften und 
Dienftangeftellte, eine öffentliche Verfammlung für 
die lehteren nicht vom Verein felbit, fondern von 
einigen Mitgliedern einberufen und eine Vereins: 
verfammlung für die Herrichaften. In der erſten 
fprad Frau Sophie Suſsmann überdas, Intereſſe 
der Herrichaften an einer Beſſerung ber Lage der 
Dienftangejtellten”. Sie warnte vor einfeitiger 
Bertretung ber Intereffen der Herrichaften wie ber 
Angeftellten, die den häuslichen Frieden gefährden 
würden und empfahl den Hausfrauen die Wünfche 
der Dienjtboten, die fich auf gemeinnüßigen Stellen: 
nachweis, Befeitigung der Geſindeordnung, Anſchluß 
an die Reichs-, Kranken- und Unfallverſicherung, 
geſunde Schlafräume, zeitgemäße Regelung von 
Arbeit und Muße und beſſere Geſelligkeit richten, 
nach Kräften zu fördern. Nicht nur um der Ge— 
rechtigkeit willen, ſondern auch weil, wie fie bar: 
legte, die Herrſchaften nicht nur meiſt keinen Schaden, 
ſondern in vielen Fällen Vorteil haben, wenn ſie 
für dieſe Wünſche eintreten. Beide Gruppen 
ſtimmten lebhaft zu. 

In der öffentlichen Verſammlung ſprach H. 
v. Gerlach über „die Dienſtbotenfrage im Reichs— 
tag“. Er befürwortete lebhaft die Unterſtellnng 
der Dienſtangeſtellten unter das Gewerbegericht. 
Die Verſammlung nahm im Anſchluß an ſeine 
Ausführungen nachſtehende Reſolution an: „Die 
von Angehörigen aller Stände, insbeſondere von 
Hausfrauen und Hausangeſtellten zahlreich beſuchte 
öffentliche Berfammlung erwartet vom Reichstage, 
daß er die Streitigkeiten aus dem Gefindevertrag 
ben Gewerbegerichten unterftellt und zwar Gewerbe: 
gerichten, bei denen Hausfrauen und Hausangeftellte 
Beifiger find.” — Sn der Nereindverfammlung 
für Herrfchaften entwarf Herr Schriftiteller Went 
in feinem Vortrag „Zeitgemäße Betrachtungen zur 
Dienftbotenfrage” dag Spealbild eines Hauſes, in 
welchem die Dienftboten gerecht und zeitgemäß be- 
handelt werden und regte dadurch eine ſehr lebhafte 
Diskuſſion an. — Der Berein, deifen Gründung 
von den Dienftangeitellten angefangen wurde, zählt 
heute unter feinen Mitgliedern mehr Hausfrauen 


als Dienende. Doch zeigen bie letzteren ein viel 
ſtärkeres Intereſſe für die Aufgaben des Bereing, 
während fich dieſes bei den erfteren leider vielfach 
nur auf die Stelfenvermittelung beſchränkt, die, noch 
in den eriten Anfängen befindlich, fich Hoffentlich 
immer mehr entwideln wird. E8 wäre aber bringend 
wünſchenswert, daß die Hausfrauen fich ernithafter 
ala bisher mit der Dienftbotenfrage befchäftigten. 
Bureau des Vereins Potöbamerftr. Bde, 3—7 Uhr. 





Der Münchener Kunftgewerbe:Berein hielt 
am 5. Februar cinen Bereindabend ab, der ben 
Frauen gewidmet war. „Die Frau in der Kunſt“ 
lautete das Thema von Dr. Helms Bortrag, 
der bauptfächlich die Darftellung der weiblichen 
Eriheinung in Plaſtik und Malerei behandelte, 
und in feiner Weife den Syortfchritt nachwieg, der 
fih von den fchlichten, reinen Brofilbildern ber 
italienischen Renaiffance an 5i8 zum vollen freien 
Nachſchaffen der Schönheit, des ſeeliſchen Ausdrucks 
der Frau bis auf unfere Zeit vollzogen Bat. 

Die aktive Thätigkeit der Frau in künſtleriſchen 
Dingen würde nicht ſehr hoch angefchlagen, doch 
ftebe ihr das weite Gebiet der beforativen Künfte 
und der Nadelfunft offen. — Died leitete zum 
zweiten Teil bed Abends über, der Heinen, aber 
gut gewählten Austellung von Frauenarbeit auf 
funftgewerblihem und illuftrativen Gebiet, die, 
in wenigen Tagen zufammengebeten, fein vol- 
ftändiges, aber doch ein recht charakteriftiiches Bild 
der heutigen weiblichen ALeiftungen bot. srl. 
Srene Braun bielt einen kurzen Bortrag zur 
Erläuterung und betonte, daß fih in den letzten 
schn Jahren das Niveau der Zunftgemerblichen 
Frauenarbeit bedeutend gehoben babe, obwohl die 
Mädchen in mander Beziehung babei mehr 
Schwierigkeiten zu überwinden haben als bie jungen 
Leute. Die ganze Ausbildung der Mädchen gefchicht 
nur auf den Bapier, während man jett überall 
zur Einficht kommt, wie nötig dafür die MWerkftatt 
ift, die die jungen Leute vor oder nad ber 
theoretifchen Lehrzeit befuchen können; dad Ent: 
werfen für die verfchiedenen Zweige ber Anduftrie 
müßte immer folchen praftifchen Untergrund haben. 
Immerhin betbätigen fich eine Reihe von rauen 
als Zeichnerinnen für gewerbliche Betriebe. Ganz 
jelbftändig hat Frau Schmidt-Puſt in Konftanz 
ihre Kunſttöpferei eingerichtet. Margarete 
v. Brauchitſch erhielt Schon vielfach Auszeichnungen 
für ihre phantafievollen Entwürfe und für bie 
danach ausgeführten Tapeten, Kunftverglafungen 
und Malereien. Einige Lcdertapeten von vor: 








Frauenbereine. 


gügfigger Wirkung waren im Saal aufgehängt, 
ebenfo mehrere befannte Plakate von Frauenhand, 
(3. Ströver, Ehrhardt, Kaltenbach). Mehr: 
fach haben Frauen in den Blafattonkurrenzen gute 
Preiſe errungen. — Ganz neu finb ferner bie 
Driginallithographien von Frauen — einige feine 
Blätter von J. Fikentſcher, B. Welte (Mit: 
glieder des Karlöruher Künftierbunbe8) bann von 
J. Ströver, 2. Ehrmann und andere waren 
außgeftellt. Doris Raab dagegen ſteht ſchon 
länger unter ben erften in ihrem dad; fie 
hatte zwei ihrer beften Blätter — große Radierungen 
nad Holbein und Rembrandt — gegeben. Unter 
den zahlreichen guten Rabierungen war ‚befonderd 
eine Arbeit von Linda Kögel bemerkenswert. 
Das Kunftgeiverbe war gut vertreten burch feine 
Holzintarfien von Fr. dv. Debfcig, Leberplaftit 
von M. Winterwerber, einen geftidten Wand» 
ſchirm von Lester, ein geſchnitzies Schränfchen 
und Proben einer indiſchen Färbetechnit (Battid), 
von der Bortragenben feldft, Tiefbranbarbeiten von 
M. Gleck und eine Reihe von Kunftftidereien nad 
Entwürfen von M. v. Brauditfch, Gertrub 
Rommel und anderen. 

„Es wird viel von Frauen-Rechten geredet, die 
noch zu erringen find”, — fo etwa jchloß Frl. 
Braun, „eine aber haben wir uns ſchon erworben 
und erwerben es und täglich neu: das Recht ernit- 
haft genommen zu werben, wirklich und wahrhaftig 
zu arbeiten, wie die Tüchtigen unter unfern 
Kollegen.“ 

Lebhafter Beifall bezeugte das Intereffe, womit 
die zahlreiche Verſammlung den Ausführungen ge 
folgt war. Es iſt fehr erfreulich, daß ber Verein, 
der früger von feinen weiblichen Mitgliedern feine 
Notiz nahm, nun unter der Leituug des bekannten 
Argitetten $. v. Thierfdh, beginnt, fich für Frauen: 
arbeit zu intereffieren. Schon im vorigen Jahr 
wurde eine Ausftellung fünftleriicher Handarbeit 
veranftaltet, und Frl. Irene Braun zu einem 
Vortrag darüber aufgefordert. ie erläuterte in 
Harer, überfichtliher Weife nach Entftehung und 
Weſen die verfciedenen Technilen, faßte fie in 
wenigen Sauptgruppen zufammen und ging auf 
bi hen Gefege und delorativen Mögligjteiten 
ein, die durch gute Beifpiele belegt werben fonnten. 

Auch damals war das Antereffe an dem reichen 
Thema außerordentlih rege, und ber Vortrag 
erihien mit vielen Abbilbungen ber beften Aus: 
ftelungsftüde im Geptemberheft ber Vereinszeit⸗ 
frift: „Runft und Handwerk”, 











Am 23. Februar wurde in Köln der bereits in 
einer Gerbftoerfammtung vorberatene „rheiniſch · 
weſtphaͤliſche Frauenverbaud“ — als Teil bes 
Yunded beutfger Frauenvereine — lonfſutuiern 
Dem auf 2 Jahr gemählten Borftand gehören an: 
Frl. Günther:Bonn, Frau Hoeſch⸗ Dortmund, 
Frau Aramer: Bodum, Frau Arutenberg- 


43 


Bonn, Frau von Langsdorff: Köln, Frl. Webers 
Gobeßberg, Frau Widkott: Dortmund. Die Leitung 
der Propaganda übernahm Frl. Günther:Bonn, 
biejenige der Sentral-Auökunftäftelle die 8. Bor: 
figende, Frau Rrufenderg: Bonn. Abweciclnd 
in beiden Provinzen wird in jedem Frühling eine 
Verfammlung ftattfinden. Dem Verband Tönnen 
torporative Mitglieder und Cingelmitglieder bei: 
treten. Publikationsorgan ift das Zentralblatt 
des Bundes. 


Der Frankfurter Franenbildungdverein 


(Borfigende Frau Rofalie Teblee) hielt am 
20. Februar feine Yauptverfammlung ab. Dem 
Jahresbericht, der dieſes Jahr nit im Drud 
erfcheint, entnehmen wir Nachſiehendes: 

Die Zahl der Schülerinnen betrug 450 gegen 
310 im Borjahre. TDiefelben belegten 1073 Kurje. 
Diefe verteilen fi wie folgt: Buchführung 76, 
Rechnen 69, Schönfgjreiben 61, Hanbelsforrefpondenz 
und Warenkunde 51, Hanbelögeographie 44, Steno: 
graphie 48, Gchreibmafchine 22, Deutf 5B, (Fran: 
söfff 76, Enoliſch 82, Zeichnen 26, Vorbereitung 
zur Prüfuug der Hanbarbeitölehrerinnen 7; Kunft» 
ftiden 63, Schneibern 88, Weihnähen 68, Mafchinen: 
nähen 83, Wäfchezufeneiden 71, Pugmacen 42, 
Bügeln 37 und Aunftwafcen 2. — Bon den oben 
angeführten Schülerinnen hatten 50 die fämtlihen 
‚Kurfe der Kaufmännifchen Fortbildungsſchule befucht. 
Soweit zu unferer Kenntnis gelangt ift, haben 
90 Schülerinnen in ben veridiedenen Berufen 
Anftelung und lohnenden Grwerb burd_felb: 
ftändige Thätigfeit gefunden. Die Prüfung als Hand: 
arbeitö: Lehrerin beftanden 4 Schülerinnen. Eine 
namhafte Breiermäßigung wurde 8 Schülerinnen 
zu Teil. Die Zahl der Benfionärinnen betrug 10. 
Die Kochſchule zeigte gleichfalls einen erfreulihen 
Auffhmwung. Am Unterricht beteiligten ſich 86 Schüle- 
rinnen gegen 88 im ®orjahre. Die Qubereitung 
von Aranfentoft ift in dem Unterricht mit auf 
genommen. Die Zahl ber verabreichten Mittags: 
portienen — 40 durchfepnittlich täglich — betrug 
14,673 gegen 12,772. Nicht mitgerechnet find 
Hierbei die Penfionärinnen und die Perfonen des 
Haushalts. Ter Kindergarten wurde pro Monat 
durdichnittli don 7U Kindern beſucht. In ber 
Fröbel’igen Bildungsanftalt für Hindergärtnerinnen 
ft durch bie verſchiedene Alteröftufe und or: 
bildung eine Teilung in verfäjiedenen Fächern noi⸗ 
wendig geworden. Im Sommerhalbjahr befughten 
24, im Winterhalbjahr 22 Schülerinnen die Anftalt. 
Der Vorftand beriet eingehend bie ihm durch bie 
Borfigende vorgelegten Cingaben bed Bundes 
beutfcher Frauenvereine und gab allen feine Zu: 
ftimmung. Bei der Generalverfammlung bed Bundes 
beutſcher ‚Frauenvereine twar er durch eine Delegierte 
vertreten. Die Polytechniſche Geſellſchaft, fowie die 
| Stabtbehörben gewährten bem Berein nicht un- 
! Bedeutende Zufchüffe. 


Bücerfhau. 


nBrauenbilder and ber meneren bentichen 
itteraturgefchiäjte‘ von Ott o Berdrow. Mit 
11 Bildniffen in Cichtorud. Siveite veränderte und 
vermehrte Auflage. Stuttgart. Greiner und Pfeiffer. 
Das Buch, befien erfte Auflage wir feiner Seit 
beiprochen haben, erſcheint in tenig veränderter 
Geftalt. An Stelle von Karoline von Günderode 
und Ulrike von Kleiſt find Charatteriftifen von 
Charlotte von Schiller und Erneftine Boie getreten. 
Um die Sfiggen über Gufanna von iettenberg 
unb Henriette von Paalzom if die Sammlung 
vermehrt Berdrow bat es auch in der meuen 
Auflage wieder gut verftanden, den Anſprüchen an 
wiſſen chaftlichen Wert und anregende, leicht ver: 
fändfiche, populäre Dasftellung in gleicher Weife 
zu genügen. 


nDie Zranen in der ſozialen Bewegung” 
von Laura Marholm Mainz 1900. Berlag von 
Franz Kirchheim. An Laura Marholms Schriften 
hat man immer bie Yeiftungen hoher geiftiger Be: 
gabung bei einem bevaueriichen Mangel an miffen- 
Thaftlicher Schulung, überhaupt an geiftiger Diszipfin 
tonftatieren Fönnen. Wenn fie in dem borliegenben 
Bud) einmal fagt, Frauen fehle der biftoriiche Blid, 
fo trifft das auf ihre eigenen Geſchichtsbetrachtungen 
allerdingd durchaus zu. Und da fich auf dieſen 
Gefhichtöbetradhtungen die Theorieen — oder, da 
foviel Syſtematik in dem Buche faum vorhanden, ift, 
daß man von „Theorie” fprechen kann — Be 
Hauptungen ober Ideen in Bezug auf Augenstiätihe 
Lage und künftige Entwidlung der Frau aufbauen, 
fo ift nicht viel_damit anzufangen. Cin näheres 
Eingehen barauf erübrigt fi auch badurdh, baf 
die Grundanfhauungen von ber Berfaflerin ſchon 
oft und zwar beffer ausge ſprochen find. An dem 
Buch ift nicht genug gearbeitet, um ben Gebanfen, 
der ihm zu Grunde zu liegen fcheint, zu bewältigen. 
It falls short“ fi die befte Charateriftit, bie 
leider deutſch nicht fo treffend wiederzugeben iſt. 
Und das kommt einem doppelt ftart zum Bewußt- 
fein durch bie tategorifche Art mit der bie Der: 
fafferin ihre Urteile fält. Die Frauen haben 
feinen Grund zu irgendwelchen Shmpathieen für 
Laura Marholm, aber fie können es bedauern, daß 
ihre Kraft feine glüdlichere Entwidlung genommen. 


„Was hat eine Mutter ihrer erwachſenen 
Tochter gu fagen?" Bon Klara Muche. Leipzig, 
Th. Grieben s Berlag & Fernau) 190. Daß in 
der Unwiſſenhe 
um Eintritt in die Ehe über bie Beziehungen des 
Geſchlechtslebens gehalten werben, kein Segen liegt, 
ift vielfach anerfannt. Durch bie Schwierigteit, bie 
Form für ſolche Aufllärungen zu finden, hat ſich 
aber mandjer hindern Laffen, feiner Erkenntnis ent: 
ſprechend zu handeln. Eine joiche Form zu geben hat 
die Verfafferin bes vorliegenden Schriftchen® verfucht, 
und das ift entihieben päbagogifh wertvoll. Die 
Beurteilung und Wertung einer folden Form ift 
allerbingd nicht leicht, da Hier indivibuelle 
Empfindungen ftärfer und entſchiebener mitſprechen, 
ald im vielen anderen ragen. Die Berfafjerin 
giebt ba feldft zu und ftellt ihre Schrift in biefer 
Hinfit zur Diehuffion. Cine unmittelbare An: 
wendbarkeit wird man natürlid von derartigen 
Verſuchen überhaupt nicht erwarten dürfen; fie 
find dazu da, Anregungen zu geben, eine Richtung 
anzumeifen. Und in biefer Beziehung Tann das 















der Mädepen womöglich biB | 





: und, bier eine empfehlen zu lönnen. 


445 


Buch, trog mancher Geichmadiofigleiten, zu denen 
ir befonder8 die etwas geichrauhte Einleitung 
rechnen, durchaus empfohlen werden. 


„Univerfal-Ronverfationd-Leriton‘‘, heraus: 
gegeben von Jofeph Kürfgner. Dritte Auflage. 
Berlin, Eiſenach, Leipzig. Hermann Hillger, Preis 
5 Marl.) Was der befannte Herausgeber mit 
feinem Konverfations:2erifon bat erreichen wollen, 
liegt auf der Hand. CB ift Heutzutage felbft in ben 
Kreifen, die große und teure Nachſchlagewerke be: 
figen, ein Bedürfnis, ein Buch bei der Hand zu 
haben, dad dem Ratfuchenden bequeme, fchnelle und 
inappe Antwort erteilt, befonder wenn es auch 
noch, wie wir bad bei ben großen Leiten Längft 
getoögnt find, die Jluftration zur Verdeutlichung 
zu Hülfe nimmt. Daß das Kürfhnerihe Leriton 
diefe Aufgabe in vollem Maße erfüllt hat, beweiſt 
bie große Verbreitung der erften Auflagen, bie nad 
Yunderttaufenden zählt. Die neue Auflage bringt 
eine bedeutende Grweiterung, 4—500 Bilder kamen 
zu ben vorhandenen, für die neue Auflage mehrfach 
umgezeichneten hinzu. Die Bilder wurden nun in 
der Vehrzahl unmittelbar in den Tert geftellt, 
ſodaß ein Auffhlagen Artitel und Jluftration zu: 
gleich vor da® Auge führt. Neu find ferner die 
Nartographiihen Beigaben: TDoppeltarten von 
Deutfchland, Ofterreich-Ungarn, Solonialbefig und 
Weltvertehr, verbeflert und verfhönert Papier und 
Einband. Zrog biefer Berbefferungen ift der billige 
Preis von 5 Mark unverändert geblieben. 


nDa8 Mufenm“. Cine Anleitung zum Genuffe 
der Werke bildender Kunft von Wilhelm Spemann. 
Berlin und Stuttgart. Preis 1 Marl pro Lieferung.) 
Bon den zahlreichen Verſuchen, die Kunft dem 
Genießen bed Laien zugänglih zu machen, bem 
Intereſſe des tunitverftändigen Publikums an ihren 
biftorifchen Grfcheinungen entgegen zu fommen, ift 
das Muſeum einer der glüdlichften und gelungenften. 
Das ift fowohl der Auswahl des Dargebotenen, 
als auch der Feinheit ber Reproduktion und der Bor: 
züglichteit des Terted zu banken. Die 6. Lieferung 
% laufenden Jahrgangs bringt einen Artifel mit 
jeprobuftionen über Vittore Pifano, Blätter von 
Bildern des Gabriel Metfu, Piero di Cofimo, 
Paulus Potter ıc. Wir machen unjere Lefer, wie 
ſchon öfter an dieſer Stelle, von neuem auf das 
ausgezeichnete Werk aufmerkjam. 


Tiny und Tinys Geſpielen.“ Cine Gefchichte 
für die Meinen und ihre Freunde von Bernharbine 
Schulze-Smidt. (Berlag von velhagen und Klafing, 
Bielefeld und Leipzig 1900). SKinbergefcichten 
fhreiben ift durdaus nicht leicht, wenn e8 aud) 
meift leicht genommen wird. Um Kinder richtig 
heraußzubelommen, bazu gehört ebenfo ein ver 
tiefendes Künftlerauge als zu ben Geſchichten für 
die Großen. Und da ein foldes Auge fich felten 
den Kleinen zuwendet, fo haben wir jo wenig 
gute Kindergeſchichten. Um fo mehr freuen mir 
Es ift bie 
Geſchichte eines jener phantafievollen Kinder, bie 
ihre eigene (Freuden: und Leidenswelt haben, und 
die fortwährend in Patſchen geraten, von denen 
die normalen Heinen Vernunftmenfchen ihres Alters 
nicht ahnen, wenn wir nicht irren, die Geſchichte 
der Berfafferin felbft, da e8 zu augenſcheintich auf 
eigener lebendiger Erfahrung beruht. 


448 


Driginaltezept. Gefüllter 
Sellerie: Kochdauer 1/, Stun: 
den. 6 Perfonen. 250 g fette 
Schweinefleifh und 250 g Rind: 
fleifch werben durch eine Fleiſch- 
hackniaſchine getrieben, mit 1 Eß— 
löffel faurer Sahne, 2 Eiern und 
etwas geſtoßenen Zwiebackskrumen, 
Salz und Muslat zu einem 
lockeren Teige verarbeitet. 

Unterbeffen [hält man 10—12 
große Sellerietöpfe, ſchneidet von 
jebem eine Scheibe als Deckel 
ab, und böhlt die Köpfe fo vor⸗ 
fihtig aus, daß ein tiefes und 
breites Loch entfteht, ohne daß 
Wände und Boden berfelben 
befchäbigt erden. In diefe 
Höhlung drüdt man nun bie 
Fleifchfüllung hinein, bindet mit 
weichem Baummollfaden den Dedel 
feft auf den Kopf und ſetzt alles 
mit 80 g zerlaffener Butter in 
einer großen Pfanne auf. Man 
gießt Y, Liter Fleifchbrühe unter 
bie Köpfe, beit 2 Dedel darüber 
und ſchmort die Speife eine 
Stunde gar. Dann werben bie 
Sellerielöpfe beraußgenommen, 
die Fäben vorfichtig abgemwidelt, 
und die Sauce mit etwas Mehl 
fämig gerührt. Diefer fügt man 
noh da8 nötige Salz und 
17, Theelöffel Maggitvürze zu 
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Gouvernantenbriefe. 451 


Wenn von Goethe, zum Beifpiel, werden fie gleih an Fauft denken und an bie 
bübjche Scene mit Gretchen, die id) ihnen, ein wenig arrangiert, vorgeleſen habe.” 

„Arrangiert?“ wiederholte ich. „Diefes Arrangenıent Tann Ihnen nicht Leicht 
geworben fein.“ 

„Im Gegenteil, ganz leicht. Ich laſſe Fauft fagen: ‚Mein fchönes Fräulein 
darf ich wagen, Ihnen meine Hand anzutragen?‘ Gretchen antwortet: ‚Bin weder 
Fräulein, weder ſchön, kann unverheiratet nachhaufe gehen,‘ und alles ifL in Ordnung.“ 

„Merkiwürdig. So etwas wäre mir nie eingefallen.“ 

Beil Sie feine Kinder haben. Wer Kinder bat, dem kommen ſolche Eingebungen 
von felbft. Meine Freundin, die von der Dreftie, verwirft den Bildungsihwindel für 
Mädchen per Baufh und Bogen. Frauen brauchen feine Gelehrfamteit, jagt fie, das 
viele Lefen verdirbt ihnen nur die Augen, und gefcheiter werden fie davon doc) nicht. 
Ich gebe das nicht zu, ich fage: meine Töchter follen Bildung haben umd ihre 
Dichter kennen. Aber“ — 

„Aber Führerin auf dem Parnaß find Sie,” fiel ich ihr nicht ſehr artig ind Wort. 

„Bin ich!“ beftätigte fie unbefangen. „Sch forge dafür, daß fie Notion von 
allem haben und daß ihre Phantafie doch nicht Schaden leidet. Ich made das fo.” 
Sie holte ein Buch herbei, eine Anthologie und ließ mich darin blättern, und ich 
konnte mich einer gewiſſen Bewunderung nicht erwehren. Mütterliche Sorgfalt und 
mötterliche Geduld Hatten da eine Klofterarbeit verrichtet. In biefer Sammlung 
deutſcher Lieber waren die Worte: Geliebter, Liebchen, und die: Liebe, Leidenfchaft, 
Verlangen, und fo weiter! mit Zettelchen überklebt, auf denen ein anderes Wort ftand. 
Es bezeichnete eine preiswürdige Empfindung: Frömmigkeit, Freundſchaft, Pflichtgefühl, 
oder einen Verwandtſchaftsgrad. 

Der Väter, Mütter, Brüder, Schweſtern, beſonders aber der Onkel und Tanten, 
die auf den früheren Plägen der Liebchen und Geliebten jaßen, waren unzählige. 
Zum Beifpiel hieß es — ich glaubte Heine in feinem Grabe ftöhnen zu hören: 

„Lieb Tantchen, leg's Händchen aufs Herze mein“ ... Für den Oheim pflüdte 
Lenau in fremder Ferne eine Roſe umd bedauerte, ſich zu weit ins Land gewagt zu 
haben, um fie dem Teuren noch blühend überreichen zu können ... Nicht einmal 
der Toggenburger blieb von diefer Sippen-Epidemie verſchont. Ich las: „Ritter, 
treue Schwefterliebe widmet Euch dies Herz, fordert feine Mutterliebe, denn es macht 
mir Schmerz.” 

„Hören Sie,” fagte ich, „das finde ich begreiflich; mit feiner Mutterliebe rüdt er 
fie in Jahren doch gar zu weit vor. Aber, Scherz bei Seite, wozu alle dieſe 
Falſchungen? Warum wird das hohe Lied des Lebens, fein Troft, fein Glüd, die 
Liebe zwiſchen Mann und Frau aus der Welt der Vorftellungen eine jungen 
Mädchens mweggeihaftt? Geſchieht das, um dieſes junge Mädchen zu einer Vernunft: 
ehe zu präparieren? Sol ihm verheimlicht werden, daß man auch aus einem andern 
Grund Heiraten kann als au Naifon? ... Sie werden noch bie Bibel ‚arrangieren‘, 
um Ihrer Tochter weiß zu machen, daß Jakob die Rahel aus Raifon geheiratet hat.” 

Da kam ihr ein nmedifcher Einfall: „Ich bin vom Gegenteil nicht überzeugt, 
wenn ih an Labans große Herden denke!” 

Wir gerieten in eifrigen, ganz fruchtloſen Streit. Jede von uns ftand unver: 
rüdbar auf der breiten Bafis ihrer Überzeugung, und nach jedem Schlag, den die 
eine aufs Haupt der andern geführt hatte, fühlte ſich die nur befeftigt in ihrer Pofition. 

29* 


Sansinsuftrielle Franenarbeit. 


Bon 
Dr. Robert Wilbrandt. 
Nachdruch verboten. 


B L 


a3 ift denn Hausinduftrie? Iſt es fo viel wie Handwerk oder fo viel wie 

Fabrifarbeit? Es ift eine Zwifchenftufe zwifchen beidem. Die Hausinduftrie 
hat von der Fabrik die Eigenfhaft der Abhängigkeit des Arbeiters vom Unternehmer, 
der die Probuftion leitet und den Abſatz vermittelt, vom Handwerk hat fie nur noch 
die Eigenfchaft des Arbeitens in einem Raum, der nicht vom Unternehmer, fondern 
vom Arbeiter felbft geliefert wird, fei ed nun eine Werkftatt oder Das eigne Heim, 
die Wohnung. 

Der Handwerker arbeitet für ben einzelnen Kunden, an den er felbft verkauft, 
und er ift oft, als ber viel Begehrte, geradezu der Mächtigere; man kann lange 
warten, bis er fi) endlich herbeiläßt, die verſprochene Arbeit zu liefern. Ganz anders 
die Hausinduftrie: fie entftand, ald mit zunehmendem Verkehr nicht mehr nur für den 
Kunden in der Stadt oder in der Nähe auf dem Lande, fondern mehr und mehr für 
den Weltmarkt gearbeitet wurde. Da bedurfte ber Handwerler, der felten zugleich 
aud ein ben Weltmarkt überblidender Kaufmann war, der Vermittlung eines gewandien 
Händlers, der ihm den Abſatz feiner Ware ficherte.e So entitand, befonderd im 
18. Jahrhundert, ein Verhältnis, in dem vielfach beide Teile, Handwerker und Händler, 
zu ihrem Vorteil kamen. Aber als die allmählich überall durchdringende Gewerbe: 
freiheit mit den alten Zunftmißbräuchen mehr und mehr überhaupt alle Schranfen 
befeitigte, die der freien Entfaltung des Erwerbsfinnes im Wege geflanden hatten, 
traten an die Stelle des behäbigen Handwerkers nun Arbeitskräfte in Stadt und 
Land, die für den Händler, den Verleger, arbeiteten und von ihm, dem Unentbehr⸗ 
lichen und durch feine Geldmacht Unabhängigen, in gänzliche Abhängigkeit gerieten. 
Das ift Hausinduſtrie. 

Wo die Mafchinenkraft noch billiger arbeitet als die billigften Hände, wurde 
meift die Fabrik daraus. Wo aber die Leitung durch den Unternehmer und eine 
gewiffe Arbeitsteilung genügte oder wo der Übergang zum Fabrikbetrieb zu viel 
Schwierigkeiten machte, blieb es Hausinduſtrie. So ift es Heute noch, ſowohl auf 
dem Lande wie auch in der legten Zeit befonder3 in der Großftadt. Und von jeher 
war es die Frauenarbeit, die zum Entſtehen der Hausinduſtrie beitrug: von ben 
Zünften ausgefchloffen, arbeiteten die Frauen außerhalb der Werkftatt des Handwerks- 
meifter3 in der eignen Wohnung für den Verleger, und auch heute ift es das Angebot 
der vielen Taufende von arbeitfuchenden Frauen, das in den großen Städten die 
Hausinduftrie entftehen läßt. AU die Frauen und Töchter der Arbeitermaffen, die fich 





454 Haußinduftrielle Yrauenarbeit. 


um die Fabrifen der Großftäbte ſammeln, dazu noch die vielen Dienſtmädchen, Die 
vom Land in die Stadt bereinfommen, aber fpäter, um ber „Freiheit“ willen, in Die 
Sklaverei der Konfeltionghausinduftrie übergehen, al dieſe vermehren täglih das 
Angebot weiblicher Arbeitskräfte: unternehmende Kaufleute haben diefe Maſſen billiger 
und gewandter Hände ergriffen und Baben fie angelernt, manchmal auch in Fabrif- 
betrieben, die in Hauginduftrie aufgelöft wurden, jobald ein Stamm von gelernten 
Arbeiterinnen vorhanden war, und fo Haben wir nun die berüchtigte Hausinduftrie 
mit ihrem sweating-system, ihrem Auspreffen und Ausfaugen der wehrloſen Arbeits 
fraft, in Berlin wie in London, in jeder Großftabt wie auf den abgelegenen Höhen 
der Gebirge. 

Frauen und Kinder find die gebornen Opfer dieſes Vampyrs. Meiſt geht der 
Mann einem Beruf nach, der ihn außer dem Haufe befchäftigt; die rau aber fucht, 
da der Lohn des Mannes zur Ernährung der Familie oft nicht außreicht, nad) einem 
Nebenerwerb: entiweder fie gebt auf Arbeit wie der Dann, in die Fabrik oder in 
andre Arbeitägelegenheit außer dem Haufe, die Kinder können inzwilchen zu Haufe 
fterben und verderben; oder fie ergreift irgend eine Arbeit, die fie zu Haufe betreiben 
fann, ohne die Kinder und die Wirtichaft zu verlaffen, und es iſt begreiflich, daß eine 
Mutter dies meiſtens vorzieht. Leicht ergiebt fich dann, daß die Kinder ihr helfen — 
ein fehr liebliches Familienbild, aber nicht ganz fo ſchön in der Wirklichkeit. 

Wil man dieſe Heimarbeit von Frauen und Kindern bejeitigt oder wenigſtens 
auf ein erträgliches Maß eingefchräntt jehen, jo muß man jelbitverftändlich vor allem 
die Lohnbewegungen unterftügen, durch die die Arbeiter, die Familienväter, fich 
einen Lohn zu erringen fuchen, der zur Ernährung der Familie ausreicht. Der 
durchſchnittliche Jahreslohn unferer Arbeiter ift 6—700, in der Großftabt 
8—900 Mark; davon kann die Familie nicht leben. Wollen wir aljo die Mütter 
und Kinder (eine Million Kinder, vom vierten Sahre an, find erwerbsthätig in 
Deutichland) von der Erwerbsarbeit befreien, wollen wir ein gejundes Familienleben, 
gefunde Mütter und Kinder haben, fo kann die Grundlage dafür, der ausfömmliche 
Lohn des Familienvaters, nur durch die gemwerkichaftlichen Organifationen der Arbeiter 
erziwungen werden. Aber ebenjo, wie die Frauen bei Krankheit oder Invalidität des 
Mannes troß aller Arbeiterverficherung zur Ermwerbsarbeit gezwungen find, werden 
e3 die zwei Millionen Witwen auch dann noch fein, wenn die dringend notwendige 
Witwen: und WWaijenverficherung ihnen einen gewiſſen wirtſchaftlichen Rückhalt 
gewähren wird. Man hat berechnet, daß eine Witwen: und Waijenverficherung für 
den Arbeiterjtand, mern jede Witive 80 und jede Waife 40 Marf jährlich erhält, zur 
Zeit ihrer volljtändigen Durchführung jährlih 111 Millionen Mark koſten wird. 
Diefer Betrag jollte meiner Anficht mindeftens verdreifacht werden; aber jelbit dann, 
beit einem jährlichen Aufwand von 333 Millionen Mark, können die Witwen von 
ihren 240 Mark und die Waifen von ihren 120 Mark langfam verhungern, aber 
nicht leben. Die Mütter müfjen daher erwerben, und wenn fie nicht die Kinder 
gänzlich fremder Pflege und Erziehung überlaffen wollen, jo kann ihr Erwerb nur 
Heimarbeit fein, wenigſtens in der Induſtrie. Nur fozialdemofratifche Unnatur, Die 
Mutter und Kind zu trennen leichthin bereit ift, Tann von der Abfchaffung der Heim: 
arbeit phantafieren. Nicht Abichaffung, aber Reform thut bier not, ftarfe ftaatliche 
Reform, denn die Heimarbeit, wie fie jegt ift, fteht allerdings an Scheußlichfeit noch 
tief unter der gebrüdteften und ausgebeutetſten Fabrikarbeit. 





Haudinbuftrielle Frauenarbeit. 455 


Um diefe beftehenden und täglich weiter freffenden Zuftände an der Hand 
unanfechtbarer amtlicher Erhebungen fchildern zu können, greife ich zunächfi nach den 
Berichten der k. k. Gewerbeinfpektoren über die Heimarbeit in Öfterreich, herausgegeben 
vom k. k. Handelsminifterium (Wien 1900). Aus dem erften Band, der bie Heim- 
arbeit in Böhmen behandelt, hebe ich nur das Wichtigfte von dem heraus, was über 
hausinduſtrielle Frauenarbeit darin mitgeteilt wird. 

Beginnen wir, der Einteilung des Buches folgend, mit der Edelfteinjchleiferei. 
Sie ift Hier noch Handarbeit, während die auslandiſche Konkurrenz ſchon Maſchinen 
anwendet, und kann daher nur durch ihre niedrigen Löhne mit der Mafchine in 
Wettbewerb treten; die Schmutzkonkurrenz kapitalſchwacher Geſchafte, die nur durch 
Lohndrud neben den großen Unternehmungen auffommen können, hat die Löhne noch 
weiter zum Sinken gebracht: der Tageöverdienft ift jegt höchſtens 30 Kreuzer 
(= 50 Pfennig) täglih, ja in der Granatichleiferei verdient der Mann jährlich 
100—120, die Frau jährlich 60 fl., alfo durchſchnittlich für den Tag 15 Kreuzer 
(= 25 Pfennig). Um das zu verdienen, wird von früh bis fpät, vor dem Liefertag 
die Nacht durch gearbeitet; die Frauen unterbrechen die Arbeit nur für die dringendſten 
häuslichen Pflichten. Wo ein Heiner Landbefig vorhanden ift, beforgt die Frau bie 
Landwirtſchaft, und der Mann fchleift allein; in der Nähe der Stadt gehen bie 
Frauen in die Fabrit und helfen abends nad Schluß der Fabrifarbeit dem Mann 
zu Haufe beim Polieren der Steine. 

Gewiß ift es der Gipfel des Widerfinns, daß der Mann zu Haufe arbeitet und 
die Frau in der Fabrik, und ftaatlicher Zwang, zum Fabrikbetrieb überzugehen, muß 
diefe Heimarbeit der Männer, die durch und durch nur ſchädlich ift, befeitigen. Aber 
noch ärger ift e8 in der Glasfchleiferei und Glasmalerei: die Frauen beforgen 
hier die Reinigung, dad Verpaden und den Transport des Glafed, faft den ganzen 
Tag über fchleppen fie Körbe von 30—50 kg Gewicht weite und befchtverliche Wege, 

„ohne Rüdfiht auf die Witterung und auf ihren phyſiſchen Zuftand. Jedermann 
muß ſich die Frage vorlegen: wie fteht es da mit der Familie, wie kann da ein 
Haushalt ökonomisch und gedeihlich geführt werden, wie fann bie von ſolchen zer: 
marterten Frauen ftammende Generation befchaffen fein, wie geftaltet fich die Erziehung 
der Kinder?” Go fragt der Gewerbeinfpektor, und er fügt Binzu, daß wenig Kinder, 
aber Erkrankungen der mannigfachſten Art die „probuftive Thätigfeit” diefer Frauen 
begleiten. Die Frau als Laftträgerin, der Mann zu Haufe bei einer Arbeit, die ber 
Gewerbeaufficht bebürfte, damit nicht mehr durch anſteckende Lungenleiden das 30. Lebens⸗ 
jahr die normale Alterägrenze bilde — dazu das fortwährende Hin- und Herichleppen 
der zerbrechlichen Glaswaren: nicht die paar Bänke zum Abjegen der Nüdenkörbe, 
durch die man den Frauen die weiten Wege zu erleichtern gefucht Hat, fondern die 
Errichtung von Fabriken allein kann bier Helfen. Für die Arbeiter würden fie ver 
doppelte Löhne, verkürzte und geregelte Arbeitszeit, gleichmäßige Beichäftigung, Unfall» 
und Krankenverfiherung, Schonung der Frauen und Kinder, gefunde Werfftätten und 
Wohnungen bedeuten. 

Bei den Perlenarbeitern fteht dagegen ber Lohn im Vordergrund, ber durch 
die Konkurrenz der Erporteure von Stufe zu Stufe herabgebrüdt worden iſt. Außer 
den Frauen arbeiten hier auch Kinder mit, die „vor und nad dem Schulunterricht 
täglich bis 9 und 10 Uhr abends, bei größeren Beftelungen auch länger arbeiten, 
in vereinzelten Fällen fogar bis 3 Uhr früh.” (Allerdings ift dies noch wenig im 


Hausinduſtrielle Frauenarbeit. . 457 


abwechfelnd, „je 12 Stunden, fo daß ſich der Webſtuhl ohne Unterbrehung im Gange 
befindet. Es wurde Eonftatiert, daß in einem Falle der Mann von 6 Uhr früh bis 
6 Uhr abends und die Frau von 6 Uhr abends bis 6 Uhr früh den Webſtuhl 
bediente. In einem andern Fall fing der Weber die Arbeit um 2 Uhr nach Mitter: 
nacht an und übergab den Webftuhl um 6 Uhr abends feiner Ehefrau, welche bis 
1 Uhr nachts weiter an dem Webftoffe arbeitete.” Dazu kommt das Kohlenoxydgas, 
das den ſchadhaften Rauchichloten entftrömt, und der Qualm der Lampe: in folder 
Luft verbringen bie Familien ihr ganzes Leben, die Kinder fiechen dahin von der 
Geburt bis zum Tode, die dumpfe, warme Stubenluft wird ihnen Bebürfnis, fie 
entarten und find „infolge jahrelanger fchlechter Ernährung“ zu andern Berufen meift 
zu entkräftet. „Wenn 21 mal Wailerfuppe und 21mal Kartoffeln gegefien find, fo ift 
die Woche weg“, ift ihr Sprichwort. „Der widerwärtige Eindruck, berichtet der 
Gewerbeinfpeftor, welchen man beim Betreten einer derartigen Wohnftube gewinnt, 
wird ein förmlich efeferregender, wenn auch Unteinlichfeit angetroffen wird, welche ſich 
in manden Weberfamilien gewöhnlih auf die Dauer der Winterfaifon, während 
welcher fieberhaft gearbeitet werden muß, eingeniftet hat. Während dieſer Zeit wird 
die Stube nur felten gelehrt, gereinigt und gewafchen, und auch bie Bett: und Leib: 
waſche der Familie wird der nötigen Reinigung feltener unterzogen, weil die Ehefrau 
des Webers fleißig fpulen muß, um bem Weber die nötigen Schußgarne 
ſtets rechtzeitig in verwebbarem Zuftande zur Verfügung halten zu Können.“ 

Die Männer wandern vielfach nach deutfchen Webefabrifen, und wenn's gelingt, 
unterftügen fie die Daheimgebliebenen; aber oft find fie zu entkräftet für bie intenfive 
Arbeit in der Fabrik und ehren frank zurüd. Daher find Cigarrenfabriten für 
ſolche Webergegenden ein Segen: fie bieten den Männern, Mädchen und Frauen 
— ben legten beſonders ald Cigarrenhausinduftrie — einen nicht zu anſtrengenden 
und bedeutend beſſeren Verdienſt. 

Über die Zwirn- und Leinen-Knopfherſtellung, die nur Kinder und 
Frauen zu Haufe betreiben, wird und aus dem Budweiſer Auffichtsbezirt von 
800 Arbeiterinnen berichtet, die bei elfflündiger fleißiger Arbeit höchſtens 16 Kreuzer 
täglich verdienen; ſolche Knöpfe haben wir an unferer Waſche. 

Sind es die Händler oder Verleger, die die Löhne fo tief gedrüdt haben oder 
wenigſtens, der Konkurrenz nachgebend, fo tief haben ſinken laffen, und ftedt.auch der 
Faltor oft einen großen Teil des Arbeitslohns in feine Vermittlertafchen, fo thut auch der 
Staat das Seinige, um den Ärmſten und Ausgebeutetften zum Bewußtſein zu bringen, 
daß bie Gerechtigkeit über ihnen waltet. So berichtet und der Geiwerbeinfpeftor von 
einem Mann, der täglich 30 Kreuzer, alfo im Jahr 90 fl. verdient; davon zahlt er 
9 fl, alfo 10 Prozent, Erwerbsſteuer. Außerdem befigt er ein Haus, das er zur 
Hälfte felbft bewohnt und zur Hälfte für 36 fl. jährlich vermietet, von dieſen 72 fl., 
die das Haus ihm trägt, zahlt er 17,55 fl. Steuer und 2,10 fl. Gemeinbeumlagen; 
er zahlt fomit 19,65 fl. oder 27 Prozent Hausfteuer. Bon feinem Gefamteintommen 
von 126 fl. nehmen ihm alſo die Steuern 28,65 fl., das ift faft den vierten Teil 
feines Einkommens, ganz abgefehn von der indireften Befteuerung, die allerdings bei 
der außfchließlichen Kartoffelnahrung wenig ausmacht. Seine Frau, die mit Haushalt 
und Kind viel zu thun hat, verdient mit der Ausfertigung von Stridereimaren täglich 
höchſtens 6—7 Kreuzer, aljo im Jahr 21 fl. Diefe 21 fl. find anfcheinend nicht 
befteuert, was einen eigentlich wundern muß. 


458 Hausinduftrielle Frauenarbeit. 


Im allgemeinen günftig ift die Sandmafchinenftriderei, die geradezu wie 
geichaffen ift zur weiblichen Heimarbeit. Hier verdient die Frau fogar oft mehr als 
der Mann: 3. B. der Mann als Taglühner jährlich 120 fl.; die Frau ald Striderin 
jährlich 121 fl. Allerdings find auch hier, infolge der Konkurrenz unter der zunehinenden 
Zahl von Striderinnen, die Löhne in den legten zwanzig Jahren auf bie Hälfte 
geſunken. Trotzdem fann ein Striderin wöchentlich 3 fl. verdienen, während ihr Mann, 
als Heimarbeiter einer Schuhtwarenfabrif, nur 2,50 fl. einnimmt. 

Kommen wir nun endlih ins Erzgebirge und auf den Böhmerwald zu ben 
15 000 Spißenflöpplerinnen, die troß der erbrüdenden Konkurrenz der Mafchinen= 
Ipige bei der altgetwohnten, von Kindheit an geübten Spigenflöppelei geblieben find, 
jo finden wir bier zwar Klöppelfchulen, aus Staatzmitteln oder von gemeinnügigen 
Vereinen gegründet, die die Technik verfeinert und damit auch die Preife gehoben 
haben, da dieſe funftuolleren Mufter der Konkurrenz der Mafchine entzogen find; aber 
im allgemeinen berichtet ung ber Gemwerbeinjpeftor: „nach Abrechnung ber ca. ein 
Sechſtel des DVerdienftes betragenden Auslagen für Zivirn oder Seide fann der Durch: 
Ichnitt8verdienft einer ganzjährig arbeitenden Perfon mit 30 fl. pro Jahr taxiert 
werden.” Die Wohnungsmiete verfchlingt vielfach den ganzen Jahresverdienſt einer 
Perfon. Da die Frauen mit der Wirtfchaft viel zu thun haben, klöppeln vor allem 
die Mädchen, die aber auch meift uneheliche Kinder haben, To daß bie Familien im 
Durchſchnitt 10, oft 12—15 Köpfe zählen. Der Kinderſegen fteigt mit den finfenden 
Löhnen. Die Bevölkerung entartet, durch die fchlechte Ernährung, das enge Wohnen, 
die Kinderarbeit und durch das Klöppeln ſelbſt, bei dem die Mädchen oft 15 Stunden 
lang vorgebeugt und faft unbeweglich ſitzen müffen. Bei der Gorlnäherei (Bola- 
mentenherftellung), die von den Stlöpplerinnen vielfach betrieben wird, ſobald die 
Marktlage dafür günftiger ift, wird der Lohn gedrüdt durch die vielen, neben 
erwerbenden Birrgersfrauen, denen e3 auf die Höhe des Lohnes fo genau nicht anfommt ; 
dennoch ift er beſſer als beim Spitenflöppeln. 

Im Bergleich mit den übrigen Erzgebirglöhnen verhältnismäßig günftig geftellt find 
die Heimarbeiterinnen der Handichuhinduftrie, jedenfall3, weil diefe Induftrie noch nicht 
jo eingebürgert ift und daher noch Fein fo unbefchränftes Arbeitdangebot zur Ver: 
fügung bat. Denn nicht die Leiftung und-nicht dag Maß deflen, was zum Xeben 
nötig ift, jondern nur Nachfrage und Angebot beſtimmt die Höhe oder vielmehr 
Niedrigkeit des Lohnes. Wie in der Politik, fo entjcheidet auch im Wirtjchaftsleben 
nur die Macht, aber nicht eine Macht, die der Gerechtigkeit ihren Arm leiht oder 
doch wenigſtens dem Sklaven das zur Lebenzfriftung Nötigfte zumeift, ſondern ber 
Herr ift der wirtichaftlich Stärfere, das ift der Neichere und Gefchäftsgeiwandtere. 
Er kann in Ruhe berrjchen, denn daß der wahrhaſt Stärkere, die auggebeutete Maffe, 
einmal die Fäuſte ballt und ihn niederichlägt, das verhütet der Staat. Der Staat 
ihügt gegen die Gewalt der Körperkraft, aber nicht gegen die Geivalt des Geldes 
und der gewiſſenloſen Echlaubeit. 

Am klarſten offenbart das der Bericht des Gewerbeinſpektors über die Stiderei. 
Nur ein Drittel oder ein Viertel dr3 Lohns wird vom Unternehmer in bar aus: 
gezahlt, der Neft muß in Waren bezogen werden, von den Unternehmern (Verlegern) 
oder von ihnen befreundeten Firmen, wo bereitwilligit Kredit gegeben wird: „Blieb 
die Stiderin einmal ſchuldig, jo muß fie fich mit jedem ihr gebotenen Arbeitslohn 
begnügen, jonft wird in rüdfichtzlofefter Weife auf Bezahlung der Schuld gedrungen.” 





Hausinduftrielle Frauenarbeit. 459 


„Überall wurde die Klage laut, daß den Stiderinnen Waren von Außerft ſchlechter 
Qualität um einen weit höheren Preis verabfolgt werden als dies in jedem anderen 
Kaufladen der Fall iſt.“ „Die Stiderinnen find gegenüber einer derartigen ſchranken— 
und gewiffenlofen Ausbeutung gänzlich machtlos und müſſen fich diefe deshalb ger 
fallen laſſen, weil bei dem in der dortigen Gegend bejtehenden Überfluß an Stiderinnen 
nur ſolche Perfonen dauernd beichäftigt werben, welche auf Entlohnung in barem 
Gelde Verzicht leiften.“ Diefes „Trudiyftem“, die Bezahlung in Waren flatt in 
Geld, wird und von den Gewerbeinipeltoren aus Böhmen vielfach gemeldet; bei 
und feheint es durch das gefeßliche Verbot mehr und mehr verbrängt worden zu fein. 
Aber typiſch auch für unfere Verhältnifje ift der Lohnraub, den und der Gewerbe: 
infpeltor ſchildert: troß der mangelnden Ausbildung (eine Fachfchule fehlt dort) 
werden von den Stiderinnen oft vorzügliche Leiftungen, Prachtwerke in Stidereien, 
geliefert, fo daß den Unternehmern für das Stiden von Damenausftattungen nicht 
felten 1000—1500 fl. gezahlt werden — aber nur den Unternehmern! Denn es 
werben „für die reiche Stiderei an Bruftbefägen bei Damenhemden den Arbeiterinnen 
18—60 Kreuzer Arbeitslohn gezahlt, während dem Konfumenten hierfür 3 fl. bis 5 fl. 
pro Std aufgerechnet werben.” Für das Stiden funftvoler Monogramme bekommt 
der Arbeitgeber 3.8. 1 fl. und zahlt dafür der Stiderin bloß 30 Kreuzer. Über das 
Stiden felbft berichtet der Gewerbeinfpeltor: „Das Stiden ift eine ſehr mühevolle 
Arbeit, die, wenn fie 12—16 Stunden täglich ununterbrochen bei gebüdter Stellung 
des Oberkorpers und eingebrüdter Bruft ausgeübt wird, von außerſt ungünftigem Einfluß 
ſelbſt auf gefunde Naturen ift. Insbeſondere ftrengt das Stiden zumal bei ungenügender 
Beleuchtung die Augen in hohem Grade an. Mit dumpfiger Luft erfüllte, räumlich 
ſehr befchränfte, nie ventilierte Arbeitölofale, mangelhafte Beleuchtung, insbeſondere 
während der Wintermonate, wo die Hälfte der Tageszeit hindurch bei der qualmenden 
PVetroleumlampe gearbeitet wird, unzureichende Kartoffelfoft abwechſelnd mit ſchlechtem 
Kaffee, das ift in großen Zügen das getreue Bild de Dafeins diefer Heimarbeiterinnen, 
die ſich im beften Fall einen Tageloen von 3U—50 Kreuzern verdienen. — Es wurde 
anläßlich der Erhebungen die Wahrnehmung gemacht, daß diefe Arbeiterinnen binnen 
wenigen Jahren nicht nur fehr kurzfichtig werden, jondern auch fi Verknöcherungen 
der Halsmuskeln zuziehen, fo daß fie den Kopf nicht mehr aufrecht zu halten ver: 
mögen. Hinzu gefellen fich fehr bald au Magen: und Bruſtbeſchwerden, welche bie 
Gefundheit der Stiderinnen vorzeitig untergraben.” So wird und aus den Bezirken 
Chrudim und Parbubig berichtet, im Erzgebirge ift e3 noch ärger, denn die Hand» 
ftiderinnen verdienen Hier täglih nur 18—30 Kreuzer. „Die Ernährung entipricht 
diefen geringen Verdienften und befteht nur aus Erbäpfeln, Brot und SKaffeefurrogat 
abſud.“ Wir können uns nicht damit tröften, daß der Lohn der Dafchinenflider 
bedeutend höher ift, daß eben die Handfliderei durch die Mafchine verdrängt wird; 
fondern es find vielfach wertvolle Runftftidereien — nur der Lohn fließt in die 
Tafche des Händlers. 

Damit möchte ich fchließen. Die Prager Lederhandſchuhinduſtrie, bie viele 
Taufende von Heimarbeiterinnen und Heimarbeitern beichäftigt, die Prager Kleider 
und Wäfchelonfeltion, die Kunftblumeninduftrie und die Bildermalerei, bei der das 
Grundieren den malenden Frauen zu allem übrigen Bleitveipvergiftungen zuzieht — 
alles das übergehe ich, denn es ift in verſchiedenem Nahmen überall dasſelbe Bild. 
Das Topifche der Hausinduftrie fennen wir ja nun: wehrlofe Abhängigkeit vom Der: 


460 Ein Gymnaſium für Bauernmäbchen in Rußland. 


leger, Zabrifanten, Händler, oder wie der Unternehmer gerade heißen mag, und 
gänzliches Fehlen aller Schußgejege, wie fie für die Fabriken vorbanden find. Geſetz⸗ 
liche Beichränfung der Arbeitszeit ift felbftverftändlich hier unanmwendbar, die Kontrolle 
it unmöglich; auch hygieiniſche Beitimmungen wären nur eine Plage für die Leute, 
wenn man ihnen nicht das Geld in die Hand giebt, fie befolgen zu können. Die 
Verleger allerdings könnte man für die Arbeitsräume verantwortlich machen. In 
eriter Linie aber ftebt der Lohn und die VBorbildung: wie der Staat da eingreifen 
fann und ſoll, darüber möchte ich in einem zweiten Aufſatz fprechen, der die haus⸗ 
induftrielle Frauenarbeit innerhalb der ſchwarz-weiß-roten Grenzen behandeln joll. Ich 
hoffe, man zieht aus dem, was ich heute nach den amtlichen Berichten aus Böhmen 
mitgeteilt habe, nicht den Schluß: wir Deutjchen find doch befjere Menſchen. Es ift 
bei ung nicht anderd. Aber e8 muß anders werden. 





Lin Gymnaſtum für Vauernmädchen in Rußland. 


Von 
Mm. Behmerfny. 
Nachdruck verboten. | Burner 


Ayo verfchrt es wäre, „höhere Töchter” Fünftlich zu züchten, jo ungerecht fcheint 
es, den begabten Kindern des Volks den Bildungsiveg zu verjperren. Amerika, 
Skandinavien und Finland haben bereit? bedeutungsvolle Schritte gethan zur 
Förderung der höheren Schulbildung unter dein Volke. In Frankreich und bei und 
in Deutichland forgen die Fortbildungzichulen in gemwiffen Maße für die fortgejehte 
unterrichtlicye Einwirkung auf die heranreifenden und der Elementarjchule entwachjenen 
Schülerinnen. In Rußland jedoch, wo die Volksſchulbildung noch nicht obligatoriſch 
ift, giebt e8 nur wenig Bildungsmöglichkeit in den entlegenen Fleden und Dörfern. 

Wie ein Märchen muß uns daher ein ruſſiſches Gymnafium für Bauernmädchen 
vorfommen! Und doch ift es unlängft Thatjache geworden. Sin der Kreizftadt Orlow 
des Gouvernements Wijatka follte vor ca. 6 Sahren eine Bolksfchule für die Mädchen 
der umliegenden Dörfer eröffnet werden. Da die Etadt, die zum großen Teil von 
Handwerkern und Gemwerbetreibenden bewohnt ijt, fein ſtädtiſches Mädchengymnaſium, 
jondern nur ein Privatpenfionat beſaß, To faßten die Vertreter der „Semſtwo“ oder 
der landichaftlichen Ortsabininiftration den Beichluß, ein Mädchengymnafium ins Leben 
zu rufen. Der Vorfchlag fchien einem tief im Herzen der Bevölkerung Ichlummernden 
Bedürfnis zu begegnen. Bon Nah und Fern gingen der „Semſtwo“ Geldjpenden 
mit dem Geſuch zu, die höhere Mädchenjchule von Gemeinde wegen jchleunigft zu 
Ichaffen und fie nicht erft als ein Geſchenk von der Regierung zu erbitten. 

Beflügelt von den Wünfchen der Bildungsdurftigen kam das achtklaſſige Mädchen: 
gymnaſium?) bald zu ftande, und von den 200 Schülerinnen find 190 wahre Kinder 


1) Unter ruffiiden Mädchengymnaſien find unſere höhern Mädchenjchulen zu verftehen, denen 
neuerdings eine Lateinklafle, wie in dem Stajunia-Öymmafiun zu St. Petersburg, beiarfügt wird. Alle 
entlaffenen Gpmnaftaftinnen find zum Eintritt in die „büberen weiblichen Kurje“ und auch in die 
„medizinischen Kurſe“ berechtigt und künnen das Gramen für Yatein ſpäter ablegen, fofern es noch nicht 
zu ihrem fchulplanmäßigen Lehrſtoff gehörte. 








Berföhmung. 461 


des Volles, Bauernmäbdchen, die den Namen der Anflalt „Bauerngymnafium“ voll: 
tommen rechtfertigen. Mehrere Werft weit kommen die Lerneifrigen durch Wind und 
Wetter, durch Schnee und Eis merktäglich nach dem Gymnaſium, das ein ganz anderes 
Bild als jede andere höhere Tüchterfchule bietet. Hier find keine bleichfüchtigen Stadtlinder 
mit feinen Kleidern und hohen Abfägen zu ſehen, fondern frifhe Bauerntinder, die 
ohne Korſet, mit einfachen Bauernſchuhen und dem bunten Kopfiuch auf dem Flachs— 
haar in aller Herrgottäfrühe mit ihrem Bücherbündel zur Stadt wandern. Um auch 
den Unbemittelten den Beſuch bed Gymnafiumd zu ermöglichen, ift das Schulgeld 
auf nur 3 Rubel = 6 Mark das Jahr feftgefegt. Im Anſchluß an das Gymnafium 
ift neuerdings auch ein Penſionat gegründet, damit den weiter von ber Etadt 
mwohnenben Soglingen ein dauerndes Aſhl geboten werde. Die Bauern können alle 
Viktualien für ihre Kinder fchiden und brauchen für die Aufficht nur 60 Kopeken 
— 1,20 Mart — monatlih als Penfion zu zahlen. Es ift bemerfenswert für die 
Begabung und den Fleiß der ruffiihen Bauernmäbchen, daß alle Schülerinnen des 
Progymnafiums auch den Schulbefuch in den höhern Klaſſen fortfegten. Und ebenfo 
fennzeichnend für das geiftige Etwachen der Bauern zum gefunden Verfländnis ift 
der Umftand, daß die ganze „Semſtwo“ von Drlow, die aus Bauern befteht, einmütig 
den Plan des Mädchengymnafiums unverzüglich in die That umfegte und dem Antrag 
um die obrigfeitliche Veftätigung ein. fehr wichtiges Moment zu Grunde legte. Die 
„Semftwo“ wies nämlich nad, daß dem Mangel an Bolksfchullebrerinnen und 
gebildeten Landwirtinnen gar nicht beſſer und glüdlicher abgeholfen werben könne, als 
dur die zwedmäßige Erziehung begabter Bauernmädchen, die eng mit der Scholle 
verwachſen, das Bauernleben und die ländlichen Vebürfniffe von Grund aus kennen 
und von der Liebe für den Boden und das Volt durchdrungen find. Diefe Behauptung 
bat fih auch wirklich bewahrheitet. Die Gymnafiaflinnen, die nicht grade auf eine 
frühe Heirat ausgeben, find faft alle geneigt, fich dem Lehrfach oder der Landwiriſchaft 
ober dem neuen fombinierten Berufe der landwirtſchaftlichen Voltsfchullehrerin zu 
widmen. 

So ſcheint das weibliche Bauerngymnaſium eine gute Bildungsftätte werden zu 
—X von der Kultur und auch die Erſchließung neuer praktiſcher Frauenberufe aus: 
gehen wird. 


ER 


Ferfoͤhnung. 


d £iebe macht uns reich und weit, 
Erhebt uns über niedere Gewöhnung. 

Die Sreien find zum Handſchlag ftets bereit, 
Erwarten nicht für alles Löhnung. 


Sie ſchieben auch den Groll beifeit, 
Stets ringend nach des Menfchen Krönung, 
Die Welt birgt foviel Bitterfeit — 
Derfchließe nie dich der Derföhnung! 
1.3. 
— 2 N E00 


Früßlingsgefchichte. 


Und dann fam der Frühling, plötzlich, 
faft ohne Übergang. Es war auf einmal ein 
Stöhnen in ber Luft umd ein laues Wehen. 
Das Eis auf den Flüffen hob fi und barft, 
von ben Bergen rannen ſchmelzende Fluten, 
überall tauchte die ſchwarze Erbe hervor und 
überall hin füßten warme, brennende Sonnen⸗ 
ftrahlen. Und dann gefchah alles, wie es 
jedes Jahr geſchieht. Mit prachtvoller, er: 
habner Werbefreube fprengte bie Natur den 
ftarren Todesbann und begann ihr Felt des 
Lebens, unbefümmert darum, ob die Menſchen 
gewillt waren, es mitzufeiern. 

Und viele ſchauten gar nicht einmal danad) 
bin und fpürten es nicht, daß ber Frühling 
begann. Sie mußten vielleicht nur, daß der 
Weg frei wurde zu den Gräbern, daß bie 
Thränen, die fie die langen Monde hindurch 
zu Haufe geweint, nun an ben ftillen Hügeln 
fließen durften. Aber die Hügel umleimte 
junges Grün. Und in den Kirchhofsbäumen 
pfiffen die Amfeln. Und bie Tage maren 
lang und arm, und die Zitronenfalter 
gaufelten Durch bie Luft, und manchmal breitete 
ein Trauermantel feine geheimnisvollen, 
ſchwarzſamtnen Flügel aus. Und die klugen 
Meifen zirpten und pidten mit ben ſpitzen 
Schnäbeln an den aufbredhenden Baumfnofpen, 
daß es ausfah, als wollten fie dem Frühling 
helfen, die braunen Hülfen zu fprengen. Und 
in der Luft war ein Duft von warm würziger 
Erde und jungen Blüten. 

Das ſchmeichelte ſich in die Einne, fo daß 


mand) trauriges Auge fröhlich erftaunt Teuchtete, | 


wenn unter wellen Blättern ein erftes Veilchen 
mit feiner dunklen Blüte ftand. Ein Lachen 
ſchwirrte durch die Luft, hie und da an ben 
frieblichen Feierabenden, von Lippen, die lange 
nicht gelächelt. 
Herz und laufchte dem feltfamen Ton. Aber 
wenn die Kinder durch die Straßen jauchzten 
und die Loden ſchüttelten, die Kinder, die vom 
Tod nichts mehr mußten, dann zog durch alte, 
büftere Augen ein leifer Glücksſchimmer, und 
jãh und verftohlen rührte fich in ſchmerzzerriſſenen 
Herzen ein heimliches Entzüden, noch teil zu 
haben am fonnigen Leben. 

Und als der Mai fam, als der Frühling 
al feine Fahnen ausgehängt hatte, als Iuftige 
und warme Winde tofend durch die Blüten— 





463 


bäume fuhren, murde auf der Dorfwieſe 
eine kleinen Fledens, den die Peſt am 
ſchwerſten beimgefucht hatte, wie alljährlich 
alles mit Bänten und Guirlanden zum Maien- 
fefte vorbereitet. 

Um diefe Zeit ſchritt ein junges Mädchen 
einen hügeligen Pfad entlang dem Torfe zu. 
Sie war groß und fräftig und atmete troß 
des raſchen Echreitens gemach und langſam 
Die Stirn hatte fie leicht gejenkt, ihr Mund 
war ftreng und traurig geſchloſſen. Mandmal 
bob fie gleihgiltig den Blid, mehr um des 
Weges zu achten, ald um ben friedlichen 
Nundblid zu genießen. Hie und da war ein 
Bauer im Felde befchäftigt, der Waldrand 
leuchtete im jungen Grün. Vor ihr lag, nun 
der Pfad fi neigte, das Dorf mit feinen 
Heinen, breiten Häufern und den Kronen ber 
alten Linden. Auf der Wiefe ftanden ein 
paar Leute, die auf und abſchritten, Pilöde 
einfhlugen und miteinander fprachen. 

ALS Urfel, das Mädchen, fie im Heran— 
ſchreiten bemerkte, lam ihr erft flüchtig, wie 
eine matte Erinnerung der Gedanke, es fein 
im vorigen Jahre ihrer mehr geweſen, bie 
alles zugerichtet; dann verbunfelte ſich ihr 
Auge, denn ihr fiel num ein, es fei dies Jahr 
kaum an ber Zeit, ein Maifeft zu feiern. Eie 
ging aber gelaffen weiter und hatte andres zu 
denfen, denn ſie mußte einiges beim Krämer 
ausrichten und Flachs für die Bafe holen. 

Indefien hörte fic bald ihren Namen rufen 
und fah von der Wiefe eilig ein Mädchen 
berantommen. Das war Dörte, ihre Spiel- 
lameradin, bie, wie fie felbft, ihren Bräutigam 
an der Peſt verloren hatte. Da blieb fie 
ftehen, und Mitleid war in ihren Augen. Wir 


; fennen am beften das Leid, das wir jelbft 
Dann erſchrak wohl mandes " 


gelitten. Dörtes Gefiht war heiß, und ihre 
Augen hatten einen ftilen Glanz. Cie faßte 
Urfels Hand. 

„Man ficht dich felten im Dorf, Urfel,” 
fagte fie freundlich, obgleich fie vor ber tiefen 
Traurigfeit, die in dem Geficht der andern lag, 
faft ein wenig zurückſchreckte. 

„Und die Leute wollen tanzen?“ fragte 
Urfel und fhaute zur Wiefe hinüber. 

„Ja, wir werben tanzen,” erwiderte Dörte. 
Urfel Tieß ihre Hand los und blidte fie an, 
mit tiefem Staunen in den Augen. 


464 


„Du nicht, Dörte?” fragte fie langfam. 

„Bir alle,” fagte Dörte. „Und bu follteft 
auch fommen, Urſel. Du lebſt fo einfam mit 
der Bafe, da wird das Herz immer ſchwerer 
und trauriger. Sieh, das Leben ift doch noch 
ſchön.“ | 
„Ja, das Leben, aber der Tod” — fagte 
Urfel flüftend, und ihre Augen fchauten 
dunfel und entfegt in Dörtes frifches Geficht. 
Eie fah in diefem Augenblid ein andres, das 
war ftarr, bleib und verzerrt. Dörte er: 
widerte ruhig ihren Blid. Über ihnen fchrieen 
die Schwalben. 

„Sb tanze mit dem Tilchlerfrit,” fagte 
fie. „Wir heiraten im. Sommer.” 

Jetzt Tachte Urfel, und dann ging fie, ohne 
ein Wort zu jagen, die Dorfftraße meiter bin- 
auf. Aber Dörte blieb an ihrer. Seite. 

„Er bat mich inimer lieb gehabt, der 
Tiſchlerfritz,“ erzählte fie, während ihr Atem 
haftig kam und ging. „Und ich mag ihn jet 
auch gern,” und dann, ald habe fie zu menig 
gefagt, fügte fie nach kurzem Zögern binzu, 
„ja, recht von Herzen.” 

„Dann ift es ja gut,” fagte Urſel gelafien. 
Aber Dörte faßte haftig nach ihrer Hand. 

„Den Michel hab ich nicht vergeſſen, denk 
dag nicht,“ murmelte fie. „Aber es iſt traurig, 
einfam zu fein, wenn das Leben noch lang ift 
und das Blut jung.“ 

Urfel erwiberte jetzt ihren Händedruck. 

„Laß es nur gut fein,” fagte fie leiſe. 
„Wenn bu ihn lieb haft und er dich, fo tanzt 
nur und heiratet euch, das ift das Beſte.“ 

Ihre Lippen zitterten. Cie eilte rajch 
voran und trat in den Laden des Strämers. 
Hier forderte und zahlte fie und holte den 
Flache für die Baſe. Dann nahm fie für 
die Heimkehr einen Umweg um das Dorf 
herum. 

Es funkelte alles im erjten Keimen und 
Blühben, ganze Stoßwellen warmen Blüten- 
duftes ſchwellten durch die Luft. Über dem 
flachen, fonnbejchienenen Feld tünte ein un- 
aufhörliches Xerchengejubel. Urſel ging wieder 
mit geneigtem Kopf und in tiefes Sinnen 
verſenkt. Ihre rubevolle Traurigkeit mar 
einem qualerfüllten Nachdenken gewichen. 

Mer dem Tode fo nahe geitanden, wer 
immer das Totenglödchen gehört hat, wer 


Erde ruhen die Toten, 


Frühlingsgeſchichte. 


jeden Morgen mit der bangen Frage erwacht 
iſt: wen trifft es heute?, wem endlich ein 
liebes Leben um das andre entriſſen iſt 
und ſchließlich das Liebſte, Einzige — der 
findet das Leben ſchön, der fühlt, daß er jung 
iſt, der wagt auf dieſem ſchwanken Boden 
frevelnd nach neuem Glück zu haſchen! Und 
kann glücklich ſein! Und tief in der dunklen 
Tief, tief. Kein 
Frühling, kein Licht, kein Hoffen für ſie. Sie 
hören vielleicht nur, wie das Weinen ſich in 
Lachen verwandelt, in lautes Freudengelächter. 

Urſel erbebte. Ein Schauer überriefelte ſie, 
als ginge fie nicht in wärmender Frühlings⸗ 
jonne. Sie ſpürte auch nichts von dem linden 
Flüftern der Bäume, von dem verftohlenen, 
koſenden Bogelgetriller. Ihr Mund war berb, 
ihr Auge verbültert. 

Der Weg ging jeßt ein wenig bergan und 
führte in ein lichte® Buchengebölz voll hober, 
junger Etämme Died Gehölz mußte fie 
durchfchreiten, um zu dem Gehöft der Bafe zu 
gelangen. Das lag weitab vom Dorf. Die 
Peſt war nicht dorthin gefommen, aber nun 
kam auch feine Freude, fein Leben, nun brütete 
dort nur derfelbe Schmerz. Urſel blieb, als 
fie in das Wäldchen voll würziger Düfte trat, 
einen Augenblid ftehen und atmete die reine 
Luft mit Erquiden. Dabei ſah fie gleichfam 
mit Erftaunen, meil fte es vorher nicht bemerkt 
hatte, den Himmel im farbigen Feuer ber 
untergehenden Sonne. Auch ftanden an der 
andern Himmelsſeite bleiche, leuchtende Wolfen: 
züge, deren Schimmer einen Abglanz auf bie 
Felder warf. Sie ftand eine kurze Zeit in 
Anftaunen verfunfen. Über ihr flötete von 
der Spitze eined® Baumes eine Amfel mit 
ganzer inbrünftiger, Tehnfüchtiger Wehmut, in 
ben Zweigen rajchelte es leife Wie von 
hufchendem Leben. 

Die Baſe faß vor ihrem Häuschen und 
ſchaute friedlich in die Abendfonne Die 
welfen, alten Hände hatte fie im Schoß ge- 
faltet, an ihren Knieen rieb fih ein großer, 
gelber Kater und fchnurrte behaglich. Als fie 
Urfel von ferne erblidte, hob fie die Sand an 
die Augen und fchaute nach ihr aus. Der 
Kater aber fchlängelte feinen ſchönen Schwanz 
und ging ihr langfam und vomehm ent: 
gegen. 





Frühfingögefchichte. 


Das Mädchen trat mit furzem Gruß heran 
und legte den Flachs und die Rrämerwaren 
auf die Bank. 

„Welch ein Frühlingstag das iſt,“ fagte die 
Bafe, die ihr freundlich zunidte. „Der liebe Gott 
meint e3 gut mit ung Alten. Im Ofen fteht 
dein Süppchen. Geb, ib, du wirft müde fein.” 

„Im Dorf richten fie das Maifeft,” fagte 
Urfel. 

„Das ift recht. Mit Freude loben wir 
den Herm,” erwiberte die Alte, 

Ein dunkles Zuden erſchien auf der Stimm 
des Mädchens, als meine fie faft, hier fei 
nichts zu Toben; dann fügte fie aber falt hinzu: 

„Unb Dörte heiratet den Tiſchlerfritz“ 

„Gott ift gnäbig. Er tröftet die zerbrochnen 
Herzen,” fagte die Bafe und fah mit fanften 
Augen auf Urfel, während fie lind den Frühlings⸗ 
duft einatmete. 

Die ſah fie mit brennenden Augen an, 
dann wandte fie ſich ftumm ab und ſchritt in 
das Häuschen. Hier ftand fie einen Augen: 
blick reglos und preßte die Hände ineinander. 
Wie ein Stöhnen fam es von ihren Lippen: 

„Weshalb bift du gegangen, Franz? Ic 
bin fo allein, — fo allein.” 


* * 
* 


Es mar ein paar Tage fpäter, da fehritt 
Urfel duch das Wäldchen. Auf der Hälfte 
des Weges zwiſchen dem Dorf und dem 
Häuschen der Bafe hatte ein Bäuerlein fein 
Befigtum mit ein paar Kühen und Pferden. 
Dorthin ging Urfel ab und an, um Milch zu 
bolen. Auch heute war fie früh hinaus, zugleich 
mit der Sonne, die milde und far aufging. 
Ein ganz fanfter Morgenwind regte die jung: 
begrünten Buchen, der Tau hing fatt und 
ſchwer im Gras, ein Häglein fprang durch 
das Unterholz und machte Männden. Vor 
allem aber regten ſich die Vögel und zwitſcherten 
und fangen. 

Urſel ſchritt raſch und munter aus, ihr 
Traftvoller Körper war nad der Nachtruhe 
befonders friſch, die fhnelle Bewegung, bie jaft 
noch etwas herbe Luft belchten ihn. Es war 
wohl ſchwer, an biefem fonnigen Frühlings- 
morgen nicht unwillkürlich auch vol ruhiger 
Lebensfreude zu fein. Wie unbewußt drängte 
fih ein Summen auf ihre Lippen, eins von 





465 


jenen Volfsliedern, die fie früher mit Franz 
und Dörte und Michel gefungen. Sie wurde 
es felbft nicht gewahr. Faſt gedankenlos 
wanderten ihre Blide in den Sonnenjubel, 
und plöglich ftiegen wirbelnd, Har und macht⸗ 
voll Ieuchtende, lodende Töne aus ihrer Bruft 
in ben fonnigen Morgen, um bie Wette mit 
den Bogeljtimmen, nur lieblicher, kraftvoller. 
Die Welt war fo ftill ringsum, ihr Lied war 
allein zu hören; wie Glodenllänge ſchwebten 
die Töne über dem taugligernden Gefilb. 

Aber mitten darin brach Urjel ab und 
horchte faft erfhroden, ob fie es wirklich felbft 
gewefen, deren Stimme fo jubelnd erſchallt 
mar. Und dann ftieg eine Nöte in ihr Geficht, 
obwohl - fie ganz allein war. Sie hörte nur 
noch das gebämpfte, nedende Gezwitſcher der 
Vögel. Untoillig z0g fie die Etim zufammen 
und fchritt rafcher vorwärts und babei trieb 
fie ihre Gedanken unbarmherzig in bie dunklen 
Wintertage zurüd, in die Etunden atemlofen 
Grauens, wenn der Nordwind um ihr Häuschen 
feufgte und fie gemeint hatte, die Stimme von 
Franz zu hören, als Hage er um Einlaß, als 
fei es ihm zu fehauerlid im einfamen Grab. 
Hatte fie nicht oft feinen Schritt gehört, den 
rafchen, feften Schritt? Aber er tar verhallt, 
ehe er die Thür erreichte, er ging immer vor: 
über. 

Nun hatte der Frühling feine Macht mehr 
über ihre junge Seele. Sie ſchritt durch den 
blühenden Wald und merkte es nicht. 

Erft als fie fih nad kurzer Zeit dem 
offenen Feld näherte, machte fie aus ihrem 
dunklen Brüten auf. Sie ſah durch bie 
Stämme hindurch zwei Pferde auf dem Ader 
ftehen, und an einen der Bäume lehnte ein 
Mann, die Arme gereizt, und unter düftrer 
Stirn blidten zwei fremde, todftille Augen nad 
ihr hin. Einen Augenblid durchrann fie ein 
Schred, daß ihr Fuß ftodte. Der Mann aber 
wandte den Kopf und fah reglos wie vorher 
in das flimmernde Feld hinaus. 

Nun erfannte fie ihn aud. Es war der 
Toni vom Steingehöft. Und ihr mar, ale 
müfje ihr Fuß leifer auftreten, um den in feinem 
Schmerz nicht zu ftören. Die Bafe, die gern 
mit den Alten ſchwatzte, wenn fie nad) dem 
Dorf kam, hatte ihr über den Toni erzählt. Er 
war tie finnlos geweſen in feinem Schmerz, 

3 


Srüßlingögefciäte. 


und goffen mit ihren Tönen Seftftimmung 
über den Tag. Der Echall wiegte fich heiter 
durch bie Mare, reine Luft, und Urſel hörte 
ihn, während fie ihre Morgenarbeit im Felbe 
verrichtete. Sie richtete fih mandmal auf, 
um zu laufchen und munderte fi dann, mie 
warm ſchon bie Sonne war, daß fie es an 
dem Epatengriff fpürte, wie lange er bereits 
in ihrem Strahl gelegen hatte. 

Als fie etwas früher als gewöhnlich heim 
am, Tag in dem Stübchen ihr Feftpug aus: 
gebreitet, und bie Bafe rief aus dem Neben- 
raum, fie folle nur eſſen und ihr ein wenig 
verwahren; Urſel betrachtete erftaunt das feſt⸗ 
liche Kleid. Cie hatte gar nicht daran gedacht, 
daß fie fih auch ſchmüden müfje Dann 
aber eilte fie, es raſch zu thun, um mit ber 
Bafe zufammen zu eſſen. 

Als fie nun ihre Böpfe aufgebunden hatte 
und das Kleid feft und zierlich faß, betrachtete 
fie ſich mit nachdenllichem Blick in dem Spiegel. 
Ihre volle, braune Wange war nicht ſchmaler 
getvorden, der Fräftige Mund nicht bleicher, 
ihr Auge nicht matter. So hatte fie auch 
voriges Jahr ausgeſchaut, ald fie noch ein 
wenig zärtliher in ben Spiegel blidte und 
rechte Freude daran hatte, daß ihr Antlig 
ſchön mar. Denn dazwiſchen warf fie ver- 
ftohlene Blide zum Fenſter hinaus auf den 
Franz, der ungebuldig pfeifenb auf und ab⸗ 
ſchritt und einen Strauß mit Pfingftrofen 
verftedt zu halten fuchte. Cie aber lachte, 
denn fie hatte den Strauß auf den erften 
Blick gefehen. 

In diefen Gedanken murbe fie bon ber 
Bafe unterbrochen, die auch zierlich gepußt 
ihre Kammer verlieh. 

„Ei, Urfel, fertig,” fagte fie erfreut und 
warf einen wohlgefälligen Blick auf das ſchlanke 
Mädchen. 

Urfel holte den Napf mit Eſſen und legte 
fih und der Bafe vor. Ihr war wunderlich 
zu Mut, wie fie das gepußte alte Weibchen 
fah, und ein gerührtes Mitleid erwachte 
in ihr. 

„Sie wollen fi ja alle täuſchen,“ dachte 
fie traurig, „täufchen und denken, daß fie 
glüdlich find. Und find uns nicht allen ſolche 
Stunden zu gönnen? Soll id an einen 
Schmerz mahnen, den fie vergeffen wollen?” 





487 


Aber troß dieſer guten Vorfäge brannten 
ihr heiße Thränen in den Augen, bie fie nur 
mit Mühe zurüdbrängte. 

Die Bafe aß vorfichtig mit vorgeneigtem 
Dberlörper und marf unruhige Blide zum 
Fenſter hinaus, um nad) dem Stand ber 
Sonne zu fehen, ob es nicht Zeit zum Aufbruch 
fei. Dann trippelte fie, während Urfel die Teller 
wuſch und fortftellte, ſchon vor die Thür und 
ſchaute bort recht ehrbarlich unter ihrem breiten, 
geftidten Kopftuh den Weg hinauf. Endlich 
mar auch Urfel fertig und trat zu ihr. 

„Schau, Urfel, weld ein Tag”, fagte bie 
Bafe. „Diefer Glanz und Flimmer und ſolch 
eine weiche, linde Luft, daß ſich kaum ein 
Blütenbaum rührt. Voriges Jahr war es 
doch auch ſchön, aber einen ſolchen Tag hat 
es nicht gegeben, feit ich jung war.” 

Urfel lächelte bebächtig. Ja, der Tag war 
ſchön und in feiner ftilen Pracht beinah 
rührend. Bon fernher am Hähnegefchrei, das 
dur die ftille Luft ganz klar herüberdrang. 
Am Himmel zerfloß ein zartes Duftwöllchen. 
Neben ihnen ftieg eine Lerche auf, und über 
dem Wald zog ein Habicht feine ruhigen Kreife. 
Eine Eidechfe lag auf dem fonnigen Weg und 
huſchte erſt fort, als fie nahe heran kamen. 

Die Bafe ftüßte fih auf Ullas kräftigen 
Arm, und ihre junggebliebenen Augen fonnten 
ſich an allem Schauen nad rechts und links 
nit genug erquiden. Dft blieb fie ftehen, 
teils um fih zu ruhen, teild um andächtig 
den tmürzigen Feldgeruch einzuatmen. Hier 
freute fie fih an der zarten Saat, dort an 
einem überhängenden Blütenbuſch. Es mar 
Urfel faft, als ginge aud ihr erft jegt der 
Reichtum und die Fülle diefer gefegneten Tage 
auf. Und fein Arbeitflang tönte herüber, 
felbft die Mühle ftand mit reglofen Flügeln. 

Im Buchenwäldchen fagte die Bafe: „Und 
ſchau, Urfel, nicht? vergißt der liebe Herrgott. 
Mein Lebtag hab’ ich nichts fo geliebt, mie 
Leberblümchen und Anemonen, und fieh, mie 
alles weiß und blau ift. Geh, Kind, und 
pflüd mir ein Sträußchen.“ 

Nah wenigen Minuten tvaren Urſels 
Hände gefüllt, und fie feßte fich zu der Baſe 
auf den bemooften Stamm und ordnete die 
heilen Blumen. Die nahm fie mit etwas 
zitternden Händen und lehnte einen Augen⸗ 

30* 


Fruhlingegeſchichte. 
Antworilos nahm fie bie Hand, die er bot | 


und trat in die Reihen. Er legte den Arm 
um fie und balb glitten fie in der linden Luft 
nad den fröhlichen Taften auf dem platt: 
getangten Rafen dahin. Mit keinem andern 


hätte Urfel getanzt, fie begriff es felbft faum, 


daß fie nun im Reihen war und im Vorüber- 
ſchweben flüchtig bie Geſichter der Bafe und 
des Frangenvaterd unb der andern ſah. Sie 


wußte nur, daß dies Wiegen und Drehen ı 


köſtlich war, daß ein fefter Arm fie führte, daß 
die Eonne glänzte und daß manchmal ein 


Schwalbenſchrei ihr Ohr traf. Und dies alles : 


mar ſchön. 
AS dann die Mufit eine kurze Paufe 


machte, ftanden fie nebeneinander und prüften ' 


ſich gegenfeitig mit verftohlenen Augen. Cie 


ſah wohl, daß fein Geficht heute nicht düfter 


mar, wenn auch ernft, und fein graues Auge 
mar fanft, wenn er fo gelaffen vor fi hin⸗ 
ſchaute. Nun fah er fie mit einem furzen 
Lächeln an, einem Lächeln, bei dem fchneeige 


Zähne unter dem ſchwarzen Bärtchen ſichtbar 


wurden und bas deshalb feltfam fröhlich ſchien, 
und fagte mit einer ruhigen, etwas leifen 
Stimme: 

„Wie prädtig haft du neulich gefungen, 
Urſel.“ 

Sie erſchrak ein wenig, er aber fuhr fort: 

„Schau, fol eine Menfchenftimme am 
ſchönen Tag im einfamen Feld, die fährt durch 
das Her.” 

„Und ich meinte, ich hätt’ dich geſtört,“ 
ſagte Urfel. 

„Beim Eggen?“ fragte er und lachte. 

Und dann begann bie Muſik wieder und 


wie felbftverfländlidh führte er fie aurüd, und | 


fie tanzten rubig, ohne zu reden, langfam und 
jeden Schritt im Takt genießend, den ganzen, 
langen Tanz zufammen. 


Paare geftellt hatten, fo blieben fie bei ein— 
ander, und tie fie mit feinem andern getanzt 
hätte, fo dachte auch der Toni nicht daran, 
von ihrer Seite zu meichen. 

Immer wieder erhoben bie Fiebler nad) 
kurzem Raſten die Geigen, immer wieder 
Schritten fie dann Hand in Hand in ben Kreis. 
Sie fah nicht die andern, fie fah nur ein 
buntes Gewimmel. Sie hörte nicht, was ges 


Es fam kein andrer, 
der fie zu einer Runde holte. Wie fi die , 


469 


rebet ward, nur Stimmen, bie ihr fern ſchienen 
| und bie, je tiefer der Abend fanf, je mehr von 

einer müben, füßen Wehmut erfüllt fchienen. 
| &ie tonnte des Tanzens nicht genug finden, 
aber gut waren auch die Zeiten ber Raft im 
meiden Grafe, wenn die heiße Stirn von 
einem ganz fanften Hauch gefühlt ward und 
das unſchuldige Gezwiticher der Vögel hörbar 
ward nach dem Verftummen der Muſik. Ein- 
mal brachte der Toni ihr etwas zu trinfen, und 
ı bon fern fchien es ihr, als fähe fie das lächelnde 
Geficht der Bafe, das ihr zunickte. 

Und die Sonne fanf, feurig und mild. 
Ihr rotes Licht erloſch an den Häufern, Fadeln 
ı brannten auf, ehe noch die Sterne berbortraten, 
und von den Wiefen fam ein tiefer, fühler Hauch. 
' Da begann ſchon hie und da ein übermütiges 
Gejauchze und trogiges Gelächter, das fo klang, 
als fordere das Leben den Tod heraus. Und 
konnte es das nit? War es nicht unbefchreib- 
lich fieghaft und ſchön? Konnte das mahre 
Xeben, das Frühlingsleben des Herzens, durch 
irgend einen Tobesfchatten getrübt werben? 

Urfel und Toni faßen Hand in Hand. Cie 
plauderten nicht viel, nur hie und da ein Wort 
über den Tanz, den Duft der Wiefen und bie 
glanzvollen Frühlingstage. Aber nie vorher 
hatte Urfel fo den Frühling empfunden, nie 
vorher hatte ein füßes, herzzerreißendes Glück 
fo ihre Seele erfüllt. Sie wünſchte nichts, als 
noch lange, lange fo zu bleiben, mie ein 
Genefender, den plößlich peinigender Schmerz 
verlajien und ber in tiefer Danfesftille das 
bloße Atmen und Sein genießt. Und manchmal 
ſchaute fie dann auf den Toni, und ihre Augen 
rubten voll ftrahlender Liebe auf feinem ernften 
Geſicht. 

„Noch einen Tanz, Urſel,“ bat er, und fie 
drehten fi in dem Wirbel, der jegt rafcher 
und toller ward, nun Luft und Freude wuchs. 
Man merkte es dem raſenden Gejubel der 
Fiedeln an, daß bei dem Geiger das Feſtbier 

Eieger über den Schmerz geivorden, und bie 
| übermütigften Tänzer ftampften die Erde, 
| jauchzten und ſchwangen ihre Tänzerinnen, daß 

deren Füße faum den Erdboden berührten. 
| An Tonis ftarfem Arm glitt Urfel aus 
dem Wirbel hinaus und merkte es faum. Nun 
ward es auf einmal ftiller um fie, die Mufit 
Hang gebämpjter, und ber Flammenſchein ber 


470 


Fackeln reichte nicht mehr bis zu ihnen hin. 
Aufatmend blieb der Toni ftehen, zog Urfels 
Arm durch den feinen und fagte: 

„Sieh, wie filbrig der Mond ſchon glänzt. 
Magſt du es, dann bring ich dich heim, und 
wir gehen das Stüd noch zufammen.” 

„Aber die Bafe?” fragte Urfel und erſchrak, 
denn fie hatte des alten Weibleins den ganzen 
Abend nicht gedadıt. 

„Ad, Urſel,“ lachte der Toni, „fie bat dir 
ja zum Adieu genidt und ift früher mit bem 
Franzenvater heimgegangen. Weißt bu nicht 
mehr?” 

„Ich weiß ſchon,“ fagte die Urfel und 


ftügte ſich feiter auf feinen Arm, denn der Weg 


war dunkel, und der Mond gab nur ein 
unficheres Licht. 

Nun fie von weitem das Echreien hörte, 
dag wüſter aus der Ferne Hang, war fie froh, 
nit mehr im Reigen zu fein. Der Toni 
war jest ftill, fie hörte nur feinen langfamen, 
fraftuollen Atem. In dem grauen Dämmern 
huſchten und überhufchten fich die Fledermäuſe, 
fhlugen oft nah an ihnen mit lautlofen 
Flügeln vorbei. Sie waren auf dem Meg, 
der zum Wäldchen hinaufführte. Das fühle 
Wehen des Abende war einer reglofen, Iauen 
Wärme gewichen. Hin unb wieder ftolperte 
fie über einen Stein oder ein Zoch im Wege, 
dann hielt fie der Toni, und endlich legte er 
feinen Arm um fie, und fie ließ es gefcheben. 
Es war fo feierlich, dies ftille Dabinfchreiten. 
Mas gingen fie die Menfchen an, die da 
ferne lärmten, was ging fie auch das Ge: 
weſene an? 

An dem Waldrand blieb der Toni ftehen 
und lehnte fie ein wenig zurüd, baß er in 
dem matten Schein ihr Gefidht fah. 

„Hier bab ich dich fingen hören, Urſel,“ 
jagte er leife. „Sch war jo wunb und ieh, 
daß ich gegangen bin und geweint hab’. Zum 
erftenmal Thränen. Das hat mir das Herz 
freigebadet. Dann hab ih nur gemwünfcht, 
dich noch einmal zu fehen, um bir zu danken. 
Und jetzt könnt' ich did) nimmer, nimmer 
lafjen.“ 

Er ftieß es faſt zwiſchen den Zähnen hervor, 
als bereite es ihm Dual, das zu fagen. Aber 
über ihr Gefiht, das im Mondlicht blaß 
erichien, ging nur ein leifes, inniges Lächeln. 


Frühlingsgefchichte. 


Da neigte er fih zu ibr und küßte fie wie 
rajend auf Mund und Augen. 

„Urſel, Urfel, Gott fei gelobt. Ich hätte 
ohne dich das Leben nicht mehr ertragen.” 

„Und ich, Toni?” fragte fie dagegen, un 
wieder blieben fie ftehen und blickten fich mit 
ftaunenden Augen an und lähelten und 
füßten fich. 

Nie hatte Urfel fo Tange Zeit gebraudt, 
das Gehölz zu burdfchreiten, und nie war 
ihr der Meg fo kurz erfdienen. Durch bie 
jungbelaubten Bäume riefelte der Mondfchein, 
wie Silber lag er auf dem weißen Pfab. 
Ein weſenloſes Raufchen bie und da war um 
fie das einzig Lebendige. Und kein Schatten, 
feine Erinnerung mar zwilhen ihnen. An 
biefem einen Tage vollgemefjienen Glüdes war 
niht Raum für einen trüben Gebanfen. 

Bor dem Häuschen der Bafe blieben fie 
ftehben und fchauten ſich noch einmal an. 

„IH Tomme morgen wieder,” fagte er und 
faßte ihre beiden Hände, mit ben beichatteten, 
grauen Augen fie innig betrachtend. 

„Richt zu ſpät,“ war ihre Antivort. 

Noh einmal neigten fie fih einander zu 
in einem legten, fcheuen Ruß, bei dem fie jäh 
errötete. Dann wandte er ſich um und ging. 
Eie blieb an die Bank gelehnt und fchaute 
ihm nad. Von dem Felde Fang ber Huf 
der Kornwachtel. Der Mond war glängender 
geworden und umwob alles mit feinem ftilfen, 
märchenhaften Echein. Die blanfen Fenfter 
an dem Häuschen der Bafe glänzten mie 
Silber. Und die Luft war fo würzig und 
fühl, daß fie Urfel fürmlich beraufcte. 

Borfichtig tappte fie fich endlich, als ber 
Toni im Gehölz verfhmwunden war, in ihre 
Heine Kammer. Hier ftieß fie das Fenſter 
auf, um noch mehr Monbfchimmer und 
Frühlingsluft zu atmen, dann entfleibete fie 
fih und fchlief, ermattet von den ungewohnten 
Anftrengungen und Aufregungen des Tages, 
bald tief und ſchwer. — 

Plöglih, fie mußte nicht, wie lange fie 
gefchlummert hatte, fuhr fie empor und faß 
mit bämmerndem Herzen aufredht im Bett. 
Ihr Kopf war fchwer und ihr Atem flog; 
vorgeneigt laufchte fie angeftrengt in die Nacht. 
Dort war ihr Name gerufen, einmal, ziveimal, 
weit, Hagend. Davon war fie wach geworben. 


— — — 





— 4 


Srüßfingsgefgjtchte. 


Der Ruf Hang ihr noch immer im Ohr nad, 
es lonnte feine Täuſchung fein: Wer aber 
mochte fie rufen? 

No immer lag draußen die Nacht, und 
ihr ruhvoller Frühlingsatem ging leife. Der 
Mond war höher geftiegen, nur ein ſchmaler, 
heller Streif lag noch am Boben ber Kammer. 
Urfel lauſchte, aber es lam kein Laut aus ber 
tiefen, nächtlichen Stille. 

Und doch Batte ber Auf fie aus dem 
Schlummer geivedt, und fie hatte gemeint, es 
müffe ber Toni fein, der aus Todesnot und 
Angft zu ihr riefe. Der Toni, defien Ruß 
fie noch fühlte, der Toni, deſſen Auge fie 
noch fah, der fie im Reigen geführt und fie 
heimgebracht hatte. 

Wer anders follte fie denn auch rufen? 
Doch nicht der Franz, der im Fühlen Grabe 
lag, der ſchon fo lange, lange tot war! 

Aber jeßt erſt wurde fie ganz wach aus 
ihren irren Gebanfen und preßte mit einem 
jammernben Etöhnen das Geficht in die Hände. 
Sie mußte, fie fühlte, es fei der Franz ge: 
weſen, der Franz, den fie treulos verraten. 
Seine ganze, junge, ernfte Liebe hatte er ihr 
geſchenlt, und jeßt fehon konnte fie ihn vers 
geilen, nah wenig Monden ganz vergefien, 
wenn auch nur auf kurze, wirrſüße Stunden. 

Wer hatte fie fo verzaubert? Wer hatte 
fie gezwungen, zum Maienfeſt zu gehen? Wer 
hatte fie dulden laſſen, daß ein Fremder fie 
umfchlang und füßte? Ja, wer ließ auch jegt 
noch das Geſicht diefes Fremden fo nah, fo 
gütig ernft vor ihren Augen ftehen, wer den 
tiefen, weichen Klang feiner Stimme in ihrem 
Ohr zittern? 

„Franz,“ ftöhnte fie, „Franz,“ und ihre 
Gedanken jagten und fuchten nad feinem 
rofigen, lebensvollen Gefiht, nach dem hellen, 
hoben Lachen, das fie noch fo oft zu hören 
gemeint hatte, daß ihr gegen biefe Lebens- 
freude fein Tod noch entfegensvoller fchien. 
Zurüd in die dunklen Eterbeftunden! Fort 
aus der weichen, lind tönenden, felig bebenden 
Frühlingsnacht in graue, häßliche Herbftftürme, 
die mit ihrem dumpfen, eintönigen Klagen 
Schmerzen und Thränen nicht zur Ruhe 
fommen ließen. 

Und wirklich ftieg ein zuckendes Schluchzen 
ftoßtveife aus ber jungen Bruft, wirklich kam 





471 


ein heißes, überquellendes Mitleid warm 
ftrömend in ihre Seele. Wirklich erwachte 
eine ftille, drohende Abwehr gegen den Räuber 
ihres Schmerzed in ihr. Das hatte er nicht 
gedurft, fie füffen, weil fie einmal ihren 
Nummer zurüdgebrängt hatte, er, von bem 
man fagte, er wiſſe, was Tod fei. Ja, Tod! 
Sollte fie noch einmal ihr Leben an ein 
anderes binden? Niemals, niemals mehr. Ein 
folder Schmerz ift genug für ein Leben. 

Als ihr Schluchzen fachter wurde, wuſch 
fie fi die Augen im fühlen Waffer und fah 
dann, binausfhauend, daß ſchon überall cin 
leifes, laum merkliches Dämmern die ſchweren 
Schatten der Nacht erhellte. Auch fing ihr 
Hahn fröhlich und durchdringend an zu krähen, 
und ein berber Lufthauch ftric in die Kammer. 

Urfel begann, ſich raſch und heimlid an= 
zulleiden. Ihre veuige Sehnſucht drängte fie 
zu Franzens Grab. Sie mußte dazu bem 
Morgen eine Stunde abgewinnen, um mit 
ihrer Arbeit nicht im Nüdftand zu bleiben. 
As fie fertig war, hatte ſich an den Aſten 
und Bäumen fhon das Dunkel gelöft, und 
bie Sterne waren verblichen, ber Himmel war 
von mattem, farblofem Blau. Aus den 
Sträuhen kam ein erftes, verſchlafenes 
Spatzengezwitſcher. Behutfam öffnete fie die 
Thür und trat hinaus. In dem Stall grunzten 
und quietfhten die Schweine durcheinander. 
Das Alltagsleben hatte fich feit geftern nicht 
geändert, nur fie far eine andere geworben. 

Lautlos ging fie durch das frühe Dämmern, 
denfelben Weg, den fie geftern gelommen war, 
aber fie dachte nicht an geftern. Je weiter 
der Morgen fortſchritt und alle Schatten 
ſcheuchte, defto mehr Tag es wie ein Schlimmer 
Traum, der feine Wahrheit hatte, hinter ihr, 
defto mehr Iebte fie ſich in ihr Leben zurüd, 
wie es vor dieſem Geftern geivefen. Als fie 
das Wälbchen erreichte, ging fie zwiſchen bie 
Stämme und pflüdte, was fie an friſch er 
wachten Blumen fand. Die follten das Grab 
des Jünglings fchmüden, ber fein Leben fo 
wenig hatte genießen dürfen. 

Als fie ihre Schürze damit gefüllt hatte 
und nun aus den Stämmen herbortrat, war 
der ganze Himmel von rofigem Schein 
getränkt, und golbbligende Wöltchen badeten 
fih in den Strahlen der Eonne, die noch 


472 


nicht am SHorizont aufgeltiegen war. Urfel 
fchritt rajcher vorwärts, dem Kirchhof zu, von 
deflen boben Bäumen melodifches Amfel: 
geflöte erſchallte. Sie befreuzte fich ſtill und 
ernft, ala fie durch die Pforte trat, ging dann 
den Ichmalen Pfad zu dem Grabe des Liebften 
hinauf und betete dort, nachdem fie die Blumen 
verſchwenderiſch darüber hingefchüttet hatte, fo 
trauervoll, jo inbrünftig, jo tief erjchüttert, 
wie nie zubor. Ihm gelobte fie fih von 
neuem, ihn flebte fie an, ihr leßtes Gut, ihren 
Lebenstroft, den Schmerz, nicht von ihr zu 
nehmen, und je inniger ihre Thränen rannen, 
deſto fanfter und leichter ward ihre Eeele. 

Als fie binauffchaute, ſah fie, nicht weit 
bon ſich, an Hanni Grab den Toni Stehen. 
Der erſte aufzudende Morgenftrahl beleuchtete 
ihn und den großen Strauß von Moosrofen, 
den er in der Hand bielt, wohl um Hannis 
Grab damit zu fchmüden; aber das hatte er 
vergeſſen; er ſah nur zu ihr hinüber mit 
itarren, leibverbüfterten Augen. Da, als ihre 
Blicke fich trafen, zudte etwas in feinem Geficht, 
er machte eine Bewegung, wie um ihr entgegen- 
zuftürzen, über die Gräber hinweg, mit aus- 
gebreiteten Armen. Ä 

Uber die Urfel lag nur ganz regungslos 
auf den Knieen und ſchaute ihn an. Sie fah 
nur fein berbes, junges Gefiht; den Franz 
batte fie vergefien. Ihr erftes Gefühl mar 
wie ein Jauchzen geweſen, und num war e3 
wie ein Schall von großen Gloden in ihren 
Obren, der alles übertönte. 

Schweigend, reglos fchauten fie ſich an. 
Allmählich verbüfterten fich ihre Blicke, die erft 
jo trunfen einander gejucht hatten, fein Mund 
zudte herb und falt, und die Stirn zog ſich 
zujammen. Denn Urfel hatte bie zitternbe 
Hand erhoben und mwie-zur Abwehr ein Kreuz 
auf Stimm und Bruft gefchlagen, den Blick 
immer auf ihn gerichtet. Jetzt fenkte fie den 
Kopf und murmelte mit haftigen Lippen Gebete 
vor fih Hin. ALS fie wieder auffchaute, war 
der Toni verſchwunden. 

Schwerfällig erhob fie fich, ftrich über ihre 
Stim, ging ganz gedanfenlos beim. Nur 
einmal auf dem Weg blieb fie ftehen. Mit 
den kraftvollen, braunen Armen padte fie eine 
junge Birke, die am Feld ftand, daß bie 
frühlingsgrüne Krone fi) rauſchend in der 


Frühlingsgeſchichte. 


Luft bog. Die vollen Lippen preßte fie auf: 
einander, aber doch rang es fich los: 

„Die Hanni, Gott, wie hat er die Hanni 
geliebt.” 

Dann ging fie ftil, bleih und in fi 
gekehrt weiter. 

Aber zu Hauſe wartete die Baſe, und 
tauſend Schelme lachten aus ihren milden, 
braunen Augen. 

„Schau, Urſel, du haft doch Freude gebabt 
am Felt. Wie bift du aber fo früh daher 
geflommen, Mädchen?” 

Urjel blieb ftehen. In ihren Augen bligte 
e3 drobend und fdharf. 

„sh Tomme vom Grabe, Baſe,“ fagte fie 
mit bebender Stimme. „Vom Franz, in 
ijt mein Platz. Immer, ewig.“ 

Da mar die Baſe betrübt und ſchüttelte 
ihren greifen Kopf, denn fie hatte andre Dinge 
für ihren Liebling erträumt. — 

Frühling, Frühling, fangen die Nachtigallen. 
Frühling, verfündeten die taufenb jungen 
Blüten, die täglich erwachten, Frühling atmete 
die braune, buftende Erbe, die den Samen 
empfing und ihn grün und lebensfrifch glänzend 
wieder aus ihrem Schoß erftehen ließ. 

Am nächſten Tage fam Dörte mit lachenben 
Munde und erzählte, daß es nun Hochzeit 
gäbe, Hochzeit mit Meßgeläute, mit wehenden 
ahnen und fröhlihem Trunk. Dabei fchaute 
fie auf Urfel, und Iofe, ſchelmiſche Worte 
tanzten auf ihren ſchwellenden Lippen. Aber 
Urfel fchaute fie nicht an. Mit dem gleich: 
mütigen, ftillen Geficht blidte fie vor ſich hin, 
verbarg ihre brennende Scham, verbarg ihre 
Angſt, den Namen von Toni zu bören. 

„Und Schau, ich habe gebacht, der Toni 
müffe bier fein,” fagte die Dörte treuherzia. 
„Da wollt’ ih euch gleich zufammen laden.” 

„sh habe auch gedacht, er follte kommen,“ 
meinte die Bafe und nidte. „Eie haben ſo 
viel getanzt, die Kinder, daß er wohl fragen 
fünnte, was ſie macht.” 

Urfel war bis an die Lippen erbleicht. 

„Der Toni fommt nicht,“ fagte fie mit 
kalter, verlöfchender Stimme. „Zwiſchen uns 
jtehen zmei, die tot find. Gott belfe ung, 
wenn hir fie vergeſſen können.“ 

Und als die Dörte ſchwieg, und entfcht, 
mit Augen, die naß wurden im Scred, in 





Frühlinggefchichte. 


473 


ihr Geficht ftarrte, fuhr fie fort, ettvas näher | Gloden, die Progeffionen, die langen ge: 


tretenb: 

„Bu deiner Hochzeit komme ich nicht, Dörte. 
Tanzt, lacht, mic) laßt gehen. Daß einer im 
Grab liegt, der mir lieb war und hat feinen 
Frühling, feine Freude, fein Leben, fein Glüd, 
das vergeß ich nicht, und wenn's alle vergeſſen. 
Wer mi von dem reißt, ift mein Feind, cin 
Feind, den ih haſſe. Und nun laßt mic. 
Wenn's gebt, für immer. 
andres tie eures.” 

Sie batte ruhig, jaft mit leifer Stimme 
geſprochen, dabei fuhren ihre Hände aber 
unabläffig an der Schürze auf und nieber, 
und jegt wandte fie fi) und ging. 

Dörte ſchluchzte auf und verſicherte, daß 
fie ihren Michel ja auch nicht vergefien habe. 
Die Baſe aber ſprach ihr milde zu und wieder⸗ 
holte nur immer: 

„Gott fügt die Herzen. 
feiner Hand.” — 

Und dann ging die Arbeit fort, das Leben 
drängte weiter, jeder Tag ward von dem 
milden Glanz der Eonne gefegnet. Abend 
für Abend nad} vollbrachtem Tagwerk wanderte 
Urfel zum Kirchhof. 
und fehaute mit verfchleierten Augen vor ſich 
bin. Oft blidte fie zu Hannis Grab hinüber und 
ſuchte fih ihrer zu entfinnen, wie blond und 
froh fie gemwefen, wie der Toni am DMaienfeft 
fie nicht aus feinen Armen gelafjen und wie 
ibr Lachen filberner geflungen hatte, als das 
der andern. Und dann ftüßte fie den Kopf 
auf und fann, daß wohl fein Herz wie das 
ihre fih auf einen Augenblid verirrt habe, 
aber doch treu und voll Liebe nur an Hanni 
bängen fünne. Unb wenn dann ihre Thränen 
heiß hervorbrachen, ſchluchzte fie dumpf: 

„Wärſt bu nur nicht geſtorben, Franz, 
wie glücklich könnten wir ſein.“ 

Dann erſtarrte wohl wieder ihr Herz, wenn 
ſie an die Stunden der Angſt dachte, als ſie 
das Totenglödchen hörte, das jeden Tag ein: 
tönig, jämmerlid durch die Herbftluft Hagte. 
Wie fie die Dorfftraße hinauflief, als irgend 
jemand fagte: „Der arme, alte Mann, nun 
ift auch fein Franz tot.” Mie fie gleich einer 
Verzweifelten mit dem greifen Vater rang, 
um nod einmal, ein einzigesmal den Toten 
zu fehen. Und dazu das Wimmern der 


Sie liegen in 


Mein Leben ift ein | 





murmelten Gebete des Priefters. 

Manchmal zwar fuhr fie aus dem Zinnen 
auf und dachte: „Aber das ift ja alles vor: 
über, das ift ja vorbei und vergefjen.” 

Und eines Morgens, als fic erwachte, 
ſcholl ein beller, fröhlicher Klang vom Dörfchen 
berüber, ber ganze, windige Morgen: war von 
dem luſtigen Kling⸗Klang der Gloden erfüllt; 
das mar Dörtes Hochzeitstag. Bei aller 
Arbeit verfolgte fie der beitere Schall und 
wiegte ſich durch die Blütenbäume, fchmeichelte 
ſich in die Fliederlaube und felbft durch die 
offnen Fenfter zur Mittagszeit in das Stübchen, 
wo fie mit der Bafe af. Die Bafe kränkelte, 
fie batte Reißen in den Glievern und mar 
ein wenig niebergedrüdt. Nah dem Schall 
aber laufchte fie hinaus, und ein freundliches 
Lächeln glitt über ihr runzliges Geſichtchen. 

Nach beendeter Mahlzeit mußte Urfel in 
das Dürfen, um Einkäufe zu machen. Es 
war ihr lieb, heute zu gehen, da fie ale Be: 
Tannten beim Feftfhmaus mußte, der wohl 
bis in die Nacht währen würde. ie börte 


| aud das Schreien und Jauchzen der Feiernden 
Dort faß fie am Grabe 


im Wirtshaus. Der Krämer aber lehnte be= 
baglid an feinem Ladentiſch, rauchte fein 
Pfeifhen und gab ihr, mas fie begehrte. 
Mäbrenddem begann das Fiedeln, und er 
nidte und wies mit dem Daumen binaus. 

„Die find heut luſtig,“ fagte er ſchmunzelnd, 
„ieder vergißt nicht fo leicht wie die Dörte, 
Haft du vom Toni gehört?" 

„Mein“, fagte Urfel gelafjen und ſah ihn 
mit Haren, rubigen Augen an. 

„Den hält's nicht”, fagte der Krämer und 
zählte ihr das Geld. „Da hat er den Hannes in 
fein Haus gefegt und gebt felber in den Krieg. 
Eine Schande iſt's mit ihm. Solch ein Burfche, 
der eigenes Vich bat und Ader dazu. Aber 
's ift um die Hanne. Die vergißt der nicht. 
Hat fo ftarre, traurige Augen, wie am erften 


| Tag.” 


„Iſt er fort?“ fragte die Urfel. 

Ihre Stimme fam von weit, weit ber. 
Der Krämer merkte es nicht. 

„Fort über alle Berge. Schad' um den 
Burfchen. Kommt er heim, ift er ein Lotter⸗ 
bub’ ober ein Krüppel.” 

„Freilich wohl,“ fagte die Urfel tonlos. 


474 


Dann nahm fie ihr Päckchen und fehritt 
hinaus. Im Wirtshaus wurde gegeigt, und 
das Stampfen der Tanzfüße Hang. An ber 
Linde das Muttergottcsbild fah fie ſich an 
und ſah das milde Gefiht zu den fieben 
Schwertern im Herzen. Die Luft war voller 
Schwalben, die flogen und riefen und riefen. 
Der Flieder duftete fchon fo füß, daß die Luft 
fommerli davon warb. 

Mit leichtem Fuß ging die Urfel den Pfab, 
ſchlank, bochaufgerichtet. 

„But, gut,” fagte fie fih. „Gut, gut.” 

Darüber hinaus gingen ihre Gedanken 
niht. Uber ein andre zerrte und riß an 
ihrem Herzen. Sie mußte nit mas. Go 
fam fie heim. 

Bor der Thür faß die Bafe, die Füße 
bebedt, und ſah mit trübem Geſicht nad ihr 
aus. Sie fchritt fo ruhig und fchön heran. 

„Schau, in die Sonne hab’ ich mich geſetzt. 
Das mwärmt,” fagte die Bafe. „Solang man 
den Frühling und Sommer hat, muß man e3 
nüßen.“ 

Nach einem Weilchen feste fie zu: 

„Aud der Toni war bier.” 

Urfeld Hände eritarrten, ſanken fchlaff 
herab. Sie laufchte. 

„Sinen Gruß an dich, hat er gelagt. Er 
gebt fort, in den Krieg. Mich hat’ gar ge: 
jammert.“ 

Als Urſel nichts ſagte, ſah die Baſe auf, 
in ein eiſig verſchloßnes Geſicht. Da ſeufzte 
fie, blickte trüb und müde und murmelte dann 
berivorren: 

„Keine Kraft hat die Sonne. Mid däudht, 
die Strahlen find nicht recht warm.” 

Urfel ging. Nein, die Sonne hatte feine 
Kraft. Sie fror, fror. Ob er noch da war? 
Ein Gott behüt’ hätt’ fie ihn gern gejagt für 
die weite Sabre. Aber er fehritt wohl fchon 
zu, durh all den Frühling hin in den Tod. 
Auch in den Tod. Dann batte fie zwei zu 
bemeinen. Einen, deſſen Grab fie nicht mußte, 
um den durfte fie überall klagen, im Selb, 
im Wald, den ganzen Tag. Für den Franz 
blieb der Abend am Hügel. 

Ach nein, es war fehlimmer. Den einen 
hatte fie ganz verloren, mußte nicht, ob er 
lebte oder nit. Den Franz hatte fie, war 
ihm nab, der konnte nit von ihr fort. Um 


Frühlingsgeſchichte 


den durfte ſie weinen. Ja weinen, das mußte 
fie jetzt. Sie ſpürte, wie die Thränen an 
den Augen brannten. Ihr ſchien nur, ſie 
bürfe erft an Franzens Grab meinen, erſt 
da, nur da, aber dort auch die Seele hinaus, 
die thränenbrechende Seele. 

Sie eilte, fie lief faft, das bleiche, ftarre 
Geſicht oft leiſe zudend vor Schmerz. Co 
trat fie ein durch das Thor, das bie Sonne 
rötlih vergoldete. Wie der Flieder duftete, 
fo fatt, fo mübe, ala fei er am Wellen. 
lieder lag auf Franzens Grab, weißer 
und roter, lieder lag auf dem Grab der 
Hanni. 

Am Kreuz ſtand der Toni, emft, ruhig, 
jtiles Licht in den Augen. Und Urſel 
empfand einen Schmerz, daß fie nicht weinen 
durfte, fo lange er da war, daß fie nod 
warten mußte mit den Thränen. 

Er löſte fih von dem Kreuz und trat 
zu ihr: 

„eb wohl denn, Urfel.” 

„eb wohl, Toni.” 

„Und daß ich dich gekränkt hab’, vergieb,“ 
fagte der Toni, und fein Atem ging rajcher. 
„Sieh, ich geb’ es büßen. Hier kann ich nicht 
bleiben. Es drüdt zu vieles auf mich, Tote3. 
Nicht die Hanni, mein ih. Aber was ic 
gedacht hab — fpäter —“ 

Er ftodte und ſchwieg. Sie blidten fich 
beide an, fie hatten ſich Iangfam genäbert. 

„a, Toni,” fagte Urfel. 

„Und mweil id) nun geh,” fagte der Tont, 
„\o freut’3 mich, daß ich dich noch einmal feb, 
Urfel. Und meil ich doch nicht wiederkomme, 
mein ic), du follteft vergeifen —“ 

Sie ſchluchzte plößlih auf, fo ſehr fie auch 
kämpfte, und wie er ein wenig die Arıne bob, 
lag fie ſchon an feinem Herzen und umfchlang 
ihn in inniger Liebe, Er ſprach nicht weiter. 
Er küßte nur immer und immer wieder ihr 
Haar und ihre Stirn und ſtrich mit der Hand 
an ihr bin. Bon den Gräbern duftete ber 
Flieder, die Amfeln fangen. Enblich richtete 
fie ihr Geſicht auf und fchaute ihn an. 

„Das iſt ſtärker als Tod,” fagte fie 
leife. 

Er erſtickte das Jauchzen in feiner Bruft. 

„ur did, dich Lieb ich,” murmelte er 
gedämpft. 


„Mutterſchaft und geiftige Arbeit.“ 475 


„Franz, Hanni,” fagte fie twieber, „wir |, überwunden. Er wußte faum mehr, daß er 
tönnen nicht anders,” und bann, tie im | hatte gehen wollen. Arm in Arm mandelten 
Traum, die Worte der Bafe: „Gott fügt bie | fie auf und ab durch die Gräber, bis es fpät 
Herzen.” ward. Dann gingen fie heim, und Urfel 

Um alle Gräber grünte das Leben, fieg- | wußte, zwei alte Augen, die noch das Leben 
reicher hatten biefe beiden Herzen den Tod | liebten, würden heut leuchten in Glüd und Dank. 


ARE 
„Wntterfhaft und geiftige Arbeit.“ 


Belene Tange. 


Nahdrud verboten. — — 

®- „Loſung der Frauenfrage* if augenblicklich Gegenftand litterariſchen Ehr- 

geizes geworden. Faſt täglich finden fi auf den Redaktionstiſchen Schriften 
zur Frauenfrage ein. Titel wie: „Das Weib in feiner Geſchlechtsindividualität“, 
„Das Weib in ferueller Beziehung”, „Der phyfiologifche Schwachſinn des Weibes“, 
„Das neue Weib” u. ſ. w. u. ſ. w. fchreien einem von den farbenprächtigen, häufig 
mit entfeglihem „Buchſchmuck“ verfehenen Umfchlägen dünnleibiger Broſchüren entgegen. 
Gewöhnlich Löfen diefe Brofchüren die Frauenfrage gleich prinzipiell, und zwar häufig 
genug auf Grund von Erfahrungen, die ihre Verfaffer in der Behandlung kranker 
Frauen oder in ihren „Beziehungen“ zum „Ichönen“ Geichlecht gemacht haben. Daß 
ihnen jede tiefere Kenntnis der wirklichen Frauenbewegung und ihrer inneren und 
äußeren Motive abgeht, braucht kaum erwähnt zu werben. 

In wohlthuendem Gegenfag zu ſolchem temdenziöfen Dilettantismus fteht das 
Bud von Adele Gerhard und Helene Simon: „Mutterihaft und geiflige Arbeit” 
(Berlin, Georg Reimer). Es zeigt den einzigen Weg, auf dem — nicht etwa bie 
Frauenfrage zu löfen ift, denn das gefchieht nur auf dem Wege praktifcher Arbeit — 
fondern auf dem einzig und allein die wünſchenswerten Hilfstheorieen zu gewinnen 
find. Das ift der Weg erafter Unterfuhungen auf Grund eines durchaus objeltiv, 
ohne tenbenziöfe Abfichten beigebrachten Beobachtungsmaterials. 

Eine Buchbeſprechung fol nicht die Lektüre des Buches erſparen. Am mwenigflen 
fol das bei dem vorliegenden Buch verfucht werden, da es dringend wünſchenswert 
erſcheint, daß alle, die ſich mit ber Frauenbewegung befcäftigen, eingehend davon 
Kenntnis nehmen und womöglich das reichhaltige gefammelte Material und die darauf 
von ben Verfafferinnen begründeten Schlüffe im: einzelnen nachprüfen. Es genüge 
hier, Weg und Gefamtergebnis der Unterfuchung anzudeuten. 

Das Bud will feftftellen, ob und inwieweit die Mutterfchaft ein Hemmnis 
für die geiftige Berufsarbeit der Frau bildet. In Bezug auf die Vergangenheit konnte 
ſelbſtverſtandlich nur -der Weg Hiftorischer Darftelung und Kritik eingefchlagen werden. 
Durch eine außerordentlih umfaffende und forgfältige Benugung des vorhandenen 
litterarifchen Materials find die Verfafferinnen auf diefem Wege fat durchweg zu 


„Wutterichaft und geiftige Arbeit.” a7 


Sophie Junghans meint: 


„Jim ganzen ift meine Überzeugung, daß zur Zeit in Deutſchland wenigſtens der ſchriftſtelleriſche 
Beruf ſich ſchwer mit den Pflichten der Hausfrau und Mutter, mit denen ber Gattin überhaupt kaum 
vereinigen läßt.“ 

Und Magdalene Thorefen: 

„Ich glaube nicht, daß man mit demfelben Seelenträften fich zugleich in beide Lebenspflichten 
verteilen Tann; ift man Mutter, daß man, fo lange die Kinder minderjährig find, fi dem tiefen Seelen: 
ftubium Hingeben Tann, welches das Schriftftellerleben erfordert. Cine andere Sache ift ed, wenn die 
Kinder das Alter erreicht haben, wo bie Erziehung zum Schulleben beginnt. Bon der Zeit an kann 
ſich die Frau ihrem Künftlerberuf hingeben, denn ba ift ihre Liebe zum Kinde mehr mit äußeren Rüd: 
fichten gemifcht. Ich Hätte nicht ſchreiben oder litterarifch arbeiten können, während ich meine Kinder 
näbrte. Erſt ba biefe ald heranwachſende Menfchen an meiner Seite gingen, Tonnte ich diefelbe Wärme, 
mit der ich fie liebte, in die Menſchenſchilderung, in meine ſchriftſtelleriſchen Werke hineinfegen.“ 


Es ift danach offenbar, daß phyſiſche Anlage, Temperament, Konzentrationd- 
und Dispofitionsfähigkeit ebenfo verfcieden find bei den in einem geiftigen Beruf 
ftehenden Müttern als bei ben nicht beruflich thätigen auch. Jedenfalls müßte man, 
um zu unbeftreitbar algemeingiltigen Ergebniffen zu fommen, in der Lage fein, bie 
Erhebungen in weit größerem Umfange anzuftellen, als das zur Zeit möglich ift. 
Bei einer verhältnismäßig fo geringen Zahl von Experten, wie fie heute zur 
Verfügung fteht, wirken die einzelnen doch noch mehr als Inbividualitäten, denn als 
Ratiftifche Nummern, aus denen man prozentuale Berechnungen ableiten ann. 

Aber auch ausgedehntere Unterfuchungen würden ficherlih zu demfelben 
Endergebnis führen, zu dem die Verfaſſerinnen fommen: daß, von Ausnahme- 
naturen abgefehen, die gleichzeitige Erfüllung der Mutterjhaft und eines die ganze 
Seele binnehmenden geiftigen Berufs zu einem unlöglichen Konflitt führen muß. 
Es hieße wahrlich die foziale Bedeutung der Mutterfchaft gering anfchlagen, wenn 
man glauben wollte, daß fie bei einem Beruf, der den Mann voll ausfüllt, noch fo 
nebenbei abzumaden fei. Das aber mögen ſich auch die Frauen gefagt fein laſſen, 
die ſich den Berufsarbeiterinnen gegenüber als eremplarifhe Mütter vorkommen, 
obwohl fie ihren Beruf weit mehr in der Gefellfchaft als in ihren Kindern finden. 
Wenn die geiftige Arbeit den Kindern Häufig die Mutter entzieht, fo vermittelt fie 
ihnen doch wieder geiftige Werte, die die Geſellſchaftsdame niemals zu bieten vermag. 

Doch wird nicht mit diefem Endergebnis zugleich über die Forderung ber 
Frauenbewegung, die Frau und Mutter tie die unverheiratete Frau in die vollen 
Bürgerrechte und =pflichten einzufegen, ihr freien Spielraum für foziale Bethätigung 
zu geben, der Stab gebrochen? 

Die Erfahrungen der Verfafferinnen führen zu einem ganz entgegengefegten 
Refultat. Die in der Agitation für foziale Reformen thätigen Frauen betonen faſt 
ausnahmslos, daß ein Konflikt zwiſchen ihren doppelten Pflichten ihnen nicht zum 
Bewußtſein gelommen ſei. Dffenbar deshalb nicht, weil Bier beide Pflichten aus 
derfelben Quelle fließen und feinerlei Verſchiedenheit der Sphären fie Hier: und borthin 
sieht. Der Ausgangspunkt ihres Thuns ift der gleiche: ihre Mütterlichkeit, und es 
handelt fih nur darum, mie viel Arbeit die einzelne Frau zu leiften imftande ift. 
Und gerade „die Unübertragbarkeit mütterlicher Erfahrung weift darauf hin, welchen 
Wert der Eintritt der Frau in die gefeggebenden Körperfchaften Haben könnte. Zugleich 
Scheint die Möglichkeit der Verwertung jener Erfahrung in fpäteren Jahren zu zeigen, 


478 Aus Marie Ebners Spätherbfttagen. 


daß die inneren und äußeren Bedingungen des Mutterberuf3 fein Hindernis für eine 
wirffame öffentliche Thätigfeit bilden.” Zu dieſem Ergebnid führt die Unterfuchung, 
bie, dem Titel entiprechend, als Hauptaufgabe des ganzen Buches angejeben 
werden muß. | 

Aber fie iſt nicht feine einzige Aufgabe. Wertvolle Unterfuchungen über die 
geiftige Thätigkeit der Frau überhaupt führen zur Befeitigung der neuerdingd immer 
zuverfichtlicher wieder auftretenden Vorurteile, als ob die Frau ſchon durch ihr 
Geſchlecht zu geiftiger Arbeit untauglih fei. Und auch in dieſer Hinficht darf die 
Arbeit, bejonder® den im Eingang genannten, auf vorgefaßter Meinung beruhenden, 
pjeudowiflenfchaftlichen Tendenzichriften gegenüber, in ihrer ruhigen Sachlichkeit als ein 
bedeutfamer Beitrag zur Klärung der einjchlägigen Sragen betrachtet werden. Es würde 
für den Fortichritt der Frauenbewegung von unberechenbarem Wert fein, wenn der 
Geift ſtiller, geſammelter, jahrelanger Arbeit, der dies Buch Tennzeichnet, einer Arbeit, 
die alle Bebingtbeiten jorgfältig berüdfichtigt, auch für das praftiiche Wirken ber 
„Frauenrechtlerinnen“ audjchlaggebend würde. 


Ans Marie Ehners Hpätherbſttagen. 


Ernfi Beilborn. 


Nahdrud verboten. om nn 


„Sa, mein Guter,” fagte Goethe, „hierauf 
tommt alle® an. Man muß etwas fein, 
um etwad zu machen.“ Gefpräcdhe mit 
Edermann. 1828. . 


ies Buch „Aus Spätherbittagen”’) von Marie von Ebner-Eſchenbach gehört zu 
B den wenigen Büchern, die man miterlebt. Dean lieft es und fühlt fich bereichert, 
AD) und es läßt feine Spur in deinem Innern. Dieje Gedanken muß man weiter 
denten: diefe Menſchen, die Marie Ebner aus dem Nichts gerufen, heiſchen ſeeliſche 
Anteilnahme und man wird ihres Seins fich bewußt werden, öfters vielleicht und 
beffer, als der perfünlichen Belanntichaften, die ein gleichgiltiger Zufall vermittelt Hat, 
und die, gleichgiltige Schatten, in der Erinnerung wohnen; man wird etwas wie 
Heimweh empfinden nach ber tiefen, feiertäglichen Stille, die fih in der Beilegung 
dieſer feelifchen Kämpfe giebt. Denn das Befreiende, das Friedenſpendende aller 
echten Kunft, es ift in diefem Buche. Und doc ift e8 ein andrer Eindrud, der ftärler 
fih bervordrängt und fih dem Leſer vor anderen geltend macht: das Gefühl 
der Kraft. 

„Aus Spätberbfttagen.” Soll diefer Name des Buches mehr als rein perjönliche 
Geltung haben, jo darf man dabei nicht an das Fallen der Blätter und das Raufchen 





1) Berlin 1901. Verlag von Gebrüder Paetel. 2 Bände. 





Aus Marie Ebner Spätherbfttagen. 479 


des Windes um entlaubte Stämme denfen und nicht an ein twehmütiges letztes 
Gligern der Sonnenſcheins. Nichts ift in diefem Buch von müder Refignation und 
krankem Rubefüchteln. Statt deifen immer wieder das fiegreiche, befreiende Gefühl 
der Kraft. Wil man des Herbftes dabei gedenken, fo gilt es nur ben Herbft, in 
dem die Früchte reif geworden find. 

Geftalten werben Iebendig, mit eindrudsvollen Zügen und anteilheifchendem 
Sein, und dieſe Geftalten atmen Kraft. Nicht zum twenigften bie Frauen! Da ift 
die Mutter des „Vorzugsſchulers“, eine vergrämte, kleine Beamtenfrau, unter dem 
Joch einer feiertagslofen Ehe verfümmert. Was noch von urfprünglicher Liebeskraft 
in ihr if, das gehört ihrem Sohn. Seinetwillen, um ihm beffere Nahrung zu ver= 
ichaffen, begeht fie Heimlichkeiten vor ihrem Mann, trägt fie ererbte Schmudftüde 
ins Leihhaus; feinetwwillen Iehnt fie ſich auf gegen biefen Mann trog ihrer Zagheit. 
Und dann nimmt fi) ihr Sohn das Leben, weil er dem Ehrgeiz des harten Vaters 
nicht genügen kann, weil die Laft, die der in verftänbnißlofer Liebe ihm auferlegt, 
für feine ſchmächtigen Schultern zu ſchwer if. Alles hat die Frau mit feinem Tode 
verloren, alles. Und fie geht Hin und tröftet ihren Mann. — Eine andere, mit 
gleicher Kraft befeelte, tritt neben fie, „Maslans Frau“. Sie hat ihren Mann geliebt, 
und er ift ihr untreu geworden, und fie bat ihm vergeben. Sie hat ihm oftmals 
verziehen, immer wieder. Bis ihre Verzeihenskraft erſchöpft war und fie ihn von ihrer 
Schwelle gewieſen bat. Und ba bat fie geſchworen, ihn niemals ungerufen wieder 
aufzufuchen. Sie Hält ben Schwur, da ihr Mann auf dem Totenbett banieberliegt, 
obwohl der Priefter fie immer wieder mahnt zu ihm zu gehen; fie hält den Schwur 
dem eignen Liebefehnen zum Trotz. — Und ich denke des guten, alten Fräuleins 
Sufanne, deren ganze Freude es ift, anderen wohlzuthun und bie darin bie Kraft zum 
Glüdlihwerben findet; ich denke nicht zulegt Michaela’s, die klaglos die Graufam: 
teiten ihres Vaters erduldet und in feiner Pflege fich aufreibt und doch fo gar nicht 
die blaffe Heilige ift, fondern ein lebensfrohes, warmherziges Mädchen, zugänglich jeder 
Freude. — AU diefe Frauen haben ihre Kraft mehr oder weniger im Dulden zu 
bewähren. Aber das Dulben fordert ja wohl auch bie größte Kraft. . 

An der Liebe und Liebesfähigkeit gemeflen, treten die Männer neben dieſen 
Frauen in den Schatten. Doch erfcheinen fie nicht ſchwächer, nur unbigciplinierter iſt 
ihre Kraft, äußerlicher ihr Wollen. Der Meine Beamte, der in feiner Unverftändigfeit 
und Härte den Sohn, den er liebt, in den Tod treibt; der ſchneidige Maslan, der 
feiner Frau die Treue nicht zu halten vermag, ein Trogkopf, der nicht nachgiebt und bei 
al feinem Übermut doch ein ganz naives Naturkind ift; Graf Lothar in „Uneröffnet zu 
verbrennen“, der feine Frau fo lang fie lebte niemals recht geliebt Hat, auch gar nicht 
daran dachte, ihr treu zu fein, und dem dann nad ihrem Tode Eiferfuchtöqualen 
erftehen, — freilich eine kalte Eiferfucht aus kaltem Ehrbegriff geboren; ein ſehr 
zweifelhafter Charakter, und doch ein Mann, kraftvoll in feinem Thun und kraftvoll 
aud in feinem Seren. 

Man hat Frau Ebner unzähligemal eine Erzieherin genannt: es trifft das fo 
ſehr ihr Weſen, daß ich das Wort gern wiederhole. Eine Erzieherin ift fie auch in ihren 
Spätherbfttagen. Deshalb eine fo große, weil fie die Naturkraft in dem Kinde voll 
empfindet. An ihr „Gemeindefind“ erinnert der Provi, von dem fie in ber Meinen 
Erzählung „Die Spigin” erzäßlt. Zigeuner haben den Buben einmal zurüdgelaflen, 
und dann ift er im Dorf aufgewachſen, von allen herumgeftoßen und verachtet, und 


Aus Marie Ebners Spätherbfttagen. "481 


Mädchen geheiratet, die er als Kind im fein Haus aufgenommen und erzogen hatte. 
Nach Jahren glüdlicher Ehe verliebt fie fih in feinen Schüler, und an ihren Totenbett 
if der im flande, ihr die legte Stunde mit feiner Liebe und feinem Verftändnis zu 
verflären. Der alte Mann aber befiegt das Haßgefühl, den Schmerz im eignen 
Herzen: „Steh auf! Ich beneide di, du Haft der DVielgeliebten das Sterben füß 
gemacht.” — Die ſchwere Stunde feines Lebens fam und fand ihn gerüftet. 

In den Prüfungen des Lebens wachen Charaktere ſcheinbar fiber fich felbft 
hinaus. Der Fernerflehende fünnte von einer Charakterivandlung fprechen; die giebt 
es nicht; aber es giebt ſehr verſchiedene Lebenzgeftaltungen — zum Guten oder zum 
Böfen — bie innerlich im Bereich desſelben Menfchen ftehen. Auch folgen Charakters 
problemen geht Frau Ebner nad). Der Provi, der „Abſchaum“, wird ein anderes 
Leben führen, nachdem einmal fein Herz ſich erweicht hat, nachdem er einmal fich 
felbft bezwungen. Die Mutter des „Vorzugsſchülers“, die vergrämte und verängftete 
Frau, tritt ihrem Mann mit einem Mal ganz ander gegenüber. Einen beinah 
mütterlihen Ton ſchlaägt fie gegen ihn an, wie er in Eelbftqual um ben Tod des 
Sohnes ſich ganz verliert; die Überlegene ift fie getvorden, aus der ängftlichen eine 
ganz jelbftfichere Frau. Auch in der Heinen Skizze „Ein Original” geht Marie Ebner 
ſolcher ſcheinbaren  Charakterwandlung mit pſychologiſchem Forfchereifer nad. Bon 
einem Mann erzählt fie, einem Sonderling, der an nicht? Anteil nimmt, ftumpf vor 
fih Hin lebt und ſich ganz an technifche Spielereien verliert. Da wird ihm eine Tochter 
geboren, in der er fein Selbft, aber veredelt, gefteigert, gekräftigt, wiederfindet. Und 
er liebt diefe Tochter, und durch fie geht das Herz ihm auf, und er lernt mitempfinden. 
Aber iwie diefe Tochter dann firbt, ift er plöglich wieder der Alte, der teilnahmlofe 
Sonderling. — 

Sp gehen diefe faft ausnahmlos ftarfen Menschen durchs Leben, und beinahe 
immer fieht man fie in den Kämpfen, die fie zu beftehen haben, erftarten. In all 
diefen Erzählungen beſteht ein tiefer, organifcher Zufammenhang zwiſchen Perfönlichkeit 
und Schidjal, und aus dem Zuſammenwirken beider löſt fih auf den Lefer ein 
Eindrud ab, in dem das Herz fich weitet. Man empfindet tief das Ausgeglichene 
diefer künftlerifchen Weltanſchauung. Auch das ein Beweis der Kraft. 

In einer Zeit, da vieler Hände müde getvorden find und die Refignation ihr 
Xodlied anftimmt, geht ſolche frohe, ermutigende Botſchaft der Kraft aus — von einer 
Frau in ihren Spätherbfitagen. 


3 


482 


Der Franentag in Mürnberg. 


BRlire Salonıon. 


. UWE NN 


Nachdruck verboten. 


ie Stadt der großen Vergangenheit, Nürnberg, bot in ben Tagen vom 
| %, 9. bis 13. April zum zweiten mal den ftinmungsvollen Rahmen für 
ein Bild, ‚zu dem nur Die Gegenwart die Farben abgeben Tonnte, und dag für 
fommende Zeiten den Ausblick auf eine Aufwärts: und Vorwärtöbewegung gewährt: 
für einen Frauentag. 

Al im Jahre 1893 die Generalverfammlung des Allgemeinen Deutichen Frauen: 
vereind in Nürnberg tagte und Frauen aus allen Teilen des deutjchen Landes ein 
. noch nicht erlebtes Neues in die Mauern der alten Stadt trugen, da galt e8 nod 
anzuregen, den bayriſchen Frauen die Wege zu teilen, die man in anderen Zeilen 
Deutichlands jchon befchritten hatte. Diesmal — bei dem zweiten in Nürnberg ftatt: 
findenden Frauentag — galt es, eine bayrifche Parade’ abzuhalten, einen Überblid 
zu geben über das, was die Frauen Bayerns bisher, was die Frauen Nürnberg 
in diefen acht Jahren erftrebt und erreicht Haben, über ihr Wollen, Schaffen und 
Können. 

Der Gedanke, neben den großen VBerfammlungen des Bundes Deutjcher Frauen— 
vereine und des Allgemeinen Deutjchen Frauenvereins, die in den verfchiedenen Teilen 
Deutſchlands abwechjelnd ftattfinden, bejondere bayrifche Frauentage zu veranitalten, 
ift vom Münchener Verein für Frauenintereffen ausgegangen. Nicht partitulariftifche 
Intereſſen follten dabei gepflegt, nicht ein Staat im Staate gefchaffen werden; nut 
den Sonderbedürfnijfen der kleinen und Eleinften Städte, in denen eine organijierte 
Frauenbewegung noch nicht beftand, deren Frauen erſt allmählich zu einem Verftändnis 
der Frauenforderungen gefchult werden mußten, wollte man gerecht werben. Daß die 
Frauen der bayrifchen Landeshauptitadt bei den Vorarbeiten für den erften bayrifchen 
Frauentag, der im Sabre 1899 in München ftattfand, Erfolg hatten, daß fie durd 
das Anbahnen von Beziehungen und das Anknüpfen von Verbindungen mit Vereinen 
und Einzelperfonen auch für alle ſpäteren bayrijchen Frauentage wertvolle Vorarbeiten 
geleiftet, nicht nur ein Nugenblidzinterefje zu entfalten gewußt haben, bewies bie 
ſtarke Beteiligung am zweiten bayrischen Frauentag, der von 53 auswärtigen Delegierten 
aus 15 bayrifchen Städten beſucht war. 

Die ſehr lebhafte Beteiligung aus allen Kreifen der Stadt Nürnberg, die mit 
jedem Tage zunahm und am legten Abend den etwa 1500 Perfonen fallenden Rathaus: 
faal ganz füllte, die Teilnahme der Königlichen Regierung und der ftädtiichen Behörden, 
die Vertreter delegiert hatten, die paffive und aktive Teilnahme von zahlreichen Männern 
aller Berufsfreife — deren ſich in ſolchem Umfange noch nicht oft ein Frauentag bat 











484 , Der Frauentag in Nürnberg. 


Frauenvereins ihr Entfiehen. Was diefe Vereine felbit geworden, was fie im Leben 
der Stadt Nürnberg bedeuten, ift in erjter Linie auf ihre Begründerin und Vorſitzende, 
Helene von Forfter, zurüdzuführen. Eine Verjönlichkeit, in der Warmberzigfeit und 
Humor und alie liebenswürdigen Züge ſuddeutſcher Eigenart fich mit einer jeltenen 
Thatkraft, mit feltenen organifatoriichen Gaben vereinigen, ift fie wie wenig andere 
dazu geichaffen, der Sache, für die fie eintritt, Boden zu gewinnen, Sleichgiltige zu 
erwärmen, Skeptiker zu überzeugen, Gegner zu entivaffnen. Für die Frauen bewegung 
war eben ihre Perfönlichkeit um jo wertvoller, als fie das feltene Glück bat, Für ibre 
Arbeit das volle Verftändniß und die thatkräftige überzeugte Mitbilfe ihres Gatten 
zu finden, dem fie ibrerjeitS in einer ausgedehnten augenärztlichen Praris AL erſier 
Aſſiſtent am Operationstifch und in der Klinik zur Seite fteht. 


Wer es mit erlebt bat, wie viel wirfjame Anregungen Helene von Forfter in 
öffentlichen Vorträgen, felbjt in dem fühlen Norddeutichland, gegeben bat, der wirb Sid 
nicht darüber wundern, wie fchnell es ihr gelungen ift, in ihrer Baterfiadt 
Nürnberg eine Schar von tüchtigen und jchaffensfrohen Menfchen um ſich zu ſcharen, 
die ihren Ideen folgen und durch ihr Brganifationstalent zu jelbftändigem 
Thun gedrängt werden. Auf ihren Einfluß, auf das freundliche und liebevolle 
Berftändnig, das fie jeder Mitarbeiterin entgegenzubringen weiß, ift es zurücd— 
zuführen, daß die Nürnberger Frauenbewegung, die nicht nur eine große Anhänger: 
zahl Hat, jondern auch reich an ftarken Individualitäten ift, bisher vor jeder Diſſonanz 
bewahrt geblieben ift. 


Auf ein harmonische Zuſammenwirken waren denn auch die Verhandlungen des 
ganzen Frauentages geſtimmt, troß aller verjchiedenartigen Anfchauungen, die dabei zu 
Tage traten. Ohne jede Schärfe und Bitterkeit, ohne daß auch nur ein einziges Dial 
ein perjönlicheg Moment in die Augeinanderjegungen getragen wurde, ftrebten die 
Debatten nach einem Ausgleich der Meinungen, rangen alle Beteiligten, Frauen 
und Männer, Anhänger und auch Gegner der Bewegung — an denen es keineswegs 
fehlte — voll Ernft und Eifer nach der rechten Einficht, nach Klarheit und nach 
Wahrheit. . 

Im einzelnen auf die Verhandlungen einzugehen, verbietet da3 reichhaltige 
Programm, das fich einesteild an die Nürnberger Einrichtungen anlehnte, andernteils 
durch Behandlung der Fragen, die in Nürnberg bisher noch nicht Boden gewonnen, 
neue Anregungen geben wollte. So wurde die Frage des Frauenftudiums durch 
einen Vortrag von Brof. Nehm: Erlangen erörtert; die Arbeiterfrage war durch einen 
Vortrag über Heimarbeit und durch Referate über die Dienftbotenfrage im 
Programm vertreten. Im Zufammenhang damit müſſen die Verhandlungen über 
Drganifation der Handelsgehilfinnen genannt werden, die Zeugnis von dem 
wachſenden fozialpolitifchen Intereffe innerhalb der Frauenbewegung ablegten. 


Den Verhandlungen, die an die Nürnberger Einrichtungen anfnüpften, wird 
am beften durch einen kurzen Überblid über die Veranftaltungen des Vereins Frauen: 
wohl Rechnung getragen, die auch in einem einleitenden Bortrag von Fräulein 
Mathilde König, der Schriftführerin de3 Vereins, behandelt wurden. Der Verein 
Frauenwohl, der auf die Anregung bin, die die Generalverſammlung des Allgemeinen 
Deutjchen Frauenvereind in Nürnberg gab, gegründet wurde, zählt im fiebenten 
Sabre feines Beſtehens 2647 Mitglieder; bald nad) Gründung des Vereind 








Der Frauentag in Nürnberg. 485 


wurden Abendkurſe eingerichtet, die fich durchichnittlich im Jahre eines Beſuches von 
etwa 1000 Schülerinnen erfreuen. Der Unterricht im Nähen, Scneidern, Fliden, 
Bügeln, Wäfchezufchneiden und in fremden Sprachen wird von bewährten Lehrerinnen 
erteilt. Da der Andrang von Cchülerinnen fo groß ift, daß alljährlich viele 
abgewiefen werben mußten, hat der Verein im legten Jahr noch eine Frauenarbeit 
ſchule übernommen und ben Beduürfniſſen entiprechend umgeftaltet und ausgebaut. 
Außer den in den Kurfen gelehrten Disziplinen wird Hier noch Unterricht im Stiden, 
Putzmachen, Blumenmaden, Buchführung, Stenographie, Malen gegeben, auch wird 
der Vorbereitungsunterriht zur Lehrerinnenprüfung für Handarbeiten in der 
Anftalt erteilt. 

Neben der praktiſchen und beruflichen Vorbildung ftrebt der Verein bie geiftige 
Förderung der Frauen durch Veranftaltung von Kurfen über mebizinifche Gegenftände, 
Bildungsfragen, Rechts: und Gefegesfunde an. 

Eine der wertvollſten Schöpfungen des Vereins ift das Wöchnerinnenheim, das 
von den Teilnehmern des Frauentages befichtigt wurde und Veranlaffung zu 
Vorträgen über Wöchnerinnenhygiene und über die foziale Bedeutung ber 
Wöchnerinnenheime gab. Mit warmen Empfinden und der Sachkenntnis, die 
nur langjährige Erfahrung zu geben vermag, erörterte Frau Elife Hopf in dieſem 
legten Vortrag unter anderem die Frage, ob ſolche Heime auch unverehelicgten Müttern 
zugänglich fein follen. Im Nürnberger Heim ift — ähnlich wie aud) in Berlin — 
die Frage dadurch gelöft worden, daß eine befondere Abteilung für ſolche Mütter 
vorbehalten ift. Dem Heim ift eine Pflegerinnenfchule angegliedert, in der Wochen: 
pflegerinnen ausgebildet werben; eine Einrichtung, die um fo dankenswerter ift, als 
in Nürmberg — wie auch vielfah anderwärts — das vorhandene brauchbare 
Pflegerinnenmaterial nicht annähernd dem Bedarf entfpricht. 

Seit längerer Zeit ift der Bau eines Arbeiterinnenheimd vom Verein in Aus: 
fiht genommen; ferner Hat er ſich ſchon vor Jahren damit befchäftigt, eine Reform 
des Biehlinderweiend herbeizuführen; er hat erfolgreich gegen das Sitzverbot für 
Ladnerinnen angelämpft; er befigt eine Stellenvermittlung für Hausbeamtinnen, die 
als Abteilung dem großen deutichen „Hausbeamtinnenverein” angegliedert ift und 
ſteht augenbliclich in Unterhandlung mit den fläbtifchen Behörden, um die Zulafjung 
der Frauen zur öffentlichen Armenpflege zu erlangen. 

Bon der Ortsgruppe des Allgemeinen Deutfchen Frauenvereind, bie in engiter 
Fühlung mit dem Verein Frauenwohl arbeitet, ift ein Ausfunftsbuch über die Nürnz 
berger Wohlfahrt3einrichtungen herausgegeben worden. 

Daß neben der Propaganda der That auch die Propaganda des Wortes nicht 
vernachläffigt wird, daß der Verein fi nicht damit begnügt Hat, auswärtige 
Nebnerinnen für gelegentliche Vorträge und Veranftaltungen zu gewinnen, fondern 
auch beftrebt war, die Nürnberger Frauen für diefe Aufgabe zu ſchulen, haben die 
Verhandlungen des Frauentages beiviefen. Neun Nürnberger Frauen waren mit Vor: 
trägen und Referaten im Programm vertreten, die in Inhalt und Form zum Teil 
Vorzügliches boten. Auch die Beteiligung an ber Diskuffion war für fo große 
Verfammlungen eine ungewöhnlich lebhafte, namentlich nad den Vorträgen von Frau 
Roeper:Houffelle über Mädchenbildung und Prof. Dr. Rehm über Frauen: 
Rudium. 


486 Der Frauentag in Nürnberg. 


Unter einer Reihe von Vereindberichten aus andern bayriſchen Städten mur 
audy der Bortrag über die Frau in der Armenpflege von Fräulein Emilie von 
Wallmenich (Bamberg) und der Vortrag über Landkrankenpflege von Dr. med. 
Gräfin von Geldern:Egmond (Münden) erwähnt werden, die ebenfo mie dic 
Vorträge von Ita Freudenberg (München) über die Frau als Arbeitgeberin, 
von Elementine von Braunmühl über die Frau im Gewerbe und Helene 
Sumper über Fortbildungsjchulen in Stadt und Land mannigfache praftiiche 
Anregungen boten. 

Bejondere Erwähnung verdient endlich noch der Vortrag von Herm Dr. Siegmund 
von Forfter über dad Thema: Die Frau und die Volksbildungsbewegung. 
Er führte aus, wie die Frau von ber Natur zur Mitarbeit an diefer Bewegung aan; 
beſonders befähigt jei, wie man diefe ihre Kraft in anderen Ländern bereit3 in weitem 
Umfange verwertet babe, während bei uns felbit das Wirken einer Seannette Schwerin 
verhältnismäßig wenig Verftändnis und Nachfolge gefunden habe. 

Die Saftfreundfchaft, die zu einer Begleiterfcheinung von Kongreffen und Frauen: 
tagen gemworden ift, wurde den Nürnberger Gäften in einer bejonderd anziebenden 
Form geboten. Durch Aufführung eine® von Helene von Forfter gedichteten 
Feltfpield nad) Schluß des Frauentages bewiejen die mitwirkfenden Anbängerinnen der 
Frauenbewegung, daß fie ſich 


„auch im holden Reich des Schönen 
in den Formen, Farben, Tönen“ 


zurechtfinden, und den Sinn dafür bei der Arbeit nicht verloren haben. In den 
Häufern mehrerer Borftandsmitglieder, die fich gaftlich den Fremden öffneten, fanden 
ih nah Schluß der täglichen Verhandlungen die Delegierten zuſammen, um bei 
zwanglofer Gejelligfeit den Meinungsaustaufh über das Gehörte fortzufegen und 
gemeinfam Pläne zur Ausführung der gewonnenen Anregungen zu beraten. 

So haben die Nürnberger Frauen fein Mittel unverjucht gelaffen, um dem 
ziweiten bayrifchen Frauentag einen erfolgreichen Berlauf zu fichern; fie haben verfucht 
zu beweilen, daß fie von dem Willen bejeelt find, zur Erwerbung bober, fittlicher 
Güter für das deutfche Land beizutragen, der großen Kulturbewegung unſerer Zeit 
neue Süngerinnen zuzuführen. Und wohl mancher, der mit Zweifeln zum Frauentag 
kam, mag durch die Kraft und das Können, das die bayriſchen Frauen offenbarten, bei 
den Verhandlungen zum Glauben an das Dichterwort befehrt worden fein, mit dem 
Helene von Foriter die Tagung einleitete: 


„Die Frauen werden die Menjchheitsfragen löſen; als Mütter müſſen 
ſie es thun.“ 











487 


Htaatliche Wohnungsfärforge in Freußen. 
Ir. wrig· Beil, 


I Naqhdrua verboten. 2* 
Da Jahren fteht in Deutihland die Wohnungefrage im Mittelpunkt des öffent— 

“ lichen Intereffes. Überall, wo ſich unfer wirtfchaftliches Leben in auffleigender 
Linie bewegt, erhebt fie ihr Haupt, und faft an allen Orten ift fie infolge arger 
Vernahläffigung zur Wohnungsnot ausgewachfen. 

Die Mieter, befonder8 die Meinen Leute, fehen jedem Kündigungstermin mit 
Beſorgnis entgegen. Wird er ihnen wieder, wie fehon fo oft, eine neue Steigerung 
bringen, die ihre wirtfchaftliche Lage verichlechtert oder bie etwa eingetretene Der: 
befjerung berfelben wieder illuforifch macht? Wohin jollen fie gehen, wenn es ihnen 
nicht gelingt, eine neue Wohnung zu mieten, ind Afyl für Obdachlofe, zu Verwandten, 
in die Bretterbuden der Laubenvorftädte? Wie wird die Wohnung ausfehen, die fie 
vieleicht noch im legten Augenblid für ſchweres Geld bekommen? Wird fie nicht, 
wie fo viele andere, ein ungefundes Loc) fein, ungeeignet für den dauernden Aufents 
halt von Menfchen, von der Polizei aber umbeanftandet, weil man nicht weiß, wo 
die Leute fonft bleiben follen? 

Das ift in wenigen Strichen ein Bild de3 modernen großftäbtiichen Wohnungs: 
elends. Einfihtige Leute Haben fon lange eine nachdrüdliche Bekämpfung dieſes 
freffenden Übels an unferm Volkskörper gefordert. Allen voran haben die deutſchen 
Bodenreformer auf feine Urſachen aufmerkſam gemacht, die in ber gemiflenlofen Aus— 
beutung des privaten Eigentumsrechte® an Grund und Boden, beſonders durch bie 
Bodenfpefulation, zu fuchen find. Private Hilfe ift hier völlig unmöglich; das liegt 
in der Natur der Sache. Darum verlangte man von den Gemeinden kräftige Maß— 
regeln zur Abhilfe der Wohnungsnot. 

Damit kam man aber bei den Mancyefterleuten, die in unfern Großftädten am 
Nuder ftehen, fchön an. Sie leugneten das Vorhandenſein einer Wohnungenot 
entiweder überhaupt, wie der Stadtverorbnete Wallach in Berlin, ober fie priefen, 
wie die Freifinnige Zeitung in diefen Tagen, als einziges Mittel zur Bekämpfung 
der Wohnungsnot die Thätigfeit der Privatipefulation, alfo den Bobenwucher. 
Difficile est, satiram non scribere! Andachtig rutfchte man auf den Knieen vor 
dem Idol des „freien Epiel3 der Kräfte”: wer aber an biefen alten Götzen nicht 
mehr glaubt, den fuchte man zu fchreden, indem man das blutrote Bild des ſozial⸗ 
demokratiſchen Zufunftöftantes als notwendige Konfequenz einer vernünftigen Wohnungs⸗ 
fürforge der Gemeinden an die Wand malte. Einige ivenige Ausnahmen, Düffeldorf, 
Frankfurt a. M. und Halle, abgerechnet, verfagte die Selbftverwaltung unfrer Städte 
in diefer wichtigen Frage leider vollftändig. 

Nunmehr verfucht die preußiiche Regierung, einen fanften Drud auf bie 
Gemeinden auszuüben. Am 4. April d. 3. veröffentlichte der Neichdanzeiger zwei 
gemeinfame Erlaffe der Minifter des Handels, der Medizinalangelegenheiten, des 





488 Sprüde. 


Innern und der Landwirtichaft an die Ober: und Regierungspräfidenten, in Denen 
Mapregeln zur Linderung der Wohnungsnot angeregt werden. Die Erlaffe bezeichnen 
die Bodenfpefulation ala Haupturfache des berrfchenden Wohnungselendd, machen es 
den Gemeinden zur Aufgabe, dem Übel abzubelfen und ftellen eine geſetzliche Regelung 
der Wohnungsfrage in Ausfiht. Als Mittel gegen die Wohnungenot werben den 
Gemeinden empfohlen: Herftelung von Wohnungen für Arbeiter und Beamte ber 
Gemeindeverwaltungen, finanzielle Unterftügung der gemeinnügigen Baugefellfchaften, 
Ausbau der Verkehrsmittel und vor allem eine gejunde Bodenpolitif der Gemeinden. 
Gemeindebefit an Grund und Boden ſoll grundfäglich nicht veräußert werben. Die 
Gemeinde jol im Gegenteil möglichit viele Grundftüde jelbft erwerben und fie den 
Baugejellichaften zur Herftellung von Häufern in der Rechtsform des Erbbaurechte: 
überlaffen. Die Privatipetulation in Grund und Boden fol auf jede mögliche Weiſe 
erichwert und verhindert werden. 

Das Wichtigfte an diefen Erlaffen ift die klare Erkenntnis des Grundübels und 
die Aufftellung des Grundjages, daß die Regelung der Wohnungsangelegenheit eine 
Aufgabe der Gemeinde if. Was die Bodenreform feit Jahren vertreten bat, wird 
bier zum erftenmale von der preußischen Regierung angenommen. Über die Einzel: 
forderungen läßt fich ftreiten. Ob es 3. B. gut und richtig iſt, die Arbeiter und 
Beamten der Gemeindebetriebe zu kajernieren, das beftreiten vor allem die Beteiligten 
jelbft, die von dieſer Maßregel eine Beeinträchtigung ihrer perjönlichen Yreibeit 
befürchten. Aber das find fchließlich Kleinigkeiten. AS Ganzes genommen muß man 
die Erlafje durchaus freudig begrüßen. Man kann nur eins wünſchen: Möchten fie 
nicht wie jo vieles andre auf dem Papier ftehen bleiben, jondern Fräftig durchgeführt 
‘werden! Glüdauf zu diefen „neuen Schritte in den fozialdemofratiichen Zufunftsitaat”, 
wie unjere Stadtväter Jagen werden. 


prüche. — 


Miriam Eck. 


Die größte Liebe aber kann ſich nur in der Entſagung bethätigen. — Die feinſte und vornehmſte 
Kunſt des Weibes iſt die Entſagung. 
%* 
Entjagende Menſchen baben bie fruchtbringendften Thaten gethan — alſo foll die Frau ibr 
Entfagen in Bethätigung umjeken. 
x 
Wir baben auf der einen Seite eine barte, liebloſe Sunafräufichkeit und auf der andern eine 
eigennüßige und befledte Liebe! Wo finden wir die reine Yiebe, die Yicbe, die glübend und Frpftallrein 
zugleich ift? Schließen diefe Eigenichaften einander aus? 
Man findet fie in der Yicbe der Märtyrer, der himmliſchen und der irdifchen. 
% 
Es giebt in der Liebe ſowohl Geſetze als eine böbere Inftanz. In Sonderfüllen, wo das Geſetz 
richtet und richten muß, ift es der böchiten Inſtanz vorbehalten zu begnadigen. 











Der Klein 


Paula 
Rahdrud verboten. 


inter dem nörblihen Friedhof laufen 
die Straßen Mündens in eine ungeheure, 
dürre, häßliche Wiefe aus, die Schwabing von 
diefem Viertel der Stadt fcheidet. In dem 
legten Haufe einer folden Straße faß hinter 
einem Fenſter des erften Stodwerls ein Knabe 
und brüdte fein ſchmales, gelbes Geficht platt 
an die Scheibe. Die Straße mar wenig 
belebt. Den Einblid auf das Kirchhofsfeld 
verwehrten ihm die teilweife noch belaubten 
Bäume, aber einen Teil der Wiefe, auf dem 
gerade eine Kinderſchar fpielte, konnte er gut 
überbliden. 

„Andreas“, fagte die Mutter, „zieh mir 
die Heftfäden aus!” Der Heine Knabe glitt 
fogleih vom Fenſterbreit herunter und nahm 
das Höschen in Empfang, das die Mutter 
ihm aus einem abgethanen Bureaurock des Vaters 
zurechtgefchneibert hatte. Er fegte fih auf 
einen Schemel zu ihren Füßen nieder und zog 
eifrig Fäden aus. Die Frau, von ber ber 
Junge die hohe, ſchmale Kopfform, den gelben 
Teint und die enge Bruft geerbt hatte, breitete 
inzwifchen eine Anzahl von Stoffreften auf 
ihrem Nähtiſchchen aus, paßte einen alten 
vergilbten Papierſchnitt darauf und ſchob bie 
Flicken und das Papier unermüblid um. Sie 
hob vom Boden ein winziges Stoffreſtchen 
auf, ftedte es mit Nadeln feſt und ergänzte fo 
eine fehlende Ede. 

„Nun reicht es auch noch zu einer Bloufe 
für dich!“ ſagte fie zu dem Knaben. 

Andreas hatte feine Arbeit gethan, gab 


ihr das Kleidungsftüd zurüd und widelte die | 


Heftfadenendchen forglih auf eine Epule. 
Diefe Fadenendchen — einjt weiß — waren 
ſchon gelbgrau vom häufigen Gebraud. 

* 


e Andreas. 


Winkler. 


Als Frau Magdalene fih mit dem 
Minifterialfefretär Wolf verheiratet hatte, war 
fie Mitte der Zwanzig geivefen, ein hageres, 
einfilbiges, reizlofes Geſchöpf. Sie hatte ein 
Heines Vermögen in die Ehe gebracht, deſſen 
Zinfen aljährlich zum Kapital gefchlagen wurden. 
Vom Gehalt ihres Mannes vermochte fie auch 
nod einen Teil zurüdzulegen, und überdies 
hatte Wolf noch eine Nebeneinnahme, da er 
wöchentlich mehrere Abende im Bureau feines 
älteren Stiefbrubers zubrachte, um deſſen Bücher 
zu rebibieren, wofür biefer — ein wohl 
habender Yabrifant ihn reichlich ent⸗ 
ſchädigte. 

Magdalene hatte vom erſten Tage ihrer 
Ehe an mit jedem Pfennig gerechnet. Damals 
hatte fie ſich ein ganz junges Dienſtmädchen 
gehalten, dem fie fo gut wie micht® bezahlte. 
Diefes Mädchen jedoch — es war eine robufte 
Bauerntochter getvefen — hatte eine ungeheure 
Eßluſt befeffen und war dadurch eine Duelle 
nieverfagenden Ärgers für bie fparfame Magba- 
Iene geweſen. 

Im zweiten Jahr ihrer Che lag auf den 
Kiffen im Wäſchekorb, den man neben Mag- 
dalenens Bett auf zwei Stühle gefeßt hatte, 
ein winziges, gelbes, ſchwächliches Kerlchen, 
Magdalenens volllommenes Ebenbild, der 
kleine Andreas. Vom Vater hatte das Kind 
nur die graublonden, ſchier farbloſen Haare 
geerbt und die ebenſo farbloſen Augen. 

Als Magdalene wieder aufſtand, war ihr 
ohnedies vorgebeugter Rüden noch ſchiefer, 
und man konnte deutlicher als bisher erkennen, 
daß ihre rechte Schulter höher als ihre linke 
war. Sie hatte nicht im Bette bleiben können, 
aus Angſt, es möchte hinter ihrem Rücken im 
Hauſe etwas veruntreut werden. — 





490 


Um diefe Zeit fagte ihr Mann einmal des 
Abends nad) Tiich zu ihr: 

„Heute bin ich Helene Forſtner begegnet. 
Sie will ſich demnächſt verheiraten.” Darauf 
Ichwieg er eine Weile nachdenklich, dann ſagte 
er mit eigentümlichem Lächeln: 

„Du tmeißt vielleicht garnicht, daß ich felbft 
eine Seit lang daran bachte, fie zu heiraten. 
Hübſch ift fie ja! Außerdem rieten mein 
Bruder und meine Schwägerin mir lebhaft zu 
der Verbindung. Ein ganz nettes Vermögen 
batte fie auch — —“ 

Er nannte eine Summe, die Magdalenens 
Vermögen beinahe um die Hälfte überſtieg. 

Sie ſah erſtaunt von ihrer Arbeit auf. — 

„Nun, weshalb thateſt du's nicht?“, fragte ſie. 
Ya, ſiehſt du”, antwortete ihr Mann, 
„ich beobadytete das Mädchen fo. Wir waren 
jede Woche einmal zufammen bei meinem 
Bruder eingeladen. 

Da trug fie einmal ein neue? Kleid, das 
nächte Mal einen anderen Hut, bald hatte fie 
ein Konzert befucht, dann war fie wieder im 
Theater gewwefen. Im Sommer reifte fie 
ins Bad. 

Siehft du, Lena, da dacht ih mir: fo 
eine paßt doch nicht für dich! Die Zinſen 
ihres Geldes reichen gerade für ihre Kleider 
und ihr Vergnügen. Und von der Wirtfhaft 
verfteht die ganz gewiß nichts. . 

Sieber eine, die weniger mitbringt und 
weniger hübſch ift, — aber bejcheiden in ben 
Ansprüchen. Eine, die mir im Haus mit an- 
greift und zufammenhält, was da ift. Hab 
ih nicht recht?” 

Er Hopfte fie auf die hohe Edhulter. 

Da zudte das magere, gelbe Gejchöpf, das 
jest nach der Geburt bes Kindes, erſchöpft 
und gealtert, reizlofer als je erfchien, vor 
innerfter Glüdfeligfeit zufammen. hr tar, 
ala bätte ihr einer ein Königreich gefchenft. 
So ergriff fie dies halb verhehlte Lob ihres 
Mannes, der, wie fie felbft, gefühlsfarg, ihr 
faum je eine Liebkoſung ſpendete. 

Sie lag die Naht über ſchlaflos vor Gr: 
regung. Einige Tage Später ſagte fie zu 
ihrem Gatten: 

„Du Mar, — ih hab mir das jo über: 
legt, das Mädel, die Kathi, haben wir nicht 
nötig. Die ißt wie ein Dreher. Man kann 


Der Kleine Andrea. 


fih auch mit allerlei noch einfchränfen, wenn 
fo ein Frauenzimmer einem nicht ewig in allı 
Töpfe und Läden gudt! Und dann braudıen 
wir ihre Kammer fo notwendig. Ich nehm' 
mir eine Aufivärterin.” 

„Sa wirft du denn fo mit der Arbeit 
fertig?” meinte Wolf. 

Sie dachte an das Lob, das er vor kurzem 
ihrer Sparſamkeit und ihrem Fleiße geſchenkt 
und wurde ganz rot. Wolf, eben zum Auz- 
gehen gerüftet, reichte ihr bie Hand und fagte: 

„Ra, verſuch's halt. 's wär freilid einc 
Ihöne Erfparnis!“ 

Andread war jeßt drei Jahre alt. Er 
hatte, ſchwächlich wie er geblieben war, überaus 
ſpät gelernt zu gehen. Auch jegt fiel e3 ibm 
noch ſchwer. 

Indes fammelte der dreijährige Knirps jetzt 
Ihon blanke Nidel, die ihm die Eltern ab und zu 
ichenften, wie man Kindern fonjt Obſt und 
Bonbons giebt, in einer Pillenſchachtel. Er 
merkte febr genau, wenn eines der Eltern ihm 
im Scherz eine Münze herausgenommen. 
Dann ſuchte er in allen Eden und Winkeln, 
froch unter Tiſche und Etühle, begann fchlich- 
lich ganz kläglich zu heulen und wurde nicht 
ruhig, ehe er das Bermißte hatte. — — — 

Als Andreas vier Jahre zählte, entließ 

tagdalene die Aufmärterin, um allein die 

ganze Wirtfchaft zu übernehmen. Ihre ein: 
zige Hilfe war der kleine Andreas, Er be— 
forgte, was fie an fleinen Dingen in der 
Küche bedurfte, rihtig und pünftlid. Nie 
hatte er Gelb verloren oder eine Düte zerrifien, 
wie andere Zungen thaten. 

Einmal, als fie ihn mit einer Fleinen Kom: 
miffion auf die Straße geſchickt hatte, hatte ihn ein 
Hund gebiffen. Er fam mit blutendem Bein 
nad) Haufe, zitternd und balbtot vor Angit. 
Dod) hielt er das Sträußchen Peterfilie, das 
er eingefauft hatte, treulic in der einen Hand, 
während die andere fo Frampfhaft über ein 
paar Pfennigen zufanınengeballt war, daß fid) 
die Nägel in das Fleiſch gegraben batten. — 

Andreas ging zur Schule. Er lernte 
ziemlich Schwer, war aber fleißig und fill, fo 
daß ber Lehrer feine Klage führte. Seine 


Der Heine Andreas. 


Mitſchuler aber haften ihn bitter und prügelten 
ihn, wo fie ihn erwiſchen konnten. Er fannte 
alle Gänge und Schlupiwinkel auf dem 
Schulwege und benußte fi, um fi feinen 
Peinigern zu entziehen. 

Hingegen fchlug er alle Heinen und ſchwäch⸗ 
lichen Kinder und war in der ganzen Etrafe 
von ihnen gefürchtet. Zu Haufe klagte er 
niemals, — auch nicht, wenn man ihm noch 
fo übel mitgefpielt hatte. 

Er brachte vielmehr beinahe täglid Spiel: 
ſachen nady Haus, die er — wie er fagte — 
von anderen Kindern geſchenlt befommen ober 
gefunden hatte, 

Diefe Dinge verſchwanden indefien nad 
einiger Zeit wieder. Dafür manderte ein 
Geldſtuck in die Sparkafje. Andreas verfaufte 
ober vertaufchte diefe Dinge gegen Gelb. 

Er hatte auch ein regelrechtes, Meines Ver⸗ 
leihgefhäft mit Bleiftiften, Federn und Papier, 
die er feinen vergeßlichen ober nadläffigen 
Mitfhülern gegen Tribut von einigen Nideln 
überließ. Ein Kind, das ihm irgend etwas 
ſchuldete, verfolgte er mit unerhörter Aus: 
dauer. — 

Die Eltern hatten den Anaben um feiner 
Sparſamleit willen lieb. „Nie vernaſcht er 
einen Pfennig“, fagte Magdalene. „Er wird 
es zu etwas bringen!” ... 

Andreas erreichte in dieſem Winter ſein 
achtes Jahr. Immer noch war er ein 
ſchmãchtiges, ſchwaches Bürſchlein und eigent⸗ 
lich doch wieder von merkwürdig zäher Art. 

Beinahe immer war er verſchnupft, er- 
tältet, huftete, ober war irgendwie fonft nicht 
wohl. Das Schüffelhen mit Bruft:, Kamillen⸗ 
ober Minzenthee kam faft nicht aus der Dienröhre. 

Das war eine fortwährende Sorge für 
Magdalene. 

Einmal in diefem Jahr hatte Andreas den 
Eltern noch außerdem furdtbaren Kummer be: 
reitet. 

Magdalene hatte Andreas dabei betroffen, 
ein größeres Gelbftüd durd die Öffnung der 
Sparbüchſe zu zwängen. „Ich habe es auf der 
Treppe gefunden!”, hatte er gefagt. 

Nach einer Weile erſchien eine Nachbarin, 
der Andreas mandmal gegen Heine Gefchente 
an Geld Kommiffionen machte, bei Magdalene 
und behauptete, Andreas habe ihr ein Geld: 





491 


ftüd vom Tifch entivendet. Magdalene zerſchlug 
die Eparbücfe. Das vermißte Gelvftüd fand 
fih unter den übrigen Heineren Münzen. 

Andreas fauerte mit verfiodtem Gefiht in 
der Eofacde. 

Die Frau ging. — 

Magdalene taumelte gegen den Schrank 
und ftieß fi) eine Beule an der Stirn. Wie 
eine Wahnfinnige fah fie aus, die Augen 
quollen hervor, fie brachte feinen Laut über 
ihre Lippen. 

Andreas wollte durch die Thür entfchlüpfen. 
Da rannte fie auf ihm zu, ſchüttelte ihn, bis 
ihr der Atem ausging, riß ihm die Kleider 
vom Leibe, warf ihn auf fein Bett und ver- 
ſchloß die Thür feines Kämmerchens. 

Sie Heidete ſich mit furchtbarſter Haft zum 
Ausgehen an; fie, die Sorgfame, zerbrach die 
Halten und zerriß den Beſatz mit zitternden 
Händen. 

Den weiten Weg bis zum Minifterium 
lief fie befinnungslos. Eine Stunde lang 
ftand fie vor dem Haufe und wartete. Dann 
tatn Wolf herunter. Unter lautem Meinen 
erzählte fie alles. 

Wolf entfärbte ſich, ſprach aber fein Wort. 
Ganz verfunfen gingen fie neben einander her, 
er in verbiffenem Zom, fie leife weinend in 
bilflofem Gram. 

Magdalene wartete auf ein gutes, tröftendes 
Wort. Aber es blieb aus. — 

Zu Haufe rannte Wolf in die Schlaf: 
tammer des Knaben. 

Cie war ganz erfüllt, mit dem faben, 
albernen Geruch, den der Körper des Knaben 
ausftrömte, der feinen Kleidern anhaftete und 
allem, was mit ihm in Berührung fam. 

Wolf riß Andreas aus feinem Bett und 
ſchlug erbarmungslos auf den Heinen, jämmer⸗ 
lichen Körper 108. Das Kind ſchrie anfänglich 
laut und durchdringend, winſelte dann leife 
und verftummte endlich. 

Jetzt warf Magdalene ſich dazwiſchen. 

Andreas fieberte die ganze Nacht und 
mälzte ſich in feinem Bett umher. 

Stundenlang ſaß Magdalene neben ihm 
in ber dunflen Kammer. 

Wolf hatte fi, ohne fein Abenbbrot eins 
zunehmen, zur Rube begeben. — — — — 





492 


In der nädften Zeit wurde ber Knabe 
ftreng überwacht. Einige Wochen lang brachte 
er weder gefundene, noch geſchenkte Gegen: 
ftände mit. Später that er es wieder, aber 
heimlich. Er verbarg die Sachen im Korribor, 
binter einem Schrant, in der Holzlammer, in 
der Matraße feines Bettes. | 

Die Eltern bemerkten von alledem nichts 
und begannen, fich zu beruhigen. Sie gingen 
feit jenem Abend noch magerer und blafjer 
einher, als früher. 

„Er hatte ja das Geld nicht vernajcht, wie 
andere Kinder!“, ſagte Magdalene. „Er hat 
es aus Unwiſſenheit genommen, — fo ein 
Kind! Und dann fpart er fo gern! Das 
iſt doch nicht ſchlecht! Mir maren zu 
ſtreng!“ — 

Um Mitternacht war Andreas noch wach. 
Er hielt ſich jedoch ftill in feinem Bette. Der 
Vater hatte feit einiger Zeit eine Befchäftigung, 
die ihn länger ala gewöhnlich aufbielt. Er 
übte fih im Stenographieren, um ſich um 
einen Nebenpoften im Minifterium bewerben 
zu fünnen, der ihm wieder einen Zuſchuß zu 
feinem Gehalt bringen fonnte. 

Endlich waren die Eltern zu Bett gegangen. 
Alles war ftil, man hörte den Weder deutlich 
durch die ganze Heine Wohnung tiden. Nun 
ſchlüpfte Andreas aus feinem Bett, ging in 
feinem oft geflidten, ausgewachſenen Bett: 
fittelhen aus buntem Bardhend an die 
Kammerthür, klinkte leife auf und fchlich ſich 
auf ben Korridor hinaus. 

Sn der Holzkammer, hinter dem Stoß von 
Scheiten, hatte er einen Gummiball liegen, 
den er morgen früh verlaufen wollte. Er 
fand ihn richtig, ald er aber den Arm zurüd: 
309, ftieß er heftig an die Edheite, fo daß ber 
Stoß mit lautem Gepolter umfiel. 

Blisichnell rannte er zurüd, zog fich die 
Bettdede über die Nafe. Tas Herz Tlopfte 
ihm bis zum Halle. 

Set fchimmerte Licht durchs Schlüſſelloch. 
Der Bater ging nad) der Holzlammer. „ES 
müffen wohl Mäufe draußen fein!”, hörte er 
nach einer Weile feine Mutter jagen. 

Nach einer Viertelſtunde tvar alles wieder 
ftil. Andreas ſprang aus dem Bett, |tredte 
die Zunge beraus, fo weit es ging, bis fid) 
fein Gefiht blau färbte. Mie ein Befejlener 


Der Heine Andrea?. 


fprang er umber und late, ladhte, ohne var 
ein Ton über feine Lippen kam. 

Eines Abends brachte Rolf einen niedlichen, 
Heinen Hund mit nach Haufe, ein ganz jung:s 
Tierhen. Er hatte e8 auf der Straße gr: 
funden. 

„Er ift von ganz reiner Raſſe“, ſagte 
Wolf, „toir fünnen ihn in einigen Monaten 
teuer verlaufen!” 

Frau Magdalene zudte mißvergnügt mit 
den Achſeln: woher follte fie Fleiſch und Milch 
nehmen? Ob er nicht wüßte, wie leicht ſolche 
jungen Tiere zu Grunde gingen? Dann 
hätten fie Mühe und Koften vergeblich gehabt. 

Andreas, der das feine, zierlihe Tierchen 
auf feinem Schoß gehalten hatte, feßte es zu 
Boden und hörte mit offenem Munde zu. 
Nah dem Abendbrote griff er nach einer 
Lederklappe und erſchlug die legten, berbit- 
matten Etubenfliegen, die an den Wänden 
hingen. Er ftedte fie in eine leere Zünbbol;- 
ſchachtel. 

„Mutter“, ſagte er nach einer Weile, „nun 
brauchſt du dem Hunde kein Fleiſch zu kaufen. 
Ich habe ihm Fliegen gefangen. Weiter 
braucht er doch nichts zu freſſen?“ 

Wolf und Magdalene lachten. 

Das Hündchen wurde am nächſten Tage 
für ein paar Mark an eine Familie im Hauſe 
verkauft. — — 

Seit ein paar Wochen wohnte über Wolfs 
ein Muſiklehrer mit feiner Familie. Da waren 
aud ein paar Knaben, große, kräftige Jungen, 
etwa in Andreas’ Alter, mit denen er bald 
befannt wurde. Die Buben tvaren gutmütig, 
ſodaß Andreas feine Schläge zu befürdten 
batte. Er hütete fi) auch wohl, fie heraus: 
zufordern. 

Oft ftedte er halbe Tage bei der Familie 
oben. Die Frau hatte eine Stube voll Kinder, 
wie fie fagte, da fam es auf eines mehr ober 
weniger nicht an. Magdalene hätte ohnedies 
nicht geftattet, daß Andreas feine Gefptelen 
mitbrachte. Fremde Kinder im Haus? Damit 
fie mit fchmußigen Füßen berumftanpfen, 
alles anfafjen, zerbredden, und dann zu Hauſe 
erzüblen, was in der Wohnung vorgebt? Sie 
hätte mit ihrem eigenen genug zu tbun! 

Die beiden Kameraden Andreas’ wurden 
von ihrem Vater fleißig zum Geigenfpiel an: 





Der Heine Andreas. 


gehalten und mußten unter feiner Aufficht 
täglid ftundenlang üben. 

Da befam Andreas wohl ab und zu ein 
Inftrument in die Hand. Die beiden Jungen 
— finblich ſtolz auf ihre Kenntniſſe — brachten 
ihm fpielend die erften Fingergriffe bei. 

Der Vater der beiden fam einmal dazu 
und überzeugte fi, daß Andreas mit auf- 
fallend reinem Gehör und feltener Finger- 
fertigfeit begabt war. 

Von nun an brachte Andreas ganze Tage 
bei ben Leuten zu; er vernachläſſigte feine 
Schularbeiten, aß faum und war" mit leiden 
ſchaftlichem Eifer darauf bedacht, die Geige in 
die Hand zu befommen. Den Mufitlehrer 
rührte der Eifer bes Kindes. 

„Hör mal, Kleiner“, fagte er, „fag’ doch 
deinem Vater, er fol dir eine Violine an= 
ſchaffen! Man kriegt ſchon ganz billig welche. 
Dann kannſt du mit meinen Buben zufammen 
bei mir lernen. Ich verlang’ nichts dafür!” 

Er ſah, daß Andreas’ Eltern ziemlich 
ärmlich Iebten. 

Andreas lief fofort hinunter und beftürmte 
feine Elten. Sie miefen ihn ab. Er bat 
immer dringender. Schließlich weinte er und 
legte ſich auf die Erbe. 

Wolf hob ihn auf, 308 ihn bei den Ohren 
und ſchickte ihm fchlafen. Auch Magdalene 
gab ihm einen Puff. 

Für eine folhe Verridtheit Geld aus- 
geben! Das hätte ihr gerade gefehlt! 

Sie beichloffen, den Jungen nicht mehr 
mit ben Kindern des Mufiflehrers verkehren 
zu lafjen. Da lernte er ohnedies nichts Ver: 
nünftiges. Leute mit fo unficherem Ausfommen, 
tie die da oben, ‘— und dabei in Saus und 
Braus leben! Eo oft man eines ber Finder 
fab, hatte e8 ein Butterbrod in der Hand 
oder Obſt. 

Magdalene redete ſich in eine ordentliche 
Wut gegen die Leute hinein. Andreas lag im 
Bette und fehluchzte, daß fein Heiner, magerer 
Körper gegen das Holz ſchlug. Seine Bett: 
ftelle war für ein Meines Kind berechnet, und 
er war ihr längft entwachſen, fo daß er ge— 
frümmt und mit aufgezogenen Beinen liegen 
mußte. Er ballte fein Nachthemd zufammen 
und ftedte e8 in den Mund, um nit laut 
zu Meinen und von ben Eltern gehört zu 





493 


werben. Denn das, — er wußte es aus 
Erfahrung, — hätte fie noch mehr aufgebracht. 
So wartete er, bis fie fchliefen, — dann 
weinte er herzbrechend die ganze Nacht bin: 
durch. Er mußte eine Geige haben! Er mußte 
fpielen darauf! Er wollte nicht leben ohne 
das! Vielleicht, wenn er bat, zu Weih— 
nahen! — — — — — — — — — — 

Magdalene wachte ſtreng darüber, daß 
Andreas bie Knaben des Muſillehrers nicht 
mehr beſuchte. Das Kind ſah in der letzten 
Zeit furchtbar elend aus. Er aß kaum und 
brach bei jedem lauten Wort, das man an ihn 
richtete, in Weinen aus. 

Magdalene kochte ihm Theechen und Breichen 
aller Art, verſuchte es mit allen möglichen 
Hausmitteln, ja fie überwand ihre Sparſam⸗ 
keit ſo weit, daß ſie ihm ein friſches Ei zum 
Frühſtück und gebratenes Fleiſch zu Mittag 
vorſetzte, während ihr gewöhnlicher Mittags- 
tiſch das ganze Jahr hindurch aus Suppe, 
ausgelochtem Rindfleiſch mit Kartoffeln oder 
einer anderen, billigen Zufpeife beftand. 
Wenn fie für den Sonntag Fleiſch briet, kochte 
fie eine Waſſerſuppe. 

Aber das Kind machte ihr wahrhaft Sorgen. 
Nichts wollte nügen. Sie konnte ihn nicht 
mehr zur Schule gehen laſſen. Er weinte 
und fieberte, und der Lehrer fhidte ihn nad 
Haufe. 

Der Arzt erflärte ihn für nervös und fehr 
ſchwächlich. Er folle gut genährt werben 
und viel in frifche Luft gehen. 

Magdalene ſchickte ihn fort, er 
fpazieren gehen. 

Er indeſſen ſchlich ſich zwei Treppen höher, 
ſetzte ſich vor der Speicherthür nieder und 
horchte auf das Geigenſpiel, das durch die 
Thür des Muſiklehrers auf das Treppenhaus 
drang. 

Er nahm ein Stück Holz unters Kinn und 
bog den Ellenbogen darunter ein, ſtrich mit 
einem andern Stück Holz darüber hin und 
ahmte ſo das Geigen nach, während die Töne 
unter ihm laut wurden. 

Dann war's ihm, als hielte er ein wirk⸗ 
liches und rechtes Inftrument, und die Töne 
drängen unter feinen Bogenftrichen hervor. 

Verftummten aber die Melodien unten, 
fo kehrte das Bewußtſein feiner Hilfslofigfeit 


follte 


494 


und des Entbehrens wieder, und er meinte 
zum Erbarmen. 

Einmal wagte er’3, feine Eltern um eine 
Heine Geige zu Weihnachten zu bitten. „Nur 
eine Dreiviertel3-Geige zu Weihnachten”, jagte 
er. „Ich will gamichts außerdem!” — Sie 
wollten ihn heftig anfahren, befonders bie 
Mutter; da fiel ihr Blid auf das verhärnte, 
gelbe Kindergefiht mit den eingefunfenen 
Augen, die jett voll Thränen ftanden, auf 
dies arme, verheerte Geficht, das fo unkindlich, 
jo greifenhaft ausſah mit feinem Ausbrud von 
heftigen und unfchönen Inſtinkten, — und 
fie verlor den Mut zum Echelten. — 

Am Abend beriet fie mit ihrem Mann ba- 
rüber. Eie fahen ja ein, dab das Kind fidh 
abhärmte! Uber eine Geige anfchaffen, 
etwas fo Überflüfliges, — das ſchien ihr 
läfterlich. 

„Wenn er nicht fo notwendig Wäfche 
brauchte”, fagte fie, „und neue Etiefel! Hat 
er die Geige, fo fällt ihm ein anderer Un: 
jinn ein. Es ift unrecht, ihn fo zu vertvöhnen. 
Nein, es geht nicht!“ 

„Er ift Schon ganz abgezehrt“, wandte 
Wolf ein. 

Magdalene dachte eine Weile nad. „Gut“, 
meinte fie, „fo mag er fi die Geige von 
feinem Epargeld zu Weihnachten faufen”. 

Cie ging zum Kleiderfchranf, öffnete eine 
Schatulle und Icerte den Inhalt auf den Tifch. 
Es war alles, was der Eleine Andreas bon 
feinen Baten nnd Verwandten gefchenft be— 
fommen batte, durch al die Jahre, und es 
fehlte wenig an hundert Marf. 

Am nächſten Morgen fagte Magdalene zu 
Andreas: „Wenn du eine Geige zu Weib: 
nachten befommen mwillit, fo wird fie von deinem 
Spargeld gekauft. Neue Schuhe aber be: 
fommft du dann nicht. Die alten werden noch 
einmal geflidt. Auch fonft nichts. Mir werden 
auh feinen Kuchen baden. Wir find arm 
und müſſen Sparen, fonderlid wenn unfer Kind 
ſolch ein Verſchwender ift.” — Sie begann 
zu einen. 

Auf dem Tifh neben Andreas’ blecherner 
Kaffeefchale Tagen die Goldſtücke. „Wir hätten 
fie zum nädjten Neujahr zur Sparfaffe ge: 
bracht, — du bätteft ein Buch befommen, und 
Zinſen.“ — Sie ſchluchzte heftiger. 


Der kleine Andreas. 


Andreas ſah auf das Geld vor ſich un 
auf feine aufgeregte Mutter. 

„Überleg’ dir’s big zum nächften Zonnn: . 
ſagte Magdalene. — 

Diefe Woche wurde zu einer Folter \v 
das Kind. Zwei Leibenfchaften, mie ricſen 
große Ungetüme, kämpften mit geheimnisvollen 
Kräften gegeneinander. Das Kind hit — 
litt unbeſchreiblich. 

Da war das Gold, das liebe, funten:: 
Gold! Da war die Mufif! Sept fpielte mn 
oben. Die Töne kamen leife, füß gedäm“. 
in die halb dunkle, wenig geheizte Stube tur! 
den Plafond herunter, Andreas Fauerte, 'n 
ein wollenes Umfchlagtuch feiner Mutter gebüll: 
auf dem alten Sofa. Draußen ſchneite c:, 
und der Ffalte Wind kam durd bie Fenſier 
ritzen herein und bewegte die Seibenpapiv 
itreifen auf dem Tifche, die Andreas ſocher 
geflebt hatte. 

„In dem Schrank dort liegt das Geld,“ 
dachte das Kind. „Goldſtücke und ein, 
Silbermünzen.“ 

Und nach einer Weile: „Jetzt ſpielt der 
Herr Lehrer ſelbſt.“ Er kannte das Lieb: „Ur 
ift beftimmt in Gotted Nat.” Sie fpielten c 
oft drüben auf dem Friedhof. 

„Ach, wer doch eine Geige hätte!“ 

Er zog die Beine unter Tuch. Lieber 
Gott — warum muß man denn immer barır 
denen! Er bat ja das Geld fo lieb — 7 
kann's nicht weggeben — aber er möchte ted 
ſo gern eine Geige! 

Penn er doch eine Lampe bekäme! Oder 
in die helle Küche dürfte! Aber dort zieht «=, 
jagt die Mutter. 

So ſitzt er im Dunkeln. 

Nun hat das Epiel geendet. Andrea: 
flettert auf das Fenfter. Seht eben gebt cu 
fleiner Knabe aus dem Haug, viel Heiner als 
Andreas. Er trägt eine Geige im eimen 
Sädhen aus grünem Baummolltud. Er ba 
eben Stunde gehabt. Jetzt fpannt er einen 
großen Schirm auf und hält ihn über ſich 
und fein Säckchen. 

Über Andreas fommt eine unbändige Aut. 
Warum bat diefer fleine Junge eine Beine, 
und er hat feine? Ad), er könnte den ungen 
töten! Er ftrect die Zunge gegen das Fenſter, 
daß fie ganz platt gedrüdt wird, ſchneider 


| 


Der Heine Andreas, 


eine fürchterliche Grimaffe hinter dem Jungen 
ber und zittert vor Echmerz und Haß. 

Er friecht auf dad Sofa und wimmert leife. 

Der Neid frißt an dem Heinen Herzen, 
tie ein Lörperliher Schmerz. „Ob — alles 
thut fo meh, fo weh!“, denkt Andreas. 
„Warum ift das fo?” — 

Andreas hatte den Pater zum Bureau 
begleiten bürfen. Dann ging er noch etwas 
ſpazieren. Es mar am frühen Nachmittag 
und das Wetter troden und mild. Buerft 
lief er nad dem Domplatz. Da mußte er 
eine Inftrumentenhandlung. Bor diefer ftand 
er wohl eine Stunde lang. Zithern lagen in 
der Auälage, Blasinftrumente, zur Seite hingen 
aud Geigen. Diefe Heine war gewiß eine 
Dreiviertelögeige. Er drüdte fih mit ber 
Wange and Glas, um beſſer zu fehen. Im 
Eifer fam er auch mit den Fingern an die 
Scheiben. 

Ter Verläufer kam heraus und fuhr ihn 
an. Er folle die Scheiben nicht befchmieren! 
Andreas ftellte fich verfchüchtert an der Mauer 
des Domes auf und verſuchte hinüberzubliden. 

Da ftand er, — ein winziges Wichtchen, 
im Schatten der ungeheuren Mauern, ganz 
aufgelöft und verzehrt von feinem Wunſche. 

Am Anger waren viele ZTröbelgefchäfte. 
Da gab es gewiß auch Geigen. Dort wollte 
er hingehen und nad) dem Preife fragen. 

Dort lief er von einem diefer winzigen 
Lädchen, die doc) fo angefüllt von unglaublichen 
Maſſen alten Gerümpels find, ind andere, um 
nad) einer Geige zu fragen. 

Den üblen Geruch der alten Möbel, Kleider 
und Schuhe atmete er oft viertelftundenlang 
ein, ehe jemand nad feinen Wünſchen 
fragte. 

Er fah recht ärmlich aus in feinem Winter: 
mäntelchen, deſſen Nähte bis aufs äußerfte 
ausgelaffen, deſſen Knöpfe bis an bie Ichte 
Kante gefegt waren, und in das er trotzdem 
förmlich eingefhraubt erſchien. Endlich fand 
er eine kleine Geige, wie er ſie gewünſcht. 
Achtzehn Mark ſollte ſie koſten. 

„Du mußt ſie aber bald holen“, ſagte der 
Verkäufer, „es iſt jetzt viel Nachfrage!” 


Auf dem Heimweg wurde Andreas ſich 
haftes Violinſpiel hörbar. 


Har, daß er ſoviel von feinem Spargeld nicht 
würde opfern können. Als er in den Haus: 





495 


flur trat, fah er den Heinen Knaben mit ber 
Geige mit dem grünen Sädchen eben heraus: 
treten. 

„Haſt du oben Stunde?” fragte er ihn. 
Seine Augen hingen an dem grünen Beutel 
und begannen ſcharf zu funfeln. Er wurde 
noch gelber im Geficht. 

„Ja“, fagte das Bürſchchen und blieb 
ftehen, geneigt, eine Unterhaltung zu führen. 

Andreas fagte nicht weiter, rührte ſich 
aber nicht vom Fled. Er zitterte heftig. — 
Der Heine Junge ging. 

Als er bereits auf der Straße war, lief 
Andreas ihm nad. 

„Wann haft du Stunde?“ fragte er 
haſti 


ig. 
° imo und Samstag!” Das Bübchen 
blieb wieder ftehen. 

Andreas kehrte um und fticg die Treppen 
hinauf. 

Am Morgen darauf fagte Andreas feinen 
Eltern, daß er fih feine Geige kaufen wolle. 
Das Geld follte auf die Sparkaſſe fommen. 

Magdalene war glüdlih darüber und 
belobte ihn fehr. Wolf fagte,. er fei ein braves 
Kind. Andreas fah von dieſem Tag an 
friiher aus und aß aud wieder. — — — 

Mittwod war Andreas den ganzen Tag 
über fehr erregt und zerftreut. Er hörte garnicht, 
wenn man ihn anrebete, gab verkehrte Antworten 
und war nicht vom Fenſter wegzubringen. 

Es war ein Harer Tag heute, der Himmel 
ganz blau. 

Andreas fah nah dem Friedhof hinüber. 
Die Bäume waren nun gänzlih entlaubt, 
man fah die weißen Leichenfteine deutlich, ſah 
die Eärge dazwiſchen bintragen und hinter 
dem Kreuz den Bug ber Leidtragenden fchreiten 
zwiſchen den Gräberreihen. Tie Totenglode 
bimmelte unaufhörlih. Dazwiſchen wurde ein 
Trauermarſch geblafen. Ein anderes Mal 
fang ein Männergefangsverein. Dann wieder 
hörte man laut beten. 

Andreas rutfchte nervös auf dem Fenſter⸗ 
brett herum. 

Es dämmerte ein wenig. 

Jetzt wurde oben ein quiefenbes, anfängers 
Er zudte auf. 
Seine Augen wurden größer. Er ſaß regungs- 





496 Der Heine Andreas. 


108 eine Stunde lang. — Das Epiel brad 
ab, und Andreas lief ans Fenfter. 

Jetzt trat der kleine Junge mit dem 
grünen Sädchen aus dem Haufe. Blitzſchnell 
und leiſe ſchoß Andread aus der Stube 
zur Thür hinaus. In der Küche brobelte 
es laut. 

Er fam ungehört die Treppen hinunter, 
mar in ein paar Eefunden hinter dem Kleinen 
auf der Straße, riß ihm das Säckchen mit 
der Geige aus der Hand und rannte blind» 
lings weiter. Der Junge ftand verblüfft da 
und ‚machte fugelrunde Augen. 

Dann lief er heulend hinter Andreas her, 
der indes einen guten Vorfprung hatte. 

Unter einer Seitenthür ber Friedhofs: 
mauer ftand die Magd des Anfpeftors und 
Iodte ihren tiberfpenftigen Pudel, herein 
zufommen. 

Andreas fehlüpfte hinter ihrem Nüden in 
den Hof der Leichenhalle. Der Kleine aber 
ftrebte, immer lauter brülend, gerade aus. 

Der Magd war es endlich gelungen, den 
Hund hereinzubefommen. Sie ſchloß das Thor 
hinter fih. — — — 

Es mar bereit® nach zehn Uhr abends. 
Andreas war nod nicht nad Haus gekommen. 
Wolf und Magbalene hatten das ganze Viertel 
abgefucht, ohne den Anaben oder irgend eine 
Spur von ihm aufzufinden. 

Wolf war nad der Polizei gegangen, 
während Magbalene ftarr, frierend und ver: 
zweifelt in der Etube am Tiſche ſaß. Eie 
ließ achtlos drei Kerzen und die Lampe 
brennen. 

Wolf fam zurüd. Er tweinte laut. So 
verging die Nacht. 

Früh morgens um fieben Uhr brachte 
ein Polizift den Kleinen Andreas auf dem 





Arme. Das Kind hielt ein Geigenfädden 
feft in der Hand. Er hatte die ganze Nacht 
im Vorhof der Leihenballe zugebradht. Am 
Morgen hatte ihn der Wächter unter ciner 
Buchshecde faft erftarrt gefunden. Man hatte 
ihn gewärmt, in Tücher gewwidelt und nadı 
Haufe geſchickt. 

Das Tüchterchen des Wächters hatte ihn 
erkannt. 

Er war vollfommen fteif und konnie 
nicht ſprechen. 

Der Polizift entfernte fih mit der Geige. 
Es fei auf feinem Burcau geftern Abend ge: 
meldet worden, daß einem Knaben von einem 
anderen in bdiefer Straße eine Geige ent 
riſſen worden fei, fagte er, und er glaube, 
daß fie mit der bei Andreas gefundenen 
identiſch fei. ” 

Am Spätnahmittag ftarb das Sind. 
Dan hatte vergeblich zwei Ärzte gerufen. 

Die Eltern ſchlichen wie Schatten um— 
ber. — — — 

„Magdalene“, fagte Wolf am Abend, 
„wollen wir ein Grab anlaufen, oder fol 
Andreas im allgemeinen Kinderfriedhof begraben 
werden?“ 

Die Frau faß gebrochen vor dem gelben, 
verzerrten Leichlein des einzigen Kindes, das 
fie geboren. 

Der Vater legte einen Plan vor fie bin. 
Die verkäuflichen Gräber ftanden barauf, ihr 
Preis und ihre Lage. 

Das erfhöpfte Weib warf einen müden 
Bid auf das Papier, Wolf las ihr bie 
Zahlen vor. Sie wurde aufmerffam. 

„Nein“, fagte fie nad) einer Weile, „wo: 
zu ſoviel Geld ausgehen? Er wird uns ja 
doch nicht lebendig davon.” 


Sie weinte laut auf. x 





497 


Line dentſche Reifende in Alt / Fexiko. 


Paul Schettler. 


Raqhdrua verboten. 
— — ſcheint auf den weiblichen Forſcherſinn einen beſonderen Reiz aus: 
üben. Eine gelehrte Dame war ed, Frau Nuttall, die kürzlich in der 
Bibliotheca Nazionale zu Florenz eine altmerifanifche Bilderhandſchrift aufgefunden 
hat und jegt herausgiebt. Eine Amerikanerin, die Frau des Forfchungsreifenden und 
Archäologen Dr. Auguftus le Plongeon, begleitete zwölf Jahre lang ihren Gatten auf 
feinen Reifen in den wildeſten Urwaldgegenden von Yulatan, und in Anerkennung 
ihrer Berdienfte bat die Parifer Geographiiche Gejelihaft ihrem Album berühmter 
Neifender das Bild der mutigen Amerifanerin einverleibt. Und ähnlich ift auch eine 
Deutfhe, Frau Caecilie Seler, ihrem Gatten auf zwei längeren Forſchungsfahrten 
durch Merito und Guatemala in den Jahren 1887—88 und 1895—97 eine treue 
und Hilfreiche Genoffin geweſen, deren Sammlungseifer ſich in gleicher Weile auf 
Altertümer aller Art wie auf die Flora der bereiften Länder erfiredte. Die zahlloſen 
Altertumsfunde, die photographifchen Aufnahmen der alten Rulturftätten und Bauwerke 
der Mayas, ſowie eine reiche ethnographifche Sammlung wurden von dem Ehepaar Seler 
dem Berliner Ethnographifhen Mufeum überwiefen, die mitgebrachten didleibigen 
Herbarien dem Botaniſchen Mufeum; die Reife felbft aber hat Frau Seler in einem 
ſchönen, reich illuftrierten Bande) beichrieben, der kürzlich bei Dietrich Reimer in Berlin 
erſchienen ift. Und es iſt gut, daß bei den Publifationen ber Forfchungsergebniffe des 
Ehepaars Seler die Frau ſich gerade diefen Teil vorbehalten hat; denn nun ift es 
kein unlesbar gelehrtes Werk geworben, fondern ein flott und anſchaulich, ja amüfant 
geichriebenes, echtes und rechte Wanderbud. 

Zwar die Verfafferin glaubt fih in der Einleitung entfchuldigen zu müſſen, 
daß fie von feinen Abenteuern zu berichten babe, „keine Kämpfe mit böfen Menfchen 
oder wilden Tieren, feine Feuersgefahr oder Waſſersnot, fein Verſchmachten in 
Sonnenbrand, fein Verhungern in dunfeln Höhlen“, all ſolche Abenteuer erlebt 
der Reifende dort nicht, denn „Merito und Guntemala find feine wilden Länder“. 
Aber man vermißt die großen Abenteuer auch garnicht. Dafür erfährt man 
um fo mehr und um fo Intimeres von Land und Leuten, von der Nrt, in jenen 
fernen Ländern zu leben, zu reifen, fih zu nähten und zu Heiden. Mit einer gewiſſen 
Vorliebe fogar, wie man ſich dort Hleidet und nährt: die leifen Wanblungen, die bie 
„Manta enrollada“, das in ganz Merifo und Mittelamerika die Stelle des Rodes ver- 
tretende, meift bis an die Knöchel reichende, von bunter Binde um die Hüften feftgehaltene 
Hüfttüch, durchmacht, vom Thal von Daraca bis hinauf nach Duczaltenango und der 
Kaffeeſtadt Coban, bejchreibt fie mit der Gewiffenhaftigkeit eines Modejournals. Ihr 
entgeht feine der feinen Nüancen der indianischen Nationaltracht, die bei aller weſentlichen 
Übereinftimmung doch fo wechielvoll ift, daß jedes Indianerdorf Verſchiedenheiten in 
der Tracht aufzuweifen bat, und wäre ed auch nur die Farbe, die „in ©. Bartolo 
und aud weiterhin in den Dörfern überall dunkelblau, mit dem im Lande gebauten 
Indigo gefärbt ift — die Schönen von Tehuantepec und Juchitan bevorzugen die 


') Auf alten Wegen in Merito und Guatemala. Reifeerinnerungen und Eindrüde aus den Jahren 
1895—1897. Mit 65 Lichtdruden, 260 in ben Tert gebrudten Abbildungen und einer Karte. 
32 


498 Eine beutiche Reiſende in Alt-Mexiko. 


rote Farbe — die mit importiertem türfifchen Rot gefärbten Hüfttücher finb teurer; 
am teueriten aber die mit echtem Purpur gefärbten. Denn an der Küfte von 
Zehuantepec dient heute noch der Saft der Purpurichnede zum Färben”, umd dızie 
ift nicht gerade häufig.‘ „Sorgiältig wird die Schnede von der Felswand abgehoben, 
angeblajen oder angeivieen. Sie giebt dann einen waflerhellen Saft von fidy, duri 
den man den weiben Faden zieht, der fih beim Trodnen an der Luft rotviolett färkt. 
Die Schnede wird wieder ind Waſſer gefegt, nachdem fie getban, was man von ibı 
verlangt. Soviel mir befannt, wird fonft nirgends in der Welt diejer echte Purpur 
de3 Altertumd zum Färben verwendet, als an den Küflen des Etillen Ozeans.“ Ridt 
minder gewillenhaft als ihre Beobachtungen über die Kleidung der Indianerfrauen 
— viel jeltener fpricht fie von der der Männer — und der Spanierinnen (von denen 
ihr namentlich die tebuaniichen „Damen“ mit ihren runden fteifen Röden im Schnitt 
eine ſpaniſchen Hoffleide® aus dem 17. Jahrhundert auffallen, „aus bunter Seide 
reih mit Goldftiderei verziert und bis zum Knie abgefteift, ebenio wie die weißen 
Unterröde”, jo daß das Geräuſch der geitärften Rodjäume auf den fleinemen Treppen: 
fufen der Kirche Iprichwörtlich geworden, und es audfteht und fich anhört, „als ob 
die hölzernen Heiligenfiguren ihr Poftament verlaflen hätten, obzwar die Frauen von 
Tehuantepec keineswegs im Geruche der Heiligkeit ftehen“), unterläßt unfere Reiſende 
es nie, zu vermerken, wenn fie einen „hübjchen Kleinen Mejon mit leidlicher Unterfunit 
und gutem Efjen” findet. Häufig genug müſſen fie ja auch im freien nädhtigen, 
oder als Lagerftatt fann ihnen nur eine Tifchplatte eingeräumt werden; und Tüte 
Früchte find oft wahre Lederbiffen, wenn man fich tagelang von ſchwarzen Bohnen 
und der landezüblichen Tortilla, einem aus gequetfchter Maismafle ohne jegliche 
weitere Zuthat bergeftellten laden, der bier überall die Stelle des Brote vertritt, 
bat ernähren und mit großem Kummer das legte Reftchen verichimmelter Erbswurſt 
fortiwerfen müſſen. „Es mag Hleinlich ericheinen”, entichuldigt Frau Seler einmal, 
„daß ich To lange bei diefen Dingen verweile; für uns bedeuteten fie viel.“ 

Jedenfalls Hat fie neben dieſem frauenhaft fcharfen Bid für die Koſtüm- und 
Küchenangelegenheiten und dem eifrigen Sammelinterejje, mit dem das Ehepaar jeder 
Spur nachgeht, auf der e8 noch leidlich erhaltene Altertümer, ſei es von den Ein: 
geborenen zu erhandeln, fei es ſelbſt auszugraben giebt, ein nicht minder heilfichtiges 
Auge für taufend andere Dinge, die interejlieren. An allen Mexikanern Eonftatiert fie 
die große Kinderfreundlichkeit, weshalb die Fülle des Spielzeuges kaum überrafchen 
fann, das auf allen größeren Märkten einen breiten Raum einnimmt. „Alle nur 
denkbaren Formen der gebräuchlichen Haus: und Küchengeräte findet man ba in 
‚Heinftem Maßftabe.” Bei den Indianern ftellt fie eine auffallende Muſikliebe feit 
Auf den Märkten find fie die beften Käufer von Mufifinfirumenten. Manche der 
wohlhabenden Gemeinden beligen ein ganzes Drchefter. „Die Mufilanten kommen 
bin und wieder abends zur Muſik in die Stadt, um zuzubören. Da fie natürlid 
feine Noten kennen, ift dies ihre ganze mufifalifche Ausbildung Wan hört viele 
deutiche Mufifftüde, da die deutichen Handelshäufer mit den Snftrumenten auch zu: 
gleich die Noten einführen.” 

Der deutjche Kaufmann ift dort überall anzutreffen: „Wo überhaupt Europäer 
leben, find ficher Deutiche darunter. Der deutiche Kaufmann erobert die Erde langſam 
und ficher. Auf unferer Reife haben wir Engländer garnicht getroffen, Ameritaner 
nur, wo Eifenbabnen gebaut werden, in Minendiftrikten und in den großen Städten. 
Häufiger Franzofen, aber am häufigiten Deutiche.. Dan macht den Deutfchen oft den 
ungerechten Vorwurf, daß fie allzu Leicht fich fremdem Weſen anbequemen, aber 
gerade dieje Leichtigkeit, fih in der andern Art Hineinzufinden, ihre Sprache fchnell zu 
erlernen, ermöglicht ihre Erfolge. Im Herzen bleiben fie doch deutſch, werden es 
vielleiht nod; mehr. Daß fie hier draußen manches anders anſehen als daheim, 
wird ihmen niemand verargen.” In den großen Städten find die Deutichen meill 
die Beliger der Ferretarien, d. h. wörtlich Eijentramladen, bedeutet aber ein Import: 
aclhäft, in dem es fo ziemlich alle giebt, „was zum Haushalt, Feldbau und zum 
Schmuck des Leben? notwendig ift.” Dagegen find die Geſchäfte, in denen Stofte, 





Eine deutſche Reifende in Alt: Merito. 409 


Gewebe, Kleider feilgehalten werden, meijt in franzöfifchen Händen, die „Tiendas de 
Alborrotes“, die Wein und Schnapgläden, gehören Spaniern, und die Heinen Kram— 
laden, kurzweg „Tienda“ (eigentlich „Zelt“) genannt, Einheimischen, welch letztere meift 
„Zabinos“ find, Miſchlinge von Weißen und „Indios”. Eine eigentümliche Über: 
raſchung durch den Spefulationsgeift deutfcher Kaufleute erlebten die Neifenden in 
Guatemala: Das Hauptflädtifche Militär trug deutfche Uniformen, nur mit der Ab: 
weihung, daß die Infanteriften Artilleriehelme hatten und umgekehrt. „Vermutlich 
hatte ein fpefulativer Kopf ausgemufterte preußifche Uniformen aufgefauft und in 
Mittelamerifa an den Mann gebradt Ob auch an der unter des militärfreundlichen 
Praſidenten befonderem Protektorate erft kürzlich gegründeten Schuhfabrik, der zuliebe 
eine Verordnung ergangen war, daß jeder Mann der Republik Stiefel tragen müfle, 
wofern er als vollgiltiger Staatsbürger gelten wollte, deutſche Spekulation beteiligt 
ift, verrät die Verfafferin nicht. Aber an anderer Stelle erzählt fie 3. B., daß der 
ganze Staat Chiapas, der freilich noch zu Meriko gehört, jedoch ſchon an Guatemala 
grenzt, von der Schuhwarenfabrik eined aus Warmbrunn ftammenden Deutfchen mit 
Schuhwerk verfehen wird. 

So kann unfere Forfhungsreifende immer wieder von Deutfchen erzählen, die 
fie gaftlih aufnehmen und fie au in ihren Sammelbeflrebungen unterflügen. Wir 
machen die perfünliche Befanntichaft beinahe aller Landaleute, die dort drüben leben, 
und deren Verhaltniſſe werden uns fo vertraut, ald hörten wir von unfern nächften 
Nachbarn im Städtchen. 

Bei der Menge dort lebender deuticher Familien kann es nicht Wunder nehmen, 
wenn die Reifenden auch Gelegenheit finden, Weihnachten und Sylveſter in deutſcher 
Weife zu feiern. „Die deutichen Familien geben ihren indianifchen Holz: und Kohlen⸗ 
lieferanten ſchon wochenlang vorher den Auftrag, ihnen einen Nabelgolzbaum zu 
beforgen, und aus den Wäldern des Cerre de San Felipe wird er pünktlich zur 
Stelle geſchafft, wird gepubt und mit Lichtern beftedt. Und am Abend des 24. Dezember 
brannten etwa ein halbes Dugend Weihnachtöbäume in Daraca. Aber trotz alledem, 
trotz der reichbefchenkten Kinderſchar — die rechte Weihnachtäftimmung war doch nicht 
vorhanden. Draußen war Sommer und eine Menge, die nicht von dem mußte, was 
der Weihnachtsbaum in Deutfchland bedeutet. Der Baum allein aber thut es nicht.” 
Die Merikaner feiern ihre Weihnachten durch die „Veladas“, die ſchon während der 
Adventözeit beginnen und aus abendlichen Zufammenkünften befreundeter Familien 
beftehen, wobei zuerft die reifende und Obdach fuchende Jungfrau Maria unter Eingen 
feltfam kindlicher Melodien, Blechpfeifenmufit und Kerzentragen zur Darftellung gelangt, 
und zum Schluß eine „Tertula” ftattfindet, eine harmloſe gefellige —— 
bei der Zucerwerk herumgereicht wird. Am heiligen Abend ift die Darſtellung ber 
reiſenden Jungfrau durch die Krippe verdrängt, und an Stelle der Tertulla findet ein 
Ball ſtatt. Und in der Markthalle draußen ift am dieſem Abend großer Radieschen— 
Markt. Alles firömt dorthin, „Rabanos“ zu kaufen, zu eſſen, ſich gegenfeitig 
anzubieten. „Den Grund dieſer fonderbaren Sitte vermag ich nicht anzugeben.” 
Überhaupt find alle Kirchenfefte in Mexiko mit mehrtägigen Märkten verbunden. Als 
die größten Feiertage gelten den Indios Gründonnerfing und Charfreitag, an denen 
die ganze Bevölkerung ſich betrinkt, während das an andern großen Feierlagen nur 
immer die Einwohner des Ortes thun, deflen Patron an dem Feſte unmittelbar 
beteiligt ift. Selbft in Orten, wie das große und reiche Indianerdorf Nahualä bei 
Quezaltenango, das jährlih eine Geldfumme für die Vergünftigung zahlt, feinen 
Branntwein-Ausichant in feinen Mauern zu dulden, darf einmal im Jahre, eben am 
Tage feiner „Fielta” — für Nahualä ijt es der Kalendertag Corpus Chriſti — 
Schnaps in unbeichränfter Menge hereingebracht werden, um den lanbesüblichen 
Sefteszuftand der allgemeinen Vetrunfenheit herbeizuführen. 

Noch mande amüfante Einzelheit ließe fich aus den Reifeeindrüden Frau Selers 
erzählen, vieles, was gerade die Leferinnen der „Frau“ lebhaft intereifieren möchte. 
Wir müflen uns leider mit den menigen Andeutungen begnügen. Mögen fie aber 
dazu einladen, in dem Buch felber nachzulefen, das kurzweilig auch für alle die fein 

32* 


500 Mary Aftell. 


wird, denen die Schilderung der Abenteuer fo bedeutungslos ericheint, wie die zahlreich 
in den Tert bineingedrudten ſchön kolorierten alt-meritanijchen Hierogluphen Deutungs- 
[08 — der einzige Mangel des Buches, daß es zu diejem Teil feiner Illuſtrationen 
nicht wenigſtens einen Anhalt für deren Verftändnis giebt. Diefe ſchönen bunten 
Bildchen find leider ſämtlich ungedeutete Hieroglyphen geblieben. 


—22 


Harv After 


Sine Iirauenrechtlerin des 17. Babrbunderts. 
Von 
Glifabeih Gotiheriner. 
Nachdruck verboten. ne 


NER 

Air find gewohnt, die Frauenbewegung ald eine Bewegung de 19. Kabr: 

P bundert3 zu bezeichnen und in Mary Wollftonecraft3 „Verteidigung ber 
SR Frauenrechte“ ihre erfte Kundgebung zu erbliden. Daß bereit3 im 

17. Sahrhundert eine Frau mit beftimmten VBorjchlägen zur Erweiterung der Frauen: 

bildung und zur Hebung der gejellichaftlichen Stellung des weiblichen Gejchlehts an 

die Offentlichkeit trat, dürfte menig bekannt fein. 

Mary Aſtell, „diefe große Zierde ihres Geſchlechts und ihres Vaterlandes“, 
wie ihr im Sabre 1752 fchreibender Biograph George Ballard fie nennt, wurde im 
Sabre 1668 in Newcaſtle als Tochter eines dortigen Kaufmanns geboren. Sie erhielt 
eine nach damaligen Begriffen außergewöhnliche Erziehung für eine Frau, da ibr 
Onfel, ein Geiftlicher, der ihre großen Fähigkeiten früh erfannt hatte, fie perjönlich 
in Philoſophie, Mathematik und Logik unterrichtete. Mit ungefähr zwanzig Jahren 
verließ fie Newcaſtle und ließ fich in London nieder, wo fie den übrigen Teil ihres 
Lebens zubrachte. 

Die Kenntuiffe, die fie felber erworben und die Vorteile, die fie dadurch vor 
ihren Gefchlechtögenoffinnen voraus hatte, erwedten in ihr den Wunfch, diefe auch 
anderen Frauen zugänglich zu machen und trieben fie dazu, mit einem lang erwogenen 
Plan für die Erweiterung der Frauenbildung an die Öffentlichkeit zu treten. Die 
Heine Schrift erfchien anonym unter dem Titel „Ein ernfter Vorfchlag für Frauen“ 
im Sahre 1694. Mary Aſtells Plan war, um mit ihren eigenen Worten zu |prechen, 
„ein Klofter zu errichten, da3 einem doppelten Zwed dienen foll, indem es nicht nur 
denen,. die den Wunfch haben, Zurüdgezogenheit von der Welt biete, jondern gleich: 
zeitig auch eine Erziehbungsanftalt für diejenigen fjei, die in ber Welt Großes und 
Gutes leiften wollen.” Seinerlei Gelübde follten abgelegt werden und es follte den 
Klofterfrauen jederzeit frei ftehen, audzutreten. Trogdem das religidfe Element bei 
dem Plan ftarf in den Vordergrund trat; — denn Mary Aftell war ftreng firchlich 
gefinnt, — follte doch auch die wifjenfchaftliche und philofophijche Ausbildung zu ihrem 
vollen Rechte kommen, denn „Unwiffenheit und mangelhafte Erziehung find die Wurzel 
allen Lafter3”. 

Ob der Plan in der Frauenwelt Anklang gefunden bat, bleibt zweifelhaft. 
Jedenfalls fand fich eine vornehme Dame, — aller Wahrjcheinlichfeit nach die Tpätere 
Königin Anna, damals Prinzeffin von Dänemark, — die jo begeiftert davon war, 
daß fie zehntaufend Pfund für den Bau eines Frauenfolleges verſprach. Leider aber 
ſah der Biſchof Burnet, zu deſſen Obren das Projekt gedrungen war, darin eine 
Rückkehr zum Katholizismus, und er agitierte mit jo großem Erfolg dagegen, daß der 






Marb Aftell, J 501 


Plan völlig aufgegeben wurde. Seine Furt war gewiß völlig unbegründet, denn 
am Schluß des einige Jahre fpäter erfchienenen zweiten Teils ſchreibt die Verfaflerin 
ſelbſt: „Wer behauptet, daß wir die Nachbildung ausländifchen Kloſterweſens bezwecken, 
muß entweder ſehr ungebildet oder fehr boshaft fein. Hätte man aufmerffam gelejen, 
fo würde man wiſſen, daß es ſich um die Errichtung einer afademifchen, nicht einer 
Höfterlichen Anftalt handelt.” 

Trogdem diefer Plan fo Häglich gefcheitert war, gab Mary Aftell den Kampf 
für die Befreiung ihres Geſchlechts nicht auf, und fehon nad Verlauf von zwei 
Jahren tritt fie wieder als Frauenrechtlerin auf den Echauplah, diesmal mit einer 
der Königin Anna gewibmeten „Schrift zur Verteidigung des weiblichen Geſchlechts“. 

Die originelle Perfönlichkeit der Verfaſſerin tritt Hierin dem Leſer deutlicher vor 
die Augen, als der Biograph fie zu ſchildern vermocht bat. Ihre Derbheit und ihre 
Liebenswürdigkeit, ihr Icharfer Verftand und ihre Herzensgite, ihr Humor und ihr 
feifcher fröhlicher Mut, alle fpiegeln fih wieder in diefem Heinen Meiſterwerk, aus 
dem ſich hier leider nur ein furzer Auszug geben Täßt. 

Bas fann liebenswürbiger fein, als die kurze Einleitung, in der fie ihr Buch 
gegen etiwaige Angriffe der Männerwelt verteidigt. „Unferem Gefchlecht ift von der 
Natur Zärtlichkeit für feine Sprößlinge eingepflanzt, es ift daher wohl erflärlih, daß 
wir für die Kinder unferes Gehirns eine nocd größere Liebe empfinden, als für die 
unſeres Leibes, da ihre Zahl fo gering ift, und die Welt fie fo feindfelig aufnimmt.” 
Aber aud ein gefundes Selbftbervußtfein Außert fi in den Worten, bie fie der 
zweiten Auflage vorausfhidt: „Einige Männer wollen behaupten, dies Buch fei nicht 
von einer Frau geichrieben. Wenn ich wüßte, in wie weit ihr Urteil ſchätzenswert 
if, konnte es mich dazu veranlaflen, eine höhere Meinung von dieſer Echrift zu 
haben, als ich fie bisher hegte. Aber wäre dad Buch fo gut geichrieben, wie ich es 
wohl wünfchte und mie der Gegenfland «8 verdiente, ſehe ich doch nicht ein, warum 
unferem Gejchlecht die Ehre geraubt werden fol, es verfaßt zu haben. Denn es hat 
zu allen Zeiten Frauen gegeben, deren Schriften mit denen ber größten Männer 
feinen Vergleich zu ſcheuen brauchen.” 

As Grund der Peröffentlihung ihrer Schrift bezeichnet fie nichts Geringeres, 
als die Abficht, „durch Beweisführung zu überzeugen, daß unfer Geſchlecht mindeftens 
auf gleicher Höhe fteht, wie das männliche”. Sie geht dann zu einer Erklärung über, 
marum gerabe fie diefe Aufgabe auf fi) genommen babe, die andere vielleicht beſſer 
bewältigen fönnten, und Mereibt: „Die Verteidigung unferes Geſchlechts gegen fo 
viele und jo große Geifter, die es jo beftig angegriffen Haben, mag mit Recht als 
eine zu ſchwere Aufgabe für ein Frauenzimmer ericeinen. Nicht, daB ich zugeben 
fönnte oder müßte, daß wir von Natur für ein ſolches Unternehmen weniger geeignet 
feien, al die Männer, wofür ich genügend Beweiſe zu geben Hoffe. Sondern weil 
infolge ber Gewalt der Männer und der Tyrannei der Sitte es nur wenige Frauen 
giebt, die durch ihre Erziehung für eine ſolche Aufgabe außgerüftet find. Es thut 
mir leid, daß häusliche Geſchaͤfte, Zerftreuungen oder zu große Bequemlichkeit die 
Frauen, die dazu imftande wären, davon abhalten, öffentlich für ihr Geſchlecht auf: 
zutreten. Selbſtſucht oder Neigung zwingt die meiften Männer, gegen uns zu fämpfen, 
jo daß wir faum erwarten dürfen, e8 werde ſich einer finden, der den Kampf für und 
aufnimmt und der Ritter unferes Gefchlecht3 gegen die Beleidigungen und die Tyrannei 
feines eigenen wird.” Mary Aftels Urteil über die Männer und deren Stellung zur 
„Srauenfrage“ berührt ganz modern. An einer anderen Etelle fagt fie: „Ein Mann 
ſollte fich nicht mehr darauf einbilden, daß er weiſer if, als eine Frau, — fofern er 
diefen Vorteil lediglich einer befferen Erziehung und größeren Erfahrung verdankt —, als 
er fich feines Mutes rühmen follte, wenn er jemand jchlägt, dem die Hände gebunden 
find. Nichts bringt Tyrannen dazu, ihre Ellaven graufamer zu unterdrüden, als bie 
— dieſe möchten eines Tages ſtark und mutig genug werden, um ihre Feſſeln 
abzuſtreifen und ſich über ihre Herren zu ſchwingen.“ 

Der zweite Teil des Buches, die ind Einzelne gehende Bemweisführung, daß die 
Frauen den Männern in den meiften Dingen gleichlommen und ihnen in manden 


502 Mary Aftell. 


überlegen jeien, und daß nur die mangelnde Erziehung ihren Aufſchwung Bindere, it 
weit jchwächer, als der erfte Teil, der fich mit allgemeineren Erwägungen beſchäftigt. 
Dod im ganzen genommen ift die Schrift wohl wert, der Vergeflenheit entriffen zu 
werden; fie enthüllt ung die Perfönlichleit einer Frau, bie ihrer Zeit um jo wen 
voraus war, daß ihr Wirken eben deshalb ohne Einfluß blieb. Das jheint fie jelber 
eingefehen zu haben, denn nachdem fie im Jahre 1700 ein Buch „Über die Ehe“ ver: 
öffentlicht hatte, in dem fie, wie ihr Biograph jagt, „nach der Anficht wieler Leute 
bie Rechte und Vorrechte ihres Gejchleht® gar zu hitzig verfocht,” wandte fie ſich 
anderen, hauptſächlich politifchen und religiöfen Intereſſen zu, die uns bier nicht be 
ſchäftigen können. 

Es iſt intereflant, das Urteil verfchiedener Zeitgenoffen über dieſe beroorragend: 
Frau zu hören. Der Hiftorifer Dr. Sohn Walker nennt fie „die geiftreiche Mrs. Aftel,“ 
der befannte Theologe Henry Dodwell fpricht von ihr als einer „beivunderungsierten 
grau,” und der Schriftfteller Evelyn ſchreibt über fie: „Ich würde mich großer lin: 
Dankbarkeit jchuldig machen, wollte ich nicht Mrs. Aſtells Verdienfte anerkennen. Eie 
bat durch ihr eigenes Beilpiel bemwiefen, daß ihr Geſchlecht großer Dinge fähig if.” 
Ein intereffantes® Urteil findet fi in einem Brief des Biſchofs von Rocheſter, 
Dr. 5. Atterbury, an feinen $reund Dr. Smalridge. Es lautet wie folgt: 

„Vor vierzehn Tagen war ich bei Mrs. Aſtell zu Tiſch. Sie ſprach mit mir 
tiber meine Predigt und riet mir, fie druden zu laffen. Sie bat mid, fie vorher noch 
einmal bdurchlefen zu dürfen, und ich fchidte fie ihr am folgenden Tage. Geftern 
jandte fie nun die Predigt mit inliegenden Bemerkungen zurüd, die ich mich nicht ent: 
balten fann, Dir zu jchiden, da fie außerordentlich bemerkenswert find, wenn man 
bebentt, daB fie der Feder einer Frau entſtammen. Man follte wirklich kaum glauben, 
daß eine Frau fie gejchrieben hat. Kein einziger Ausdruck verrät ihr Gefchleht. ie 
greift mic) heftig an, wie Du fiehft. Hätte fie ebenfo viel Lebensart als Verſtand, 
jo würde fie vollfommen fein; aber fie ift nicht übermäßig wähleriſch im Gebraud 
ihrer Worte, und ihre Ausdrucksweiſe ift oft ein wenig derb. Dies wundert mid 
um fo mehr, als das weibliche Gefchlecht es im allgemeinen befjer verfteht als wir, feine 
Worte geziemend zu drehen und zu wenden. Mrs. Aftell verfteht es nicht. Aber ihre 
klare und verftändige Schreibweiſe hebt diefen Mangel auf, wenn überhaupt etwa 
imjtande ift, ihn aufzuheben. Ich fürchte mich, mich mit ihr in einen Streit ein- 
zulaffen, ich habe ihr daher nur eine allgemein gehaltene böfliche Antwort gefandt und 
boffe, das übrige mündlich zu erledigen.“ 

Den Reit ihres Lebens widmete Mary Aftell, wie gejagt, hauptfächlich religiöfen 
Pflihten und theologifchen Studien. Doch auch die griechiichen und Iateinifchen 
Klaſſiker vernachläffigte fie nicht, und bis zu ihrem Tode gehörten Kenophon, Plato, 
Seneca und Epictet zu ihren Lieblingsjchriftftellern.. So eifrig lag fie ihren Studien 
ob, daß ihr nicht® unwillkommener war, al3 eine Unterbrechung durch Bejucher, 
beſonders wenn diefe lediglich mit der Abficht kamen, ein Plauderftündchen bei ihr zu 
verbringen. In ſolchen Fällen pflegte fie fcherzend zum Fenfter binauszurufen: 
„Mrs. Aſtell ift nicht zu Haufe,” ein Mittel, das ihr gewiß mehr Feinde zugezogen 
bat, als irgend eine ihrer Schriften. | 

Ihre Schaffensluft und Lebensfreude hielten an bis zuletzt, da ein ſchweres 
Krebsleiden fie befiel, das, wie fie von Anfang an wußte, nur mit dem Tode enden 
fonnte. Mit wahrem Heldenmut unterzog fie fich einer Operation, die zu jener Zeit 
noch ohne jegliche Betäubungsmittel vorgenommen werden mußte, doch der Erfolg 
wat nur ein zeitweiliger, und am 11. Mai 1731 machte der Tod ihrem reichen Leben 
ein Ende. 

Daß Mary Aftel nicht Schule gemacht hat, daß ein ganzes Jahrhundert ver: 
ftreichen Eonnte, ehe Mary MWollftonecraft, unbeeinflußt durch ihre Vorgängerin, von 
beren Exiſtenz fie nicht einmal etwas ahnte, die Sache der Frauen von neuem aufnahm, 
zeigt nur, daß die Zeit noch nicht reif war für ihre Anjchauungen. 


A 





Erfte ſtaatlich genehmigte Lehranftalt für 
Hellgymuaftit und Maffage in Kiel. 
Bon Amalie Junt 

(Raddrud verboten.) 

Wenn einerfeit® bie rechtzeitig angewandte, 
wiſſenſchaftlich ausgeübte Heilgymnaftit den menfc: 
lichen Körper vor großen Gefahren, ja vor dauerndem 
Siechtum zu bewahren vermag, fo kann anderer: 
feitd auch durch Unverftand und unzureichende 
Kenntniffe über die Beſchaffenheit des menfchlichen 
Körperd auf biefem Gebiete viel gefünbigt werden. 
Und dann find birelte Geſundheitsſchädigungen 
mur zu Häufig bie traurige Folge ber falſch an: 
geiwandten Heilgymnaftit. 

Um die wirkſame Anmwenbung der Heilgymnaftit 
in weiterem Maße zu fihern, hat Dr. Lubinus 
in Kiel einen Kurfus zur Ausbildung junger 
Mädchen und Frauen ald Heilgymnaftinnen und 
Zurnlehrerinnen eröffnet. 

Die Errichtung diefer Anftalt ift um fo freubiger 
zu begrüßen, als fie die erfte ftaatlich genehmigte 
Lehranſtalt für Heilggmnaftit und Maſſage ift. 
Dementfprecdend wird eine vom Staate ein: 
gefegte Prüfungstommiffion am Schluß der Kurfe 
das Examen abnehmen, und bie Schülerinnen er: 
halten dann ein Zeugnis als „ſtaatlich geprüfte 
Heilgymnaftin”. Es gab bisher ja auch in 
Deutſchland außerordentlich tüchtige Orthopäbinnen, 
die privatim ihre Lchrlurfe abfolviert hatten, 
aber leider maßten fid die Mafjeure und Mafjeufen 
auch oft Behandlungen auf dieſem Gebiete an, 
denen ihre Kenntniſſe abfolut nicht gewachſen 
waren. Diefelben hatten dann in wenigen Wochen 


oder Monaten bei einem Maffeur ober etwa an | 


einem Krantenhaufe die verſchiedenen Manipulationen 
der Maffage mehr ober weniger gut fich zu eigen 
zu machen gefucht. Naturgemäß aber konnten fie 
in einer fol kurzen Vorbereitungszeit nicht über 


den Bau des menſchlichen Körpers, bie Funktionen : 


feiner Organe, dad Weſen der in frage kom— 
menden Krankheitsprozeſſe, die Technik der Heil: 
aumnaftit und die mittel® der Maffage erzeugten 


| Bervegungen u. f. w. genügend aufgeflärt und 
untlrrichtet werben. Es fehlt eben bie hier fo 
j überaus notwendige wiſſenſchaftliche Vertiefung und 
richtige Erkenntnis, die allein einen Erfolg ber 
Behandlung erhoffen läßt. Um fo befier konnte 
es benn auch den ſchwediſchen Heilghmnaſten refp. 
Gpmnaftinnen gelingen, bei uns in Deutſchland 
feften Zuß zu faſſen, fo daß feldft junge Schwedinnen, 
bie nicht ihre Ausbildung am Sentral-Inftitut in 
Stodholm erhielten (dad Königl. ghmnaſtiſche 
Zentral· Inſtitut in Gtodholm erfreut ſich be: 
anntlich eined Weltrufes und hat längft die 
wiſſenſchaftliche Ausbildung junger Mädchen zu 
Heilghmnaſtinnen übernommen), fondern nur wenige 
Monate privatim vorgebildet waren, bei und 
reichlich Befhäftigung fanden. Auch ſchon von 
dieſem Geſichtspunkte auß ift es cin mohlberechtigtes 
deutſches Streben, durch eingehende wiſſen ſchaft. 
liche und pratifche Ausbildung einen ebenbürtigen 
Stand deutfcher Yeilgymmaftinnen zu fchaffen. 
1 68 ift leicht erſichtlich wie bie Genehmigung 
eined vor ber Regierung abgelegten Eramens ben 
Stand heben und ihm die volle Anerkennung der 
Ärzte verichaffen wird. 
Der erfte Aurfus in Kiel beginnt mit dem 
15. April und wird zweijährig fein. 
Die Lehrgegenftände find folgende: 
Anatomie ded menſchlichen Körpers, 
Phoſiologie 
Bewegungslehre, 
Geſundheits· und Krankheitslehre, 
Turnen, inkl. Geſchichte, Methodik und Gerät 
kunde, 
Heilghmnaſtil und Maflage, ſowohl theoretiſch 
als auch in praltiſcher Ausübung. 
Die Aufnahmebedingungen. find: 
. Alter zwifchen 18 und 85 Jahren. 
. Gute Schulbildung. 
. Kräftiger Gefunbheitäzuftand. 
. Amtliches Führungszeugnis. 
. Honorar halbjährlich 1650 Marl. 
. Teilnefmerinnen-Zafl fol möglichft be: 
ſchrantt werben. 


enmopm 





504 Frauenleben und :Streben. 


7. Anmeldungen und Anfragen find zu richten 
an ben Leiter der Anftalt Dr. Lubinus- 
Kiel, Brundwiderftr. 10. 

Die beftandene Prüfung verleiht ben Schülerinnen 
die Approbation ald SHeilgymnaftin und Turm: 
lehrerin. Solche Ausbildung ſchafft nicht einen 
Stand von Hanblangern, ſondern wiſſenſchaftlich 


eingehenden Ausbilbung, die Kranktheitäerfcheinungen 
in ihrer Urfache und ihren Wirkungen richtig zu er- 
kennen vermögen, alfo auch bie richtige Bebanblumg2- 
weile anwenden können. Selbitverftändblich haben 
auch fie mit den Ärzten Hand in Hand zu gehen. 

Es unterfieht wohl keinem Zweifel, baß ber 
in Kiel unternommene Verſuch fih ald lebens 


gefchulte Kräfte, die ihrer oft ſchwer verantiwort- | fähig ermeifen unb weitere Derartige Unternehmungen 
lichen Aufgabe gewachſen find, weil fie, dank ihrer | nad) fich ziehen wird. 


— de — 


Tranenleben und -Streben. 


Nachdruck mit Duellenangabe erlaubt. 


* Der Bund beutfcher Frauenvereine hat 
durch feine Rechtskommiſſion in Ausführung der 
Beichlüffe der Dresdener Generalverfammlung 
nachfolgendes Flugblatt ausarbeiten und verfenden 
laſſen, das wir eindringlich der Beachtung empfehlen. 


Weshalb follen Eheverträge geichloffen werben? 


Das Bermögen und die Ausfteuer der Frau 
find nad) dem geltenden Güterrecht, mit Au2- 
nahme der zum perjönlichen Gebraud der Frau 
beftimmten Saden, wie inäbefondere Kleider, 
Schmudjachen und Arbeitögeräte, eingebrachtes Gut, 
der Mann verwaltet es und verfügt barüber. Durch 
Vertrag, den die künftigen Gatten vor einem Notar 
oder vor Gericht unterfchreiben, kann an Stelle 
dieſes Rechte Gütertrennung vereinbart erden, 
db. h. die Frau behält die Verfügung über ihr Ber: 
mögen und deſſen Erträge, und ift verpflichtet, dem 
Ehemann einen angemefjenen Beitrag zur Be: 
ftreitung des ehelichen Aufwandes zu zahlen. In 
denjenigen Ehen, in denen die Frau im Hausweſen 
oder Geſchäft des Mannes erheblich mitarbeitet, 
fann fie fi durch Vereinbarung von Errungens 
Ichaftögemeinichaft, verbunden mit Giütertrennung, 
den ihrer Arbeit entiprechenden Anteil am Gewinn 
und Griparten fichern. 

Man fagt, daß bei glüdlichen Chen die Gelb: 
und Eigentumsfrage feine Rolle fpiele, aber es 
giebt doch auch unglüdliche Ehen, und gerade die 
pefuniäre Abhängigkeit der Frau, die unerquidlichen 
Auseinanderfegungen, das Rechten um fleine und 
große Ausgaben untergraben nur zu oft Frieden 
und Vertrauen -und dadurch das Glüd. Es ift 
fiher Müger und praftifcher, die Geldfrage vor der 
Ehe in gerechter, den Berbältniffen entiprechender 
Weiſe zu ordnen und fo fpäterem Unfricden vor: 
zubeugen. Es ift Pflicht jedes Menfchen, feine 


Pflicht dürfen fi auch die rauen heutigen Tages 
nicht mehr entziehen. Derliert eine rau den 
Gatten, jo bat fie nach den neuen Gefeh, außer 
dem eigenen Vermögen, auch das ber Kinder zu 
verwalten, daher ift es notwendig, daß fie von 
vornherein auch in Geichäftsangelegenbeiten felbft: 
jtändig handeln lernt. €3 kann ber Familie nur 
zum Vorteil gereichen, wenn nicht mehr ausſchließ⸗ 
lih der Mann bie gefchäftlihen Intereſſen ber 
Familie wahrt, fondern auch die Frau ihren Scharf: 
blid und ihre Erfahrung geltend machen Tann. 

Pflicht der Eltern ift e8 vor allem, barauf zu 
dringen, daß ihre Töchter Eheverträge ſchließen. 
Nur auf diefe Weife kann ein mirkfamer Schug 
bes Frauenvermögens gegen bie Folgen von Schid: 
falsichlägen, fowie gegen eventuelle Mißwirtſchaft 
bed Gatten erreicht werben. Vernünftig und geredht 
dentende Männer werben biefe Fürforge der Eltern 
verſtehen unb darin feinerlei Miftrauen gegen ihre 
Perſon erbliden. Bei einem fo wichtigen Lebens: 
abichnitt dürfen falſch angebrachtes Zartgefübhl und 
Sentimentalität nicht maßgebend fein. Die Bin: 
gebende Liebe der Frau wird burd die Wahrung 
ihrer pekuniären Selbftändigfeit in feiner Weife 
berührt; die bingebende Liebe des Mannes jur 
Frau bedingt ja auch nicht, daß er ihr fein Ber: 
mögen überlafie. 

Die praftifchen Vorteile eines Chevertrages find 
jo bedeutende, daß man Verlobten nicht dringend 
genug das Eingehen eines folchen raten Tann. 


I. yormular 
zum Gbevertrag einer vermögenden Chefrau. 


Zwiſchen ...... ijt unter heutigem Datum 
der folgende Ehevertrag abgejchloffen worden: 
81 


In der Ehe ſoll Guͤtertrennung herrſchen, die 
Verwaltung und Nutznießung des Mannes am Ber: 


eigenen Angelegenheiten felbft zu beforgen; bdiefer | mögen der Frau fällt fort. 


\| 


Frauenleben 


82. 
Die Roften des Ehevertraged tragen, bie Ci 
gatten ve eigen zeilm ed Fragen. bie he 


m Formular 
er Frau, bie einen Beruf auß: 
ober —— ein Gefchäft betreibt. 


Zwilhen ...... ft unter heutigem Datum 
ber folgende eherrenna N ofen worden: 

In der Ehe foll Shkertrennung herrſchen, bie 
Verwaltung und Rutznießung bed Manned am Ber: 
mögen ber Frau fält fort. 


82. 

Die Hinftige Ehefrau hat das Recht, ihren Beruf 
dauernb auszuüben ober ihr Ermerbögefchäft dauernd 
w betreiben. Insbeſondere erteilt ber Chemann 

 R. feiner Braut und künftigen Ehefrau hiermit 
ein für allemal die Zuftimmung zur Eingehung von 
jeglicher Art von Verträgen, durch melche fie ſich 
zu einer von ihr in Perfon zu bewirkenden Leiftung 
verpflichten will. 


88. 
Die Koften bed Ehevertraged tragen bie Che: 
gatten zu gleichen Teilen. 





I. Formular 


zu einem Arbeiterehevertrag. 
Zwiſchen ...... ift unter heutigem Tatum 
der folgende Ehevertrag abgeſchloff en worben: 


814. 
In der Ehe ſoll Gütertrennung herrſchen, die 
Verwaltung und Nutznießung des Mannes am 
Bermögen der Frau fällt fort. 


82. 

Die künftige Ehefrau fol ferner auch in ber 
Berwertung ihrer Arbeitöfraft vollftändige Freiheit 
haben und von ber Zuftimmung ihres Mannes 
hierbei gänzlich unabhängig fein. Insbeſondere 
erteilt der Ehemann N. N. feiner Braut und zu 
tünftigen Ehefrau hiermit ein für allemal bie 
Zuftimmung zur Eingehung von jeglicher Art von 
Verträgen, burd; welche fie ſich zu einer von ihr 
in verſon zu beivirtenden Zeiftung verpflichten will. 


88 
Die Koften bed Ehevertraged tragen bie Che: 
gatten zu gleichen Teilen. 





IV. Formular 
zum Ghevertrag einer Frau, bie einen Landwirt, 
Handel: oder geiverbetreibenben Mann heiratet, oder 
einer bermögend: und beruföfofen ‘Frau, bie durch 
ihre Arbeit im Haufe am eignen Erwerb ge: 
Sinbert it 

wilden ...... iſte unter heutigem Datum 

der ſolgende ——— ‚seetstoflen worden: 


Als eheliches uem "gilt Die Errungenſchafis. 
gemeinfhaft, da8 heißt: da3, was bie Gatten durch 
den, gemeinfchaftfichen Betrieb eine® Erwerbo 
geijäfted geiwinnen oder auf andere Weife fparen, 
wird gemeinfchaftliches Vermögen. 


und «Streben. 505 


$2. 

Borbehaltägut ber fünftigen Ehefrau find die 
in beiliegendem Verzeichnis aufgeführten Gegen: 
fände ber Außfteuer und alled, wa bie künftige 
Ehefrau durch Erbfolge, Bermägtnis ober Pflichtteil 
erwirbt (Ertverb von Todeswegen), ober was ihr 

unter Lebenden von einem Dritten unentgeltlich zu: 
| 
gewendet wird. 


88. 

Im Fall der Aufloſung der Ehe durch Scheidung 
ober Aufhebung ber ehelichen Gemeinfchaft er: 
Hält jeber Ehegatte die Hälfte des Gefamtgutes, 
welches nad; Berichtigung ber Geſamtgutsverbindlich⸗ 
kin als 3 Vermögen vorhanden ift. 

Im Fall der Auflöfung der Ehe durch Tob er 
hält ber überlebende Gatte die Hälfte des Gefamt: 
guted, welches nach Berichtigung der Gefamtgutd- 
verbinblicleiten vorhanden ift. 


8 4. 

Zur Beftreitung ihrer perfönlicen Betürfniffe 
erhält bie künftige Ehefrau für ihre Arbeit im 
Hausweſen des Mannes eine Bergütung ven 
monatlich - Marl. 


85. 

Die Koften bed Ehevertraged tragen bie Che: 

gatten zu gleichen Teilen. 
Anmerkung 1: 

$ 1427 des Bürgerlichen Gefegbudjes beftimmt, 
daß bei Gütertrennung bie Frau bem Mann zur 
Beftreitung des ehelichen Aufwandes einen an: 
gemeffenen Beitrag aus den Ginkünften ihres 
Vermögens, von dem Ertrag ihrer Arbeit ober eines 
von ihr felbftänbig betriebenen Erwerbägefhäftes zu 
eiften hat. Die Höhe dieſes Beitrages fann im 
Ehevertrag nicht für bie Dauer der Che feſtgeſetzt 
werben, ba ber Vermögensſtand beider Ehegatten 
fih im Laufe der Jahre zu verändern pflegt. 

Anmerkung 2: 

Der Ehevertrag wird am beften vor Eingehung 
der Che bei gleichzeitiger Anweſenheit beider 
Verlobten oder beren Bevollmächtigten vor bem 
| Amtögericht ober vor dem Notar abgeichloffen. 

Anmerfung 8: 

Nach gefcploffener Che ift die Eintragung bed 
‚ Ehevertrages ind Güterrechtöregifter ded Amtd- 
| gerichted zu beantragen, in deffen Bezirk der Mann 
! feinen Wohnfig bat. Die Beantragung kann 
geichehen entiveer burd) beide Ehegatten, durch 
einen derfelben oder durch den Notar. Lehieres ift 
da8 einfacfte Derfahren. Nur durd biefe Ein: 
tragung wird der Ehevertrag Dritten gegenüber 
wirkfam. 

Anmerkung 4: 

Es empfiehlt fi, im Sinblid auf den & 1362 
des Bürgerlichen Gefegbuhes unb ben $ 45 ber 
Reis: Konkurd: Drbnung, bem Antrag auf Ein: 
tragung in dad Güterredhtöregifter ein vollftänbiges 
Verzeichnis des ber Frau gehörenden Vermogens 
(Wertpapiere, Möbel u. f. iv.) beizufügen. 

Anmerkung 6: 

Abänderungen der PVertragsformulare können 
dur Weglaffen und Hinzufügen einzelner, den 
! erhältniffen und Wunſchen ber Bertragigjließenden 
nicht entſprechenden Beftimmungen vorgenommen 
werben. Tod raten wir, wo es irgend angeht, 
* bie Formulare fo zu. benugen, wie fie vorliegen. 





6 


* Ter Berliner Frauenverein und die Haus⸗ 
inbufßrie in der Berliner Qoſtũm⸗Naſſchneiderei 
Tie Antworten der Inhaber von Koftüm-Tetail- 
ge:häften, bei benen der Berliner Frauenverein, 
wie in den vorigen Rummern berichtet wurbe, über 
die etwa geplante Cintührung von Hausinduſtrie 
Grluntigungen einsog, haben die Kommiſſion des 
Vereins zu folgendem weiteren Schreiben an die 
Konfektionãre veranlaßt: 


Sehr geebrter Herr! 


Aus dem Antwortihreiben bed Arbeitgeber: 
verbante3 vom 7. März ſowie aus den Bricien 
aner Anzabl Inbaber von Koftüm-Detailgeibäften 
bat Die unterzeichnete Kemmiiſion des Berliner 
Frauenvereins mit Bedauern von der Thatiache 
Kennmid genommen, daß ein Teil der Berliner 
Rap: Tetailgeihäfte dazu übergegangen ift, in er: 
wmeitertem limtange Waren auserbalb ihrer Wert: 
ftatten anfertigen zu lafien. Als Grund dafür 
wird angegeben, daß man durch die übermäßigen 
‚serderungen der Arbeiter zu dielem Auswege ge: 
swungen worden ie. 

Zie ‚stage, ob Liele Forderungen übermäßig 
seien, iſt unierer Anfıht nad ichon durch die im 
rorzgen Frühjahr eriolgte Annabme beitimmter 
Zarıie ven jeiten der Herren Arbeitgeber felbit 
verneint worden. In der Umgebung aber ticier 
art'masigen Abmachunaen durch Die Ausgabe von 
Arkeir an Zwiibenmeiiter und Seimarbeiter er: 
bi:den wir jedenialls eine nicht zu billigende Maß— 
regel; und zmar 


1. aus allgemein fozialpolitiihen Gründen; 
2. aus lanitaren (Sründen. 


Es ift eine alfaemein beitätiate Criabrung, daß das 
ungeregelte Arbeitsangebot der Heimarbeiter und 
Me Unmealichkeit, in der Suusinduitrie zu kollek— 
tiren Abmachungen zmwiihen Arbeitaebern und Ar: 
beimebmern zu fommen, zu der Entwicklung unges 
funder Yobnverbältninie fuhren mug. — Wir lönnen 
nicht wunicen, daß die Yuitinde, die in der Kon: 
jettionsinduitrie allgemein beklagt werben, aud in 
ter Maßbranche Play areisen. 

Tie fanitaren Bedenken, die ber Seritellung 
von Zaren in unlontreilierten Arbeitsitätten ent: 
gegeriteben, liegen auf ber Hand. 

Nonne man auch vieleiht für bie ſozial— 
politiſchen Getichtäpuntte nicht auf das Veritandnis 
weiterer Kreiſe rechnen, io dech für Diejenigen, 
weiche Die geiundbeitlichen Antereiien der Kuͤnd 
icaft berußren. 

Tas Publikum, das in den eriten Geichäften 
Berlins die beiten Treiie zahlt, kann und wird 
auch tie Forderung fielen, daß die von ihm ent: 


nemmenen Waren nicht Anitedungsactabren in 


unbefannten Wohnungen ausgeiegt werben. 

Die Unterzeichneten innen nur befürworten, 
daß die Kundichaf in dieier Frage zur Selbitbilie 
greiit und durch Vachiorichung uber die Beſchañen— 
heit der Arbeitsſtätten und Bekanntgebung der— 
jenigen Geſchaite, welche in geſundbeitlich einwands⸗ 
freien ®ertitisten arbeiten iaien, ſeine Intereiien 
fichert. 

Wir erfuhen die Firmen, bie fih zu unieren 
Ötuntiägen befennen, um eine zuistiimmende Annwert 


Frauenleben und -Streben. 


und bie Erlaubnis, ihren Ramen im ber Lite :u 
veroffentlichen, die wir über diejenigen Gekhö' 
zu führen gebenten, welde ihren Berrieb nut 
unferen Gefichtspunkten leiten. 

Mit vorzügfider Hochachtung 
i. A. der Kommiſſion des Berliner Fraucaverems 


Helene Lange. Gertrud Dyvhrenfurth. 
Alice Salomon. 


Ta jegt ſchon feftzuftellen if, daß ſehr wenige 
der Konfektionäre fi zu ben in dem Schreiben 
audgeiprochenen Grundiägen beiennen, jo werten 
diele erften Schritte des Berliner Frauenvercius 
nur dann von Einfluß auf die herrſchenden Ver 
kältnifie werben lonnen, wenn fie gu einer in 
weiteren Kreiſen unternommenen Bewegung den 
Anitoh geben. 


* Die Oymuekallurfe für Frauen zu Berliz 
haben Oſtern wiederum zwei Schülerinnen entlarien, 
Frl Tora und Annemarie Bieber, die beide 
mit gutem Erfolg bad Cramen vor ber Prüfungs 
kommiĩſion bed Königlichen Luiſengymnaſtums be 
ftanten. Trei andere Xipirantinnen, die fich auf 
Grund privater Vorbereitung gemeldet batıen, 
mußten teild ibon vor Beginn, teild währenb bes 
mundliden Examens zurüdtreten. Es wäre ieht 
mwünichenätvert, wenn der Riniiter, der fi immer 
noch die Enticheibung über die Zulafiung von Fall 
zu Fall vorbehalten bat, ſolchen privatim, oft in 
fürzeiter Zeit vorbereiteten Schülerinnen bie Zu: 
laitung erihmwerte. In Berlin wiederholt fih nun 
iben jeit einer Reibe von Jahren bei jebem 
Trüfungätermin der gleihe Vorgang, daß folde 
privatim vorbereiteten Schülerinnen — bie nicht 
jelten wegen Unfähigkeit oder Mangel an Fleiß 
in bieiiaen oder anderen Aurfen nicht vorwärts 
famen — bie Zeit der Prüfungstommiffion unnüsß 
in Aniprub nebmen und das Frauenſtudium 
diskreditieren. 


* Die beiden erfien ſtaatlich approbierten 
Ärztinnen in Deuntſchlaud find Frl M. Wagner 
und Frl. Democh, die beide ibr Staatderamen 
kürzlich beitanden, tt. Wagner in jrreiburg i. Br. 
stil. Democh in Salle. 


* Anftellung Radtiiher Waijenpflegeriunen 
in Tilfit. Am 12. Dezember des vorigen Jahres 
bat bie Trtägruppe Tilſit Des Allgemeinen Deutfchen 
Frauenvereins in einer Cinaabe an den Magiſtrat 
ibrer Statt um die Anstellung ſtädtiſcher Waiſen⸗ 
pilegerinnen. Der Eingabe war eine Lifte bei: 
geleat, welche die Namen ven 70 ‚rauen aus ben 
verſchiedenſten Ständen enthielt, die ſich bereit 
erflärt batten, dad Amt ter Waifenpflegerin zu 





En 


En ö— — — — — — 





Frauendereine. 


übernehmen. Unterftügt wurde die Petition ber 
Drtögruppe von fämtlichen hieſigen Frauenvereinen 
und vom Königlichen Amtögericht, dad den Magiftrat 
erfuchte, der Bitte der Frauen gemäß verfügen zu 
wollen, da „mir die Anftellung von Waiſen⸗ 
pflegerinnen für die Stabt Tilfit als jehr wünfchend: 
wert betrachten”. — Der infolge biefer Petition 
geftellte Antrag auf Anftelung von Waifen- 
pflegerinnen wurde fowohl im Magiftratstollegium 
mie in ber Stabtverorbnetenverfommlung ein: 
Rimmig angenommen; aud) von feiten ber Waiſen⸗ 
räte wurde fein Einwand gegen ben Befchluß erhoben. 
Für die 14 Bezirke der Stadtgemeinde find vorläufig 
28 Baifenpflegerinnen gewählt worden, bie ſchon 
an ber nächſten Waifenratöfigung teilnehmen follen. 


* Ueber die Bulafjung von Franen zum 


gaſtweiſen Beſuch von Univerfitätänsrlefungen : 


iſt kürzlich eine neue minifterielle Beftimmung er: 
laffen, die für die numeriſche Geftaltung des 
Srauenftubiums im Sommerfemefter bebeutungävoll 
werben dürfte. Der Beftimmung zufolge wird es 
als ſelbſtverſtaͤndlich erachtet, daß die für männliche 
Hofpitanten geltenden Crforbernifie auch auf die 
weiblichen in Anwendung gebracht werben. 
erfteren wird an den Univerfitäten allgemein baran 
feftgehalten, daß ohne eine mindeftend der Ober⸗ 
ſecunda einer inländifhen höheren Lehranſtalt oder 
der wiftenichaftlichen Reife für ben einjährig frei⸗ 


Bi | 


507 


} willigen Militärdienſt entfprechende Vorbildung ber 

Beſuch von Univerfitätßvorlefungen nicht geftattet 
! werben Tann. Da die Borbildung ber Volksſchul⸗ 
ı lehrer zum einjährig freiwilligen Militärbienft be: 
rechtigt, wird für die Zulaſſung weiblicher Hofpi- 
| tanten unbedenklich das Lehrerinnenzeugnis genügen. 
Es würde aber voraußfichtlich die wiſſenſchaftuͤche 
| Höße des Univerfitätdunterricht8 gefährden, wenn 
auch daB bloße Entlafjungäzeugnis einer Höheren 
| Tochterſchule ald ausreichend erachtet würde. Biel: 

mehr darf die Zulaſſung hier jedenfall nur ganz 
ausnahmsweiſe beim Vorliegen andermeiter voll: 
j gültiger Ausweiſe über bie erforderliche Borbildung 
erfolgen. Bezüglich der in Betracht kommenden 
auslandiſchen Zeugniffe wird eine nähere Be: 
ı ftimmung vorbehalten. 

* Totenjen. Frau Dr. jur. Emilie Xempin 
ftarb nad langem Leiden in ber Irrenanftalt zu 
| Bürig. Sie bat befanntli) bie legte Zeit ihrer 
N deruflichen Thätigteit in Berlin zugebradt, und 
| pi glauben und berechtigt, anzunehmen, daß der 
| damals zu mandem Angriff führende plögliche 
| Weile ihrer Überzeugungen fhon auf die ber 
ginnende geiftige Umnadhtung zurüdzuführen war, 
! der bie unglüdlihe Frau, wohl mit infolge von 
drüdenden Sorgen, verfiel. Frau Kempin bat ſich 
i in ber Zeit ihrer vollen geiftigen Kraft bedeutende 
“ Zerbienfte um den Fortſchritt des Frauenſtudiums 
erworben, vor allem dadurch, daß fie als erfte auf 
| dem Kontinent das juriftifhe Studium bis zur 
! Promotion burchjegte. 


57.25 


Frauenvereine. 


Die de —E ringen in 


die ber Verein Frauenbildung — Frauen: 
ubium ins Leben gerufen bat, wurben am 14. April 
in Anwefenheit von Vertreiern ber ftaatlichen und 





ftäptifchen Behörde, Angehörigen der Sı rinnen 
und Freunden der Sache eröffnet. In ihrer Er: 


öffnungörede gab bie Borfihenbe der Abteilung rant- 


furt des Verein® Frauenbilvung — Frauenftubium, ' 
Frl. Dr. Elifaberh Winterhalter, einen Über: | 
bfid über ben Fortf—ritt des Unternehmens Biß - 


jet unb Tennzeichnete die Gefichtepunkte, nad) denen 
es fortgeführt werben follte, etwa mit folgenden 
Ausführungen: Tie Schülerinnen follen nicht lernen 
zur Befriedigung ihrer Gitelteit, um dur Willen 
zu glänzen, fie follen auch nicht arbeiten im Hinblick 
auf einen rein äufierlihen wel, um für das 


Eramen eine gewifie Summe von Kenntniffen zur ' 


Verfügung zu haben, fondern fie follen in heiterer, 
Iebenfrober Arbeitöluft einen Teil_ ihrer ſchonen 
Jugend, ganz allein un ihrer felbft willen, dem 
Studium wibmen, zur Erlangung von wahrkafter 
Bildung, von wahrhaftem Verſtändnis für die Melt 
und ben Meniden, für die Größe und Schönheit 
in Ratur, Wiffenfhaft und Kunft, zur Erlangung 
eines geiftigen Inhalte, einer inneren Welt. Für 


den Menfchen ift dieſe innere Welt ein (Yut von 
‚größter Roftbarteit, die Erlöfung von aller Unfreiheit 
und Halbheit. Tas Streben ber Schülerinnen fei, 
dur Arbeit zu Willen und durch Wiſſen zu 
innerer Kraft unb gu innerer Freiheit zu gelangen, 
dad heißt gu fönfter und befter Entfaltung der 
Verfönlihteit. — Im Auftrag de Provinzial: 
fdultolegiums zu Caffel und des Cherpräfidenten 
überbrachte Herr Propinzialfulrat Dr. Pähler die 
beften Wünfce und die Verfiherung bes Intereffes 
und Wohlmollend ber Behörden. Serr TDireltor 
Dr. Hartwig betonte, wie wichtig es fei, daß bie 
erteiterte Bildung der Kurfe mit dem, was bie 
jungen Damen an Wiſſen mit ſich bringen, organiſch 
Ü vertettet werde. Herr Cherbürgermeifter Dr. Adides 
rühmte das fehöne Recht der Privatunternehmung, 
tüßn voranzugehen unb fid neue Ziele zu fteden. 
Ein Unternehmen, das fo befonnen und fo ruhig 
in bie Wege geleitet werde, fei danach angethan, 
die neuen Aufgaben, welche bie wirtſchaftliche Ent- 
widfung unjere8 voiles aufrolle, mit löfen zu 
belfen. Die Kurfe werden, wie noch bemerkt fei, 
mit 10 Schülerinnen eröffnet und zwar mit einer, 
der unterften Klafie (Tbertertia). Als Ordinarius 
der Klaffe wurden für Latein, Deutſch, Geſchichte 
Dr. 9. Auengle, für die übrigen Unterrictäfächer 
bewährte Lehrkräfte Frankfurt gewonnen. 


- — - 


„DaB Wefen bes Chriſtentums.“ Sechszehn 
Vorlefungen vor Stubierenben aller Fakultäten im 
Winterfemefter 1899/19008 an der Univerfität 
Berlin, gehalten von Abolf Harnad. (Leipzig. 
3.2. Hinricha'fche Buchhandlung.) Die Menfcheit 
Tonne nicht oft genug daran erinnert werben, fo 
hat einmal John Stuart Mill gejagt, da es einft 
einen Mann Namens Sokrates gegeben. Wichtiger 
als das, fo beginnt Harnad die erfte feiner Bor: 
leſungen, fei es, die Menfchheit immer wieder 
daran zu erinnern, baß einft ein Mann Namens 
Jeſus Chriftus in ihrer Mitte geftanden habe. Die 
Berfönlichteit und dad Wert Jefu darzuftellen, die 
Frage zu beantworten: Was ift Chriftentum? was 
ift es geivefen? was ift es geworben? das ift ber 
Zwed ber DVorlefungen. Der Weg ift der des 
Siftorifers. Das Chriftentum ais eine hiftorifche 
Erſcheinung gefaßt, zuerft in feinen Grundlinien 
als Verkündigung Jefu felbft, dann in feinen 
Beziehungen zu fittlichen, fozialen, religiöfen Lebens: 
fragen des Einzelnen und der Gejamtheit, und 
ſchůeßlich der Weg des Evangeliums durch die 
Geſchichte, das wird in großen Zügen, doch ſo, 
daß fich dem Verſtehenden die weiteren einzelnen 
Augeftaltungen Leicht von felbft anſchließen unb 
unterorbnen, in dem Buche entivorfen. — Es ift 
teine Frage, daß das innere Bebürfnis nach einer 
Weltanfhauung unter ben Gebilbeten unferer Zeit 
tebhafter empfunden wird, ald in den legten Jahr⸗ 
zehnten, keine Frage auch, daß mächtige und immer 
mächtiger werdende Strömungen unfere modernen 
Geifteölebens eine tiefe innere Vertwandtiaft mit 
dem Chriftentum zeigen. Und modernen Menfchen 
aber wird eine Weltanihauung vor allem Iebendig 
un verftänblich, in ihrer Beziehung und in ihrer 
Wirkung auf Rerfönlicteiten, auf praftiiche 
Vrobleme, in ihrem Charakter al gefhichtlihe 
Macht, ald der Kern geſchichtlichen Werbens. Auf 
biefem Wege das Chriftentum dem gebildeten Qaien 
nahe gebracht zu haben — und man kann wohl 
fagen, in bisher nicht erreichter Form nahe gebracht 
au haben, barin fiegt der Wert diefer Vorlefungen. 
Dad Buch ift in der Geifteägefdichte der Zeit und 
in ber Geſchichte der evangeliſchen Kirche eine That, 
deren Bebeutung nicht Hoch genuggefehäßt werden tann. 


„Frauz“. Roman von Mbolf Wilbrandt. 
3. Auflage. (Stuttgart, 3. ©. Cottafhe Bud: 
Handlung, Nadıf. Preis 3,50 Marl.) Der ftarke 
Familienzug aller Wilbrandt’fhen Helden, ein 
biebenötürbiger, feiner, Huger Xbealismus hat in 
„Franz“, dem Helden ſeines neueften Romans, eine 
andere Nuancierung erhalten. Franz ift ein Gott: 
fuger, der die ganze Melt durdreift, um die 


Gotteötheorien aller Rulturnationen kennen zu lernen, 
um fchließlich zu finden, daß auf alle biefe Theorien 
fi eine lebendige Lebenspraxis für bie Gegenivart 
nicht aufbauen läßt, daß ber Deutſche nur vom 
Deutfchen für eine erneuerte Innerlichteit des 
Lebend, für ein Leben in Gott gewonnen werben 
Tann. Ais Wanderprediger ganz im mobernfien 
Sinne weiß er dieſer Idee Jünger biß hinein in 
die Kreife exalter Wiffenfhaftler und geriebener 
Geldmenſchen zu gewinnen allein durch die Macht 
einer lauteren, felbftverleugnenden Perfönlichteit. 
Als ein Opfer feiner in bie Praxis umgefepten 
Theorie erliegt er einer anſteckenden Krankheit; ein 
Schluß, der nun allerdings die Frage: Mas weiter? 
jäh abſchneidet. Der eigentliche Roman, ber diefen 
Kern umhüllt, ift mit der alten Sicherheit gefügt. 
Eine ziemlich bunte Geftaltentelt drängt fih al® 
Staffage um ben Helben. Die einzelnen Figuren 
find mit der charalteriſtiſchen Liebe behandelt, durch 
die ber Dichter ihmen aud eine felbftändige Be: 
deutung zu geben weiß. 


„Kämpfe und Ziele”, „Kampf und Spiele“. 
Gedichte von Detleff vom Liliencron. (Berlin 
1901. Schuſter und Löffler. Brofiert 2 Mart 
pro Band.) In gut audgeftatteter Geſamtausgabe 
fin die Gebichte von Lilieneron hier in 2. Auflage 
erſchienen. Nicht Tann es Zwech biefer kurzen 
Veſprechung fein, bie Vorzüge dieſer Gebichte, ihre 
Eigenart und ifre Iede Originalität zu Harakteri- 
fieren. Es fehlen der Sammlung berunglüdte 
Verfuche, Gefhmadtofigfeiten night: aber «8 if 
aud fein Zweifel, daß biefe Sammlung Beftes 
moberner Zyrit überhaupt bietet. In diefen beien 
Bänden find zahlreiche Gedichte, die tief zu Herzen 
ſprechen und zwingend in ihrer Stimmung find. 


„Heimattlãuge and beutfchen Gnuen’, aus: 
gewählt von D. Dähnhardt. I. Aus Marid 
und Heide. Mit Buchſchmuck von Robert Engels. 
Brei in fünftlerifchem Einband 2,60 M. (Leippig, 
3. ©. Teubner.) Das Buch gehört zu denen, bie 
man bei ber heutigen Überprobuftion an Drud- 
ware nicht aleihgültig bei Seite legt. Der Zwea 
der ganzen Sammlung, bie e8 einleitet, ift, eine 
Charatteriftit der deutſchen Volksſtämme durch 
Wiedergabe ihrer munderilichen Dichtungen zu 
geben. Da kommt natürlich jo gut wie alles auf 
den Spürfinn und bie geididte, fichtende dand he 
Herauögeberd an. Diefer erfte Band läßt für bie 
folgenden das Befte hoffen. Plattdeutiche Dichtung 
greift zwar immer beſonders ans Herz. Es liegi 
fo etwas treuherzig Meltfrembed darin, das den 
| Rulturmenfchen genau im Verhältnis zu dem Grade 














Bücerfchau. 


feffelt, den feine Kulturſattheit bereits erreicht hat. 
Aber doch ſcheint auch bier bie Auswahl eine wohl 
gelungene. Für die Freunde des Humors, für ben 
die plattdeutfche Mundart gleichfalls einen fo be: 
ſonders glüdlihen Ausdrud findet, empfehlen wir 
das koſtbare „Rich to Marl” von Johann Hinrich 
Fehrs, eine der beften der Sammlung. 


„Friedeſiuchens Lebenslauf.” Fur große 
und eine Leute erzählt von veinrich Sohnrep. 
4.—6. Auflage. Mit Zeichnungen von Eilburger. 
(Berlin SW., Georg Heinrich Mayer.) „Friedeſin⸗ 
hen® Lebenslauf" bildet den erften Band ber 
Niederfähfifchen Dorfgeihichten, die Heinrich 
Sohnrep unter dem Titel „Die Leute aus ber 
Lindenhütte“ erzählt bat. Wer diefen erften Band 
gelefen, der freut fi, daß noch ein zweiter in 
Ausficht fteht. So viel Dorfgeſchichten e8 giebt, 
fo felten find darunter die „echten“. Und am 
menigften echt kommen die „braven“ Kleinhäusler 
heraud; entweder merft man bie moralifche Ber: : 
ſpektive ober fie merben langweilig; nicht felten 
auch beides zugleich Hier aber haben wir bie 
einen Leute vom Lande aus einer Zeit, wo fie 
in der That noch eine Sonderegiftenz führten und | 
fi) zu einer Sonberart entwideln tonnten, beren | 
Glaubendbetenntnid ſich noch mit bem einfachen: . 
„Ub' immer Treu und Redlichleit" bed ftamm: 
verwandten Dichters dedte. Nicht folort hat biefer 
Xupus bie Herjen gewonnen. Die Lindenhütten: 
leute zogen fon vor 12 Jahren hinaus, ohne 
fonberlide Beachtung zu finden; heute ift ihr 
Erfolg entjdieden. Die feinjinnigen und daralte: 
riſtiſchen Zeichnungen von 2. Burger gereichen bem 
Buch zu befonderem Schmud. 


DaB Verlangen nad) einer neuem beutichen 
Kumf' von Theodor Volbehr. Verlag von Eugen 
Diederichs, Leipzig 1901. Buchſchmud von Heinrich 
Vogeler. Das Buch von Theodor Volbehr bringt 
nicht eben etwas Neues. Er giebt folden, bie 
weder Zeit noch Luft haben, ſich in bie Hunft: 
anffauungen bed XIX. Jahrhunderts zu vertiefen, 
ein bequemes Mittel in die Hanb, fih damit in 
den Sauptzügen befannt zu machen. Er giebt in 
geihidter Sufammenftellung einen Überblid über 
die Wandlungen bed Aunfturteild bis auf unfere 
gegenwärtige Zeit und zeigt daran, daß das Ber: 
langen nad freiheit in der Aunftausübung, nad) 
einer eignen deutichen Kumit, nicht erft eine yorbe: | 
rung ber neueften Seit fei, fondern ſchon in den | 
Zeiten der Nachahmung und ber Unfreiheit Wurzel | 
gefaßt habe. — Tas Buch zeigt zugleich wieder | 
die neuen Wege, bie ber Diederichsſche Verlag auf ; 
dem Gebiete des Buhihmuds eingefhlagen hat. ! 
€ wird verfucht, durch eine Schrift fünftleriicher 
Eigenart und beforative Behandlung der Seite mit | 

i 
I 














Zuhilfenahme des Drnament?® dad Buch aud | 
äußerlich zu einem Ganzen zu geftalten. Tiefer 
verfuch ift geglüdt. Ginbandbede, Titelblatt und 
der innere Schmud ber Bücher wirten charatteriftifch 
jufammen. ‘eine Ornamente füllen die weißen ı 
Stellen zwifchen den verſchiedenen Abſchnitten aus. 
Die Überfgriften wirten in Schrift und Anordnung : 
beforativ, und die Umrahmung ber Seitenzahl giebt ı 
jeder Seite den Abflug. 


„Orchideen im Lößgrund.“ Geſchichten vom 
Raijerftußl von Pauline Wörner. (Freiburg, 


509 


Paul Waetzel 1901.) Unfere moderne Litteratur ift 
giemlid arm an Dichtungen mit kräftigen Lotalton 
in Nilieu und Charatteriftit. In biefem Lolalton liegt 
der künſtleriſche Wert der einfahen und anſpruchs⸗ 
Iofen, aber friſch und lebendig gefchriebenen Geſchichien 
vom Kaiferftupl. Der Dorfichullehrer in der erften 
Erzählung „Watthis und Watthed”, der reihe 
Hachberger, die Sculjungen, der alte „Bannwart” 
und bie „Swicbelen:Urfchel”, das find alles fo 
ſcharf und Mar umriffene Geftalten mit fo lebens. 
wahren Zügen, und ihr Leben und Treiben wirb 
mit fo echtem, liebenswürbigem Humor gefchilbert, 
daß das Buch ſich zweifellos in kurzer Zeit überall 
Freunde gewinnen wird. 


„Was id als Kind erlebt.” Bon Tony 
Schümacher. Mit 3 Bilbniffen und 3 Fakfimiles. 
(Stuttgart und Leipzig, Teutihe Berlagsanftaft.) 
Die beliebte Rinder epeitfielerin wendet fü 
diefem Buch an ein erwachſenes Publitum. Sie 
giebt die Gefchichte nicht nur des eigenen Lebens, 
ſondern aud die der Eltern und Großeltern, bie 
mithandelnd bie großen diſtoriſchen Zeiten burde 
leben durften, mitleidenb durchleben mußten, bie 
die erfte Hälfte unferes Jahrhunderts füllten. Sie 
weiß anfgaulic da8 Aleinfeben der Familie auf 
dem Hintergrund biefer Zeiten zu ſchudern und fo 
ein nicht wertloſes Kulturbild zu geben. Erft der 
zweite Teil ſetzt mit dem ein, was fie felbft erlebt 
bat, erlebt im ftillen Pubwigsburg, das fie ald 
begeifterte Schwäbin auch bem fremben, norbbeutfehen 
Leſer in feiner eigenartigen Poeſie nahezubringen 
meiß. Als Großnichte Juftinus Kerner möchte 
fie damit eine Art Fortfegung feine® „Bilberbuch® 
auß meiner Anabenzeit“ geben, in bem Sinne, den 
Kerner felbft in feinem Vorwort bejeichnet: „Ich 
betrachte mein eigne® Leben nur ald Faden, an dem 
fi Bilder aus dem merhvürbigeren Zeben anberer 
anreihen follen.” Auch das ift ihr mohlgelungen. 


„Zehn Ruskin““. Ausgewählte Werke. Boll: 
ftändige Überfegung. Verlegt bei Eugen Dieberichs, 
Leipzig 19UL. Br. pro Band geb. 4M., brofc. 3 R. 
Von der Ausgabe, die in der feinen Ausjtattung 
des auf biefen Gebiet vorbüdlichen Diederihäf—en 
Verlages erſcheint, liegen und der 2. und 3. Banb 
ver. Der zweite enthält „Seſam und Lilien“ 
in der Überjegung von Hebwig Jahn, ber dritte 
den „Kranz von Llivenzweigen”, überjeßt von 
Anna Henichte. Bei bem Intereffe, dad Rusfin 
in den leßten Jahren in Deutſchland immer mehr 
erregt hat, ift das Unternehmen einer deutſchen 





‚ Ausgabe burgaus zeitgemäß. Die außgezeichnete 


Überfegung wird ficherlih dazu dienen, den felt: 
famen altmodifjen Propheten einer modernen Welt: 
betrachtung aud in Deutfdland einen tweiteren 
Freundeskreis zu gewinnen. 


„Spartanerjünglinge”. Cine Kabettengefchichte 
in Briefen von Paul von Speiepandti. (Leipzig, 
Georg Wigand, Preis 2 Marl.) Cine flott 
gefcpriebene Erzählung, die night nur „Fadhtreife" 
intereffieren dürfte, da fie in ihrer Art ein ebenfo 
charakteriſtiſches Heined Kulturbild Tiefert als 
„Rofenmentag“. Der tragiihe Schluß ift nun 
freilih nur äußerlich motiviert; ber Heine Held 
hätte allen Anſpruch darauf gehabt, als korrelter 
Leutnant feinen Lebenslauf fortzujpinnen und eine 
glänzende Karriere zu machen. 


614 Gegen ben Allohol. 


„und da er des Weins trank, ward er trunfen“ (1. Mof. 9, 20 u.21). Und bereiti 
an dieſen nebelhaften Trunfenbeitsfall beftet jich der Fluch, der bier freilich einen 
Schuldloſen trifft, den jungen Sohn Ham, nur weil dieſer des Vaters befchämenden 
Zuftand fürwigig geihaut. Homer erwähnt wiederholt den Wein, bie alten 
Agypter, Römer, Gallier und Germanen verftanden e8, aus Getreide Bier zu bruuen, 
bie ffandinavifchen Völker bereiteten aus Honig den ftarlen Meth. Ob nun als ba3 
beraufchende Prinzip dabei erft Jahrtauſende fpäter ein beftimmter chemiſcher Stoff 
erfannt und beraußbeftilliert wurde, thut doch gewiß nicht der Thatfache Abbruch, dat 
die alten Ägypter, Israeliten, Griechen, Germanen u. f. w. ihre alkoholiſchen Getränke 
batten und fich öfter und gründlicher daran gütlich thaten, ala ihnen gut war. 
Deshalb beiteht auch eine Alloholfrage nicht erſt feit der fpäteren Römerzeit, ſondern 
jo ziemlich bei allen Völkern ſchon zu allen Zeiten. Solange e8 eben und wo aud 
immer alkoholhaltige Getränke giebt, To lange bat auch die Neigung zu deren über- 
mäßigem Genuß beftanden. Sa, es find auch fchon in älteften Zeiten Männer auf: 
getreten, die dagegen eiferten, ganz wie heut, mit mehr oder weniger Erfolg. So 
ift bereit3 bei den Söraeliten zur Zeit der Propheten „der Alkoholismus eine 
beängftigende Erjcheinung” geworden, — wie das neuerdingd noch Dr. Franz Walter 
in einem intereffanten Buche („Die Propheten in ihrem fozialen Beruf und das 
Wirtjchaftöleben ihrer Zeit”, Herderiche Verlagsbuchhandlung, Freiburg i. Br. 1900) 
anjchaulich geichildert, — und hat eine richtige, jogar überaus leidenfchaftlihe Anti: 
alfoholbewegung hervorgerufen: namentlich die Propheten Amos und Jeſaias können fich 
nicht genug thun in dein Eifern und Droben gegen die überhandnehmende Trunffucht. 
„Wehe denen, die de Morgens frühe auf find, des Saufenz fich zu befleißigen, und 
figen bi in die Nacht, daß fie der Wein erhiget!” Heißt e3 bei Jeſaias (5, 11) und 
nod einmal: „Wehe denen, fo Helden find, Wein zu faufen, und Krieger in Völlerei !“ 
(5, 22). Wie weit es mit diefer, der Völlerei, gekommen, zeigen einige weitere Stellen“ 
bes Jeſaias. Kap. 22, V. 13 wird als die Lofung der Zeit bezeichnet: „Laßt uns 
effen und trinken, wir fterben doch morgen,” und Kap. 56, B. 12: „Kommt ber, 
laßt ung Wein bolen und vol faufen, und joll morgen fein twie heute, und noch viel 
mehr.” Und Kap. 28, V. 7 beißt es fogar: „Dazu find diefe auch vom Wein toll 
geworden, und taumeln von ftarfem Getränk. ‚Denn beide, Priefter und Propheten, 
find toll von ftarfem Getränk, find im Wein erfoffen und taumeln von ftarfem 
Getränk“ — alſo felbft bis auf Priefter und Propheten erftredte fich das Laſter, wie 
da auch Hojen beitätigt. Dr. Walter glaubt aus dem Umftande, daß eine der zahl: 
reichen Drohungen des Jeſaias mit der Unfruchtbarkeit und dem Verdorren der Weinberge 
gerade an die „reichen Weiber, die forglofen Töchter” gerichtet ift, ſogar ſchließen zu 
dürfen, „daß ſelbſt die Frauen dem Trunke ſtark ergeben waren“. 

Daß man auch in ſpäterer Zeit noch im ganzen Orient zur Unmäßigkeit im 
Trinken neigte, dafür iſt ſchon das Verbot des Weingenuſſes durch Mohammed Beweis 
genug. Dies hat den in der Geſchichte der Völker einzig daſtehenden Erfolg gezeitigt, 
daß die 175 Millionen Islambekenner, die es heutzutage giebt, ſich im großen und 
ganzen des Alkoholgenuſſes enthalten. Leider iſt dem europäiſchen Weſten kein Prophet 
erſtanden, der dem Dämon Alkohol gleich erfolgreich zuleibe gegangen wäre. Im 
Gegenteil hat es z. B. in deutſchen Landen allzeit gerade als Bethätigung des 
Nationalcharakters gegolten, ſich gelegentlich, d. h. möglichſt oft, toll und voll zu zechen. 
Denn der Gelegenheiten gab's allweil viele: „Die alten Deutſchen tranken immer noch 





Gegen ben Allohol. 515 


eins.“ Die mittelalterlichen erſt recht: „Wenn man früher Thors, Wodand und 
anderer Götter ‚Minne‘ trank, fo trank man nun Chrifti und der Heiligen Minne”, 
ſchreibt Dr. W. Fabricius in der Einleitung feiner Gefchichte der „Deutihen Corps“ 
(Berlin, Hans Ludwig Thilo, 1898). „Befonders der ffandinavifche Norden war die 
Heimat biefer Bräuche, und bier errichtete man ſchon frühe befondere Gelagahäufer, 
Gildehäufer in den Städten, in denen die Verfammlungen abgehalten wurden. Aber 
aud in Deutfchland find ſchon fehr frühe Gilbehäufer gebaut worden, und Heinrich I. 
verordnete geradezu, daß die Gildegelage in den Städten gepflegt würden, weil er fo 
feingn Zwed, bie Städte zu Mittelpunften des Voltslebens und Verkehrs zu machen, 
in vorzüglicher Weife unterftügt fah.” Was Wunder, daß Trinfgelage die beliebtefte 
Bethätigung germanischen Gefelligfeitsfinned waren und blieben. Die ftudentifchen 
Drden und Nationen, die fi nad) dem Mufter diefes alten Gildenweſens zunächſt 
als Schugbrüberfchaften der deutſchen Mufenföhne im Auslande bildeten, wandten 
diefem Teil der Gefeligkeitspflege ihrer heimiſchen Vorbilder ihre ganz befondere 
Liebe zu. Schon im 14. Jahrhundert verkehrten die Scholaren der deutfchen Nation 
zu Paris in nicht weniger als 40 Kneipen, unter denen der Engel, der Hirſch, ber 
goldene Bart, Kahlkopf, Schwan, Delphin, die Zither, das goldene Kreuz und 
namentlich die zwei Schwerter oft genannt werden. Anlaß zu Kneipereien gaben alle 
Feſte: „fieri festum in ecclesia et in taberna“, war die fländige Formel (feftiert 
wird in Kirche und in Sneipe). Aber auch jedes perfönliche Ereignis wurde 
„begoſſen“ — „aliquem perpotare“ hieß das ſchon damals. Strafend wird einmal 
in ben Aften bemerkt, daß „der neue Profurator bislang noch nicht begofien 
worden“ — „novus procurator non fuit perpotatus usque tunc“. So bildeten ſich 
die fludentifchen Trinkſitten aus, denen erft jegt eine meuzeitliche Antialkoholbewegung 
zu feuern ſucht. Nicht mit Unrecht hat auf dem Wiener Kongreß Dr. Meinert:Dreöden, 
wenn aud in allzu fcharfen Worten, gegen die „Trinkfitten der höheren und gebildeten 
Stände” geeifert, in denen er das hauptſachlichſte Hindernis für einen burchgreifenben 
Erfolg der Antialfoholbewegung erblidte. Hätte er nur gefagt, daß die „Trinffitten“ 
eins der hauptfächlichften Förderungsmittel des Alkoholismus feien, fo hätte er auch hierin 
recht gehabt. Den wefentlichften Grund indes, warum twir fo tief in die Schlingen 
des Alkoholismus bineingeraten find, hat ſchon Liebig aufgededt: „der Alkohol, durch 
feine Wirkung auf die Nerven, geftattet dem Arbeiter, die fehlende Kraft auf Koften 
feines Körpers zu ergänzen, diejenige Menge zu verwenden, welche naturgemäß erft 
den Tag darauf zur Verwendung hätte kommen dürfen; es ift ein Wechfel, außgeftellt 
auf die Gefundheit, welcher immer prolongiert werden muß, weil er aus Mangel an 
Mitteln nicht eingelöft werden Tann; der Arbeiter verzehrt das Kapital anftatt der 
Zinſen, daher dann der unvermeidliche Bankerott feines Körpers”. In diefen Worten 
liegen die urfächlichen Beziehungen des mißbräuchlichen Alkoholgenuſſes zu den fozialen 
Verhältniffen angedeutet, wie fie Dr. A. Grotjahn : Berlin in feinem Buch „Der 
Alkoholismus nach Weſen, Wirkung und Verbreitung“ (Band 13 der Bibliothek für 
Sozialwiſſenſchaft. Georg H. Wigand, Caffel, 1898) ausführlich dargeftellt at: der 
niederen Lebenshaltung breiter Schichten der Bevölkerung entfpringt vor allem andern 
das Altoholbebürfnis, „denn Unterernährung, Überarbeit, Wohnungsnot, Unficherheit 
der Eriftenz und die Unzulänglichkeit anderer Genüffe laffen immer wieder bie 
Betroffenen zum forgentötenden, Iuftbringenden, unluftabftumpfenden Branntwein greifen“. 
(Vgl. auch das treffliche „hygieniſche Merkbüchlein für das werkthätige Volk“ desfelben 
33* 


516 Gegen den Alkohol. 


Verfaſſers, das erft fürzlich unter dem Titel „Alkohol-Genuß, Alkohol-Mißbrauch“ als 
Nr. 8 der „Sammlung Saſſenbach“ — Verlag von ob. Saſſenbach, Berlin und 
Paris, Preis jedes Bändchens 15 Pf. — erichienen if.) Das ift denn auch auf dem 
Kongreß vielfach zur Ausfprache gekommen, daß der Trunkfjuchtgefahr andauernd nur 
Durch Beſſerung der ſozialen Verhältniffe, Hebung der Lebenshaltung in ben niederen 
Volksfchichten begegnet werden könne. Profeſſor Weiß-Freiburg (Schweiz) hätte ba? 
Thema jeines® während des Kongrefje gehaltenen Vortrages: „Keine Sozialreform 
ohne Trinkreform“ eigentlich umdrehen müffen: Keine Trinkreform ohne Sozialreform. 
Daß die zahlreichen Temperenzgefellichaften, bie fich jeit Anfang des verflofjenen 
Jahrhunderts aus den Vereinigten Staaten verbreitet haben (1803 entfland in Bofton 
der erite derartige Verein), feine größeren Erfolge als biöher erzielten, liegt meines 
Erachtens an der Unterfchägung dieſes fozialen Moments. Was hat es den amerifanijchen 
Temperenzlern genügt, und vor allem: was haben fie genügt, daß fie eg big zum 
ftaatlichen Verbot aller geiftigen Getränfe brachten — das erfte abjolute Verbot 
jegten fie genau vor fünfzig Jahren, nämlich 1851, im Staate Maine durd — 
wenn fie damit nicht weiter gelommen find, als daß die freien Bürger der Union 
nun ihren Whisky heimlich in Apotheken kaufen oder aus Theetaflen trinken? Die 
ganze amerifanifche Antialtoholberwegung, von jenem Maine Liquor Law und ben 
verſchiedenen Sunday Laws, die den Verkauf beraufchender Getränfe und die Offen: 
haltung der Wirtshäuſer an Sonntagen verbieten, bis auf den vberrüdten Kreuzzug 
der biederen Frau Kanie Nation, die neuerdingd® dad Übel durch gemwaltthätiges 
Demolieren der Schankwirtichaften ausrotten zu können fich unterfängt, bat mebr 
gefchadet als genügt. Denn fie bat eine gute, ja große Sache, eine Frage von 
eıninenter fozialer Bedeutung, an deren gründliche Löſung über kurz oder lang alle 
Völker und deren gefeßgebende Organe ernithaft werden gehen müflen, einfach nur 
lächerlich gemacht, dem Site und Wige der Spötter ausgeliefert. Würdiger verliefen 
ja die Mäßigfeitsbewegungen in Europa. Knüpfte ſich auch an die 1832 zu Prefton 
in England erfolgte Gründung der fogenannten Teetotaler-Bereine der Disput, ob das 
Wort mit Thee zufammenhänge und daher englifch „tea“ zu ſchreiben fei, weil nun ſtatt 
der beraufchenden Getränfe nur noch Thee und Kaffee erlaubt fein follte, oder ob «3 
auf einen ftotternden Schmied aus Birmingham zurüdzuführen fei, der bei einem 
Meeting anftatt „J am a totaler“ geftottert haben fol: „J am a t—t—totaler“, 
jo bat es doch nicht an Bewegungen gefehlt, die nicht® weniger ald den Spott 
berausforberten. Man denke nur an die großartige Thätigleit des Pater Theobald 
Mathew in Srland, der in den breißiger und vierziger Jahren Millionen feiner 
doch gewiß jchnapsgewohnten Landsleute das Enthaltſamkeitsgelübde abnahm, oder 
an den preußifchen Baron von Seld, der in ben vierziger Jahren als Mäßigkeitsapoftel 
von Stadt zu Stadt zog und folchen Erfolg hatte, daß viele Brennereien ihren Betrieb 
einftellen mußten. Auch der 1877 im Anfchluß an den Kongreß zur Hebung ber 
Sittlichfeit in Genf vom Pfarrer Rochat begründete Verein „Blaued Kreuz”, der 
über 200 Zmeigvereine bereits zählt, ſowie der urfprünglich in Amerika begründete, 
dann aber nach England verpflanzte und feit 1894 auch in Deutichland verbreitete 
Orden der Guttempler haben nicht bloß eine pietiftifche Antialtohol: Bewegung 
gefördert, ſondern auch ernithafte foziale Reformarbeit gethan. Mehr noch der 1883 
zu Caſſel gegründete „Verein gegen den Mißbrauch geiftiger Getränke”. Denn biejer 
fteht nicht auf dem Boden der abfoluten Enthaltfamkeit, fondern Fämpft, wie fein Name 





Gegen den Aftohol. 517 


ſchon fagt, außfchließlich gegen den Mißbrauch, gegen das übermäßige Trinken; im 
Mittelpuntt ſeines Intereſſes fteht nicht die Einzelerfcheinung des Trinkers, der zum 
Abftinenzler befehrt werden fol, fondern die Umgeftaltung unferer öffentlichen Ver— 
hältniffe im Sinne einer Hebung ber wirtichaftlichen Lebensbebingungen ber unteren 
Bevolkerungsſchichten. Und in diefem Sinne find ja auch ſchon, unleugbar unter 
dem Einfluffe jenes Vereins, unfere Behörden vorgegangen. Man hat den Klein 
handel mit Spirituofen unter irenge Auffiht genommen, die Schanklonzeffionen ver- 
mindert, den Wirten Verabreichung von Spirituofen an notorifche Trinker unterfagt, 
Trinkerafyle begründet und bergl. mehr. Ein 1891 dem Deutſchen Reichſstag vor— 
gelegter Entwurf eined Gefeges zur Bekämpfung des Mißbrauches geiftiger Getränfe 
ift freilich damals garnicht zur Beratung im Plenum gelommen. Dafür hat kürzlich 
erft wieder Graf Douglad an der Spige der Freilonſervativen im preußifchen 
Abgeorbnetenhaufe einen ähnlichen, nur noch meiter gehenden Antrag eingebracht, der 
jegt vieleicht ernfter genommen wird als der vor zehn Jahren. Die kaiferliche Marine, 
die feit 1894 eine befondere Statiftit darüber führt, in wie vielen fand» und kriegs⸗ 
gerichtlichen Straffällen Truntenheit mitgefprochen hat, (38,1 %,, in den Sonderfällen 
von thätlihem Angriff und militärifhem Aufruhr fogar 75,4 reſp. 88,2%.) ift 
durch Regulierung des Altoholgenufles in den Kantinen, durch Schaffung der 
Seemannshäufer, firengere Beftrafung der Trunkenheit und rüdfichtölofere Entfernung 
von Trunfenbolden aus dem Dienft in letzter Zeit der Frage ernfthaft zuleibe gegangen. 
Noch energifcher war das Generalfommando de3 16. Armeeforps, dad ſchon 1893 
nicht nur aus den Kantinen, fondern auch aus den Wirtfchaften in der Nähe ber 
Rafernen den Schnaps überhaupt verbannt hat. Dasſelbe geſchah ſeitdem auch in ben 
Rantinen der Faiferlichen Werften und anderer techniſcher Betriebe der Marine. Die 
rheiniſchen Induftrielen wollen neuerdings ebenfalls gegen den Alkoholismus in ihren 
Betrieben vorgehn. In einer am 4. April unter Teilnahme von Vertretern ber 
Regierung fowie der Fölnifchen Handelsfammer abgehaltenen Berfammlung fam zur 
Sprache, daß der Altoholgenuß auf Betriebsunfälle erheblichen Einfluß babe und bie 
Unfalllaften um reichlich 10 %/, fteigere, die namentlich laut Nachweis der amtlichen 
Statiſtik auf dad Konto der blauen Montage kommen. 

Wieviel aber in Bezug auf Einfchräntung des Alkoholismus gerade feitens der 
Behörden und der großen privaten Wirtſchaftsbetriebe noch zu thun übrig bleibt, dad 
zeigten fo recht draſtiſch an ein paar Beiſpielen mehrere Nebner auf dem Wiener 
Kongreß. So teilte der üfterreichiiche NRegierungsvertreter, Minifterpräfident 
Dr. v. Koerber, gleich in feiner Begrüßungsrede das folgende Geſchichtchen mit: 
„Bor zwei Jahren lag ein galiziicher Bauer drei Tage lang im kataleptiſchen Schlaf 
im Sarge; als er erwachte, erklärte er, im Himmel geweſen zu fein und dort eine 
Verlängerung feines Lebens unter der Bedingung zugefagt befommen zu haben, daß 
er unter feinen Zandöleuten als Miffionar gegen die Trunkſucht auftrete. Er hatte 
merfwürdigen Erfolg. In wenigen Monaten zählten die galiziichen Bauern, die dem 
Schnaps entfagten, nach Zehntaufenden. Da ergriff die Gutäbefiger, welche Schnaps⸗ 
brenner und Branntweinfchenker find, und die überdies ihre ländlichen Arbeiter ftatt 
mit Geld mit Schnaps entlohnen, eine förmliche Panik, und bei dem Einfluß, ben 
die Polen feit vielen Jahren in der Regierung haben, war e8 ihnen ein Leichtes, den 
Apoftel der Enthaltfamfeit, dem feine Miffion fo ernft war, verhaften zu laffen; und 
fo viel ich weiß, ſchmachtet er noch immer im Gefängnis.” 


518 Gegen ben Allohol. 


Eine ähnliche Entlohnung in „Naturalien“ aus den gleichen, menfchenfreundlichen 
Motiven heraus ftellte Profeſſor Dr. Neiniger- Graz bei einer Anzahl öflerreichifcher 
und deuticher Brauereien feit, die nach alter Gepflogenheit ihre Arbeiter zum Teil 
durch Bier entlohnen, jo daß in manchen öfterreichifchen Brauereien der Arbeiter biz 
zu ſechs Liter Bier täglich zum Verbraud erhält. Dieſes Bier werde von ber 
Steuerbehörde als Einfommen betrachtet und befteuert, und dem Arbeiter ſei es unter: 
jagt, dad Bier zu verlaufen oder mit nach Haufe zu nehmen. Der Berziht auf das 
Bier berechtige ihn nicht zu einer Entjchäbigungsforderung, wodurch der Arbeiter 
demnach einem furchtbaren Trinkzwange unterivorfen werde. 

Ob das ruffiihe Branntweinmonopol, da3 dem Staate 350 Millionen Rubel 
einbringt, wovon er großmütig 3 Millionen für Mäßigkeitszwecke überweilt, gerade 
nur in der fozialreformatorifchen Abficht eingeführt wurde, das Volk zur Mäßigkeit 
zu erziehen, dürfte auch, troß der gegenteiligen Berficherungen der ruffiichen Regierung? 
vertreter, nicht ganz zweifeldohne fein, wenn man auch nicht gerade der Behauptung 
des Peteröburger Rechtsanwalt? Borotin zuzuftimmen braucht, daß durch dies Monopol 
dad ruffiiche Volk nur noch mehr der Entartung auögefegt ſei. 

Sedenfall3 hat die weitgehende Teilnahme der Regierungen an dem Kongreiie 
bewiejen, daß man allentbalben bebörblicherfeit3 gewillt ift, die foziale Gefahr des 
Alkoholismus anzuerkennen und ihr zu fleuern. Daß diefe Gefahr eine eminente, 
dem Tann ſich nach den gewichtigen Feſtſtellungen einer folchen Reihe von wiſſen— 
Ichaftlichen Kapazitäten, wie fie im April in Wien beifammen waren, und der neuejten 
Statiftilen niemand mehr entziehen. Der üfterreichifche Kultusminifter v. Hartel 
berichtete, daß 1897 in einem öfterreichifchen Induftriebezirt von 25 000 Einwohnem 
2 Millionen Kronen für Alkoholika ausgegeben wurden, alſo 80 Kronen pro Kopf 
der Bevölkerung jenes Diftriftd. In ganz Ofterreih wurde im legten Sabre für 
1600 Millionen Kronen Alkohol fonjumiert! Auf den Kopf der Bevölferung entfallen 
jährlih 9 Liter Branntwein, 18,9 Liter Wein und 65 Xiter Bier. Sin Böhmen 
wurden in den lebten Jahren 25 000 polizeinotorijche Trunfenbolde gezählt, „deren 
Lafter etwa 75 000 Kinder den ſchwerſten phyſiſchen und moralijchen Gefahren prei®: 
giebt.” Da Böhmen rund 6 Millionen Einwohner bat, jo kommt auf 240 Köpfe 
bereit ein notorifcher Säufer! In Deutfchland fol erft auf 2000 erivachjene Männer 
ein Trunfjüchtiger fommen, und auch das ift ſchon fchlimm genug, da es an bie 
10 000 Gemwohnheitsjäufer ergeben würde. In Wien gebrauchen 50 %, der Schul: 
Inaben bereits alfoholifche Getränke. Gerade Kindern aber, mindeſtens bi zum 
16. Lebensjahre, jollte man überhaupt feinen Alkohol geben, auch nicht in der aller: 
leichteften Form. Die Gewohnheit vieler Eltern, jo führte Profeſſor Dr. Kaffowig: 
Wien auf dem Kongreß aus, ihren Kindern in gefunden, . mit bejonderer Borliebe 
aber in krankem Zuftande Alkohol in allen möglichen Formen zu verabreichen, hat bie 
Ichweriten Schädigungen des kindlichen Körper® im Gefolge, namentlich ſchwere 
funktionelle Störungen und nachiweisbare LOrganveränderungen, Leberichwellung, 
Waſſerſucht. Und das nicht bloß nad Branntwein, fondern häufig auch bei bloßen 
Genuß von Bier oder Wein in mäßigen Uuantitäten oder bei jo geringen Gaben 
von Cognac, wie fie von vielen nicht nur als erlaubt und unfchädlich, fondern 
jogar als Heilfam angejehen werden. Durch die phyſiologiſche Forſchung ift bie 
früher allgemein verbreitete Annahme, daß der Alkohol irgendivelche nährenden, oder 
auch nur verdauungsfördernden oder fieberftillenden und bafterientötenden Eigenschaften 





Gegen ben Allohol. 519 


befige, vollfommen widerlegt. Hofrat Dr. Gruber:Wien glaubte zwar menigitens 
eine einzige Ausnahme für den Alkohol als Nahrungsmittel in Anfpruch nehmen zu 
möüffen, nämlich bei gewiſſen SInfeltionsfranfheiten wie QTuberkulofe, obgleich gerade 
er an zahlreichen Tierverfuchen feftgeftelt, daß große Gaben von Alkohol in hohem 
Maße die Widerftandsfähigfeit des Körpers gegen bie Infektionserreger ſchwächten, fo 
daß unter ihrem Einfluffe die Infektionen leichter zuftande famen und fchiverer verliefen 
als bei normalen Tieren, während Heinere Gaben in feinem Fall das Zuftandelommen 
der Infektion Hinderten oder auch nur deren Verlauf milderten und abkürzten. Allein 
auch jene Ausnahme mußte er nachträglich noch befonders dahin einfchränfen, daß er 
bemerkte, er wolle jelbftverftändlih nicht den Satz aufftelen: der Alkohol ift ein 
Nahrungsmittel, fondern wolle ihn nur bei beftimmten Krankheiten als nährendes 
Hilfsmittel angewendet wiſſen. Jedenfalls, für Kinder hat der Alkohol unter keinen 
Umftänden auch nur den allergeringften Nährwert. Dr. Zapper-Wien bezeichnete es in 
der Verfammlung geradezu als Unfug gröbfter Art, wenn Eltern, wie das häufig 
geichehe, ihren Kindern, in ber Abficht, ihnen ein beſonders wirkſames Kräftigungsmittel 
zuzuführen, Töffelmeife Cognac einflößen. „Und da die Anregung zu dieſem Mißbrauch 
meift von den die Kinder behandelnden Ärzten ausgehe, fo fei es eine Pflicht der 
anweſenden Ärzte, gegen biefen Unfug energifch Front zu machen und bei ihren Berufs: 
genoffen darauf zu dringen, daß fie von ber leidigen Gewohnheit der Altoholz 
verordnung für Kinder abgehen.” 

Hat doch der Alkohol, abgefehen von den organischen Schädigungen, auch auf 
das Nervenfyftem der Kinder den fchlimmften Einfluß. Sie bleiben in der geiftigen 
Entwidlung zurüd, wie im törperlihen Wachstum. Bei Schulfindern wurde bie 
ſchwachende Wirkung auf die Lernfähigfeit, wie Profeflor Kaſſowitz berichtete, ſelbſt 
nach mäßigen Altoholgaben direkt nachgewieſen. Wie fehr der Alkohol überhaupt 
das Nervenleben beeinträchtigt, geht auch aus ber Mitteilung des öfterreichifchen 
Rultusminifter8 hervor, „daß 50%, ber Geiſteskranken Oſterreichs Alkoholiker geweſen 
find. Ebenſo find 60—80 %/, der Roheitöverbrechen und 30—40 %, der Selbftmorde 
auf chroniſche oder afute Alloholvergiftung zurüdzuführen. Eine eben bekannt 
werdende internationale Selbftmorbftatiflil, die der Medical Record veröffentlicht, 
weit allein für Norwegen eine Verminderung der Selbftmorde nach und führt das 
ausbrüdlich auf die energifchen Maßnahmen zurüd, die hier gegen den Alloholgenuß er= 
griffen worden find. Dr. Wilhelm Bode, der ſich vom Gründer des erften deutfchen radikalen 
Enthaltfamteitövereins, des Altoholgegner-Bunds von 1889, zu einem der maßvollften 
Belämpfer des Alkoholismus entwidelt hat, teilte vor zwei Jahren in einem Artikel der 
„Gegenwart“ mit, „daß jährlih 200 000 Landsleute, zumeift junge Männer zwifchen 
17 und 27 Jahren, in die Strafanftalten wandern, weil fie ‚Vergehen oder Ver: 
brechen gegen die Perfon begingen‘, d. h. bei den allermeiften, weil fie den Alkohol nicht ver: 
tragen konnten, den fie trinken zu müſſen glaubten“. In der Schweiz, wo e3 bie 
befte Mortalitätsflatiftit giebt, wurde für 1894 feftgeftelt, daß bei den Todesurfachen 
von 10%, aller über zwanzig Jahre alten Geftorbenen männlichen Geſchlechts der 
Alkoholmißbrauch als Haupt: oder Nebenurfache beteiligt war. In Deutichland dürften 
die Verhältniffe ähnlich Liegen, wobei nicht gefagt fein fol, daß jeder zehnte Deutſche 
oder Schweizer ein Trinker ift, wohl aber, daß „der in der Schweiz (tefp. Deutfchland) 
übliche Alkoholgenuß ausreicht, bei dem zehnten Teil der männlichen Bevölkerung 
eine ſchwere Beeinträchtigung der Gefundheit zu veranlafien”. So mies auf dem 


520 Gegen den Alkohol. 


Kongreß Profeffor Forel-Chigny an der Hand der legten Statiſtik Schweizer Arzte 
nad, daß durchaus nicht der Zuftand ſchwerer Trunfenheit und noch weniger der 
chronische Alkoholismus es fei, der zu den geſundheitsgefährdendſten jeruellen Erzeilen 
führe, jondern gerade der anfcheinend jo harmloſe Zuftand des bloßen Angebeitertfeind. 

Wenn man weiter bedenkt, daß, wie Dr. Anton:Graz ausführte, es fich bei der 
Alfoholvergiftung nicht nur um eine Schädigung des einzelnen Individuums Hanbelt, 
jondern um „fortwachjendes, in den Nachkommen jich progreffiv verwielfältigende? 
Elend”, fo wird man bie Gefahr des Alkoholismus einigermaßen ermeflen können. 
Denn es ift eine alte Erfahrung, daß die Kinder von Trinkern entweder felbft auch 
Trinker oder Nervenktranfe find. Bourneville berichtet, daß die Zählungen bei 
1000 Idiotenkindern 471 mal chronischen Alkoholismus des Vaters, 84mal der 
Mutter und in 65 Fällen Trunffucht bei beiden Eltern ergaben, aljo weit über die 
Hälfte. Beſonders Häufig findet ſich auch Epilepfie bei den Nachlommen trunkjüchtiger 
Menjchen, und ebenjo auffällig ift die Häufigkeit der Verbrechen gerade bei den Nach— 
fommen der Trinfer. Chronifche Vergiftung des väterlichen oder mütterlichen 
Organismus mit Alkohol ift an und für ſich imftande, eine frankhafte Artung und 
geftörte Entwidlung des kindlichen Organismus bervorzurufen. - Und als bejonder? 
draftiiches Beifpiel für den Zufammenbang von Alkoholismus und Erblichkeit teilte 
Dr. Fröhlich Wien die Beobachtung eines in einer niederöfterreichiichen Weingegend 
wirkenden Lehrer? mit, daß, wenn ein erfter Schuljahrgang ganz befonders jchlechten 
Erfolg aufmweift, daraus immer zu erkennen fei, daß ſechs Sabre vorher ein — gute? 
Weinjahr war! 

Daß der Alkohol thatſächlich ein Gift fei, führte Profeffor Dr. Hand Mever: 
Marburg aud. Wenn unterhalb einer gewillen Grenze in der Menge bes dem 
Organismus zugeführten Alkohol jede merkliche Wirkung ausbleibe, fo teile der 
Alkohol diefe Eigenschaft eben mit allen Biften. In wirkſamen Mengen verurfache 
er Betäubung der Gehirnfunktionen und der Reflere, jchließlid; auch des Atemzentrums 
im verlängerten Marke, bewirkte Abfchwächung der Muskelkraft, der Herzthätigfeit, 
unter Umftänden Abnahme der Körperwärme und verzögere die Verdauungsthätigkeit. 
Was fpeziell die Einwirkung auf die Hirnfunftionen betrifft, jo wies Dr. Rud. Wlaflak: 
Wien an der Hand der erperimentellen Unterfuchungen des heidelberger Piychiaters 
Profeffor Kräpelin darauf bin, daß die Fähigkeit, zu addieren, jchon nach den geringen 
Alkoholgaben finke, die 0,2 Liter Bier entjprechen. Ein rapider Abfall der in einer 
gemefjenen Zeit addierten Zahlen tritt bei größeren, 2—3 Liter Bier entjprechenden 
Mengen ein. Der jchädigende Einfluß dieſer Mengen läßt fich durch 24 Stunden 
und oft auch länger noch nachweilen. Ganz dasfelbe zeigt fich für das Auswenbdig- 
lernen und die Fähigkeit, Vorftelungsverbindungen zu bilden. Beſonders deutlich 
find die Störungen der Auffaſſungs- und Merkthätigfeit einfacher Sinneseindrüde, 
wie Zahlen, Buchftaben und Silben, die dem Auge nur eine kurze meßbare Zeit dar: 
geboten werden. Schon bei Alkoholdoſen von 30 Gramm (?/, Liter Bier) find bie 
Leiſtungen berabgefett, fehlerhaftes Lejen und Auslaffungen fowohl beim Lejen wie beim 
Reproduzieren fteigern fih. Bon vielleicht noch größerer praftifcher Bedeutung find 
die Verfuche über die Wirkung täglich regelmäßig genofjener Alkoholdoſen. Hier zeigt 
es fih, daß die Schädigungen der einzelnen Tage fich zu häufen vermögen, und daß 
diefe Schädigung beim Ausfegen des Alkohol mehrere Tage hindurch nachweisbar 
bleibt. Daraus cergiebt fich, wie Kräpelin mit Recht bemerkt, eine wiſſenſchaftliche 








Gegen den Allohol. 521 


Definition des „Trinkers“, die weit über die bes täglichen Lebens hinausgeht. 
Trinker iſt jeder, bei dem eine Dauerwirkung des Alkohol nachzuweiſen ift, bei dem 
alfo die Nachwirkung einer Alkoholgabe noch nicht verſchwunden ift, wenn die nächfte 
einfegt. Ihre volle Wichtigfeit erlangen diefe Ergebniffe aber erft dann, wenn man 
fie mit der Thatſache zuſammenhält, daß alle Verfuchsperfonen während der Arbeit 
feine Empfindung von der Herabjegung ihrer Leiftungsfähigleit hatten, fondern im 
Gegenteil gut und leicht zu arbeiten glaubten. In diefem, die thatjächlichen Ver: 
haltniſſe verfalſchenden Gefühl liegt die eigentliche und größte Gefahr der Alkohol⸗ 
wirkung. Sie täufcht das Ermüdungsgefühl hinweg. Und diefe Vorfpiegelung einer 
in Wahrheit nicht vorhandenen erhöhten Leiftungsfähigfeit Hat vor allem zur Verbreitung 
der Anſchauung von der „Närkenden” Eigenfchaft der alkoholiſchen Getränfe beigetragen. 
‚Gerade diefe Fähigkeit, die Unluftgefühle in Luftgefühle zu verkehren oder fie doch 
weniger fühlbar zu machen, nicht bloß über Ermüdung, fondern auch über Hunger: 
und Durft:, Hitze- und Kälteempfindungen, Trauer und Freude binwegzutäufchen, 
enthält, wie Dr. Grotjahn in feinem eingangs erwähnten Merfbüchlein ſehr richtig 
fchließt, die Verurteilung der alkoholiſchen Getränke als Nahrungsmittel, denn es geht 
daraus hervor, „daß fie ihren Ruf weniger einer wirklichen Zufuhr von Nährwert 
als ihrer rein geiftigen, das körperliche Bedürfnis nicht befriedigenden, fondern übers 
täubenden Wirkung verdanken. In der nämlichen Überlegung liegt aber aud zu: 
gleich die volle Rechtfertigung des Alkohols als eines Genußmittels! Nichts wäre 
verlehrter, als aus der Thatfache, daß der Alkohol hauptſachlich auf die fubjeltive 
Empfindung Einfluß Hat, auf feine Überflüffigkeit zu ſchließen. Denn gerade bie 
fichere und fehnelle Herbeiführung einer euphoriſchen Stimmung macht ihn zu einem 
fo audgezeichneten Genußmittel. Und die Genußmittel, die dem Menfchen zur Ber: 
fügung ſtehen, find denn doch nicht fo zahlreich, daß man bloß deshalb eines derſelben 
falten Herzens opfern bürfte, weil einzelne Individuen Mißbrauch damit treiben.” 
Daher verwirft Dr. Grotjahn die Forderung der abfoluten Cnthaltfamteit; bie 
Menſchen könnten vielmehr froh fein, „diefen Luftbringer und Unluftabftumpfer er: 
funden zu haben“, der deshalb nicht weniger ein Kulturfortfchritt bliebe,” weil fein 
Genuß, wie jeder Genuß, in Mißbrauch ausarten kann. 

Man braudt alfo nicht, wie der fürzlich verftorbene Pettenkofer in feinen legten 
Lebensjahren, ober wie Forel, der 3. 3. energifchfte Vorfämpfer der vollftändigen 
Enthaltfamfeit, der u. a. auf dem Kongreß die Thefen aufftellte, daß die Einführung 
altoholfreier Getränke in Wirtichaften gefordert, ſowie aus allen ſtaatlichen Anftalten 
die geiftigen Getränke verbannt und durch alkoholfreie erfegt werden müßten, 
bebingungslofer Abftinenzler zu fein. Diefe Forderung brauchen mir nur, wie 
Wilhelm Bode in jenem Gegenmwartartifel unter der Spigmarle „Dürfen wir noch 
Bier und Wein trinfen?” ausführt, in erfler Linie an wirklich Trunkfüchtige zu 
fielen: Säufer find Kranke, in Trinkerheilanftalten müffen fie als ſolche behandelt 
werden und bis zur völligen Heilung zu dauernder Enthaltfamfeit in der Kur verbleiben. 
Die Anftalt zu Elliton in der Schweiz hat es dahin gebracht, daß zwei Drittel ihrer 
Patienten auf die Dauer geheilt find. Ferner geht die Enthaltfamfeitäforderung an 
alle, die Trunkfucht zu fürchten haben oder fonft vom Trinken erheblichen Schaden 
fpüren. „Wer bei ehrlicher Selbftprüfung findet, daß auch der mäßige Genuß ihm 
nicht zuträglich ift oder daß er Gefahr läuft, an den Alkohol feine Freiheit zu ver- 
lieren, der muß eben ben mäßigen Genuß auch aufgeben.” „Drittens geziemt ſich bie 


622 Ä Gegen den Alkohol. 


völlige Entbaltung für die, die unter dem Einfluß des Alkohols unrechte Dinge thun, 
vielleicht Verbrechen begehen.” Viertens follen enthaltſam alle bie fein, deren Pflicht 
es it, „andern den Berzicht leicht zu machen”, „Zaufende von Frauen haben jchen 
ihr Schickſal bejammert, weil ihr Mann trinkt, vielen von ihnen wäre geholfen 
worden, wenn fie ſelbſt tapfer das Beifpiel völligen Verzicht vorgelebt hätten.” Und 
endlich eben ift von der heranmwachjenden Jugend jeder Alkohol fernzuhalten. 

Für alle andern genügt bie eine Forderung: Maß halten! Die Uninverfitäls: 
profefjoren Morig in Münden und Ziehen in Sena find nach forgfältiger Prüfung zu 
bem Ergebnid gelommen, daß eine halbe Flaſche leichten Weines oder ein Liter Leichten 
Biere das zuläjlige Tagesquantum Alkohol für den gefunden Mann darftellen. 
Das entipricht etwa 30—40 Gramm abfoluten Alkohole. Bei ſchweren Bieren und 
Weinen würde das zuträgliche Quantum ziemlich um die Hälfte zu verringern fein. 
Für erwachlene Frauen wäre wiederum nur die Hälfte des für Männer Yuläfiigen 
zu geftatten. Menjchen, die das 60. Lebensjahr überjchritten haben, brauchen ſich 
feinen bejonderen Zwang aufzuerlegen, alten ‘Leuten „befommen alkoholiſche Getränfe 
und gerade die Tonzentrierteren, in der Regel gut.“ Dr. Grotjahn verwirft ferner den 
regelmäßigen Genuß altobolifcher Getränte bei der Arbeit wie bei den Mahlzeiten, 
betont aber ausdrüdlich dabei das Regelmäßige. Als regelmäßiges Getränk betrachte 
man Wafler, Kaffee und Thee. Das Leitungswaſſer der Großſtädte bat ganz 
unverdientermaßen einen ſchlechten Ruf. Es ift fogar beſſer ald das Brunnenwaſſer 
in den Dörfern der norddeutichen Tiefebene und wie das Quellwaſſer der Gebirgs⸗ 
gegenden völlig Feimfrei. Der Kaffee ift mehr als Erregungsmittel nach guten Mahl: 
zeiten von Wert, er Hilft die Trägheit und Schläfrigfeit überwinden. Den ärmeren 
Bevölkerungsſchichten ermöglicht er, mit den billigften ftärfemehlbaltigen Nahrungs: 
mitteln, wie Kartoffeln und Brot, auszulommen; doch verichuldet er dadurch auch 
jenen Zuftand der Überarbeit und der Unterernährung, der heute bei einem großen 
Teil des ftädtifchen und Ländlichen Proletariat3 anzutreffen if. Für das bisher beſte 
Erſatzmittel alkoholiſcher Getränke erklärt Dr. Grotjahn einzig den Thee. Gegen ein 
audgiebigered Genießen von Alkoholien bei feftlichen Anläffen hat aber auch er ebenjo: 
wenig einzuwenden, wie Bode, der ein gelegentliches ftärfere® Heranziehen dieſer 
willlommenen „Betrüger“ des grauen Lebens und „bequemen Slufionsfabrifanten” 
gleichfall8 für ganz berechtigt erklärt. „Der Lebensgenuß ift fein Unrecht, und es iſt 
fein Unrecht, Bier und Wein zu genießen. Aber eben: genießen!” Dazu gehört, dab 
man fi ihrer durch Wochen und Monate auch einmal ganz enthält, dann werden wir 
fie gerade bei guter Gelegenheit mit umfomehr Freude genießen. Und dann könne es 
unbejchadet der Geſundheit fogar einmal in größeren Mengen gefchehen. „Es find weniger 
medizinische Gründe als folche äfthetifcher Natur und der Rüdfichtnahme auf eigene Würde 
und die Empfindungen der Mitmenjchen, die eine Beraufchung biß zur mehr oder weniger 
ausgeprägten Sinnlofigfeit verbieten. Die akute Alfoholvergiftung, als welche fich der 
Rauſch vom mebizinifchen Geſichtspunkt aus darfiellt, wird nämlich in der Regel von 
menschlichen Organismus fpurlos überwunden.” Nur Wiederholungen in kurzen 
Zwiſchenräumen haben eine ziemlich ſchnell eintretende dauernde Schädigung im Gefolge. 

Selbft der fonft fo alkobolfeindliche Profeſſor Kräpelin jagt: „Ohne Zweifel 
fann man im intimen Kreife und unter lebhaften Menjchen die Anregung durch den 
Alkohol ſehr gut entbehren. Dagegen wird die Gewohnheit größerer, nach Zufall 
zufammengemwürfelter gejelliger Vereinigungen kaum auf ein Mittel verzichten dürfen, 


Die Ausftelung des Vereins ber Berliner Künftlerinnen. 523 


welches den Einfilbigen gefpräciger, den Derlegenen ſelbſtbewußter madt und bie 
ftarfe Reibung vermindert, die notwendig den Verkehr einander innerlich fernftehender 
und gleichgiltiger Menfchen erſchwert.“ 

So tönt noch aus dem finftern Chor der Ankläger, die in jenen Apriltagen 
dort zu Wien im großen Mufilvereinsfanle — wo man finnigerweife den Kongreß 
verfammelt hatte — dem Alkohol, diefer „Pet der modernen Menfchheit”, das Grab: 
lied grollten, eine freundliche Weife Herüber, fchüchtern zwar und nüchtern und in 
etwa vermindertem Alkord, aber altvertraut: „Der Wein erfreut des Menſchen Herz!” 
Nur foll es möglichft leichter Landwein fein. 


Er 


Die Anstellung des Fereins der Berfiner Känfferinnen. 


Bon 
R. von Ruersivald. 
Rachdrud verboten. ze 


T- den Sälen der Kunftafademie Unter den Linden 38 bat ber Verein der 
+ Berliner Künftlerinnen und Kunftfreundinnen feine diesjährige Ausftelung, die 
17te in den Jahren feines Beſtehens, eröffnet. In gefchloffener Gruppe treten bie 
Berliner Künftlerinnen bier vor die Öffentlichkeit und zeigen aufs neue, was fie zu 
leiften vermögen, welche Fortfchritte fie gemacht, welche neuen Kräfte fie getvonnen 
haben. Zweifellos if eine ſolche Ausftelung, die fi an bie Kritik und das Publitum 
wendet und eine laute Meinung über ftillgewachiene Arbeit verlangt, grade für 
Frauenſchaffen, dad fo leicht in engem Kreife bleibt, das ſchon bei rein dilettantiſcher 
Berhätigung Staunen und Wohlwollen erregt und dadurch leicht Selbfizufriebenheit und 
Einfeitigfeit auflommen läßt, von unberehenbarem Nugen. Und je ftrenger bie 
Arbeiten gewertet werden, je mehr man heute von den künſtleriſch thätigen Frauen 
verlangt, defto ftolzer dürfen fie auf das Errungene zurüdbliden — fie felbft haben 
es ſich erfämpft, daß man beginnt, Anforderungen an fie zu ftellen und fie mit 
anderm Maß zu mefjen, als bisher; denn nicht darauf fommt es hier an, daß das 
Streben einer einzelnen, ungewöhnlich begabten Frau Anerfennung gewinnt — das 
ift nicht? Neues, ſolche Ausnahmen hat es zu allen Zeiten gegeben —; hier handelt 
es fi darum, dem Geſamtſchaffen der vielen, die -fih Heute der Kunft widmen, 
Achtung zu erzwingen und dur Kritif und Selbftzucht dad Niveau des Könnens 
zu heben. 

Von diefem Geſichtspunkt aus darf die Ausftelung nur als eine durchaus 
erfreuliche bezeichnet werden. Sie zeigt, daß der Fünftferifhe Ernft in beftändigem 
Wachen ift, daß die Künftlerinnen es gelernt haben, fich nicht jedem fremden Einfluß 
ſchwanlend hinzugeben, fondern jelbftändig die Natur zu betrachten, um ihr in 
mübfamen, ernftem Studium das abzugewinnen, was jeder erft aufs neue für ſich 
erringen muß. Sie zeigt — und das ift das Gute an ihr — daß die Künftlerinnen 
auf dem rechten Wege find, auf dem fie vorwärtsfchreiten müflen, um — etivas 


524 Die Ausftelung des Vereins ber Berliner Künftlerinnen. 


wirklich Gutes zu fchaffen. Und bier fegt auch die Kritif ein: die Malerinnen bürten 
es nicht vergeffen, daß dieſes wirklich Gute, von Ausnahmen natürlich abgeſehen, für 
die Geſamtheit noch nicht erreicht ift. Verharren fie bei dieſen Vorarbeiten, dieſen 
mehr oder minder gründlichen Studien oder dem Leben abgelaufchten Skizzen, jo 
kommen fie in Gefahr, in ftehendes Waffer zu geraten und, beiten Falls, nette Genre: 
bilder und verfäufliche Stillleben zu malen. Und fie wollen doch mehr. Hier aber 
it, 3. B. in Landichaft und Porträt, man möchte jagen: noch Raum, Raum für 
ftarfe Individualitäten, die nicht mit den Augen anderer Leute ſehen, jondern mit 
eigenen, und den Beichauer zwingen, die Kraft und Wahrheit ihrer Betrachtungsmeile 
anzuerkennen. Sold einen eigenen Blid hat die bier nicht vertretene Vilma Parlagbi 
für eine Frau in ungewöhnlichem Grabe. 

Unter den Porträtiftinnen, die diefe Ausftellung beichidt baben, find Namen von 
gutem Klang, wie Sabine Lepfius, Dora Hig und Betty Wolff, am meiften 
hervorzuheben. Sabine Lepfius bat ihr, jchon von der Sezeffion Her befanntes 
Kinderbild gefandt, das in Farbe und Auffalfung vornehm und ruhig wirft. 
Es jtedt von allen am meiften reife Kunft und ſelbſtſichere Perfönlichkeit darin. 
Weniger glüdlih ift Dora Hitz mit einer Mutter und ihrem Kinde vertreten. Das 
etwas Verſchwommene, Farblofe des Bildes ift ohne den intimen Zauber, ber ihre 
Arbeiten jonft auszeichnet. Betty Wolff ift ſehr fed und ficher in der Zeichnung, 
mit wenigen Strichen weiß fie lebendig und anmutig eine Geftalt feitzubalten, und 
diefe unbefümmerte Technik ift ein Hauptreiz ihrer leichten Paftellffizzen. Eine tüchtige 
und feinfinnige Arbeit bat auch U. Loewenſtein in dem Bildnis einer alten Dame 
gegeben, desgleichen C. E. Fifcher in dem Porträt von M. von Keudell, und 
Beyme:Golien in dem lebensvollen Bild eined jungen Mädchens. Auch Mens: 
bauen und Madeweiß haben Arbeiten gejandt; doch viel neue Leben, neue 
Talente für das Porträtfach find unter den andern Arbeiten der Künjtlerinnen des 
Vereins nicht bemerkbar. In ähnlicher Weile fehlt e8 an ftarker, perfönlicher Aus- 
brudsweile, an friichen Kräften auf dem Gebiet der Landichaft. Altbewährte Namen, 
wie M. von Keudell, P. Bonte, Lobedan und M. Kirfchner find auch Bier 
wieder mit anmutigen und ſchön empfundenen Stüden vertreten, auch E. Stort hat 
ein paar frifche Bilder gefandt. Doch die Mehrzahl der Arbeiten erhebt fich eben 
nicht über das Studienhafte, das als notwendige Vorausſetzung reifer Kunſtwerke 
wohl zu begrüßen ift, aber nur einen erften Schritt auf einem langen Wege bedeutet. 

Sehr reich ift dagegen die Auzftellung mit wirklich trefflichen Stillleben beichidt, 
die in Technik und Aufbau zum Teil meifterhaft find. Aus der Fülle der Künitlerinnen, 
die fich auf diefem Gebiet bewährt haben, fünnen nur einzelne hervorgehoben erben. 
Hedinger, Lobedan, Lehnert, Iverjon, Rofe haben Arbeiten eingefandt, die ſich 
den beften ihrer früheren anreihen, beſonders Hedinger ift mit zwei ſehr tieffarbigen 
und wirkſamen Innenräumen vertreten, die ihr großes Können auf neue betätigen. 
Hier fei auch H. Weiß mit ihrem etwas ſchweren Stillleben erwähnt, das doch durch 
feine reife Technif auffällt. Die Stilllebenmalerei ift ein ſchon lange angebautes 
Feld, dad der Begabung der Frau recht eigentlich zu entjprechen jcheint. Es gilt 
auch Bier in ernfter Vertiefung neue Ausdrudsmeifen finden: 9. Weiß ijt auf dem 
Wege dazu. Flott und kräftig find zum Teil auch die Aquarelle, die eingefandt find. 
Unter den Gentebildern find die beiden bübjchen Arbeiten von U. Roeſtel zu nennen. 

Das große Gemälde von EC. von Rappard bat 1900 in London bie Goldene 





Die Ausftellung des Vereins der Berliner Künftlerinnen. 525 


Medaille erhalten. Es ftellt ein mufizierendes Mädchen dar, das vor einer alten Frau 
figt, die ihr beglüdt lauſcht. Es fehlt dem Bilde an organifhem Zufammenhang und 
fräftiger Einheitlichkeit; gute Einzelheiten find vorhanden. Paczka-Wagner ift mit 
zwei größeren Phantafiebildern vertreten, die die Heitere Lebensfreude entichwundener 
Beiten barzuftellen beftimmt find, doch zwingen fie nicht in den Gebankengang der 
Künftlerin. Es ift ſchade, daß fie Feine ihrer Zeichnungen oder Rabierungen ein 
geihidt Hat. Käthe Kollwig bat ihre vorzüglichen Rabierungen zu den Webern 
geſandt. Sie ift eine ftarke Kraft, die in ihren Leitungen weit über dem Durchſchnitt 
ſteht, und es iſt erfreulich, daß fie ihre Kunft durch Unterricht übermittelt. Die 
Arbeiten ihrer Schülerinnen laſſen den großen Einfluß ber Lehrerin erfennen und 
zeichnen ſich durch befonnene Gediegenheit aus; die Radierung von Wegener ift doch 
zu ſtizzenhaft. 

Unter den plaftifchen Arbeiten, die nur in geringer Anzahl vorhanden find, zeigt 
9. Duitinann am meiften Begabung, Leben und Bewegung feftzuhalten. Die Büften 
von D. Beer find ziemlich fonventionel. Wislicenus ift mit zwei getönten Reliefs 
vertreten, bie ſich durch Lieblichkeit der Erfindung und Behandlung auszeichnen. Ihre 
Arbeiten werden immer gefallen, grabe weil fie ein wenig weich find. Auch hat fie 
zweifellos großes Geſchick, doch ift den deutſchen Bildhauerinnen eine ähnliche Kraft 
zu wünfden, wie fie in Mrs. Cadwallader Guild, die in diefen Tagen in Berlin 
eine Separatausftellung eröffnet hatte, hervortritt. 

Ein Teil der Ausftelungsräume ift für die Schilerinnenarbeiten beftimmt, die 
nad den verſchiedenen Lehrklaſſen eingeteilt find und geeignet ericheinen, einen Über- 
blid über die Lehrkräfte und Methoden zu gewähren. Diele der beften Künftler und 
Künftlerinnen Berlins gehören zu dieſen Unterrichtenden, und bie Erfolge, die fie 
erzielen, find durchaus anerfennenswert. Die Leiftungen von K. Kollwig wurden 
ſchon erwähnt; auch M. Thun in der Blumenmalerei, Hoenerbach im Porträtfach 
dürfen auf den Studiengang ihrer Schülerinnen mit Befriedigung bliden. Unter den 
lehrenden Malern fein M. Buſch für Zeichnen nah Gips, Uth für Landfchaften 
und Figuren und Brandenburg für Akt erwähnt. Legterer führt allerdings feine 
Schülerinnen in einen kraſſen Naturalismus ein, der auch für den ernfteften Studien: 
gang nicht notwendig fcheint. Viele der Akte wirken fogar brutal und in der Abfichtlich- 
keit manieriert, was für Lernende gewiß nicht ohne Gefahr ift. In dem legten Saal 
befinden fi die für die Verlofung beftimmten Bilder und funftgewerblichen Gegen: 
Hände, unter denen fehr fchöne und tüchtige Arbeiten vorhanden find. 

Sp zeigt diefe Ausftelung in recht erfreulicher Weife, wie auf allen Gebieten 
die Künftlerinnen fih im ernfler Arbeit um ein immer vertieftered Können, immer 
größere Sicherheit bemühen und wie fie es gelernt haben, die Sehnfucht, ſich felbit 
zum Ausdrud zu bringen, zurüczubrängen, folange fie nicht ganz ihre Ausdrudgmittel 
beherrichen. Das ift ein Fortfchritt, ein großer Fortfchritt, der zeigt, wieviel Ernſt 
und Befonnenheit unter ihnen lebt. Unter den Bildern findet fi mehrmals bie 
ſymboliſche Darftellung einer Frauengeftalt, die mit fehnend erhobenen Armen der 
Sonne entgegenfteigt. Daß die Frau das in Wahrheit thut, braucht nicht mehr 
befonders verkündet zu werden. Sie fol nur ftill und unverdroffen weiter Mimmen, 
bis fie im Sonnenfchein fteht, — ben ihr dann feiner mehr nehmen kann. 


A 


— Her Sinzige. — 


Roman 


Nachdruck verboten. en 


De April bat den Mai eingeholt” 
jagen die Leute in dem kleinen Harz: 
fleden Blumerode und arbeiten tüchtig in 
den Gärten und Feldern. Man ift an ein 
ſolch vorzeitiges Knoſpenbrechen und Grünen 
und Sprießen gar nicht gewöhnt, ſonſt geht's 
fein langfam, diesmal mit Gewalt. Und der 
Erdgeruch ift kräftig, und bie Vögel zwitſchern, 
die Quellen riefeln, die Sonne meint’3 gut, 
und ber Himmel bat, wenn nicht juft ein 
Schauer befruchtenden Regens berabraufcht, 
ein graublaue® Ausſehen und flatternde, 
weiße Wölkchen. Die Sonnenftrahlen laufen 
überall bin, zeigen erbarmungslos erblindete 
Fenſter, herabgefallenen Bus der Wände, ver: 
nadhläffigte Wege. Man muß fchleunigft 
daran gehn, die Spuren der Winterfälte und 
Näffe zu befeitigen, will man nicht in den 
Nuf läffiger Leute kommen. Die ziegelroten 
Dächer auf den niedern Häufern fehn freundlich 
aus, die Berghüöhen, die gepubert im Winter 
erfcheinen, nehmen braunfhwarze Färbung an, 
bald wird fie fich in einen grünzarten Echein 
verwandeln. Der Schieferbevedte Kirchturm 
bat ein blendendes Bliten, und die dradjen- 
artige Windfahne auf dem hochgelegenen, 
altersgrauen Schloß jchimmert in Silber⸗ 
glanz. 

„Werd Frühjahr met Macht,“ fliegt es im 
platten Dialelt von Mund zu Mund über die 
Heden bin, hinter denen man mit Spaten und 
Haden arbeitet, und überall find frifche, früh: 
liche Kinderftimmen laut. 

. Der belle, ſchnelle Mühlgraben, der aus 
dem Gebirgsfluß gefpeift wird und in Win- 
dungen durch Blumerode läuft, hier eine 
Mühle, da eine Tuchfabrif treibend, ſcheint es 


von 


&. Vely. 


nr 


— 


noch eiliger als ſonſt zu haben. Er iſt voll 
bis zum gemauerten Schutzdämmchen, das ihn 
von der Straße abſchließt. Vor dem Hauſe 
des Holzherrn Wagner, wo eine uralte, 
prächtige Linde ſteht, macht er eine kühne 
Biegung, er hat vorher viel Fall gehabt. 

Mit raſchem Schritt kommt eine zierliche, 
blonde Frau über die Schwelle des freunt: 
lichen Baues; fie trägt eine Harfe und ftellt 
fie an den Stamm bes Baumes, um den im 
Nund eine Bank läuft. Da, wo die meilte 
Sonne hinſcheint, fitt ein junger, blafier 
Menſch von Deden umbüllt, die Füße auf 
einem Schemel in einem Pelzſack geborgen. 

„Ach, Mutter”, fagt er lächelnd, „ſchon?“ 

Sie nidt eifrig. „Sa, mein Junge, das 
wird bei dem Wetter nich’ zu lange dauem, 
baß eins heruntergeſchwommen fommt, Kopf 
über, Kopf unter. Eie fehrein und grölen ju 
Ihon die Welt wieder voll!” 

„Sie find luſtig!“ 

„Eben darum! Da liegt denn dag NRader: 
tüg bald au drin — und ivenn hier nid' 
gleih aufgepaßt wird, denn kann's jchon 
Matthäi am lebten fein! Eh ſo'n Weib ficht, 
daß feine Brut fortgeſchwommen is, is 
meiſtens zu ſpät.“ 

„Hätteſt zählen ſollen, wie viel hier bei 
Wagners Linde ſchon rausgeharkt ſind, 
Mutter!“ 

„Hätt' ich viel zu duhn gehabt, mein 
Junge. Da reichen ein Hundert in all 
den Jahren nich! Aber, was mich immer 
noch wundert, daß dazumal keiner dageweſen 
is, als die lüttje Ida, der Danehlſchen ihr 
Blondkopp ſo elendiglich ertrunken is. Das 
war'n nüdlich Balg und konnte ſo artig: 


Der Einzige. 


Tag, Wagners Tante‘ jagen. Ya, 
war nu ſcheußlich.“ 

Das Wagner'ſche Haus, dem beide den 
Rücken drehn, hat belle Fenſterſcheiben; die 
Sonne ſpiegelt ſich darin. Sie leuchtet auch 
auf der lichtgrünen Verputzung der Wände 
und der tiefer grüngetönten, hölzernen Ver— 
ſchalung. Aus einem Erdgeſchoß mit acht 
Fenſtern Front, einem Oberftod und einem 
Halbftod befteht das Haus, auf dem Bäder: 
gerechtfame ruht. Aber der Eigentümer, 
Konrad Wagner, hat fih mit dem Gewerbe 
lang ſchon zur Ruh gefegt und hat nur das 
Ehrenamt eines Holzherrn in der Gemeinde 
inne. Es befteht darin, daß er bie Über 
wachung von fürftlihen Schenkungen von 
Wäldern an die Gemeinde Blumerode hat — 
und die Verteilung des Holzertrages gegen 
Schlaggeld an die Gemeindemitglieder. Ganze 
und halbe Holzftellen ruhen auf einzelnen 
Häufem. Das Schloß mar Witwenſitz 
welfiſcher Fürftinnen, die verſchiedentlich ſolche 
Stiftungen gemacht zum Kummer des 
Fiskus, dem viel Weitläufigleiten daraus er- 
wachſen und ber ſchon lange an der Ab: 
löſung arbeitet. 

Ylütentveiße Vorhänge an den Echeiben 
veden davon, daß es aud im Innern des 
Haufes bligt und blinkt. in geräumiger 
Hof und ein großer Garten mit vielen Obſt⸗ 
bäumen und Gemüfeland gehört zu dem 
Wagnerſchen Anweſen, ein ftolges im Ort. 
Mit al der Eorge für den Befig, der Land⸗ 
wirtſchaft, Gartenbeftellung und Viehzucht hat 
Frau Antoinette Wagner troß zweier Dienft- 
boten und vieler Tagelöhner nod genug zu 
thun, denn ihr Mann fümmert fi nicht gern 
darum. Gie hat ein freundliches Gefiht, das 
trog ihrer fünfzig Jahre eine Runzeln 
aufweiſt, Sanftmut und eine ftille Trauer 
bliden aus ihren großen Augen. Eie trägt 
ein einfaches Wollkleid, ein Meines, ſchwarzes 
Spihtzentuch ift über ihre Haare gebunden, die 


das 


fi) Hinten zu einem Flechtenknoten türmen, : 


der noch reichlich ſchwer iſt. Ihr Kopf ift 
leicht nach vorn geneigt und ihre Schultern 
find aud ein wenig gebüdt; aber wenn fie 


Energie überfommt, richtet fie fich gerade auf, . 


und dann ſieht's aus, als würfe fie eine 
Laſt ab. 


627 


Sie hat das Rettungsmittel, das fih fo 
jedem Vorübergehenden auch glei zur Be: 
nügung bietet, nod immer mit der Rechten 
geftügt, nun fegt fie fi einen Augenblid 
neben den Sohn. 

„Haſt's auch gut fo, mein Frige?“ 

„Ja, Mutter.” 

Sie ftreichelt ihm leife bie weiße, blau: 
abrige Hand mit den langen Fingern. 

„Glaub's ſchon, hat mir immer weh ge 
dahn, daß du fo infigen mußteft, ben langen 
Winter.” \ 

Es ift ein Zug in dem ſchmalen Geficht 
des hübfchen, blonden Menfchen, deſſen blaue 
Augen ganz die der Mutter find, der zeigt, 
daß ibm das Bebauertiverden peinvoll iſt. 
Sie verfteht das fofort. J 

„Na, haſt ja auch Abwechſelung gehabt 
mit Leſen, und Leute ſind gelommen. Un' 
die nübliche Mile hat dann mit dir gefpielt, 
und ihr habt mandmal wie doll gelacht. Und 
guten Toppfaufen habe ich auch gebaden, und 
ihr hat er geſchmedt, das fonnte man ja 
wohl merken.” 

Der leichte, rote Echein auf feinen Baden 
vertieft fi ein menig. 

„Dag, Fru Holzherrn!“ 

nDag, Diehlihe!“ 

Eine Frau, die Hade über der Schulter, 
die Röde kurz gefchürzt, ein braunrotes Woll⸗ 
tu, unter dem ein paar Eträhnen ſchwarzen 
Haares herborquellen, über dem Kopf hinten 
jufammengebunden, ift mit ſchwer fchlürfen- 
den Tritten herangefommen und fteht vor ben 
beiden ftill. 

„Here Fritzelen auch mal wieder draußen? 
Das is aber recht. Geht es denn nu alles 
teile befier? Ja, fo'n Einziger, kann mich 
ja denken, das macht Sorgen, wenn da nid) 
alles in Ordnung is mit das Gefundfein. 
Was unfereiner iS, wo neune rumheulen, 
da fümmert man ſich nid ville um. Das 
wächſt auf, un’ is gefund. Man bloß, daß 
fie immer hungrig find. Es is ungleich auf 
de Welt verteilt, Fru Holzherrn, Sie mit das 
ı Shöne Wefen Eönnten mehr brauden, un’ 
haben bloß fo'n Einzigen, un’ is 'n Eorgen= 
find.” Und das grobfnodige Weib grinft 
dabei. Die Mutter fieht ihren Cohn an; er 
ı hat wieder den gepeinigten Ausdruck. 











528 Der Einzige. 


„Diehliche, da fteht noch ettvas von Mittag, 
wenn Sie fih das wärmen will?” 

„Ab, Fru Holzberrn, wie woll ih nid — 
wenn Sie fo gautmütig find! Ne, Sie beide! 
Der Herr Holzherr au! Geſtern is er mid 
noch begegnet un hat gejagt: Diehliche, Sie 
weiß ja, meine Frau giebt gerne. Hol’ Sie 
fih man ab und an 'nen Stüd für Ihre 
Bälger!” 

Über das Geficht der blonden Frau huſcht 
ein Schatten, fie wendet fih ab und geht 
dem Haufe zu, und die andere latſcht mit ben 
großen Männeritiefeln Hinter ihr ber. 

Drüben am Nachbarhaufe fteht der ver: 
trunfene Gigarrenarbeiter Kracke neben ber 
Schulzeſchen, die eine Witwe ift, aber nicht im 
Tagelohn arbeitet, ſondern einen Kleinen Fiſch⸗ 
handel hat und, wenn's vorkommt, auch mit 
Wild umhergeht. 

„Nu, ſieh, die Diehlſche, holt ſich all 
wieder was!“ 

„Was ſoll ſie nich?“ grinſt Kracke. 

„Un' die Frau is ſo gut.“ 

„Der Holzherr is das ja früher auch gegen 
die Diehlſche geweſen, wie ſie noch jünger 
war.“ | 

Die Schulzefhe hat ein hübiches, aber 
freches Geficht und eine volle, ftattliche Figur. 
Eie trägt ein Wollkleid und ein leuchtend 
rotes Tuch darüber kreuzweis gebunden. Sie 
ftreicht mit der Hand über die blaumweiß ge- 
ftreifte Schürze. 

„Ach, was die Leute jagen!” 

Krade fchiebt feine Heine ‘Pfeife, auf der 
das Bild eines Frauenzimmerd mit einer 
Marketendermütze ift, in den linfen Mund: 
winkel. Er hat eine Joppe an, die man früher 
in befferem Zuftande an dem Heinen Major, 
dem Bürgermeifter von Müller, gejehen bat, 
und ein feuerrotes, ſchmutziges Halstuh, das 
ihm ein durchreiſender Künftler gelafien hat, 
dem er feinen Koffer nah dem Bahnhof 
trug. 

„Hihihi! ja, die fagen ja nu ville; 
Schultzeſche, die ſagen au von Sie —“ 

„Watt denn, watt denn?“ fragt die Frau 
und ſtemmt beide Arme in die Seite. „Watt 
ſoll'n das heißen?“ | 

„Ih, gar nie nich! ch meine man jo. 
Un’ der Knaſter, den Sie mich da mitgebradt 


— 


"haben von Münzbaufen, der ſchmeckt nad 


mehr, meine ich man.“ 

Sie ladt. „Sch geb’ ja öfter bin — 
und Rrade, wenn die Leute was fagen, was 
gebt’3 mir an. Sch habe mein Ausfommen. 
Un’ feine neune, wie die Diehlſche — wer 
ich fo was auflieft! Un’ feinen kranken 
Sungen!" Dabei fliegt ein Blick nach ber 
Zinde hinüber. . „Mit der Fru Holzherrn 
taufch ih noch lange nih! Ne!“ 

Krade reibt fi die Hände. „Die bat ihr 
Päckchen! die hat's — o Semine. Die hars 
ordentlih. Un’ wenn fie auch nie nicht ge: 
zanft un’ gekrankt hat, die weiß, was Er für 
einer geweſen id. Bücherd un’ Spazierengeb’n' 
Un’ die Semmeln Tonnte die Frau baden, un’ 
das Brot der Gefele. Büchers! gar in 'nc 
Sorte Sprachen, die Fein omtlider Menſch 
verſteht, ſagte Martina Anton, der ’mal ’rein- 
gegudt hat. Un’ Epazierengeb’n in „Wald 
und auf der Haide, da fuch ich meine Freude“ 
hahaha! Un’ Begleitung: Das rote feiden: 
Taſchendauk aus der Nodtafche, denn mußte 
die Diehlſche Beſcheid und ging nad Beeren, 
oder die Pottbergen da brüben aufm Brint; 
na, mid fehlen die Namens ale! So'n 
Echwerenöter. Aber immer angeſeh'n! Der 
Herr Sanitätörat un’ der Amtmann, die figen 
ja ftundenlang mit'm auf der Bank da. Son 
Schwerenöter! Schulzefche, un’ die Leute fagen, 
die Stab’ ließ ’3 Maufen immer noch nid” — 
ja, das fagen je!" Und er Tneift das eine 
Auge zu und blinzelt fie mit dem andern 
liftig an. 

‚Watt geht mir's an — vor mir —“ fie 
macht eine fchlenfernde Handbewegung. 

„Ih ja, ih ja!“ 

„Woll'n Se en Wachholder? Warten Se 
mal!“ 

Sie fchnellt hinein und fommt mit Glas 
und Flaſche aus dem kleinen Haufe zurüd, 
zwiſchen deſſen Fenſtern ein Scdilb jtebt: 
„Witwe Schulte, Obſt- und Fiſchhand- 
lung.” 

Krade ſchmatzt laut: „Das kann 'n Men: 
chen wieder auf die Beine bringen!” 

Die Frau nidt, aber fie fcheint ganz we 
anders mit ihren Gebanfen. 

„Aufn Holzberrn find Se nih gut iu 
iprechen, Krade! Warum eigentlidh nich?“ 





ur 2e/ E 


Der Einzige. 


Er dreht das Glas um, zum Zeichen, daß 
fein Tropfen feines Inhalts drin geblichen ift. 

„Warum? Darum! Schultzeſche, das is 'ne 
alte Sache. Mal konnte ich in 'ner Fabrik 
in Münzhaufen 'ne befiere Stelle friegen, bloß 
aufn gutes Wort vom Holzherrn wär's an: 
gelommen. Meinen Sie, daß er's gefagt hat? 
Könnt er nid — die Wahrheit, immer bie 
Wahrheit. Un’ Appels Louife ihrer Mutter 
bat er aud abgeraten, daß fie mir das 
Mädchen gab. Ne, Lieber nady Hannover in 
Dienft. Un's Mädchen war mir gut.” 

„Na, Krade! Das wär auch 'n Stüd 
geweſen.“ J 

„War doch 'n hübſcher Kerl — dazumal.“ 

Aber —“ fie macht die Bewegung des 
Schludens. 

Wer weiß denn, ob ich mir nich’ geändert 
hätte?” 

„Ne — ne!” 

„38 auch nu einerlei, Schultzeſche. Brannte⸗ 
mein is befier wie MWeiböleute!” 

Die Witwe lacht. „Schade, Krade, ſchade!“ 

„Was denn —“ 

„Ich meine man, daß Sie kein ordentlicher 
Menſch geworden ſind —“ 

„Sagt der Bürgermeiſter auch Immer, was 
überhaupt ein gemeiner Mann is, ber es gut 
mit die armen Leute im Sinne hat. Krade, 
Krade, der Branntewein — Herr Bürger 
meifter, fag ich denn, ich hab's von Vatern, 
dem fein Lieblingslied war auch ſchon: 
Schnaps, Schnaps, Schnaps, du edeles Ge- 
teänfe.” 

nDag, Rrade, ih muß rein —“ 

„Na, denn Dag auch —”, fie wendet ſich 
Turz und gebt, und er fteht noch ein Augen« 
blidchen und gudt nah dem Wagnerſchen 
Haufe Hinüber, dann fehnalzt er mit der Zunge 
und ſchlägt den Weg in eine Nebengafje ein. 

Fritz Wagner bat fih damit befchäftigt, 
einer Bachftelze zugufehen, die über bie Steine, 
dicht am Waſſer hergehüpft it. Wie das 
Köpfchen ſich dreht, das Echwänzlein wippt, 
die Beinchen ſich fegen, wie zierlich! 

So ein Bachſtelzlein! — er lächelt, ein 
Aufblitzen iſt in ſeinen Augen. Ja, und wie 
er den Kopf hebt, da kommt ſie drüben vom 
Pfaffengang herüber, faſt auch von Stein zu 
Stein hüpfend, denn da haben die Leute Wafch- 





529 


fäfler über den Weg bin ausgeleert. Ihr 
Kleid Hält fic hoch unb lacht und biegt 
den Kopf nad der Mutter hinüber, die ihr 
nicht folgen kann und ein wenig hilflos ift in 
ihrer behaglichen Fülle. Sie, an die er gedacht 
bat, fein Bachſtelzlein, die Mile. 

„Mutter, hier! da! fo, fo geht's doch!“ 
ruft fie zurüd, und dann fieht fie ihn und 
trippelt noch fchneller heran. 

„Big! Draußen bift du! 
bei dem ſchönen Wetter!” 

Er fteht auf, ganz rot übers Geficht, die 
Deden fallen, und er verwidelt ſich faft in 
dem Fußſad. 

„IH! ja freilih! Tag Mile! Guten Tag, 
Frau Steuerinfpektorin,“ und er macht eine 
ganz ehrfurchtsvolle Verbeugung. Mile büdt 
fih nad) den Deden. 

„Laß doch, laß doch,“ murmelt er, „ich 
brauchte das doch gar nicht, aber die Mutter, 
du weißt ja! Sie ift immer fo ängſtlich!“ 

Mile lat. Sie ift braunhaarig, hat ein 
fraufes, natürliches Gelock und große, graue, 
fragende, lachende Augen, ein keckes Näschen 
und einen füßen, roten, ewig plaudernden 
Mund. 

Sie trägt ein blaues Wollklleid und einen 
bräunlichen, nicht ganz gut figenden Paletot 
darüber. Fri hat einen Blid dafür, er fieht 
auch ftet3 die Mobeblätter mit an, die zu ber 
Journalmappe gehören. 

Der Hut mit Federn und einer feuerroten 
Schleife figt fed auf dem braunen Kopfe. 
Und das weiß Frig aud, wenn Milchen Zehſe 
etwas abgetragen ober nur ganz einfach an= 
gezogen ift, nad ihr muß man doch fehen. 
Ihr fteht alles noch hundertmal befjer, ald den 
reihen Mäbchen ber teure Putz. 

„Mütter haben immer recht, Fritz, wenn 
fie uns auch quälen. Was, Mamachen?“ 

Die Ungerebete ift endlich fo weit gelangt, 
Frig unter haftigem Atmen die Hand-zu geben. 

„Das ift ja hübſch, Herr Wagner, daß 
Cie heraus können! Was fagft du, Mile, 
Mütter? Ach, fie ift ein Unband, ein rechtes 
Kind noch und doch ſchon fiebzehn Jahre. Ich 
mar fo viel gefeßter damals, fo fehr viel — 
nein, bie Leute! Die reine Sintflut bier 
auf ber Straße. Ich muß es mal dem Herrn 
Bürgermeifter fagen, wenn ich ihm begegne. 

34 


Das ift recht, 


530 


Da ift ja gar Feine Ordnung und Aufficht. 
Ich ſagte gleich zu Mile, wir wollten auf dem 
Damm drüben fpazieren gehn, aber bie muß 
am Mübhlgraben entlang!” 

„Das ift doch auch ſchön! köſtlich — der 
bat’3 immer eilig, immer was zu beftellen. 
Weißt du, Fritz Lals ob er in die weite Welt, 
direft ing Meer wollte —“ 

Fritz lacht. „Bis er dahin fommt! Er 
fließt ja erft in ein paar andre Flüſſe und gar 
in die gelbe Leine!” 

„Ab ja, mein armer, fchöner, heller 
Graben! Fri, frag’ man nicht, wie die Heinen 
Flüſſe beißen, ich weiß es ja doch nicht, und 
wenn du's fagft, eraminiert mid) die Mutter. 
Und für die dumme Geographie hab’ ich nichts 
über — ih mil doch auch nicht Lehrerin 
werden, twie fie war. Sch denfe, viel lieber — 
ad nein, ich ſag's nicht. Du, haft du fchon 
den neuen, bübjchen Forftlandibaten gefehn? 
Steht dem die Uniform gut! Beckmann heißt 
er, fagt unfere Aufwärterin.” 

„Kein, Mile! Er will aber meinen Bater 
befucdhen, fo viel ich weiß!“ 

„Deinen Vater, natürlich — den Häufften 
Mann —“ 

„Mile!“ ruft die Steuerinfpeftorin ver: 
weiſend. 

„So nennen doch die Leute den alten 
Wagner.“ 

„Den Herrn Holzherrn —“ 

„Ne, denn ſage ich ſchon Onkel Holzherr!“ 

Fritz nickt ihr zu. Sie ſpringt nach dem 
Rande des Grabens. 

„Die vielen Stecklinge — komm doch bloß! 
Die balgen ſich förmlich! Ach nein, bleib 
man da. Denn wenn deine Mutter das ſieht, 
daß du dich da herausgewickelt haſt! O je, 
da iſt ſie ja ſchon!“ 

Von der Diehl gefolgt tritt Frau Wagner 
aus dem Hauſe. 

„Dank ock, Dank ock, Fru Holzherrn!“ 
ſagt das Weib unterwürfig. 

„Schon recht!“ wehrt ſie ab und kommt 
mit ſchnellen Schritten unter die Linde. 

„Da hat's der Fritz ja gut. Setzen Sie 
ſich doch, Frau Steuerinſpektorin. Mile, du 
ſiehſt mal wieder luſtig aus! Recht, mein 
Kind! Geh doch rein — friſcher Zwiebel— 
kuchen, hol doch, die Hanne weiß ſchon, für 


Der Einzige. 


dich und die Frau Mama. Nein, Das duürien 
Sie mir nicht abichlagen, Frau Inſpektorin!“ 

Eie fpridt mit Haltung und ein wenig 
gezierter als fonft; fie weiß, mas ben Hono: 
ratioren des Orts zulommt, denn die Wagners 
fünnen ſich trog Befit und fonftigen Anfehnd 
nicht dazu zählen. 

Dagegen bat die Steuerinfpeltorin, eine 
Witwe in Inappen PBerhältnifien, im ibrer 
ſchäbigen Eleganz etwas Patroniſierendes. 

„Liebe Frau Wagner, immer friſch, immer 
thätig und rührig, Sie fieht man nid 
anders!” 

„Da, wie joll man denn fonft die Stunden 
binbringen, Frau Inſpektorin? Ich bin nidt 
ſo aufgezogen, zwiſchen Büchern und gelehrten 
Dingen. Wir mußten ran an 'n Haushalt 
und die Zandwirtichaft; vier Scheitern war'n 
wir; daß ihr mal vor eurem zulünftigen 
Manne beftehen könnt, fagten Pater und 
Mutter immer.” 

Mile ift wieder zurüd und hält einen Teller 
in der Rechten und führt mit der Linken 
bereit3 ein Stück Kuden zum Munde. Sie 
bolt Atem nad) dem erften Träftigen Biſſen. 

„Komiſch, fürn Mann, den man nidt 
fennt, aufgezogen und ausgeftattet zu werben,” 
ſagt fie. 

„Smilie!” vermweift ihre Mutter. 

„Komiſch — doch, doch!” beharrt das 
junge Ding. „So, wie 'ne Ware. Hab ich 
nicht recht, Fritz?“ 

„Gewiſſermaßen!“ beſtätigt der. „Dem 
Mädchen bleibt aber immer die Wahl —“ 

„Ach, Unſinn! Tante Wagner, ſag mal, 
haben dir deine Eltern, wolln mal ſagen, dein 
Vater, viel Wahl gelaſſen?“ Sie beugt den 
Oberkörper zurück, die Hände in die Seiten 
ſtemmend. 

„Emilie!“ 

„Na, man muß ſich doch bilden, Tante —“ 

Die blauen Augen der Matrone nehmen 
einen ſonderbaren Ausdruck an. „Viel Wahl, 
Kind? Ja, was ſoll ich da antworten? An 
einem Sonntagmorgen kam Konrad Wagner 
nach der Aumühle zu meinem Vater. Ich war 
eben im Sonntagskleid, zwei Schweſtern in 
der Kirche, die andern in der Küche. Soweit 
war ich mit allem fertig, daß ich eben noch 
Sand auf die Diele ſtreute. Dazumal kannte 


— — — 


Der Einzige. 


581 


man’3 nid) beſſer und war's fein — heute ſoll's Hand über die andere — „ja — fo war's, 


nich mehr fein. Ich bleib aber bei meiner 
alten Gewohnheit und bei den weißgefcheuerten 
Dielen aud.” 

„Aber fo laß doch!” ruft Mile, „erzähl’ 
doch weiter — fo was hör ich gar zu gern, 
Tante!” 

Ein feltfamer Schein liegt über dem Ge- 
fiht von Fritzens Mutter. „So'n bißchen 
kannt' ich ja wohl Wagners Konrad, den. fie 
‚den Oberflaufen‘ dazumals nannten, aber er 
batte fo mas — 'n Bittſchen Angft hatt ich 
vorm. ‚Morgen, Jungjerchen‘, fagt er, ‚melde 
i8 es benn eigentlich von dem Aleeblatt?‘ ‚Sch 
bin doch Nettchen‘, und ich ärgerte mich, weil 
daß ih ja fühlte, daß ich rot wurde. Un 
denn ging er rein und id war mit'm Sand 
fertig und lief raus in Garten, wo id bie 
Kirhengloden hören konnte. Das hatt’ ich 
gerne. Dann machte mein Vater plöglih das 
Fenſter auf und rief: ‚Antonette" Wenn er 
Antonette fagte, dann hatte er was Befonberes, 
dann war er hochdeutſch. Denn vors allge 
meine wurde Platt in der Aumühle gefprochen. 
Un richtig war's fo. ‚Der junge Mann, 
Konrad Wagner, will dich zur Frau — un 
ich fag’ Ja und Amen‘ fagte Vater. 


Un diesmal wurde ich noch heißer, fudte ! 
Konrad an, konnt's aber nich ordentlich, und 


dann faßte er mi an der Hand. 

Wolln's mit einander verfuhen, was, 
Jungfer Netthen?‘ Ob ich überhaupt etwas 
geantwortet habe, weiß ich heute noch nicht. 
Co mas, das feinen Widerſpruch leidet, hat 
Frigen fein Vater damals ſchon gehabt. 
am Abend, als ich'n auf 'n Weg brachte, fagte 
er: ‚Das mußt ic ja beftimmt, daß heute 
eine Aumüllerfhe mid an’ Schlagbaum 


Un; 


' 





bringen müßte — ganz gewiß. Cine von . 


den vieren.‘ 
‚Un tie famft du auf mid? fragte ic. 


‚Weil du mir in den Weg liefft und fo rot ; 


wurdeſt.“ 

‚Wenn nun eine von den andern — da 
geweſen wäre?‘ 

‚So ginge bie vielleicht mit mir; wer fann’3 
wiſſen? Aber, mir bift du recht gelommen, 
die Reputierlichfte, das bift du doch von allen. 
Das habe ich nun hinterher gefehen!“” 

Sie fenkt die Blide und ftreicht mit der einen 


Mile. Nich wie in Büchern mit Liebes» 
geihichten, wo fie viele Worte machen. Das 
war bazumal unter unfereinen nid Mode.“ 

„Sie haben ja nun auch Glüd mit einander 
gehabt — viel vorwärts gebracht”, fällt die 
Inſpeltorin ein, die inzwiſchen ſich den Kuchen 
bat ſchmeden laſſen. Mile hat das Eſſen ver- 
geflen; fie hörte mit vorgeſtredtem Stöpfchen 
zu und fagt jetzt: „Viel freie Wahl war das 
freilich nicht, Wagner? Tante. Aber, dazumal 
waren es auch andre Zeiten. Was, Frig, wir 
— wir machen es ſchon nicht mehr fo. Wir 
wollen gründlich gefragt fein, oder beſſer noch, 
wir wählen ganz alleine.” 

„Ja, das — ja, dad!” erwidert er ver⸗ 
legen. 

Mile achtet nicht darauf, fie beißt jegt mit 
verboppeltem Appetit in ben Biviebelluchen. 
„Prachtvoll, Mama, der ſchmedt anders, ala—" 
Ein Blid der Mutter unterbricht fie. „Frau 
Holzherr kann in gefülte Vorratsſchubladen 


{ faffen, bei ſolchem Anweſen. Eine Witwe — 


als mein feliger Mann noch lebte, — er war 


; fo gut und ich mar glüdli mit ihm, auch 


ohne fogenannten Reichtum”, fpricht die Witwe 
mit Würde. „Ich bin und war ihm fo dankbar!” 

Und das ift wahr, fie hat es ihm jeden Tag 
gedankt, daß er fie aus unerquidlicher Gouver⸗ 
nantenabhängigfeit befreite. eine Launen 
und Grillen hat fie gebuldig ertragen. Nun 
ift ihre Hauptforge ihr Kind. Was foll ein- 
mal mit dem gefchehen? Lernen that Mile 
ungleich; ihr Kopf ift hell, ihre Finger find 
geſchidt, und eine unbändige Lebensluſt figt 
in ihr. Cie arbeiten für ein Tapifferiegefchäft 
in Hannover. Ein fehmaler Verdienft — aber 
doch eine Meine Zubuße. Und den Damen des 
Ortes fagt Frau Ditilie Zehfe: „Was fol’n ein 
paar Frauen mit ihrer vielen Zeit anfangen? 
Man Tann fi doch nicht mehr nützlich machen, 
wie zu Lebzeiten meines lieben, feligen 
Mannes!" 

„Sie müſſen noch ein paar Stüd Butter- 
fuchen mitnehmen“, behauptet Frau Wagner, 
„morgen früh zum Kaffee | hmedt er noch gut“, 


‚ und biesmal läuft fie gleich felber, auf den 


ſchwachen Widerſpruch nicht achten. 
„Ihre Mutter ift fo gutherzig und aufs 
merfjam”, fagt die Witwe. 
u* 


—- -—r 


582 Der Einzige. 


„Sa, ja”, meint Frist, der Mile anficht, 
die mit einer Gerte, die auf der Bank lag, 
drei vorüberfchnatternde Gänfe antreibt. 

Frau Wagner bringt ein Packet beraus 
und legt es in Miles Hände. „Nein, 
wenn Eie’3 denn ſchon wollen, Tiebe Frau 
Holzherr, dann trag ich's befjer felber. Sie 
läßt es plößlich fallen, wenn ihr irgend etwas 
in den Weg läuft. Der Wildfang!“ 

„Ad, fie ift ja doch noch fo jung!” 

„Komm bald wieder, Mile!” fagt der 
franfe, junge Menſch bittend, und feine großen 
Augen glänzen. 

„Natürlich!“ 

Ein Weilchen blicken Mutter und Sohn 
den Gehenden nach. Mile muß ſelbſtverſtänd⸗ 
lich oben auf dem Damm hinhupfen und den 
Fiſchen in dem klaren Bache zuſehn. Man 
hört ſie lachen. Die rundliche Geſtalt der 
Inſpektorin bewegt ſich behutſam unten. 

„Ja, ja!“ ſagt Frau Wagner. 

„Was, Mutter?“ 

„Denk ſo vor mich hin! Ein artig 
Kind! Bißchen luſtig, giebt ſich aber mit'n 
Jahren!“ 

„Iſt das nicht ſchön, ſo fröhlich ſein 
können?“ fragt Fritz. „Mich freut's immer, 
ſieh, wenn ſie ſo da is —“ 

Die Frau ſteht auf und ſtreicht ihm zwei⸗ 
mal über den blonden Kopf und ſtreift den 
Himmel mit dem Blick, juſt über dem Haus: 
dach drüben, wo die zerflatternden Wolfen die 
Bläue freilaffen. 

„Ja, min Junge, min Sunge, haft recht, 
baft ganz recht —“ 

„Fiſchlein im Haren Bach!” zmwitfchert Mile 
Zehfe vor ſich hin. 

„Kind, fing’ doch nicht auf der Straße!“ 

„Ad jo — na, wenn's nit fein foll — 
Oh je!“ und fie büdt fih. „Das ift ein 
Prachtkerl — du komm mal bierber! Wie 
heißt du denn? Diana? Blig? Schnell? — 
niht? — willſt au nicht?“ 

Der braune Hühnerhund mit dem weißen 
Stirnfled fteht und fieht fie an. 

„Mamchen, wem mag der Hund gehören? 
Bielleicht dem neuen Forſtkandidaten?“ 

„Iſt doch völlig gleichgiltig !” 

„Mir nicht! Sch kenne alle Hunde in 
Blumerode.” 


„Fritz Wagner fieht wohler aus!” fagt vie 
Inſpektorin. 

„Findeſt du? Der arme Kerl! Und wie 
konnte der früher laufen!“ 

„Das braucht man nicht fürs Leben!“ 

„Aber — doch ſeine Geſundheit!“ 

„Mit zarter Geſundheit kann man auch 
alt werden. Mit liebevoller Pflege — Pater 
war auch viel leidend.” 

„Ich glaube — ich bleib dabei: Nur 
Iuftige Kameraden braudt man bazu. Schade 
um den Fritz!“ 

„Du läßt ihn das doch nicht fühlen?“ 

„Wie werd’ ich denn! Das märe ja 
roh. Uber, ich meine, er fühlt es zuweilen! 
Er gudt mir oft fo traurig nad.” 

„Laß ihn das nie fühlen! Die Wagners 
find prächtige Leute! Mir lieber ald die ganze 
erite Geſellſchaft.“ 

„Das ftimmt!” 

„Und der Befis! So viel hat er zum 
Bermögen der Frau erworben, auch glüdlich 
Ipefuliert. Der fünnte Blumerode auflaufen.” 

„So! na —“ Mile fieht einer auf: 
flatternden Taube nad), „denn kann er ja 
mal Fürft von Blumerode werden und Fritz 
fein Thronfolger!” 

„Immer Allotria! Fri — wird eine 
Bartie fein. Den nimmt jede aus dem 
Honoratiorenftand in Blumerode und fonft mo 
ber, kann ich dir fagen. Darauf gebe ich jede 
Mette ein. Unter den Honoratioren find ja 
auch feine Bartieen — nidht eine! Die beiden 
Meferendare gehen jicher unverlobt weg, und 
der junge Arzt und der Apotbefer follen im 
Stillen fchon gebunden fein, wer bleibt denn 
noch?” 

„Kann mir doch wirklich ganz egal fein.“ 

Frau Zehſe ſeufzt. „Mädchen!“ 

„Ich hab noch Zeit.“ Sie bleibt plötzlich 
ftehn. „Übrigens, der Fritz nimmt feine von 
allen, die du im Sinne haft. Da fchneiden 
fie fich, die Mädchen!” 

„Woher weißt du das?” 

„Weil er fie nicht ausftehen kann!“ 

Wie ein Seufzer der Erleichterung kommt 
e8 von den Lippen ber Frau „Hm! eine 
Partie, eine rechte Partie, das ift er. Und 
fein Vater kann's mit allen aufnehmen an 


ı Bildung und feine Mutter, eine Seele” —. 














Der Einzige. 


„Aber wiflen mir doch Althen. Du 
findeft ja heute fein Ende. Sieh, da kommt 
der Heine, dicke Männe, Männchen von Paſtors. 
Hier, hier, lauf mal her, Männe!“ Sie kniet 
nieder und breitet die Arme aus. Und das 
Kind läuft jauchzend hinein. 


Sonntagsglocken! Sie haben einen etwas 
blechernen Ton, aber Fritz Wagner liebt ſie 
doch. Er hat ſich in Göttingen, wo er auf 
der Schule war, bei dem vollen Geläut immer 
nach den dünnern Klängen der Heimatsglocken 
gefehnt. Damit fam ihm allemal das liche 
Gefiht der Mutter, ihr fanftes Reben, ihre 
forgende Hand in den Einn, und er roh 
fürmlid den Blumenduft aus dem Garten. 
An Heimweh hat er immer gekrankt. Nicht 
nad dem Vater, das kann er fidh nicht vor= 
lügen. Der ift ihm fo fremd geivefen mit 
feiner aufrechten Haltung, dem Ausbrud 
robufter Gefunbheit, dem leichten Spott, ber 
ihm fo oft wehe that. Auch jegt, wo fie feit 
feiner ſchweren Krankheit nun lange zufammen 
gelebt haben, find fie einander fremb geblieben. 
So verſchieden — ja, das iſt's. Nicht böfer 
Wille von ihmen beiden. Wie follte ber 
zwiſchen Vater und Kind fein. Nur ver 
ſchieden. Frig figt wieder im Sonnenfhein 
auf der Bank; ehe die Mutter, feierlih in 
ihrem ſchwarzſeidenen Kleide, in die Kirche 
ging, hat fie ihn ſorglich verpadt. Ein Stoß 
illuftrierter Samilienzeitungen liegt neben ihm, 
fie hat fie auch herausgefchleppt. 

„Mußt mid nicht fo verwöhnen!“ 

„Sat man, Jung! Was fann id denn 
fonft viel für dich thun? Biſt doch ſchon fo 
viel Hüger als ich.” 

In ihrem Geſangbuch ftedt ein winziger 
Strauß von Schneeglödchen, die er ihr gepflüdt 
hat. Wie fie an ihn denfen wird in ber 
Kirche, wie fie ihr volles Herz bittend aus— 
ſchutten wird vor dem lieben Herrgott — das 
weiß er ja. 

Mile figt ihr natürlich gegenüber auf ber 
jenfeitigen Empore. 

Wenn die den Kirchenſtuhl aufſchließt und 
bereinhufcht, das iſt — na ja, er meint, ber 
Schlüffel kreiſcht ſchon anders in ihren Heinen, 





538 


tändelnden Fingern. Mit geneigtem Köpfchen 
betet fie, aber dann wuppt das fchnell in die 
Höhe und fie muftert die Gemeinde oben und 
unten und weiß hinterher ganz genau, mas 
für Kleider die Damen anhatten und ob ber 
alte Kantor vorfang oder der neue Rektor, und 
wenn fie aud nad dem Gefange den alten 
Herrn Superintendenten fehr ftandhaft auf 
der Kanzel anfieht, ob nicht die Gebanten 
binter der weißen Etirn abivippen vom Thema? 
— ja, die Heine Bachſtelze — 

„Nu kuck einer den Jungen, der is ja nu 
wohl ganz verträumt!“ 

Sein Vater fagt es und fteht vor ihm 
mit dem Bürgermeifter und dem Sanitätsrat 
Bord. 

„Dieſe ganze Romanwirtſchaft in den gelben 
Büchern da neben fi und träumt am frühen 
Morgen!” 

Konrad Wagner ift fehr groß, breitfhultrig, 
fein bartlofes Geſicht ift ſcharf gefchnitten. 
Kluge, graue Augen fehen unter buſchigen 
Brauen hervor, das Haar ift leicht ergraut; 
die Lippen, etivad breit und mulftig, paſſen 
nicht recht zu Stirn und Nafe, der Naden iſt 
wuchtig; die Stimme Hingt tief. 

Der Sanitätsrat ift ein ſchlanker, eleganter 
Mann. Er ift gefleivet, als käme er cben aus 
einer Großſtadt. Zivifhen den Fingern hält 
er einen Stod mit goldenem Griff, den er zu 
halber Schulterhöhe emporgehoben hat,. Eitte 
vergangener Jahrzehnte. Sein Kopf hat etwas 
Goetheſches; um den Mund liegt ein leichter, 
ſarlaſtiſcher Zug. 

Der Heine Major a. D., der zwiſchen ben 
beiden fteht, kommt ſchlecht weg mit feiner 
unterfeßten, behäbigen Figur beim Vergleich. 
Er hat braune, unruhige, lebensluftige Augen, 
einen riefigen, mohlgepflegten Schnurrbart, 
und bie vollſte Gutmütigfeit läßt fih aus 
feinen Zügen leſen. 

Guten Morgen, Herr Sanitätsrat! Guten 
Morgen, Herr Major! Vater, ja, wir haben 
uns auch nody nicht geſehn!“ fagt Fritz, einen 
Anflug von Nöte in feinem mädchenhaften 
Geſicht. 

„Daß ſo'n junger Menſch das nur aus— 
fprehen mag. War noch in’n Federn, als ich 
"raus ging. Was, ein ſchöner Morgenfpazier: 
gang auf die Eleonorenhöhe, Herr Major?” 


534 Der Einzige. 


„sa! ja, Freund und Gönner! Aber, 
'rumgefchleppt haben Sie mich tüchtig.” 

Der Sanitätsrat lächelt. „Warum find 
Sie aud) ‚Verfhönerungsvereinler und woll'n 
abfolut 'nen Kurort aus Blumerode machen? 
Sie willen, ih bin nicht dafür. Was fol’n 
wir mit Fremden in unferm Drt? Laſſen Eie 
und die boch vom Leibe!” 

„Aber hör'n Sie, hör'n Sie, mein teurer 
Herr, man will doch, daß dem Orte aufge: 
bolfen wird. Das ift der einzige Weg. Darin 
jtimmt mir mein lieber Holzherr Wagner bei.“ 

„Sollte auch gefcheiter fein, der Konrad 
Wagner,” brummt ber Arzt. „Haben mir ung 
bier nich’ immer gut befunden, he?” 

„Rur, aber... .” 

„Bleiben Sie mir alle beide mit ihren 
Volksbeglückungsideen vom Leibe. Was kommt 
dabei raus? Die Leute fpefulieren auf leichten 
Sommerverdienſt und arbeiten noch meniger 
ala bisher. Das faule Gefindel, na —“ 
Dann feßt er fich neben den jungen Menſchen. 

„Siehft zwar aus, als haft du's nid) 
nötig, daß man fragt, mein unge. Aber 
lag’ mal, wie iS e3 denn fo im allgemeinen? 
Appetit? Lebensluft? Das ift die Haupt: 
ſache. Na, wird fi) maden! Wird fi 
machen!” 

„zebensluft,” Träht der Kleine Major, „da 
haben Sie ein rechtes Wort gejagt. Freude 
an allem muß man haben, jeh’n Sie! An 
der lieben Früblingsfonne, die nun wieder zu 
icheinen beginnt, an den Beilchen, dem Vogel: 
gezmoitfcher, den Tpielenden Kindern und den 
lieben, bübfchen, kleinen Mädchen, die da durch 
die liebe Welt laufen —” 

„Hm! ja!” wirft der Sanitätsrat troden 
ein, „man jagt ja hier bereits fchon, daß Eie 
die haben.“ 

„sm allgemeinen, ganz im allgemeinen,“ 
beeilt fih Herr von Müller zu fagen. „Und 
Dankbarkeit muß man dazu empfinden auf 
diefer lieben Gotteswelt. Seh'n Eie, ich bin 
eine beicheidene Natur, ich freue mich im 
Winter, daß ich warm unter Dad und Fadı 
bin, daß ich meinen wohlſchmeckenden Kaffee 
trinten kann, ohne Eorgen, daß ich jet hier 
bin und zu thun habe.” 

„Den Beigefhmad wird Ihnen die liebe, 
nic zufriedene Gemeinde fchon dazu ftiften. 


Mas, Holder? Marten Sie'3 man ab. 
Aber nun red’ du mal, Jrig, mein Sohn!“ 

„Der!“ Wagner verzieht die dicken Lippen. 
„Das ift ne Jugend! In Deden und Kijien, 
jtatt über alle Zäune. Un wie 'ne zimperliche 
Sungfer, ftatt hinter allen Mädchen berzu- 
laufen, wie’3 den Jahren zufommt. Herr, bu 
meine Güte, wie war da unfereiner. Zwiſchen 
Meizen und Korn, zwifchen Heden und Tim 
— zwiſchen Bäumen und Gras‘ — 

„Ra ja, na jal” begütigt der Sanitätsrat, 
„Ihre Stiernatur hat der Frig nun freilid 
nicht mitbefommen, aber doch 'ne ganze Menge 
guter Eigenſchaften. Das laffen Sie mir nur, 
das — Fri, wir fpringen auch noch über 
Helden und Zäune, wenn du wieder gejund 
biſt.“ 

„Wenn, wenn! Man hat nur den Ein— 
zigen und wollte was daraus machen und ließ 
ſich auch gut an. Dann plötzlich: wird nicht 
ſtudieren können! ſagen die Herrn Ärzte; wird 
nicht ſtudieren können. Und hab's doch gut mit 
ihm vorgehabt. Was ſoll denn nu daraus 
werden? Ein Bäcker, wie ſein Vater? Der 
wird den Mehlſtaub und die Badofenhitze 
aud nicht vertragen können, was dann alfo, 
was dann?” 

Fritz ſchiebt an feinen Deden; er Scheint 
mit dem Entſchluß zu kämpfen, den Plaß 
unter der Linde zu verlaffen und doc den 
Mut nicht zu finden. 

Der Eanitätsrat faßt ihn unter dem Arm. 

„Ra, Wagner, mit dem Bäder, da fpielen 
Sie fih nur nicht groß auf. Von Haus aus 
waren Sie das wohl, aber gewandert find Eie 
nid; und bann, ald Sie in Hannover in 'ne 
Feinbäckerei reingegudt haben, erden Sie 
fih auch nicht zu weh gethan haben. Wer'n 
Bäder iS wie Sie mit den drei Heiligen: 
Goethe, Heine und Beranger, der, na, aus 
echtem Teig i8 der auch nich gebaden.” 

Konrad Wagner lat von Herzen; halb 
bat fich feine Eitelfeit bei der Strafprebigt 
gefchmeichelt gefühlt. 

„Freilich, gut gejagt, nur ſollt eine Krähe 
— Na, Eie wilfen fhon, Herr Sanitätsrat! 
Sch bin auch 'n bißchen aus bem Häuschen. 
Geftern abend ift Frau von Lieven noch bei 
meiner Frau geweſen und bat ihr bie 
Ohren voll geſchwatzt. Den ungen hätten 





Der Einzige. 


wir nad der — Na, Frig, deine Mutter 
hatte es natürlich nid; behalten, was hat der 
Irrwiſch für eine füblihe Gegend genannt?” 

Die Riviera, Vater!” 

„Alſo dahin hätten wir ihn ſchiden follen, 
ftatt ihn den harten Winter am Harz durch⸗ 
machen zu lafien. Das Weib liegt ja immer 
auf ber Eifenbahn. Na, Sie kennen meine 
Frau; ihr einziger Junge! Meiner i® er doch 
am Ende auf. Un mas für Hoffnungen 
babe ich darauf geſetzt!“ 

„Hm! Mit der Riviera, lieber Wagner, 
da hätte ſich unfer Fritz höchſt unglüdlich ger 
fühlt: aus allen Lebensgewohnheiten geriffen. 
Und die Frau hätten Sie doch wohl nicht 
mitgeſchickt ?“ 

„Bei Leibe nich! Ich will meine behagliche 
Häuslichkeit nicht geftört haben! Kein Ge— 
dante!” brauſt der Alte auf. 

Deshalb hab ich das auch weit von mir 
getviefen, Ihnen den Vorſchlag zu machen. 
Fritz iſt jung; er wird fih ſchon burd- 
beißen.” 

Der Arzt legt Fritz die Hand auf die 
Schulter. 

„Wenn er der Stärkſte nicht wird —“ 

„Ja, freilich! Das wird er nicht. Und 
— was ſoll ich denn aus ihm machen, frag 
ih Siet" 

Jetzt fteht Trip auf; er Mirft mit einer 


energiſchen Bewegung die Deden ab und geht . 


dem Haufe zu, und diesmal macht Bord feinen 
Verſuch, ihn zurüdzubalten. 

„Ich meine, das ift gegeben, Wagner”, 
fagt er ernſt. „Cie haben das fhöne Ans 
weſen; kaufen Sie dazu. Eie fönnen 'ne feine 
Grafſchaft ftiften. Fürs Bewirtſchaften wird 
feine Kraft reichen, notabene mit richtiger Hilfe. 
Und dann ne nette Frau dazu, lieber Holzberr, 
das liegt ja alles fo nah.” 

Ne reiche, meinen Sie, Herr Sanitätsrat?” 

„Ein paſſende zuerſt.“ 


Na ja! Vermögen paßt allerwegen hin. 
Du, Frig — ad) fo, der Menſch hat fi) davon 
gemacht.“ 

„Meinen Sie, es kann ihm angenehm 
ſein —“ 


„Ach, Unſinn! Krank is er doch nu mal. 
Und das hat er nich von mir!“ 
Bords Augen bliden ihn ſcharf an. 


} 





| fih Halb verbrannt im Dufel! 


“585 


„Von Ihrer Frau gewiß nicht. Ich habe 
mid ſorgſam erkundigt; auf Generationen 
hinaus ift die Zungenfrankheit nicht in ihrer 
Familie geweſen. Die Alten habe ich felber 
noch behandelt. Aber Ihre Mutter, Holzberr, 
die hatte Tuberleln. Sie farb ja aud früh. 
Sie brauchen alfo nicht viel zu fragen. Und 
daß Sie's mal erfahren, das ift am Ende gut.” 

Wagner macht mit feinen beiden Händen 
ein paar zudende Bewegungen, dann ballt er 
fie zu Fäuſten. Er ift einige Augenblide 
wortlos, und man hört das Plätſchern des 
Mühlgrabens, deutlich, Iuftig und bel. Dann 
fagt er: „So! Meine Mutter! Ich habe 
feine Frauensperfon auf der Welt fo lieb ge- 
habt, wie die. Er heißt ja nad) ihr; fie hieß 
Friederike.“ 

Schweigen. Der Arzt ſteht auf. Dann 
fommt wieder bie alte, fefte Haltung über 
Konrad Wagner. 

„Die Herren trinfen nun ein Glas Wein 
bei mir!” 

„Ich nicht!” fagt Bord. „Ich muß noch 
zur alten Probftei und bann nad; meiner 
Freundin Schindermarie ins Armenhaus. Hat 
Morgen! 
Morgen!" Den Knopf des Etodes hebend, 
gebt er. 

„Er ift böfe,“ meint der Major. 

„Na ja, wenn man den einen Jungen hat 
und friegt lauter Querftrihe in feine Pläne, 
da foll man’3 noch nich mal fagen. Nor ihm 
zittert feine Familie und ih fol — Kommen 
Eie, Herr Major und Bürgermeifter!” 

„Wenn Sie's fo wollen, — ich bin nämlid) 
nad dem Spaziergang hungrig und durftig.” 

„Dafür wol’n wir auffommen.” 

„Und ih muß Ihnen eine Gefchichte er⸗ 
zählen, lieber Freund und Gönner — eine 


Gecſchichte! 'ne ſaftige! Is mir da bei Nizza 


eingefallen.” Er ftreicht feinen Schnurrbart. 
„Zie werben laden, Holzherr, ih fage 
Ihnen —“ und er lacht auch ſchon in ber 
Vorfreude hell und frähend. 

Fritz Wagner fieht die beiden lommen und 
verläßt das Wohnzimmer. 

Von der Schwelle der Hausthür her ruft 
der Holzherr mit ſchallender Stimme feine 
Befehle nad der Küche hinüber. „Anfahren: 
Schinken, Wurft, den famofen Harzläfe —“ 


536 ' Der Einzige. 


Eine dralle, blonde Magd in Eonntags: 
kleidung kommt auf die mit Sand überftreute, 
weißichwarzfliefige Diele. 

„Dann müßte ich um den Speifefammer: 
ichlüffel bitten, Herr Holzherr!“ 

„Allemal! Man rausgeholt!” 

Etwas befangen, fcheu nad dem fremden 
Herrn binüberblinzelnd, fommt Tine ange: 
trippelt und nimmt einen Schlüffel vom Hafen 
hinter der Thür. 

„Meine Frau is natürlich fromm. Eie 
macht's für und beide ab. Mit dem Herrn 
Superintendenten ſchwatz' ih gern eins unter 
der Linde, aber was er da drüben fagt —“ 

„Ein umgänglicher, freundlicher Herr,” lobt 
der Bürgermeifter. 

„Freilich, aber fehn Sie, wenn er auf 
feiner Kanzel das Weich alleine hat, da Tann 
ih doch nich’ mwiberfprechen. Un’ unfre An: 
ſichten deden ſich nid immer. Ja, in den 
Keller, und uns zu ’ner guten Flaſche Rot: 
sohn belfen muß ich nu felber. Setzen Sie 
einftieilen ’nen Zleinen Nordhäufer auf unfern 
Morgenfpaziergang; in die heiligen Hallen da 
unten laß ich fein Frauenzimmer. Ne, ne!“ 

Er läßt den Gaft voran und holt von dem 
Schrank eine Flafche, die er mitten auf den 
mit gebäfelter Dede belegten Tiſch vor dem 
Sofa ftelt. „Da is auch 'n Glas —” Er 
ſchenkt zwei Schnapsgläfer vol. „Proft! 
Proft!” beißt es gegenfeitig. 

Freundlich fcheint die Sonne in den ein: 
fachen, behaglihen Raum. Alte Schränfe, die 
Urgroßväterzeit gefeben, fteben bier und auf 
der Diele. Man treibt feine Antiquitäten- 
liebhaberei in Blumerobve, Konrad Wagner hat 
aber feine eigene von andern unverftandene 
Freude an dem verbunfelten Eichenholz mit 
der Schnigerei aus der biblifhen Geſchichte, 
an den eingelegten Sternen und dem leuchtenden 
Farbenſpiel der Eſchenwurzelſtühle, die mie 
Kutichen find, mit Leber bezogen, ebenjo das 
Sofa; weitbäuchige Rokokokomoden mit gelben 
Griffen, ein paar Ridinger an den Wänden, 
Goethe’ Kopf und Goethe in der Campagna 
nach Tifchbein, ein Bücherfchrant neuer Art. 
An dem einen Fenſter ift ein Nähtiſch, vor 
dem andern ein Stehpult. 

Der Major fieht zu, wie das Mädchen den 
Tiſch deckt, immer mit niebdergefchlagenen 


Augen und erhöhter Nöte auf den Baden; 
bie prallen, mohlgeformten, bloßen Arme find 
auch rot geworden. 

Auf den Fenſterbänken fteben Myrten⸗ 
bäumchen, eine blühende Calla und Geranien, 
alle mwohlgepflegt. 

Konrad Wagner fommt zurüd, zwei Flafchen 
im Arm. 

„Für den erften Durft!” fagt er. 

„Ah!“ macht der Gaft, die Marlke lefenb. 
„Ale Achtung!“ 

„5a, darauf halt ih. Was hat man benn 
viel in ſolchem Neft? Ein guter Trunf! Mit 
dem beizenden Tobak hab’ ich nichts im Sinn, 
— hm!“ 

Der Beine Major ift ganz aufgeregt, froh, 
daß er dem umjchriebenen Goethegedanken 
gegenüber Verftändnis bemeilen fann. Richt 
oft geht's ihm fo. 

„Hähä! Aber auch die Magd im Puß 
— ganz allerliebft.“ 

„sb, was Sie jagen. Die ift erft viegehn 
Tage da. Meine Frau bält fonft nicht viel 
von gut ausſehenden Frauenzimmern im Haufe 
— naja —“ es ift ein Schmunzeln um feine 
Mundwinkel. 

Sie ſetzen ſich. Tine kommt wieder, um 
den Käſe zu bringen. Es iſt alles gut ge⸗ 
ordnet, zierlich auf dem Tiſche. 

„So is recht,“ ſagt der Holzherr lobend. 

„Wie heißt du doch auch, mein Kind?“ 

„Tine!“ 

„Is gut, Tine! Werde es meiner Frau 
ſagen, daß du anſtellig biſt.“ Er zieht an 
dem Schürzenband, als ſie vorüber huſchen will. 

„Ne, mal dageblieben und Kopf hoch. 
So! das iſt doch'n Geſicht, das ſich ſehn 
laſſen kann. Woher find wir denn? he?“ 

„Loneburg!“ ſagt das verlegene Mädchen. 

„Un' da?“ 

„Ich bin doch dem Waldarbeiter Feiſt ſein 
Kind. Bei uns ſind neune und Mutter is 
tot. Un' Vater ſchon vor drei Jahren, und 
was mein Vormund is, der hat die Frau 
Holzherrn ſo gebeten, wenn ich was lernen 
ſollte, ſo könnt' ich's bloß hier, meint er. Erſt 
wollte ſie nich —“ 

„Wollte nich —“ Wagner nickt. „Na, 
das wird ihr gut gethan haben, die Aner⸗ 
kennung, ſchwatzen kannſt du ja ganz ornd'tlich, 


EEE rn VE EEE 





Der Einzige. 


immer bloß aufgezogen werben muß's Uhr: 
wert.” 

„3a, ja, ja, die Frauenzimmer!” ruft Herr 
von Müller Iuftig und zwinkert mit ben 
Augen. 

Die Schürze liegt am Boben. 
fee auf. 

„Herſagen babe ih immer gelonnt, ich 
bin beim Lehrer die Erfte geweſen un’ auch 
im Ronfirmandenunterridht.” 

„Hat dir denn auch ſchon wer gefagt, daß 
du niedlich bift?” 

„Ach ne, nee —” ftammelt fie. 

„Du — nid’ lügen, Tine!” 

„Wahrhaftigen Gott!” 

„Na denn, der Herr Bürgermeifter, ber 
hat es entbedt. Vor bem nimm did) man 
zufammen!” 

„Ih, ih, ih!“ kräht der. Das Mädchen 
huſcht hinaus; Wagner ladht, der Kleine droht 
ihm mit dem finger. 

„Sie Schwerenöter, Eie Schwerenöter. 
Aber, das is hier gemütlich, ne, wirklich! Ja” 
— ein Seufzer, — „ſo'ne Häuslichkeit ift am 
Ende das Wahre!” 

„30, wenn man es bequem haben will,” 


Tine rafft 


fagt Wagner und legt den mächtigen Kopf | 


gegen die Etubllehne, „denn muß man ſich 
bei Zeiten einrichten.” 

Die Meinen Augen fehn ihn ein wenig 
verftört an. 

„Sollte es denn — — meinen Cie denn, 
ſchon ein bißchen fpät für mid) fein? Ich 
denle jet nämlich feit einiger Zeit — ernſtlich 

„Sm! ja! Das nicht. Aber wenn 
man fih eine Frau eingewöhnen will, ſehn 
Sie, das ift wie mit den jungen Zugtieren. 
Zur rechten Zeit muß fie ’ran, daß fie noch 
unter feiner andern Hand hat ftörrig werden 
Tönnen. Wenn Eie heute, die Züngfte werden 
Eie ſchon aus Furt, daß fie über die Stränge 
ſchlägt, nicht nehmen — eine ein bißchen An- 
gejahrte friegen, die till fi nich' viel fagen 


a. 





SE 


* 


537 


laſſen. Und da i8 die Gefahr, daß Sie unter 
den Pantoffel kommen, Sie wiſſen nicht tie.” 

Herr von Müller drüdt die Augen zu: 
fammen. 

„Gewiß — ja, mein lieber Holzherr! 
Gewiß! Aber, wer mag fi) denn fo früh 
binden? Ich komme mir mit meinen neun 
undvierzig wahrhaftig noch jung vor. In der 
Ehe fehen Sie, da muß man fo feinen ge= 
meinfamen Weg gehn. Und ich leugne gar 
nicht, ic} habe bisher Freude an allen Blumen 
gehabt. An Treibhausblüten und Wald- und 
Wieſenblümchen — ja fehn Sie!“ Und er 
ſtreicht wohlgefällig fein gefärbtes Bärtchen. 

„So! ja! nu!“ Wagner ſchließt die Lippen 
und öffnet fie wieder. 

„Eine junge Frau zieht man ſich aud, 
wenn man felber jung und Iebenzluftig ift, 
am beften.” 

„So — hahaha! ja, Sie, lieber Holzherr, 
Sie! Man hat ja auch'n Glödchen ſchon 
läuten hören, feit man hier ift. Sie haben 
fih in jeder Beziehung Ihr Leben zurecht 
gemadt. Willen Eie, der Sanitätsrat aud) 
— ber aud. Und ich habe das fo gar nicht 
gewußt, wie man doch aufm Lande — — 
Ne, lauter Salomos hier — lauter Salomos!” 

„Meinen Sie?" Der Hausherr fieht Tine 
nad), wie fie raſch die vergefiene Pfefferbofe 
noch auf den Tiſch ftellt. 

„Nun langen Sie zu! 
ſchlachtete Ware.” 

„Behaglih! Appetitlih! Behaglich!“ Tobt 
der Major. 

„Drüben hat meine Frau ihr Allerheiligftes, 
ihre Staatsftube, zum Kaffeeflati natürlich. 
Mahagoni und Plüfchmöbel. Vor zehn Jahren, 
da beftand fie darauf. Man thut ja auch 
mal was zu Gefallen.” 

Er gießt die Gläfer voll, fie ftoßen an, 
der Major ſchlürft langſam, mit Kenner= 
miene. 

„Un' nu meine Gefdjichte, lieber Holzherr, 
nu paſſen Sie auf!” (Fortfegung folgt.) 


Alles felbft ge: 


638 


Hausinonſtrielle Frauenarbeit. 


Von 


Dr. Robert Wilbrandt. 


Nachdruck verboten. 


II. 


m vorigen Aufſatz babe ich einiges aus den Berichten der öſterreichiſchen k. f. 
Gewerbeinjpektoren über die Heimarbeit in Böhmen berausgeboben, um an 
‚go der Hand diefer amtlichen Darftelung ein Bild der bausinduftriellen Frauen: 
arbeit zu geben. Für Deutichland haben wir folche amtliche Erhebungen über die 
Lage der Heimarbeiter nicht. Sie find aber auch faum noch nötig, denn die wiſſen— 
Ichaftlichen Unterfuhungen des Vereins für Sozialpolitif über die Hausinduftrie in 
Deutfchland und Ofterreich fchildern und zuverläffig und gründlich diefe Zuftände in 
unferm Vaterland. Nicht mehr zeitraubende Erhebungen, fondern durchgreifende Reform 
erhoffen wir bier von der Regierung. 

Um wie viele Frauen und Mädchen es fich dabei handelt, ift nicht genau anzu: 
geben. „Denn Heimarbeit ift die Arbeitsform auch für alle diejenigen Arbeitsfräfte, 
die von der Statiftif überhaupt nicht erfaßt find.“ Dr. Alfred Weber, deffen Worte ich 
joeben anführte, in Deutfchland wohl der gründlichfte Kenner der Hauzinduflrie, hat daher 
die Statiftil, die und Hier im Stich läßt, durch Berechnungen zu ergänzen gejucht. 
Nach der Statiftif arbeiten rund 200 000 Frauen und rund 250 000 Männer in der 
Hausinduſtrie; aber mag jchon die Zahl der Männer thatfächlich etwas größer fein, 
weil mancher Heimarbeiter fich jchämt zu befennen, daß er in die Stellung des Haus: 
induftriellen herabgebrüdt ift, fo find die Heimarbeiterinnen, die der Statiftif entgehen, 
noch viel zahlreicher. Die Erwerbsarbeit der Ehefrauen bleibt der Statiftif überhaupt 
oft unfichtbar. Selbſt in der Hausmweberei, wo die Frau oft ebenfo viel arbeitet wie 
der Mann, entgeht fie leicht dem Auge der Statiftil. Und gar all die verichämten 
Heimarbeiterinnen, Frauen, Witwen und Töchter des Bürgerftandes, deren es in ber 
Berliner Konfektion allein 15 —20 000 giebt, erfcheinen natürlich nur als „Angehörige” 
oder „DBerufslofe” in der Statiftif. Man kann daher, ſehr gering rechnend, gegen 
60 000 heimliche Heimarbeiterinnen aus dem Bürgerftand in der Konfeltion und gegen 
100 000 jolche in der Hausinduftrie überhaupt annehmen; und man wird nicht zu 
boch greifen, wenn man die Zahl der Arbeiterfrauen, die als Heimarbeiterinnen der 
Statiftif entgangen find, auf 50—100 000 ſchätzt. Dem entiprechen auch ungefähr 
die Berechnungen von Dr. Weber, nach denen der Umfang der bausindujtriellen 
Frauenarbeit in Deutjchland faft doppelt fo groß ift als ihn die Statiſtik angiebt: 





Frauen in der Bekleidungshausindufttie . . . . 226 000 
„ „„ xertilbaußindufttie . . . . .  . 100000 
„nn Übrigen Haußinduftrie . . » » . 43000 


„nn „ Hausinduftrie überhaupt . . . . 369 000 








Hausinduſtrielle Frauenarbeit. 539 


Da die Heimarbeiterinnen, die der Statiftil entgehen, zum größten Teil verheiratete 
Frauen find, fo müffen wir zu den amtlich nachgetviefenen 36 000 Ehefrauen und 
34000 Witwen und geſchiedenen Frauen in der Hausinduftrie mindeſtens nod einmal 
fo viele hinzunehmen, fo daß ungefähr 150000, alfo /, aller hausinduftriellen 
Arbeiterinnen, verheiratet, verwitwet oder gejchieden find. Die Zahl ber Kinder diefer 
Frauen dürfen wir nun allerdings zu Hoch nicht fchägen; aber wenn nad) R. Martins 
Erhebungen bie verheirateten Fabrilarbeiterinnen, die trotz der Kinder in die Fabrik 
gehen, durchichnittlich jede ein Kind haben, fo können wir — übereinftimmend mit 
den Angaben von Gertrud Dyhrenfurth und Hans Grande — auf jede von dieſen 
Heimarbeiterinnen, die wegen der Kinder zu Haufe arbeiten, im Durchſchnit zwei 
Kinder rechnen. Soweit biefe 300 000 Kinder noch Mein oder im ſchulpflichtigen 
Alter find, bedürfen fie der Mutter. Die Zahl der Frauen, die durch die Kinder ans 
Haus gefeflelt find, ift alfo nicht gering; fie ift ungefähr fo groß, als bie Zahl ber 
Mütter, die in die Fabrik geben und bei denen daher die Kinder der Mutter 
beraubt find. 

Die Gefahr, da das sweating-system auch bei uns ſich noch weiter in den 
Voltzkörper hineinfrißt, ift nicht ausgeſchloſſen. Schon jetzt ift es im weiteſten Maße 
vorhanden. Vor allem die Großftadt mit ihrer anwachſenden Überzahl von Frauen 
und mit ihren beftändig. fteigenden Mieten if der Nährboden dafür. Die hohen 
Mietspreife zwingen Frauen und Töchter zum Miterwerben, fie erfchweren dem 
Unternehmer größere Werfflätten und machen ihm dadurch bie mietefparende Heim" . 
arbeit wertooll, fie drängen die KHeimarbeiter in die engflen Löcher zufanmen, in 
denen fie arbeiten, leben, fchlafen, kochen und — atmen müflen. Ohne es zu wollen, 
bat auch ber Staat durch die Fabrifgefege und die Arbeiterverfiherung die Haus: 
induftrie begünftigt: denn von diefen Laſten ift der Unternehmer in der Hausinbuftrie 
faft gänzlich frei — Freiheit ift hier fein goldenes Los, Freiheit von jeder Schranfe 
und jeber Pflicht. Das Unternehmerrifito Tiegt bier faft ganz auf dem Arbeiter: 
fobald die günftige Gefchäftszeit vorüber ift, wird er entlaflen, eine Fabrik, derent- 
wegen der Unternehmer weiter arbeiten ließe, ift ja nicht vorhanden. 

Ein Produkt der Großftadtentwidlung ift vor allem bie größte Frauenhaus- 
induftrie, die Konfektion. In Berlin allein befchäftigt fie 44000 Werkftattarbeiterinnen 
— in Zmifchenmeifterwerfflätten — und 25000 Heimarbeiterinnen. Der Groffift, 
fagt Grande, verdient am Stüd etwa 17 Prozent, der Detailift mindeftens 25 Prozent, 
bei beſonders eleganten Stüden bis zu 50 Prozent. Die Reklameſtücke, die ohne 
Profit verfchleudert werden, fpielen dem gegenüber keine Rolle. Die Händler find 
bier die Herren. Sic) der launiſchen Mode anfchmiegend, bat ihre Spekulation die 
Arbeitsfaifon in der Damentonfeltion auf 6 Monate zufammengedrängt. Drei bis 
vier Monate giebt die Arbeit nur noch unzureichenden Verdienft, zwei biß drei Monate 
find die Arbeiterinnen ganz ohne Arbeit. Die kurze, zufammengepreßte Arbeitzjaifon 
bewirkt natürlich eine um fo längere tägliche Arbeitszeit. Nach den Erhebungen der 
Reichskommiſſion für Arbeiterftatiftit umdb nad den Unterfuchungen von Grandte ift 
der Durchſchnittsjahre sverdienſt der Konfeltionsarbeiterinnen 3—400 Mark, der 
BWerkftattarbeiterinnen näher an 400, der Heimarbeiterinnen näher an 300 Mark. 

Der Grund für diefe Niebrigkeit der Löhne liegt zunächft in dem Überangebot 
von ungelernten weiblichen Arbeitskräften, und dann in der Unterbietung durch bie 
Haustöchter und Ehefrauen, ber Arbeiterfchaft ſowohl wie des Bürgerftandes; dieſe 


510 Hausinduſtrielle Frauenarbeit. 


juchen nur einen Nebenerwerb und find daher auch mit weniger Lohn zufrieden. Und 
da der großftädtifche Arbeiter durchfchnittlich 900 Mark Jahreslohn erhält, aber etwa 
1200 Mark zur Ernährung der Familie braucht, fo find es 3—400 Marl, die die 
Frau dazu verdienen muß; bis auf 3—400 Mark find daher die Löhne herunter⸗ 
gegangen, die alleinjtehenden aber können unmöglich davon leben. 

Teild um diefe „Lohndrüderinnen”, die heimarbeitenden Ehefrauen, 103 zu werben 
und die Organifation zu ermöglichen, teild wegen ber Scheußlichkeit ber „Schwig- 
buden”, in denen jeßt gearbeitet wird, verlangten bie Arbeiter 1896 die Errichtung 
von Betriebsmwerkftätten. Dieje Forderung, derentwegen fie den Streit begannen, trat 
aber dann ganz in den Hintergrund, die Lohnfrage wurde bie Hauptſache. Die 
Konfektionäre gingen anfangs fcheinbar auf die Verhandlungen ein, dann aber wurden 
fie wortbrüdig und kehrten fich nicht an den Schiedsſpruch des Gewerbegericht!, das 
einen brauchbaren Stüdlohntarif ausgearbeitet hatte. Die allgemeine Lohnerhöhung 
um 12!/; Prozent, die das Gewerbegericht feitfegte, wurde jchon dadurch umgangen, 
daß die Gejchäfte alle Lohnbücher einzogen und nur noch Lohnzettel außgaben: To 
machten fie die Kontrolle darüber, ob die Löhne wirklich erhöht wurden, von vornherein 
unmöglih. Zulegt wurden fie „ungefchminft wortbrüchig“ und erklärten den Mindeſt⸗ 
lohntarif des Gewerbegerichts, deſſen Schiedsſpruch fie fich unterworfen hatten, für 
nicht bindend. (H. Grandke, Schriften des Vereins für Sozialpolitif, Band 85, 
Seite 350). | 

Auch die andere Forderung der Arbeiterfchaft, die Errichtung von Betriebs⸗ 
werfitätten, würde für die Mehrzahl der Arbeiter und Arbeiterinnen ein großer Segen 
jein. Die Arbeitsjaifon würde durch die Betriebswerkftätten gleichmäßiger fiber das 
ganze Jahr ausgedehnt werben; unter Gewerbeaufficht, in geregelter Arbeitszeit, in 
gefunden, Iuftigen Räumen und mit motorifcher Kraft würde die Arbeit geſchehen, die 
jest die Nächte durch in „Werkftätten” und „Wohnräumen“ gethban wird, die den 
Maren eine jolche Luft mitteilen, daß beim Öffnen der von den Heimarbeitern abge: 
lieferten Bündel unerträgliche Dünfte auffteigen. Eine folche „Werkſtätte“, möchte ich 
als Beijpiel anführen. Da „Ichläft die ganze Familie, die Frau, der lungenkranke 
Mann und drei Kinder, in der als Arbeitsraum benupten Küche, weil da Zimmer 
an Schlafgänger abvermietet ift.“ 

Auch die große Gefahr der Übertragung von anftedenden Krankheiten auf die 
Käufer der Kleider würde durch Betriebsmerkftätten fehr verringert werden. Aber am 
Mohnungdelend würden fie menig ändern. Nur durch ftäbtifche Boden: und Baus 
politit im Sinne der Bodenreform und durch höhere Löhne, die es den Arbeitern 
möglich machen, eine menjchenwürdige Wohnung zu bezahlen, kann das gebeflert werden. 
Überhaupt tritt immer der Lohn wieder an die erfte Stelle. Denn die Mütter mit 
Kindern, die ja einen großen Teil der bausinbuftriellen Arbeiterinnen ausmachen, 
wollen felbitverftändlich von Betriebswerkſtätten nichts wiſſen. 

Betrachten wir noch die Löhne diefer Heimarbeiterinnen in der Schürzens und 
Unterrod:, Blufen: und Tricotlonfektion nach der Darftelung von Gertrud Dyhrenfurth. 
Hier macht der Fabrifant einen Zufchlag von 33—50 Prozent, der Bazar oder ber 
Kleinhändler nimmt für ſich noch 20—50 Prozent, ſodaß eine Schürze, die der Käufer 
mit 3 Mark bezahlt, in der Herftellung 1,50 Mark koftet. Und die Löhne? Bei den 
billigften Unterröden, den fogenannten Bauerntöden, wird für dad Nähen von einem 
Dugend 45 Pig. bezahlt; mit Nachtarbeit kann die Arbeiterin 8—10 Dugend an 


Haudinduftriclle Frauenarbeit. 541 


einem Tage nähen, ihr Verdienſt iſt dann für dieſen Tag 2,40 Mark; allerdings muß 
fie ununterbrochen an der Mafchine fteppen, was die befannten Stepperinnenfrant: 
heiten, Unterleib3- und Frauenleiden u. |. mw. zur Folge bat, die die Stepperin nach 
wenigen Jahren erwerbsunfähig machen. Dennoch iſt's bei diefen billigften Unter 
töden günftiger als bei dem koftbarften, kunſtvoll gearbeiteten feidenen Unterrod: die 
Arbeiterin bekommt für das Nähen eines ſolchen 4 Mark, für Auslagen gehen 70 Pfg. 
ab, fie arbeitet daran anderthalb Tage, verdient alfo am Tag nur 2,20 Marl. Der 
Groffift verkauft diefen Unterrod für 60 Mark, der Arbeitslohn ift 4 Mark, alfo Y/ı, 
de3 Preifes; würde die Verdoppelung des Arbeitölohnes und fomit die Erhöhung des 
Preifes von 60 auf 64 Mark viel ausmachen bei der Kundfchaft, die folche feidene 
Unterröde kauft? Oder würde es die Induſtrie zerftören, wenn der Fabrifant ftatt 
33—50 Prozent und der Kleinhandler ftatt 20—50 Prozent etivad weniger in die 
Tafche fteden könnte? 

Bei den billigften Sachen ift der Arbeitslohn nur !/,, des Preiſes. Wenn für 
das Nähen von einem Dugend Röden ftatt 30 Pfg. ein Arbeitslohn von 50 Pig. 
gezahlt würde, fo daß die Frau ftatt 15 nur noch 9 Stunden täglich zu fteppen 
brauchte, jo würde die Käuferin bed Unterrods nur 1%, Pig. mehr zu bezahlen haben. 

Selbftverftändlich Handelt ſich's bei diefen Löhnen nur um Saifonverdienfte. 
Der jährliche Durchſchnittswochenverdienſt ift in diefer blühenden Induftrie 7—9, 
auch 3—5 Mark, Witwen mit Kindern, bie der Kinder wegen zu Haufe arbeiten, 
richten fi) dabei zu Grunde, denn für fih und die Kinder genug zu verdienen, den 
Haushalt und die Kinder zu beforgen, das fiberfteigt bei ſolchen Löhnen jede menfchliche 
Kraft. Und die Kinder, um derentwillen die Mütter bei dieſer Arbeit bleiben, werden 
mit zu Grunde gerichtet: denn bie Mutter, fieberhaft arbeitend, behält für ihre Pflege 
und Erziehung feinen freien Augenblid. Verwahrloſung und Schmuß ift trotz aller 
Aufopferung der Erfolg — Verwahrlofung und moralifher Schmug ift der Erfolg 
aud bei den übrigen Aleinftehenden: die Proftitution wird zur wirtſchaftlichen Not⸗ 
wenbigfeit, bei ben meiften in fühle Berechnung oder in Leichtfinn und Genußfucht, 
bei manchen in Verzweiflung. Die Kommiffion für Arbeiterftatiftit hat den optimiftifchen 
Ausfpruch gethan, daß fich befondere fittliche Mißſtande in der Konfektion nicht gezeigt 
hätten; dazu bemerkt Gertrud Dyhrenfurth, völlig übereinflimmend mit den Schilderungen 
von Grandke, daß diefer Ausſpruch nur dann zutreffe, wenn „der Nachbrud auf dem 
Wort ‚befondere‘ Liegen fol und man überzeugt ift, daß auch anderwärtd ein 
Zufammenhang zwifchen dem Kaufpreis der Arbeit und der Käuflichleit der Arbeiterin 
befteht.” „Laſſen Sie die Mädchen nur auf den Strich gehen, dann ſchaffen fie 
billige Mäntel”, dieſes topifche Wort eines Unternehmers ift aus ben Reichstags- 
verhandlungen befannt. Und damit die Konfeftionäre nicht zu viel Lohn zahlen 
möüffen, zahlt au die Armenverwaltung und die Wohlthätigfeit davon einen Teil. 

Den Verhältniffen der Berliner Konfeltion ähnlich, wenn nicht noch trauriger, 
find die in Breslau und Stettin. Ein viel günftigere® Bild bietet und die rheinifch- 
metfälifche Konfektion in Bielefeld, Herford u. |. w.; große moderne Fabriken, und 
an fie angefchlofien eine KHeimarbeiterfhaft von Frauen, die zu Haus bei ihren 
Kindern arbeiten und ohne Zmwifchenmeifter unmittelbar mit der Fabrik in Verbindung 
ftehen, Herftellung beſſerer Sachen und ausreichende Löhne — und das alles aus 
dem einfachen Grunde, weil dort die Nachfrage der Fabrifanten größer und das 
Angebot arbeitfuchender Frauen geringer ift. Überall aber, wo Maffen von Arbeitern 


542 Haudinduftrielle Frauenarbeit. 


fih bei einer von Männern betriebenen Induſtrie fammeln, entfteht das Überangebot 
weiblicher Arbeitskräfte. 

Diefe gropftäbtiiche Konfektion ift die größte, aber vielleicht noch nicht bie 
Ichlimmfte Hausinduftrie. Die zweitgrößte, die Tertilbausinduftrie, die hundert: 
taufend Frauen bejchäftigt, zeigt erfreuliche Ausnahmen in der Handmafcinenftriderei 
und in denjenigen Arten der Weberei, die durch ihre kunſtvollen Mufter der vernichtenden 
Konkurrenz der Mafchine entzogen find. Am übrigen aber ift das MWeberelend ja 
befannt; e8 ift noch Beute wie in Gerhart Hauptmanns Webern. 

Auch die feineren Teile der Tertilhausinduftrie, Stiderei, Spitzen- und Pofamenten: 
verfertigung, jelbit die befte Kunftitiderei, alle find fie dem allgemeinen Schidfal der 
Hausinduftrie verfallen: überall find die Löhne unmenſchlich niedrig, So ift es, mit 
geringen Ausnahmen, auch bei den vielen Zleineren Haußinduftrien, die man kaum 
ale aufzählen Tann. Lichtpunkte find die Wirkerei in Apolda und die Kartonage— 
beimarbeit in Lahr, abgejehen von der Ausnutzung der Kinder, die die „Lädlesfrauen“ 
in Lahr treiben. Die Kinderarbeit gehört überhaupt zum jcheußlichiten in ber Heim: 
arbeit. Bei den Schachtelmacherinnen in Schlefien müfjen die Kinder von früh 4 Uhr 
an mit an die Arbeit, und nad der Schule dann wieder bis zum Abend. Noch 
ärger ift es bei der Filetnäherei, und gar in der Sonneberger Spielmarenbausinduftrie: 
„Es ift kaum glaublich, daß an manchen Tagen, jo an den Freitagen der Sailon, 
vor dem Liefertag, die Kinder die ganze Nacht hindurch arbeiten muſſen“. „Da 
betrachten natürlich die Kinder die Unterrichtöftunden als Erholung und bemühen fich, 
in ihnen den verfäumten Schlaf wenigſtens teilweiſe nachzuholen.“ (Profeſſor Ehren: 
berg.) Auch bei der Cigarrenhausinduftrie iſt die Kinderarbeit ein Hauptübel. Im 
übrigen ift hier die Heimarbeit — abgefehen davon, daß bie Unternehmer fie als 
Mittel gegen die Arbeiterorganifation anivenden — vielfach ein nüglicher Erjag für 
die hinfiechende Hausweberei; und mit gewiſſen geſundheitlichen Beſchränkungen wäre 
fie zur Frauenhausinduftrie bejonderd geeignet. 

Auf al die übrigen Heimarbeiterinnen kleinerer Induſtrieen kann ich nicht 
mehr näher eingehen. Handſchuhmacherei und Fächermacherei, Schuhmwarenbeimarbeit, 
Kürfchnerei und Mütenmacherei, Perlkranzflechten, Dütenkleben, Kaffeeverlejen, Bern: 
fteinarbeit, Hafenhaarfchneiderei, die Induſtrien der Fünftlichen Blumen, der Hutfedern 
u. ſ. w. u. ſ. w. — es ift faum möglich, hier volljtändig zu fein. 

Das Mittel zur Abhilfe, das von mwohlmeinenden Leuten jo oft verlangt wird, 
die Ausdehnung der Arbeiterfchußgefege auf die Hausinduftrie, hat in England und 
Amerika, wo man ed damit verjucht Bat, völlig verfagt. Auch der Paragraph, um 
den jest bei uns geflritten wird, die Einſchränkung oder das Verbot des Mitnachhaufe: 
nehmend von Arbeit nad Beendigung der Werkitattarbeit ift in England in Geltung 
und bewirkt nichts weiter als fyftematifche Umgehung und allgemeinen Betrug. Das 
ift ganz natürlich, wenn man bungernden Arbeiterinnen verbietet, jo lange zu arbeiten, 
bis fie ſich halbwegs von ihrem Berdienft jatt eſſen können — ohne ihnen zu 
ermöglichen, in fürzerer Arbeitszeit das Nötige zu verdienen. Auch in den Vereinigten 
Staaten hat man jegt zehn Jahre lang mit Befchränfung der Arbeitszeit und hygieniſchen 
Vorschriften die traurigften Mißerfolge erzielt. Allerdings ift man dort vor allem auf 
bie Gefundheit des Faufenden Publikums bedacht; darin mürde man vielleicht etwas 
erreicht Haben, wenn diefe Gejeßgebung nicht von dem einzelnen Staaten ausginge, 
fo daß die verfeuchten Waren troß aller Maßregeln des einen Staat? aus bem 


Haußinduftrielle Frauenarbeit. 543 


Nachbarſtaat hereinfommen. Das Wichtigfte aber, die Lage der Heimarbeiterſchaft, 
ift unterdeffen nur immer ſchlimmer geworden. Nach Berichten amerifanifcher Fabrik: 
inſpeltoren ift fie noch zehnmal fcheußlicher als bei und. 

Ich muß e3 mir leider verfagen, bier auf die lehrreichen Mißerfolge der englifchen 
und ameritanifchen Heimarbeitsgeſetzgebung näher einzugehn. Sie beweilen aufs neue, 
was dem gefunden Menjchenverftand von vornherein Har ift: daß man Leuten, die 
in Meinen Werkftätten oder zu Haufe arbeiten, nicht gefeglich die Arbeitszeit vor- 
ſchreiben kann, weil die Kontrolle einfach unmöglich ift; und daß man fein Recht hat, 
Leute mit gefundheitlichen Vorſchriften zu peinigen, deren Lohn fo gering iſt, daß fie 
fie nicht befolgen können. 

Für jeden, der ſich eine andere Einwirkung des Staats als die auf die Arbeits: 
zeit und die Hygieine des Arbeitsraums nicht vorftellen kann, ift damit der Wunſch 
gegeben, daß die Heimarbeit und die Hausinduftrie in Heinen, unfontrollierbaren Werk: 
ftätten überhaupt befeitigt werde. Einschränkung oder Erſchwerung und zulegt das 
Verbot der Hausinduftrie ift daher die Forderung, bie nicht nur von ber Sozial: 
demokratie, fondern aud vom Arbeiterfchugfongreß in Zürich und von gründlichen 
Kennern der Hausinduftrie wie Beatrice Webb und Dr. Alfred Weber erhoben 
worden ift. 

Für die große Mehrzahl, Männer, unverbeiratete Frauen und arbeitende Kinder, 
würde allerdings, vor allem in der Stadt, die Befeitigung ber Hausinduftrie ein 
reiner Segen fein. Die verheirateten, gefchiedenen, cheverlaflenen oder verwitweten 
Frauen haben aber zum größten Teil wegen ihrer Kinder, wegen des kranken Mannes, 
wegen der Wirtfhaft und aus andern Gründen den Wunſch, zuhauſe zu arbeiten. 
Und gar die Frauen und Mädchen des Mittelftandes würden nichts als Nachteile 
haben, wenn man fie aus ihrer angenehmen Wohnung in die Betrieböwerfftatt zerrte. 
Bon den 230 000 Ehefrauen und Witwen, die in Fabriken arbeiten, würden auch 
viele lieber zu Haus bei ihren Kindern und bei ihrer Wirtſchaft ihr Brot verdienen, fo 
bald die Heimarbeit nicht fo ſchamlos ausgebeutet werden bürfte, als es jetzt gefchieht. 

Diefelben Urfachen, die den jegigen Zuftand in der Hausinduftrie herbeigeführt 
haben, machen es auch unmöglich, daß die Heimarbeiterfchaft fich felbft davon befreit. 
Sind fon die Männer in der Hausinduftrie durch ihre gedrüdte Lage und ihre 
Vereinzelung unfähig, ſich kräftig zu organifieren, fo fommen bei den Heimarbeiterinnen 
nun noch Gründe Hinzu, die es bei ihnen erft recht unmöglich machen. Abgefehen davon, 
daß ihre Arbeit meift keine gelernte ift, fo daß jede Arbeiterin leicht von unzähligen 
andern erfegt werden kann, wächſt dad Angebot weiblicher Arbeitskräfte vor allem in 
der Großftadt täglich mehr, und einerfeit® die Töchter und Frauen, die nur einen 
Nebenverbienft ſuchen, andererfeit die Mütter, die plöglih für die Familie forgen 
möüffen und nun Arbeit ſuchen um jeden Preis, „Arbeitöwillige” der traurigften Art, 
machen ein einheitliche® Vorgehen unmöglid. Der weibliche Charakter if überhaupt 
im allgemeinen mehr von der Familie als von dem Intereſſe des Berufs und der 
Allgemeinheit erfüllt. Die Familie, diefe Heimat der Frau, macht fie ald Arbeiterin 
unfähig zur Organifation. Gertrud Dyhrenfurth ift in einem Aufſatz, in dem fie 
über eine englifche Unterfuchung diefer Frage berichtet, zu demfelben Ergebnis gefommen. 
Am Schluß jagt fie: „Bisher hat man nur in Viktoria die Konfequenz daraus 
gezogen und in einigen der sweated trades die zwangsweiſe Organifation eingeführt. 
Vielleicht, daß wir in Deutfchland vermöge unferer ganzen gefchichtlihen Vergangen— 


544 Hausinduftrielle Frauenarbeit. 


heit eher als Eagland und Amerika zu einem ſtaatlichen Eingriff auch auf dieſem 
Gebiete kommen werden und daß, nachdem den organiſatoriſchen Kräften der Arbeiter: 
Ichaft freied Spiel gelaffen wurde, da, wo dieſe Kräfte nicht vorhanden oder nicht 
wirkſam jein können, eine obligatorische Organifationsform gejchaffen wird, in ber die 
Intereſſen der wirtichaftlihb Schwädhlten ihre Vertretung finden.” Dem fiimme id 
vollkommen zu. 

Der Gewerkverein der Heimarbeiterinnen für Kleider: und Wäſchekonfektion, 
der im vorigen Herbſt von chriftlich=jozialen Frauen begründet und ſeitdem 
auf 500 Mitglieder angewachlen ift, gewährt den SHeimarbeiterinnen verichiebene 
wirtfchaftliche Vorteile, auch Hat er die Ausdehnung der Krantenverficherung auf die 
Arbeiter der Berliner Hausinduftrie fräftig gefördert, troß des Entrüftungslärm3 der 
Konfektionäre über diefe „neue Belaftung und Beläftigung der Konfektionäre in Berlin“ 
aber erft an die Staatshilfe angelehnt wird dieſe Organifation ihren ganzen Wert 
offenbaren. Wenn der Staat auch bei un? mit gerechter, ftarfer Hand in die Lohn— 
feftfegung eingreift, jo wie er es in dem fozialen Mufterländchen Viktoria gethan bat, 
dann wird die Gewerkichaft die Kontrolle übernehmen, ohne die die Ausführung ber 
ftaatlichen Feſtſetzungen nicht zu verbürgen ifl, und dann wird auf dieſer feiten 
Grundlage vielleicht auch eine ftarfe Organilation daraus werben. 

„Angelicht8 der volllommenen SHilflofigkeit der hausinduftriellen Perjonen zu 
erwarten, daß dieje Leute auf dem Wege der Selbithilfe ihre Lage beflern, daß ift Utopie. 
Sch bin der Meinung, daß man bier durch irgend welche autoritäre Organe, Staat oder 
Gemeinde, in Verbindung mit Unternehmern und Arbeitern Mindeftlöhne für die in 
dem betreffenden Bezirke produzierten Waren aufftellen follte.” (Prof. Philippovich.) 
Ähnliche Gedanken vertritt jchon lange Profefior Schmoller, und fehr nahe flieht dem 
auch der Borichlag von Prof. Brentano, die Heimarbeiter zwangsweiſe zu organifieren. 

Die Einrichtung, an die wir bei und zur Verwirklichung ſolcher Gedanken 
anzufnüpfen bätten, ſcheint mir das Gemwerbegericht als Einigungsamt zu fein. Won 
Sahr zu Jahr bat es ſich mehr bewährt und das allgemeine Vertrauen erworben. 
Mit zwei Befugniffen müßte es für feine neue Aufgabe ausgeftattet werden: einmal 
im allgemeinen mit der Befugnis, beide Parteien, Unternehmer und Arbeiter, zur 
Verhandlung vor dem Einigungsamt zu zwingen, auch wenn ed nur von der einen 
Seite angerufen wird; und zmweitend müßten die Mindeftftüdlöhne, deren Feſtſetzung 
e8 durch Zureden und nötigenfalls durch Schiedsſpruch herbeiführt, gefeßliche Kraft 
haben. Es müßte mit hohen Strafen belegt werden, geringere als diefe Mindeft: 
ftüflöhne zu zahlen. Die Erhöhung der Heimarbeitälöhne, die dadurch einträte, 
würde die Unternehmer veranlaffen, die Technik zu verbefjern, große Werkftätten ein: 
zurichten, Mafchinenkraft im großen anzuwenden; denn die Kraft der Stepperin, bie 
die Nähmaschine tritt, wäre dann nicht mehr billiger ala die Dampfkraftl. So würben 
durch die höheren Löhne ganz von jelbft zum großen Teil Betrieb3werfftätten und 
Fabriken an die Stelle der Hausinduſtrie treten; und man follte das, nach Dr. Webers 
Vorſchlag, in der Großftadt durch die Anlagen von Borortbahnen und auf dem Lande, 
namentlich im Gebirge, durch die Anlage von Kleinbahnen unterflügen: dadurch würde 
in den Vororten der Großftädte und auf den Gebirgen die Anlage von Fabriken er: 
möglicht. Wenn aber dann trogdem die Errichtung von Betriebswerkſtätten nicht recht 
vorwärts gebt, weil die Heimarbeit, ſelbſt wenn fie höher bezahlt ift als die Fabrik— 
arbeit, durch die Erſparnis an Miete, Beleuchtung u. f. w. für den Fabrilanten oft 








Haußinduftrielle Frauenarbeit. 545 


doch noch das Billigere ift, jo fann man dem @ewerbegericht als Einigungsamt die 
Befugnis geben, durch einen Schiedsſpruch mit gefeglicher Kraft auch die Herftellung 
von Betriebswerkftätten den Unternehmern aufzuerlegen. Das Geſetz, das dem 
Gewerbegericht diefe Befugnis gäbe, Könnte ihm zugleich vorfchreiben, daß es von ihr 
feinen Gebrauch zu machen babe in folgenden Fällen: 1. wenn bie Leute auf dem 
Lande zu weit von einander wohnen und daher vorziehen, zu Haus zu arbeiten, 
2. wenn ober foweit die Arbeiterinnen Witwen, verheiratete oder gefchiedene Frauen 
find, und 3. wenn der Unternehmer ſich verbürgt, daß die Räume, in benen für ihn 
gearbeitet wird, den gefundheitlichen Bedingungen entfprechen, die für Fabriken vor 
geichrieben find. Dieſer legte Fall wäre aljo der aller Heimarbeiterinnen oder Heim: 
arbeiter, die in ausreichender und angenehmer Wohnung arbeiten; beſonders alfo ber 
Frauen und Töchter des Bürgerftanded. Trifft der Gewerbeinfpeftor in dieſem leßten 
Fall trog der Bürgfchaft des Unternehmers Leute, die für ihn arbeiten, in vorfchrift: 
twidrigen Räumen, fo ift der Unternehmer dann fo zu beftrafen, wie wenn feine Fabrik 
den gefundpeitlichen Vorfchriften der Gewerbeordnung nicht entipricht. Für bie Fälle 
unter 1 und 2 gilt das natürlich nicht. Selbftverftändlich wäre der Zwang, daß der 
Unternehmer die Heimarbeiter regiftriert und Lohnbücher an fie ausgiebt, für das 
alles die Vorausfegung. 

An die Heimarbeit der Mütter wäre alfo eine andere Bedingung als die des 
Mindeſtlohns geknüpft. Wolte man dem Unternehmer Vorfchriften machen über die 
Heime, in benen fie arbeiten, fo würde man damit nicht® erreichen als indirekt diefe 
Ärmften zu peinigen. Ihre Wohnungen zu beffern, ift Sache der Wohnungs: und 
Bodenpolitit. Etwas beffer würden ihre Wohnungen ofnehin durch die Erhöhung der 
Löhne. Durch diefe würde auch ihre Arbeitszeit kürzer; und wenn einerfeit® durch 
die Betriebswerkftätten mit Mafchinenkraft, in die die große Mehrzahl der Heim— 
arbeiterfchaft allmählich übergeführt würde, die Nachfrage nach Arbeitern ſich verringern 
würde, fo würde andrerfeit3 jede Heimarbeiterin nur noch fo viel fürzere Zeit arbeiten, 
daß dadurch die Nachfrage nach Arbeitskräften wieder gefleigert und fomit die Löhne 
über die Mindeftftüdlöhne hinaus gehoben würden. 

Überhaupt Handelt es fi ja nur um Mindeftftüdlöhne: es bleibt der Arbeiter- 
Schaft jedes Geſchafts und jeder Gegend unbenommen, auf ihrer Grundlage ſich durch 
träftige Streits höhere Löhne als dieſe Mindeftlöhne zu erringen. Auch find es nur 
Mindeftftücklöhne, die ich vorſchlage; die Gefahr, die bei Mindeftzeitlöhnen befteht, 
daß bie weniger leiftungsfähigen Arbeiter brotlos werden, ift hier außgefchloffen. Für 
die Heimarbeit ift ja aud überhaupt nur Stüdlohn möglich. Anders wäre es bei 
dem Mindeſtlohn für die ungelernten Tagelöhner, wie ihn Dr. von Zwiedineck- 
Südenhorft vorfchlägt, der am Schluß feines kürzlich erfchienenen Buchs über „Lohn: 
politit und Lohntheorie” im übrigen zu derfelben Forderung kommt wie ich. Bei 
Mindeftftüi cklohnen aber find alle Bedenken hinfällig, auch das, ob fich bei wechfelnden 
Moden und vielerlei verfchiedenen Stüden Stüdlohntarife aufftellen laffen; die meiften 
englifchen Gewerkvereine beftehn auf Stüdlohn und ändern ihre ausführlichen Stüd- 
lohnliſten aljährlih. Aufmerkſamkeit erfordert allerdings die Höhe der Stüdlöhne; 
man kann die für Heimarbeit höher fegen als die für die Werlftatt, fo lange 
die Heimarbeit für den Unternehmer doch noch billiger bleibt als die der Werkſtatt: 
fegt man die Heimarbeitslöhne aber zu hoch an, fo befeitigt man, ohne es zu wollen, 
die Heimarbeit ganz und damit auch die der Mütter. 

35 


546 Hausinduftrielle Frauenarbeit. 


Eine Schiwierigfeit entfiebt auch dann, wenn eine Induſtrie fi nur mit un: 
menfchlich niedrigen Löhnen halten kann. Der Gewerberichter dürfte dann Doch nur 
ber Feſtſetzung ſolcher Mindeftlöhne zuftimmen, von denen die Arbeiterfhaft leben 
fann. Sft es der betroffenen Induſtrie nicht möglich, durch Erfindungen und Ber: 
befferung der Technik auch mit folchen Löhnen zu beftehen, dann möge der Mindelt- 
lohn ihr den Todesftoß verjegen. Mit Recht fagt Profeflor PHilippowih: „Hat eine 
Induſtrie, welche Außerlih Waren, thatfächlich aber vermöge der Bedingungen, unter 
denen fie die Waren berftellen ließ, Arbeit Gefundbeit, Stärke, Volkskraft 
erportiert, Anſpruch auf Schonung?” 

Ein Hindernid muß noch aus dem Meg geräumt werden: in Stadt und Land 
und in den großen und Heinen Städten ift das Leben verjchieden teuer, der Mindefllobn 
muß daher verjchieden hoch fein in verjchiedenen Gegenden; dabei aber muß vermieden 
werden, daß die höher gelohnten Plätze durch die niedriger gelohnten unterboten werden. 
Es ift daher eine Drganifation jede Gewerbes, für das Mindeftftüdlöhne feitgejegt 
werben fullen, über das ganze Reich Hin nötig. Arbeiter und Arbeitgeber müſſen 
Vertreter an einen Zentralpunkt jchiden, wo vor dem Gewerbegericht Mindeſtlöhne 
dieſes Gewerbes für ganz Deutjchland vereinbart werden. Für die verfchiebenen 
Gegenden werden zu dem allgemeinen Mindeftlohn Zufchläge feftgejegt, und bier ift 
vielleicht der Ausweg der englifchen Hutmacher gangbar, von dem das Ehepaar Webb 
in „Industrial democracy“ berichtet: der Unterichied der Preiſe für die ganze Lebens— 
baltung entjpricht ungefähr dem der Mieten; nach diefen, deren Durchichnitte ja befannt 
find, werden die Zufchlagsprozente berechnet. Die Unterſchiede der örtlichen Minimal⸗ 
löhne werden dann durch andere Vorteile des teureren Platzes und durch die größere 
Feinbeit der Waren, die diefer herftellt, ausgeglichen, ebenſo, mie das auch jetzt der 
Fall if. Unnatürlich niedrige Löhne, die jegt an gewillen Plägen die Arbeiterihaft 
erdrüden, um die andern Pläße zu unterbieten, würden dadurch bejeitigt. 

Sobald durch die Mindeftlöhne eine „Sanierung ded Marktes” in der Heimarbeit 
erreicht ift, fann man auch dem Verbot der Fabrifarbeit der verheirateten Frauen und 
der gefchiedenen und verwitweten Mütter näher treten. Über die Schädlichkeit der 
Fabrikarbeit diefer Frauen brauche ich fein Wort zu verlieren; die Spagen pfeifen es 
von den Dächern, was die Außerhausarbeit der Mutter für die Hinfterbenden und 
verwahrloften Kinder, für die Wirtfchaft, für den Mann bedeutet. Aber erft wenn 
die Löhne der Männer in ihren Mannezjahren ausreichend für die Emährung der 
Familie, die Arbeiterverficherungen ausgebaut und die Löhne in der Heimarbeit 
menjchenwürbdig fein werden, kann man daran geben, dem Proletariat die Familie 
zu erhalten. Wenn man in dem Buch von Collet die Kindheit3erinnerungen eines 
Menjchen lieft, dem durch die Fabrifarbeit die Mutter genommen war, jo wünſcht 
man, diefer Tag käme bald. Alſo reformiere man bald die Hausinduſtrie! 

Durch eine Reform, wie ich fie worichlage, würden von jelbft gewille Berufe, 
für welche die Heimarbeit geeignet ift, die Berufe der Mütter werden, die auf Erwerbs: 
arbeit angemwiejen find. Die Mütter ziehen die Heimarbeit, wenn fie anftändig bezahlt 
wird, allgemein vor, und fie würden als Heimarbeiterinnen von den linternehmern 
borgezogen werden, weil außer dem Minimallohn ale bejchräntenden Beſtimmungen 
bei ihnen weafielen. Die Verbindung von Fabrit und Heimarbeit ift auch für den 
Fabrifanten vorteilhaft. Nur eins ift gefährlich: in der Fabrik würde das ganze Jahr 
gearbeitet werden, die heimarbeitenden Mütter aber würden nur in der Hauptarbeits⸗ 





Haudinduſtrielle Jrauenarbeit. 547 


faifon herangezogen werben und in der flauen Zeit brotlos jein. Ich weiß da kaum 
einen andern Ausweg als den, daß dieſe Frauen in verſchiedenen Gewerbszweigen 
thätig fein müßten, deren Arbeitsfaifons mit einander abwechſeln. Das gefchieht 
icon jest, aber den meiften fehlt es dazu an der nötigen allgemeinen Vorbildung. 

Das ift ja ber wundefte Punkt aller Frauenarbeit: die mangelnde Vorbildung! 
In der Konfektion zum Beifpiel werden die Mädchen oft in Furzer Zeit notbürftig 
auf ein paar Handgriffe eingelernt, zahlen dafür Lehrgeld, werben als Urbeitäfräfte 
ausgenügt und haben nachher ebenfo wenig gelernt mie vorher. Die fchlechte Aus: 
bildung, fagt Gertrud Dyhrenfurth, ift geradezu eine Gefahr für die ganze Ronfeltion. 
Gegenüber der Konkurrenz billiger arbeitender Völter kann überhaupt nur in der 
Qualität der Waren unfre Zukunft liegen. Für Frauenarbeit und Hausinduftrie gilt 
das befonderd. Der Dann kann aud in ungelernter Arbeit durch feine Körperkraft 
etwas verdienen, bie Frau aber ift als Arbeiterin fo gut wie wertlos, wenn fie nicht 
etwas kann, wenn fie nicht etwas gelernt hat. Und für die Heimarbeit gilt bie 
Forderung von Profeffor Brentano: für Qualitätswaren Schulung, für Duantitäts- 
waren Befeitigung der Hausinduſtrie. Die Heimarbeiterin alfo müßte zu einer 
gewiſſen Kunftfertigleit ausgebildet fein. Das gefchieht teilweife in der Fabrik, aus 
der fie nach der Verheiratung in die Heimarbeit übergeht. Aber in ben meiften 
Gewerben ift das nicht möglich. Nur Vorbildungsanftalten, die zu verſchiedenen 
Berufen und vor allem zu ſolchen vorbereiten, die zu Haufe ausgelibt werden können, 
find Heutzutage im ftande, diefe Haffende Lüde auszufüllen. Und nur ber Staat kann 
folche weibliche Fortbildungsſchulen unentgeltlich, obligatorifh und über das ganze 
Land Hin einführen. Auch das, was die Mädchen des Volks jegt meift nur als 
Dienftmädchen und die meiften überhaupt nicht Iernen, alles was fie als Mutter und 
Hausfrauen können und wiſſen follten, müßte die obligatorifche Fortbildungsfchule fie 
lehren. Jetzt wachſen namentlich die Arbeiterinnen ganz ohne ſolche Kenntniffe in die 
Pflichten der Mutter und Hausfrau hinein: Das fozialdemokratifhe Verlangen, bie 
Kinder lieber in Anftalten und die Erwachſenen in gutgeleiteten, gemeinfamen Wirt: 
ſchaften unterzubringen, ift unter den jetzigen Verhältniffen ganz begreiflih. Alſo 
entweder Anftaltöpflege für die Kinder, Befeitigung des Einzelhaushalt® und gänzliche 
Auflöfung der Familie — oder gründliche Ausbildung aller Mädchen des Volks in 
Haushaltung, Stindererziehung und in Berufen, die ald Fertigkeiten für die Heimarbeit 
geeignet find. Dazu muß der Staat zwingen durch obligatorifchen Unterricht, und 
dazu muß er die Möglichkeit geben, indem er die Erwerbsarbeit aller jungen Mädchen 
bis zum 16. Jahr auf den halben Tag einfchränkt: die andre Hälfte des Tages 
gehört ihrer Ausbildung. Nur unter diefen Vorausfegungen hat es einen Wert, die 
Heimarbeit der Mutter zu erhalten. 

Daß die Arbeiterverficherung auch auf die Arbeiter und Arbeiterinnen der Hauss 
induſtrie ausgedehnt werden muß, ift eine Forderung, die ſich faft von felbft verfteht — 
trotz der Schwierigkeiten, die dabei zu überwinden find. Und auch als Konfument, 
als der größte Käufer, Tann der Staat bei feinen großen Beftellungen bie aus— 
gebeutete Heimarbeiterfchaft bedenken: in vielen andern Ländern, vor allem in 
England, haben die Behörden fchon lange begonnen, in die Verträge mit ben 
Lieferanten Lohnklaufeln aufzunehmen, die den Arbeitern anftändige Löhne ausbebingen. 
Und wenn ich es auch für zu weitgehend halte, in ben Verträgen jede Heimarbeit 
auszufchließen, jo ift doc ein Verbot de3 Weitergebend an Zwiſchenperſonen und vor 

35* 


648 Die Laeisz. 


. allem die Lohnklauſel jegensreih. Bei uns ijt dergleichen noch jo gut wie unbekannt. 
Der Staat als Arbeitgeber foll in der Bernfteininduftrie die Heimarbeiterinnen 
beſonders jchlecht zahlen, das Nähen von Militärbinden wird jammervoll bezahlt, 
und bei den Lieferungen für die Armee wird von geringem Berdienft der Arbeiter 
und gewaltigen Gewinnen der Unternehmer berichtet. 

Aber vielleicht erleben wir es doch noch, daß man über Vorfchläge, ähnlich 
denen, die ich hier gemacht Habe, in Erwägungen eintritt. Bielleicht dringt doch die An- 
ſchauung allmählich in weitere Kreife, die der Abgeordnete Dito von Bigmard-Schönhaufen, 
am 18. Dftober 1849, in der preußifchen Kammer mit den Worten außfprad: „Ich 
glaube, es möchten uns unjere wohlfeilen Röde aus dem SKleiderladen zulegt 
unbehaglich auf dem Leibe figen, wenn ihre Verfertiger daran verzweifeln müſſen, 
fich auf ehrliche Weile zu ernähren.” 


RE 


Ze dr Kaeisʒ ID 
R. Gröning. 


Nachdruck verboten. un ———— — 










Orr 


— 


A183 vor einigen Jahren der Bund deutſcher Frauenvereine in Hamburg tagte, 
RR * re: und man fich zur Schlußfeier im Rathauskeller einfand, überflogen meine Augen 
PEN. die Verſammlung, und ich dachte daran, ob es mir gelingen würde, Karl Laeisz 
zu entdeden. Diefer Name bedeutet mir nämlich ein Stüd Familiengefchichte, und ich 
hatte nicht nur am Vormittag in einem der Rathausfäle das Bild ſeines Potofi, diejes 
einzig daftehenden Fünfmafters, erblidt, fondern auch die Freude gehabt, während 
der folgenden Hafenfahrt einige der B.- Schiffe, (Peru, Bernambuco, Pudel ıc.,) mit dem 
wohlbefannten und oft gehörten F. L. in den hanfeatifchen Farben im Top zu erbliden. 
Welche Bedeutung der Name Laeidz befigt, ift nunmehr auch weiteren Kreiſen flar 
geworben, jeit unſer Kaiſer den Potofi befichtigte, und Prinz Heinrich dem todkranken 
Träger des Namens die legten Grüße feines Bruders überbrachte. Man weiß jebt, 
was man in den Kaufmannskreiſen der ganzen Welt allerdings längit wußte, daß bie 
Firma Ferd. Laeisz eines der größten Rhederei- und Afjeturanzgejchäfte ift, und ibr 
Salpeterimport der Ohlendorff'ſchen Guanveinfuhr gleich teht. 

Nun haben fich die Thüren des äußerlich unjcheinbaren Hauſes am Neuen 
Sungfernftieg wiederum geöffnet, um dem dritten Laeisz den Weg zur legten Nubejtatt 
nach dem abgelegenen Ohlsdorf frei zu geben. Ein königlicher Kaufmann wurde 
beftattet und mit königlichen Ehren. Und mie bei dem Begräbnis der Mutter, jo 
barrte auch jegt eine nach Hunderten zählende Menge auf der Straße, und mande 
Thräne ift wiederum gefloffen. Unter den nach Hunderten zählenden Kranzipenden 
waren auch SFrauenvereine vertreten, und die legte Gabe der Witwe durfte eine 
Krone fein, als Zeugnis gleichfam, daß der Berftorbene Anrechte auf die Bürgerfrone 
beſeſſen. Neben ihr hatte der unfcheinbare Kranz aus dem Laeiszſtift einen Ehren: 
plat erhalten. 

Sp möchte ich jegt von den Eltern des Verftorbenen reden, den Gründern dei 
heutigen Weltgefchäftes. Als wir, meine Mutter und ich, vor einem Menjchenalter 











Tie Laeisʒ. din 


deren Haus zum erftenmal auffuchten, machte ich zugleich die erfte Fahrt über die 
Grenze meiner engeren Heimat. Damals lernte ich noch ein Stüd des alten Hamburgs 
tennen. Die Strede, die man heute mit dem Blipzug in faum zwei Stunden 
durcheilt, beanspruchte eine volle Nachtfahrt mit der Pol. Es war meine erfte 
Eiſenbahnreiſe und die legte mit dem Eilwagen. „Warum wollt ihr nur bis Harburg 
fahren?“ Hatte man in Bremen gefragt, wo die Fortfegung diefer Weltfahrt reguliert 
wurde und malte und zugleich die Annehmlichkeit einer Fähre aus, die in früher 
Morgenflunde paffiert werden mußte. Damals erblidte man in Hamburg noch den 
nach englifhem Vorbild blau gefleideten Konftabler mit feinem Stabe, der heute durch 
den preußifchen Schugmann verdrängt if. Auch die Überbleibſel des Gängevierteld 
wurden uns durch Vermittlung der alten Qaeißz gezeigt, wie wir fie fchlechtweg zu 
nennen pflegten. Und fo oft wir den Landungaplat der Alfterdampfer betraten, waren 
mir von einer Schar jugendlich anmutiger, in farbig echte Tracht gekleideter Vier 
länderinnen umgeben, die baten: „Mir werden Sie doch Blumen ablaufen, Madame 
Laeisz?“ Jetzt haben ſich auch diefe Figuren aus dem Hamburger Straßenleben 
verloren, und erblidt man noch eine Vierländerin in Et. Pauli, dann ift fie ſicherlich 
weder jugendlich noch farbig gekleidet. 

Die alten Laeisz fanden damals bereit? auf dem Höhepunkt ihres Anſehns, 
zu dem taftlofes Schaffen fie geführt hatte. Ihr bebaglicher Landfig in Eimsbüttel, 
ihr ftattliches Winterquartier am Jungfernftieg befundeten das. Sinnfälligen Prunk 
zu treiben aber überließen fie dem Sohn, der nunmehr auch ein alter Laeisz geworden 
und grade damals fein prächtiges Heim auf der Uhlenhorſt hart am Waller bezogen 
hatte. Doch auch da verriet fih ein Streben nad Einfachheit, wenigſiens in ber 
Erziehung de3 Sohnes und einzigen Erben. „Bei und Kaufleuten,“ erläuterte eines 
Tages der alte Konful, „pflegt der Vefig felten die dritte Generation zu überdauern; 
was die erfte erwirbt, hält die zweite noch zufammen, aber bei der dritten tritt der 
Verfall ein.” Das geihah Hier freilich nicht, fondern es durfte ihn mit Stolz er: 
füllen, daß fein Enfel auf der von ihm betretenen Bahn der öffentlichen Wirkjamfeit 
weiter ſchritt. Dagegen mußte es fchmerzlih anmuten, daß die Fortdauer des Haufes 
ſtets nur auf zwei Augen beruhte — die jegigen Träger des Namens Laeisz find ſchul— 
pflichtige Knaben. 

Eson damals, vor mehr als dreißig Jahren, galt der alte Konſul Laeitz als 
eine Berühmtheit. Er hatte als Hutmacher und Buchbindergefelle die Welt durch: 
zogen, um als vielfacher Millionär zu enden. Frauenfleiß und Umjicht hat redlich 
beigetragen, biefe Höhe zu erreichen. Sie waren Emporlömmlinge, die alten Laeisz, 
im beften, fchönften Sinne des Wortes und fchänten fich defien nicht. Auch ala 
Driginale durften fie gelten. Won ihr hörten wir oftmals, daß fie fi an der Her: 
ftelung von Frauenhüten beteiligt hatte, die für Afrika beflimmt waren, und er ſprach 
mit beiterem Behagen von den Abenteuern feiner Lehr: und Wanderjahre, und gern 
verziehb man ihm 3. B. bei einer Wanderung dur den Hamburger Hafen die 
Heine Schwäche, wenn er in feinem gewohnten Platt fagte: „Dat iS allens min.” 
War er doc offenherzig genug, auch auszusprechen, daß erit mit dem Eintritt 
feined Sohnes, des geichulten Kaufmanns, das Geſchaft feine Weltftelung erlangt 
hatte. Er felbft hatte es fo weit gebracht, mit altrenommierten Firmen in Verbindung 
zu treten. 

Unfer damalige Tagesprogranım war ein fehr einfaches und beftand haupt: 
ſachlich in der Morgenfahrt zur Stadt und der Nachmittagsfahrt nach dem ſpäten 
Mittagsefien in die Umgegend, oft fiber die dänifche Grenze hinaus, die damals noch 
in lebhafter Erinnerung jtand. Ein Beſuch von Wilkens Steller, jetzt Pforte, ſpielte 
dabei feine Rolle, wohl aber wurde und mande Wohlfahrtseinrihtung gezeigt. 

Wenn wir früh morgens das im Tberftod gelegene Frühſiückszimmer betraten, 
erſchien bald nach uns der alte Konſul, der jchon fein Morgenbad im Gartenteich 
genommen hatte, mit den — Strümpfen in der Hand, die er mit Nüdficht auf die 
Gäfte auf den am Eingang ftehenden Stuhl legte, von wo die Hausfrau fie ebenfo 
leife in das nebenan liegende Schlafzimmer beförderte. Am Abend verfchaffte ſie mit 





550 Die Laeisz. 


der gleichen ſtillen Furſorge der unbequemen Halsbinde im Schlüſſelkorb Unterkunft. 
In ſolchen und anderen kleinen Zügen, in der unermüdlichen Fürſorge um die Geſundheit 
und das Wohlbefinden des Gatten, verriet ſich die ſtille Herzensgüte, die man auch 
am Sohne rühmte und die auf ihn übergegangen iſt. Nach dem Fruͤhſtück widmete ſich 
der alte Herr der Gartenpflege, bis der Augenblick kam, wo er ſich unter dem Bei— 
ſtand ſeiner Frau zur Fahrt in das Geſchäft rüſten mußte. Die hilfloſe Einfalt, mit 
der er ſich bisweilen von allen Seiten betrachtete, hatte etwas Ruhrendes, wenn er 
dabei außrief: „Was, Mus, haft du mir einen ganz neuen Rock angezogen? Tas 
wußte ich ja nicht.” Es war auch ein hübſcher Anblid, ihn mit Roſen beladen ab- 
fahren zu ſehen; die wurden fpäter an die Börlenbefucher verteilt, die fie als Laeizzjche 
Roſen der Gattin heimbrachten. 

Die alte Laeidz ging inzwifchen ihren häuslichen Pflichten nach, zu denen auch 
die Bejorgung des Frühſtücks für Bater und Sohn gehörte. Dann fuhr auch für 
uns der Wagen vor, zum shopping, wie man in England jagt. Allerdings betraten 
wir dabei feine Modemagazine am NReejendamm oder Alten Sungfernftieg, ſondern 
jolive Läden in ftillen Nebenftraßen. Das Ermworbene wurde zulammengebalten, doc 
auch mit weiler Hand an andere verteilt. Auf dem Gebiet des Wohlthuns wird ihr 
Name fortleben, wie der einer Amalie Sieveling und Emilie Wüftenfeld, die gleichfalls 
ihre Pflichten als Bürgerinnen erfüllt haben. Als man in den Hamburger Bundes: 
tagen ziemlich geringſchätzig äußerte: „Ach was, die bat nichts für ung gethan“, durfte 
ich daher mit vollem Recht proteftieren. Die alte Laeisz hat fich, ſoviel ich weiß, der 
Frauenſache öffentlich nicht angefchloffen. Bielleicht ift die Anregung dazu auch nicht 
an fie herangetreten; doch die Gründung einer Ortdgruppe des Allgemeinen Deutichen 
Frauenvereingd würde ihrer Aufmerkſamkeit nicht entgangen fein, und den auf Rinber- 
und a en gerichteten Bundesbeftrebungen würde fie vollen Anteil entgegen: 

ebracht haben. 

s Alles innerlich Sohle, aller weſenloſe Formelkram war ihr ein Greuel. Offentlich 
hervorzutreten, liebte fie jo wenig, wie fpäter der Sohn, und das Auftreten jchellen: 
lauter Thoren pflegte fie mit fcharfem, ſchnell treffendem Wort, das ihr zu Gebote 
Stand und fie manchmal gefürchtet machte, abzufertigen. Oft geſchah es dagegen, daß 
fie fih in jpäter Abendftunde in unfcheinbare Tracht büllte, um ſich unerkannt jelbit 
zu überzeugen, wie die von ihr geipendeten Gaben verwendet würden. Sie fannte 
das Volk, aus dem fie hervorgegangen war und ließ fich nicht leicht täufchen. Wenn 
dann der Gatte fragte: „Mus, wo willft du bin?” Fam prompt die Antivort: „Da? 
geht dich nichts an, F. L.“, und er ließ fie gewähren. Troß ihres Scharfblids 
blieben auch ihr gelegentliche Erfahrungen nicht erſpart, die das leiſe Mißtrauen recht: 
fertigten, da8 über ihren Augenbrauen oft zu brüten fchien. So batte fie fich einit 
mitleidig bewegen laflen, ihren Rod auszuziehen und einer Armen zu jchenfen, die fie 
auf ihre ärmliche Tracht hingewieſen hatte. Als fie am andern Tage den Etand 
eines Straßenbändlers pajfierte, ſah fie dort ihren Nod hängen, der direft au Japan 
oder China importiert und fofort Tenntlih war. Der ihr mohlbefannte Händler 
ſchwor jedoch bei dem Gotte feiner Väter, den Rod mit einer Ladung anderer von 
einem Schiff gekauft zu haben. „Was ſollte ich machen?” jchloß fie lachend, „ich habe 
mir meinen Rod zurüdgefauft und trage ihn noch.” Die Thür, die zwiſchen Haus 
und Flureingang de3 Haufes am Jungfernſtieg ein unbemerktes Betreten und Berlaffen 
ihres Arbeitszimmerd geftattete, war an fich ſchon ein Beweis für die Ausdehnung 
ihres Wirkens. 

Zu feinen Eigentümlichfeiten gehörte e8, daß er wohl abends mit den Worten 
jein Haus betrat: „Mus, morgen gah id weg”, und fragte fie, wohin die Reife gehe, 
dann antwortete er wohl: „Ob, bloß nach SKtonitantinopel,” oder wohin es fonft war. 
Das war dann für fie das Signal, einen Koffer mit allem Notwendigen zu paden 
— mit dem ihr Gatte abreifte, aber nicht zurüdfehrte; denn die gebrauchten Gegen: 

ftände wieder in den Koffer zu legen, daran dachte er nicht. Syragte man ihn, was 
er anfange, wenn er nicht3 mehr babe, dann antivortete er forglod: „Ob, ich bleibe 
zu Haufe und fage dem Stellner, daß er mir etwas kaufen fol.” In feiner Anfpruchs: 








Die Fach. B81 


loſigleit gehörte er in die Kategorie der Millionäre, die nicht als ſolche geboren ſind. 
Eine Uhr trug er nicht bei ſich und würde fie auch wobl immer verloren haben, 
Ihm genügte ein Blick auf die Sonne, um die genaue Tagedſiunde zu erfahren, und 
meine allerdings höchſt kümmerliche Fähigkeit, den Stand der Sonne zu beurteilen, 
babe ich mir damald auf unferen gemeinfamen Ausfabrten an der Seite des alten 
Konſuls erworben. In ihm verkörperte ſich ein Shakeſpeareſches Element: ſonnige 
Heiterkeit und kühne Wageluft, die alles, felbft das Yeben dranfegt und dadurd) 
wohl den Erfolg eines Unternehmens verbürgt, folange es wenigſiens die erften 
ahnt gilt. Auch die raftlofe Unruhe lebte in ihm, von ber Hamburg durchſeht 
erſcheint. 

Seiner Waghalſigkeit und Gewandheit ſchien nichts unmöglich. Einſt machte 
er mit vierundſechzig Jahren in Trieſt auf einem Dampfer die Bemerkung, ein Sprung 
aus dem Maftlorb in dad Meer müfje den Offizieren doch eine Nleinigfeit fein. Es 
wollte fi feiner dazu verheen, und fofort that er es. „Daß es lebensgefährlich 
war, wußte ich ja,” meinte er jpäter treuberzig, „aber ich hatte davon geſprochen und 
mußte es nun doch ausführen.” Seine Frau Außerte dann wohl draſtiſch, daß er 
nicht eher fterben werde, als bis man ihn wie eine Rage totfchlüge. Gern erzählte 
er, daß er ald ewig bungriger Lehrling feiner geizigen Meifterin einft eine Wuͤrſt 
vom Boden entwendet habe. Dabei wurde er gehört, und während die Meifterin die 
Treppe herabeilte, brachte er die Wurft in Sicherheit und Eletterte fü behende eine 
Leiter herab, daß er noch vor ihr anlangte und bei der Diebesſuche folden Eifer an 
den Tag legen konnte, daß er mit einer zweiten Wurft belohnt wurde. Soldye und 
andere Erzählungen, 3. B. die feiner Brautwerbung, die man oft von ihm felbft 
gehört, enthält auch die Autobiographie, die nach feinem Tode von dem Enkel heraus 
gegeben wurde, aber nicht im Buchhandel erſchienen ift. 

Seine Frau pflegte feiner Originalität freundlich Rechnung zu tragen, wie cs 
einer Gattin zufteht. „Ich kann allerwege durchgehen“, erklärte er wohl auf einem 
Spaziergang, und dann folgten wir auf das privilegierte Gebiet der Jeniſch in Flott 
bed oder wohin es fonft war. Aber wie er, jo wußte auch fie ihre Etellung fehr 
wohl zu wahren. So betrat jie einft morgens um 8 Uhr das Haus der Godeffroh, 
und da fie wie flet3 Yen gekleidet twar, nahm die Dienerin Anftand, fie einzulaffen. 
ALS fie aber ihre Karte hineinſchickte, öffneten fich natürlich alle Thüren vor ihrem 
Namen, und fie hätte nicht Karoline Laeidz fein müſſen, um der Dienerin eine Lektion 
zu Schenken. Bisweilen fuchte jie den Gatten in harmloſe Verlegenheit zu feßen. 
Einjt fubren wir nach Blankeneſe, als ein Gewitter uns nötigte, in Teufelsbrüd Halt 
zu machen und in einer unfceinbaren Gartenwirtihaft an der Elbe einzufehren. Der 
alte Yaeisz ſah fih um, und äußerte, hier jei er noch nicht gewwejen, man werde ihn 
wohl nicht fennen. Schlagfertig verlegte fie: „F. &., thu doch nicht jo” und 
forderte ihm nach einer Weile auf, zu bezahlen, wohl wiſſend, daß er niemals (Held 
bei ſich führte. Er geftand es der Kellnerin ein und fragte, ob fie ihm auf fein 
ebrliches Geficht Hin borgen wolle. Sogleich wurde geantwortet: „Natürlid, Here 
Laeisz.“ — „Ich Tage e3 ja, ihn fennt jeder,” jente jeine Frau hinzu. 

Ob es auf dem Landiig in Eimäbüttel einen Bücherſchrank gab, weiß ich nicht 
mehr zu jagen. Ihm ließ die fauimännishe und öffentliche Thätigfeit wenig Zeit 
zu nachhaltiger Lektüre, und von ihr wußte man, daß fie nur medizinische Werke las. 
Auf dieſem Gebiet durfte fie ich aber ihrer Kenntniſſe und Erfahrungen ruhmen. 
Dagegen liebte ber alte Laeisz den Ankauf wertvoller Bilder, und es bereitete ihm 
Freude, die Auimerkjamteit darauf zu lenken und zu erzählen, wie viel Tauiende ſie 
ihn gekoſtet bätten. Es iit nun einmal Hamburger Art, alles auf den materiellen 
Wert hin abzuihägen. Wie jeine Gattin den Beiuch der Konzerte liebte, und auch 
andern gern zugänglich machte, jo war er ein eitriger Tbeaterbeiucher, une fam man, 
wenn bie Voritellung begann, in jein Haus, io erbielt man jein Billet, inces er von 
dem Recht des freien Eintritts Gebrauch machte, und Die Stammgähte fih wohl 
fragten, wer denn beut den Kap des alten Laeisz einnäbme. Handelie es fd Darum, 
ein Tbeaterdefizit aus zugleichen, dann feblte er ni 





552 Die Laeisz. 





An den Weltfahrten des Gatten nahm Frau Karoline keinen Antell. Syn 
jpäteren Jahren mag fie ihn oft mit ihrer Sorge begleitet haben, wenn er 3. B. in 
London jtundenlangem Regen troßte, um die Auffahrt zur Königin anzufeben. Es 
galt als ein Ereignis, daß fie fich einmal auf langes Drängen Hin entihloß, ein 
befreundete® Haus in Bremen aufzufuchen, wohl der einzige Fall, dab fie Hamburg 
verlaffen hat. Das Laeiszſtift in St. Pauli war ihre Lieblingsfchöpfung — ein 
Geburtätagägefchen? ihres Gatten. Es gewährte fünfzig alten oder unfähigen Leuten 
ein Aſyl und läßt den Namen Laeisz weiterleben, obſchon es an Größe dem Schröder: 
ftift nicht gleichlommt. Erſt ala körperliches Siechtum — fie war zulegt recht fünmer- 
ih — Frau Laeisz dazu zwang, überließ fie die Sorge für das Stift ihrem 
Sohne. Sie war zeitlebens eine gute Hausfrau, deren Dinerd, Hummer und Spid: 
aale man zu würdigen wußte. Aufgaben, wie fie das bürgerliche Geſetzbuch an Die 
Witwen jtellt, wäre fie auch im größten Umfang gerecht geworden, denn fie war 
ſtets eine gute Gefchäftsfrau geweſen. Ihrer Selbftändigfeit und ihrem Scharfblid 
würden auch kaum deſſen Mängel entgangen jein und die Inkonſequenzen der Befeg- 
geber, 3. B. das Verbot des Börfenbefuches. Ob fie jolcher Erkenntnis Ausdrud 
verliehen Hätte, ift freilich eine andre Frage. Im Kontor des Gatten war fie 
beimifch, wie im eigenen Haufe, und jede Unordnung der anderen Hausbewohner fand 
an ihr eine ftrenge Richterin. Sie ließ fich ftetS die Bücher vorlegen und war über 
den Stand der Gejchäfte immer genau unterrichtet. „Meine Tönigliche Mutter“, 
pflegte fie der Sohn zu nennen, wenn fie auf der Neueburg erichien. 

Unmdglih war e8, mit dem alten Paar zufammen zu fein, ohne an beider um: 
begrenztes Wohlthun gemahnt zu werden. Meine erite und legte Erinnerung an beide 
ijt damit verfnüpft. So erſchien am erften Tag meines Aufenthalts im Haufe ein ein 
facher Sciffelapitän, der mit bemwegter Stimme um die Gunft bat, fein neu erbautes 
Schiff Ferdinand Laeidz nennen zu dürfen. Es wurde ihm nur geftattet unter der 
Bedingung, daß der Enkel als Pate des Schiffes gelten jollte. Und dann fuhr ich 
abermal3 nad dem ftillen Landſitz hinaus, teild aus eigenem, teild auf fremden An- 
trieb, denn man batte un? von der Erkrankung der alten Frau Laeisz geiprochen. 

batte mich kaum dem alten Herrn genähert, als ein junger Mann ftaub: und 
ſchweißbedeckt erichien, ein Baron von Z., und mit Thränen in den Augen nach ihrem 
Befinden fich erfundigte. Er erzäblte, daß er troß des Feierabends fein beſtes Pferd 
aus dem Stall gezogen und halb zu Schanden geritten habe; denn er dante ihr den 
geficherten Bei feines Erbguted®. Der alte Mann hörte das gütig, aber auch mit 
der unerjchütterlichen Würde eines Kaufherrn an, die ihm. jo gut ftand. 

Damals fchien eine Steigerung in den äußeren Berbältniffen und im Beſitz 
faum noch möglich zu fein, dennoch ift fie eingetreten. Bis dahin hatte es ſchon 
an gelegentlichen Ehrengeſchenken nicht gefeblt, 3. B. aus dem Kabinet Friedrich 
Wilhelms IV. Später erhielt fie das eijerne Kreuz und auch, irre ich nicht, den 
Zuifenorden. Eie trat damit in die Neihe derer, deren Wirken gleichſam ftaatlich 
anerkannt ericheint. Ihm murde wiederholt die Aufgabe, Wilhelm I. in jeinem 
geliebten Hamburg zu empfangen. AS aber vor der Diamanthochzeit vertraulich 
angefragt wurde, ob dem Jubelpaar eine Bibel als Geſchenk des Kaiferpaares 
angenehm wäre, erklärte der Sohn: „Ya, wenn etwas bineingejchrieben wird.” — 
Es steht zu Hoffen, daß folches Selbftgefühl, auf freiem hanfeatifchen Boden erwachſen, 
in unjerem Föbderativftaate nie ausfterben möge. 





George Band und ihre Bebentung für Sie Franenbewegung. 


Von 


Anna Brunnemann. 


Naqhdrug verboten. 


ünfundzwanzig Jahre find vergangen, feit am 7. Juni (1876) zu Nohant 
in der anmutigen Provinz Berry die Echloßherrin aus dem Leben fchied, 
Sp eine treffliche Mutter ihrer Kinder, eine prächtige, märchenerzäplende Groß: 
mutter, bie geiftige Freundin bedeutender Zeitgenoffen, die mütterliche Beraterin aufs 
ftrebender Talente, die MWohlthäterin aller Armen und Unterdrüdten. Die dreiund⸗ 
fiebzigjährige edle Greifin war niemand anders ald George Sand, deren Name mit 
Begeifterung von einer ganzen Generation genannt wurde, und deren Werke in unferer 
fchnelllebigen Zeit beinahe nur ein litterarhiftorifches Intereffe erregen würden, wenn 
wir nicht daneben dieſes bedeutende Frauenleben an fi als Beifpiel einer kühnen 
Selbftbefreiung des geiſtig hervorragenden Weibes in Betracht zögen. Denn wer lieft 
heute noch George Sand? An uns vorübergebrauft find die Stürme des Naturalismus 
und haben bie Periode glutvoller Poefie und Iyricher Deflamation, toller himmel: 
ſtürmender Phantafie und troftlofen Weltichmerzes ebenfo verdrängt, wie fie das 
liebliche genrehafte Idyll unmöglich machten, das George Sand in der legten Phafe 
ihres litterarifchen Schaffens pflegte. Dieſes aber wird immer und immer wieder 
aufleben, weil e8 auf dem Boden klarer realiftifcher Anfchauung ſteht und firenge Ge: 
ſchloſſenheit der Kompofition zeigt. Wer aber Hat noch Zeit, die romantifchen 
Vhantaftereien, bie breit ausgeſponnene Gefühlsſchwelgerei zu leſen, die ſich über viel: 
bändige Romane erfiredt? (George Sand ſchrieb über 110 Bände.) Nur das ernfle 
litterarifche Intereſſe wird fie aus ihrer Erflarrung in ben Litteraturbüchern erlöfen 
und fie noch einmal aufleben laffen in voller Dichterglut; es wird unſchätzbare zeit: 
geiichttiche Dokumente in ihnen finden, die ganz beſonders für und Frauen von 
eri find. Das Leben, das Handeln, die Werke der George Sand waren maßgebend 
für die ganze romantische Auffaffung vom Weibe und Peiner Liebe. Als fie ſich 
fpäter mehr praftiichen fozialen Fragen zumandte, behandelte fie die Toziale Stellung 
Frau, und ihr Einfluß erftredt ſich tief binein in die Litteratur des Jungen 
Deutſchlands. Vertiefen wir uns heute an ihrem Gebenktage in das Lebenswerk der 
nur noch wenig Gelejenen; es wird nicht ohne Gewinn fein. 
Zu befierem Verftändnis fei ihr Lebensgang wieder ind Gedächtnis zurüdgerufen. 
Marie Aurore Dupin (George Sand) ift aus einer ſeltſamen Verquidung von 
Raffen und verſchiedenen fozialen Sphären hervorgegangen jo daß fich ihr ungeftümer 
Drang nad Eelbftändigkeit und Fünftleriihem Sichausleben, ihre große Vorurteile: 
loſigkeit und NRüdfichtslofigkeit, ihre geiftige Überlegenheit ebenfo leicht aus Atavismus 
erflären laflen, wie die gemütvolle, mütterliche Seite ihres Wefend, „ce besoin de 
cherir sans cesse‘; ihre Vorliebe für das Volt und dad Volkstümliche, ihre fpäteren 
hauslichen, gut bürgerlichen Neigungen. Wenn der Marſchall Morig von Sachſen, 
der natürliche Sohn Augufts IL. und der fchönen Aurore von Königsmark fih nad 
dem Siege von Fontenoy in den Armen galanter Frauen erholte, wenn Marie Aurore 
de Sare, bie feinem Verhältnis zu einer Schaufpielerin entiproffen, mit allen frei: 
geifigen Anſchauungen der Revolution genährt wurde, wenn deren Sohn endlid) als 
ffizier des Empire das Leben de3 fürftlichen Großvater im kleinen fortſetzte — 
nur daß er ehrlich genug war, das Kind, das ihm ein Mädchen aus dein Volke 


554 George Sand und ihre Bedeutung für bie Frauenbewegung. 


ſchenken follte, vier Wochen vor feiner Geburt durch Heirat zu legitimieren — was 
Wunder, daß eben dieſes Kind das Hecht der Leidenschaft durch Wort und Beiſpiel 
in zu weitgehender Weife verteidigte? Die intelligente Großmutter aber, in zweiter 
Ehe mit dem gleichfalls geiftig Hochftehenden Herrn Dupin de Francueil vermählt. 
verlieh ihr edlen, ariftofratifhen Sinn und hohe geiftige Bedürfniſſe. Vom Bater 
jcheint eine loyale Ritterlichfeit, von der Mutter das demokratiſche, faft Tpießbürgerliche 
Element auf fie übergegangen zu fein. 1804 geboren, verlor Marie Aurore Dupin 
Ihon 1808 ihren Vater durch einen Sturz vom Pferde. Sie wurde der Mutter ent: 
rilfen, als einzige Erbin von Nohant unter der Agide der Großmutter erzogen ober 
vielmehr fich felbft überlaffen. Ihre Kindheit verträumte fie in dem Tieblichen 
Berry, das fie oft als Knabe verkleidet durchſtreifte. Hier ſog fie die große Liebe 
zur Natur ein, an der fie immer wieder nach leidenfchaftlichen Lebensſtürmen gena3 
und die wie ein mildes, friedenfpendendes Abendrot ihre legten Werke und Lebens— 
jahre verflärte. 

Sie lad wahllos und planlos, was die Bibliotbet zu Nohant bot. Rouſſeau 
war ihr erjter Lehrmeifter. Mit ihm glaubte fie an die natürliche Güte des Menſchen 
und an die verberbenbringende Macht der Kultur, wie die fpätere George Sand an 
den angeborenen Adel und an die natürliche Güte des Frauenherzens glaubte und ſich 
gegen den Zwang beuchlerifcher und deshalb verderbenbringender Sitte empörte. 
Später waren ed Byron, Chateaubriand, Lamartine, die die junge Seele mit glühender 
Begeilterung erfüllten. Bedeutungsvoll wurde für fie der Tod der Großmutter, der 
die Sechzehnjährige wieder mit der Mutter vereinigte. Dieſe erjehnte Vereinigung 
aber brachte bittere Enttäufchung. Madame Dupin, die von einer Penfion ihrer 
Schwiegermutter mit zwei Kindern aus einer früheren Verbindung in Paris lebte, 
bewegte fich in einer niederen Lebensfphäre, in der die junge Aurore nicht heimiſch 
werden konnte. Sie nahm die Hand des Baron Caſimir Dudevant an (1822), eines 
Ihmuden Offizierd, brachte ihm Nobant zu und führte mit ihm fieben Jahre lang 
das Leben einer Landedelfrau, dad nur durch einige Reifen nach dem Süden unter: 
brochen wurde. Zwei Kinder, ein Sohn und eine Tochter, gingen aus biefer Ebe 
hervor; fie brachten die Gatten, die fich jehr bald fremd geworden waren, nicht näher. 
Der Baron Dudevant, ein rober Landjunker, hatte feine Ahnung von der geiftigen 
Bedeutung ſeiner Lebensgefährtin; er trieb fie geradezu an, ihre nach Nahrung 
verlangende Seele anderen zu offenbaren und quälte fie dann mit Giferfuchts: 
ſcenen. 1832 war dad Maß vol. Aurore .erbat fich eine Benfion von dem Gatten 
und zog mit ihrer Tochter Solange nad) Paris. Sie erhielt nur 250 Franks monatlich. 
Das bedeutete für fie bitterfte Armut, Zwang zu eigenem Erwerb. Nach langem 
fruchtlofen Taften entdedte fie ihr ſchriftſtelleriſches Talent. Mit Jules Sandeau, 
ihrem Freunde und Landsmann, fchrieb fie „Rose et Blanche“. Bereit mit dem 
nächſten Roman war fie jelbitändig; fie hatte ihre Bahn gefunden. Indiana ging 
unter dem Namen George Sand in die Welt. Die Baronin Dudevant war tot; 
George Sand war für die Titteratur geboren. Wer aber war George Sand? Ein 
Zwitterding, das, als Student verkleidet, mit langem Überrod, malerifch geichlungener 
Kravatte, einem Sammetbarett, unter dem die braunen Locken bervorquollen, in Ge 
jellichaft der „berrichons“, einer Truppe junger Landsleute aus dem Berry, Theater: 
premieren und Clubs befuchte, in den Studentencaf6® zu Haufe war und ſich aus: 
lebte in der ftudentifch-Fünftlerifchen Boheme des Quartier latin. Doch aus der 
Chryſalide entwidelte fich immer mehr und mehr ein herrlicher, farbenprächtiger Falter. 
Dez Nachts ſaß die fleißige Schriftftellerin bei der Arbeit; unerfchöpflich quoll e8 aus 
ihrer Feder hervor, ihre Phantafie war überrafchend fruchtbar. In jchneller Auf: 
einanderfolge erjchienen die Romane Valentine, Lelia, Jacques, Andre, 
Leone Le&oni. Ruhm und Gewinn ftellten fich ein, und der unfcheinbare Student 
wurde eine der bedeutendften Frauen der Zeit, die Bierde der litterarifchen und fünft: 
lerifchen Salond. 1836 ließ ſich Aurore Dudevant von ihrem Gatten jcheiden; ihre 
Kinder und ihr Vermögen wurden ihr nad) langen, peinlichen Gericht2verhandlungen, 
bei denen fie der befannte Demokrat Michel de Bourges als ihr Sachwalter unter: 


George Sand und ibre Bedeutung für die Frauenbewegung. Kuh) 


ſtũtzte, zugeſprochen. Ihre Unabhängigkeit war errungen. Bedeutende Männer fuchten 
ihre Freundſchaft; nad einer leidenichaftlichen Verbindung mit Alfred de Mujfet, 
traten ihr Beranger, Pierre, Lerour, Michel de Bourges, der Abbe Lammenais, 
Ledru:Rollin näher. Eine abermals leidenfchaftliche Neigung fefelte fie lange J— 
an den genialen aber fränklichen und desbalb Iaunenhaften Friedrich Chopin. Lie 
war befreundet mit Liszt und der Gräfin d'agoult. Von 1837— 1848 erichienen als 
bedeutendere Romane: Mauprat, Horace, les sept cordes de la lyre, Jean, 
le Meunier d’Angihbault; bald nach 1848 Ia petite Fadette md la Mare 
an diable. George Sand nahm Tebhaften Anteil an der Nevolution von 18-18, 
Dur) die Junitage ernüchtert, gab fie ihre „demission politique“*, um nach dem 
Staatöftreich noch einmal in politiicher Miſſion hervorzutreten, indem fie für zahlreiche 
Verbannte mit rührender Beharrlichfeit bei Napoleon III. um Begnadigung nachſuchte. 

Zn ihrem geliebten Berry alternd, jchrieb fie im ungeſchwächter Echaffenstraft 
bis zu ihrem Tode Nomane, Theaterftüde, Kindergefchichten und ihre Lebensgeſchichte; 
durd eine ſehr ausgebreitete Korreſpondenz ſtand fie mit allen bedeutenden Ne: 
präfentanten der jüngeren litterarijchen und fünftleriichen Generation in Verbindun 
fie widmeten ihr eine jchranfenlofe Verehrung. Guſtave Flaubert nannte fie „una che 
Gent und fie ward dem einfamen Sonderling eine tröftende, wahrhaft miütterliche 

reundin. 

Die bekannteſten Werke ihres Lebensabends find: Le Marquis de Villemer, 
les beaux Messieurs de Bois-dore, les Confessions d’une jenne fille, 
Durch ihr geruhigtes Altern, ihr liebevolle Wefen Löfchte fie die Erinnerung an das 
abenteuerliche Bohemetum zu Anfang ihrer Carriere aus; nur die edelften Eigenfchaften 
der George Sand findet man in der Schloßherrin zu Nohant wieder: vollkommene 
Vorurteilsloſigkeit, volltommene geiftige Freiheit und Gefundpeit, mütterliche Hingebung, 
oder, wie fie ald Motto zu ihrer Lebenzgeichichte fo treffend fagte: „Charite envers 
les autres, dignit@ envers soj-meme.“ Auch das im fi) gelehrte, mehr cms 
pfangende als gebende Weſen war geblieben. George Sand war niemals, wie bie 
meiften Franzöfinnen, geiltreich und überiprudelnd, fondern eher finnend und mit großen 
Augen laufchend, die Ideen gleichfam aufiaugend, um fie erft wieder unter ihrer un: 
ermüdlichen Feder hervorquellen zu laſſen. 

Drei Produftiondepochen treten im Lebenswerk der großen Schriſiſtellerin ſcharf 
hervor. Sie find eng mit ihrem äußeren Lebensgang verknüpft und greifen mur 
wenig in einander über: die romantijche, Die ſoziale und die idulfifche. Zunachn iſt fie ganz 
fie jelbft, das leidenfchaftliche, von glübender Phantaſie bejeelte Weib, das die Hudy: 
gehenden Wogen der Romantik tragen und an dem alles überjtrömendes, jubjeltives 
Empfinden it. Auf der Höhe des Lebens umtobt fie der Zeittampf, das Aufruhr: 
geichrei der Nevolution; ſie ſtürzt ſich mit dem ihr eigenen Ungejtüm mitten hinein; 
fie nimmt die Jdeen bedeutender Führer fajt fanatiich auf, um ihnen mit Hilfe ihrer 
kühnen Phantaſie Geitalt zu verleiben. Bisweilen trifft jie überraſchend gui den Ton 
der Zeit und zeichnet wabrbeitägetreue Menſchen; Liemweilen verjagt ihre Kraft, ie 
wird bis zur Ungenießbarkeit weitſchweifig und theoretilierend. Nach Überwindung 
aller politischen Stürme findet fie ihr Gleichgewicht und ihren künſileriſchen Menſchen 
wieder; jie fongentriert fich und gelangt zu innerer Harmonie. Sie ſchafft Meiſier⸗ 
werfe intimer Heimatkunſt. Als litterariiche Produkte von bfeibendem Wert itehen 
dieje legten Werke am böchſten. Wir, die wir der Frau als Eelbitbefreierin, ald Vor⸗ 
tämpferin für die großen Umgeſtaltungen, die ſich allmählich in der jozialen Lage ber 
Frau vollzieben iollten, näber treten möchten, baben vorwiegend die beiden erjten 
Perioden ihres Schaffens au betrachten. Zunächſi die romantiiche. 

























Der Student George Sand ware wohl im WVobmetum untergegangen, hätte 
er nicht feine eminente litterariiche Begabung entdedt. Tie Frau aber, die mit 


„Indiana“ eine jo geniale Probe ihres Könnens abgelegt, Durite ſich mit jouveräner 
Vorurteiläloiigteit und Kudüchtstoügkeit erlauben, ter Seielihait, die fie io lange 
unterdrüdt, den ;sehrebandihub binzuichleudern. Sie feiert zunachſt mit allen ibr zu 
Gebote stehenden Mitteln das Recht der Leidenichait, das Anrecht Des weiblichen 








556 George Sand und ihre Bedeutung für die Frauenbewegung. 


Individuums auf jelbit gewähltes Glüd. Sie tritt jofort in offenen Kampf gegen 
die Gejellichaft. Deren Ordnung, auf eine Ehe gegründet, die durch eine beuchlerifche 
Sitte gefälfcht und verderbt wird, muß völlig ungeftaltet werden, und das reformatorifche 
Element wird die reine Liebe fein. Brunbildengleich verteidigt George Sand die 
Liebesleidenjchaft ala elementare, unbezwingliche Naturkraft gegen bie kaltherzige 
Frida, das heuchelnde Geſetz harter Sitte. „Indiana“ ift ein Niederichlag ihrer Er⸗ 
bitterung gegen die Form der Ehe, die fie jelbit fennen gelernt Bat. In „Valentine“ 
nimmt fie mit entzüdenden Einzelheiten und umvergleichlicher Poeſie das Thena der 
unbeiligen Convenienzehe wieder auf, die nur Unglüd im Gefolge Hat. Hier heißt es 
einmal: „le mariage est toujours une des institutions les plus barbares que la 
societe ait &ebauchees; je ne doute plus qu’il soit aboli, lorsque l’humanite 
aura fait quelques progres vers la sagesse et la raison.“ Nachdem fie in dem 
wunderlich phantaftiihen Roman „Lelia* in der beraufchenden Sprache Alfreb be 
Muſſets, der ihr um dieje Zeit nahe ftand, ein Symbol überfinnlich-finnlichen Liebes: 
verlangen? auf dem Hintergrund venezianifcher Maskenfeſte der Renaiffancezeit gegeben, 
-tritt fie in weiteren Romanen der Wirklichleit wieder näher und führt die Forderung, 
die Stau dürfe über fich frei verfügen, bis in die letzten Konjequenzen durch. Ihr 
Slaubensbefenntni® Heißt: die Liebe ift eine heilige Handlung; ihr widerſtehen 
„sacrilege“ ; fie bei andern tadeln Gottlofigfeit, denn fie ift unmwiderftehlich, weil fte 
göttlich ift. Sie eifert beſonders gegen die Roheit der Ehegatten und läßt biefe eine 
traurige Rolle des brutalften Egoismus jpielen. Was ihre Geftalten, die der große 
Dichterhauch echter Leidenschaft durchglüht, an theoretiichen Forderungen für das Ver: 
hältnis der Gatten zu einander aufitellen, mutet uns oft echt elementar an; in dama— 
liger Zeit rief e8 einen Sturm der Aufregung hervor. Völlig neu war dieſes Wagnis 
einer Frau. Der „Bourgeois“ zich George Sands Schriften der Unfittlichfeit; für 
freiere Geifter wurden fie ein neued Evangelium. Die Saint:Simoniften, mit denen 
fie durch ihre Inrifchen Predigten immer mehr Berührungspunfte gewann, zogen fie 
bald völlig in ihren Bann; war fie bisher nur fubjeftive Verfünderin ihres eigenen 
Schickſals, ihrer eigenen Gefühlswelt geweſen, jo jah fie fich jeßt zu einer wirklich 
reformatorischen Million berufen. 

Che wir diefe weiter ausführen, noch einige Worte über den Saint-Simonigmus: 
Der Graf Saint:Simon, geb. 1760, ein univerjeller Geift, von den Miderwärtigfeiten 
des Schidjals vielfach verfolgt, hatte in feinen fpäteren Lebensjahren ein Syſtem zu 
einer Erneuerung der Geſellſchaft durch Wiſſenſchaft und Induſtrie aufgeftellt. Er 
predigte das Dogma der Belohnung nad) individueller Fähigkeit, indem er den produftiven 
Menjchen als den wertvolliten anfah. Er verlangte ferner völlige Gleichſtellung ber 
Frau mit dem Mann, denn zur Klaffe der Enterbten, die er fchügen wollte, gehörten 
nach feiner Anficht nicht nur die dDarbenden und befiglofen Arbeiter, Jondern alle rauen, 
denn das Weib wird vom tyranniſchen Mann nur ausgebeutet und auf unmwürdige 
Meile beherricht. Schließlich verwarf er die Dogmenlehre und ftellte als höchſte 
Religion die Nächftenliebe Hin, durch die das Elend des Proletariats jo raſch wie 
möglich gebefjert werden würde. Saint:Simon hatte, als er 1835 flarb, nur eine 
Heine Gemeinde um fich verjammelt, doch diefe Lehre lebte als kraftvolle Unterftrömung 
in der Tagesflut fort und eıftarkte, als fich vor dem Ausbruch der Sulirevolution die 
Unzufriedenheit mit den beftehenden Verhältniffen immer gewaltiger fteigerte, zu einer 
fozialen Macht. Bedeutende Männer wurden von ihr angezogen; es bildete ſich eine 
Seite der Saint: Simoniften mit einem regelrechten Oberpriefter. Daß nun auch 
Apoftel, wie Enfantin, auftraten, die die ertremfte Seite der Lehre bis in ihre legten 
Konſequenzen verfolgten, und fchließlich deren Untergang veranlaßten, kann Bier nicht 
weiter ausgeführt werden. Uns interejjiert vorwiegend die Etellung, die der Saint: 
Simonigmus zur Frauenfrage nahm. Er fuchte das Weib völlig zu emanzipieren, 
nad) den Worten des Meiſters: les femmes, à peine sorties de la servitude, sont 
encore partout tenues en tutelle et frappees d’interdiction religieuse, politique, 
sociale; l’homme lui seul, constitue l’individu social. Le mariage est un acte 
purement individuell. Les femmes serunt definitivement affranchies, 


sorge Sant und ihre Vede: 557 











Vindividuseialseral’hemm« . 
scientifique, industrielle se exerce 2 “ .. Vergl. Orten. 
Bd. 2, &. 220) 

ht die Schuld Saint: Simens mar cs, wenn fc ber „art IN 
Zeit feine Lebre zu nuge machte, um die Em 
auf freie Liebe verauiden. Geerge Sand 
Tribut, wir feben fie aber gerade durch den Sait 
vielfeitiger und zielbewußter werden. Sie tritt nit mehr 









iche Zug ter 
em Hecht 
er Kifzuna ibren 
allmablich geläuterter, 































zu überbliden. Ibre Liebe zum Velt treib: ii 
bevölferung, Die Dur die wachſende Inuftrie in 
begriffen war. Sie erkennt ibre i 
übertünchten Kafie der Beũtzenden bie 
Tugenden des vierten Standes. Als ibr beñes Ku 
beigende Satire auf den jungen Bourgeois, tem de 
Mannes aus dem Volke gegenuberachteir wirt. Itre & 
die frübere: „Marthe' fagt Die Freun u 
gegeben „pourynoei done cette doul-ur? Est er 
la erainte de l’aveni Tu as dispese de toi. Turtai- libre: pero ube ia 
le dreit de tUhumilier”. 

Kunñleriſch weniger geichloen une 
„le Compaznon Aut 2 
beichäftigt ni 










in ter m 
Anden und creiit Die 
„Horarı“ 
























Lammenais. dem Femekrani 
war George Sand zur damaligen get m nur ein aute 
dutch rerolu:ionare Stürme H 

Männer en Ider 
Kanenzloterem 
gnügt fi 
Journaliãut. 
mie Die Kette i 
fteigender, Aeberba 
eworden und re 
illegiatur 














558 George Sand und ihre Bedeutung für bie Frauenbewegung. 


etouffe, on languit, on pleure, on räle, on expire dans les mansardes et dans 
les cachots. Jamais la race humaine n'a fait entendre une plainte plus sourdeo. 
plus rauque et plus menacante.* 

Die idplliiche Periode ihres Dichterlebens ift angebrochen, die Periode des Aus- 
klingens, des Gefunden? von allen Stürmen und Widerſprüchen ded Dafeind am 
Herzen. der Natur, des Heimatbodend. In der Einfachheit des [ländlichen Lebens hat 
George Sand eine Zuflucht gefucht und gefunden. 

Und während fie jo ihrem Lebensabend entgegengeht, Ballt ihr Name weit über 
die Grenzen ihres engeren Vaterlanded hinaus. Schon um 1830, ala das „Junge 
Deutichland” jeine „äfthetiichen Feldzüge” begann, um die beftehende Kultur durch 
äfthetifche Bildung zu reformieren, holte man ſich Rat bei den Saint-Simoniften. 
Gutzkow, Laube, Theodor Mundt, Ernft Willkomm u. a. ftudierten deren Zeitfchrift 
„le Globe* und nicht zum geringjten Teil wurden zugleich aus den Romanen 
der George Sand die neu aufzuftellenden Glaubensjäge gezogen: dem Individuum 
muß volle Freiheit verjchafft werden, damit es fich zwanglos, ganz feiner individualität 
gehorchend, entwideln Tünne. Staat und Kirche in der beitehenden Form müflen 
abgeichafft werden, meil fie der freien Entwidlung des Individuums binderlih find. 
Die Frau iſt zu emanzipieren. Zahlreiche Frauen jtehen auf und begrüßen dankbar 
die neue Lehre, denn trotz aller wiflenfchaftlichen und induftriellen Fortſchritte der Zeit 
bat man fich bisher jo gut wie gar nicht um die Frau gefümmert. Der ideale und 
ipäter materielle Notfchrei der George Sand wird von ihnen leidenjchaftlich wiederholt. 
Viele ſehen aber nur eine Berechtigung zur Sprengung läftiger Ehefeſſeln, und mir 
ftoßen auf leidenſchaftliche Plaidohers für freie Liebe. Die mehr tendenziöfen als 
dichterifchen Produktionen diefer erregten Zeit find voll davon. Am ftärfften tritt 
Gutzkows „Wally” für die neuen Theorien von Befreiung des Weibes ein; theoretifch 
verkündet er im Vorwort zu den Briefen über Schlegeld Lucinde: „Das Zujammen: 
leben zweier Menſchen muß durch volle Liebe geheiligt fein. Die Erziehung der 
Mädchen aus befjeren Ständen vernachläſſigt alles, was fie zu Geführtinnen bes 
Mannes machen könnte.“ 

Unter den vielen hervorragenden jchriftitellernden Frauen der damaligen Zeit 
verhalten fich die innerlich gefunden (wie Fanny Lewald) den George Sandichen 
Ertremen gegenüber maßvoll einjchränfend, während krankhaft Leidenjchaftliche und 
zügellofe Tenperamente in ihr das deal erbliden. Am meiſten bat wohl bie 
ercentrifche Gräfin Ida Hahn-Hahn im Bann der George Sand ber erften Periode 
geftanden. Sie Jchildert mit Vorliebe das geniale, Heißblütige Weib, dad ſich, an 
eine unmürdige Che gefettet, zur Sprengung der Ehefefleln berechtigt fühlt, um ſich 
ganz einer tiefen Leidenschaft hinzugeben. 

Löſt man die Schicht des Vergeſſens, die fich in Jo furzer Zeit ſchon über Leben 
und Lebenswert der großen Schrififtellerin gebreitet hat, jo iſt's, als ob man einem 
erfalteten Krater zum neuen Ausbruch verhülfe. Alles gährt und ftürmt; die elementare 
Duelle heute geläuteter Gedanten wird mit einen Male auß dem Schoße der Ber: 
gangenheit emporgewirbelt. 

George Sand jelbft bat in ihren fpäteren Lebensjahren zu diefer Läuterung 
beigetragen, indem fie als Künftlerin wie als Menſch zur Harmonie gelangte. Sie 
bat ſogar fpäter der Ehe einen Hymnus gejungen und ftellt das deal des Ehegatten 
in folgenden Worten hin: „le mari tel que l’a fait Jesus, tel que l’a explique 
St. Paul, en un mot mariage vrai, ideal, humanitaire et chretien & la fois, 
qui doit faire succeder la fidelit& conjugale, le veritable repos et la veritable 
saintete de la famille & l’esp&ce de contrat honteux et de despotisme stupide 
qu’a engendres la decrepitude du monde“. 

George Sand bat fich zu immer reineren Idealen emporgerungen; der große 
idealiftifche Dienjch in ihr wird fie überleben. Er ſteht über allen Stürmen ihres 
äußeren und inneren Lebens. Er hat das Leiden einer ganzen Generation verftanden 
und ſich in alle quälenden Probleme zum Heil der Menjchheit zu vertiefen gefucht. 
Er bat die flammende, durch Schönheit geheiligte Sprache der Liebe geredet, er hat 


An der Kindheit Grenze. 569 


aus tieffüßlendem Kerzen heraus die Klage gegen alle Uugercchtigfeiten erhoben, er 
hat mit echt dichterifcher Phantafie das Schöne im Menfchen und in der Natur 
verherrlicht. 

' Serige Sand ift niemals von einer rein idealen Auffafjung der Dinge ab» 
jewichen und ins Gemeine und Häßliche gefunfen. Stets hat fie ihr Ideal hoch zu 
Helen gewußt, felbft wenn dies Ideal am fi eine perfönliche oder der Zeit eigen: 
tümliche Verirrung mar. 


IL 


An der Kindheit Grenze. 


Elifabeth Siewert. 


Rabbrud verboten. . 


ie gingen zwiſchen zwei Mauern, ſondern bereicherten es nur, berfuchten niemals 
Erneſtinchen und das Kind. Es waren die ! ihm Zwang aufzuerlegen, dafür wurden fie 
Himbeerfträucher, die diefe Mauern bilveten. | gelicht. 
Das Kind war fhon ziemlid) groß, ftand aber An der öftlichen Gicheljeite des Haufes 
noch mit beiden Füßen im wunderbaren, grünen ; blühte auf einem zerflofienen Beet ein Durch 
Dämmerland, und noch mar von biefem Land | einander namenlojer Sommerblumen, lang: 
ſcheinbar fein Ende abzufehen. An feiner ı ftenglig, bunt, zart und lodend. Eie gediehen 
Stelle waren die Bande gelodert, die fein ! nicht gut; um fo inniger war ihr Wefen, ihre 
Weſen mit dem Weſen der Natur verfnüpften, | Farben rührend. Cie hatten ihre dünnen, 
unb da das Kind ein reiches Gemüt und viel | verfchlungenen Stengel ber Sonne zugebreht; 
Seele hatte, waren es viele und ſchöne Bande. , wenn ihr Goloblid fie traf, trodnete der Tau, 
Deshalb unterſchied fie ſich auch fo auffallend ı der fie beſchwerte; fie dehnten ſich und dufteten 
von den andern; tie ein ganz andres Gejchöpf ' ihre Lebenskraft in feinen Gerüchen aus. Am 
ging fie unter den Großen umher. Man | Nachmittag ftanden fie im Schmud ihres 
Tonnte wohl behaupten, nichts, was bie fahen ! Dunkelrot und Wafferblau mwartend, abends 
und empfanden, worüber fie ſich freuten und wurden fie ftill im Schatten. Ich glaube, 
grämten, war dem ähnlich, was das große ; diefe Blumen ftanden dem Herzen und dem 
Kind fah und empfand, worüber es fich freute | Verftändnis des großen Kindes näher als 
und grämte. Alles an ihm mar ftolzefter Erneſtinchen. 
Anſpruch, Unbeugfamfeit, Wildheit und Ganz⸗ Und die Bäume! Ob es nun Efpen, die 
beit, und dabei war feine Seele wafjerhell an | Blätter wie aufgereibte Perlen, oder Ahorn, 
Reinheit. Sein Benehmen war freundlid. | fpigig und zadig in ber Form, ob es fein 
Da es fein Leben ganz für fich führte, | geftrichelte Weiden oder weich gelappte, üppige 
machte es wenig Anfprühe an die Cr: | Linden, blank prahlende Buchen oder heitere, 
wachſenen. Fiel es dieſen einmal ein, ſich runde Kaftanien waren, fie alle, die Bäume, 
in fein Treiben einzumifhen, dann flüchtete , die jungen und die alten, die einzelnen Wächter 
das Kind wie eine Schnede in ihr Haus und | an den Wegen und Gräben oder hinter den 
nahm alle Illuſionen und Phantafien mit, | Ställen, und die zu Hainen und Gruppen vers 
von denen eingehegt es fein fürftlich reiches ! einigten Träger, die Geheimnisfrämer in Ges 
Leben führte. An lebloſen oder unerleuchteten büfchen, fie fanden ihrem Herzen nahe. Im 
Gefpielen hatte es eine wahre Fülle, diefe ! Sonnenlicht myſtiſche Schatten beherbergen, 
miſchten fi nicht in feine Angelegenheiten, ſehnſuchtsvoll dunfel im blajjen Abendhimmel, 





560 


verfinftert im Sack der Naht, aufgeregt, 
geſchwätzig, dramatifch im Sturm, in Schweigen 
verfunfen, immer, immer Erzähler, Freunde. 

Da gab es unten in der mageren Fohlen- 
foppel mit ihrem Waflergraben, der Himmels: 
bläue oder eine gläferne Helligfeit durch das 
kurze Weideland ranlte, ein zottiges Rappfohlen. 
Es mar fpröde und träge, unbänbig und 
launifh, weich in den Felleln, am Bauch 
bingen ihm lange Haare. Das große Kind 
fonnte Stunden lang da unten am Zaun ober 
mitten platt auf dem kurzen Weideland ſitzen 
und das Tier mit tiefer Freude beobachten. 
Wie es den Kopf warf, gelegentlich losjagte, 
bäumte und einem unfichtbaren Gegner Huf: 
ſchläge austeilte, jedes Muskelſpiel that dem 
Kind jo wohl, weil es Mhantafiegebilde mit 
jeder Lebensäußerung verband. Mit deutlichen 
Spiegelbild ftand das Fohlen am Waffer in einer 
beroifchen Stellung, ſenkte dann langfam ben 
Kopf, um mit dem weichen, dummen Maul 
die blanfe Kühle einzufaugen. Dann madıte 
e3 jeinen Körper halbrund und knappſte feit- 
wärts an feinem Schenkel. Wie das Kind 
laut und glüdlich auflachte! 

Emeftinden ftand dem Kind ganz fremd 
und fern gegenüber, mie follte fie nicht! Ein 
ältliher, abgebrauchter, vom Leben zurecht ge- 
mobdelter, das heißt mißhandelter Menſch, eine 
Dorfichneiderin, eingefponnen in all den Kram, 
der mit des Lebens Notdurft und Nahrung 
zujammenhängt. Mit Natur und Schönheit 
bat der Kram nicht? zu thun. Das war es 
ja: das Kind war fchön und fühlte Schönheit, 
ed wußte von nichts andrem. In ihm war 
der Anſpruch ber Griechen, das Leben bes 
Vogels, die Freude und Leichtigkeit des Vogels. 
Bisher war alles an ihm abgeprallt, jede 
Belehrung, für die feine Natur nicht gefchaffen, 
jeden Verſuch zur Cinengung hatte es von 
fi) gewieſen; die Häßlichfeit und Gemeinbeit, 
bie ihm je begegnet, hatte feinen Schatten ge: 
worfen. 

Erneſtinchen iſt mit all der Heuchelei, der 
Zweizüngigkeit, der Schlauheit, die ein be— 
drängtes, niederes Leben lehrt, längſt, längſt 
bekannt, ſie hat all den Krampf und die 
Unnatur gekoſtet, die der Verkehr unter un— 
klaren, rohen Menſchen mit ſich bringt. Sie 


weiß kaum mehr von einem reinen, harmoniſchen 


An der Kindheit Grenze. 


Seelenzuſtand. Ihre Seele bat ſich zu oft 
mit dem Spielen mit geiftiger Erbebung, der 
unwahren Reue und dem unmwahren Echmerz 
befledt, durch tiefe, ſchlammige Sinnlichkeit hat 
fie fich gefchleppt, ihr Blut hat zu oft geftebert 
und ift dann totenfalt geworden. Was weiß 
fie von der vollen, gefunden Wärme des 
Kindesgeblüts! So Iange fie denken fan, hat 
jte unter der Dual gelitten, benachteiligt zu 
fein, und die Begierde, Glüd an fih zu reißen, 
bat fie von Kindesbeinen an gehest. 

Außerlih find die beiden Menfchen, bie 
da zwiſchen ben Himbeerfträuchern geben, 
vollftändige Gegenfäte. Man kann mobl 
Erneftinhen eine interefiante Erfcheinung 
nennen, für den interejlant, der bie Häßlichfeit 
als Grundidee der Menichenbildung ſchätzt. 
Eine humoriftifche Erfcheinung für den Menſchen⸗ 
freund, alles an ihr ift grotesf, charakteriſtiſch 
Der große, birnenfürmige Kopf mit einer Un- 
menge bon unappetitlichen Haaren zu Echanzen 
aufggtürmt, Trönt eine Kleine, ftillofe Figur, 
der Teint ift gelb und ftubenfiech, die Nafe 
lang, gebogen, eine ftarfe Nafe, wie fie niemals 
unintelligente Menfchen haben. Ihre DMiene, 
befonderd um ben Mund, erzählt von einem 
beillofen Temperament, bie ſchlaffen Wangen 
geben dem Geſicht etwas Sinnlihes und Per: 
brauchtes. Erneſtinchen ift feurig und em: 
pfindlih, gänzlid im unklaren über ihre 
Verfönlichkeit und bis zum Wabnfinn ge: 
ſchmacklos. Eie fpricht von Liebe! Dem großen 
Kinde erzählt fie mit einem öligen, lüjternen 
Slänzen in den von Fältchen umzogenen 
Augen von ihren Gefühlen für einen Dann. 
Ihre unrubige, gelbe, arme Hand hält fie auf 
den Bufen gepreßt, ber eine heftige Curve 
beſchreibt. Das Medaillon mit dem Bildnis 
des Gärtnerd trägt ſie da verborgen, ein 
ftolzeg Leihen, daß fie diesmal wieder— 
geliebt wird. So gut tie diefem jungen, 
robuſten, nichtönugigen Burſchen ift fie noch 
feinem geweſen. So gut — es zieht fie zu 
ihm hin, wo fie ihn auch entbedt, jeder ihrer 
gehetten Blutstropfen brennt vor Sehnfucht, 
und eine Angft fchürt noch biefes Feuer: fie 
fönnte ihn wieder verlieren, dad Ganze wäre 
nur Spaß von feiner Seite, 

Ihre Finger wühlen zwiſchen den Knöpfen 
ihrer Taille, während ſie mit viel Genuß und 


An der Kindheit Grenze. 


Geläufigkeit erzählt, mie fie ihn hat kennen 
lernen — auf einem Walbfefl, da war er 
gerade vom Militär gelommen. Die Stellung 
bier bat fie ihm verfchafft, nun kann fie gar 
nicht die Zeit erwarten, wo fie zum Schneiden 
gerufen wird, um ihr „goldenes Schnutchen“ 
wiederzuſehen. Während fie dies alles erzählt, 
hofft fie fehr, die Angft zu verfcheuchen, die fie 
foltert. AU die Thatſachen klingen ganz 
vernünftig. Der Gärtner ift eben ihr Schag, 
fie werben ſich Heiraten, fo bald es irgend geht. 

Das große Kind geht neben dem fiebernden, 
alten Weib einher tie ein unfchulbiges, anmut⸗ 
volles Waldgeſchöpf. Das reine Geficht mit 
den tauflaren, laufenden Augen, die gerade 
Schlanlheit ihres Körpers paßt in ben grünen 
Garten zu dem Sonnenuntergang und der 
Blätterfülle. 

Die Himbeerſträucher find hochgewachſen, 
die Pfundbirmenbäume, die aus dem Gebüſch 
aufftreben, find noch höher, und wieder höher 
ift ber mit meißen Windwolken gemufterte 
Himmel, aber noch höher hängt das, was ſich 
das Kind unter Liebe vorftellt. 

Ein Cherub, ganz nadt, glänzend wie eine 
Wolke, Sonnenftrahlen um das ewige Haupt, 
mit Riefenflügeln, ſchaut aus dieſen hohen 
Regionen, wo die leichte Luft in Klängen 
fließt und wogt, hinweg über fie, hinweg mit 
mächtigen Augen in felige Fernen, in Traum 
lande, in Meeresweiten, denen Inſeln ent 
fteigen. Wird es eines Tages feinem Blid 
begegnen? Wie aus einem Brunnen fiebt es 
empor zu bem Götterbilb, Wachfen und Bangen 
in der Seele und das Herz von einer tiejen, 
kaum gefaßten Vorfreude entzündet. 

Von feiner Neife kehrt fein Blid zu 
Erneſtinchen zurüd, die jegt dabei ift, das 
Medaillon aus feinem warmen Verſteck heraus⸗ 
zufiichen. Mit ernfthajter Scheu ſieht das 
Kind zu, wie es erſcheint, eine runde Kapfel 
mit gemalten Vergißmeinnicht darauf. Nun 
öffnet fie fie wichtig und poliert das Glas 
mit ihrem Ärmel. 


„Er iſt ein hübfches Mannsbild, das muß ' 


ihm der Feind laſſen,“ fagt fie, dem Kinde 
das Medaillon hinreichend. „Ih fann die 
Schwarzen für 'n Tob nicht leiden!” 

Das Kind befieht den ganz von vom 
aufgenommenen Soldaten auf dem runden 





“561 


Bildchen und erfennt den Gärtner, bie niedrige 
Stim, über der dichte fettige Haare gefcheitelt 
find, abftehende Ohren. Wenn er mit der 
Herrfchaft redet, ift er ſtets furchtbar rot im 
Gefiht und verlegen; fo balb er mit feines 
gleichen verkehrt, fpielt er fih auf. ein 
Lachen ift fo albern und unmelodiſch, wenn 
er mit den Gartenmädchen zufammen ift. Ob 
er noch ein ganz anderes Mefen hat, das das 
Kind nicht kennt? Eigenſchaften, die allen 
verborgen find, die er nur Erneftinhen offen- 
bart? Und ebenfo, hat Erneftinhen noch ein 
anderes Wefen als das, was fih in ihren 
Mienen und Worten und Bliden verrät? 
Iſt da irgend etwas ihren orftellungen 
Ähnliches zwiſchen den beiden? 

Das Kind fieht mit offenem Munde zu 
den Windmolfen auf, als mollte es fi da 
Weisheit holen, um die Rätfel zu löfen. Man 
liebt nur das, was ſchön, gut und herrlich 


iſt — das fcheinen ihm die meißen, wie 
Hörner gebogenen, leichten, fernen Wolfen zu 
ſagen. Es lädelt. 


„Was haben wir ſchon alles angeſtellt, 
daß wir uns mal ſehen können,“ erzählt 
Erneſtinchen in eifrigem Ziſchelton. „Meine 
Mutter iſt ſehr ſtreng, immer hat ſie Obacht 
gegeben, daß ich nicht allein aus war. Wie 
ich im Dorf bei ihr wohnte und er im Pflanz⸗ 
garten arbeitete, kam er abends rüber gelaufen, 
unten am Zaun ging er auf und ab, um 
Uhre zehn pfiff er: Ach, wie ift'3 möglich 
dann. Da mußt’ ich, mein goldene? Schnutchen 
ift da und wartet. Ich alles weggeſchmiſſen, 
zur Mutter fagt ih: Die Freundin wartet, 
wir müfjen ein bißchen fpazieren, man wird 
ganz dumm vom vielen Sitzen.“ 

„Was thun Sie nun beide, wenn er pfeift 
und Sie berausfommen?" fragt das Kind 
ängftlih und wißbegierig zugleich. 

Erneſtinchen zeigt langfam die Zähne. 
„2iebesleute haben immer was zu reden.” 
Sie lacht in fi hinein. „Er ift auch fehr 
für's Schälern, grade fo wie ih aud. Neu— 
lich habe ich ihm die Armel von feinem 
Raletot heimlih zugenäht, das gab ein 
Gaudium.“ 

Das große Kind findet, daß es ſchauder⸗ 
haft ausſieht, wie Erneſtinchen jetzt das Bild 
zurück in ihren Buſen praktiziert und dabei 


562 


auf eine feltiame Art mit ftarren Augen 
lächelt. „Näben Eie ihm aud Knöpfe an?” 
fragt es zur Seite ſehend und errötet. 

Die Himbeeren haben aufgehört. Auf 
einer Rabatte vor langen Gurkenbeeten, von 
DiN überfchleiert, ftehen grelle, gelbrote Einnien. 
Ihre Farbe feſſelt wie ein lauter Ton. Das 
Kind muß feine Augen auf dieſe blendenben, 
gröben, duftlofen Blumen richten, die jo frech 
fagen: da find wir. 

„Na ob, er ift fo abgerifjen, ſchon acht 
Mal hab ich nachts an feinen Hemden geflidt.” 

Das ift fehr gut von Erneftindhen, denkt 
das Kind, und ihm ift doch fo unheimlich und 
zweifelnd zu Sinn. Erneſtinchen ift nicht gut, 
fie flidt die Hemden nicht, weil fie zerrifien 


find und der Gärtner ihr leid thut, da iſt 


irgend etwas SHäßliches verborgen, was es 
nicht verfteht. Die Cinnien find auch fo 
häßlich und fo grell, fie geben das Kind 
gar nicht? an, und es muß doch hinjehen, jo: 
gar den Kopf dreht es nad) ihnen um. Soll 
es nicht lieber auf feinen alten Lieblingsplag 
unter den Hollunderbüfchen am Gartenteich 
laufen, die Harfe nehmen, die da verftedt in 
einem Buſch hängt, und den Pla um die 
Heine Bank und den wadligen, felbitgezimmerten 
Tiſch harken? Vielleicht waren auch wieder 
die beiden meißen Enten auf dein Teich, die 
fih da fo gern herumtrieben und nicht ſchlafen 
gehen wollten. 

Nein, es kann ſich nicht losreißen, obgleich 
es nach dem Hollunderberg ſchmachtet, nach 
dem Alleinſein mit feinen ſchönen Vor⸗ 
ſtellungen von geflügelten Göttern und aller: 
band heimlichem, buntem Märchenkram. hm 
ahnt Trauriges, und boch, es wird feitgehalten; 
Erneſtinchen erzählt fo neue, wunderliche 
Saden, die den Vorzug haben, in greifbarer 
Nähe fi) abzufpielen, je dunkler es wird, je 
neuer und mwunberlicher werben fie. 

Der Weg verfinftert ſich jetzt; mie ein 
Hohlweg läuft er in die Büſche hinein und 
verſchwindet. Lindenblütengeruh liegt ſüß 
und ſtark in der Wölbung. 

Erneſtinchen unterbricht fih in ihrer Er: 
zäblung von einem Tanzvergnügen im Dorf: 
fruge, fie feufzt mwollüftig auf: „Ad die 
Linden, wie die ſchön buften,” dann fährt fie 
fort. „Wir gingen 'nen Schottſchen zufamnten, 


— 


An der Kindheit Grenze. 


ih in blau Barege mit vieredigem Ausſchnitt. 
In der Paufe fpazierten wir Arm in Arm im 
Wirtsgarten. Es war naß im Garten — na, 
er wollt’ aber, und ich Tann nidt nein jagen, 
wenn Mar mas will. Der Organiſt kam 
uns nachgepinjchert, er hatte ſich die Naſe 
begofien und fing an, Redensarten zu maden. 
Mein Schatz ift ein Draufgänger — es lam 
bald zum Krawall. Er ift eben eiferfüchtig.” 
Erneftindhen ſchwelgte in der fchmeichelbaften 
Auslegung, die fie den Vorgängen im Krug⸗ 
garten gab. 

„Eiferfüchtig!” wiederholte das Kind, mit 
Teierlichleit in den dunklen, duftſchweren 
Zaubengang bineinfchreitend. 

An der Bleihe wurde es wieder beller, 
vrüben der blühende Schneeball Teuchtete 
verloren vor den Heden. Die Windwolken 
waren faft alle verichwunben; nur eine lang: 
geftredte, rötliche Fahne bing noch im glas⸗ 
Haren Abenphimmel. ' 

„Haben Sie den Gärtner denn lieber ala 
Ihr Leben?” fragte das Kind und rungelte 
feine elfenhaft beitere, glatte Stirne. 

„Ab, du liebe Zeit!” Erneftindhen lachte 
auf eine ganz befondere Art und drehte ſich 
in ihren Kleidern. 

Am Treibhaus gingen fie vorbei, wo bie 
wohlriechende Wide wie ein Mantel um den 
Schornſtein hing, ihre Füße traten auf Glas- 
ſcherben. Dann rechts über die Feine, gewölbte 
Brüde den Weg zwiſchen den Zwergbäumen 
und ber langen Stallmauer entlang. 

Wie durch unfichtbare, ftarfe Fäden feit: 
gefnüpft, muß das Sind an Erneſtinchens 
Seite bleiben. Die ganzen Detail® einer 
frampfhaften, von vornherein verfehlten Liebes⸗ 
gefchichte merden ihm aufgetiiht. In der 
dunklen, warmen Luft befommt e3 heiße Wangen 
und unrubige, entgeilterte Augen. 

Auf ihren Wanderungen find bie beiben 
dem Wohnhaus in den Nüden gelommen, 
zwei helle Fenſter ſehen mit rotem Schein 
aus der Hoffront neben dem Vorbau der Küche. 

„Da find fie alle verfammelt!” Erneftinden 
faßt e8 wie im Fieber, fie ftrebt mit Energie 
auf die hellen Fenfter zu und ergreift des 
Kindes Arm, um fih zu verſichern, daß es 
mit fommt. Man hat es ihrem Schutze an⸗ 
vertraut. 











An ber Kindheit Grenze. 


Der Infpeltor Schulz figt auf dem Tiſch, 
feine langen Beine in heller Hofe und langen 
Stiefeln wippen unternebmend. Die Mamjell 
hat die Hände auf den Magen gefaltet und 
lacht ſchallend. In ihrem firfchroten Sonntags⸗ 
kleid ſieht der eng eingeſpannte Buſen und 
der ſtarke Leib beſonders auffallend und plump 
aus. Das Geſicht mit den feiſten Backen, 
der Stumpfnaſe hat ſeinen gewöhnlichen, gut⸗ 
mütig ſchlauen Ausdrud. Da ift auch der 
Brenner, ein brünetter, firer, Heiner Dann 
mit Epigbubenaugen, das  podennarbige, 
maliziöfe Stubenmäbchen und nod eine un= 
befannte Frauensperfon, ein hübſches, derbes 
Ding mit bunten Schleifen auf einem ſchwarzen 
Kleid. 

„Hola! das Fräulein Echneiberin, das 
witzige Marjellchen!“ ruft der Brenner, auf 
Ermeftinhen zutänzelnd. Als er das große 
Kind entbedt, reißt er die Augen auf, ver: 
ändert etwas feinen breiften Ton und fagt: 
„Sie fommen grad zur Seit, wir werben was 
ſpielen.“ 

Jemand ruft „Kudcudk.“ 

Die Mamfel lacht noch lauter, fih an 
den Dfen lehnend, und zeigt auf Erneſtinchen, 
die fih mild im Kreiſe umficht, und als es 
nochmals Kudud ruft, ſich geberbet, als fei 
fie von der Tarantel geftohen. Erneſtinchens 
Betragen wirft beängftigend auf das Sind. 
Es dachte wirklich, fie hätte den Verſtand 
verloren, man müſſe ihr zu Hilfe kommen. 
Das ftört das Sind in der berivunderten 
Beratung der Wirtſchaftsſtube. Die ift 
nämlid) völlig verändert. Der Milchſchrank 
fieht in der unnatürlichen Beleuchtung einer 
ohne Glode brennenden Stehlampe aus wie | 
ein Poften, der emfig ein völlig abgegrenztes 
Neich bewacht. Die geblümten Gardinen haben 
etwas fpöttifch Fratzenhaftes, das Bett wirkt 
peinlich, nein, unheimlich und efelhaft, wie es 
da verftohlen in feiner Ede fteht. Die gelbe, 
getündte Dede und die faltblaue Tapete 
machen den Raum zu einer Höhle, und fie 
maren doch diefelben wie an vielen Tagen i 
und Abenden, wo fie das Kind geſehen, friedlich 
zu einer häuslichen Beihäftigung den Hinter 
grund abgebend. 

Emeftinden fährt, die Nöde ſchwenkend, in 
der Stube umher, als es immer wieder Kudud | 





568 


ruft, ſtürzt fie auf den Inſpeltor los, ihn am 
Armel padend, ihn anſchreiend, ob er wiſſe, 
wo der Gärtner ftedt. 

Dem Kinde wird himmelangft. Das muß 
doc jeder merken, daß die Stimme hinter dem 
Dfen berfommt, mie kann Erneftindhen fo 
dumm fein! 

„Suchen Eie doch hinter dem Den nach“, 
rät ihr. das podennarbige Stubenmäbchen mit 
verädhtlihem Ton. „Mie lange follen wir 
denn die Komödie anfehen!” fagt fie zu der 
Mamfell. 

Der Gärtner wird hinter dem Milchſchrank 
und dem Den hervorgeholt, er thut, ala fei 
er eingefchlafen, fein Glied fann er rühren, 
er taumelt über die Diele mit hochgezogenen 
Schultern, während er ein Geſicht fchneidet 
und fällt auf Emeftinchen herauf. Die kreifcht 
[08 und verfichert, daß fie Herzllopfen habe. 

Dem Kinde ift, als erlebe es in der ver- 
änderten Wirtſchaftsſtube einen fchredlichen 
Traum, ber zugleich fo bunt, wild und von 
folder derben Kraft ift, daß es baraus nicht 
aufmachen kann. AU diefe Menſchen, die fie 
tennt, zeigen ſich ihr vom einer neuen Seite, 
ala eine gefchlofiene Geſellſchaft, die ihren 
befonderen Charakter trägt, in ber fie felber 
ſich nur geduldet vorlommt. Und das ift das 
Schmerzliche an dem Treiben diefer Geſellſchaft: 
es ift etwas Verftedtes, Unficheres darin, das 
Feuer in den Augen ift frampfhaft, das laute 
Lachen ohne Freimut, die Beziehungen zwiſchen 
den verſchiedenen Perfonen tagesfhen. Aus 
diefem Grunde macht das Gefinde einen ge 
ſpenſtiſchen Eindrud, trotz aller groben Auße⸗ 
rungen ihrer Freude. 

Man arrangiert ein Spiel. Der Inſpektor 
mit den fhönen Beinen, die er fo eifrig zur 
Schau ftellte, bequemt fih vom Tiih auf 
einen Stuhl. Er ſetzt fi neben das Kind, 
dem man bienfteifrig zu allererft einen Stuhl 
zurecht geftellt hat. Manchmal wirft der 
ftattlihe Mann feinen Kopf zu ihm herum, 
dann fieht das Kind feine blanfen, falten 
Augen, feine hübſche Nafe und den weichen, 
roten Mund in dem kurzen, braunen Bart. 
Er wirkt nicht gefpenftifch, fondern beängftigend. 
Es ſcheint fo, ala ob er etwas fagen will, 
aber er entfchließt fich nicht dazu, verhält ſich 
überhaupt ziemlih ftumm. Sein Anteil an 

36* 


564 An der Kindheit Grenze. 


den Gefellihaftsfpielen beichränft ſich darauf, 
Witze zu beflatichen, mas er dadurch bewerk⸗ 
ftelligt, daß er mit feiner hellroten Hand auf 
feine ftraffen Schenkel klopft. Ober er erhebt 
fih zu feiner fchlanfen Höhe und fchlichtet 
einen Streit, zwingt das Mädchen mit den 
bunten Schleifen dazu, ſich einen Schnurrbart 
anmalen zu laſſen, faßt jemand, ber ſich ber 
Spielregel nit fügen will und befördert ihn 
dahin, wo er bin fol. Gelegentlich greift er 
der Mamfell unter das Kinn — das große 
Kind erftarrt über den Ausdrud, den dies 
Frauengefiht annimmt. Diefer Mund, — ihm 
ift, ala müſſe es um Gnade bitten. .. 

Dem Kinde gegenüber fiten Emeftinchen 
und der Gärtner, fie tufcheln und greifen fich 
an den Händen und fteden die Köpfe zufammen. 
Jeden unbewachten Augenblid benußt der 
Gärtner, um mit hingenommenem, lüfternem 
Blid nah dem Mädchen im Schwarzen Kleid 
binzufchielen.. Die ift jchredlich affektiert, fie 
fpielt die Feine, die Zimperliche. Erneftinchen 
weiß, daß fie eine Nebenbuhlerin bat, fie 
möchte das fremde junge Mädchen zum Fenſter 
hinauswerfen. Sie zeigt ihren Abſcheu fo 
deutlich, daß alle ihre Gefühle merfen. Man 
verhöhnt fie, ſpitzt auf ihr Alter. Mit 
ziemlicher Gewandheit teilt fie Hiebe aus, wo 
man fie angreift, und dabei leidet fie unfäglich. 
Das große Kind weiß es und fieht auf die 
Dielen mit ihren großen Flecken und Sprüngen. 
Es furrt in feinem Kopf, als ob da raftlofe 
Näder an neuen Gedanken fpönnen. Muß 
ed um al die armen Gefpenjter Mitleid und 
Scham im Herzen tragen, und fi um bie 
Sleden auf den Dielen forgen? In der 
ſchwülen, unreinen Luft überlaufen das Kind 
Schauer. 

Man ſpielt Briefträger. Hinter der 
Thür nach der Schankſtube ſteht die dicke 
Mamſell, ſie wird gefragt und antwortet. 
Die roten Siegel auf den Briefen bedeuten 
Küſſe, die ſchwarzen Ohrfeigen. 

Das Kind ſieht der Schneiderin Geſicht 
ſich zu einer wahren Muſterkarte von Zorn 
und Qual verändern, ſterbenskrank und welkend 
alt ſieht ſie aus, um den Mund ein paar 
tiefe Falten. Was geht vor? Der Gärtner 
küßt das fremde Mädchen, ſie wehrt ſich 
lachend, jeden einzelnen Kuß läßt ſie ſich 


rauben. Es giebt eine bewegte, jugendliche 
Gruppe, der es nicht an einer gewiſſen derben 
Grazie fehlt. 

Der Inſpektor zählt die Küſſe. 

Dem Kind iſt, als ſtiege ein feucht heißer 
Dampf aus den Dielenritzen, der es einhüllte 
und ihm die Kleider vom Körper ſchmolz, der es 
hineinzieht in einen trägen, ſtarken, furchtbaren 
Wirbel. Die Hände klammern ſich au den 
Stuhl feſt, der Körper ſtrafft ſich. 

„Einen Brief vom Herrn Inſpektor an 
das kleine Fräulein!“ 

„Wieviel Siegel? Rot oder ſchwarz?“ 

„Eins. Ein rotes Siegel.“ 

Es entſteht eine Pauſe. 

Wie aus der Nebenſtube, durch Brauſen 
hindurch, hört das Kind Frage und Antwort. 
Mit einem Ruck fällt Hitze und Schwindel 
von ihm ab, es ſitzt in ſeinem weißen Kleid 
auf einem Stuhle mitten unter dem Geſinde, 
den Kopf erhoben mit fühlen Wangen, groß⸗ 
äugig und mit gefpanntem, ſtarkem Herzſchlag. 
Ein Siegel für fie? Alle ſehen fie an mit 
Augen, die nach ihr Hafen auszuwerfen fcheinen. 
Der Inſpektor Schulz neben ihr bat den Kopf 
auf dem langen beweglichen Halfe berum: 
geworfen. 

„Auglöfen!” ruft der Brenner widtig, in 
demfelben Tonfall, wie e8 der Inſpektor thut 
und erhebt ſich von feinem Platz. 

Das Kind Sieht zur Seite und begegnet 
des Inſpektors Blid. 

„Auslöfen, auslöfen!” Der Brenner näbert 
fih, ein Grinfen auf dem Gefidht, das Stuben: 
mäbchen fommt auch berbei. 

Nein, ganz gewiß nicht, denkt das Kind 
mit einem feltfamen Schwächegefühl in feinen 
Gliedern und einem Auflodern feiner Seelen: 
fräfte. 

Der Inſpektor neben ihm erbebt fi, cr 
fühlt einen leichten Zwang in feinen Be: 
wegungen, wie ein Turm fteht er neben ber 
Kleinen und fieht auf fie herab, während feine 
Wangenmuskeln fpielen. Langſam beugt er ſich. 

Das Kind ficht zu dem Manne auf. Sein 
Geficht nähert fich ihm wie die Verkörperung 
einer rauben, niedrigen, brutalen Welt. Die 
Finger ihrer Heinen Hände fpreizen ſich ein 
wenig, ihre Pupillen vergrößern fih in Ab: 
wehr, je näher diefe ausgebrannten, wiſſenden 


An der Kindheit Grenze. 


Augen, diefe roten, fündigen Lippen in dem 
krauſen Bart ihr kommen. Sein Atem ftreift 
über ihr Blumengefiht .... „Das war fein 
Kuß,“ fagt das Etubenmäbchen mit einem 
unbefinierbar gehäffigen Blit auf bas 
große Kind. 

„Wenigftend ein Handkuß,“ ſchlägt der 
Brenner vor. 

Der Infpektor hat fih aufgerichtet und 
fieht auf die Nleine herab, auf dieſe 
unfhuldigen Hände... . 

„Es wird meiter gefpielt!” befiehlt er mit 
einer fcharfen Wenbung, faßt das Stuben- 
mädchen um die Echultern und dreht fie wie 
einen Kreifel um ſich felber. „Es foll fi 
feiner unterftehen, an die Kleine einen Brief 
zu bringen,“ ruft er mit fnarrender Stimme. 

Nach diefem überftandenen Echreden kommt 
dem Kind die erlöfende Entdedung, daß bie 
verherte Wirtfchaftsftube eine Thür hat, die 
durch den Eleinen Zwiſchenraum in die Küche 
und durch den Vorbau ins Freie führt. Ins 
Freie! Ihr perlen Schweißtropfen auf ber 
Stim, ihre Nafenflügel dehnen fi. Ins 
Freie! Sie ift ja ein gefangener Vogel, ein 
gequälter Schlupfvogel unter  vierfüßigen 
Tieren, fie hat, o Gott, Gott fei Dant, fie 
bat ja Flügel! Noch ſchwebt über ihrem 
Kopfe wie eine Viſion das Gefiht des In— 
ſpeltors, und in ihrem Blut ift fo ein 
peinigenber Aufruhr, leiſe fteht es auf. 

Dazu ift es zu fchüchtern, um biefe ver: 
bündete Geſellſchaft, in der es nur gebulvet 
mar, ganz augenfällig zu verlaffen, aber ven 
Tumult benußt es ſchlau; als der Brenner, 
dem ſechs Küffe von Erneſtinchen bevorftehen, 
mit Ausrufen des Jammers hinter den Dfen 
ftürzt, da ſchleicht es fih zur Thür. Co 
lange es im Haufe in Engigfeit und Dunfel- 
heit vorwärtstaftet, fo lange wirb es verfolgt 
von dem naben, drohenden Männergeficht. 
Nun noch ein Schritt — der hohe Himmel 
ift über ihm, Himmelsöde, der alte Mond 
fteht blank und ſcharf über den Gartenbäumen 
binter ber Mauer. J 

Das Kind blidt um ſich und dann noch— 
mals zurüd nad den beiden hellen Fenftern. 
Es würde fih nit wundern, wenn da 
Flammen zwifchen den Gardinen fpielten, oder 
die Leute in der Wirtſchaftsſtube oben an der 





585 


Dede herumzögen mit Larven ftatt Gefichtern. 
Die Männer hinter den rauen ber, bie 
rauen den Männern nad, eine wilde Hehe. 
Welche ftarke, albbrüdende Macht ftrömt aus 
den beiden Fenftern? Es muß ieiter fort, 
um ihr zu entrinnen; noch iſt e8 nicht allein. 
Da auf ber Bleihe hat der Mond feine 
wunderbare Wäfche ausgebreitet, da hinein 
ftürmt das Kind in das raub betaute, helle 
Gras. Mitten darauf in der Weite bes 
Pages, in feiner größten Freiheit bleibt es 
ftehen und breitet die Arme aus. 

Wie eine Geifterhand legt fi der Schein 
auf fein Haar, an feinem Halsausſchnitt vorbei 
rinnt er über feine Bruft, an den Fingern 
tropft er herab zu dem mohlig auögebreiteten 
Teich von Licht. Das Kind Feucht und ſtößt 
findifche Klagelaute aus. Es möchte irgend 
jemand ober irgend etwas zur Verantwortung 
ziehen für die Häßlichfeit, die es gefehen hat, 
und alles ringsum ift ftumm, öde und von 
erbrüdender Großartigleit. Da ahnt das 
Kind, nichts auf der Welt kann ihm helfen, 
die Häßlichteit ift da, ebenfo wie eine lachende 
tüdifhe Tierfrage aus Holz geihnigt da ift, 
die im Hausflur hängt, von irgend welchem 
widerwaͤrtigen, wilden Mann gearbeitet. Man 
kann fid} von ihr weg wenden, aber ba ift fie. 
Eine neue, ſchmerzhafte Traurigteit fchüttelt 
das Kind bis ins Mark. 

Mit geſenktem Kopf und einem Him, das 
ſich dehnt in verwirrenden, fremdartigen Vor: 
ftellungen, ftapft es aus dem Gras und 
begiebt fih an ben Ententeich. Wo der 
Rand ganz flad ift, kauert es fi hin, wirft 
einen Blid hinüber nad ihrem Hollunberberg 
mit dem Tifh und der Bank in dem jein- 
gemufterten Echattenbild des Laubes — was 
für ein felig einfames Plätzchen — horch, 
die Fröſche quarren. — Nun fängt es an, 
fi das Geficht zu waſchen, ganz nah fieht 
es auf die glatte, ſchwarze Waſſermaſſe, ſchöpft 
dann und reibt mit Eifer. Wie ein Segel 
liegt weiter unterhalb des Hollunderberges 
der Mondſchein und da drüben am Ufer unter 
den großen Kürbisblätten! Da hat fih der 
Herr Mond nicht den Epaß gemadt, einen 
Heinen weißen Berg von Licht aufzuhäufen, 
nein, das find die beiden Ausreißer, die beiben 
weißen Enten eng bei einander. Mit nafjem 


566 An der Kindheit Grenze. 


Geſicht läuft das große Kind um ben Teich, 
bebende wie ein Indianer nähert es fich dem 
Uferrand, „Ahr Mondenten!” Mit auf: 
ſtrahlendem Geſicht büdt es fih, um leife auf 
die feften Federrücken zu taften. Und plötzlich 
hebt es mit einem Rud die Hände und ruft 
leidenfchaftlih und mit böfer Schabenfreube: 
„Huhu!“ 

Die Enten ſchnattern erſchreckt und flüchten 
mit ausgebreiteten klappenden Schwingen 
nebeneinander über das Waſſer; als ſie über 
den Glanz ſtreichen, blitzen ihre Federn ſilbern 
auf. Das Kind zeigt die Zähne vor Luſt, ſo 
heftig hat es ſich noch nie gefreut. 

Jenſeit ducken ſich die Enten, plantſchen 
und klatſchen noch ein wenig, die Kreiſe auf 
dem Waſſer verlöſchen. Jetzt quarren nur noch 
die Fröſche in dem Bruch hinter der Hecke. 

Die Traurigkeit hat nur darauf gewartet, 
daß es wieder ruhig werden ſollte, jetzt ſenkt 
ſie ſich aus allen Büſchen und Bäumen, aus 
der Luft herab, vom Waſſer hergleitend, aus 
dem Mondſchein rinnend, hinein in des großen 
Kindes Seele. Sieh mal, ſagt ſie, ſo traurig 
iſt die Häßlichkeit! Mußt du nicht über das 
weinen, was du geſehen haft? War irgend 
etwas, ein Wort, eine Miene, ein Blid nicht 
beflagenswert? Beſinne dich, ich babe Zeit 
zu Warten. 

Das Kind preßt die Lippen zufammen und 
befinnt fih. Nichts, nichts mar lauter, fchön, 
natürlich, die Zärtlichleit ohne Reinheit und 
Süßigkeit, die Blide ohne Seele, die Geberden 
ohne Abel. Zum Sterben häßlich das Ganze! 
Aber in ihr wühlt Trog und Yeinbfeligfeit 
gegen die ſchwarze Trauer, die fie zu Thränen 
auffordert. Sch will doch meiterleben, wenn 
ih auch weiß, wie es mit Erneſtinchen ſteht, 
daß fie lieber lügt und Spott erträgt, als es 
entbehrt, mit dem Gärtner zufammen zu fein, 
von dem fie doch weiß, daß er lieber mit dem 
Mädchen mit den bunten Schleifen zufammen 
wäre, jagt das Kind. ch weiß auch, daß die 
Mamfell nicht nur einem Schwein ähnlid, ift, 
nein, fie hat auch etwas von einem Schwein 


ganz gewiß; als ich fie anfah, wie fie der 
Inſpektor unter das Sinn faßte, da mußte idh 
e3. Der Gärtner ift fo dumm und albern, 
daß er in einem Augenblid nicht weiß, wie 
er im nächſten fein wird, lauter Sehen find 
in ihm. Der Brenner möchte immerzu lärmen 
und Witze maden, um nicht zu bedenken, daß 
er ein Spitbube if. Das weiß ich alles und 
werde e3 ertragen. a, aud das werbe ich 
ertragen, daß mir Herr Schulz jo nahe mit 
feinen Augen, feinem Bart und feinen Zippen 
gefommen ift. Sch werde nicht mehr daran 
denken, außerbem habe ich mich ja gewaſchen. 

Das Waſchen thut es nicht, auch nicht 
das daran nicht denken, bu Baft etwas 
verloren — fpürft du die Lüde, liebe Seele? 

Das große Kind fpürt: die Lüde — eine 
Brefche ift in feine goldenen und bunten, 


gläſernen Kouliſſen eingeriffen, mit denen es 


fein Dafein umjtelt; die unbarmherzige, 
wirflihe Ferne fieht hinein, und es bläft Falt 
wie ein Winteriwind durch das Loch. 

Eigentlih gebt es mich gar nicht an, 
was das Gefinde treibt, ſagt es fih mit 
gewollter Fühlloſigkeit. Warum fol ich mich 
grämen, ich habe ſolchen Abfcheu vor ihnen, 
ih bin anders als fie. 

Sa, aber fie find Menſchen, und du bift 
ein Menſch. Sie find ärmer und niedriger 
als du — fieh, darum mußt du am meiften 
weinen, — das Kind denkt nach, und bie 
Augen werden ihm naß. Wie web thut biefe 
ſchwere Traurigkeit feiner heiteren Seele! Es 
bäumt auf und fchleubert fie fort zu ben 
Chatten unter den Kürbisblättern, in ben 
Teich .... Das weiß ich ja alles, fagt fich 
das Kind heftig. Es nützt nichts, Sand darauf 
zu ſchütten, aber ich thue es doch! Sch will 
das ſchöne Leben meiter führen, das von 
geitern und heute Vormittag, ich werde fo 
tbun, als ob nichts vorgefallen wäre. Dleine 
Erfahrung über das Häßliche fol mir niemand 
anmerken... ... 

Das Leben ber Erivadhjenen fing an 
diefem Abend feine Arbeit bei der Kinder: 


in ihrem Weſen, es ift furchtbar, aber es ift | feele an. 








NRadbrud mit Duellenangabe erlaubt. 


“ Das Bercind: und Berfammlungsredht der 
rauen wurde am 4. Mai von bem Ausſchuk der 
Geiellichaft für Soziale Reform verhandelt. Wir 
geben um der Wichrigfeit der Sache willen den 
Bericht über dieie Situng (Soziale Praris Nr. 32) 
im Wortlaute: 

Ter Referent Reichstagsabgeordneter Nic. 
Noefide betonte, wie bei Begründung ber Gefell 
ſchaft für Soziale Heform die Abſicht beſtanden 


babe, alle Areite ber Bevölterung und alfe Parteien ; 


jum Sivede der Förderung der Zoyiafreforn au 
umfailen unb zu vereinigen jerngeblieben feien 
aus eigenem Entichluß die Ertremften rechts und 
lints, die auf der rechten Seite, weil fie überhaupt 
von ber Sozialreform nichts willen wollten, die 
linfs, weil fie leiber noch in der Ablehnung gemein 
ſamer Thätigteit vwerbarrten. Hier könnten wir 
nichts ändern. Anders aber jei c& mit den ‚rauen. 
Dieje hätten felbft ben Iebhafteiten Wunich mirzu 
arbeiten und das wärmite Intereſſe an unferen 
PVeftrebungen bekundet. Trogtem Fonnten wir fie 
nicht zulafien, weil in ben größten Staaten bad 
Vereinsgeſet es ausdrücklich verbietet. Und nicht 
die Geielfhaft für Soziale Reform allein müſie 
jegt auf dieſe wertvolle Unterftügung verzichten, 
ſondern fie fehle allen soziatpofitiichen Beitrebungen, 
ia au der Hegierung felbit, die ja nad ihrer oft 
wieder doiten Yeteuerung Die Sortführung ber [ 
reform für unerläßlich balte, ſich aber für weite 
Gebiete der beiten Mitarbeiterinnen beraube. Tas 
Heich habe auch den Arbeiterinnen bad Roalitions 
recht verliel 
helfen, der Einzelftaat aber werfümmere ober ent. 
siehe ihnen Dieies Recht micher 
aber dieſes Verbot, fo fegen wir uns der ür 
ber Pol aus und verbindern geradezu feine Be: 
jeitigung. Dian foll überhaupt in der Sorialpolitit 
Wunden nicht zudeden, iondern wir müſſen sie 
oñenlegen und Mittel zur Heilung fuchen, In 
dielem Falle heißt daß; 1 den ‚Frauen 
das Recht verichaften, ſich iosialpolitii 
und Verſammilunger betätigen. Wie Die ge: 
werbůchen Verbaln (ch geftaltet haben, it es 
wideriinnig die PVeteiliaung der Ärauen aus: 
ichließen. Schen heute in ihre Teilnahme in 
vielen Bundes ſtaaten erlaubt, aber gerate bie 
größten verbieten fie. Hier ann nur cin 
geiek belfen, chenio mic man durch Mei 
einzelftaatlichen Verbote ber Verbindung von Ler: 
einen aufgehoben bat. 















































damit fie fi durch eigene Nraft 


Übertreten wir : 


Vereinen ' 


J FRE L i 
Der Korreierent Preieiſor Dr. Frande entwarf 


557 


in großen Zügen ein Bild der beftchenden vereins 
geieglichen Beitinmungen über die Julafiung von 
rauen zu politiichen Vereinen. 16 deutſche Cinzel 
ftaaten, an der Spige Sachien, Württemberg, Yaben, 
Heſſen, dann bie meiiten Nleinftaaten und vie 
Sanjaftäbte, fennten feit den I1R50er Jahren das 
Frauenverbot nicht; ja nicht einmal ber rcaftienäre 
Bundesbeſchluß von Ix54 habe bie Arauen aus: 
neichlofien, fondern nur die Schüler und Lebrlinge. 
Andere Staaten, wie bie Beiden Medienburg und 
Eliaß votbringen, verböten die Teilnahme der frauen 
nicht ausbrücklich, ftellten aber das nanıe Vereins 
und Verſammlungsweſen in das biöfretienäre Er 
meiten ber Vehörten. Vayern habe IHUN dao 
Frauenverbot nur inſoweit aufgehoben, ald Vereine 
für die Berufsintereſſen, ſowie Zwecke des Inter: 
richts, der Erziehung und Mranfenpflege in Betracht 
fommen. Preußens Vereinsrecht, da® nun 51 Sabre 
alt jei, ichliche die rauen von Vereinen aus, die 
volitifche Angelegenheiten in Verfammiungen er- 
ürterten, laile fie aber zu öffentlichen Verjammlungen 
au. Noch reaftionärer ſcien bie Vorichriiten im 
Braunſchweig, wo jept der Evangelich Soziale Non: 
greß darunter zu leiden Babe, und ciniger Alein: 
ftaaten. So ergebe jih ein aanı bunticediaes 
Bild, ein zuſtand gröhter Berworrenbei 
in dem einen Staate feit alters her erlaubt, jei in 
dem benadhkarten verboten. Tief verlegend müie 
für die ‚frauen die Zufammenftellung mit Yehrlinaen, 
Schülern, (perjährigen, ber Ehrenrehte Zer: 
luſtigen wirfen. Und das in einer Zeit, we ber 
Ztaat die ‚Frauen ald Beamte in manden Ver 
waltungen keicäftine, wo er ibnen im Ermerbs. 
leben bieielben Rechte wie den Männern aewäbre! 
Auch ber Norreierent it der Anficht, daß bier nur 
durch Eingriff der ihögeiehachung zu belien sei, 
indem man das landesgeſehliche Frauenverbot cbenio 
wie das Verbindungsverbot beieitige. 

An ber Schr Ichbaften Debatte beteiligten. ſich 
bie Herren Hite. Nei Schmoller, Bebrens, Som: 
bart, vehner, Freiberr ". Berlevich und die Ne: 
ferenten. Schließlich wurde auf Grund veridiebener 
Anträge folgender Beichluß einitimmig gefaht: 

Im Sinklid auf Die dringende Notwendig 






































teit der Mitwirfung ber Frauen an allen 
beichlic‘ 


ber 
ran, 
eine Eingabe an Bundesrat und Reichstag zu 
richten, in der der baltige Erfah; eine Heihs 
geiehes gefordert wird, das bie der Anteilnabme 
der ‚Frauen an jenen Beitrebungen entgegen: 
ſtehenden landesgeieglichen Heihräntungen der 
Vereins: und Verlannılungsgeicggebungaaufbebt, 


en Beitrebungen, 





563 


+ Die Frage des Zudrangs umberufener 
Frauen zu den Univerſitätsvorleſungen be: 
Ihäftigte den Berliner Frauenverein in einer 
Situng, zu ber auch die Mitglieder des „Vereins 
ftudierender Frauen zu Berlin“ eingeladen worben 
waren. Die Frage war zur Diskuſſion geftellt 
worden, da in meiteren Kreifen die Anficht ver: 
breitet ift, die Zulaffung ber Frauen zur Berliner 
Univerfität fei in einer Weife von Unberufenen 
ausgenußt worden, daß das Frauenftubium für die 
Univerfität zu einer Kalamität werde. Es murbe 
von den anmwefenden Stubentinnen feftgeftellt, daß 
es ſich bei den Elementen, für die dieſe Anficht ge: 
rechtfertigt fei, meift um Frauen handele, die ohne 
Erlaubnid einzelne Borlefungen befuchen. ine 
ſchärfere Kontrolle würde dem Übelftand abhelfen. 
Im übrigen mar man der Anficht, daß die neue 
minifterielle Beftimmung über den Berechtigungs: 
nachwei3 zum Befuch der Borlefungen genügen 
werbe, um den Mikftänden, von denen jedenfalls 
im Publikum übertriebene Vorftelungen berrichten, 
abzuhelfen. Die Verſammlung faßte das Ergebnis 
der Disfuffion in folgende Refolution zufammen: 

„Die am 25. April tagende Verfammlung bes 
Berliner Frauenvereind FTonftatiert, daß an ben 
öffentlichen, und zum Teil auch an den privaten 
Borlefungen der Berliner Univerfität Hörerinnen 
teilgenommen baben, die nicht im Beſitz des vor: 
ſchriftsmäßigen Hoſpitantenſcheines waren und beren 
Anwesenheit in den Hörfälen thatſächlich ala eine 
Gefahr für das Frauenftudium betrachtet werden 
kann. Die Berfammlung hält eine ftrengere Aus: 
übung der Kontrolle für wünſchenswert. Der 
Minifterialerlaß vom 26. Februar betreffend bie 
Zulafjung von Hörerinnen mwürbe nad) Anficht der 
Verfammlung ein genügendes Mittel zur Abftellung 
der Übelftände fein, eine ftrenge Handhabung und 
möglichit beichräntte Zulaffung von Ausnahmen 
vorausgefegt. Doch erklärt die Verfammlung es 
für wünſchenswert, daß die in Ausficht geftellten 
Beltimmungen für die Ausländerinnen von biefen 
eine Ausbildung verlangen, bie ber von ben 
deutichen Hörerinnen geforderten durchaus entſpricht.“ 


* Das Wahlreht ber rauen für Die Ge- 
werbegerichte wurde im Anſchluß an 5 10 und 
S 13 des Gefeged über die Gemwerbegerichte bei 
Beratung bed Abänderungsentwurfe® von bem 
Reichdtag verhandelt. Der von fozialdemofratifcher 
Seite eingebrachte Antrag, Frauen das paffive 
($ 10) und attive Wahlrecht (K 13) für die Ge: 
mwerbegerichte zu geben, den Abgeordneter Tutauer 
mit dem Hinweis auf die Erfahrungen in Ofterreich 
begründete, wurde gegen die Stimmen der Sozial: 
demokraten abgelehnt. 


* An der lUniverfität Heidelberg wurden 
für dies Semefter ſechs Damen immatrifuliert. 
Weitere zwei find vorgemerkt, und aus vorigem 


Frauenleben und :Streben. 


Semefter find brei verblieben Mit fonadh 
mindeſtens 11 rite immatritulierten Studentinnen 
hat die Ruperto:Carola im laufenden Senmer- 
femefter die höchſte Zahl an einer reichäbeutichen 
Hochſchule jemals vollberechtigt Ttudierender Damen 
erzielt. Bei der erften Smmatrilulation an ber 
Univerfität Freiburg i. B für das Taufenbe 
Sommerjemefter wurden brei Damen eingejchrieben, 
von benen fich zwei bem Studium ber Medizin, 
eine dem ber Archäologie widmen. 


* In Mannheim fol, mie bei Beratung bes 


Budgets mitgeteilt wurde, der höheren Mübchen: 


ſchule, unabhängig von biefer, eine Dberreal: 
ſchule für Mädchen mit Unter und Bberprima 
angegliedert werden, beren Nbiturientinnen bie 
Univerfität befuchen tTönnen. Die Mäbchen, die 
ſich bumaniftifche Bildung aneignen wollen, find 
zum Befuch des Mannheimer Gymnaſiums 
berechtigt. 


* Den Ruhm des rüdftändigften Bereins- 
rechtes im Dentfchen Reihe bat Brannfchweig, 
und es fcheint ihn ftolg behaupten zu wollen Es 
Ihließt die Frauen nämlich nicht nur von politifchen 
Bereinen, ſondern auch von allen Berfammlungen 
diefes Charakter8 aus, und der Bolizet- Präfident 
behnt dieſe Beftinnmung auf den evangeliſch-ſozialen 
Kongreß aus, der zu Pfingften dort tagen will 

Der Allgemeine Deutfche Frauenverein, 
der im Herbit feine Generalverfammlung gleichfalls 
in Braunſchweig zu halten beabfichtigte und bereit? 
das betreffende Geſuch dem Polizeipräfidenten ein: 
gereicht Hatte, bat, infolge der Zurückweiſung der 
Frauen vom Evangeliſchen Kongreß, fein Geſuch 
zurüdgezogen. Im übrigen ſcheint fich Braunfchweig 
erft neuerdings auf den Paragrapben befonnen zu 
haben, ber den Staat vor einer Gefährdung durch 
bie rauen fchüßen fol. Als vor 33 Jahren ber 
Allgemeine Deutiche Frauenverein dort tagte, fvurbe 
ihm der Rathausſaal zu feinen Berfammlungen 
eingeräumt und Frau Dr. Goldſchmidt Konnte 
zum Schluß einer Rebe, in der fie u.a. die Zulaflung 
der Frauen zu kommunalen Ämtern forberte, den 
Vertretern der Stadt Braunfchmeig ihren Dank 
mit den Worten ausſprechen: 

„Laſſen Sie e8 mid noch zum Schluſſe als 
ein bedeutungsvolled Zeichen der nahenden Erfüllung 
der in meinem Antrage geftellten Forderungen 
begrüßen, baß die Vertreter der altehrwürbigen 
Stadt Braunſchweig uns dieſe Stätte zu unfern 
Beratungen geöffnet. Sie haben und bamit ala 
Bürgerinnen, unjere Beftrebungen als gemeins 
nüßige anerkannt.” 

Als das Kefultat einer Entwidlung von drei 
Jahrzehnten ift die Zurüdweilung der rauen des 











Rrauenleben und 










evangeliich iesiaten Menarchics fur Braunichwein 
aewiß cin seltiames Jeunnis. Immerbin kann 
man im Sinblid auf die Beruckſichtigung. Die das 
Vergehen der Hraunicweiger Veborde durch die 
Weleuichaft für Tosiale Reform gefunden 11. 2.507 
dieier Kummer), Die aanze Sache al& ein Zeichen 
einer Ariũs betrachten, auf Die endlich cine 
der ungelunden Verbaltniſſe, Die durch bie ci 
ĩtaatlichen Vereinsrechie geichaften werben, er 
felgen muß. 








» Über die induftriele Tramenarbeit im 
OHeſſen krinat der neue Jabreebericht der beittichen 
Griwerbiinipektion «1Mm) eine Neibe für uns 
wichtiger Rotizen. Mer den Erielg der Arbeit der 
weiblichen Aifiitenten berichten die Auichtebeamten 
von Tffentah und Tarmitant (unitiais. Der 

fenkader Tenitattert, dak Der 
Arbeiterinnen mit der Aftirentin ſich iebr acheben 
babe, baupriahlic auf (rund der in ihrer Dienit 
lien Thatiareit erwerbenen Kenntnis von Terionen 
und werben. 

Bemerfendwert find Die Angaben uber die 
Arbeirdzeit Fur die Arbeiterinnen. Ton 145 Jabriken 
des Mainzer Besirts beichaitigen nur 20 bie 
Arbeiterinnen 197, besm. I1 Stunden malic, aue 
anderen breiben unser der acieplich 
Rarimalacbei: ding danach, de 
lortuntige N 
grekt Schmier 
Tie Treaniatien 




















* Die Gründung eines Bi 
fer ranenvereine, 


+ geberene Hefenfame in Teetinbem ernannt. 


Streben. 5 
ittat Heidelbera sum Ghrenbofter ernannt wurde, 
ft jett zum Witter des bertugieſiichen Santiaue 
erdens ernannı worden. Tie aleiche Auszeichnung 
eriubr Die bekannte vertugieiriche 
Amalia Sa: de Carvalbe. 
criten rauen in Kertuagal, 
verlieben wurde. 









Üund dies Die 
denen dieier Erten 





Als Sculinipehter im Berirt Tectindem 
(Erorinz elderland wurte rau X. H. M. vente, 
Zie 
iit der eriie weibliche Schulinipefter in Sellane. 





- Ein‘ an Frauen eingeleiteteö gensfienihait- 
n Maktaber icheint 







andeiter Ausiihr auf Kerwir: 
Es banteit Äh um Me Einsuhtung ve 
teinunastuchen inc denen Bezırfen ver Statt, 
durch die man den turd 
bervorgeni 
bes Einzeibausbaltes abzuberien 
Ruce ich in rurrer Ber ın einem ter widtteiten 
Staditeile erofner werden. Tie li 
eine Aktienseilihak mir beisrantter 



























“ Die Begräudung 












im Normen 





570 


„über den phufiofogifhen Schwachfinn des 
Weibed“ von®.J.Möbius. 2. Aufl. (Halle a. ©. 
Sarl Marhold.) Bon Zeit zu Zeit taugt immer 
einmal wieder ein Mediziner auf, der mit jenfatio- 
nellen Behauptungen über bie geiftige Beſchaffenheit 
der Frau ein billiged Auffehen erregt. Die Sade 
ift jest bereit® jubiläumäreif, denn betanntlich 
begann Profeffor von Bifchoff in den fiebziger 
Jahren den Reigen. Auf Bilhoff folgten Runge 
und Albert, von deſſen Broſchüre Marie von 
Ebner-Ejchenbad) bekanntlich fagte: „Solde Bücher 
nügen un mehr als fie ſchaden · Febt ift wieder 
ein ganz Heiner Epigone erftanden, ber über den 
pbpfiologifchen Schwachjfinn bes Weibes allerlei Mare 
au berichten weiß, gefpiet mit Reminicenzen aus 
Schopenhauer, Lombrofo und den ärztlichen Kollegen. 
Seine mebizinifchen Behauptungen haben bereits 
eine fachverftändige Entgegnung gefunden; bie 
übrigen einer Widerlegung zu würdigen, liegt fein 
Grund vor. Iſt doch der Verfaffer uͤndlich genug, 
um ſich beifpielaweife an der Anwendung bes 
Namen? „Frau“ als Kollektivbezeichnung für dad 
ganze Geflecht zu ärgern, das feiner Anficht nach 
mur Anfpruch auf ben Namen „Weiber“ Habe. 
Wir raten ihm, zu einer Befeitigung dieſes Arger⸗ 
niſſes ſich doch einmal an bie Eifenbahnverwaltung 
zu wenden, mit der Bitte, die Auficrift „Frauen: 
koupee” in „Weiberfoupee” zu verwandeln, was 
nad Anſicht des Herrn Möbius allein bem Sprach: 
gefühl des deutichen Volles entfprechen wilrbe. Im 
übrigen ift die Sucht des Verfaifers, überall nur 
Krankheit und Schwachfinn zu jehen, wohl genügend 
dur) fein Bud) „Über das Pathologiſche bei Goethe” 
getennzeichnet. 

Daß übrigens ein Blatt wie der „Zeitgeift” 
diefes Viſchoff Lombrofo: Albert: Runge: Möbiuside 
Ragout mit einer hochſt faden Hans Schulzeihen 
Brühe ferviert feinen Leſern vozufegen wagt, zeigt, 
auf was für einen Geſchmack man in dem Lande 
noch rechnen darf, dem die Frauen einft als „etwas 
Heiliges” galten. Die Frauenbewegung aber wird 
über alle diefe Schulze und Müller, dieje Hans und 
Kunz zur Tagesordnung übergehen. 

Es märe ja freilich ein Leichtes, dem Schrift: 
hen „Bom phyfiologifhen Schwachfinn des Weibes" 
ein gleiches „Vom phyfiologifcen Startfinn, vulgo 
Brutalität, des Mannes“ entgegenzufegen. Ich 
wollte mich gleich anbeifchig machen, babei zu ebenfo 
ſchiefen Nefultaten zu kommen. 
Infiierung der Mehrzahl der Männer, bie Taufende 
von Frauen, bie durch fie vernichtet werden, bie 
Milliarden, die fie alljährlich in Altobol, Tabak und 
Tulinarifche Genüffe umſetzen, der brutale Egoismus 


Die gefehlechtliche | 





von Taufenden von Chemännern und Familienvätern, 
mad für granbiofe Themen für ein Kapitel über 
den phyſiologiſchen Starkfinn des Mannes! Wahrlich, 
es wäre leicht, gegen Schopenhauer zu behaupten, 
daß bie Frau der eigentliche Menfch fei, feicht, 
in der frau ber heutigen Beit mehr edelmenſch⸗ 
Tide Züge nadzumeifen, ald in dem durch ben 
Dienft der Venus, bes Bachus und Gambrinus 
entarteten Mann. Den phyſiſchen Grund folder Ent: 
artung könnten wir ja dann, die Grau ald Normal 
menfch gefet, in dem zu großen Gehirn und ber 
zu maffiven Beſchaffenheit des Mannes fuchen, 
die ihn höchſtens geeignet machen, ihr als Gehirn. 
und Krafttier Syſieme und technifche Apparate zur 
Erleichterung ihrer rein menſchlichen Wirkfamfeit 
zu bauen. Aber wir rauen von heute haben 
anderes zu thun, als folhe Spielereien. Wir wollen 
zufammen mit den Männern, bie mehr fönnen, 
als fenfationelle Brofhüren ſchreiben, eine Zeit 
heraufführen helfen, in ber billige Schmäbungen 
der Frauen bie verdiente Nichtbeachtung finden, in 
der Mann und Frau vereint, tie in der Familit, 
fo auch im öffentlichen Leben, an der Hebung und 
Veredelung ber Menfchheit arbeiten. 


nDie Wenigen und die Bielen.“ Neue Eifave 
von Ellen Key. (Berlin 1901, ©. Fiſcher Verlag.) 
Eine moderne Lebenzftrömung, bie der Frauen 
beivegung zuerft ihre Fluten entgegenzurollen ſchien. 
der Individualismus, beginnt fih nun beutfih von 
ihr zu fcheiden, und nimmt manche mit fort, bie 
ihr halb gehörten. Ellen Key feht an bieſer 
Grenzicheide. Auch die Frauenbewegung ift gewedt 
und getragen von ber Kraft bed modernen Individua⸗ 
lismus, mag fie auch in dem altruiftifchen Pathos, 
das ihre erften Lebendäußerungen trug, und in 
den Mitteln, die fie ergreifen mußte, ihren Urfprung 
verleugnet haben, mag die Art und bie Zahl ber 
Anhänger, die fie fid) gewonnen, ihr den urfprüng- 
ůchen Charakter verwißht und ihrem Auftreten ein 
Mittelmäßigteitögepräge gegeben haben Es finb 
die Formen, die die fozialen Verhältmiffe ihr 
aufzwingen. Sie mußte ſich „herbenmäßig“ 
organifieren, um eine Macht zu werden. An biefen 
Formen nehmen die „Wenigen“, zu denen Ellen 
Key fi dechnet, Anftoß. Sie eriheinen da düch 
unharmoniſch, unvornchm, fic gehören ben Vielen“ 
an und verhüllen das feine eigenartige Wefen der 
Beften. lien Key hat ſchon viel gegen biefe 
Formen aefagt, ſchon mehr und Beffered als in der 
neuen Sammlung ihrer Eifays. Neue Gefichts: 
punkte bringt fie nicht, fie greift nur birckter an, 
als etwa in der erften. Eines Eingehens auf dad 





Frauenvereine. 


Sachliche der Efland, die fpexiell der frauen: 
(Sie ! 


bewequng gelten, bedarf es desbalb kaum. 
find übrigens zum Teil auch ſchon älteren Datums.) 
Was bie übrigen Beiträge der Samınlung betrifft, 
fo kann fi einer, der Ellen Key kennt und ihre 
ſchriftſtelleriſche Thätigfeit verfolgt, des Eindrucks 
micht ganz erwehren, daß auch feines Nefleftieren 
über die feinen Tinge des Lebens in einen er: 
mübenden Kreislauf einmünden fann. 


„Education of Girls and Women In Great 
Britain“ von C. S. Brenner. (London, Swan 
Sonnenfeein, 1897.) Eine mit forgfältiger Aus: 
wahl des Wefentlihen Kar zufammengeftellte 
Überficgt über das engliiche Mädchenfhulmwefen 
von der Volioſchuie Bid zur Univerfität. Sie dürfte 





bei dem allgemeinen nterefie, das bei und bem , 
englijhen Mädchenerziehungsweſen entgegengebracht ; 


mird, in Peuticland wohl aud eine Yüde auß: 
zufüllen geeignet fein Das Buch behandelt in 
zwei Zeilen das Bildungsweſen in England und 
Wales, und in Schottland. Beſonders wertvoll ift 
& baburd, daß «8 die tehniihe und gewerbliche 
Ausbildung der Mädchen eingehend berüdfictigt, 
ein Gebiet, auf dem der Ausländer aus Mangel 
an Material fib am ſchwerſten orientieren fann. 


Die Einteilung in kurze Abfchnitte mit vorgedrudten : 


Inhaltsangaben erleichtert das Auffinden von Zeil: 
gebieten außerordentlich. 


571 


Abendlinder.”” Roman von Frieda Freiin 
von Bülow. (Dresden. Carl Reifner.) Der 
‚ neue Roman von Frieda von Bülow führt uns in 

cin Milieu, dad ihr befannt ift, tie faum ein 
| sneited, auf die Güter des thüringiſchen Landadels. 
Man mag einzelne Vorkommniſſe bezweifeln, man 
mag fi unter anderm bie frage vorlegen, ob 
eine Frau wie Juliane wirklich einen Mann wie 
den Grafen Ternach, der ab und zu ganz harmlos 
; einen Meinen Ehebruch begeht oder ſchwer betrunten 
nach Hauſe getragen wird, ertragen könne: ber 
volalton ift fo unzweifelhaft echt, daß das Buch 
durch derlei Einzelheiten feinen Reiz nicht einbüßt. 
| Er liegt Hauptfächlic in dem liebevoll wehmütigen 
Verwellen auf Heinen feinen Zügen, bie ben Unter: 
gang einer Welt bezeichnen, bie fi in ihrer aus: 
geprägt ariſtotratiſchen Färbung, in ihrer vornehmen 
Zurüdhaltung von jeber Aktion, die auf materiellen 
Gewinn abzielt, gegen die thatlräftige, aber nichts 
weniger ald ariftofratifehe Gegenwart nicht mehr 
zu halten vermag. Tie Yiebe, mit der bie Ver: 
fafferin die legten Dieimanndriebs fdilbert, bie in 
bewußter Refignation auf eine Fortführung des 
alten Geſchlechts verzichten, zeigt deutlich genug, 
auf weſſen Seite ihr Gerz ift, wenn auch ibr Kopf ſich 
dem nüchternen Rüglichleitöprinzip ber Gegenwarts⸗ 
welt nicht verfhließt. Am wmenigften wirffam ift bie 
Berliner Epiſode bes Romans. Der berühmte Berliner 
| Künftler will fid nicht recht überzeugend geftalten. 





u 


Franenvereine. 


Aufruf! 
Der unterzeichnete Vorſtand beabſichtigt eine 


größere Frauenbibliothet in Leipzig einzurichten. 


Der Stanım diejer Bibliothek befteht aus ber 
„Louiſe Otto: und Auguſte Schmidt: Stiftung”, 
welche von Herrn Profefior Dr. Wendt in Troppau 
begründet und bis jegt in banfenswertefter Weile 
verwaltet worden ift. Die Bibliothek ſoll enthalten: 

1. alle diejenigen deutſchen Schriften, welche 
don Frauen ober von Männern über die rauen 


und Frauenbetoegung geſchrieben worden find, gleich: , 


viel ob im freundlichen oder im feindlichen Sinne; 

2. die wiſſenſchaftlichen Schriften, die von 
deutſchen Frauen geichrieben worden find. Zu 
dieſen würden auch die Tiffertationen der deutſchen 
Doltorinnen gehören; 

3. die Schriften auslandiſcher Frauen und ihre 
wiſſenſchaftlichen Arbeiten, ſowie Schriften zur 
Frauenbewegung ded Auslands. 

Wir bitten nun hierdurch unjere Mitglieder 
ganz ergebenft, micht mur ihre eigenen etwaigen 
Arbeiten einfenden zu wollen, fondern au in 
weiteren Kreiſen freundlichſt dafür zu wirken, daß 
Werte der oben bezeichneten Art im Sinblid auf die 


Bedeutung des Unternehmens dem Verein zur Ver: ! 


fügung geftelft werden. Einfendungen werden an 


Arau Johanna Schweiger in Leipzig, Löhrftrafe 9, 
Marthahaus, erbeten. 
Der Borftand 
des Allgem. Teutfhen Frauenvercind. 


Dert rheiniſch-weſtfäliſche Zranenverband 


unter beſonderer Verückſichtigung provinzieller 

-hältnijie — während der zwiſchen ben vundes⸗ 
Verſammlungen gelegenen Jahre den räumlich ein: 
ander naheliegenden Vereinen Gelegenheit geben zu 
gegenfeitiger Anregung und Förderung, zu gemein: 
famem Vorgehen in verfejieenen Fragen von alls 
gemeinem Intereife. Der Berband hofft, aud 
folhe Vereine zum Anſchiuß zu gewinnen, denen 
ein diretter Anfcluß am den Bund nod) fernliegt. 
Er möchte vor allem auch burd Aufnahme von 
Einzelmitgliedern in folgen Städten, in denen 
tein dem Verband angehörenber Verein beftcht, 
ein Mittelpunkt werben für bie noch verftreut 
lebenden eingelnen Anbängerinnen der Frauenfache 
in beiden Provinzen, möchte durch Sermittlung 
‚ Diefer Eingelmitglieber den Ideen der Frauen 
beiwegung an allen Orten neuen Boden getrinnen. 
Durch Vorträge, durch Verbreitung von Propaganda: 
material, durch geregelten Außtaufc) der im ver: 
ſchiedenen Stäbten gemachten prattifchen Erfahrungen 
hofft der MWerband förbernd thätig zu fein unb 
‚ weitere Kreiſe von dem Ernſt und ber Rot: 
wendigkeit der jyrauenbeftrebungen zu überzeugen. 





I Er gehört bem Bunte beutiher Frauenvereine 
‘ an und muß fagungsgemaß auf den Yundes: 


572 


verfammtlungen vertreten fein. Außerdem mwirb er 
in jedem Frühjahr in beiden Provinzen 
wechſelnd — eine Verbandes-Verſammlung berufen. 
Mittelpunkt ded Verbandes ift die Zentral:Auskunft: 
ftelle, Die unter Leitung der 1. Borfigenden, Frau 
Krutenberg:Bonn, ſteht und auf alle Anfragen — 
auh aus dem Verband fernftehenden Frauen: 
freifen — koſtenlos Auskunft erteilt, und die 
Propagandaftelle, welche in Händen der 1. Schrift: 
fübrerin, Frl. Günther-Bonn, liegend, Flugblätter, 
Drudichriften u. ſ. m. verbreitet und Anregung 
giebt zur Begründung neuer Vereine unb Orts: 
gruppen. Durch Inſerate in größeren Zeitungen 
will der Berband auf feine Thätigfeit aufmerkſam 
machen. Geldmittel fteben ibm bank ber Frei: 
gebigteit verfchiedener Mitglieder bereits aus: 
reichend zu Gebote. Bisber haben Frauenvereine 
aus Bochum, Bonn, Dortmund, Godesberg, Köln, 
Remſcheid ihren Beitritt erflärt. 





Der Verein „Hauspflege“, 


Abteilung des Berliner Frauen-Bereing, veröffentlicht 
den IV. Jahresbericht über feine Thätigfeit im 
Laufe des Jahres 1900. Als der Berein im’ 
Sabre 1897 begründet wurde, erftredte fich feine 
Wirkſamkeit vorerft nur auf die am meiften be: 
dürftigen Stadtgegenden SO. O., N., NW. mit 
125 Stadtbezirken. Im Januar dieſes Jahres 
wurde das Gentrum als letter noch fehlender 
zeil mit in den Kreis der Vereinsthätigkeit ein- 
aeichloffen, und nunmehr umfaßt das Gebiet des 
Vereins das gefamte Berlin mit feinen 357 Stadt: 
bezirten. Die Thatfache des fo fchnellen Wache: 
tums des Bereind bemeift am beiten, daB feine 
Leiftungen einem wirklich vorhandenen Bedürfnis 
entiprechen, daher hat er auch in den 4 Sahren 
feiner Thätigkeit fo viel Freunde und Gönner ge: 
funden, die bie rafche Ausdehnung feiner Arbeit 
ermöglichten. Das verfloffene Jahr bat fi) von 
den früheren nur dadurch unterfchieden, daß die 
Arbeit außerordentlich gewachſen if. Es wurde 
im ganzen in 2328 Fällen mit 19 384 Pflegetagen 
gepflegt. Das Zuſammenwirken mit dem Berliner 
Verein für häusliche Gefunpheitöpflege und vielen 
anderen bat fich für beide Teile durchaus bewährt 
und wird immer unentbehrlicher und felbftverftänd:- 
licher. Außer in Fällen ſchwerer Erkrankung hat 
der Berein auch durch Gewährung von Hilfe bei 
leichteren Erkrantungen und Rekonvalescenten 
dadurch vorbeugend gewirkt, daß er durch Ge 
währung von Wafchtagen und ftundenmeifer Hilfe 
der Hausfrau die Möglichteit gab, fich bis zur voll: 
jtändigen Wiederberftellung zu fchonen, ohne daß 
die Ordnung ihres Hausweſens darunter zu leiden 
batte. Sebr erfreulich ift Die ftetige Zunahme der 
Zahl der freiwilligen Zuzahlungen für gemährte 
Hilfe, ſowie der Umftand, daß wiederum mebrere 
Familien aus Dankbarkeit für die in fchwerer Zeit 
geleiftete Hilfe dem Verein als zahlende Mitglieder 
beigetreten find. In finanzieller Hinficht war das 
Jahr in Bezug auf einmalige bedeutende Bu: 
wendungen befonderd günſtig. Die Befichtigung 
von Ateliers und Kunftfammlungen ergab einen 
Reinertrag von 9328,45 Mark und die Stadt Berlin 
erhöbte ihre Subvention auf 4000 Marl. Auf 
Grund der neuen Beftimmungen des Bürgerlichen 
Geſetzbuchs ift der Verein in das Vereindregifter 
eingetragen worden, 





Frauenvereine. 


Der Dentſch⸗Evangeliſche Franenbund 


hielt am 13., 14. und 15. Mai in Gotha feine 
II. Jahresverſammlung ab. Am Montag Ieitetc 
ein Feſtgottesdienſt mit Predigt bed Herrn General: 
Superintendenten Pfeiffer aus Kafiel die Ber: 
fammlung ein. Ein Begrüßungsabend ſchloß Fich 
an, der die von nah und fern zuſammen gelommernen 
Mitglieder zwanglos vereinigte. Die erſte geihäft: 
liche Situng am Diendtag Morgen wurde von 
Frau Pfarrer Schrader:Kaflel, der bisherigen 
ftellvertretenden Vorſitzenden, mit einer aegrüßunge- 
rede eröffnet, in ber berpvorgeboben wurde, wie dic 
Grabesluft früherer Seiten heute nicht mehr webe, 
wie es nötig fei, die Schranken nieberzureißen, die 
den Frauen feit Jahrhunderten aufgerichtet waren. 
Die Nebnerin fchloß mit dem Wunfche, daß ter 
Bund für die Unterdrüdten unſeres Geſchlechts, 
für alle Frauen eintretend, in treuer Arbeit wert- 
thätiger Liebe wachſen und gebeiben ındge. — 
Fräulein Ganslandt-Kaſſel erftatteteben Geſchäfts 
bericht: Der Deutſch⸗Evangeliſche Frauenbund zählt 
heute 2108 Mitglieder mit 22 Drtögruppen. 
28 Bereine haben fih ibm angeſchloſſen. Neu: 
begründet wurden im legten Jahre die Dridgruppen 
in Lübel, Naumburg und Cannſtadt. Nah Er: 
ledigung meiterer geſchäftlicher Angelegenheiten er: 
folgte die Neumahl des Bundesvorſtandes: zur erften 
Vorfikenden wurde Fräulein Paula Müller: 
Hannover, zur ftellvertretenben Borfigenden Fräulein 
A. v. Bennigjen:Bennigfen bei Hannover, zur 
Schriftführerin Gräfin M. Püdler: Hannover, zur 
Schapmeijterin Fräulein A. Schöntan:Kafiel, zu 
Beifigerinnen Frau Oberftabtarzt Steinhaufen: 
Hannover, Fräulein E&.&ondbruch:Kaffel, Fräulein 
M. Ganslandt-Kaſſel, Freiin A. v. Gablenz: 
Weimar, Fräulein M. Schmidt: Stuttgart gewählt. 
Der Bundesfig wurde nach Hannover verlegt. 
Unter Leitung‘ der neugewählten Vorſitzenden 
wurden fodanı bie behufs Cintragung in das 
Vereindregifter wingearbeiteten Satzungen und ver: 
ſchiedene Anträge einzelner Urtdgruppen bir: 


beraten. 


Die Grüße und Wünfde der Stadt Gotba 
überbrachte Herr Bürgermeifter Oftertag; feitens 
des Herzoglich-Gothaiſchen Staatsminifteriums 
wurde der Deutſch-Evangeliſche Frauenbund durch 
Herrn General-Superintendent Kretſchmann 
begrüßt. 

In zwei öffentlichen Verſammlungen wurden 
folgende Vorträge gebalten, an die ſich lebhafte 
Diskuffionen fchloffen: I. die Erziehung unferer 
Töchter zur Wahrheit und zum Pflichtbewußtſein, 
Fräulein v. Broceder: Dresden; II. Erwerbszweige 
und Berufsarten für zrauen, Fräulein Eywalina: 
Kaffel; II. Mad kann von Seiten des Deutic: 
GEvangelifhen Frauenbunded zur Gewinnung von 
Hülfskräften für die häusliche Krantenpflege ge: 
Iheben? Fräulein Schönian:Kaffel; IV. bie 
ftaatliche Fürforge: Erziehung und ihre Aufgaben 
für die Wiitglieber bed Deutich : Evangelischen 
Frauenbundes, Fräulein Pholen: Hannover. 

Am 14. fand noch ein von Herrn Pfarrer lie. 

\cher geleiteten Volksabend ftatt, Als Ort der 
nächſten Sabresverfammfung wurde Hannover in 
Ausſicht genommen. . M. 





Frauen und Frauentypen. 879 


erzeugt den Anjchein des Gegenteil. Und ausbrüdlic verwahrt fi Lou Andreas: 
Salome gegen das verbreitete Mißverftändnis, die beiden Gefchlechter als bloße Hälften 
aufzufaffen, wie „es in ber populären Redewendung vom Weiblichen als dem paſſiv 
empfangenden Gefäß und dem männlichen als dem aktiv ſchöpferiſchen Inhalt” 
geichieht. 

„Der Menſch als Weib” ') im Salomefchen Lichte ift eine Zufammenftellung aller 
Eigenfchaften, die ſich aus den phyſiologiſchen Bedingungen der weiblichen Korporifation 
ableiten laſſen, eine modernifierte Auslegung deſſen, was von alteräher als ſpezifiſch 
weiblich gegolten hat. Daher auch die Salomeihe Anfhauung, daß jene alten 
Bezeichnungen für dad Wefen des Weibes, „als da find: Häuslichkeit, am-Herbeswalten, 
Religion, Selbftbefcheidung, Unterordnung, Reinheit, Sittigfeit u. a. m.“, keineswegs 
Zufalöbezeichnungen find, fondern, wenn auch grob und kompakt gefaßt, Symbole 
und Illuſtrationen für die wahre Wefensveranlagung bed Weibes. Nach Lou Andreas: 
Salome geftattet. diefe Wefensveranlagung feine völlige Individualifierung; das Weib 
hat immer vom Gattungsmäßigen viel mehr an fi als der Mann. „Denn das ift 
dad Eigentümliche, daß das Weib dem Weibe gleicher ift, al der Mann dem Manne. 
In irgend einer geheimnisvollen und höchſten Bedeutung wird e8 wahr, was bie 
ſchamloſe Brutalität der Sinnlichkeit vom wahllos aufgegriffenen Weibe ausfpricht, 
daß Weib oder Weib dasfelbe gelte.” Das Weib ift das minder inbivibualifierte 
Weſen, weil e8 „noch unmittelbar Anteil Hat an dem Allleben felbft und wie deſſen 
perſönlich gewordenes Sprachrohr wirken kann“. 

Daher fommt ed, daß ed im feiner felbfleigenen Welt als dauernden Seelen: 
zuftand das befigt, was daß frieblofe, fich ing Grenzenlofe verlierende und fpezialifierende 
Mannesweſen nur in feinen höchſten Augenbliden erreicht. 

Die Salomefche Art der Darftellung, die dad Konventionelle verflärt, um aus 
ihm die Anhaltspunkte für „ein Bild im Umriß“ der allgemein giltigen Weiblichkeit 
zu gewinnen, fchließt fo völlig die Zeichnung des Individuellen aus, daß es hier fogar 
aus dem Welen bed Weibes heraus grundfäglich abgelehnt wird. Sie ift zugleich 
die Vorausfegung, unter der bie generalifierende Methode ſich rechtfertigt; in ber 
Marholmſchen Darftellung Hingegen führt ſich die generalifierende Methode jelbft 
ad absurdum, gerade weil „dad Weib” der Laura Marholm ein indivibuelleres 
Gepräge trägt, weil es ein reales Weſen und nicht ein aus dem Gattungsmäßigen 
Tonftruierte® Schemen iſt. Was für Widerfprüche vereinigt dieſes Weib in fih, aus 
mas für wunderlich uneinheitlichen Beitandteilen ift e8 zufammengefegt! Vorerſt das 
„Sentrale” des Weibes, „die heiße Duelle... . die des Weibes Ein und Alles, fein 
Mittelpuntt, fein Genie und fein Inhalt ift — bie durchſeelte, verinnerlichte 
Gefchlechtlichleit”. Deshalb ift es auch nicht der Mann, „für den die Wahl die 
wichtigfte Angelegenheit ift, fondern das Weib“. Und dieſe Wahl mit feinfügliger 
Unfehlbarkeit zu treffen, „nachtwandleriſch ſicher den einen organiſch-ſympathiſchen 
Geliebten unter taufend gleichgiltigen oder abftoßenden Menfchen herauszufühlen“, wird 
als Ausdrud der intakten, hochkultivierten Weibnatur gerühmt. 

Aber mit Staunen Hören wir alsbald: „es kommt für das Weib in erfter Linie 
nicht fo ſehr darauf an, wen es liebt, fondern daß es liebt.” Ja wir erfahren, daß 
der Mann, je braver, wärmer, beffer er ift, defto pathetifcher die große Liebe verlangt, 


‘) Neue deutſche Rundſchau, Jahrgang 1899, Heft 8. 
37° 


Frauen und Frauentgpen. 881 


fondern — Gott. Mit fo weitgehenden Vollmachten ftattet felbft die patriarchaliſche 
Vorftelung vom Weibe den Mann nicht aus! 

Noch von einer anderen Seite fehen wir die fpezififche Weiblichkeit bei Ellen 
Key. Sie fucht im Gegenfag zur Salomefchen Auffaffung für die Frauen eine 
„unbegrenzte Freiheit ber Individualität” trog der durch ihre Phyfis bedingten 
Gebundenheit zu retten. Dieſes Bemühen, den individuellen Unterſchieden gerecht zu 
werben, durchkreuzt bei ihr beftändig die generalifierenden Schlüffe, die fie für ihre 
Beweisführung doch nicht entbehren fann. Unter ihren Händen verwandelt fich die 
Weiblichkeit fo unaufpörlih, daß man endlich nicht mehr weiß, warum denn von 
etwas fo Unbefiimmbarem ober von etwas fo Nebenfächlichem weiter die Rebe fein fol. 

Ellen Rey befennt zwar, ') daß ein einziger Ausnahmefall weiblicher Überlegenheit 
eine unabweisliche Stüge für die Forderung auf volle Freiheit der Selbftbeftimmung 
für jede Frau bildet — aber der Zweck ihrer Ausführungen iſt trogdem, durch Nach: 
weiſe über das, was das wahre Weſen des Weibes ift, diefe Freiheit einzufchränfen. 
Wenn die Geſellſchaft, wie Ellen Key fordert, Feiner Frau Hinderniffe in den Weg 
legen darf, zu zeigen, was die Natur gerade mit ihr beabfichtigt bat, müßten dann 
nicht zu allererfi die normativen Beftimmungen über dad Weibliche und Unweibliche 
aufhören? Wozu fol e8 dann dienen, dem einzelnen Individuum vorzuhalten, mie 
die große Menge feiner Gefchlechtägenofien beichaffen ift, und ihm Richtungslinien 
anzumeifen, die aus Unterfuchungen über dad Durchfchnittliche gewonnen find? 

Vielleicht ift e8 gegenüber ben extremen Standpunften in der Frauenbewegung 
angezeigt, durch folche Darftellungen de3 allgemeinen Geſchlechtscharakters u. dgl. daran 
zu erinnern, daß nicht alle Frauen für eine andere Lebensführung als die überlieferte 
geeignet find. Vielleicht — denn ed wäre ja möglich, daß bie Frauenbewegung durch 
übereilte Verallgemeinerungen bie und da urteilslofe Perfonen auf einen falfchen Weg 
loden, fie mit dem äußerlichen Ehrgeiz erfüllen könnte, etwas anzuftreben, wozu fie doch 
nicht taugen. Diefe Beftimmungen über das Durchfchnittliche tragen aber gleichzeitig 
dazu bei, die normative Gewalt zu verftärken, welche die ftaatlihe und geſellſchaftliche 
Tradition ohnedies über das einzelne Individuum ausübt — wie fehr auf Koften ber 
perfönlichen Freiheit, daB wiffen eben nur diejenigen, die nicht in die herrſchende 
Norm pafien. 

Nah dem Erfahrungsfage, daß auf geiftigem Gebiete dieſelben Verhältniſſe 
herrſchen müffen wie auf dem des Körpers, fucht Ellen Key die fundamentale Ungleichheit 
dort, wo ber michtigfte funktionelle Unterfchied im natürlichen Leben der Gefchlechter 
liegt. Wie bei Laura Marholm duch die Wildheit, ift bei Ellen Key das Weib durch 
die Mütterlichleit „enger mit der Natur verwandt” als der Mann, mit dem Myftifchen, 
das hinter der Wirklichkeit flieht; und, „wenn die Kraft der Mütterlichkeit einft auf 
Erden in ihrer vollen Selbftherrlichfeit Hervortritt, dann wird fie, in einer tieferen 
Bedeutung als bisher, der Welt die Erlöfung gebären —“ nämlich, wenn bie Frauen 
erft gelernt haben werben, ihre Mütterlichkeit, die fie biöher nur in der Hingebung an 
private und perfönliche Verhältniffe bethätigten, auf die öffentliche und allgemeine 
Sphäre zu übertragen. 

Diefe Sphäre war freilich nach Ellen Keys eigener Angabe immer biejenige des 
Mannes; und e8 ift nicht einzufehen, wie die Hiftorifche Entwidlung der ſpezifiſch 





») Mißbrauchte Frauenkraft. 


Frauen und Frauentppen. 583 


viel zu wenig beachtet wird. Und es ift zu fürchten, daß in der „allgemeinmenfchlichen 
Sympathie, der Mütterlichkeit in der mweiteften Bedeutung“, die fozialen und religiöfen 
Genie unter den Männern der Chriftlichleit den Frauen längft den Rang abgelaufen 
haben. 

Der altruiftifchsfentimentale Typus der Weiblichkeit Ellen Keys bat, foweit fein 
Gebiet die Familienverhältniffe find, mit dem erotifch:ercentrifchen der Laura Marholm 
den Mangel an Perfönlichleitsgefühl gemein. Beide glauben zwar eine befondere 
„Weibperſonlichkeit“ der Mannperfönlichleit entgegenfegen zu können; aber der Begriff 
der freien Perfönlichkeit ſteht und fällt mit der Vorausfegung, daß ein Menſch feinen 
Zweck ſich felber fegen und bie Impulſe feines eigenen Weſens zum Inhalt feines 
Lebens machen kann. Wer feinen Inhalt außerhalb feiner felbft fucht, das Ent- 
ſcheidende feiner Eriftenz in eine andere Perfönlichkeit‘ verlegt, macht ſich dadurch zu 
einem Menfchen zweiter Drbnung, zu einem felundären Weſen. Wie der Begriff der 
Perſonlichkeit auf der Vorausfegung innerer Unabhängigkeit, jo ruht aber der traditionelle 
Begriff der Weiblichkeit auf der Vorausfegung ber Abhängigkeit und beftimmt die 
ganze Hiftorifche Stellung des weiblichen Geſchlechtes. Eine Frau, die eine felbftändige 
Perfönlichkeit iſt, überfchreitet mit Notwendigkeit die Grenzen ber traditionellen 
Weiblichkeit — wiſſentlich, wenn fie zugleich ſtarker Geift genug ift, fich ihre wirkliche 
Natur einzugeftehen, das heißt, ſich berfelben reflectiv bewußt zu werden, unwiſſentlich, 
wenn fie diefe Stärke nicht befißt. 

Der Grad ber perjönlichen Hingebung ift an fich keineswegs, wie Ellen Key 
will, eine zuverläffige Bafis für eine Gemeinfamleit oder Ähnlichkeit derjenigen Frauen, 
deren Raceabzeichen er bilden fol, weil die Richtung, nach ber ſich diefe Hingebung 
bethätigt, allzu große Unterſchiede zwifchen den einzelnen Individuen fegt. Eine Frau, 
die in ihrer erotifchen Hingebung an den Mann das Lebengentfcheidende findet, wird 
vergeblich erwarten, in diefem Punkt von einer Frau, deren Lebensintereffe fih in 
der Mutterſchaft fonzentriert, verftanden zu werben. Der Grund, warum ber Gegen: 
fag, der bier Herrfcht, nicht auffäliger zur Erfcheinung kommt, liegt nur in dem 
Mangel an reflectivem Erfenntnisvermögen unter ben gewöhnlichen Frauen und in ber 
Ähnlichkeit der Lebensbedingungen, durch die gemeinfame Intereſſenſphären hergeftellt 
werben. In Wahrheit aber find diefe beiden Arten von Frauen fo verſchieden wie 
Hund und Kage. Ya, man fannı vielleicht das Bezeichnendfte ihres primitiven Weſens 
durch dieſen Vergleich charakterifieren. Die Frauen des erotiſch-excentriſchen Typus 
mit dem Bedürfnis der Unterordnung unter den Mann haben etwas von ber Natur 
des Hundes, der feinem Herrn auf Leben und Tod ergeben ift, und feinetwegen alles 
andere im Stich läßt, wenn es fein muß, während die Frauen, die in ihren Kindern 
aufgehen, mehr den Katzen gleichen, bie fi) an das Haus attadhieren, in dem fie 
leben. Das Aufgehen in der Mutterihaft it an ſich noch fein Ausdrud weiblicher 
„Selbftlofigkeit”. Die enge phyſiſche Verbindung, die aus dem Kinde einen Anner 
des mütterlihen Organismus macht, erklärt es, daß viele Frauen der Mutterfchaft 
ihrem ganzen Weſen nad) dem egoiftifch=frigiden Typus angehören. 

Man kann mit demfelben Recht behaupten, daß „das Weib“ kein Centrum in 
fich Hat, als daß es das fonzentrifchfte Weſen und viel mehr fein eigener Mittelpunkt 
ift ala der Mann — es fommt nur darauf an, welche Art von Frauen man unter 
dem Sammelnamen „dad Weib“ verfteht. Wer wüßte nicht, welchen Grad der Kultus 
der eigenen Perfon, die an Selbftvergötterung grenzende Selbftliebe bei vielen Frauen 


Frauen und rauentppen. 585 


Es ift ein Ratſel, für das es feine objektive Erklärung giebt — es fei denn, daß 
jede Frau, auch die wiſſendſte, auch die bedeutendfle, nur diejenigen Frauen kennen 
und ſchatzen lernt, die ihrer eigenen Wefensart nahe kommen, ebenfo wie jeder Mann 
in der Regel nur diejenigen Frauen kennt und ſchätzt, die feinem fubjeltiven Gefchmad 
und Bedürfnis entfprechen. 

Denn was find im Grunde alle generellen Ausfagen über „das Weib“ und 
„den Mann“ anders als Selbitbefenntnifje? Der fogar Selbfiverherrlichungen? 
Jeder verfieht darunter feine eigene, individuelle Befchaffenheit, mit jenem naiven 
Dünkel, kraft deſſen man überzeugt if, daß man die Norm repräfentiert. Und es 
Scheint, jeder will nur ſich felbft gelten laſſen, feine eigene Art als die allein echte 
verbreiten. 

Und doch befteht eine jo große Verfchiedenheit unter den Frauen, daß das 
Verftändnis, das aus der bloßen Gefchlechtögemeinichaft entipringt, in vielen Fällen 
völlig aufgehoben wird. Jener Freimaurerblid, von dem Laura Marholm fpricht, der 
Blid, mit dem die Frauen angeblich untereinander die „Geheimfchrift ihrer inneren 
Erlebniſſe“ Iefen, er bewährt fih nur unter Mitgliedern desſelben Grades, aber er 
verfagt, wo es fih um größere Abftände Handelt, um Unterfchiede in dem, was ein 
Menſch als den Kern feiner Perfönlichkeit, als das Myſterium feines befonderen 
Weſens empfindet. 

Jeder Menſch von Eigenart weiß, daß es eine Art von Perfonen giebt, die zu 
ihm gehören, denen er ſich verftändlich machen kann, mit denen er etwas gemeinfam 
bat, und eine andere Art, die ungeheuere Mehrzahl, zu der er feinen Zugang befigt, 
die feine Sprache nicht verfteht, wie deutlich er auch rede, für die er in alle Ewigkeit 
ein verfchloffened Buch bleiben wird. Die Trennungslinie läuft aber keineswegs immer 
mit dem Gefchlechte parallel. Namentlich geiftig hervorragende Frauen finden ihre 
Wahlverwandten eher unter Männern. Und nicht allein intelleftueller Momente wegen; 
fie haben in viel tieferen Dingen mehr Berührungspunfte mit ihnen als mit ben 
Angehörigen ihres eigenen Geſchlechts. 

Ein weiſes und freies Wort über das Problem der Weiblichkeit hat Mar Stirner 
ausgefprochen, als er fagte: „Was fol man von einem Weibe denken, die nur voll» 
kommen ‚Weib‘ fein wollte? Das ift nicht jeder gegeben, und mande würde ſich 
damit ein unerreichbares Ziel fegen. Weiblich dagegen ift fie ohnehin, von Natur, 
die Weiblichkeit ift ihre Eigenſchaft, und fie braucht der ‚echten‘ Weiblichkeit nicht.” 
Hineingebannt in die Schranken einer begrenzten Individualität fönnen wir bie 
geheimnisvolle Bafıs, auf der unfer Fühlen und Wollen fih ſchickſalsmächtig erhebt, 
nicht wählen und nicht ändern. Wir fönnen nichts Höhere, als ihr, über alle 
Normen, Vorſchriften und guten Lehren hinweg, gehorchen. Denn was die Natur 
ſelbſt in unferer Eigenart geſchaffen hat, das allein ift das Echte. Aber das ift nicht 
das Gleiche für alle. 


586 


Sin ſalomoniſches Urteil. 


Sin Zeifeerlebnis 
von 
B. Benry- Moor. 


Nachdruck verboten. en 





WON wohlwollend Hatte unjere Kleine, in der Cremitage eingeregnete Babe: 
SR gejelljchaft die Gejchichte meines Neijeerlebniffes aufgenommen, daß ich faft 
ESEE enttauſcht war, als plöglich ein Sonnenftrahl in die Borkhütte fiel und all 
meine Zuhörer hinauslockte. 

Nur eine feine ältere Frau, mit lieben, Eugen Augen, zögerte noch und fagte 
nachdenklich: 

„Schade, daß meine Tochter dad nicht mit angehört hat.“ 

„Die Schöne, junge Excellenz?“ 

„Sa, eben die.” 

Sch lachte Iuftig und rief, Halb unbewußt: „In deren Gegenwart hätt’ ich wohl 
faum jo viel gejprochen.” 

„Weshalb? Wirkt fie jo einfchüchternd? die junge Frau?” 

Sch befann mich: „Einfchüchternd?“ wiederholte ich, „ja vielleicht. Sie ift ſchwer 
ir — nicht wahr? Man weiß nicht recht: iſt ſie ſchon müde oder noch 
ehnſüchtig.“ 

Die Mutter der Abweſenden ſah mit ſeltſam verſonnenem Ausdruck den vom 
Abendſchein überglühten Bergpfad hinunter, auf dem eben meine eigene kleine Kinder: 
Ihar mit bligenden Augen und jauchzenden Hurrarufen im Wettlauf angeftürmt kam. 

„Wundervoll,“ jagte fie — und man wußte nicht, meinte fie die Landichaft oder 
die Kinder — „wundervoll! Und Sie, gerade Sie, halten e3 für denkbar, daß eine 
Frau auch fremde Kleine Egviften fo lieb gewinnen fann wie eigene? Ich hab's 
nie glauben mögen.” 

„Aber, die Gejchichte, die ich Ahnen vorhin erzählte, ift buchftäblicd wahr,” 
fagte ih. „Und die wilde Hummel da, jehen Sie, die größte, die Y jest das Saar 
wieder einflicht, ift die Annaliefe, die das jalomonifche Urteil gefällt bat.“ 

„Schade, daß meine Tochter nicht hier war,” fagte die alte Dame wieder. Und 
dann ganz leife, wie nad) einer Anftrengung: „Sie bat feine Kinder.” 

Da verftand ich. „Ich jchreib’3 auf,” rief ich ihr zu — während mich meine 
Kinder umringten — „und wir nennen's: das ſalomoniſche Urteil.” 

%* * 
* 

Wie wir reifen, wiflen Sie, verehrte Freundin: immer am erften Ferientage und 
immer dritter Klaffe. Den Kindern fommt das jetzt fabelhaft vornehm vor; denn 
mein Mann bat ihnen eine Nührgejchichte von einem edlen Dichter erzählt, der mit 
feiner Familie vierter Klafle fährt und hat Hänschens Frage, vb es denn nicht noch 
viel billiger wäre, wenn der Dichter mit feiner Familie ganz zu Haufe bliebe, ein- 
fach überbört. Hat fich auch nicht darum gekümmert, daß unfere Jungen die vierte 
Klaſſe geradezu famos finden, fondern nur verjucht, als er feine Familie am Anbalter 


Ein ſalomoniſches Urteil. 587 


Bahnhof in den Zug fpedierte, ihr ein ganzes Coupe dritter zu fichern. Aber es glüdte 
— Jubel der Kinder und zum do auf meine unentwegi betriebene Beamten- 
beftechung. 

In Halle war der Anfturm auf unferen Zug befonderd arg. 

Ihnen bringe ich nur eine einzelne Dame,“ fagte der Schaffner achtungsvoll. 

Dame war übertrieben. 

Sie hatte höchſtens das Zeug zu einer Dame und felbft das ſah viel zu neu, 
viel zu ſehr nach dem Ladenfenfter aus. Und ein fehiefgefegter rofa Feberhut verdarb 
vollends alles. 

reilich, auf die Kinder machte fie Eindrud. Unſer eigenes Handgepäd ſieht 
wirffi „mitgenommen“ aus in jedem Sinne, aber bie Ede, in der die große, dicke 
Fremde fich einrichtete, glich nach ein paar Minuten dem Schaufenfter eines Drei— 
Mark-Bazars, fo wertlod und fo neu war alles, was fie um ſich herum aufbaute. 
Nur das Lächeln, mit dem fie fih für die fleinen Handreichungen unferer Jungen 
bedankte, wirkte zugleich abgenugt und doch wie auf Veftellung geliefert. Im langer 
Übung waren die Gefichtsmusfeln der Frau zu biefem Lächeln trainiert worden. Sie 
dachte ſich nicht? mehr dabei und es kam erft Leben in ihre Augen, als fie mit 
Hebrigen Fingern den Inhalt einer großen Düte zu unterfuchen begann und — je 
nach Objeftbefund — an Bonbons Iutjchte oder mit großer Treffficherheit Kirfchkerne 
zum Coupefenfter hinausſpuckte. 

Unfere Kinder fahen ihr fo lange atemlos zu, bis fie müde wurde und 
at Düte, ganz geöffnetem Munde und gefpreizten Fingern feft 
einfchlief. 

Sie fchnarchte audgiebig, wie jemand, deſſen Natur daran gewöhnt wurde, ſich 
das erforderliche Duantum Schlaf zu jeder beliebigen Tageszeit und in jeder beliebigen 
Stellung zu verſchaffen. Sie fchnarchte noch, als wir in den Erfurter Bahnhof ein 
fuhren und erwachte erft, als unfere Wagenthür aufgeriffen wurde und eine laute, 
ängftliche Stimme rief: 

„Frau Tiggenpoch, aber Frau Tiggenpody!” (geichrieben wahrſcheinlich: Diggen- 
bad). Auf dem Perron ftand in abgetragener Kleidung und außgetretenen Schuhen 
eine Arbeiterfrau mit einem Meinen, diden, fehr herausgepugten Bengel auf bem 
Arm. Das etwa zweijährige Kind war ein Prachteremplar, aber die Frau war ſchmal 
und bleih, ihr Haar war dünn und ihre Haltung müde. Kraft fchienen nur ihre 
Arme und ausgearbeiteten Hände zu haben, die den Knaben fo ficher hielten, als läge er 
in einer Wiege. Und immerfort lachte fie ihn an: dabei ſah man freilich all ihre 
Bahnlüden und doch wurde uns allen wohl bei diefem Laden. Sie aber bemerkte 
und gar nicht; denn ihre Augen wanderten zwifchen dem Kleinen und unferer Reife 
gejapktin bin und ber, biß fie ihm ihr unter lebhaften Zuſpruch, aber doch Außerft 

ehutfan auf den Schoß fette. Die Fremde — es mochte eine Tante oder Patin fein — 
befühlte.und unterfuchte das Kind, als ob es ihr zum Kauf angeboten würde. Atemlos ſah 
die Mutter zu. 

„Nichwahr, Kernfleifch?” fragte fie. 

Die andere nidte troden. 

„Aber jo is er erft, feit mer ihm nichts Sießes mehr geben. Gelle, mei Herzchen, 
Bonbons fin Baba?“ (auf diefen Spruch, der noch viel wirffamer ift, wenn man fih 
die B in P verwandelt denkt, war fie beſonders ſtolz) „nee, nee, der Chunge nimmt 
nicht? nid an, wenn’ ihm nich Einer einzwingen dut. Der Doktor fagt, das wär 
ſei ganzes Glikk, daß mer ihm das Genafche un das Gefchlede abgemwöhnt hätten. 
Da derdran lag es ja bloß, daß er die Milch partout nicht nehmen wollte. Aber nu! 
Geben Se mal acht, Frau Tiggenpoch, geben Se mal act” — und fie holte aus 
ihrem Korbe eine mit geftridter Hülle bekleidete Kinderflaſche — „aber noch wollen 
mer fe ihm nich geben. Erft, wenn er mich nich mehr ſieht. Sonft fchreit er. Un 
wenn Sie hernach iber Land mit ihm fahre, dann das mwollene Heeschen da. Un 
morgen in Ihrer Marktbude beftimmt nichts Sießes, nichwahr, Frau Tiggenpoch? 
Un nachts kriegt er auch noch jei Fläſchchen. Gott, wie wird mir fein, heut Nacht 


588 Ein falomonifches Urteil. 


um drei. Na, 's iS ja nur für enne Woche. Aber mei Mann wollt’ erfi gar nid 
an her fommt noch Hadjee jagen. Gelle, mei Herzchen, mer geben Dich nich 
gern her?” 

Und während fie jprach, lachten ihre Augen, ihre naſſen Augen, immer tapferer 
und immer luftiger in das Kindergefichtchen hinein; denn darin begann es zu zuden 
und zu arbeiten — — all died Getöfe um ihn herum, dieſes aroße, ftarre, gepußte 
Weib, auf deffen Schoß er jo artig figen bleiben ſollte — ich ſah es deutlich: was 
den Kleinen Schelm am Schreien hinderte, war nur die Furcht. 

Aber plöglich ging eine Veränderung mit ihm vor und jetzt — jeßt lachte er 
zum erften Mal. 

Ich weiß fchon, wann Kinder jo lachen und fo dabei anfangen zu firampeln: 
wenn fie den Vater kommen ſehen. Und richtig — da haſtete ja audy ein berußter 
Bahnarbeiter durch's Gewühl und holte erft Atem, als er bei dem buntgewiürfelten 
Umjchlagetudh feiner Frau Halt machte. 

„En Glikk, daß de daB da anhaſt,“ Teuchte er. „Sonft hätt’ ich euch nid 
gefunden. 's fin jo wie fo blo8 noch drei Minuten. Bor eins darf ich ja nid. 
Aber jet bring ih auch was zum Abfchied. Nee, nee, hab’ Teene Angſt nich“ — 
jagte er auf einen bejorgten Blid feiner Frau — „ze eſſen is es nir. Aber da, mei 
Kerlche, gieb emal acht, wie der Kikerikiki macht.“ 

Und er ließ einen Heinen Gummivogel quietichen und an einem Schnürden 
zappeln, bis zu dem Augenblid, in dem dad Abfahrtszeichen gegeben wurde. Dann 
erſt warf er dad Ding dem Kleinen in den Schoß. 

Er und die Frau liefen noch eine Strede neben dem Zuge ber: „Nich wahr, 
das Wollhöschen? Un dann, bitte, bitte, nicht? Sießes! Er bat’3 denn gleich 
im Magen.” 

So fuhren wir ab. Der Kleine ſchrie wie beſeſſen auf, ald er die Eltern nicht 
mehr ſah. Aber die fremde Frau blieb ganz ruhig dabei. Sie griff nur in die Taſche, 
brachte ihre Düte zum Vorſchein und wollte den Kleinen Unband eine die, überzuderte 
Mandel in den Mund jchieben. — — 

Aber Sie wiffen, wer fie binderte. — 

Shnen brauche ich nicht erſt zu jchildern, wie ich auf fie eindrang. 

„Geben Sie mir das Kind!” rief ih. „Geben Sie mir e8 fünf Minuten, und 
ich berubige es ohne alle Bonbons.“ . 

Aber fie nahm gar feine Notiz von mir — der Kleine Iutfchte ſchon an einer 
totgefärbten Zudermandel. 

„Sroßer Gott,“ rief ich außer mir, „warum wollen Sie denn das Kind mit 
Gewalt Frank machen? Die Mutter hat Sie doch beichworen — .— —“ 

„Ras für eine Mutter denn?” fragte die Fremde jcharf. „Die Frau da vorhin? 
Das ift ja nur feine Ziehmutter. Die Mutter bin ich.“ 

Still, ganz ftill, feßte ich mich wieder in meine Ede. Die Frau da vorhin, mit 
al ihrer warm forgenden Liebe nicht die leibliche Mutter? Mir war, als müßte ich 
mich vor meinen eigenen Kindern, die das alles mit angehört, jchämen. Aber fie faben 
ganz herzlich nach mir bin, und Annaliefe, die neben mir jaß, zupfte mich nach einer 
beimlichen Beratung mit Otto fachte am Ärmel. 

„Die fremde Frau da lügt,” flüfterte fie werächtlich. „Die Andere war die 
Mutter. Die bat ihn ja fo Lieb.“ 

- Sch nicte ihr durch Thränen zu. 


Da 











Bäsagogifhe Seit- und Hfreitfragen. 


Gertrud Bäumer. 


aqhdrua verboten. —— 


3 wäre intereſſant, einmal in der Geſchichte des geiſtigen Fortſchritts nachzu⸗ 

prüfen, auf welchem Wege kulturelle Fragen am ſicherſten und reinſten geldſt 

werden. Ob es gut ift, wenn erft der Kampf ber Meinungen auf ber ganzen 
Linie heiß und erbittert getobt hat, ehe der Staat als deus ex machina die Er- 
fülung hernieberfteigen Täßt, oder ob ein gelafienes, konſtantes Nachgeben an bie Beit- 
bebürfniffe, wo immer fie laut werden, zu vollfommeneren Refultaten führt. 

Wer die Schidfale, die die Mädchenſchule als Gegenftand ſolcher Meinungs: 
tampfe in effigie während der letzten Jahre durchmachen mußte, mit einigem Anteil 
verfolgt Hat, der wird ſich des Eindrucks nicht erwehren können, daß es ihr zum Heile 
gewefen wäre, wenn man ein wenig eher Ol auf die Wogen gegoffen hätte. In der 
langen Zeit des Forderns und Gartens find die Angriffe, wie das in der Natur der 
Sache liegt, immer heftiger geworden, haben die Wünfche fich auf der einen Seite immer 
weiter von dem Boden des pofitiv Möglichen in das Utopifche verloren, ift man auf 
der andern Seite immer zurüdhaltender und karger mit den Zugeftändniffen geworben. 
In dem Beftreben, das große Publikum von ber Reformbebürftigleit ber Mädchen: 
bildung zu überzeugen, hat man häufig genug nicht die wünfchenswerte Einficht, 
fondern ein blindes, bedingungslofes Mißtrauen gegen das ganze Inſtitut erzielt, .das 
einer Reform feinerfeits manches Hindernis in den Weg legt; und ber befannte Sat: 
„Ich kenne die Abfichten der Regierung zwar nicht, aber ich mißbillige fie”, dürfte 
genau die Stimmung fennzeichnen, in der man in manchen Kreifen dem Beginn der 
Reform von oben ber entgegenfieht. 

Die entgegengefegteften Intereffen ftoßen aber auch eben auf diefem Gebiet zu= 
fammen. Da begegnet bie liebevolle Zähigkeit, mit der der deutfche Familienvater fein 
Idealbild des für fein Behagen zärtlich und unermüdlich beforgten, hauswaltenden 
Weibes fefthält, der Konfequenz, mit ber die „radikale Frauentechtlerin” das einzige 
Biel der Mädchenfchulreform in der vollen Übereinftimmung mit der Knabenerziehung 
fieht. Da begegnen die Forderungen der Lehrerinnen nad; größerer Beteiligung am 
gefamten Unterricht und am der Leitung ber höheren Mädchenfchule ben Berufs: 
interefjen der Lehrer, da kreuzen ſich bie berechtigten und unberechtigten Wunſche ber 
Laien mit ben unberechtigten und berechtigten Bedenken der Fachleute, da ſteht dem 
fozialen Leben und feinen immer fleigenden Anforderungen an bie Frau wohl das 
Dogma einer ultra:phufiologifchen Betrachtung, „das Weib müſſe ihrer natürlichen 
Beftimmung wegen gefund und dumm fein“, als bittere Ironie gegenüber. Was 
Wunder, wenn man in dem Hin und Her eines langjährigen Rampfes ſchließlich auf 
allen Seiten vergeffen hat, dad Gewünfcte an dem Möglichen zu meflen, wenn 
fchließlich jeder auf feinem Schein zu beftehen entſchloſſen ift. 


Padagogiſche Zeit: und Streitfragen. 591 


die Bewohner zu vertreiben und an Stelle des alten einen Neubau von Grund auf 
zu fegen, für deſſen Tragfähigkeit und Sturmfefigfeit wir doch noch Feine Sicherheit 
zu geben vermödhten. ö 

Auf diefer Grundlage ftellte die ſehr zahlreiche Verfammlung, die an den Ver— 
handlungen über die höhere Mädchenfchule teilnahm, ihre Forderungen. Cie betonte 
im Gegenfag zu mander Xußerung, die aus den Reihen der Frauenbewegung laut 
geworden ift, daß bie höhere Mädchenfchule nach keiner Richtung Hin Vorbereitungs- 
anftalt für beftimmte Berufe werden dürfe, fondern daß fie ihre Aufgabe darin ſehen 
müffe, ihren Schülerinnen eine allgemeine Grundlage für die Erfülung ihrer fpäteren 
Aufgaben in Familie oder Berufsleben zu geben. Wil fie aber diefer Aufgabe den 
Anforderungen der Gegenwart entiprechend genügen, jo bebarf fie eines Ausbaus in 
doppelter Richtung, in der Richtung der Realfchule einerfeits, des Gymnafiums andrer⸗ 
feits. Ein folder Ausbau würde ſowohl innerhalb de Rahmens der beftehenden 
Schulen mit neun: und zehnjährigem Kurfus zu vollziehen fein, als auch über diefen 
hinaus zu einer Erweiterung des Kurſus auf zwölf Jahre führen, und zivar würde 
in diefer erweiterten Mädchenfchule nad dem fiebenten Schuljahr eine Gabelung ein= 
treten in Klaffen, die der Knaben-Oberrealſchule folgen und ſolche, die eine gumnafiale 
Bildung vermitteln. Da ein berartig fompliziertes Spftem nur bei großen Schul- 
törpern durchführbar wäre, bleibt die Mädchenfchule mit dem neunjährigen Kurfus für 
Mleinere Orte und einfachere Verhaltniſſe beftehen, doch müßte auch für fie eine Um: 
geftaltung infofern eintreten, als den realen Fächern ein größerer Raum gegeben, eine 
fremde Sprache fafultativ getrieben und Mathematit und fakultatives Latein in den 
Lehrplan der Oberftufe eingefligt werden müßte. 

Das ift ein Entwurf in großen Zügen, der zunächft nichts weiter als ein Luft 
ſchloß ift und bei der Verwirklichung wohl die mannigfachften Modififationen erfahren 
wird. Die Schwierigkeiten eines ſolchen Ausbaus nad fo verfchiedenen Seiten find 
innerhalb der feften Organifation unferer Mädchenfchule viel größer als etwa in den 
viel Lofer gefügten englifchen Syftemen. Die Verfammlung war fi auch volllommen 
bewußt, daß der Weg zu dem fo aufgeftellten Ziel Schritt für Schritt über das zu⸗ 
nachſt Erreichbare führt, und wenn die Seftion für höhere Schulen, wie beſchloſſen 
wurde, dem preußifchen Kultusminifterium ihre Wünfche für die in Ausſicht ſtehende 
Reform der höheren Mädchenfchule zum Ausdrud bringen wird, fo wird fie ſich troß 
de3 weiteren Programms, das fie für ihre Arbeit aufgeftellt Hat, innerhalb der Grenzen 
des Erreihbaren halten. 

Der Erfülung um ein wenige näher dürften die Forderungen flehen, bie für die 
Zehrerinnenbildung auf Grund der von Fräulein Schneider aufgeflellten Thefen 
erhoben wurden. Iſt doch der legte minifterielle Erlaf in Preußen über die Lehrerinnen- 
bildung für die Notwendigkeit einer vermehrten praktiſchen Übung, einer gründlicheren 
pädagogifchen Ausbildung entſchieden eingetreten. Daß diefe Forderung nur erfüllbar 
werden wird in dem Maße, als Mädchenfchule und Lehrerinnenbildung im Kultugetat 
etwas reichlicher bedacht werben, in dem Maße, ald der Staat die Frauenbildung ald 
eine nationale Angelegenheit behandeln lernt, Liegt auf der Hand. 

Eine frittige Frage, über die die Meinungen auseinandergehen, ift die, ob die 
Lehrerinnen für die Volksſchule auf befonderen Anftalten ausgebildet werden, oder ob 
einheitliche Seminare für den Volksſchulunterricht und den Elementarunterricht an ber 
höheren Mädchenfchule zugleich vorbereiten follen. Die Referentin entichied ſich für 


592 Wadagogiſche Zeit: und Streitiragen 


den legten Weg. Er wird aus praktiſchen Gründen vielleicht auch zunächſt 
gewöhnliche bleiben, wenn ja aud vereinzelt ſchon Volksſchullebrerinnen-Seminare 
beſteben. Der Gedanke, von dem aus die Bollsichullebrerinnen ſelbũ die Frage 
anichen, der ibr Intereñe an der Leſung beitimmt, ift vor allem der, daß die Beil: 
ſchullebrerin im Unterschied zu der für höhere Schulen nicht eintach die Clementar: 
lebrerin it, der ein geringere? Minen, eine beſchränkte Zahl von Unterrichtäjächern 
genügt, ſondern dab ibr Beruf in feiner eminenten jezialen Bedeutung eine Summe 
ren ganz beionderen — volkswirtichagftlichen, brgieniichen, jurittiiden — Kenntniren 
erterdert, wenn er dieier Bedeutung entivrechend errüllt werden fol. Die Volksſchul⸗ 
lebrerin in nicht nur eine beiendere — und etwa gar minderwertige Kategorie ter 
Gauung Schulmeiñer, ne in Trügerin einer umtarrenden ſozialen Aurgabe, für bie " 
gar nicht vieteirig und ſergialtig genug ausgeñattet werden farnn. Um tie Anerfenmung 
ibres Standes in dieſem Zinne fümpten die Volfaihullehrerinnen bi3 heut Es wir 
dringend wanichenswert, daß eine Reorganiſation der Lebrerinnenbiſdung ihren An: 
iprũchen gerecht wird 


* * 


As Tazesordnung unterer Generalveriammlung and noch ein drittes Them:, 
dus mh ng dee Gebiet io’ Fer Zeit- und Streitfragen gerechnet werben kann: 
„Die Krderripcoologie und die Sebreläne unierer Schalen?. Eine Zeurrage, die 3 
ebenĩo ehr aut er aigereinen miiriductitiden NiStung des medernen Geißezleien! 
ergiedꝛ. a Re ein Proben Br witenitoititen Padagecit if. 
Der üdergeng von er normativen zur inNvidualitierenden Betrechtung, den wit 
iberss in Witintsat, Kant, Moral beebaten, bet af mm Gebiet emen 
Kr gegen Ertm und Weton erieiseführt, nen Auert, in dem Terdings De 
Sim die wüsrung gu Eiemebzen Ihnen Sonung und Lies, ia in ügmiten 
an name Alımdlıra der Arhrataelcht wird ala Die anize Worsıe 87 
Smı inmtlı En non gas tra Beer meaniifen Rızırai I ja De Je: 
—— ron Ein Ken, rniäend und in Bier Dinar men, wir jede Kererci. 
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Architektur und Innendekoration. 593 


Wenn id) von den Arbeitstagen des Allgemeinen Deutfchen Lehrerinnenvereins 
durch die kurze Überficht der pofitiven Daten ein Bild zu geben verfucht habe, fo fühle 
ich die Notwendigkeit, einen allgemeinen Zug, eine beftimmte Farbe, die erft das 
Charakteriftifche giebt, Hinzuzufügen. Der Allgemeine Deutfche Lehrerinnenverein hat 
ein ftarfes Perfönlichleitsgepräge. Er ift mehr als ein Fachverband, in dem nach 
mechaniſch regulierten Formen die Gegenfäge in Fachkreifen außgeforhten, die gemein- 
famen Anſchauungen berausgeftelt und gemeinfame Kundgebungen befchloffen werden; 
Imponberabilien, deren Weſen in den führenden Perfönlichkeiten liegen, in dem, was 
die Lehrerinnen über ihre Standesintereffen hinaus in dem Zuſammenſchluß fuchen, 
haben ihm eine beſtimmte geiftige Eigenart, eine befondere Färbung gegeben, die nicht 
in Sagungen und Refolutionen zum Ausdrud fommen fann. 

Sie wird vielleicht am deutlichften in dem Gedanken, mit dem die Vorfigende 
die Generalverfammlung eröffnete. Sie Inüpfte an eine Erfahrung an, der Björnfon 
einmal Ausdruck gegeben bat: daß nämlich gerade die feinen Naturen im 
öffentlichen Leben zurüdgebrängt werden. Diefe aber follten die geiftige Führung 
haben. Sie ihnen zu fichern, fie zu. fügen, ihnen die Wirfensmöglickeiten zu 
ſchaffen, deren fie bedürfen, dazu dienen die Vereine. So lange der Allgemeine Deutfche 
Kehrerinnenverein diefen Gedanken feftbält, den Gedanken, daß er geiftige Werte zu 
bewahren und nugbar zu machen, nicht in erfter Linie Intereſſen zu vertreten hat, 
fo lange erfüllt er feine Aufgabe, fo lange ift er nicht nur eine äußere, fondern eine 
geiftige Macht. 


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Architektur und Innendekoration. 


Anna Goehje -Bremen. 


Naqhdruc verboten. 


J. 


ſährend die Malerei und die Skulptur das Werk ihrer Befreiung durch einen 
74 notwendigen und gefunden Durchgangsprozeß durch die Schule bes Realismus 
bereits vollzogen Yaben, ftedt die deutfche Baukunſt noch recht tief in ben 
Banden eines falfchen Idealismus. Falſch, — weil er immer noch von der äußeren 
Wirkung, von der Faflade ausgeht und da Heil in der Jmitation früherer Stilarten 
ſucht, wodurch man der Gegenwart das künftlerifche Dafein abipricht und fie der 
eigenen Ausdrucksweiſe beraubt. „Unfere beften Sachen find mehr oder minder getreue 
Reminiscenzen“, jagt Semper, ber berühmte Münchener Baukünftler, der ſchon in den 
fünfziger Jahren de verfloffenen Jahrhunderts gegen die Anficht zu Felde 309, „daß 
der Architekt jeder feiner Kompofitionen durch bie Wahl eines fogenannten biftoriichen 
Stiles eine Unterlage jchaffen müſſe“. Freilich mit bisher geringem Erfolg, denn 
noch immer werden unfere proteftantifchen Kirchen mit Vorliebe in gothiſchem Stil 
erbaut, obwohl er der Höchfte und eigentümlichfte Ausbrud des katholiſchen Kultus 
ift und wir durch die Art unferes evangelifchen Gottesbienftes, der nicht Meffe und ' 
Liturgie, fondern die Predigt in den Mittelpunkt ftelt, ganz andere Bebürfniffe haben. 
In unferen profanen Monumentalbauten greifen wir, und nicht immer mit Glüd, 
vorzugsweiſe auf die Renaiffance zurüd, wie denn z. B. auch auf der Parifer Welt: 
88 


Fu Acchirtckur und Innendekoration. 


ausnelung das Deutihe Haus, dad die moderne deutiche Baufunft repräfentieren ſoll:e, 

ein in nachgemachter Renainance prunfender und dabei einem „Berliner Bierpalst 
unbeimlich übneinder Bau“ asıreien in! Daß bei einem nur auf den äußeren Schein 
binzielerden Bauen manche fatale Vorkommniñe fattinden, it gewis. Recht übel 
it es Dabei einer alten deutichen Reichäitadt ergangen, die „os ein präctiges Mufeum 
in gotbiſchem Enl erbauen lieg. Als nun der ftattlibe Bau fertig war, umd men 
rit den Sammlungen der Kunſt und des Auniigewerbes einziehen weilte, da fiellte es 
rb beraus, deß feine Möglichkeit vorbanden war, die Gegentände richtig aufzuſtellen. 
Es musten unter anderem erit noch Rinde zwiſchen den Tteilern gezogen werden; 
und aud Dann nach batten die aufgeitellten Aunitwerfe und Wiäkcl jede Trerortion 
verleren. „E war eine Zeirfung“ ‚ jo wird der eriie Eintrud geichildert, „als babe 
man eine Kotofolemmore in den Kölner Tom gelegt”. 

Übrigens it ein Sichanlebnen an früßere Stilarıen, ein Euden nad äußerer 
Wirkung beim Monumenta!bau immer nch am erien am Platze, da er reprälentieren 
tel. Urd wenn es bei einem Staatsgebaͤude den derrefienden Arditchten gelingt. Pie 
aösere Nertiientation einigermaßen mit innerer Zwedinägigfeit zu vereinigen, wein 
arche Unzulanglicdteiten vermieden werden, derart wie fie 3. B. bei ter Anlage ein:$ 
Vermaltungägebiudes vorgelommen find, wo ber Farıde zulich bei den meiiten der den 
Beamten dienenden Arbeitäräume die Fenñer fo tief gelegt waren, dab alles Lich 
den unzödisen Sdreisem ven unten in die Nasen nel — io mollen wir getre! 
die Eriridiuna der Staatsbauten ibrem Edidial üserlsten, umiomeßr al wır 
beworregende Nüöntier genug beñtzen, denen es bereit: gelungen it, bei einer 
tcımerinen Beberrichung auer Stlarten berwortzgende Monumentalbauten ftilvol 
und smedräfig und Dabei mit Hervorkebrung eigner füntieriiber Individualität 
zu Ihaten. 

Gin: anders liegt ie Sache Beim Frorungekiude, beim Wobrbaus. Gier bat 
Me rbeter’Se Yorale gar feinen Sinn, und ibre Berüdiorigung kann nur zur größten 
Unzatur und Sturrdrigteit rühren Am deutlichen zeigt ſich Das in ienen Sıädten, 
wo es bareriis:h Darauf enfommt, Etagentrebnungen berzuñeLen. Kat jedes 


grötere Pozenanrıe * nebeus in Berlin, Dresden. stanfurt u. ĩ. w. in äüaßerlich zu 


ener AT von it lieAem Rencivſancevalañ gefempelt. Im Innern find dieſe 1080 Fi3 
3Zro Wart:ezsen dern in der Aegel mit ſchweren Stuäwanden. bocbverdachten Flügel⸗ 
itartn und zuriansczen, bunten Tareten Nferett, eine biae Grofß:buerei, die jedem nit 
rneren Verwen serarinaten Vertsen einen gebiimen Schauder erreat. Der unglückliche 
Üreer ba indeſen dem Geicrnad dei berreenten Baouunterntbners zu fügen; 
13 2 Serm gms tür ion, Die gemieicien Räume nech eiserer Individualitaät zu 
ann, Dr er ji rt wor, wie Balder wieder beraus muß, um Bann in einer 
zen Dotnura foıne Anderungen von vorn zu bes: nen. 

Kr Üsen Babe weire Nee uniereh rufen Tuhihums mit poliger Rube 
ur? Suredersit in Eiumen wobnen, Die ıbnen von irzend eincm Bauunternehmer 
mıör:.2na Brsenäie worden Yad, und im adgcmenen ft cr au Das ganze Moktiiar 
sur arer ziert . Die Es mir Meter Umgebung aut verttäst. Selbñ der Profeñor der 
aferie Torträae über Die Blütezei: Der italieniihen Renarifance, 
2, midi — mie un! Herrann Matbenus verichert —, wenn 
\ ae vun entcht, feine Ausnabme ven 
meinen gèanzuch auserhalb Der Kunt. 
wmanäerend, bar aber innerlih feinen 


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zorze_ınnım als Parnter 2, bemersar Wen tut es unendach vrelen Häufern 


Architeltur und Innendekoration. 596 


an, daß fie in erfler Linie darauf zugefchnitten find, ein gutes Straßenbild abzugeben. 
Man falle fie einmal daraufpin näher ind Auge. Da_ift 3. B. ein Haus, das Erker 
und Türme auftweilt, bie feinen Sinn haben, weil fie weder bewohnbar find noch 
irgend eine Ausficht gewähren. 

Auch die aus dem Süden übernommenen Balkone und Altane find häufig jo 
zwedwibrig wie möglich angebracht, fo daß man fie bei unferm rauhen Klima faft 
nur an zwei bis drei windfreien Sommerabenden benugen fann. Dabei wirken fie 
ftörend auf die Anlage der Feufter, wie denn überhaupt die Fenfter, wenn fie zunachſt 
in Nüdfiht auf die Faſſade angeordnet find, höchſt ungünftig die innere Raum: 
verteilung beeinfluffen. Wir follten doch endlich begreifen, daß es beim Hausbau 
einzig und allein darauf ankommt, die inneren Wohnbebürfniffe zu berüdfichtigen und 
die Äußere Geftaltung des Hauſes von der inneren abhängig zu machen. Woher 
kommt es, daß und die Bauten aus verfloffenen Jahrhunderten jo wohlthuend 
berühren? Weil fie in ihrer ganzen fachlichen Tüchtigleit zu und fpreden und ein 
Ausdrud der Bedürfniffe und des Geichmades ihrer eigenen Zeit find. Wollen wir 
aber diefen oder jenen ihrer äußeren Reize auf unfere Zeit übertragen, jo führt uns 
das nur zu den erwähnten Verfehrtheiten, zur Künftelei. Und in ber That ftehen 
unfere modernen Fafjaden mit ihren unmotivierten Renaiffanceimitationen aus Cement 
oder Sandftein faft durchweg tief unter der rein fachlichen Verzierungskunft uncivilifierter 
Völker, wie wir dies aus unfern ethnographiichen Sammlungen erjehen können. 
Die ganze Enttwidlung unferer Kultur geht auf Vereinfachung. So wie die Allonge: 
perrüde und das feidene Gewand dem ſchlichten dunklen Rod bat weichen müſſen, 
wie wir das fteife Ceremoniell früherer Gefellihaftsformen mit einer einfachen natürs 
lichen Redeweiſe vertaufcht Haben, jo müſſen auch nach und nad) alle Dinge, mit 
denen wir und umgeben, auch das Haus, ald Erweiterung unferer Perjönlichkeit, 
diefer Richtung folgen. Trachten wir bei dem Bau unſeres Haufes nicht mehr nach 
dem Echein, laffen wir dad Gebot der Sache malten! Gehorchen mir in der 
Kompofition einzig den Forderungen ber Zwedmäßigkeit und des Materials, jo wird 
ſich eine zeitgemäße häusliche Baukunſt ganz von felbft entwideln — eine Kunft, bie 
ein Ausdrud unferer eigenen Zeit if, die unfer Leben, unfer Thun und Laffen 
repräfentiert und mit unferm Empfinden, unferer äußern Erfcheinung genau fo überein- 
ftimmt, wie jene alten Kunftformen, die wir mit Recht bewundern und mit Unrecht 
nachahmen, mit der ganzen Lebensweife der Zeiten, aus denen fie erwuchſen, übereins 
geftimmt Haben. Artis sola domina necessitas! Man wende nicht ein, daß man 
auf diefe Weife zu einem völlig unfünftlerifchen Hausbau, zum Nughaus der Bieder: 
meierzeit fommen werde. Ganz abgejehen davon, daß diefer Gedanke an und für ſich 
für den modern empfindenden Menfchen nichts Abfchredendes hat, da jedenfalls die 
Viedermeierzeit in ihrem Nicht = mehr = vorftellen = wollen als fie war, etwas ungemein 
Sympathifches hat und mit ihrem Sinn für einfache Zwedmäßigfeit uns näher Liegt 
als die Gothif und Renaifjance, jo wollen wir auch nicht vergefien, daß die Ent— 
widlung jenes bei uns ftellenweife als lächerlich; empfundenen Stiles jäh unterbrochen 
worden ift. Indeſſen wird jeder, der in ein Haus aus den erften Jahrzehnten des 
verfloffenen Jahrhunderts tritt, die Abficht des Erbauers, die Verhältniffe des Raumes 
fünftlerifch abzumägen, jehr wohltuend empfinden. In der Regel ſieht man ben 
Häufern ihren innern, wohnlichen und behaglichen Charakter ſchon von außen an. 
Höhe, Breite und Tiefe geben eine harmoniſche Gefamtwirkung. 

Wie felten hingegen ift das bei den Häufern der folgenden Bauperiode erzielt! 
Die Verhältniffe ſcheinen Lediglich auf Zufälligfeiten zu beruben. 

Freilich, wenn eine Proportionswirfung erreicht werben foll, jo gehört dazu die 
Möglichkeit, über den Bauplatz frei zu verfügen. Aber beim Einzelhaus fteht dem 
doc in der Regel nichts im Wege, und mit Freuden ift es zu begrüßen, daß es jegt 
wieder mehr Sitte wird, daß alle, die ſich eine eigene Heimftätte gründen wollen, mit 
dem dazu beauftragten Baumeifter ſich gründlich außeinanderfegen über ihre in- 
dividuellen Wünſche und Wohnbebürfniffe, eine Sitte, die hoffentlich mehr und mehr 
um ſich greifen wird. 

38* 


Son gun beſendrer Wicrigt ei in die Gets hung ter Fenferwand. Der nicht 
durchzus een ſogenannten Spiegeirreiler wünidt, 1süte ñch Har machen, de5 die 
übuden me enter De Enbeit des Zimmers —— a vret en Ganz abaeichen 
deren, 5 beim Iwei— eNT Dreitenrierionem albes Aurtelen und Eintizen von 

nen Kuntwerten utonth in da ne in dem dorrilien ae ummustg wirken, wird 
augen durcd de Gerodab ir, die wentterzänte ſebt miedrig anzulegen, Je Mt: 
wur un —S anna cur Die Sun Ne gemoren, und dur? De Enzichung Serie 
arm Umd Ge ame Aytezzı 08 MWoritisrd unangeneba beeinzckt. Kur Die 
Lomize kenn de en greſes. dreites wenter erit entiotehend erhöhter Kentertan! 
gemärt, wird Ah fıner mehr an 2 Itmine Woburiume seriösen 

En under, miönger Yanlı on De Verdındara er Zizer urirensmt, De 
sus De Uran der Terina ein Bir keden im a_zemeann Ne Ancinder⸗ 
abunı Nr Üsiaräume, enne suterarnni ISine Kırdeıtr drür Beten Ne ren 


— riNTzerIemme fzmannte Dir, die cin ST tart-sre Ertimibe: 


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Tora eönesı Turs Be Finn mmiäurı der zur ku Re remis 
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Filmen su omır memtanien Ruuretllon De a 8x wemizemn Bacher, 

der oe nr int Bann onea Ku amuz gu Benzmz June irtimisın 

Gesrıis amuniım, mE emzıka irfa fol! Vom murmimise Sunmsnk 

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Architektur und Innendekoration. 597 


Wenn es zu erreichen wäre, daß der Vermieter oder Verkäufer einer Wohnung 
(bezw. eines Wohnhauſes) diefe nur in den nadten vier Wänden ablieferte, und wir 
und feine lacherlichen und umbequemen Dekorationen aufzwingen laſſen mitßten, fo 
wäre damit ſchon unendlich viel erreicht! Gewiß ift die Bequemlichkeit und Gleich 
giltigfeit des Publikums vielfach felbft ſchuld an den jegigen deſolaten Zuftänden: bie 
ungemöütlichen Umzugstage follen möglichſt abgekürzt werben, man will feine unnötigen 
Scherereien haben und ſchnell wieder in Ordnung fein. Wer fih aber — fei es u 
in noch fo befcheidenem Maße — behaglih und individuell einrichten will, der mu! 
ſich Zeit dafür nehmen und ed vor allem lernen, fih um alle Dinge felbft zu kümmern. 
Die detaillierten Angaben und fpeziellen Wunſche des Beſtelletss wurden übrigens 
ein Außerft wirkfamer Sporm für den Handwerker fein, fobald er fich wieder daran 
gewöhnt hätte. IR es doch für jeden Arbeiter in jedem Beruf intereffanter, für Menfchen 
zu ſchaffen, die ihm Intereffe und Verftändnis entgegenbringen, als für ſolche, die 
feinem Thun und Wirken verftänbnislos und gleichgiltig gegenüber ftehen. Wenn wir 
erſt wieder ein künftlerifch erzogenes, nad Individualität und Eigenart verlangendes 
Publitum Haben, jo wird der künſtleriſch arbeitende Handwerker auch, ficherlich zur 
Stelle fein! An Talent und Tüchtigkeit hat e8 uns in Deutichland noch nie gefehlt, 
und es ift auch jegt fein Mangel daran; nur konnten bei der herrſchenden Tendenz 
der Nachahmung ſich die felbftändigen Begabungen nicht richtig enttwideln und wurden 
von den fchiwächeren Talenten, denen es von Natur leichter wird fich anzupaflen, 
überflügelt. Jetzt, mo die führenden Geifter in der Malerei und Skulptur wieder 
anfangen, auf das Kunftgewerbe Einfluß zu gewinnen, wird ſchon von felbft aud in 
biefer Beziehung eine merkliche Umwandlung vor fich gehen. 

Unendlich viel ift in den letzten Jahrzehnten geſprochen und gejchrieben worden 
über die geiftige und künftlerifche Kultivierung unferes Voltes; jet endlich ſcheint die 
graue Theorie zu grünendem, blühendem Leben werben zu follen. Es mag nur noch 
einmal darauf bingewiefen werben, daß fchon Goethe, wie und Edermann aus feinen 
Gefprächen mit ihm berichtet, das moderne, neufchöpferifhe Prinzip in der Kunft der 
Wohnungsgeftaltung im Gegenfag zur Imitation und Altertümeleilucht energiſch bez 
fürwortet hat. „In einem Haufe,“ fagte er, „wo jo viele Zimmer find, daß man einige 
derfelben leer ftehen laßt und im ganzen Jahr vielleicht nur drei, vier mal hinein: 
kommt, mag eine ſolche Liebhaberei hingehen, und man mag aud ein gothifches 
Zimmer haben, fo wie ich es ganz hübſch finde, daß Madame Pandoufe in Paris 
ein chinefifches hat. Allein fein Wohnzimmer mit fo fremder und veralteter Umgebung 
audzuftaffieren, kann ich gar nicht loben. Es ift immer eine Art von Maskerade, die 
auf die Länge in feiner Hinficht wohl thun kann, vielmehr auf den Menichen, der ſich 
damit befaßt, einen nachteiligen Einfluß haben muß. Denn fo etwas fteht in Wider: 
ſpruch mit dem Iebendigen Tage, in welchen wir geſetzt find, und wie es aus einer 
leeren und hohlen Geſinnungs- und Denkungsweiſe hervorgeht, jo wird es darin be 
ftärfen. Es mag wohl einer an einem luftigen Winterabend ala Türke zur Maskerade 
gehen, allein wa würden wir von einem Menfchen halten, der ein ganzes Jahr ſich 
in einer ſolchen Maske zeigen wollte?” — Diefe Worte find im Jahre 1827 von 
Edermann niedergefchrieben worden; meld’ eine tolle Zeit der „Wohnungsmasterade” 
liegt zwifchen damals und jegt! Erſt heute feheint die Zeit ſich zu erfüllen, in ber 
Goethes Geift wirklich Iebendig wird. Allmählich fcheint es und zu dämmern, daß, 
um mit dem großen Künftler-Philofophen Friedrich Niegiche zu fprechen, „Goethe eine 
Kultur bedeutet”, — allmählid) ertwacht in ung ein wirkliches Kulturbebürfnis. Zunächſt 
unter den Künftlern! Sie find zuerft zu ber Erkenntnis gefommen, daß es ſich in der 
Kunft nicht um die Ausbildung einiger Luruserfcheinungen handeln darf, fondern, daß - 
es nötig ift, beim Nächflliegenden zuerft zu beginnen, bei der täglichen Umgebung: 
dem Haus, der Wohnung, dem Haudgerät. 

Sorgen wir nun dafür, daß die junge Kunſtwelt, die es fih zur Lebensaufgabe 
geftellt hat, an dem Wiederaufbau des ſchönen, edlen Kunſthandwerkes mit zu ſchaffen, 
ein entgegenkommendes Verftändnis bei und finden möge — Sichern mir ihrem 
Werke Lebensfähigfeit, indem wir nicht gedankenlos die Wandlungen der Mode mit: 


naar E IE VW 2 ri... — .. > BL. 20 —— ee "pm L-. > > — — * — ⸗ > 
u .um en “ha n u. unu Marla. ut en Bas. m... an SE. TI oT, | gr 4 UTITea 2 


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C -. DET EV Tr er I Yan den se 2m — a De Toon 17223 2Xx 20. — 


Sn t —_ w. “. - u Br na P) .- 
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Nora N mn. ....a wu dan win XÆ drc⁊ ——— — u es ee a . 3 zn .. 
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m nun pi N a d. S SR — 8 Fön ort = Sn „us mn „yo —. 


—⸗⸗ Be. S, => 2 & —— 
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Trauermarſch. 59 


die Form des Zimmer und die Verteilung der Thüren an. Doc follte man auch 
möglicäft vermeiden, mit dem Sofa eine Ede abzufegen, weil leicht ein toter Winkel 
entfteht, den Feine Stoffdraperien und fein Mafartbouquet zu beleben im ftande ift. 
Glüdlicherweife fangen dieſe legteren mehr und mehr an ins Schattenreich zu 
verfhwinden, wohin ihnen Hoffentlich bald alle fünftlich präparierten Topfgewächſe 
folgen werben. 

Nicht energifch genug kann man gegen die Anhäufung von überflüffigem Kleinkram, 
den fogenannten Rurusartifeln, den Nippes und fonftigen undefinierbaren Galanteries 
waren zu Felde ziehen. In dieſer Hinficht Tönen wir viel von den Japanern lernen, 
deren ganzes Kunftgewerbe noch heute auf dem Beftreben bafiert ift, jeden Gegenftand, 
defien man ſich im täglichen Leben bedient, aus gutem Material anzufertigen und ihm 
eine geichmadvolle Form zu geben, — ein Beftreben, das übrigens auch unfer deutiches 
Runftgewerbe früherer Jahrhunderte aufgewieſen hat, ala man die Grenze zwiſchen 
Gebrauchs: und Kunftgegenftänden noch nicht fo ſcharf gezogen hatte. Es war eben 
jeder Gegenftand dem Material entfprechend gebildet und mit einem Schmuck verſehen, 
der feine Gebrauchsfähigkeit nicht beeinträchtigte. Einfachheit, Natur und Poefie — 
fo folte es auch bier heißen. 

Ale Kunft muß im Haufe anfangen. Erft wenn wir gelernt haben, Schönheit 
von Geihmadlofigkeit in den Dingen unferer täglichen Umgebung zu unterfcheiden, 
vermögen wir zum nachempfindenden Genuffe aller jener wunderbaren Feinheiten zu 
gelangen, die jedes echte Werk der abjoluten oder hohen Kunft in ſich birgt. 

Soll die Kunſt wieder das werden, was fie fein will und muß, eine echte Boll: 
kunſt, die den Armften und Geringften ſowohl, wie ben Reichen und Mächtigen beglüdt, 
fo müffen wir ihr entgegenfommen, ihr Herz und Haus Öffnen und damit beginnen, 
dem Kunſthandwerk ald der Alteften Bethätigung jedes Kunftfinnes wieder eine Stellung 
zu verfchaffen im Herzen der Menfchheit. 


EL 


Franermarſch. 
Hr Alosky. 


&: hat eine Seele fich befreit; 

Nun fchwingt fie in mächtigen Tönen. — 
Und was fie fingt, das foll dein Leid 
Mit ihrer Sreiheit verföhnen. 


Todtraurig laufcht dein wundes Herz. 

Ihm klingt es wie Abfchied vom £eben; 

&s hört nicht durch den dröhnenden Schmerz 
Den heimlichen Jubel beben. 


€s hört nur fchmerzzerriffnen Klang, 
Nur dumpfes Schidfalshaffen. — 
Und doch ift es füßer Bittgefang 
Um Ruhe und Schlafenlaffen. 


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Der Einzige. 


„Ja,“ halt die durchdringend laute 
Stimme der Schwaff zu ihm herauf. „Ich 
ſagte gleich auf dem Hinweg: Nach der 
Kirche geh ich zu der Frau Holzherr'n 'mal 
vor! Und das wollte ja die Emmy aud. 
Und nun müffen Sie uns ſchon ein Augen- 
blidchen annehmen, wenn wir und auch unter: 
wegs getroffen haben, liebe Frau Holzherr'n.“ 

„Bitte, bitte!” “ 

Sie befomplimentieren fih an der Haus: 
thür und gehen in die befte Stube. Ein 
Weilchen hört er nichts, dann fallt die 
Stimme feiner Mutter durd) das Haus: „Fritz! 
Frigt" 

Er ift unwillig, aber hinunter muß er doch. 
Es ift der Mutter fonft nicht recht. 

„AG, der Frig! Nein, wie der fi) raus 
macht!“ ruft ihm die Schwaff entgegen, und 
die gelbe Schleife unter ihrem Kinn mwadelt 
fürmlid. „Der fol fih ſchonen müſſen? 
Der fol frank geweſen fein? Liebe Frau 
Holzherrn, Sie verwöhnen ihn bloß. Eie 
haben nur darum Sorge, weil er ber 
Einzige ift!” 

Immer dies Berufen und Befprochen- 
werben! Fritz haßt es und ift doch ohn- 
mächtig dagegen. Emmy Roth trägt teure 
Federn, ein Kleid mit Golbligen befegt und 
legt ihre diden, mit neuen grauen Handſchuhen 
befleideten Finger recht ſichtbarlich hin. 

Frau Wagner holt einen füßen Likör aus 
dem Silberſchrank; fie weiß, es ift altmodiſche 
Eitte, aber fie mag feinen Gaft ungelabt fort: 
gehn lafien. Und Minna Schwaff nimmt das 
Gläschen auch ganz huldvoll an. 

„Man kann nod ein wenig Wärme ver: 
tragen, meinen Sie, liebe Holzherrn; nun, dann 
muß ich nachgeben!“ 

Ihr Mantel ift feit mindeftens zehn Jahren 
aus ber Mode, ihr Kleid kurz, plumpe Füße 
ſchiebt fie weit von fih auf dem Teppich hin. 
Aber es ift Würde und Haltung in ihr und 
jene Herablafjung gegen die einfache Frau, 
die Frig fühlt und die ihn ärgert. 

„Nein, danke, danke”, ziert fih Emmy 
Roth, „Fräulein von Lehbach, unfre Penfions- 
vorfteherin in Hannover, fagte, wir follten das 
nicht. Für junge Mädchen —“ 

Das überhört die Schwaff, fie läßt fi 
das Glas zum zweitenmal füllen. 





601 


„Der Superintendent bat mal wieder fo 
ſchön geprebigt”, jagt Emmy zu Fri hinüber 
mit niebergefchlagenen Augen. „Vom barm⸗ 
herzigen Samariter!“ 

„Recht gut,“ fällt die Schwaff ein, „unſer 
alter Herr lann ſich ja noch immer hören 
laſſen. Wenn einen nur die Nachbarſchaft 
nicht beſtändig ſtören wollte. Der neue Forſt⸗ 
kandidat kam natürlich zu ſpät. Na, das 
kennt man — ſoll auffallen. Und dann bin 
ich gewiß, der hat kein Wort von der Predigt 
gehört. Immer rumgegudt oben und unten, 
an unferer Seite und drüben. Wohlerzogene 
junge Mädchen beachteten das zu meiner Zeit 
felbftverftänblich nicht. Heutzutage —“ 

Die Hausthür fliegt mit einem fehnellen 
Rud auf, eine helle Stimme tut eine Frage, 
und dann fteht Emilie Zehſe im Zimmer, 
‚ganz rot, luſtig, lachend. 

„In der Staatsſtube“, fagt Tine — 
„drüben halten die Herren eine Sifung. Ich 
babe fo ’n Klingen gehört, wie von Weingläfern 
— Tag, Tante Wagner, id) hab’ was von der 
Mutter zu beftellen und mußte vorher bei 
Meyers vor. Haben die ein füßes, Meines 
Kind. Sechs Wochen! Die Schreipuppe hätte , 
ich mir glei mitnehmen mögen. Ja fo, Tag, . 
Fräulein Schwaff! Sind Ihnen die Eifen- 
kuchen neulich befommen? Ja fo, das darf 
ih nicht fagen. Emmy, fo'n ſchönes, neues 
Kleid? Da Fritz, auch ’ne Hand! Seh einer, 
hat der Blumen im Knopfloch!“ 

Sie ſinkt nah aM dem überftürgenden 
Geplapper in einen Stuhl. „Ad, du lieber 
Himmel!” 

Mir geht es ganz gut”, fagt die Schwaff, 
ihre fpige Nafe hebend und die fcharfen, 
ſchwarzen Augen auf das hübſche Mädchen 
richtend, „ſchon allein darum, weil ich in allen 
Dingen mäßig und vorfihtig bin. Im Eſſen, 
in ber Bewegung und auch im Sprechen. 
Denn das wurde zu meiner Zeit den jungen 
Mädchen zuerft gefagt, daß fie nicht vor ältern 
Leuten vorher ſchwatzen follten.” 

Emmy Roth lächelt und ficht nah Mile 
binüber. 

„So!” antwortet Mile bloß und zupft 
Frig am Rod. „Sag’ mal, wer iS denn bei 
deinem Vater?” 

Er flüftert ihr's zu. 





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Der Einzige. 603 


„Muß man, meine gnäbigfte Frau, bie „Mile bat echt,” fagt der Sohn bes 
ſchöne Gegend, die gute Luft — und wie ih | Haufes. „Er ift nicht auf dem Boden, wo er 
heute in der Kirche merkte: Ein Damenflor — ſich weiter entfalten fann. Man müßte fi 
Ja, das muß man.” | für ihm verwenden. Nur ber Eanitätsrat 





„Ich bitte, ſchlichtweg Fräulein Schwaff“, ficht das ein. Vater nicht. Und wenn man 
fagt die ältlihe Dame. „Wir haben immer | ihm nicht hilft, fo wird er bie befte Zeit hier 
fehr einfahe und gebiegene Sitten hier in , verträumen und figen bleiben und heiraten und 
Blumerode gehabt. Nichts Neumodiſches.“ | Dorflinder Iehren, wie feine Vorgänger auch.“ 

„Bu Befehl — meine — zu Befehl . Sein Huften unterbricht ihn. 

Fräulein Ehwaff!” | nd, lieber Frig! Sie ſprechen ja fo — 

Sie nimmt es gnäbig auf, daß er ihren _ UnbSie werben hier felber bleiben und heiraten? 
Namen fih fofort gemerlt. Er ift fehr ftatt: , Sie haben doch nit etwa auch abtrünnige 
lich, bat große, braune Augen, einen feinges | Gedanken und fehnen fi nad der großen, 
ſchnittenen Kopf, einen kühnen Schnurrbart, | bunten Welt, wie Mile Zehſe es von fid) be⸗ 
Iodiges Haar. Und auch fie muß finden, daß | bauptet.” 
ihn das Grüngrau prächtig Heidet. | Er anttoortet nicht, das ſchöne Mädchen 

Emmy Roth fieht verlegen in ihren | aber ruft: „Thu ih auch! thu ih! Nah 
Schoß; ein fremder Herr ift ihr immer ein | erleben und fehen und — was weiß ich, fehne 
großes Ereignis. Frau Wagner fieht mit | ih mid!” ie breitet halb ſehnſüchtig die 
ihrem ftillen, freundlichen Gefiht herüber; \ Arme aus, eine flatternde Betvegung iſt's. Der 
Mile lacht hell auf. Kandidat lächelt. „Einftweilen,” fagt er, um 

„Na, wenn das ber Herr Superintenbent fi die Sympathien der Landdamen zu fichern, 
müßte, was feine Befucher für Nebenftudien | „it dies Blumerode aber body wunder⸗ 
machen!“ | ſchön!“ 

„Aber, das iſt doch am Ende gar nicht Fritz wird von feiner Mutter hinüber: 
zu vermeiden, mein —“ er unterbrüdt das | geſchidt, den Herrenbeſuch anzumelden; nad 
„gnädige” auch bier —, „mein Fräulein!” ein paar Minuten treten der Major und ber 

„Oh, ein ernfter Wille!” antwortet fie ı Haudherr ein. 
und dreht ihr Bachftelzleinföpfhen. „Sein Unter Händefchütteln fagt ber: „Warum 
Sie froh, da wir Sie nicht eraminieren über denn bier? Drüben fteht Wein, und der Major 
Tert und Auslegung!” findet ihn nicht ſchlecht. Wenn Sie genug 

Er drüdt die Hand gegen die Bruft. mit den Weibsleuten geſchwatzt haben —“ 
„Jedenfalls dankbar — für alles — wollte Aber der Forftmann lehnt dankend ab. 
fagen — na, ift ja einerlei! Übrigens, man ! Mie verfhüchtert ſteht die Schwaff mit ihrer 
muß doch aud, fo zu fagen, beim Eingen , Begleiterin auf. 


irgendwo hinſehn!“ Und da iſt's Fritz bes „Komm, Emmy! Nun tollen wir nicht 
obachtenden Augen, ala huſche auch ein leiſes weiter ftören!” Und dem Ohr ber Hausfrau 
Not über ihre Züge. | näher: „Nein, liebfte Frau Holzherrn, wenn 


Mile ift ſchon bei etwas anderem: „Frig, | die Männer einen Frühfhoppen getrunfen 
mie heut der Kantor fang! — Aber Appel | haben, das kennt man. In meinem Eltern- 
fpielte wieder Orgel, der reine Künftler. Schade | haufe, das wirklich auf einem vornehmen Fuß 
für Blumerode!“ ı geführt tourbe, durfte das nicht vorfommen. 

„Wieſo?“ hebt fi Fräulein Schwaff aus Meine Mutter hatte fehr früh die Zügel in 
der Eofaede. „Das Befte ift einem doch die Hand genommen. Ic fomme ſchon bald 
gerade gut für den Heimatort.” mal mwieber, ganz alleine, zu einem Täßchen 

„Aber — er verfauert hier! Ja, ganz | Kaffee, ich habe fo viel zu erzählen. Ein 
gewiß. Der müßte in bie große Etabt, to | netter, artiger Menfch, der Kandidat. Wär 
man ihn fehäßt, wo er weiter kommt. — Mit | ein Umgang für Ihren Frig — mas?” 
einem Worte, er verfauert!" Ihre Augen „Ad, das glaube id faum. Der ift fo 
bligen. ſtill für fi hin!” 





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Der Einzige. 


Hofleben abgefpielt und das jegt in Beamten: 
wohnungen und Gefängniffe verwandelt ift. 
Das Wagnerfche Haus ragt über feine Nad- 
barſchaft hinaus. Troßig erheben fih drüben 
die Gewerke des Sägemüllers — Neubauten. 
Note, aufpringlide Ziegel. Die Brennerei 
mit dem hohen Turm gehört auch dazu. Nur 
zwei Kinder, Sohn und Tochter — recht drin 
figen die im Wohlitand. "Emmy Roth weiß 
nicht, wie's if, wenn man fi) ein paar neue 
Handſchuhe kaufen möchte und kann es nicht, 
wenn man Rnitterband auf den Hut nehmen 
muß, ftatt des beſſeren; bie orbinäre Säge- 
müllerin, die eine Magd geweſen ift, geht 
beute oft in Seide. Und ihre Mutter bügelt 
fih das einzige feidene Kleid von Zeit zu 
Zeit mit Pjeffermüngthee aus. Reifen können 
die, wann fie wollen. Eie gehn zwar nur 
immer, guter, alter Gewohnheit gemäß, nach 
Hannover — fie würde in alle Weiten ſchweifen. 
Die Welt fehn! Was erleben! Ad! — ein 
langgezogener, fehnfüchtiger Seufzer. 

„Wohin ging denn der, mein Fräulein? 

Blitzſchnell wendet fie fih um — ber 
Kandidat, harmlos lächelnd, die weißen Zähne 
zeigend. 

„Aber — mein Herr!” 

„Ja, ich will nur gleich geftehen: ich bin 
binter Ihnen bergelommen, ganz bewußt, 
ganz abfihtlih —“ 

„aber —“ 

„Schon von der Kirche her. Daß ih Eie 
dort betrachtete, haben Cie bemerlt. Bes 
trachten mußte, fagen wir, um ganz forreft zu 
fein. Was zwingend ift, unmittelbar, elementar, 
das darf man fagen? Was wollen Eie thun, 
als ganz klug und geduldig mid) anhören? 
Sehn Sie, nun ift dad Echmollen weg, Eie 
laden ganz allerliebft, Sie finden die jeige 
Eituation zum mindeften abfonderlih und 
werben Gnade für Recht ergehen laſſen?“ 

Glatt, ſchnell, mit wohlllingender Stimme 
ift das alles vorgebracht, und der Überfall ift 
fo abſonderlich. 

Emilie Zehfe ift heiß getvorben vom Gehen, 
vom Fächeln der Frühlingsluft. Sie wendet 
dem Keden das Köpfchen zu und fagt ein 
wenig von oben herab: 

„Davon habe ich Ihnen nun noch nicht den 
allergeringften Beweis gegeben, mein Herr!” 





605 


„Aber — Sie werben’8.” Er geht immer 
neben ihr ber. „Mein Belenntnis iſt noch 
lange nicht zu Ende. Jh habe Sie neulich 
ganz flüchtig gefehen — haben Eie biß jegt 
ein taltloſes Kompliment vernommen, mein 
Fräulein?” Er fieht fie mit großen, ſchmachtend 
erhobenen Augen an. „Seien Sie barmherzig, 
laufen Sie mid) nicht fo außer Atem. Hierher 
verirrt fih auch um biefe Stunde fein ges 
wöhnlicher Blumeroder, und bie paar Wald- 
arbeiter im Sonntagsftaat aus den umliegenden 
Dörfern werben Eie nicht zählen, die kennen 
Sie nicht!” Es ift ihr ganz unmöglich gemacht, 
in fein Geplauder nur das Geringfte einzu= 
werfen. Nur lachen Tann fie, immerfort 
laden. 

„Alfo in der Kirche hoffte ih Sie wieder 
zu fehen. Und richtig. Ich kenne die Ges 
pflogenheiten Eleiner Orte. Dann ihnen nad, 
aus der Ferne. Sie traten in das Wagnerſche 
Haus. Waren Sie die Tochter des Holzherrn? 
Ich machte meinen Beſuch, das Übrige twiffen 
Sie, und diefe Veilden hier laſſen Sie fih 
demütigft darbieten!” 

Sie fennt wenig Herren, feinen aber, der 
fo gewandt, fo Iuftig, fo unverſchämt ift. 
Und wenn fie auch verſuchen will, darüber 
empört zu fein, ganz bringt fie das doch nicht 
fertig. Sie macht nur eine abwehrende Be— 
megung gegen die Blumen hin. 

„Mein Herr, ich muß Sie bitten,” ftammelt 
fie, gegen ihre fonftige Art befangen. 

„Jetzt mich zu verlafien!” Er verbeugt 
fih. „Ich gehorche, mein gnäbiges Fräulein, 
weil ich felber fühle, daß ich Ihre Geduld ſchon 
auf eine zu lange Probe ſtellte. Aber — 
ein Wiederfehn nehme ich mir balbigft als 
Belohnung für diefe Entfagung in Ausficht.” 

Noch eine, weit tiefere Verbeugung, und 
dann ſchnellt er den fehrägen Abhang zu ben 
Gärten hinab und ift zwiſchen den Heden 
verfhtwunden, eh fie gewahren kann, mohin. 
Die Veilchen aber hält fie in der Hand. 

Sie wagt nicht, fih umzufehen, fie hat 
ben Kopf gefenkt. Mit ganz langfamen, kleinen 
Schritten geht fie den Weg meiter. Cie hat 
etwas erlebt, etivad ganz Befonderes, hier in 
Blumerode. 

Wer das gedacht hätte! 

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Der Einzige 


„Scaufter Pott fine”, 
erfcprodene Mädchen und reibt mit beiden 
Meinen Fäuften feine mafjerblauen Augen. 
Es hat ein braunrotes, kurzes, bertragenes 
Kleid an und bloße Beine und Füße. Ein 
paar flachablonde Zöpfehen hängen über ben 
Rüden. 

„Großmutter, Großmutter!” wimmert es 
Hagend und drüdt die Schultern zufammen. 

„Hu! datt giwt Wichſe!“ fagt ein langer 
Junge mit vergnügtem Grinfen. Die Frau 
sieht dem Kinde die roten finger von dem 
tbränennafjen Geſicht. 

„So! oben bi den Koopmann Jenne wohnt 
fe? Weiß fchon! Was Haft denn aber bei 
den Mühlgraben zu thun?“ Cie droht leicht 
mit dem Finger. „Is das 'n Epielplat für 
lüttje Mäfens?” Dann mit einem Blid auf 
die Knaben, die nun ftill geworden find: 
„Wenn etwa ein’ von euch das Kind rein ger 
ftoßen hat — paßt man Achtung, ich geh doch 
noch mal nad; dem Herrn Lehrer.” 

„Ne! is nid) wahr!” fagt der Größte. 

„Se hat auf einmal brin gelegen, Kopp 
oben, Kopp unnen.” 

„Un’ ihr Deubelbande habt's ruhig 
ſchwimmen laſſen. Nu komm, nu follft'n 
warmen Schlud Kaffee kriegen.“ 

Das Mädchen hört auf zu meinen, - die 
Bengel ftoßen ſich mit den Ellbogen und zer= 
ftreuen fih, denn die beiden Männer da drüben 
find gefürchtet. Wen fie von Schreiern er: 
haſchen und ins Ohr fneifen, der fühlt's. 
Langſam und gewichtig ſchreiten die Nachbarn 
auf die Linde zu, an der die hilfreiche Harfe 
bereits wieder lehnt. 

„Ja, ja, ja!” fagt der Holzherr zu einem 
Gedanken, den er nicht laut werben läßt. 

„Meinſt de nich’, daß ich recht habe mit 
die Frauenzimmer?“ wirft der Sägemüller 
ſchmunzelnd Hin, „mir kennen fe doch.“ 

„Hm! ja! Was rechtzeitig an feinen Pla 
fommt, das is bewahrt.” 

„Drum!“ Und wieder ift der Knopf von 
dem Rod des Freundes zwiſchen feinen dicken 
Fingern. „Mein' Emmy, das fommt ja aud 
nid" leer ins Haus. Un’ is anfehnlih, und 
benehmen kann fie fih aud.” 

„Zu was hört was.” Wagner madt ein 
Zeichen über die Schulter nah feiner Frau 


ftammelt das ' 





607 


bin, die wieder mit dem Kinde erfcheint, das 
feine legten Thränen über einem Stüd Kuchen 
vergeffen bat, Tine hinter fih. Bis zu den 
Sitzenden Hingt die are, weiche Stimme: 

„Nu' lauf mit'm hin. Gleich neben Kauf⸗ 
mann Senne. Sein Vater is gewiß inne und 
feine Großmutter aud. Sie fol’s ins Bett 
legen, bis feine Röde troden find, denn thät's 
nid’ ſchaden. Un’ das Umſchlagetuch bringft 
du wieder und hängſt's aufn Holzhaufen. 
Un’ du, Lüttje, fpielft nich” wieder am Mühl⸗ 
graben. Denn wenn du nod) mal drin an 
geſchwommen kommſt, denn kriegſte keinen 
Kuchen, denn giebt's was mit der Rute. 
Tine, ſeine Leute ſoll'n es aber nich' ſchlagen, 
das beſtellſt du mir!“ \ 

Tine nimmt das eingewidelte Kind auf 
den Arm und feßt fich flint und geſchmeidig 
in Bewegung. 

Roth nidt. „Du, Wagner, deine Frau 
is eine — die hätte fehle haben müffen. 
Die Tann da zwiſchen regieren. Meine konnt's 
nid, der war's immer zu viel. Um’ von 
unfern Sechſen find auch man die zwei 
geblieben und die find ihr auch rein über'n 
KRopf ſchon. Da kann fie jagen, was fie will. 
Ne, deine — die nimmts mit'm ganzen Dußend 
auf!” 

„Hm! Meinft du, Roth, wenn bei bir die 
Sechſe teilten und bei mir aud, das wär' 
fo'ne Sache. Na, denn hätte mein Junge 
den Eichberg nich” zu friegen, und ber ganze 
andere Krempel fäme auseinander. So was 
tönnte fein Menſch mit aniehn, oder wiſſen, 
daß es fo fäme, wenn er fort muß!” 

Roth ftreicht über feine Stoppeln hin und ber: 
„Da haft du mal wieder mitten rin geſchoſſen ins 
Schwarze, alter Schüge. Darüber babe id 
nu noch nie nich? nachgedacht.“ 

Der Holzherr lächelt. „Wiſſentlich bift du 
ja aud nid’ nationalöfonomifh — findeſt's 
man immer fo neben ber. Das muß aber 
ſchriftlich gemacht werden, daß beine Ländereien, 
die an meine im Holtenfamp ftoßen, mal ganz 
direft an die Emmy kommen. Das giebt 
denn ’n guten Landftrih, mas Zufammen- 
gehöriges.” 

„Mach'n wir, Wagners Konrad. Un’ 
wennehr fol’3 denn ungefähr losgehn, wie 
haft du bir denn das gedacht?“ 


608 


„Meinswegen alle Zage! 
den Eichberg habe.” 

„Du, in drei Tagen id mein Geburtstag 
— da ſeid ihr doch jedesmal ’n Abend da- 
geivefen.” 

Wagner nidt. „Mir recht. Aber — nichts 
den Frauensleuten vorher, das bitte ich mir 
aus.“ 

„Morgen! Morgen! Morgen! meine 
Herren und Gönner! Herr Holzherr, Herr 
Senator!“ Der Major Bürgermeiſter tänzelt 
über den Weg. 

„Meine Herren, meine Herren! nun wird 
es Frühling an allen Enden.“ 

Langſam holt der Sägemüller ſeine Hand 
aus der Hoſentaſche. Er liebt es, ſolchen 
Leuten, deren geſellſchaftliches Übergewicht er 
fühlt, keine Conceſſionen zu machen. 

„Denn wer'n Sie ja wohl nu wieder an 
alle Orte Bänke hinſtellen und das Ber: 
Ichönerungsverein nennen”, jagt ex mit feinem 
breiten Zächeln und tbut, ala mollte er pfeifen. 
„38 aber man bloß, damit die Liebespärchen 
denn 'n Aufenthalt haben! Geh’n Sie mid 
man damit. Garnichts bemwillige ih im 
Magiftrat — rein feinen Grofchen for ſowas. 
Früher find auch feine Bänfe im Ort geivefen, 
auf dem Langhals fein Pavilliohn und aufm 
Orthöllen fein Ausfichtsturm und gelebt 
haben die Leute in Blumerode doch.” 

„Aber die Fremden, Berebrtefter, 
Fremden!“ 

„Was gehn die mich an? Hat meine Säge— 
mühle nichts von! Brauch' ih nich!” 

„Erlauben Sie!“ Der Major von Müller 
huſtet, als ſei ihm etwas in die Kehle gefahren. 

Da legt ſich Wagners Hand auf die ſeine. 

„Na, laſſen Sie man! Ich mach 'ne 
Wette, wenn bei dem reichen Sägemüller Roth 
Verlobung und Hochzeit is, dann ſtiftet er 
was, juſt dem Verſchönerungsverein. Wir 
werden uns noch ſprechen, Bruder Louis, was?“ 
Er ſchlägt dem Freunde gegen die Schulter. 
„Der is bloß ſo, mein lieber Herr Major, 
weil er nichts an die große Glocke hängen 
will. Was, Roth?“ 

„Brauch ich nicht!“ giebt der zurück, Herrn 
von Müller im Unklaren laſſend, was er nicht 
braucht. „Na — morgen die Sitzung wird 
wohl ein bißchen ſtürmiſch!“ ſagt der Major, 


die 


| 





— — — — — — — — — — — — — rn EEE — — 





Der Einzige. 


Jetzt, wo ih | „wenn mich die beiden Herrn nicht unternüten 


in Sachen der Armenpflege. Denn daß b:: 
baarfträubende Zuftände, das muß zugegcken 
werden! Dies Armenbaus! Alt und Jung 
und Männlein und Weiblein unter einander 
Und a’ Mann dreißig Pfennig die Rock: 
Und Holz holen dürfen fie nit. Na, mann 
ſie's denn ftehlen, To ift das fein Wunder! 
Er ift febr eifrig und geftifuliert mit ten 
feinen Händen. 

„Sb, nu fol mich einer bewahren, da 
fangen Eie jet auch mit an?” fragt te 
Sägemüller. „Das is doch nu immer io 
geivefen, und fein Supernbent und fein Paſiot 
bat was darinne gefunden.” 

Der neue Bürgermeifter ſeufzt. 

„Sie haben e3 eben gehn laflen!“ 

„Un' Sie woll'n dem Drtsjädel neu: 
Laſten aufbürden? Ne, braud ich nich!“ 

„Aber die armen Menſchen — Dem ta: 
find die Armenhäusler am Ende dody aut!‘ 

Der Sägemüller lehnt ſich zurüd un 
ftredt die plumpen Yüße aus. 

„Barum find fe arm? warum find je md’ 
rechtzeitig zu mwa8 gekommen?“ 

„Erlauben Sie, mein Berehrter, es ſind 
doch viele, ich babe mich genau orientiert, bi: 
unverfchuldet —“ 

„Ad was, glaub’ ich nich ! brauch ich nich — 

„Thatſachen, Herr Senator — Thatjaken 
Iprechen!” 

„Die will ich .gar nich” hören. Wer im 
Armenhaus iS, der is drinne. Un’ baſta damit“ 

„Wenn alle fo denfen —“ 

„Thun fie, thun fi! Was fol id? 
anders machen? Braud ih nid!” 

„Herr Holzberr —“ 

Der hat fein meifes Lächeln. „Wit der 
Zeit, Herr Major. Auf einmal wirt man 
folhe Dinge nicht um. Fein langiam, mit 
es heißen! Sie fennen unfre Berbälmiiz, 
unfre alten Sacjfenköpfe und die Ehrfurdt 
vor dem Hergebrachten in folden —“ xꝛ 
lächelt fpöttifch, „Dingen nit. Der Sanitäts 
rat und ih haben - oft darüber geſprochen. 
Wir haben nur mit Privathilfe das Nörialte 
tbun fönnen. Nütteln an den Dingen — 
ab, man fieht fo vieles!” 

„Sa, was Wagner fagt, der hat ja m 
feine Wiffenfchaft in fo'n Sachen!“ fällt Reit 


Der Einzige. 


ein. „Der bat auch die Menſchen unterftügt. 
Hahaha! mande Frau mit 'nem blanken 
Dahler. Na ja! Aber Sie, Herr Major! 
bei Sie, ba fällt es mid von ben neuen 
Befen ein, bie alleweil gut fegen. Hinterher 
bleibt viel liegen, mander Staubhaufen! 
Hahaha!“ Herr von Müller beißt fi über 
den Vergleich in die Lippen. 

„Eſſen Cie bei uns man erſt'n Scheffel 
Salz!“ 

Haarfträubend, geradezu baarfträubend, 
daß folhe Zuſtände exiſtiern“, eifert von 
Müller. „Und ‘die ganze Paria-Verachtung 
auf die Menfchen im Armenhaus. Wenn fie 
arbeiten wollen, es nimmt fie doch feiner. 
Und giebt jemand ben Kindern ein Stüd 
Brot, fo ift es mit dem verächtlichen Zufag: 
ein Armenhaustind. Außer der menſchlichen 
Geſellſchaft ftehn fie — die Dorfverachtung 
und Beiſeiteſchiebung ift die allerhärtefte. Das 
babe ich bisher nicht gewußt, wirklich nicht. 
Den Zollborn laß ich jegt mein Holz ſchlagen. 
Darüber war meine Wirtin ganz empört, es 
tönnten doch beflere Menfchen auf ihren Hof 
Tommen. Armenhäusler wollte fie nicht — 
IH frage Eie! ich bitte Eie, meine Herren!” 

Der Sägemüller hat ein breites Lachen. 
„Kann ich die Frankſche gar nich’ verbenfen. 
Von meinem Grund und Boden muß mid) das 
Gefindel aud bleiben. Brauch' ich nid!” 

Aber, wo ift denn da Abhilfe?” 

Roth fteht auf. „Wenn Eie mal mit 
mol’n, ih babe neue Kutſchpferde, davon 
mögen Sie etwas verftehn. Mehr, wie von 
Gemeindeſachen!“ Der Aufgeforderte ſchüttelt 
dem Haushern bie Hand, zwinkert mit ben 
Augen und folgt dem Sägemüller. 

Konrad Wagner figt noch ein paar 
Augenblide. Tine kommt haſtig zurüd; da 
fteht er auf: „Na, is ber Schaden gut?” 

„Die alte Großmutter hat gefagt, der 
liebe Gott mußt's unferer Frau befonders 
lohnen.” 

„Denn i8 gut. Was bift fürn appetitlich 
Mäten, Tine. Un’n Schatz haft wirklich noch 
nid?“ 

Aber, Herr Holjherr!” 

Er faßt fie, ihr dicht bis an die Haus— 
thür folgend, unter das Kinn. 

„Rüffen mußt nu aber auch bald Iernen, 





609 


du Flachslopp!“ 
huſcht davon. 

Fritz hebt den Kopf, als ſein Vater in die 
Wohnſtube tritt. Der nimmt das Buch, in 
dem der Sohn lieſt, einen Augenblick 
empor, ſieht das Titelblatt an und legt es 
dann wortlos wieder vor ihn hin, geht ein 
paar Schritte hin und her, tritt ans Fenſter, 
wirft ein welles Blatt von dem Geranium zu 
Boden und ſagt: „Weißt du, daß ich Gut 
Eichberg gelauft habe?“ 

„Nein, Vater! Mutter haft bu es auch 
wohl nid” erzählt?” 

„Was geht das MWeibsleute an? doch erft, 
wenn fie mit ber Wirtfhaft zu thun Friegen. 
Na, fagft bu denn nichts?“ 

„Es wird ein vorteilhafter Kauf fein; bu 
weißt ja, was bu thuft!” 

„Haft Urſache dich zu freuen. 
mal drauf figen!” 

„Vater!“ Fri fpringt auf und eilt auf 
ihn zu. „Vater — das, das wäre herrlich! 
Eichberg! das fhöne Gut — Vater — id 
hab’ mir doch immer gewünſcht, Landmann 
fein — du ſprachſt dich nur nie aus. Aber, 
mas id für mich allein ftubiert und gelernt 
babe, immer heimlih —“ Der alte Wagner 
fteht aufrecht, den Sohn weit überragend und 
auch nicht ein wenig mehr Wärme als fonft 
fommt in feinen Ton, obwohl er die Freube 
des jungen Menfhen aus den aufbligenden 
Augen fieht. 

„Mein größter Wunſch, einen ftubierten 
Menſchen aus dir zu machen, kann ſich ja nicht 
erfüllen. Was bleibt mir denn über? Wir 
find ſchließlich alle fo ſchwach, mehr aus unfern 
Kindern machen zu wollen unb daß es ihnen 
befier gehn fol, als wir's gehabt haben. Ich 
babe mir mein bißchen Kenntniſſe allein er: 
werben müffen, auf eigne Fauſt — Eichberg 
mit dem mittelalterlihen Schloß — ja, da 
folft du nu figen. Die Mutter und id) bleiben 
bier auf dem Altenteil. Freilich, der Erſte, 
der da brüben was zu fagen bat, das bin 
doch ich.“ 

„Das iſt wohl ſelbſtwerſtändlich, Vater!“ 

„Ich!“ ſchwer und bebeutfam klingt das 
dur den Raum. 

Vielleicht” — Fritz ift ganz erregt — „ers 
möglichft du es mir, noch vorbereitende Stubien 

3 


Das Mädchen kichert und 


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„Um ts gröter M teine Züre, und um ie 
rer werde !4 Mir su Dorfen baten!” 

„os nun! Br men emiger um. 
Mn Erteir en Ds, fo aur ee en rl!” 

st leg: jene durciidrigen enger auf 
ten Am 83 namliden Warne2. 

„Veiter, id wer, tab tu — daß ih —“ 
er itict, a3 müne er Ihrin bet cœHrien — 
„du mich wobl anders mifıen Meine 
Kränklichkeit und deine geunte Narr — 
Vater, es in aber doch nicht meine Schuld — 
en trauriges Verbaengnis: Solch geiunte 
Eltern und fo 'n zerbrechlicees Kind —“ 


„Laß man!“ 
„Ich will aber ıFun, was ich kann. Ich 


will — ber Sanitätsrat meint ja auch — id 
gelobe fir —“ 

„Ja, laß man, laß man. Bloß nice 
wie'n weichliches Frauenzimmer.“ 

Fritz ftreicht über ſeine Haare; er fühl es 
bitter, taß ſich der Vater nie finden laßt — 
ſelbſt in dieſem Augenblick, der ibm Teiche 
Freude bringt und in dem er ſo voll Dank 
iſt, nicht. Er unterdrückt einen Seuẽzer und 
gebt nach ſeinem Bud zurück; ta ruit 
Konrad Wagner mit einer plotzlichen Wendung 
vom Fenſter her. „Ja — Frauenzimmer. 
Junge, ſag mal, bhaſt du ſchon eins gem 
gehabt?“ 


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Rz a aus Dılrder ei F : 


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an möten, daß es Vie an x 
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ieir Sabren, ala er tem ein größe .:7' 
war ımd fe das Heine rauslodize Sdr.:. 
fzeten, das ibm die zerbrochenen Sr... : 

brad:e: „Mach tu ne keil!“ 

Er fat, Denn das Helfame Geipraf ‘2. 
su Ente su fein, mechamich nad Heiner F 
über Spolterebitzucht, aber über ul: 
Ein tanzt er Name Wile. 

Konrad Nummer legt ſñich breit in: ir. 

Ein zankendes Spatzenvolk ſtreitet nd > Nah. 
um einen Birnen Cr iſt neugiera, ©. 
iereiente Kerl der Sieger kein wire. 


Das Rotbiche Anweſen, ein großes We 
haus an der Spitze der Müblenzic 
Schuppen, Veridiäge, Ställe und Hama. " 
nah und nach zu ſeiner jegigen Ausdeb! 
gelangt. Der Sügemüller but —e 
jrüfe und Gärten zugekauit. Jmi 
Käufer find mir Überbauung in cm z.' 
verwandelt; die Unreaelmäßigfeit tt 7” 
außen verdeckt mit einer freundlichen x: : 
mit großen Fenitern und ftattlidder Zur. 
Annern aber ſieht's deite bunter us, 
gebt Stuien auf, Stuten ab, bie 37 








Der Einzige. 611 


links liegen höher. Mit vergoldeten Tapeten, 
Spiegeln und glänzend polierten Möbeln betont 
das Haus feine Wohlhabenheit. Aber die 
lommen nicht viel zur Geltung, denn Über 
züge und Läufer und Vorhänge fpielen auch 
eine Rolle, und da in ben „ſchönen Stuben“ 
aus Furt vor Fliegen und Staub und aus: 
brennenber Sonne wenig gelüftet wird, ift ein 
dumpfer Geruch darin, der noch erhöht wird 
dur getrodnete Reſeda und Lawendel, bie 
in Mullbeuteln unter den Inhalt der Schub- 
laden und Schränfe gelegt find. 

Ein einzigmal hat die Kammerjungfer ber 
alten Amtsrätin auf dem Gute, wo die Säge- 
müllerin in den Viehftällen diente, fie mit in 
die Geſellſchaftsräume genommen und ihr die 
Schränke gezeigt. Der Geruch von Lawendel, 
getrodneten Rofenblättern und Reſeda gehört 
zu ben feinften Sinneseinbrüden von Minna 
Roth und ift ihr ungertrennli von dem, was 
Reichtum bedeutet. Die Heinen Beutel fült 
fie regelmäßig zur Sommerszeit und verſenlt 
fie feierlich, und betritt fie die Räume allein, 
fo blähen ſich ihre Nafenflügel. Nun hat ſie's 
auch fo gut wie die Amtsrätin. 

Hin» und Herlaufen, Baden, Braten, 
Räumen, Wegkramen und Hinftellen ift den 
ganzen Tag in der Sägemühle geweſen. Man 
bat bie heifere Stimme der Mutter Roth, die 
Zeit ihres Lebens wie erfältet geflungen, bald 
in ber Küche, im Oberftod ober in der Wohn- 
ftube keifen hören. Sie trägt einen Wollrod, 
eine Barhendnachtjade, deren Ärmel aufge: 
ftreift find und über den Haaren, die fie in 
ſchlichten Scheiteln an ben Kopf gelegt hat, 
ein weißes, leinenes Tuch. Das ift auch noch 
eine Gewohnheit aus ihrer Dienftzeit. Die 
Pflichten innerhalb der Wände des Haufes 
find ihr ſtets ſchwer zu bewältigen geblieben, 
und fie ift deshalb nie für Gaftlichleit zu ge— 
innen geweſen, bie ihre ertvachfene Tochter 
aber num energifch einführt. Recht oft müflen 
jegt bie grauen Überzüge von den Möbeln 
der beiten Stube genommen werben und der 
Hausfrau Hüte, Tücher und Eonntags- 
Heiber, die in berfelben die Lampen garnieren 
und an den Fenſterhalen hängen, ver= 
ſchwinden. 

Fur ſich ſelber hat Emmy die Einrichtung 
eines behaglichen Mädchenzimmers im Oberftod 





durchgefegt; blaue Cretonnemöbel, gleiche Vor⸗ 
hänge, ein zierliher Schreibtifh und ein weiß⸗ 
lackiertes Bett mit einem weißen Baldachin im 
Schlafgemach — fie hat all das bei einer 
Banlierstochter gefehn und zum Mufter ges 
nommen — erregen das Staunen und bie Bes 
wunderung ber Blumeroder jungen Mädchen. 

„Hanne, daß mid der Braten nid’ ans 
brennt! Sette, laß mid feine Augen in bie 
Kartoffeln ftehn!” das find Frau Roths ftets 
wiederholte Mahnungen, während fie irgend 
eine Schüffel ober ein Gerät aufnimmt, um 
es wieder in den Weg zu fehen. 

Das Wohnzimmer ift zugleich Gefchäfts- 
raum, die Leute fommen und gehn dort immer, 
die große Säge arbeitet dicht nebenan, und man 
hört das Wafler rauſchen. Darum ift ber 
Tiſch in der beften Stube gededt. Emmy hat 
es voll Herablafjung übernommen, ihn herzu⸗ 
richten, bedient von ber glogenden Jette, bie 
alles verkehrt legen will und ſich wundert, 
daß es des Beſuchs halber fo anders ift, ala 
fonft. Dabei beflagt Emmy lebhaft, daß fein 
befonderes Eßzimmer eriftiert, trotzdem ber 
Vater ſchon zweimal fein: „Braud ich nich!” 
über bie breiten Lippen gelaffen hat. 

Er und fein Sohn fehn ihr zu. 

Am enter fteht der Geburtstagstiſch; 
um eine Torte find fo viel Lichter geftedt, 
als Roth Jahre zählt. Auch das hat Emmy 
aus der Penfion eingeführt. Cie hat ein 
NRüdentiffen geftidt. 

„PBantoffeln wären ihm lieber geweſen,“ 
hat der Vater gemeint. 

„Verwöhnt die Männer zu ſehr,“ war bie 
Erwiderung der Tochter. 

Sie hat zum Kummer der Mutter alles 
Silbergerät aus dem Glasſchrank geräumt. 

„Das muß doch nu wieder gepußt werden,“ 
hat die Hausfrau gellagt. 

„Recht haft du, Mutter,” hat der Sohn 
zugegeben. „Mir is’n Etüd Brot aufm 
gewöhnlichen Teller wahrhaftig lieber.” 

Der Bruder Emmys, Oslar, hat das 
vote Gefiht der Mutter und bie Heinen, 
ſtechenden Augen des Vaters. In ihm findet 
da8 Vornehme auch wenig Widerhall. Er 
trinkt bereits viel für feine Jugend und hat 
öfter ſchon einen Rauſch heimgebradht. Aber 
er ift feinem Vater im Geſchäft eine Stütze 

39* 


612 


und der Mutter Lieblingsfind, 
immer an ihr zu tadeln findet. 
Schweſter Yräulein Kunigunde. 

Er ſieht wenig nach den Schönen des 
Orts. Auf dem Schützenhof mit ein paar 
Dienſtmädchen tanzen, iſt eher ſein Fall, als 
den Bürgertöchtern höflich begegnen. 

„Kümmere dich um deine Angelegenheiten“, 
ruft Emmy ſchnippiſch. 

„J — ne doch! ſieh mal!” 

„Auf der Schule in Holzminden hätten ſie 
dir auch ein bißchen beſſeres Benehmen bei⸗ 
bringen können!“ 

„Ich bin mir grade recht, Fräulein Kuni⸗ 
gunde!” 

„Ru zanken fie fih fchon wieder, bloß 
zwei Kinder und immer zanten,” klagt Yrau 
Roth, die hereingeftürzt kommt. 

„Laß man, wenn alle Sechfe noch da 
wären, denn ginge es fchlimmer zu,“ wirft der 
Bater ein, der in Hembsärmeln ift und auf 
den Barbier wartet, Schmwartenbed, der ihm 
dreimal in der Woche allen Klatſch zuträgt. 
Und er denkt an die Äußerung des Holzherrn 
— wenn Secdjfe teilen follten. 

Frau Noth ift leicht gerührt, fie führt ben 
Bipfel der blauen Schürze an ihre Augen. 
„Ad, du mein Gott! daß du mid nu aud 
heute davon jprechen mußt, wo bein Geburt3- 
tag i8. Nu krieg ich es nich’ aus dem Sinne. 
Mein Kleines Hermännden und das nübliche 
Lotthen und Friße und Idachen und nu 
ſeh' ich fie vor mir, wie fie auf meinen 
Arm mollte, Idachen, noch zulest —” fie 
ſchluchzt. 

„Ja, ja — is gut!“ 

„Un' immer mein' ich, ſie is nich' recht 
behandelt. Un' die Klawittern is mit ihrem 
Kinde dazumal bei dem Schäfer in Jeliens⸗ 
berg geweſen, und der hat’3 gejund gemadıt. 
Roth'n, fagte fie immer, daß Sie ’nen ftubierten 
Doktor gehabt hat, was Verkehrteres konnte 
fie ja nid’ thun. Un’ das nagt an meinem 
Gemüte, dag werd’ ih Tag und Nadıt nic’ 
los.“ 

Emmy läuft hinaus und ſchlägt die Thür 
hörbar zu. 

„Da haſt es! Fräulein Kunigunde is 
ungnädig!“ ruft Oskar und reckt ſeine Arme 
in die Luft. 


weil er nicht 
Er nennt die 


Der Einzige. 


„Sie hat kein Herz for ihre toten kleinen 
Geſchwiſter, gar kein Herz,“ ſeufzt Minna 
Roth und trocknet mit einer energiſchen 
Bewegung ihre Thränen. „Ob man bloß 
Jette auch keine Augen hat ſtehn laſſen? 
Ich muß wahrhaftig mal nachſehn! Wenn 
man fo was ſelber ni’ thut! Auf wen 
i8 denn Perla?” Sie rennt hinaus und 
läßt die Thür offen. 

„Drüben i8 es gemütlicher,” meint Oskar, 
ber in ausgetretenen Schuhen einen ſchlurrenden 
Gang bat. Und der Vater folgt ihm wortlos 
hinüber; er macht forgjam die Thür zu. 

Das große Familienzimmer hat für viele 
Raum, da ftehn zwei Sofas, ein ledernes, 
ein ganz altes mit lauter fleinen Schubladen 
in ben Seitenlehnen, Schränfe, Stebpulte, 
Kommoden. Eine Thür führt direft über 
zwei Tritte bin nad) dem Mühlenraum, too 
es rauſcht und die große Säge ächzt. Uffnet 
fie fih, fo dringt der Geruch frifchen Holzes 
zugleich mit dem Waſſerdunſt ein. 

„uff!“ madıt der alte Sägemüller. Dann 
wippt ein langer Menſch mit einer ſchwarzen 
Tafche herein. „Herr Eenator, hab’ die Ehre, 
Eie zu grüßen!” Ein Eeufzer. „Bitte Platz 
zu nehmen, Herr Senator. Sollen gleich be- 
dient werden. Ach, was is es for ne Welt, 
Herr Senator!” Und wieder ein langgezogener 
Seufzer. 

„Was hat ſich denn begeben, Schwarten⸗ 
beck?“ fragt der junge Herr aus ſeinem Seſſel, 
in dem er langgeſtreckt liegt. 

„Ih bitte Sie — mit allem Reſpekt vor'm 
Herrn Senator! Begeben? begiebt fih denn 
ni’ immer was in der Politik? Is denn 
das nich’ grabezu greulih? Un’ die grünen 
Tiihe? Sa, da haben die Herrn gut figen! 
Politik und die grünen Tiſche!“ 

Schwartenbeck ſchlägt den Seifenſchaum, 
Roths dickes Geſicht ſieht ſchon über der 
Serviette heraus. „Habe ich nicht recht, Herr 
Senator?“ 

„Ja, wenn die da oben bei der Regierung 
ſo viel Laſt hätten, wie wir mit den Orts⸗ 
angelegenheiten!“ 

„Sage ich ja,“ ſeufzt der Barbier. „Alle 
Tage dreimal ſage ich: Leute, wie quält ſich 
zum Beiſpiel unſer Herr Senator Roth mit 
euren Sachen! Aber — das Volk iſt ja zu 


Der Einzige. 


dumm, rein zu bumm! Unb um den Major 
thun fiel Ich bitte Siel ſo'n Austärtiger. 
Und läßt ſich nic’ rafieren! Seine Sade! 
Aber unfre Sachen, die kann er doch gar nich’ 
verftehn; is fein Blumenroder. Beileibe findet 
fih da fein Fremdländiſcher rein. Zum Bei- 
fpiel, das Holz hadt ihm der ſchiefe Schneider 
aus dem Armenhaufe, und mer trägt’3 in’ 
Holzſtall? die dide Reinfterzen, au aus dem 
Palaſt da oben! Frag ih Sie, Herr Senator, 
i8 das ein Beifpiel fürn Ort? Da find fo 
viel ehrliche Leute.” . 

Der Gefragte Tann nicht antworten, 
Schwartenbed hat ihn bei ber diden Nafe 
gefaßt, e8 wird nur ein Schnaufen hörbar. 

„Mir gefällt der Major!” fagt Oskar. 
„Er ift Teutfelig und macht mal'n Epaß!"” 

„Sie find jung, jung, Herr Roth! Sie 
denken noch nich! viel an die Politif. Wiflen 
der Herr Senator denn ſchon, daß Bormanns 
ein Kalb haben mit zwei Köpfen? ber ganze 
Ort ift unterwegs nah dem Mirafulum! 
Ne, ih hab's nid’ gefehn! Wie ih in 
Göttingen ftubiert habe, was habe ich da nich” 
alles gejehn in Spiritus! Alles aus’m 
menſchlichen Leben, Herr Senator! Und die 
Witwe Großkurth fol ſich nächſtens verloben 
woll'n mit'm Witwer mit fieben Kinder aus 
Hainburg. Da geht denn auch 'ne Steuer: 
zahlerin fort. Un’ zufammgebradht wärn's. 
Ad, du meine Güte! fieben lebendige Kinder. 
Schneider Schwupp und Rinklebens, die haben 
ſich regelreht gehauen, und ber alte Amts— 
diener Finke ift wieder ganz voll, er rief eben 
lauter lonfuſes Zeug aus.” 

„Da fol doch!” puftet der Sägemüller. 
Dslar lacht. „Wenn er einen fißen hat, denn 
i8 er zu komiſch, der alte Finke.” 

Schwartenbed ftemmt ben Arm in bie 
Seite, fenkt das Meffer und wirft einen Blid 
gegen bie Dede. 

„Un’ woher hat er's Geld? Vom Herm 
Bürgermeifter Major von Müller. Hat'n 
großes Trinkgeld gefriegt, teil er ihm ein 
paar Privatgänge beforgt hat. Ich frage, ih 
fage, ein Menſch, der zum Trinken neigt, 
Trinkgeld! Dan follte jagen, es wäre gewiſſer⸗ 
maßen ein Borfchubleiften! und ber Neben- 
menſch fol doch die arme, fünbhafte Kreatur 
wieder auf rechte Bahnen leiten.” Er fehüttelt 





618 


den kleinen, grauen Kopf. „Kerr Senator, es 
iſt fo zu fagen — es ift alles verehrt in ber 
Belt!“ 

„Hahaha!“ Der Sohn des Haufes ift ſehr 
vergnügt. 

„Der Major hat Finken gewiß mal ſchräge 
ſehn woll'n — ih fage ja, er is zu 
iomiſch! 

„Ach, Herr Roth junior! Das käme mir 
grade ſo vor, als wie die frevelhafte That 
der Frau von Siegen. Sie hat den Kindern 
vom ſchiefen Schneider aus dem Armenhauſe 
neulich Torte geſchenkt. Ich bitte Sie, Torte! 
Und was hat ſie dazu geſagt: Die ſollten 
auch mal wiſſen, wie das ſchmedt!“ 

Dölar brüllt jetzt. „Famos, ganz famos!“ 

„Herr Roth, Herr Roth!” 

„Wirklich famos!” 

Da fprengt der allertieffte Seufzer faft die 
Bruft des Barbierd. Er ertibert nichts, 
padt feine Sachen zufammen, macht einen 
Kratzfuß, haucht: „Herr Senator, nu find Sie 
bedient!” und verſchwindet. 

Emmy ift in ihrer Stube. Eie bat im 
Nebenzimmer zwei Kleider auf bie Stühle ge 
bängt und betrachtet fie aus der Entfernung. 
Blau oder rofa? Teuer find beide geweſen, 
das bleibt fi alfo glei. Aber, fie hat 
irgenbivo fagen hören, auch bie Farben 
der Kleidung müßten mit ber Cituation 
barmonieren. 

Blau ift treu und rofa geht auf bie Liebe 
bin. Welche aljo, an biefem bedeutungsvollen 
Tage? denn was fich ereignen fol, hat fie 
längft erraten, wenn aud ihr Vater nichts 
gejagt hat. Er hat von ber Ermwerbung 
Eichbergs geſprochen und daß Fritz dort figen 
follte und daß der Holzherr allerlei Ders 
änderungen borhätte. 

Wie der einzige Sohn von drüben und fie 
fo eigentlich von Mein auf von ihrem Vater 
als zufammengehörig ins Auge gefaßt find, 
das weiß fie doc. Der Holzherr hat nie zu 
feiner Familie davon gefprocdhen, Louis Roth 
aber oft zu dem Mädchen felber. „Das kann 
alles noch mal deine fein, mas Wagner’ is!” 
Wenn nicht ein Graf fam oder ein Baron, 
mas bisher nicht geſchehen war, fo fonnte fie 
„die Grafſchaft“ mit dem ſchwächlichen Frig 
ala Anhängſel felbftverftändlih annehmen. 


614 


Blau? fie Tneift die Augen ein bißchen 
zufammen. Es fteht ihr gut. Bebeutet „treu. 
Na, das bißchen Gerede dabon gegen den 
Lehrer Dppel, der ihr zu Liebe Sonntags 
Einleitung und Finale ganz befonders jchön 
jpielt, das kann fie nicht dabei ftören. Im 
Ernft wird er fich das fo wenig gedacht haben, 
wie fie — Roſa — Liebe? glühende ift dunfel- 
rot, die wird es wohl mit Fri fo wie fo nicht 
werden. Die paar Briefe muß ihr Arthur 
Oppel natürli herausgeben, feine Tann er 
auch befommen. Er fchrieb ſehr ſchwungvoll, 
und fie ift vorfichtig gemefen. Das bat fie 
ſchon in der Penfton gelernt, als fie und 
Blanka Deden ſich mit den beiden Fändrich's 
zum Rendezvous beſtellten. Café Roby 
— kein Menſch hat's gemerkt, am wenigſten 
die Penſionsmutter. War auch ganz harmlos; 
ein paar Küſſe auf dem dunklen Georgswall. 
Blanka Decken hat geſagt, man müßte ſeine 
kleinen, harmloſen Mädchenerinnerungen haben. 
Das wär' auch ein Recht gegenüber den 
Männern, die ſolch viele Rechte hätten. Und 
wie langweilig würde es ihr ohne das kleine 
Techtelmechtel mit dem Lehrer in Blumerode 
geworden ſein! Von morgen an kennt ſie ihn 
nicht mehr. Vater iſt nun allerdings kürzlich 
aufmerffam geworden, aber, was hat das noch 
auf fi! 

Sie entſcheidet fih für blau — abficht3- 
Iofer. 

Das Haar ift kunſtvoll frifiert, fie ftreift 
den meißen Mantel ab, fieht mit Behagen 
die vollen Schultern im Spiegel — der freche 
Leutnant Walter hat einmal ganz unbemerkt 
feine Lippen darauf gebrüdt bei einem 
Gartenfefte und dann ben befannten Refrain 
gefummt. Faſt hätte fie Luft, ſich felber zu 
küſſen. 

Dann ſchlüpft ſie in das blaue Kleid, 
ſchließt es vor dem Glaſe, dreht ſich hin und 
her. Eine gute Figur. Nur neben Mile 
muß ſie nicht ſtehn, mit allen andern nimmt 
ſie's auf in Blumerode. Dieſe Mile hat ſo 
etwas — 

Ob ſie das von ihrer Mutter hat, dies 
gar ſo Handfeſte, die furchtbar geſunde 
Röte? 

Vornehm iſt Frau Zehſe, fein — das hat 
ſie Mile mitgegeben, das haftet ihr bei aller 


Der Einzige. 


Lebendigkeit an. Sie tritt mit der Fußſpitze 
wippend auf. Wenn Vater geahnt hätte, wie 
hoch er fich einmal brädte, fo würbe er 
Mutter wohl auch nicht juft beim Melleimer 
geſucht haben. 

Laßt fih nicht ändern. Aber ift fie erſt 
felbftändig, dann fol fie fo wenig ala möglich 
daran erinnern. Die Leute folen Augen 
machen. Allerhand Schälchen, Käftchen, ein 
paar Photographiealbums liegen im Zimmer 
auf dem Tiſch. Sie ſucht dazwiſchen herum 
nach einem Armband und zwängt es auf das 
Handgelenk. 

Vater iſt gut. Er erfüllt jeden ihrer 
Wünfche, wenn ſie's recht anfängt. 

„Wird Ihr Vater au einwilligen?” bat 
ber ſchwarzäugige Lehrer gefagt. „Er ift ein 
reiher Mann. Er wird bart fein können!“ 

„Kommt Zeit — Tommt Rat!” 

Dieſes Huge Sprichwort fagte ihr der 
Heine Fähnrich, als fie ihn auch ganz naiv 
gefragt hatte, ob einmal feine hochadeligen 
Eltern in kommenden Sahren zu ber Ver⸗ 
lobung ihre Einwilligung geben mürben. 

„Sie gehn aufs Ganze, kleine ſüße Emmy” 
— und dann den Sprud. Da war fie 
allerdings fehr dumm, aber man lernt aus 
jedem Vorkommnis etwas. Der hübſche 
Fähnrich dachte damals fo wenig an irgend 
welchen Ernit, wie ſie jeßt bei dem Anſchmachten 
und Ermutigen des Lehrers. Uber es freute 
fie, menn er in ber großen Slirche, vor der 
verfammelten Gemeinde ganz allein für fie 
fpielte. Bon ihr wollte er gelobt fein — bie 
dummen Leute! Ganz alleine von ihr. 

Und auf eine Orgelfompofition ſollte ihr 
Name kommen als Dedifation. Sie batte 
dad in ESchaufenitern von Muſikalienhand⸗ 
lungen gejehn. 

Wenn er nur erft einen Berleger haben 
würde. Dann die Blumenroder! Und Blanfa 
Deden, die jebt von einem Beamten mit 
ernftlichen Abfichten ſchrieb. Eie würde ſich 
alfo noch früher verloben! 

Die heifere Stimme von Frau Roth ſchallt 
durchs Haus: „Emmy, fo komm doch endlich 
runter, Fräulein Schwaff is fchon da, und 
ich habe noch nich’ fertig werben können!“ 

„Natürlih!” Die Gerufene zudt verächtlich 
die Schultern, nimmt noch einmal von bem 





Der Einzige. 


durchdringenden Parfüm, das ihr Bruder nicht 
leiden kann, ſchiebt ein feines Tafchentud ein 
und ſchlendert die Treppe binab. 

Fräulein Schwaff fteht in dem Hausflur, 
bemüht, Mantel und Tucd abzunehmen. 

„a“, fagt Emmy, „dazu können Blume: 
oder Dienftboten nicht erzogen werben”; fie 
ift behilflich. 

„Dane, dankte, Emmychen! Wo ift denn 
aud das Geburtstagslind?“ Sie holt einen 
Hyacinthentopf aus dem umhüllenden Papier 
hervor. „Drin! wir haben ja fein Eßzimmer, 
das wiſſen Sie. Meine Eltem —“ 

„Ach, Emmy, das bat hier doc niemand 
— eigentlich!” 

„Wir könnten's aber.” 

Sie ftößt das Zimmer auf, in dem ber 
Tiſch gededt iſt. Ch die Schwaff eintritt, hält 
fie das junge Mädchen noch eine Sekunde 
zurück. „Du, id habe fo meine Gebanfen. 
Hat daB heute am Ende mehr zu ber 
deuten?” 

„Beiß nich'!“ 

„Du? Wer tommt denn alles?” 

„Do nur Wagners!” 

„Du! der hat Eichberg gelauft. 
wenn ich das erlebte!” 

„Sein Sie doch ſtill — Mutter — nein, 
lachen Sie nicht.” 

„Emmy, Rosmarin und Euppenkraut, 
unfre Emmy wird bald Braut — mas?“ 

„Das Tann ſchon fein. Ich möchte nicht 
mehr lange bier bleiben in der Wirtfchaft. 
Finden wird fi ſchon einer!” und fie lächelt 
frohmütig. 

Dann Inirt die Schwaff vor dem Säge— 
müller und fagt ihm ein paar ſchwungvolle 
Worte von Freundfhaft und kommenden 
Freuden; ganz myſtiſch. 

„Na ja, legen Sie die ſchönen Redens— 
arten da man hin, Fräulein Schwaff. Da 
muß ich ja aud 'ne Hyacinthe bringen, wenn 
Eie Ihren fünfundzwanzigften doppelt feiern!” 

„Aber, Herr Roth, fo weit ift es noch 
lange nicht.” 

„3b, machen Sie keine Wippen. Dazu: 
mal, als Sie geboren waren, — ne, id) hab's 
neulih in dem Kirchenbuch gejehn. Lafjen 
Sie mal —“ 

„St! wo ift denn Ihre liebe Frau?” 


Emmy, 





615 


Emmy ift in das Schlafzimmer der Eltern 
getreten. „Mutter, fo mad doch! Willſt du 
wieder bie letzte fein?” 

Frau Roth preßt ihre Fülle feufzend in 
die braunfeidene Taille. „Ad, wozu is das 
alles? Bloß man, daß man aus ber Ber 
quemlichteit raus muß. Dies i8 mich fo eng! 
Da krieg' ih noch ’n Schlag in.” 

„Weil du di) immer fo gehn läßt; den 
ganzen Tag, immer!” 

„Ad, for wen foll® ich mid denn ein- 
preflen. 'nen Mann hab ich gekriegt, ſechs 
Kinder auch. Ich bin ’ne Frau bei Jahren. 
Oslar fagt immer, ich hab's nicht nötig!” 

„Oslar ift leider nad) dir gefchlagen; ich, 
Gott fei Dank, nicht. Dahin muß eine Sted« 
nabel. Richtig, Haft du ſchwarze Finger — 
die mußt du erſt noch waſchen.“ Eie blidt 
prüfend über bie volle Geftalt hin. „Der 
Stoff ift fo ſchwer und bu fiehft dod nicht 
beſſer aus, als in einem Kattunfleide.” 

„Seide i8 Seibel” ruft die Mutter 
gereizt. 

„Kleider wollen getragen fein!” jagt Emmy 
gegiert und ftreiht an ber blauen weichen 
Wolle herunter. „Und benimm did nur auch 
anftänbig bei Tische!” 

„Wenn mein Idachen noch Iebte, das hätte 
mich nid’ zu die großmäulige Hannoverfche 
geſollt,“ fagt die Roth, „das wäre jetzt fo 


weit. Aber das hätt’ ich ni’ von mic 
gegeben, die hätt! mich nich’ gemeiftert, 
wie du.” 


Emmy huſcht hinaus. Die Wagners find 
ſämtlich eingetreten und von ben Anweſenden, 
zu denen fih auch Oslar gefellt, begrüßt, 
dann kommt erft die Hausfrau mit wuchtigen 
Schritten und rotem Kopf aus dem Schlafs 
zimmer. " 

„Da find Sie ja! Gu'n Abend. Ih muß 
man erft noch mal in die Küche.” 

Fräulein Schwaff figt im Sopha neben 
Frau Wagner, Hinter beiden fteht ein fteiles 
Nüdenkiffen. Sie erzählt, wie es bei Gefell- 
ſchaften im Elternhaufe herging. „Water war 
fo gaſtlich. Wenn für mid nicht fo viel 
blieb, fo haben fremde Leute ihren Vorteil 
davon gehabt. Emmy wird einmal ein Haus 
zu führen verftehn. Sie hat den Blid für 
größere Verhältnifie. Ich nehme mich ihrer 


616 Der Einzige. 


gern an, lieber Himmel, die Mutter, na, und 
Männer find Männer.” 

Der Holgberr muß erft feine Meinung 
über die Weinforten abgeben, die Oskar heran 
trägt; Roth verfteht nichts davon und der 
Eohn trinkt „alles”, mie er mit kurzem Lachen 
ſagt. Dann fett man ſich zu Tifche. Die 
Reihenfolge beftimmt Fräulen Schwaff. 

„Jugend zur Jugend! Herr Fri und 
Fräulein Emmy. Sa, Herr Oskar — Sie 
müfjen nun fchon in den fauren Apfel beißen 
und an meine Seite fommen.” 

„Is egal! Wenn ic man ordentlich zu 
ejlen und zu trinfen kriege!“ 

Fritz fieht gut aus; es liegt etwas 
Strahlendes heute auf feinem Geficht, etwas 
Befreiteres in feinem Wefen. Und der ſchwarze 
Rock fteht ihm gut, und feine Mutter fieht 
ihn öfter an. „Mein unge ift doch hübſch.“ 

Emmy unterhält ihn, nachdem fie erit ein 
wenig ſchüchtern und verlegen gethban, mehr, 
ala er fie. Das bemerkt Antoinette Wagner 
auch; aber, ihr Fri ift immer zurückhaltend. 
Nur mit Mile geht’. Und das ift ja aud) 
die Rechte, denkt die Mutter und ift bald mit 
ihren Gedanken der beften Stube der Familie 
Noth entführt und träumt über den Kalbs⸗ 
rüden bin fi) nad Eichberg. Wenn fie das 
erlebt, ihren ungen da und die Mile! Sie 
fiehbt nah ihrem Mann binüber. Ein paar 
ganz verlorene Andeutungen bat er gemacht 
bon einer zufünftigen Hausfrau auf Eichberg. 
Lieber Gott! wenn fie den ungen glüdlic) 
fiebt, dann kann fo viel gut gemacht fein in 
ihrem Leben! 

Da ftöpt Minna Roth fie an: 

„So nehmen Sie doch auch an die 
Sohfe, Frau Nahbarn ?” 

Sie muß zurüd, bier an den Tiih und 
nidt und ftimmt mit ein, ala Fräulein Schwaff 
den Braten lobt. 

„Das Kalb habe ich auch ſechs Wochen 
bei die Kuh ftehn laſſen, da geht denn nichts 
drüber!“ 

„Brauch ih nich',“ ſagt der Sägemüller 
eben, „den Major feine neue Moden Stimm’ 
ih nid’ zu!” 

„Wirſt dich wohl noch befinnen, Roth, 
baft allemal das Bernünftige gethan,” giebt 
der Holzberr zurüd. „Proſt auch!” 


Ein grummelnded Brummen des Alten, 
ein vergnügte® Lachen bes Sohnes Roth. 
„Der Major — das is fein Spaßverderber! 
Fräulein Runigunde, haft bu nid’ Luft, Frau 
Majorin zu werben?” 

„Behalt deine dummen Wige für Dich!” 
ziihelt Emmy fcharf. 

Oskar kneift feine kleinen Augen faſt 
ganz zu. 

„Der kann ſich in Uniform trau'n laſſen, 
und denn ſpielt Oppel recht ſchön Dazu. 
Wär'n Hauptſpaß!“ 

Emmy wirft einen haſtigen, argwöhniſchen 
Blick hinüber, fie wird nicht rot, fie hätte es 
fonft gefühlt, und jagt zu Frig: 

„Sp ift er nun mal! Immer dumme Ein= 
fälle!” 

Frau Roth vergibt ganz, daß fie ben Ell⸗ 
bogen nicht aufftüßen joll; fie ruft mit einem 
Schmagenden Laut: „Die find immer wie Habe 
und Hund! Den ganzen Tag!” 

„Broft, Alte!” acht der Sohn, Emmy 
wird diesmal glühend rot vor Zorn, bie 
Schwaff hat ihr modantes Lächeln um bie 
Mundwinkel, das fie jo gut kennt; fie ſchämt 
fih vor der mehr, als vor Fritz. 

„Die Gabel ftedt!” Tagt ber Holzherr, 
„was nu eigentlich bebeutet, daß die Damen 
leben follen, woll'n aber auch man gleidy das 
Geburtstagstind mit babei thun! Sch Bin 
nit für lange Neben, damit’3 Eſſen nich’ 
falt wird. Hoch! hoch! body!” 

„Son’ weitere fünfzig Jahr! ich hätt’ 
nicht3 gegen!” lacht Roth. 

Oskar hält fein Glas vor bad Licht: „Die 
Damen!” dann iſt's bi zur Neige geleert, 
ſchnell ift’3 wieder gefüllt: „Der Alte!” und 
ebenjo raſch getrunken. 

„Der kann's!“ ſagt der Sägemüller. 
„Beſcheid muß doch einer thun!“ 

Fritz hat mechaniſch angeſtoßen; was die 
um ihn her reden, hört er gar nicht, daß 
Emmy lächelt und ſchwatzt und daß er nicht 
viel zu ſagen braucht, iſt ihm angenehm. 
Wenn er die ſtattliche Geſtalt des Vaters 
ſtreift, der einmal über kommunale Sachen 
ſpricht, um den ſtets erſt widerſtrebenden und 
dann nachgebenden Sägemüller zu ſeinen An⸗ 
ſichten zu bekehren und dazwiſchen ein 
Scherzchen macht, das Fräulein Schwaff zum 


— — 


— — 


Der Einzige. 


Sachen bringt, fo geſchieht's mit einem ihm 
bisher unbelannten Gefühl aufquellender 
Dankbarkeit. Biel bittre Neben und ſchwere, 
grüblerifche, unglüdlihe Stunden hat er dem 
Manne doc wohl zu vergeben, manch 
gegnerifhe Empfindung. Nun wird alles gut. 
Und er meint, es beſchleicht ihn eine mitleivige 
Empfindung für den Hünen, er verficht es 
plögli, daß er juft mit feiner Kraftlofigfeit 
und Kränflicpteit nicht der Eprößling ift, den 
ein Konrad Wagner fih naturgemäß wünſchen 
mußte. 

Die Hausfrau läuft ein paar mal hinaus 
und fommt dann mit erhigtem Geſicht wieder. 
„Es i8, daß fie mid) den Pudding ornd'lich 
umftülpen! Es is doch fein Verlaß auf die 
Mädchens!” Auch das große Ereignis ift 
vorüber; fie hat felber Butter und Käfe dienſt⸗ 
eifrig herbeigetragen, und Oslar macht eine 
beijere Sorte Wein auf und gießt ein. 

„Me, zieren Cie ſich man nic’, Fräulein 
Schwaff, Sie haben ’nen ganz guten 
Fall!ꝰ 

Der Sägemüller iſt ſehr luſtig. 

„Mein Nachbar und Bruder Konrad hat 
noch 'n befondern Spruch auf ber Pfanne! 
Alle Gläfer vol, fag ih. Alle Gläfer!” 
Und er lacht dröhnend. „Nu paßt aber mal 
auf! Nu paßt auf.” Und er legt ſich weit 
zurüd gegen die knackende Etubllehne. 

„Roth, nimm di doch in act!” ruft 
feine Frau, „du brichſt 'n noch ab.” 

„Brauch' ich nid’, ich kann 'nen andern 
kaufen!” 

Die Schwaff ſieht nah Emmy hinüber 
und hebt ganz verftohlen den Finger, dann 
hält es bie Tochter des Haufe für an: 
gezeigt, die Blicke ſchuchtern in den Schoß zu 
ſenlen. 

„Nu! nu! nu!” lacht der Sägemüller, und 
Oslar hebt wieder prüfend, mit Freude an 
dem leuchtenden Echein, fein Glas gegen das 
Licht. 

Antoinette Wagners Gedanken find bereits 
wieder weit ab, und Fritz' ſchlanke Finger 
fpielen mit der Uhrlette. Er hat einen Ent- 
ſchluß gefaßt. Gleih morgen will er mit 
dem Vater ſprechen, daß alles zum Abſchluß 
fommt. Er wird gefunden, allein fchon vom 
der Freude, dem Glüd, das fühlt er. 





617 


Liebe Freunde!” fagt der Holjherr, „Sie, 
Fräulein Schwaffen, thun ja auch fo gewiſſer- 
maßen, ald ob Sie mit dazu gehören und 
darum find Sie hier. Um’ denn aud, mo 
Sie gewefen find und was Sie mit erlebt 
haben, das kommt ’rum, und man braucht 
fein Angeigeblatt. Und fo haben Sie 'n Ver- 
glei mit der vielzüngigen Yama nicht zu 
ſcheuen!“ 

„Herr Holzherr!“ Sie iſt nicht ganz klar 
über die mythologiſche Andeutung, aber fie 
traut Konrad Wagner nie recht. 

Sie wirft den Kopf zurüd und weiß nicht, 
ob fie lächeln oder böfe ausfehn fol. Sie 
ſetzt ſich einftweilen fteif hin und orbnet bie 
Schleife unter dem Kinn. In des Holzherrn 
Gefiht lachen alle Heinen Falten mit, und er 
zwidert mit den Augen, es freut ihn, daß fie 
fo unſicher da figt. 

Re, fol 'n Kompliment fein. Und mas 
wir befchlofjen haben, mein Freund Louis Roth 
und id, das fann morgen der ganze Ort 
wiſſen. Eichberg habe ich gelauft, das is 
ſchon rum! Und warum habe ich es’ gelauft? 
Mein einziger Cohn foll drauf figen. Louis 
Roth fieht das mit ſcheelen Bliden an, denn 
die Waldungen, bie der dolle Nittmeifter noch 
nid’ verfloppt bat, die hätte er nun gerne 
abgeholzt. Wird aber auch fo noch feine 
Freude dran haben. Denn — langjährige 
Freunde und Nachbarn, und in gleihen Ver- 
mögensverhältniffen wie wir find, haben wir 
noch was andre im Sinn —“ 

Hier blidt Emmy ſchräg an Fritz hinauf, 
dann zur lauernden Schwaff hinüber. 

„Und nun kommt's. Wir wollen auf ein 
Brautpaar trinken!“ Mit einem plöglichen 
Erfchreden, die Augen weit aufreißend, ſieht 
Antoinette Wagner ihren Fritz an, der mit 
feinen Gedanken gar nicht da zu fein ſcheint. 
Sonſt müßte er ja rufen — nein, fie — aber 
es ift, als ob eine würgende Hand ihr nad 
der Kehle faßt. Allbarmberziger Gott! ein 
Stoßgebet will fih auf ihre zitternden Lippen 
drängen; nur das nicht, daß das jet Wahr⸗ 
beit wird, was fie fürchtet, was riefengroß, 
drohend auffteigt — 

Nein, nein! Es Tann nicht fein, fie 
träumt. Es ift alles nit wahr, fie ift hier 
nicht in Roths befter Etube, da ftehn feine 


618 


Weinflaſchen, halten feine Hände Gläfer zum 
Anftopen bereit, fit nicht ihr einziger Sohn, 
fehn nicht gefpannte Gefichter hinüber nad 
dem Sprechenden, der ihr Mann iſt — 

„Auf ein Brautpaar woll'n wir trinken”, 
Hingt Wagners mächtige Stimme noch voller, 
„denn unfre beiden Kinder follen auf Eichberg 
figen, mein Fris und Roth's Emmy! Daß 
fie einmal zuſammenkommen follten, das 
haben wir lange jchon geplant! Und nun ift 
die Zeit da! Gebt euch die Hände, unfern 
Segen habt ihr! hoch, hoch, hoch!“ 

Sein und Roths Glas klingt hell zu=- 
fammen, Oskars Arm langt auch) ber. 

„Vater!“ Noch weiter, noch angftvoller, 
al3 die Augen der Mutter baben fidh vie 
Fritzens geöffnet, auf den jebt nad) dem 
Ausruf die andern alle fehen. Tobesfahl ift 
fein Geficht, ein Zuden ift um feine Lippen, 
feine Arme find berabgefallen und feine Singer 
machen Frampfhafte Beivegungen: „Vater! 
Aber der fiebt nicht einmal nad ihm bin. 
Roths dide Turze Arme haben ihn gefaßt. 
„Bruderherz, das haft du gut gemadt. Ne, 
Bruderherz, nu haben wir das doch noch er: 
lebt!” Sagt er gerührt, und zwei fchmatende 
Küffe werden Wagner aufgedrüdt. „Dein 
Kind und mein Kind! Und wenn bei dir ’n 
Mädchen zu haben wäre, die Triegte mein 
Oskar, das wär’ aud gewiß!” Und dann 
zieht er das Taſchentuch, denn in folchen 
Augenbliden ift er ein mweichmütiger Menic. 

„ne, ine!” ſchluchzt die Hausfrau, „das 
fommt einem ja jo über'n Hals, das haben 
die Männer wieder unter ſich abgemadt. Un’ 
wenn meine vier andern auch noch da wären,” 
fie ſchluchzt. „Frau Nachbarn, ne, was fagen 
Eie nur! Mich kommt es wirklich un: 
erwartet!“ 

Antoinette Wagner antwortet nicht, ſie hält 
ſich mit den zitternden Fingern an der Tiſch— 
fante und blidt ihren Eohn an. Emmy ift 
erwartungsboll fiten geblieben, endlich muß 
boh Fri ihr auch etwas jagen. Und jeßt 
fiehbt der Holzherr hinüber nach den beiden 
Hilflofen. 

„Gebt euch die Hände!” 

Mit einem Ruck fliegt Friend Stuhl 
zurüd, ein unartifulierter Laut, dann ftürzt er 
zu Boden. 


Der Einzige. 


„Mein Junge, mein Junge!” jammert dir 
Mutter und ift die Erfte bei ifpm und nimmt 
ben todesblaffen Kopf auf ihre Knie. 

„Re Ohnmacht!“ fagt der Holzherr, jeinen 
Zorn gewaltfam unterbrüdend, mit zufammen: 
gezogenen Brauen. „Das if, mad man die 
berfeinerte Empfindung nennt. Wa, Enmin, 
denn nimm erjt mal mit 'n Ruß vom Schiwieger: 
bater fürlieb.” 

„sa, aber —” 

Wagner faßt ihren Arm und ziebt fie 
beran, und fie dulbet es mechaniſch. 

„Sp zimperlihd und pimperlih wie ber 
glüdliche Bräutigam bift du nich’, mein Tochter! 
Lab man, das gefällt mir grade. Mas fol 
ich dir jchenten, Kind? wünſch dir was, mas 
Rechtes, nimm’3 wahr!” 

Er fpriht das ſchnell, um fih und Den 
andern über das hin zu Belien, was ibm 
peinlich ift. 

„sa, aber —“ ſpricht Roth feiner Emmv 
nad), während Oskar ſich auf feinem Stubl 
räfelt. „nen Hauptſpaß! ohnmächtig mie ne 
bleihjüchtige Sungfer! hahaha! So was!” 

„Nerven! wohl die Freude?” fragt Die 
Schwaff und bat ihr liebenswürdigſtes 
Lächeln. 

„Kann ich nich fehn,” jammert Minna 
Roth. „Wer Sehe gehabt hat und nur zmei 
behalten hat, wie ich!” und fie beginnt noch 
lauter zu ſchluchzen. 

Emmy kämpft mit dem Ärger, fie ftreicht 
an ihrem Kleide herunter, neftelt die goldene 
Kette um die Finger und fagt: „Onkel Wagner, 
jeßt weiß ich wirklich nicht —“ 

„Wirſt dich Schon befinnen, mein Tochter. 
Es gilt! Na, Fräulein Schwaff, den hat 
feine Mutter zart erzogen, was? Ein Bräutigam, 
der in Ohnmacht fällt.“ 

„Emmy, du ſollteſt nach Kölniſchem Wafler 
ſehn,“ meint die. Und die Lippen zufammen: 
ziehend, geht die Braut hinaus. 

„sa, ein freudiger Schreck,“ meint die 
Schwaff Iauernd, aber fte hat mit diefem leijen 
Antaften fein Glüd beim Vater von Fritz, fie 
verfucht jebt, der Mutter Hilfe zu leiften. 
Doc auch die wehrt fie ab. 

„Es wird fchon gut! Das geht fchnell 
vorüber. Das ift noch fon’ bißchen Schwäche. 
Er Schlägt Schon die Augen wieder auf. 


Der ‚Einzige. 


Vater,” bittet fie dann mühſam und ver= 
ſchuchtert: „Laß uns beibe jegt nach Haufe 
gehn. Es iſt beſſer.“ 

„J was, mas, jetzt ſoll's erſt luſtig 
werden!“ ruft Roth, und Oskar ſtößt mit 
feinem Glafe auf den Tiih. „Bloß ord'ntlich 
trinken mußte, Frig, Mut in die Bruſt!“ Die 
Hausfrau kramt auf dem Tifche hin und ber: 
Da i8 ja noch die Torte, die kann mid) doch 
nich’ über bleiben!” 

Alle Etimmen übertönt die feſte bes 
Holzherrn. 

„Ja, bring’ dein Widellind ins Bett. 
Schlaf aus, mein Junge und hol dir morgen, 
wenn’3 feiner fieht, deinen Bräutigamd- 
kuß.“ Er fpaßt grollend, um nicht heftig zu 
werben. 

„Morgen is aud noch'n Tag,” fällt der 
Sägemüller ein. Auf den Arm der Mutter 
gelehnt, wankt Frig hinaus. Die Schwaff 
folgt. „Meine befte Frau Holaherr —“ 

Da werden ihre Finger krampfhaft ums 
Hammert, 

„Sprechen Sie nicht über den Vorgang, 
über gar nichts,” flüftert die erregte Frau. 
„Ich bitte Sie —“ 

„Was denlen Sie!" 

Emmy ſteht am Treppengeländer. 

„Die Eau de Cologne iſt wohl nicht mehr 
nötig?” fragt fie ſpitz. 

„Bir gehn jet nach Haufe. Die Hike, 
die Menſchen — es ift ihm zu viel geworben! 
Die Luft wird ihm gut thun!” 

Fritz fieht nicht auf, fpricht nicht, er geht 
allein die Stufen hinunter. Als die Hausthür 
zufält, fommt Emmy herab. 

„Run?“ 

„Ja —“ fagt die Schwaff, in biefem 
Augenblid ift fie foger ein bißchen ver— 
legen. 





19 


„Das nennt man ja mohl ein unter 
brocenes Opferfeft?” Emmy hat das Citat 
auch noch aus ber Zeit ber Leutnants⸗ 
ſchwärmerei. 

„Argere dich nicht, Emmychen!“ 

„Pah! dadrum! Kommen Sie, die Torte 
ſchmeckt fo gut, und es ift nod viel da!” 

„Du bift ein kluges Mädchen!” 

Emmy zudt die Achſeln. „Ich braude 
doch feine Sorge zu haben! Und um ben!” 

„Eichberg, weißt bu —“ 

„Baht“ 

Die drei Männer figen am Tiſch, wie fie 
eintreten, die Frau ift hinaußgegangen. 

„Ih, da is ja mein Schwiegertöchterchen,“ 
ruft der Holzherr. „Komm ran, Kind! ber 
Stärkfte is dein Bräutigam nid’ vorläufig. 
Na, wenn du ’n erft in der Kur haft!” 

Er zieht fie an feine Seite und ftreicht ihr 
übers Haar. 

„Ja, meinft du denn, Konrad —“ Roth 
fommt nicht weiter. 

„Was ich gefagt habe, das habe ich gefagt. 
Fräulein Schwaff, Sie werden niht um Dis⸗ 
kretion gebeten, in biefem Falle.” 

„Herr Holzherr —“ 

„Ne, ne! Man rein in die Poſaune! was 
ich gefagt habe, Konrad Wagner! ftoß mal 
an, Schwiegertöchterchen. Was, das giebt ’n 
Ton! Frau Nittergutöbefigerin in spe!” 

Emmy lacht. 

„Sräulein Kunigunde, fannft did ja dann 
Wagner von Eihberg nennen!” lallt Dakar. 

„So etwas habe ich noch nicht erlebt, 
Emmy,” flüftert die Schwaff. 

„Was foll ih nun thun? die bittet mic, 
zu ſchweigen und der will, daß ich’3 erzähle. 
Was fagft du denn?” 

„Mir ift es ganz egal! Wirklich. Pah!“ 

Echluß folgt.) 


620 


Auf vorgelchobenem Polten. 


Voit 


Belene Tange. 


Nachdruck verboten. —E——⏑—————— 


a 
— * . 


ach moderner Methode — oder in modernem Jargon — behandelt man gern 
\ die joziale Entwidlung als einen Naturprogeß, der nach allgemein giltigen 

an Gejegen die Maflen vorwärts fchiebt, zurüdhält, wandelt. Auch die Frauen: 
bewegung bat fich dieſe Auffaffung gefallen laſſen müffen. Sei es nun, daß man mit 
Treitichle „wie einft in den Zeiten der Sittenverderbnis des Altertums aus dem Schlamme 
ber Überbildung die Lehren der Weiberemanzipation auffteigen” fieht, oder daß man von 
ben Folgen der inbuftriellen Entwidlung, von der Vergefellfchaftung der Familienkultur 
Ipricht u. a. nı., folche Anſchauung bat es bewirkt, daß wir uns nicht mehr wundern, die 
Frauenbewegung überall, wenigftens in den erften Anfängen, zu finden, dab wir faum 
mebr das Bedürfnis baben.zu fragen: wem verdanken fie ihr Leben, ihre Entftehung? 

Und doch, wenn wir genauer zujehen, zujehen mit der Fähigkeit, nicht nur das 
Was?, jondern auch dad Wie? diefer Erjcheinungen zu erkennen, jo fteht am Anfang, 
im Mittelpunft, ala Lebensprinzip des Ganzen, eine Perjönlichkeit. 

Der eigentliche Nährboden der Frauenbewegung find die großen Städte. Taufend 
Umftände treffen dort zufammen, um ihre Notwendigkeit dringender erfcheinen zu laſſen, 
um Vorurteile zu vernichten, um Kräfte zu löſen, gemeinfames Handeln zu ermöglichen. 
Langſam — das ift die allgemeine Regel — verbreiten fih von dort her ihre 
Beitrebungen in die Provinz; um fo rafcher, je näher man dem Centrum ift, je 
zahlreicher von allen Seiten verbindende Fäden fich kreuzen. Aber diefe Regel Hat 
Ausnahmen. Und ſolche Ausnahmen weilen mit doppelter Sicherheit auf Perfünlichkeiten. 

An der öſtlichſten Grenze unſeres Vaterlandes, in einer Gegend, die dem Kultur: 
. menjchen de3 Centrums immer noch als ein etwas dunkles Kolonifationdgebiet vor: 
Ichwebt, hat die Frauenbewegung einen Stüßpunft, eine Grenzmark im eigentlichen 
Sinne des Wortes; dieſe Grenzmark iſt in Tilfit, und die fie begründete, it Frau 
Marie Hecht. 

Eine blühende Ortsgruppe des Allgemeinen deutjchen Frauenvereins, die einzige 
in Oftpreußen, ein umfafjender BZmeigverein des Haugsbeamtinnenvereins, deſſen 
Mitgliederzahl von 600 den vierten Teil aller Vereingmitglieder in ganz Deutichland 
ausmacht, zahlreich bejuchte Volfzunterhaltungsabende für Frauen, eine bon rauen 
geleitete Auskunftſtelle für Wohlfahrt3einrichtungen, eine Hausbaltungsfchule — Frauen 
als ſtädtiſche Waifenpflegerinnen, Frauen mit Männern gemeinfam im Vorfland bes 
Vereind zur Unterbringung entlaffener Strafgefangener, im Komitee für Dolls: 
unterhaltungabende, deren Gründung der bes Frauenkomitees folgte, und zwar Frauen 
aller Konfejfionen, Berufsfreife und politifchen Richtungen, und fie alle nicht nur ald 
Nummern des Mitgliederverzeichniffes, fondern als felbitthätige Mitarbeiter: das find 
die glücklichen Vorbedingungen, die Tilfit heute für eine gejunde Weiterentmwidlung 
der jozialen Frauenarbeit aufmweift. 











622 Auf vorgefchobenem Boften. 


juchen. Ihre erite Vereinsgründung war ber Tilfiter Vehrerinnenverein. Die Anreaur: 
dazu — eine negative Anregung freilich — gab ihr die Generalverfammlung ti: 
Vereind für das höhere Mädchenſchulweſen in Berlin 1886. Die paffve Rolle, dir 
bie Lehrerinnen dort jpielten, legte ihr den Gedanken nahe, die Lehrerinnen ihre: 
Heimatſtadt zu einer geſchloſſenen Vertretung ihrer Berufsinterefien zu organilieren. 
Noch im Herbit desjelben Jahres rief fie den Zilfiter Lehrerinnenverein ins Leben. 
Für feine weitere Entwidlung war ihr Fräulein Margarete Poeblmann cin 
thatkräftige Mitarbeiterin; an fie ging im vergangenen Sabre auch der VBorftg über. 

Sie arbeitete in derjelben Weife mit Frau Hecht Hand in Hand bei der mit viel 
größeren Schwierigfeiten verbundenen Begründung der „Vollsunterhaltunggaberde für 
Frauen und Mädchen” 1891, ein Unternehmen, das zuerjt als jozialiftiicher Tendenzen 
verdächtig einen wahren Aufruhr erregte, aber bald, von allen Seiten unterflügt und 
gefördert, fich jo kräftig entwidelte, wie es derartigen Beranftaltungen nicht feicht 
bejchieden ift. Als dann VBolfZunterhaltungsabende in größerem Maßftabe für Maänner 
und Frauen organifiert wurden, erjchien es jelbjtverftändlich, daß die beteiligten Männer 
die Frauen zur Arbeit im Vorſtande beranzogen. 

Seit fünf Jahren arbeitet neben dem Lehrerinnenverein die gleichfall3 von Frau 
Hecht gegründete Ortsgruppe des Allgemeinen deutichen Frauenvereind, Ihr ſchönſter 
Erfolg ift die Anftellung von Frauen in der ftädtiichen Wailenpflege, um die im 
vorigen Winter die Ortögruppe, unterftüßt von jämtlichen Frauenvereinen Tilfit3 
und don dem Königlichen Amtsgericht, beim Magiſtrat einfam. Das Amtsgericht 
motivierte feine Unterftügung mit der außdrüdlichen Verficherung, daß e3 die Anftelung 
von Frauen in der ftädtiichen Waifenpflege für die Stadt Tilfit für fehr wünjchenswert 
halte. Siebenzig Frauen batten fich für dag neuerfchloffene Amt zur Verfügung geftellt, 
28 wurden in den 14 Bezirken der Stadt angeftellt, nachdem der Beichluß in Magiftrat 
und Stadtverorbnetenverfammlung einjtimmig angenommen war. 

Die jeltene Einmütigfeit, mit der die Forderungen der Ortsgruppe von Publikum 
und Behörden aufgenommen wurden, ift der beite Beweis dafür, daß das Recht, fie 
zu ftellen, durch Leiftungen erworben war, ein Weg, der viel Gebuld und Aufopferung 
erfordert, den die Frauenbewegung aber nicht aufgeben darf, ohne ihre Grundlagen zu 
gefährden. Dieſe Einmütigfeit ift aber zugleich auch ein Beweis des Vertrauen, Das 
Frau Hecht in ihrer Vaterftadt genießt, in der fie ſchon als die Tochter des in allen 
Kreifen geliebten und geachteten Superintendenten Behr ein ganz bejonders feft 
gegründetes Bürgerrecht befigt. 

Aber von der Wärme und Freudigfeit, die Marie Hecht in die Arbeit in ihrer 
Baterjtadt zu legen wußte, hat auch das weitere Vaterland einen Hauch gejpürt. Sie 
gehörte zu den 85, die in den Pfingittagen des Jahres 1890 in Friedrichroda ben 
Grundftein des Allgemeinen deutſchen LZebrerinnenvereind legten, fie gehörte zu den 
beliebteften Rednerinnen auf jeinen Verfammlungen wie auf denen bes Allgemeinen 
deutjchen Frauenvereind, deſſen Vorftand fie angehört, fie verfolgte mit reger perjön- 
licher Anteilnahme die Entwidlung des Bundes deutfcher Frauenvereine. Mit feltener 
Elaftizität Hat fie e8 verftanden, für ihren entlegenen Grenzpoften Fühlung zu halten 
mit allem, was auf dem Gebiet der Frauenbewegung an ernfter Arbeit geſchah; überallhin 
brachte fie die Überzeugung, daß da oben „bei den Eisbären“ übliche Wärme mit 
oftpreußifcher Bebarrlichkeit und Treue fich paart. 
>= 














623 


Die Hranenfrage anf dem Kongreß deutſcher 
Htrafanſtaltsbeamter. 


Alire Salvmon. 


Raqhdrua verboten. — 


ie deutſchen Kongreſſe und Verſammlungen ftehen augenblicklich anſcheinend 

unter dem — der Frauenbewegung. Was vor einem Jahrzehnt noch 

allgemeines Aufiehen erregt hätte, beginnt allmählich zu einer gewohnten Er: 
fheinung zu werden. Die Männer der verichiedenften Berufskreife beichäftigen ſich 
auf ihren Kongrefien und Generalverfammlungen mit der Frauenarbeit; mit der Frage 
der Zulaffung der Frauen zu dem betreffenden Beruf oder ihrer Ausfchließung davon. 
Den Ärzten, Apothekern, Armenpflegern find nun auch die Strafanftaltsbeamten 
darin gefolgt.) War bei den erften derartigen Verhandlungen vorwiegend bie Furcht 
vor ber Konkurrenz der Frauen maßgebend, fam nur Tangfam der Gefichtäpunft zur 
Geltung, daß die Interefien der Frauen von ihren Gefchlechtögenoffinnen wahrgenommen 
werben follten, fo bricht fi num endlich aud in Männerkreifen der Gedanfe Bahn, 
daß dem Bedürfnis der Frauen nad vermehrten Erwerbsmöglichkeiten Rechnung 
getragen werden müffe. 

In dankenswerter Weife wurde auch diefer Standpunkt auf dem Strafanftalts- 
kongreß von dem Referenten über „bie Frauenfrage“ zum Ausdrud gebracht. Vielleicht 
ift er damit einen Schritt weiter gegangen als ein meiblicher Referent an feiner Stelle 
gegangen mwäre, denn auf allen Gebieten fozialer Hilfsarbeit haben die Anhängerinnen 
der Frauenbewegung flet3 nur bie Intereſſen der Hilfsbebürftigen als Maßſiab für 
ihre Forderungen gelten laſſen. Auch die Vorfämpferinnen für die Zulaflung von 
Frauen zur Gefangenenpflege find von dem Gedanken ausgegangen, daß die Fürjorges 
thätigfeit und die Beauffichtigung der weiblichen Gefangenen die Mitarbeit der Frauen 
erfordere; fie find_fich flet3 bewußt geweſen, daß die Gefangenenpflege im Intereſſe 
der Gefangenen gefchaffen worden ift, nicht im Intereſſe derer, denen aus ber Pflege: 
thätigleit ein fegensreicher Beruf erwachſen könnte. 

Die Frage, in wie meit den Gefängniffen und den Gefangenen durch bie 
Bejegung von Beamtenftellen mit Frauen gedient fei, ftand denn auch im Mittelpunkt 
der Kongreßerörterungen. Sie führte zu lebhaften Außeinanderfegungen über bie 
Befähigung der Frauen für höhere, verantiwortungsvolle Poften, die einen für bie 
Frauen immerhin günftigen Abſchluß nahmen und in denen eine im allgemeinen ver 
ſiandnisvolle Würdigung der Frauenbewegung zum Ausdrud fam. Dielen Umftand 
werben bie Frauenvereine bei ihren Beftrebungen um Zulaffung zum Gefängnisdienft 
ober auch zur Gefängnigmiffion zu nügen haben! 

Auf der Tagesordnung bed Kongreſſes fland u. a. dad Thema: „Wäre es 
zwedmäßig, in Anftalten für weibliche Gefangene, abgefehen vom Arzte und dem 
Geiftlichen, ausfchließlich weibliche Beamte anzuftellen und einem männlichen höheren 
Gefängnisbeamten nur eine Art Oberaufficht in denfelben zu übertragen?” Der 
Referent, Strafanftaltsdireltor Fliegenſchmidt-Wehlheiden (Kaſſel), führte dazu aus, 
daß die moderne Frauenbewegung, deren Berechtigung nicht zu beftreiten fei, den 
mittelbaren Anftoß zur Erörterung diefer Frage gegeben habe. Die volle Würdigung, 
die er der Frauenthätigkeit in der Gefangenenpflege entgegenbringt, geht aus feinem 
Bericht hervor, der in einem kurzen Auszug zur Kenntnis weiterer Frauenkreiſe gebracht 
werben fol.) Herr Fliegenfchmidt erfennt an, daß die Beihäftigung mit der Lage 

') Kongreß deutfcher Strafanftaltbeamter in Nürnberg, 31. Mai und 1. Juni 1901. 

?) Der Bericht über diefe Ausführungen ift dem Fräntiſchen Kurier entnommen. 


Die Frauenfrage auf dem Kongreß deutſcher Strafanftaltsbeanter. 625 


Als Erfolg der Srauentpätigteit und der Frauenbewegung kann wohl aber die 
Oppofition des Direftord der Hamburger Gefängnisanftalten, Hauptinann Dr. Gennat, 
angefehen werden, dem bie Refolution zu eng gehalten fchien. Er verlangt die un⸗ 
bedingte Anftellung von Frauen für die Stellen des polizeilichen Unter: 
perfonals, der Auffeherinnen, Oberauffeherinnen, Hausmäütter, fowie 
thunlichſte Befegung aller andern Stellen, foweit befondere Vorbildung 
erforderlich ober vorgefchrieben, mit Frauen, die diefen Nachweis führen 
tönnen. Auf Grund langjähriger Thätigkeit an einer mit 450 Frauen bejegten 
Anftalt tritt er für möglichft weitgehende greigabe des Strafanſtaltsweſens für die 
Frauen ein, auch in Bezug auf die Direftoratsftellen, „die Frauen mindeftend 
ebenfogut ausfüllen würden wie Männer”. Er fehe keinen Grund, ber Frau der⸗ 
artige Stellen vorzuenthalten, „nachdem alle Behauptungen von ber geift en Inferiorität 
der Frau bisher unbewiefen geblieben, die Frau fich vielmehr in allen ihr freigegebenen 
Berufen bewährt habe’. — „Die Leitung müffe der Frau in vollftem Umfange zuftehen, 
alfo ohne daß etwa noch ein männlicher Direktor feine fegnende Hand darüber halte.“ 

Herr Direftor Gennat ſcheint mit feinen Forderungen aber denn doch den fort: 
fchrittlichen Sinn der Strafanftaltsbeamten überfchägt zu haben. Sein Vorſchlag 
wurde zurüdgemwieen. Man darf ſich wohl fragen, wie e8 aufgenommen worden fein 
würde, wenn eine Frau den Antrag des Diretor Gennat in der Verfammlung geftelt 
hätte. Ob man nicht „ohne Debatte” über ihren Antrag zur Tagesordnung über: 
gegangen wäre! Der Mann, ber Kollege, erregte, wenn auch beftigen, h doch 
wenigſtens nur fachlichen Widerſpruch, der allerdings zum Teil als unhaltbar zurück⸗ 
gewieſen werben fonnte. Einer der Kongreßteilnegmer erklärte, daß es feinem Gefühl 
als Geiſtlichen und Angeftellten mwiderfireben würde, eine Frau als Oberin über ſich 
zu haben; andere halten die Frau nicht für geeignet zur Belegung des Direktorpoſtens, 
weil ihr die nötige phyſiſche Kraft fehlen dürfte. Nach längerer Debatte wurde 
ſchließlich die Refolution des Referenten, die aljeitige Zuftimmung fand, vom Kongreß 
angenommen, und mehr konnten die Frauen fchließlich nicht erwarten. Immerhin 
haben dieſe Verhandlungen über die Frauenarbeit im Gefängniswefen — an denen 
feine Frau teilnahm und für die Intereffen ihrer Geſchlechtsgenoſſinnen eintreten 
tonnte — auf dem Grundfag gefußt, daß die Bedürfniffe der _gefangenen Frau am 
beften von der Frau beurteilt werden fönnen, daß zur Beauffichtigung, Pflege und 
Beſſerung der weiblichen Strafgefangenen in weit größerem Umfange bie Hilfe der 
Frau herangezogen werden müffe. " * 

* 

Wenn die Frauen nun auch einerfeit8 gern und dankbar fold Eintreten für ihre 
Sache anerfennen werden, fo dürfen fie doch anderſeits nicht Köweigen, wenn aus 
Unkenntnis oder Übelwollen ihre Arbeit in falfchem Lichte datgeftellt oder ohne weitere 
Begründung abfälig Fritifiert wird. Leider it auch auf dem Strafanſtaltskongreß 
eine Außerung gegen die Anhängerinnen der Frauenbewegung gefallen, die um fo 
weniger unmiberjprochen bleiben darf, als fie von einem Manne gethan wurde, der 
verſchiedentlich Gelegenheit gehabt hat, mit Vertreterinnen ber Bewegung gemeinfam 
und aud — fo viel befannt geworden ift — erfolgreich zu arbeiten. Nach ben 
übereinftimmenden Berichten verfchiedener Zeitungen (3. B. des Berliner Tageblatts 
und des Fränfifchen Kurier) trat Geh. Ober:Reg.:Nat Krohne: Berlin für eine 
umfaffende Heranziehung der gebildeten Frauen zur Strafoollzugspflege ein. „Unter 
‚gebildeten Frauen‘ verftehe er natürlich jene Frauen, die wiriſchaftlich, praftiih und 
ſozial vorgebilbet feien und bie dabei alle jene Sergenätugenben befäßen, die für den 
Umgang mit den Unglüdlichen unbedingt nötig feien. Dagegen möge Gott das 
Strafanftaltöwefen vor dem Zuzug jener Frauen bewahren, bie in der 
fogenannten ‚Frauenbewegung‘ ftänden.” Können denn Anhängerinnen der 
Frauenbewegung nicht wirtſchaftlich, praktiih und fozial vorgebilvet fein, ober ift 
ein Mangel an Herzendtugenden eine Begleitericheinung ber Frauenbewegung? Sollte 
es Herrn Gebeimrat Krone nicht befannt fein, daß die erfte Erlaubnis, die ber 
preußifche Juftigminifter Frauen zur Ausübung der Gefängnismiffton gab (einer Aufgabe, 

40 


626 Thackeray über Liebe, Heirat, Männer und Frauen. 


die fih an Schwierigkeit ficherlich mit den Aufgaben des Gefängnisbeamten meñen 
fann), der Kommiſſion des Berliner Syrauenvereind galt, eines Wereind, Der 
durhaus „in der fogenannten Frauenbewegung fteht”, und daß dieſe Thätigkeit in 
Preußen fait augjchließlich von Frauenvereinen ausgeübt wird, die der Frauenbewegung 
angehören, ihr dienen, und durch fie für dieje ſchwierige Arbeit gewonnen und begeiitert 
worden find? 

Herr Geheimrat Krohne erkennt zwar an, daß man in preußiichen Anftalten dir 
beiten Erfahrungen mit den angeftellten rauen gemacht bat; follte ex ſich vergemiliert 
baben, daß von diefen rauen feine der Frauenbewegung nahe fteht, durch fie auf 
den Beruf hingewieſen, durch freie Vereinsthätigkeit ihm zugeführt worden ift? 

Die Anhängerinnen der Frauenbewegung verkennen gewiß nicht die großen 
Berdienfte, die die innere Milfion und der Evangelifche Diafonieverein fich Durch Die 
Einrichtung von Ausbildungsfurfen für Gefängnisbeamtinnen erworben baben; aber 
diefen Kurjen wird doc manche Anhängerin der Frauenbewegung zugeführt, Deren 
„loziales Empfinden” durch die Beitrebungen gewedt worden ift, die jeder Att 
von Frauennot, der mwirtichaftlichen, geiftigen und fittlichen, Hilfe bringen follen. Darum: 
muß die oben angeführte Bemerkung zurüdgewiejen werden. — 

Die Frauenbewegung fordert das Recht auf mühjelige, verantwortungsvolle 
Thatigkeit, das Recht auf Hilfgarbeit an den Hilfsbebürftigften. Was ihr davon Die 
Gegenwart noch vorenthält, wird ihr die Zukunft gewähren. 


——M 


Fhacheray Aber Liebe, Beirat, Männer und Frauen. 


Überfegt von 
X. M. Schuliheis. 


UM LTIENDTILITENG 


Nachdruck verboten. 


Mr. Brown an feinen Neffen Bob. 


I Ilſo Bob iſt verliebt und erfährt an ſich das allgemeine Los. In dieſem 
Moment, mein lieber Junge, erduldeſt du die Leiden und Freuden, die Eifer- 
Or jucht und Schlaflofigkeit, das Sehnen und Entzüden, die rajende Verzweiflung 
und jauchzende Extaſe, welche die Leidenjchaft der Liebe begleiten. Im Jahre 1812 
(da3 war vor meiner Verbindung mit deiner guten, jeligen Tante, die mir nie 
die oben angeführten Beunruhigungen verurfachte) Eoftete ich ſelbſt einige diefer Freuden 
und Schmerzen, die du nun erduldeftl. Ich kann mit dir fühlen, und dich bemitleiden. 
Sch bin jeßt ein alter Hahn, mit wankendem Schritt und zitterndem Krähen. Aber 
einft war ich jung und erinnere mich deutlich jener Zeit. Seitdem — amavı 
amantes — wenn ich zwei junge Menjchen glücdlich fehe, freut e8 mich, wie es 
mich freut, glücdliche Kinder beim Feenfpiel zu feben. Ich war der Bertraute 
vieler braven Jungen und der heimliche Zufchauer bei hundert kleinen Intriguen. 
Miß Y., ich weiß, warum Sie fo eifrig auf Bälle gehen, und auch, Me. Z., 
was Sie in Ihrem reifen Alter zum Tanzen bringt. Bilden Sie fich ein, Dir. Alpha, 
ich glaube, Sie gingen jeden Tag um 1/12 umfonft an die Serpentine, und daß id 
D’Mega nicht fehe, wie er in Notten Nom fpaziert? — Alſo, mein lieber Bob, did 
bat ein Schuß getroffen. Wenn du den Gegenftand deiner MWünfche nicht erlangit, 
jo wird der Verluft dich nicht töten; das Fannft du mit großer Sicherheit annehmen. 
Wenn du ihn erlangft, fo ift es möglich, daß du enttäufcht fein wirft. Diefer Punkt 
tommt auch in Betracht. Aber, ob du triffft oder fehlft, ob du Glüd Haft oder nicht 
— es thäte mir leid, mein guter Bob, wenn du diefe Krankheit nicht durchmachen 
folteft. Jeder Mann folte fich einigemal in feinem Leben verlieben. Man trägt 






Thaderan über Liebe, Heirat, Männer und Frauen. 627 


einen Gewinn davon, wenn e8 worüber ift, einen Gewinn im Unglüd, wenn du es 
mit männlichen Mut erträgft, einen um ſehr viel größeren Gewinn im Glüd, wenn du 
einen Treffer heimbringſt und ein gutes Weib obendrein! Ach, Bob — es jteht ein 
Stein im Friedhof zu Fundal, beffen ih oft gedenke — viel Hoffnung und Leiden: 
Ichaft liegt darunter begraben mit dem Liebften und Holdejten Geſchöpf in der Welt — 
's iſt nicht Mrd. Brown, die da liegt. Sie fchläft, nady ruheloſem Liebesfieber, im 
Marylebone- Totenader, die gute Seele! Emily Blenkinſop könnte Mid. Brown 
geworden fein, aber — doc ſprechen wir von etwas anderem. 

Du wirft natürlich einen guten Rat betreff8 deiner Angebeteten annehmen, mein 
lieber Bob. Das thut jedermann. Wir mwiffen, daß Liebende viel auf die Anfichten 
ihrer Bekannten geben und nie ihrem eigenen Kopf folgen. Nun, jo erzähle ung 
doch etwas von deinem Mädchen. Was für Eigenjchaften, Beſitz, Lebenzftellung hat 
fie? Sch fange feine Diskuffion über Schönheit an. Ein Mann fieht Schönheit oder 
Reiz auf feine befondere Weile. Sch will damit nicht jagen, daß häßliche Frauen fo 
raſch Männer befommen ala hübſche — aber jo viel fchöne Mädchen find nicht ver: 
heiratet, und jo ſehr viele Häßliche find es, daß es unmöglich ift, eine Regel 
aufzuſtellen. Die arme gute Mrs. Brown war eine viel ftattlichere Frau als Emily 
Blenkinſop, und doch liebte ich Emilys Kleinen Finger mehr als die ganze Hand, die 
beine Tante Martha mir gab — ich ſehe, wie die häßlichften Frauen einen großen 
Zauber über Männer ausüben — kurz, ein Mann verliebt fich in eine Frau, weil es 
jein Schidjal ift, weil fie ein Weib if. Auch Bob ift ein Mann und mit Herz und 
Bart ausgeſtattet. 

Sit fie eine geicheite Frau? Sch will dir nicht zu nahe treten, mein guter 
Junge, aber das Pulver baft du ja nicht erfunden, und ich müchte dich ganz gern 
einer Eugen Frau zufallen ſehen. Zu allen Zeiten bat man die Elugen Frauen 
ignoriert und ijoliert. Nimm 3. B. Shakeſpeares Heldinnen — fie fcheinen mir alle 
jo ziemlich diefelben — liebevoll, mütterlich, zärtlich u. j. w. Oder die Frauen Scott? 
und anderer Schriftfteller — jeder jcheint dasſelbe Modell zu zeichnen — wir verlangen 
meiſtens eine idealvollkommene Sklavin — ein demütiges, lächelndes, Tinderliebendes, 
theemachendes, klavierſpielendes Weſen, die über unſere Wie lacht, auch menn fie 
noch ſo alt find, die uns in unjern Launen fchmeichelt und um den Bart geht und 
und durchs ganze Leben liebevoll anlügt. Sch konnte deine arme Tante niemals 
zu diefem Syſtem bewegen, obgleich ‘ich geitehen muß, daß ich ein glüdlicherer Mann 
gemejen wäre, wenn fie es verjucht hätte. 

Es giebt viel mehr kluge Frauen in der Welt al? die Männer annehmen. 
Gewöhnlich verachten wir fie, wir bilden uns ein, fie denken nicht, weil fie ung nicht 
widerjprechen, und feien ſchwach, weil fie nicht kämpfen und fich gegen uns erheben. 
Ein Mann fängt erft an, die Frauen fennen zu lernen, wenn er alt wird; und id) 
muß fagen, meine Meinung von ihrer Weisheit fteigt täglich. 

Wenn ich fage, ich kenne die Frauen, jo will ich damit fonftatieren, daß ich 
weiß, ich kenne fie nicht. Jede Frau, die ich je Fannte, ift mir ein Nätfel und ohne 
Zweifel auch fich ſelbſt eines. Sie feien nicht Hug, jagt ihr? Ihre Heuchelei ift mir 
ein ewiges Wunder und eine beftändige Übung in ber beften Art von Klugheit. Da 
fiebft du 3. B. eine beicheiden ausjehende Frau, vollflommen in ihren Pflichten, 
beharrlih in Hemdenknöpfen, ihrem Herrn gehorfam und bemüht, ihm in allem zu 
gefallen; fill, wenn du und er Politik oder Litteratur oder Quatſch dizfutiert, und 
zieht ihr fie in die Unterhaltung, jo fagt fie mit einem Lächeln volllommener Demut: 
„Ab, Frauen baben fein Urteil über folche Sachen, wir überlaffen den Männern 
Gelehrjamkeit und Politik.“ „Jawohl, arme Heine Poly”, jagt Jones und Flopft 
Frau Jones gutmütig auf den Rüden, „fieh du nach dem Haushalt, mein Herz; dag 
ift deine Sphäre, und das übrige überlaffe ung.” Vernagelter Schwachlopf! Sie 
hat dich ſchon längſt durchſchaut, mitfamt deinen Freunden, fie kennt eure Schwächen 
und unterftügt euch darin auf bunderterlei liftige Art und Weile. Sie kennt euren 
Eigenfinn und umgeht ihn mit außerorbentlicher Kunft und Geduld, wie eine Ameije 
auf ihren Wegen ein Hindernis umgeht. Jede Frau lenkt (manages) ihren Dann; 

40 * 








628 Thaderay über Liebe, Heirat, Männer und Frauen. 


jeder Mann, der einen andern fo Ienkt, ift ein Heuchler. Ihr Lächeln, ibre Nat- 
giebigfeit, ihre gute Laune, die wir an ihr fo fchägen, was find fie alles ai 
bewundernsmwürbige Falſchheit? Wir eriwarten Achfelträgerei von ihr und erzieben re 
zur Unaufrichtigfeit. „Should he upbraid, Tl own that he prevail; say that ht 
frown, Ill answer with a smile“; — was find das anders ala Lügen, Die wir von 
unfern Sklaven verlangen? — Lügen, deren gejchidte Ausführung wir als tmeiblik: 
Tugenden verfündigen, rohe Türken, die wir find! Sch behaupte nicht, daß Die ſelig 
Frau Bromn mir je gehorcht babe — im Gegenteil: doch würde e8 mich geiren:! 
haben, denn ich bin ein Türke wie mein Nachbar. 

Da iſt zum Beijpiel deine Mutter. Wenn mein Bruder zum Eſſen Fommt nad 
einer erfolglofen Jagd oder nachdem er ſich die Rechnungen feiner Herren Söhne an: 
gejehen bat, fängt er natürlich damit an, fich gegen eure arme Mutter mürrijch zu 
zeigen und über das Hammelfleifch zu brummen. Was thut fie nun? Sie mag hd 
verlegt fühlen, aber fie zeigt es nicht. Sie fängt an zu fchmeicheln, zu lächeln, da: 
Gefpräh zu wenden, den Bären zu ftreicheln, und ihn in gute Laune zu verſetzen. 
Sie bringt ihn auf feine alten Anekdoten und fie und all die Mädel — arnıe kleine 
Sapphiras — lachen fih halb tot. 3. B. die Gefchichte von der Gans, Die in die 
Kirche geht, die dein Vater erzählt und die deine Mutter und Schweltern jo amüſiert, 
bis ich mich zulegt jo jchäme, daß ich kaum weiß, wohin ich bliden fl. Und Io 
erzählt er die Gejchichte einmal überd andere Mal, und deine gute Mutter figt dabei 
und weiß, daß ich weiß, daß fie ein Humbug ift, und lacht weiter, und lehrt die 
jämtlichen Mädel® auch lachen. Wäre fie dazu geboren geweien, einen Nafenring 
und Beinringe zu tragen, anftatt eine® Muffes und Kapothutes, und hätte fie eine 
dunkle Haut anftatt der weißen, mit der die Natur fie ausgeftattet, jo würde fie ſich 
nad dem Tode deine? braunen Brabminenvaters lebendig verbrannt haben; ja, fıe 
würde die Frauen irreligids genannt haben, bie fich gemweigert hätten, fih für ibre 
Herren und Meiſter braten zu laſſen. ch will damit nicht jagen, daß die felige Mrs. 
Brown fih für mich bätte verbrennen laſſen — weit gefehlt: durch einen zeitigen 
Abzug wurde ihr der Gram erfpart, den ihre Witwenfchaft ihr zweifelsohne verurfacht 
haben würde — und was mich betrifft, jo füge ich mich in biefen Schickſalsſchluß 
und babe nicht den geringften Wunſch, ihr vorausgegangen zu fein. 

Sch hoffe, die Damen werben mir meine Bemerkungen nicht übel nehmen. Auch 
wenn ich dafür fterben jollte, muß ich doch befennien, daß man ihnen meiner Meinung 
nach nicht genügenden Spielraum läßt. In dem Handel, den wir mit ihnen eingeben, 
ziehen fie den fürzeren. Und da ein Arbeiter bekanntlich mehr zu Wege bringt bei 
Stüdarbeit als im Tagelohn und ein freier Mann mehr arbeitet als ein Sklave, ſo 
bezweifle ich, ob wir den größten Gewinn erzielen, indem wir unjere Frauen zur 
Sklaverei unter Gejeg und Sitte verdbammen. Es giebt Leute, die den Horizont Der 
Frauenpflichten auf menig mehr als die Küche bejchränfen würden, andere, die fte 
gern zu unferm Ergögen im Ballfaal fehen, wo fie ihre runden Schultern und 
weichen Locken zur Schau ftellen mögen — wie man ja auch ein Pferd für die Mühle 
und ein andres für den Park bat. Aber in welcher Geftalt wir fie auch vorziehen, 
wir müflen.doch zugeben, daß die Frauen für uns erzogen werden, für ung arbeiten, 
für und glänzen, für uns tanzen und was nicht alles. Bor fünfzig Jahren würde 
e3 feinem Mann zur Schande gereicht haben, wenn er feinen Pudding oder Auflauf 
machen konnte, aber man würde unjern Müttern Unwifjenbeit in diefen Sachen zum 
Borwurf gemacht haben. Warum follten ich und du uns jett nicht fchämen, weil wir 
nicht unfre eigenen Stiefel machen, oder unſre Hoſen zufchneiden können? Weil 
wir etwas Beſſeres thun fönnen: wir nehmen Schufter und Schneider dafür — und 
doch waren wir e8, die den Frauen Gejege gaben, den Frauen, von denen wir zu 
jagen pflegen, daß fie nicht jo viel Verftand haben wie wir. 

Mein lieber Neffe, jegt, wo ich alt werde und diefe Dinge überlege, weiß id, 
welche die ftärkeren find, die Männer oder die Frauen, aber welche die Flügeren find, 
das zögere ich auszuſprechen. 

— — —— 








Milchwirtſchaftliches Lehr- Fnftitut. 
Bon Hildegard Jacobi 
Raqhdrua verboten. 
Dur den zunehmenden Mangel an Arbeits: 
kräften in landwirtſchaftlichen Betrieben, fei es im 
Arbeiter: ober Beamtenftande, ift das Bebilrfnis, 
tüchtig geſchulte weibliche Kräfte einzuftellen, um 
fo lebhafter geworben. Und fomit bietet fih in 
dem landwirtſchaftlichen Berufe ein lohnender 
Erwerbszweig für das weibliche Geſchlecht und 
werben bie Stellungen als Milchwirtin ober 
Meierin, den Leiftungen entfprechend, gut bezahlt. 
Daß auch Frauen fich die erforderliche Schulung 
und bie notwendigen theoretiſchen und praftiichen 
Kenntniffe aneignen fünnen, dafür forgen eine An- 
zahl von Moltereien. 
Faft jede Provinz hat eine Moltereifchule. 
Das milchwirtſchaftliche Inftitut in Prosfau, 
Bahnftation Oppeln in Schlefien, unter der Direktion 
des Dir. Klein erfreut ſich durch feine vorzüglichen 
Lehrkräfte, gewiſſenhafte Lehrmethobe, durch das 
vortrefflih für ale Milchprüfungsmethoben ein: 
gerichtete Laboratorium und feine wertvollen Modell: 
fammlungen bed beften Rufes, weil bie bort er: 
worbene Ausbilbung eine äußerft vielfeitige ift. 
Das Inſtitut fteht unter dem Kuratorium 
de Prinzen Schönaich-Carolath, des befannten 
Vertreter® der Frauenbeftrebungen im Reichätag. 
In der Schranftalt werden alljährlich 3 Lehrkurfe 
abgehalten, einer für die Ausbildung männlicher, 
2 für die weiblicher Schüler, von je dreimonatlicher 
Dauer. Damit für jeden Einzelnen ein möglichft 
gründficher Unterricht gewährleiftet fei, werben nur 
6 Teilnehmer zugelaffen, alfo müflen die An- 
mefdungen ſchon lange Zeit vor Beginn bes Kurſus 
erfolgen; für den erften Meierinnenturfus vom 
1. März, für den ziveiten vom 1. September an. 
Der Kurfus koſtet 20 Mark. Wohnung, Koft und 
Verpflegung wird vom Inſtitute auch gegen 
Veſahlung nicht getwährt, doch finden Schülerinnen 
für den mäßigen Preis von 1,50 Mark pro Tag 
Verfion im Haufe des Tireftord. Der Unterricht 
zerfällt in einen theoretifchen und einen praftifchen 





629 


Teil. Der Direktor und feine Affiftenten über- 
nehmen bie Vorträge, unterftügt burch eine äußerft 
reichhaltige Fachbibliothet und bie umfangreiche 
Modellſammlung. 

Lehrgegenftände des theoretiſchen Unterrichtes 
find: 

1. Weſen und Eigenſchaften der Milch. 

2. Entrahmungsmethoden, die Behandlung 
des Rahms, das Milchbuttern. 

8. Das Buttern, die Bearbeitung ber Butter, 
das Aufbewahren und Berpaden berjelben. 

4. Berkäfen der Milch, Fett: und Magerläfe, 
Deich: und Hartläfe, Sauermilchläfe und Butter: 
milchtaſe. 

5. Verwertung der Magermilch, Buttermilch 
und Molken durch Verfütterung, durch Gewinnung 
don Moltkenbutter. 

6. Prüfung der Milch nach den verſchiedenen 
Methoden. 

7. Meiereibuchführung. 

8. Verwertung ber Milch nad) den verſchiedenen 
Verfahren und der Meiereibetriebölchre. 

9. Das Wichtigfte über Aufzucht, Haltung 
und Fütterung des Rindviehs. 

Der praftifpe Unterricht erftredt fih auf 
folgende Gegenftände: 

. Erlernen des Meltenz. 

Derarbeitung der Milch auf Butter. 
Darftellung der Räfearten. 

Handhabung ber Milhprüfungsapparate. 
Tabellenführung. 


are» 


Bei den praltifhen Arbeiten in ber Lehr: 
molferei müffen die Schülerinnen alle Handgriffe 
fo ange felbft ausführen, bis fie fih eine hin⸗ 
reichende Fertigteit angeeignet haben, aud bie 
Moltereitabellen müſſen fie zu führen gelernt haben. 

Altoöchentlih finden regelmäßige Unter: 
ſuchungen der verſchiedentlich eingelieferten Mil: 
arten ftatt. Auch werden u. a. dort wertvolle 
Schweinefütterungäverfuche betrieben; bie babei 
gemachten wichtigen Erfahrungen fommen gleichfalls 
den Befuchern der Lehrkurfe zu ftatten. 


Milchwirtſchaftliches Lehr- Infitnt. 
Bon Hildegard Jacobi 
Raddrud verboten. 
Durch den zunehmenden Mangel an Arbeits: 
träften in landwirtſchaftlichen Betrieben, fei es im 
Arbeiter: oder Beamtenftande, ift das Bedürfnis, 
tüchtig geſchulte weibliche Kräfte einzuftellen, um 
fo Iebhafter geworben. Und fomit bietet fih in 
dem iandwiriſchaftlichen Berufe ein lohnender 
Erwerbszweig für das weibliche Geſchlecht und 
werben bie Stellungen als Milchwirtin ober 
Meierin, den Leiftungen entſprechend, gut bezahlt. 
Daß auch Frauen ſich die erforberlihe Schulung 
unb bie notwendigen theoretiſchen und praktiſchen 
Kenntniffe aneignen können, dafür forgen eine An- 
zahl von Mollereien. 
Faſt jede Provinz hat eine Mollkereiſchule. 
Das milchwirtſchaftliche Inftitut in Prostau, 
Bahnftation Oppeln in Schlefien, unter der Direktion 
des Dir. Rlein erfreut ſich durch feine vorzüglichen 
Lehrkräfte, gewiſſenhafte Lehrmethobe, durch das 
vortrefflich für alle Milhprüfungsmethoden ein: 
gerichtete Laboratorium und feine wertvollen Mobell- 
fammlungen be3 beften Rufes, weil bie bort er- 
toorbene Ausbildung eine äuferft vielfeitige ift. 
Das Inſtitut fteht unter dem Auratorium 
des Prinzen Schönaid:Carolath, des bekannten 
Vertreters ber Frauenbeftrebungen im Reichätag. 
In der Lehranftalt werben alljährlich 3 Lehrkurſe 
abgehalten, einer für die Ausbildung männlicher, 
2 für die weiblicher Schüler, von je dreimonatlicher 
Dauer. Damit für jeden Einzelnen ein möglichft 
gründficher Unterricht gewährleiſtet fei, werden nur 
6 Teilnehmer zugelaſſen, alfo müfjen bie An: 
mefdungen ſchon fange Zeit vor Beginn des Kurfus 
erfolgen; für den erftien Meierinnenkurſus vom 
1. März, für den zweiten vom 1. Septenber an. 
Der Kurjus koftet 20 Mark. Wohnung, Koft und 
Verpflegung wird vom nftitute auch gegen 
Bezahlung nicht gewährt, doch finden Schülerinnen 
für den mäßigen Preis von 3,50 Mark pro Tag 
Venfion im Haufe des Direltors. Der Unterricht 








629 


Zeil. Der Direltor und feine Affiftenten über: 
nehmen bie Vorträge, unterftügt durd eine äußerft 
reichhaltige Fachbibliothet und bie umfangreiche 
Modellſammlung. 

Lehrgegenſtände des theoretiſchen Unterrichtes 
find: 
1. Weſen und Eigenfhaften der Milch. 

2. Entrahmungsmethoden, bie Behandlung 
des Rahms, bad Milhbuttern. 

8. Das Buttern, die Bearbeitung ber Butter, 
dad Aufbewahren und Berpaden berjelben. 

4. Berfäfen der Milch, Fett: und Magerfäfe, 
Deich: und Hartkäfe, Sauermilchtaſe und Butter: 
milchtäfe. 

5. Verwertung ber Magermild, Buttermilch 
und Mollen durch Berfütterung, durch Gewinnung 
von Moltenbutter. 

6. Prüfung ber Milch nach ben verſchiedenen 
Methoden. 

7. Meiereibuchführung. 

8. Verwertung ber Milch nach ben verſchiedenen 
Verfahren und der Meiereibetriebölchre. 

9. Das Wichtigfte über Aufzucht, Haltung 
und Fütterung des Rindviehs. 

Der praltiſche Unterricht erftredt ſich auf 
folgende Gegenftände: 

1. Erlernen ded Welten. 

2. Berarbeitung der Milch auf Butter. 

3. Darftellung der Käfearten. 

4. Handhabung der Milchprüfungsapparate. 

5. Tabellenführung. 


Bei den praftifchen Arbeiten in ber Lehr: 
mofterei müffen die Schüferinnen alle Hanbgriffe 
fo lange felbft ausführen, bis fie fih eine hin⸗ 
reichende Fertigkeit angeeignet haben, aud bie 
Woltereitabellen mäffen fie zu führen gelernt haben. 

Allwochentlich finden regelmäßige Unter: 
ſuchungen der verſchiedentlich eingelieferten Milch: 
arten ftatt. Auch werden u. a. dort wertvolie 
Schmweinefütterungsverfuche betrieben, die dabei 
gemachten wichtigen Erfahrungen kommen gleichfalls 


zerfällt in einen theoretiſchen und einen praktiſchen ben Befuchern der Lehrkurfe zu ftatten. 


632 


Anmeldungen zur Teilnahme find zu richten 
an die 1. Borfigende Fräulein E. Altmann, Soeft, 
Jakobyſtr. 3; auch find von dort die Programme 
zu bezieben. 

Das Honorar beträgt für Mitglieder des Der: 
eind und der Ortsgruppen 5 Mark, für andere 
Teilnehmerinnen 10 Mar. 

Etwaige Anmeldungen werben vecht bald 
erbeten. 


Der „Kölner Berein für weibliche Angeſtellte“ 


befindet fih, wie ber ſoeben erjchienene britte 
Sahresbericht für das Jahr 1900 ermeift, in be: 
ſonders erfreulicher Entwidlung. Nicht nur die 
direkten Mitglieder, jondern auch die Kreiſe, bie 
weibliche Angeftellte beichäftigen, erfennen immer 
mehr bie ſegensreiche Wirkfamteit des Vereind an. 
Die von dem Berein angeftrebte beſſere foziale 
Stellung feiner Mitglieder wird hauptſächlich durch 
die Aneignung einer möglichft gründlichen Berufs: 
bildung jowie durch das Zuſammenwirken und den 
Zufammenfchluß aller direkt Beteiligten zur Hebung 
der Standeschre zu erreichen gefudt. Das Heim 
des Bereind ift mit 42 Penfionärinnen vollftändig 
und anhaltend beſetzt geweſen; dad Bebürfnis zu einer 
Ermeiterung liegt vor, aber die Mittel des Vereins 
geftatten dies vorläufig noch nicht. Die Mitglieder 
fanden bier auch Gelegenheit, fi an ben vom 
Verein eingerichteten Übungäfurfen in Turnen, 
Engliſch, Franzöſiſch, Geſang, Stenograpbie und 
Handarbeiten zu beteiligen; neu eingerichtet wurde 
ein Kurjus für franzöfiiche Stenographie, dem fpäter 
ein gleicher für engliſche folgen fol. Die zu 
Dftern 1900 in Köln eröffnete „Höhere Handels: 


Trauenleben und Streben. 


Ichufe für Mädchen“ ift baupsfächlih burd > 
Bemühungen des Vereins ind Leben gerufen were 
Da der Kurſus ein zweijähriger ift, find noch 
endgültigen Rejultate zu verzeichnen. Ted oc: 
rechtigen bie bis jegt gemachten Erfahrungen au 7 
denkbar beiten Ausfichten auf das mit Spamnur: 
erwartete Schlußrefultat. Da die Schule ſtrens ır 
der für bie Aufnahme vorgefhriebenen Bedinzui: 
des Nachweifes der abgeihloffenen Bildung ceı:i 
zehnklaſſigen höheren Tüchterichule fe ſthält, war t: 
nit nur möglich, fh gang auf der Hohe x: 
feftgefegten Programms gu halten, fonbern bazı:!. 
in einigen Fächern noch zu erweitern und \. 
vertiefen. 





Der „Frauenbund zum Wohle alleinftchende: 
Frauen und Mädchen zu Fraukfurt am Main“ 


veröffentlicht feinen 4. Jahresbericht für vu: 
Jahr 1901. Das Hauptintereſſe Des Vereire 

wendet ſich der Verwaltung und weiteren ur 
geftaltung des von ihm errichteten Heims in >- 
Langeſtraße zu. Es befindet fih in erfreufider 
Entwicklung und ift nach Möglichkeit beftrebt, allen 
ftchenden und unbeſchützten Mädchen die Heim! 
zu cerjeben, fowie Durchreifenden und Stellunu 
fuchenden ein erwünſchtes Unterkommen zu bieten. 
Zu ſeinem Bedauern i ie der „grauenbundb” nic 
nicht in der Lage, felbfttbätigen Anteil an den 
größeren Beftrebungen für Srauenwohl und Frauen 

vecht zu nehmen, dazu ift feine Mitgliederzatt 
— 251 — zu Hein und fein Einlommen zu gerina; 
doh war er auf ber IV. Generalverfjammtlung des 
„Bundes deutſcher Frauenvereine“ durch Die Bor 
ſitzende, Frau Rommel, vertreten. 


———— 


Frauenleben und -Streben. 


Nachdruck mit Quellenangabe erlaubt. 


* Bolitifcher Dilettantismus. Die „rauen: 
bewegung” vom 1. Suni bringt in ihrer Beilage 
für „Barlamentarifche Angelegenheiten und Gefeb: 
gebung” ein Schreiben an den Kriegsminiſter, von 
Frau Cauer, Fräulein Dr. Augspurg und Fräulein 
Heymann unterzeichnet, das an naiven Dilettantis— 
mug feinesgleichen fuchen dürfte. Auf Zeitungs: 
nachrichten bin, wonach europäilhe Truppen 
chineſiſche Frauen vergewaltigt haben follen — von 
deutjchen Truppen ift nirgends die Rede — fühlen 
fie fich fo quasi als Anwälte des beutjchen Volks 
berufen, den Kriegsminiſter wegen einer etwa 
möglichen Beteiligung deutjcher Soldaten an folchen 
Verbrechen zur Rechenjchaft zu ziehen. In autorita: 
tivem Tone mird eine Antwort auf die frage ver: 
langt: „Was ift von feiten der beutfchen Armee: 
verwaltung gefcheben, um fejtzuftellen, ob deutſche 





| 
| 


Soldaten und welche? an ſolchen Unthaten beteiligt 
gewefen find?” 
Dann beißt es wörtlich weiter: 


„Sollen nicht diejenigen beutichen Frauen, weiche 
in Bezug auf unjere öffentlichen Angelegenheiten 
über der Sphäre der Gedanken: und Kritikloſigkeit 
jtehen, in jedem beimfehrenden Chinafrieger einen 
Zeilnehmer an derartigen Schändlichkeiten arg- 
wöhnen und follen fie nicht vorausſetzen müſſen, 
dag dem beutfchen Volkskörper von feinen leitenden 
Inftanzen die bedingungslofe Neaffimilation von 
Elementen zugemutet wird, die auf Grund ihrer 
Thaten bier zu Lande mit Zuchthauäftrafe zu be: 
Icgen fein würden, fo ift e8 bringend nötig, daß 
unfere M iitärjuftiz fih mit den angeführten Be- 
richten bejchäftigt, um auf Grund genauefter Nach- 
forſchung entweder das tieferjchütterte Zutrauen weiter 
Bevölferungstreife zu der Haltung unferer Truppen 
wieberherftellen zu fünnen ober die etwa begangenen 
Verbrechen burch ftrengfte Ahndung zu fühnen.” 

















Frauenvereine. 


bezw. vervollftänbigt. 
jede volfftändige Schraube, 


Die Schraube beſteht, wie 
aus Spindel und 


Schraubenmutter, wozu noch ein Zahnring, eine ; 


Feder unb ein Schalter fommt VDurch das ver: 
ſchiedene Zuſammenwirlen biefer Teile 
die Schraube für 3 Fälle verwenden: 1. Wenn 
man bie freie Beweglichkeit der Epindel nur 
während des Sihens aufgeben wil. 2. Wenn man 
für längere Seit einen unbetoeglicen Stuhlfig 
wünſcht, nachdem dieſer in die richtige Höhe ge: 
ſchraubt ift. 3. Wenn ein in allen Fällen bre 
barer Stublfig verlangt wird. Die Swedmäßigt 
der Vorrichtung wird jedem einleuchten. 
* 


Naifer Wilgelm- Spende. 





Mit befonderer 


Nüdfiht auf die Bebürfniffe des Mlittelftandes mit . 


beſcheidenem Einkommen gefchaffen, follte die Kaifer 
Wilhelm: Spende noch viel mehr ala es geichieht, 


äßt fih 





681 


ı zur Anlage von Erſparniſſen benußt werben. ' 
Durch die Möglichkeit, jederzeit bie Heinften Er- 
fparnifie bis zum Betrage von 5 Mark herunter 
fhon einzuzahlen, dadurch, daß feine Verpflichtung 
zu fortlaufenden, regelmäßigen Einzahlungen be: 
fteht, ift die Benugung ber fegensreichen Ein: 
richtung ben weiteften reifen freigeftellt. Die 
| Kaifer Wilhelm: Spende verfichert fowohl Jahres: 
; renten ais Ropitafien. Die Verfiherung Tann nad) 
zwei Tarifen gefchehen, nämlich ohne ober mit Vor⸗ 
behalt der Rüdgewähr. Natürlid; ergiebt bie erfie 
Art der Verficherung höhere Renten und RKapitalien. 
Nacträglih Tann ein Vorbehalt der Rüdgerähr 
| nicht erhoben werben, es kann aber jeberzeit auf 
einen ſoichen verzichtet werben. 

Nähere Auskunft erteilt und Drudfachen ver: 
ı fendet die Direktion, Berlin W., janer» 
| frage 85. 


ar 


Frauenvereine. 


Der Berein „Jugendſchutz“ 


(Porfigende: Frau Hanna Bieber:Bochm) giebt 
eine neue billige Nußgabe ber ii vorbeugenden 
Sri von Profeffor Dr. med. 9. Herzen: 
„Wiffenfchaft und Sittlichteit“ heraus, nachdem 
die von dem Schweizer Verlag übernommene Auf: 
lage vergriffen if. 

Der Rektor der Berliner Univerfität Brofefior 
D. Adolf Harnad hat zur neuen Auflage ein 
Vorwort an bie Stubierenden geichrieben, dad wir 
ai bedeutfame Kundgebung im Wortlaut folgen 
laſſen: 

Vorwort zur neuen Auflage. 

Kommilitonen! Eure Zutunft — und ſie iſt bie 
Zukunft des Vaterlandes — hängt von Eurer ſitt⸗ 
üchen Kraft und Geſundheit ab. Viele finftere 
Mächte bedrohen fie, aber die Gefahr, welche der 
Verfaſſer der nachftehenden Schrift Euch vor Augen 
führt, ift der größten eine. Ernft und ſchücht hat 
er fie Euch vorgeftellt, ohne Schleier, aber auch 
ohne Übertreibung. Cr wendet fih, indem er zur 
Selbftbeherrfhung und zum Aampf mahnt, an den 
guten Geift, der Euch eingepflangt ift und er ruft 
feine andern Bundesgenofien zur Hilfe ald Euch 
felbft. Ben fozialen Verpflichtungen wird in der 
Gegenwart viel gelprosen: feid gewiß, daß bie 
träftigfte foziale Leiftung ein reiner Lebenswandel 
ift. Er wird Euren Charakter ftählen, Cure Ge: 
finnung läutern und Gure Thatkraft fteigern. Das 
Beiſpici, welches Ihr gebt, wird für die Sittlichtkeit 
aller anderen Klaſſen ber Geſellſchaft entſcheibend 
fein, denn Ihr feid bie zufünftigen Führer. Mut 
ift die Tugend der Tugenden; aber Mut fließt nur 
aus innerer Freiheit: ter fich nicht felbft beherrfcht, 
bleibt immer Knecht. 

Über den Anfängen unferer deutſchen Geſchichte 
fteht daS Zeugnis des Tacitus: „Sera iuvenum 
venus, eoque inexhausta pubertas. Nemo illic 
vitia ridet, nec corrumpere et corrumpi saeculum 
vocatur.“ Macht dieſes Wort enblich wahr! Die 


Pflicht, die es einschließt, ift niemals fo gebieteriſch 
geiveien, wie auf ber geichichtlichen Stufe, auf ber 
wir und heute befinden. Das zeigt Euch Herzen 
in diefem Vortrag. Die Stunde ift da, aufzuftehen 
vom Schlaf, abzulegen die Werke ber Finfternid 
und anzulegen die Waffen bed Lichts. In biefer 
Rüftung werdet Ihr unüberwindlidh fein und das 
Baterland, die Menichheit aus innerer unb äußerer 


Not befreien Helfen. 
D. Adolf Harnad, 
b. 8. Rektor der Univerfität Berlin. 

Die Bildungövereine, Lehrervereine, Frauen: 
vereine und beſonders die Krantenfafienvorftände 
werden auf bie billige Ausgabe aufmerffam gemacht, 
welche bei gröhern Beftellungen fehr billig (100 Stüd 
= 10 Rart, 500 Stüd = 25 Mart, 1000 Stüd 
= 40 Wart extl. Porto, 1 Eremplar mit Porto — 
23 Pig.) durd das Vürcau des Vereins „Jugend: 
ans“, Berlin C., Raifer Wilgelmftr. 39, "verfandt 
wird. 





Der Randeöverein Preußiſcher techniſcher 
Lehrerinnen 


Hat in dieſem Jahre den erften Fortbilbungskurfus 
für Hanbarbeitölehrerinnen eingerichtet; diejer wird 
vom 15.—28. September in Bernburg ftattfinden. 

Es werben Borträge gehalten werben über 
Pſychologie, Ethit und Pädagogik von Herrn Rektor 
Kraufe, Köthen. Über die Methobit bed Hand: 
arbeitdunterrichted wird Fräulein Mepel, Bernburg, 
ſprechen. Außerdem follen Lehrproben von ver: 
fhiebenen Lehrerinnen in Boltd-, Mittel: und Höheren 
Mädchenſchulen gehalten werben. 

Herr Direltor Dr. Fride hat ſich freunbfichft 
bereit erklärt, an einigen Abenden Borträge zu 
halten, in denen er Rulturbilber derjenigen Länder 
giebt, die zu dem verfchiebenen Zweigen ber Hand⸗ 
arbeiten in beſonderer Beziehung ftehen. 

An die Vorträge und Lehrproben follen fi 
Beſprechungen anſchließen. 


Frauenleben und :Streben. 


Wir können bie Frage nach dem Sachverhalt 
felbft hier ganz unerörtert laſſen, da nicht der ge: 
ringfte Grund vorliegt, anzunehmen, daß die deutſche 
Heeredvertwaltung nicht auch ohne bie Einmifung 
der Damen Cauer, Augdpurg und Heymann etwa 
vorgelommene Verbrechen ahnden würde. Was 
und bier zunädft angeht, das ift der unerhörte 
Tilettantismus, mit dem die genannten Damen 
ſich eine Kompetenz in Angelegenheiten anmaßen, 
die zu beurteilen fie augenſcheinlich völlig außer 
ftande find. (Gegen biefen Dilettantismus, der 
ungefcheut jede Domäne des öffentlichen Lebens ald 
Rebefportplag betrachtet, Haben alle Frauen, die in 
ernfter Arbeit ihr Bürgerrecht erringen tollen, 
Urſache, auf das energifchfte zu proteftieren. So 
tönnen fie am beften beweifen, daß fie thatfächlich 
in Bezug auf unfere öffentlichen Angelegenheiten 
„Über der Sphäre ber Gedanken: und Krititlofigleit 
ftehen”. 

Im übrigen muß mit Befriedigung konſtatiert 
werben, daß mir es nicht mit einer Kundgebung 
irgend einer zur Frauenbewegung gehörenden Körper: 
ſchaft, fondern febiglih mit einer perſonlichen 
Erpeltoration der drei unterzeichneten Damen zu 
thun haben. Auf ifre Rechnung kommt dann auch 
bie unfreitoillige Komik in einzelnen Außerungen, 
die nur ber ernfte Gegenftand und verhindert, hier 
gebührend zu würdigen. 


* Der anonymen Denunziation gegen Fräulein 
Dr. Tiburtius wegen Führung falſchen Titels, 
bie in ihrer völligen Haltlofigteit durch das in ber 
Märznummer der „Frau” veröffentlichte frei- 
fprechende Erlenntnis dargethan murbe, ift eine 
ganz gleichlautende Denunziation feitend des 
Herrn Profeffor Dr. Koßmann gefolgt. Sie 
richtet fih nicht nur gegen Frl. Dr. Tiburtius, 
fondern faft fämtliche Berliner Arptinnen und 
einen — „Raturarzt” und Magnetifeur namens 
Geift, fo daß nunmehr am 21. Juni gegen „Geift 
und Genoſſen“ verhandelt wird. Auf den 
Ausgang der Verhandlung braucht man gar nicht 
einmal begierig zu fein. Es ſcheint nad ber 
ganzen Sachlage und dem vorhergehenden frei- 
ſprechenden Erlenntnis völlig ausgefloffen, daß 
eine Verurteilung erfolgt. Die eigentümliche Dent: 
weiſe aber, bie fi) darin befundet, daß Herr 
Profeſſor Dr. Aoßmann die Berliner Arztinnen, 
von denen er wiſſen muß, daß fie ein volles 
mediziniſches Studium abfolviert haben, mit einem 
Herrn zufammenftellt, bei dem dies augenſcheinlich 
nicht der Fall ift, möchten wir denn doch Bier feft: 
nageln. Über den Ausgang der Verhandlung, die 
leider erft nach Redaktionsſchiuß ftattfindet, berichten 
wir das nächfte Mal. 


633 


Breisausſchreiben. 

Der Berein „Srauenbilbung:Frauen- 
ftubium“ erläßt ein Preisausſchreiben zur Er— 
langung einer Propagandaſchrift für bie 
Frauenbewegung. Nach Art eined Katechismus 
ſollen in Frage und Antwort Entftefung, Ent: 
widlung, gegentoärtiger Stand unb Ziele der 
deutſchen Frauenbewegung kurz und Mar dargelegt 
erben. Der Preis, der 1000 Merk beträgt, 
tann ganz ober geteilt zuerkannt werden, wofür 
die Schrift Eigentum bed Bereind wird. Die 
Namen der Preiörichter werben noch befannt ge: 
geben. Sie find berechtigt, an bem von ihnen 
preiägefrönten Werke zweckentſprechende Anderungen 
vorzunehmen. Die Arbeiten find, mit einem Kenn: 
wort verſehen, bis fpäteftend 1. Februar 1902 an 
die Schriftführerin der Aommiffion "einzufenden; 
ein gefchloffener Briefumſchlag mit gleichem Kenn: 
wort hat Rame und Abreffe bed Verfafſers zu ent: 
halten. Die Mitglieder der Kommiffion find gern 
zu näherer Audfunft bereit. 


Marie 9. von Helldorff, Schriftführerin 
(Weimar, Aderwand 18). 
Fanny Boehringer (Mannheim). 
Dr. Anna von Doemming (Biesbaden). 
Dr. Richard Knittel (Karlsruhe i. 8.). 
Dr. Selma von Lengefeld (Weimar). 


* Die Generalverfammiung des Vereins 
Sranenbildung — Zranenftudinm, die vom 16. 
bi 18. Mai unter bem Borfig von Frau Hofrat 
Steinmann in Mannheim ftattfand, bot durch 
die rege Teilnahme von Mitgliedern aus allen 
Teilen Deutſchlands, durch die Verhandlungen und 
Vorträge ein erfreuliches Bild der kräftigen Ent 
wicllung des Bereind. In ber erften Berfammlung 
begrüßte Herr Bürgermeifter von Hollander ben 
Berein namens ber Stadt. 


Er führte kurz aus, baß die nad; zweierlei 
Richtungen gehenden Beftrebungen bed Vereins, 
das Streben nad Bildungserweiterung und :Ber- 
tiefung unb Arbeit, melde bie Eröffnung neuer 
Erwerböbahnen zum Biel hat, anerkennenswerte 
und fozial begründete find. Erweiterte und ber: 
tiefte Bildung ift, was wir brauchen, fie kann auch 
ben Haudfrauen und Erzieherinnen ber Kinder nur 
nüglich fein. Aber auch bie zweite Thätigteit des 
Wereind ift eine wertvolle. Die Männer haben 
vielleicht die Individualität ber Frau nicht genügend 
getwürbigt. ud) Frauen find differenziert, aud 
fie ſuchen neue Bahnen, in melden fie ihre 
Individualität betätigen Tönnen, und das Non 
furrenzbebenten wiſchen Mann und Frau ift bei 
diefen Beftrebungen hinfällig. Je mehr Berufs: 
möglichteiten der rau offen ftehen, um fo geringer 
wird der Zubrang zu den einzelnen Berufen fein. 
Die Gefege der Natur aber und bie fozialen Be: 
dingungen werben bie rauen immer bahin führen, 


„Ma“, ein Porträt von Lou Andreas; 
Salome. (Stuttgart 1901. I. ©. Cottaide 
Buchhandlung Nach.) Das Mutterfhaftsproblem 
Hat Lou Andread in ihrer neuen Erzählung be- 
banbelt, doc} gift e8 nicht Freuden und Leiden beö 
Nutterfeins, fondern bie vieleicht härtefte Prüfung 
des Mutterherzens: die Loslöfung der Kinder von 
ihr, das Entwachſen aus ihrer forgenden Liebe, 
dad Aufhören mütterliher Fürforge. Die beiden 
Töchter, die „Ma in hartem Ringen durchgebracht 
hat und benen fie daB Befte ihre Lebens und 
Herzens gegeben, find flügge geworben; bie ältere 
Hat bereit8 bie Umiverfität bezogen; Die jüngere, 
an der fie in doppelt inniger Liebe hängt, treibt 
«8 hinaus, halb Wiffensbrang, halb Liebesichnen. 
Und Ma gewinnt c8 über fi, aud) biefe Tochter 
ziehen zu laffen: das, nur daß bildet den Inhalt 
bed Buches. Eine eigene, ſchmerzliche Refignation 
ruht darauf. Und munberboll, in anziehender 
Eigenart ift ber Charakter der Ma geftaltet, und 
Aüberaus fein und einwandfrei ift die pſychologiſche 
Entwidlung. Zu fein vielleicht, denn es giebt auch 
da Grenzen. Der Gefahr, bie für ein Talent wie 
fie e3 ift, immer befteht, ift Lou Andreas in ihrem 
jüngften Werke ftärfer verfallen als in „Ruth“ und 
in „Aus fremder Seele”: ftellenweife mutet „Ma" 
arg theoretifch, erbacht, erklügelt an. Dan meint 
in einzelnen Abfcpnitten nicht einen Roman, ſondern 
einen Eſſay zu leſen. Dann aber finden fih auch 
wieder Szenen voller Leben, und lebendig ftehen 
einem fehließlich bie Geftalten vor Mugen, daß man 
fie leibhaftig vor fich wähnt, biefe blaffe, verängftete 
Ma mit dem tiefen, myſtiſch tiefen Frauenempfinden. 








„Les Tolftoi und feine Bedeutung für unfere 
Kultur“ von Eugen Heinrich Schmitt. (Verlegt 
bei Eugen Dieberichs, Leipzig 1901. Preis brod. 
5 Marl, geb. 6 Mark.) Das Buch zeigt einen 
intereffanten Berfub, die Glemente der Melt: 
anfhauung Tolfteis fowohl Hiftorifdh zu erklären, 
als philofophifd) zu entfalten und dadurch feine 
Stellung in der modernen Geiftegentwidlung und 
feine Bedeutung für bie Wege, die fie fünftig 
nehmen twird, deutlich zu machen. Wir [ernen die 
Verfönlichleit und bie Miffion Tolftois erfafien aus 
dem eigentümlihen Charakter der ruffiichen Kultur, 
die, nicht wie die des Weftend durch überlegene 
Traditionen gebunden, einen Bruch mit ber Ver: 
gangenheit leichter vollzieht, rabitafe Reformer 
naiver an bie Ausführung ihrer Gedanken treten 
Insbeſondere dient das Buch dem Nachweiſe, 
wie die Grundanfhauungen Tolſtois, die weniger 
Har in ihrer philoſophiſchen Ausprägung al8 viel: 











. 
mehr in ihrer fittlihen Anwenbung Berportretin, 
zu dem fortgefchrittenen Naturertennen unſerer 
Zeit nicht etwa im einem beſchränkt theologiihen 
Gegenfag ftehen, fondern mwie fie gerabe, im Yıdıc 
diefes Erkennens ergänzt und zu ihren Konſequenzen 
gerahet, in ihrer ewigen Gültigleit und wahren 

berlegenheit erſcheinen. Die philofophifche KXrint 
dieſes Nachweiſes läßt fid nicht in ein paar 
Sägen abthun. 8 fei nur gefagt, dag Telftoi auf 
deuiſchem Boden und fpeziell vom Stanbpunkt unic 
ver beutfchen Geiftesfultur noch feinen Interpreten 
wie €. 9. Schmitt gefunden hat. 


Serbfunten‘. Neue Sprüde und Sinn 
gebichte von Frida Schanz. Bielefeld und Leipiig. 
(Verlag von Xelhagen und Klafing, 1901. Press 
1,20 Dart.) Frida Schanz hat in befonberem 
Maße die Eigenfhaften ded Spruchdichters: eıme 
lebhafte, warme Lebensteilnahme, eine außerorbent: 
liche Leichtigkeit, für jeben Gedanken, jede Pe 
obachtung ein Gewand zu finden, und eine un 
gewöhnlih  biegfame, eindrucksvolle Sprache. 
„Herdfunten“ ift die Sammlung genannt: bie 
milde, mohlthuenbe Gfut jener Weltbetrachtung. 
jener Stimmung, die für und in bem Begrifi 
deutſches Haus“ Liegt, weht dem Leſer aus biefen 
Verſen entgegen. 


Zunge Seele”. Gedichte von Fritz Bord. 
@erlin, Gofe & Teglaff, 1901) Als Erftlinge- 
ſchöpfungen wird man bie Lieder der „jungen 
Seele“ leicht erfennen. ALS Erftlingafhöpfungen 
find fie gefenngeichnet durch eine geiofffe naive 
Beharrlichleit im Feſthalten und riieren ber 
einen Melodie und des einen Gedankengangs: 

ungt. Kiche, junge Triebe 

Sterben unter Froftespaud.” 
In einem Mangel an Fülle und Intenfität bes 
Erlebens ift dieſes ernfthafte Beſchauen und Wieder⸗ 
beſchauen des eigenen „verblutenden” Herzens be 
gründet. Dod verrät dann und mann ein 
träftigerer Ton, eine inbivibuellere Farbe, daß hie 
„junge Seele" auch tieferen Trunk aus hem 
Xebensbronnen gethan und tieferen noch thum 
wird; und dann möchte man wünſchen, daß cine 
ftrengere Auswahl der ganzen Sammlung das 
träftigere Relief gegeben, daB fie hätte haben 
Tönnen. An Bezug auf innere und äußere jrorm 
baben die Gedichte etwas Abgefchloffened, Fertiges; 
für Situation und Stimmung finden fie oft un 
gegwungen den glürlichften Auöbrud. Selten mır 
wirken bie Ausdrucksmittel kunſtlich unb un 
organife — fo manchmal der abgebrodene Schlub: 








Frauenleben und »Streben. 


* Gegen das Schweizer Eherecht proteftierte, 
wie bie „Dohnmente ber Frauen“ berichten, der 
Yund Schweizer Frauenvereine in feiner in (Genf 
abgehaltenen Generalverfammlung. Nach Schweizer 
Recht hat der Wann ald „Haupt der chelichen 
Gemeinfchaft" die Ruyung des Vermögens Beider, 
aud des mitgebrachten rauenvermögens. Gegen: 
über biefem Spftem der Güterverbindung fprad) 
ſich der Yund einftimmig für die Gütertrennung 
aus. Eine längere Distuſſion wurde über die 
Vaterſchaftstlage geführt, die nad) Schweizer Zivil 
recht nur bis zum Ablauf von drei Monaten nad 
Geburt de Kindes eingebracht werben kann. Cine 
Rebuerin verlangte die Ausdehnung biefes Klage: 
techtes bis zum 16. Lebensjahr des Kindes. Iſt 
der Vater zahlungsunfähig, fo fol die Familie, 
eventuell die Yeimalögemeinde herangezogen werden. 
In der großen Kommiſſion, welche vom eidgenöſſiſchen 
Juſtizdepartement zur Beratung des Zivilgeſetzbuches 
ernannt wurde, figen auch einige Frauen. Es ift 
zu hoffen, daß fie das angeichlagene Thema in 
Auge behalten werben. 


* Das Tommunale Wahlrecht der Frauen 
im Norwegen ift am 26. Mai nun doch Geſetz 
geworden. Das Lagthing, das, wie mir in ber 
vorigen Nummer berichteten, die Vorlage zurüd: 
wies, hat fie bei erneuter Beratung mit einer 
Stimme Najorität angenommen. Das Wahlrecht 
umfaßt alle Frauen, die ein Cinfommen von 
300 Mark auf dem Lande, 400 Mark in der Stabt 
verfteuern, und bie verheirateten Frauen, beren 
Männer Steuern zahlen, im ganzen etwa 
200 000 Frauen. Wie gejagt, ift bie Borlage 
von der konfervativen Partei eingebracht, um bei 
dem Inkrafttreten des allgemeinen fommunalen 
Wahlrechts durch Zulaffung der ſteuerzahlenden 
Frauen ihre Partei zu ftärten. Charatteriſtiſch 
für die Unwiſſenheit, die unfere großen Zeitungen 
immer noch in Sachen der Frauenfrage dofumentieren, 
ift die Bemerkung, mit der bie Kolniſche Zeitung 
die Notiz begleitet: „Ale Länder, die ſich bisher 
noch nicht von ber unreifen Frauenemanzipationg: 
mut ind Schlepptau haben nehmen lafjen, werben 
Norivegen mit größtem Vergnügen beglückwünſchen, 
daß es fih als Verſuchsſeld für Frauenftimmrecht 
hergiebt, und es bleibt nun abzuwarten, ob bie 
Frauen den wohlthätigen Einfluß ausüben werben, 
den bie Nechte erwartet.” Als ob es angefichts 


! 





685 


der Erfahrungen, bie in England feit Jahren mit 
dem munizipalen Wahlrecht der Frauen gemacht 
worden find, noch notwendig wäre, daß ſich ein 
Land al „Berfuchäfelb hergiebt“! Im übrigen kann 
man nur boffen, daß die wahlberechtigten Frauen 
noch in andern Dingen einen wohlthatigen Ein- 
fluß üben, als in Bezug auf die Intereffen ber 
Rechten. 


* Ein Berein zur fogialen Hebung der 
Fran hat ſich vor einiger Zeit in Mailand unter 
der Zeitung von einer Reihe auf dieſem Gebicte 
oder Litterarifch fchon bekannter Frauen gegründet. 
Das Drgan biefe® Vereins ift die „Unione 
Femminile“, eine Monatsfchrift, die in Mailand 
(Via Pietro Verri 7) erfeint und nad ihrer 
erften Nummer zu urteilen eine ernfte und that: 
kräftige Propaganda für die Hebung ber itafienifchen 
Frau in intellettueller und fozialer Hinſicht eröffnen 
wird. In Deutfhland wird e3 von befonderem 
Interefie fein, daß Ada Negri zu den Mit: 
arbeitern des Blattes zählt. 


* Totenfchen. Ada Chriften, bie befonders 
in Frauentreiſen bekannte Schriftftellerin und 
Dichterin, ftarb am 19. Mai in Wien im Alter 
von 57 Jahren. Sie hat in einem beivegten Leben 
voll Enttäufjungen und Leiden allen Schmerz er: 
fahren, der ein Frauenichidjal erfüllen kann; fie 
hat ihn doppelt bitter erfahren bei einem Leibenfchaft: 
lichen Temperament und einem fcharfen, rüdfichts: 
loſen Gerechtigleitögefühl. So erſcheint fie in ihren 
Digtungen, rucſichtslos ehrlid in Bezug auf ſich 
ſelbſt und die Gejellipaft, Heiß und ſtart in allem 
inneren Erleben, traftvol, oft hart, aber immer 
padend in der Sprache. Im immer ftärterem 
Maße kommt in ipren Gedichtſammlungen, von ben 
„xiebern einer Berlorenen” bis zu „Aus ber Tiefe” 
das ſoziale Noment zum Ausbrud. Es gehörte 
ihrem urfprüngliden Selbſt an, es find nicht 
äußere Lebensverhältnifie, die fie erft Ichren mit 
den Unterbrücten zu fühlen, denn dies fogiafe 
Moment erftartt in ihrer Dichtung unter ben 
äußerlich) glänzenden Berhäftniffen ihrer zweiten 
Ehe mit Adelmar von Breden. Ein langjähriges, 
ſchweres Lörperliches Leiden hat Ada Chriften der 
jüngften Generation vor ber Zeit entrüdt. Viel⸗ 
leicht wird ihr Tod fie wieder mehr in die Mitte 
derer ftellen, denen fie ihrer ganzen Perfönlichteit 
nad) doch verwandt ift! 


„Me”, ein Porträt von Lou Andreas, 
Ealome. (SAuttgarr IWl. 3. G. Cottaſche 
Buchhandlung .) Tas Butterihaftsproblem 
bet Lou Andreas in ibrer neuen Erzählung be 
handelt, Doc gilt es nicht Freuden und Leiden des 
Mutterfeing, ſondern die vielleicht härteſte Prufung 
des Wiutterbergens: die Loeloſung ber Kinder von 
ihn, zus Entwachſen aus ibrer ſorgenden Liebe, 
dus Aufhoren muütterlider Fürſorge. Tie beiten 


Tochter, die „Mu“ in hartem YHingen durchgebracht 


hat und denen fie das Beſte ibres Lebens und 
Herzens gegeben, find flügge geworben; bie ältere 
bat bereits die Univerfität bezogen, bie jüngere, 


an der fie in Doppelt inniger tiebe hängt, treibt | 


es hinaus, halb Wiſſenedrang, halb xiebesichnen. 
Und Wa gewinnt «8 über fi, auch diele Tochter 
ziehen zu laffen: das, nur bag bildet ben Inhalt 
des Budyes. Kine eigene, ſchmerzliche Hefignation 
ruht darauf. Und wundervoll, in anziehender 
Eigenart ijt ber Eharakter der Ma geftaliet, und 
überaus fein und einwandfrei ift die pfuchologifche 
Entwiclung. >3u fein vielleicht, denn es giebt auch 
ba (rungen. Der Sefahr, bie für ein Talent wie 
fie es ift, immer befteht, ift You Andreas in ihrem 
Jüngften Werke ftärfer verfallen ala in „Huth“ und 
in „Aus fremder Seele”: ſtellenweiſe mutet „Ma“ 
arg theoretiſch, erbacht, erflüpelt an. Man meint 
in einzelnen Abfchnitten nicht einen Sloman, fonbern 
einen Eſſay zu leſen. Dann aber finden fich auch 
wieder Szenen voller veben, und lebendig fiehen 
einen ſchließlich Die (Meftalten vor Augen, daß ınan 
ſie leibhaftig vor fich wähnt, dieſe blaffe, verängftete 
Na mit dem tiefen, myſtiſch tiefen Frauenempſinden. 


„Leo Tolftoi und feine Wedentung für unfere 
Kuültur“ von Eugen Heinrich Schmitt. (Kerlegt 
bei Cugen Diederichs, veipzig 1601. Preis broch. 
bh Mark, geb. 6 Markt) Das Buch zeigt einen 
intereſſanten Werfuch, Die Elemente ber Melt 


— — — — — — — — — — — — — — — — — — — 


anſihauung Tolſtois ſowohl hiſtoriſch au erklären, 
als philoſophiſch zu entſalten und dadurch feine , 


Stellung in der modernen Geiſtesentwicklung und 
ſeine Weder fur Die Wege, Die ſie kunftig 
nehmen wird, deutlich zu machen. Wir lernen Die 
Merſönlichkeit und Die Miſſion Tolſtoid erfaſſen aus 
drin eigentlichen Uhnralter Der mmllsschen Warlenen 


mebr in 
zu dem 
Seit nidi 
Begeniag ' 
dieſes Erte 
gefubri, in 
Überlegenp: 
Diele Rac 
Sägen abt! 
deutſchem % 
rer beutiche 
wie &. 9. 


„Herdf 
gedichte von 
(Berlag vor 
1,20 Dart., 
Hape die ı 
lebhafte, wa 
liche Leichti 
obadtung « 
gewöhnlich 
„Berdfunten‘ 
milde, mol 
jener Stim 
„deutſches H 
Verſen entge 


„Junge 
(Berlin, Sof 
fchöpfungen 
Seele“ leicht 
find fie gel: 
Bebarrlichteit 
einen Melodi 


4 


In einen W 
Erlebens ift 
beſchauen des 
gründet, T 
trüftigerer Tı 
„unge Seel 
Yebensbronne 
Wird; amd d 


Vücerfchau. — Anzeigen. 


verd. Die Form ift faft durchweg weich, biegfam ! 
und fein nuanciert. Und in Erfindung und Ge: 
ftaltung geigt ber junge Dichter viel Selbftändiges. | 
Er geht eigene Wege, — nicht folde, die mit einer 
tühnen Schwentung von ber Heerftraße ab in un 
beianntes Sand führen, ſondern folche, die fie dann | 
unb wann Treuzen, zuweilen begleiten — aber doch 
eigene Wege. Daß fie ihn an ein Biel führen 
werben, dafür bürgt vielleicht der Sinn, den ein 
Meines Gedicht der Sammlung audfpridt: 

Broße Kräfte fühl (4 mein, 

Tämme (daufeind, Gruben graben. 

Kur zuweilen, wenn ber 

Si fps je 14 ei 

Dann vur&prüß ich mein Gefgid. 

Und id) wäge meine Taten 

Und ic) fente meinen Spaten. — 

Und ich fente meinen Bid . 


nDie Natur der Fran.‘ Anthropologiſche 
Studien von ®. Jaekel. (Verlag von Martin 
Hildebrandt. Berlin 1900. Preis 3 Marl.) Aus 
einer Flut von gebrudtem Material, aus Hunderten 
von Schriften, philofophifchen, ethnoiogiſchen, kultu: 
hiftorifhen bis hinunter zu populären Unter: 
haltungdbücern und Schufcreftomathien hat bie 
Verfafferin Notizen, Thatfagen, Außfprüde zur 
Ertenntnis der Natur der Frau gefammelt und 
ftellt fie nun in diefem Bud) zufammen, in einer 
Fülle, daf einem ber Atem ausgeht beim Seien. ; 
Der Zwed ift, Material zur Märung der Frage | 
in möglichfter Reihhaltigteit beizubringen. Und 
diefer Bived ift mit einer ftaunendwerten Ausbauer, 
Gebuld und Belefenheit erfüllt, denn das Buch 
bietet eine wahre Schaglammer von intereffanten 
Daten und Urteilen. 

Schlußfolgerungen freilich Tann man aus dem | 
Material taum ableiten. Dazu ftehen alle bie 
Einzelbeiten zu ſehr außerhalb ‚ihrer kulturellen 
Beziehungen; man tönnte ben faufend Beweifen, 
bie da für eine Sadje angeführt werben, zehn: 
taufend gegenüberftellen, bie dagegen ſprechen; auch 
ift von einer fritiichen Austwahl der Tuellen ganz 
abgefehen, und viele der angeführten Thatjadhen 
dürfen Yaum ald verbürgt gelten. Fragen wie die 
aufgeivorfene find, wenn überhaupt theoretiich, fo 
doch nur auf Grund umfafjender pſychologiſch⸗ 
pbyfiologiiper Erfenntni® zu löfen, die unfere 








Wiffenfhaft nach ihrem heutigen Stande noch nicht 
gu geben vermag. Vielleicht wird aber eine fpätere 
Zeit einmal die in dem vorliegenden Buch geleiftete 
Vorarbeit fruchtbar m maden wiſſen. 


Eindringens, dee 


zuweiſi. 


687 


„Diuter ber Weltſtadt von Wilhelm Bölfhe 
(Verlag von Eugen Dieberih®, Leipzig 1901). 
„griebrich®hagen“ hat der Berfaffer ald Lotalwori 
der Sammlung feiner Eſſays vorangeftelt. Wen 
biefes Wort nod) leinen 2otalton enthält, dem 
werben bie Eſſays einen Farbenglanz Bineinlegen. 
Sie haben eine feltene ‚interpretationafäbigkeit, 
biefe Afthetifer neuefter. ‚Fictung, „Afthetiter" — 
den Namen legte die Überſchrift ber Sammlung 
nabe: „Gedanken zur äfthetifhen Kultur“. Er ift 
nämlid) eigentlich nicht zutreffend; „Rhifofoppen“, 
„Kritiker“, „Dichter“, „Effapiften“ — feiner würde 
den Beruf, die Wirkungäieife diefer „Mobernften“ 
treffen. Sie find feine Fahmenfchen, fie mollen 
„Renſchen“ fein fchlechthin, Rulturmenfchen, nach 
allen Seiten Fühlfäden außftreden, von allen 
Seiten auf fi wirken laſſen, Eindrüde empfangen, 
ſich geftalten Laffen. In diefem Aufnehmenwollen, 
Verſtehenwollen entfaltet ſich ein feltener Reichtum 
des inneren Befiged, eine feltene Fähigkeit bes 
Schauend. Dazu kommt eine 
dewiſſe Kühnheit in der Wahl der Ausbruddmittel, 
die Bölfches Sprache ungemein fräftig, oft über: 
raſchend prägnant macht, aber fie allerdings auch 
der Gefahr ausfept, geihmadios, ja [hmülftig zu 
erben. Die Gefahr ift in diefem Bande jedenfalls 
beſſer vermieden, ald in ber zweiten Folge des 
„xiebeöleben in der Natur“. Aber Farben fprühen 
diefe Effags! Und wenn es dem Hiftoriter fpäterer 
Zeiten darum zu thun fein wird, bie werdende 
Seele des zwanzigften Jahrhundert zu belaufchen, 
in Wilhelm Bölſches „Hinter der MWeltftadt” wirb 
fie fi ihm mit befonderer Kraft offenbaren. 


„Das Geſetz Über die Fürſorgeerziehnug 
Minderjäßriger” vom 2. Juli 1900, nebft den 
Ausführungöbeftimmungen vom 18. Dezember 1900. 
Erläutert von D.Noelle, Landgerichtsrat, Mitglied 


| des Haufe der Abgeordneten. Siweite Auflage. 
(Berlag von Franz Bahlen, 


Berlin. Kartonniert 
3 Mart, poftfrei 3,10 Mark) Die auögezeichnete 
Arbeit de3 Verfaſſers ftügt fich auf feine Mitarbeit 
an dem Zuftandelommen bed Geſetzes bei ben 
Beratungen im Plenum und in ber Hommiffion 
des Abgeorbnetenhaufes. Sie wird, nachdem bie 
erfte Auflage fhon wenige Monate nach dem 
Erſcheinen vergriffen war, aud in der giveiten, 
unter Berüdfihtigung ber feitbem erfchienenen 
Literatur revibierten Auflage jedem außerorbentlich 
nüglich fein, dem das neue Geſetz neue Aufgaben 





Aygienisches. 


Die noch vielfah übliche Methode, 
Mund und Zähne nur mitteld Zahnpulver oder 
Zahnpafta zu reinigen, ift eine ganz verfehrte. 
Das heißt verfehrt, wenn man beabfichtigt, feine 
Zähne gefund zu erhalten. Und das, meinen toir, 
ift doc der Zwed der gangen Zahnpflege. Ber 
feine Zähne gefund erhalten will, muß fih unbe: ' 
dingt daran gewöhnen, Mund und Zähne mitteld 
einer antifeptiichen Slüffigteit zu reinigen. Die 
Babnreinigung mittel® Zahnpuiver ober Zahnpafta 
tann nie und nimmer die Zähne vor Berderben 
fgügen. Aus dem einfachen Grunde nit, weil | 
gerade diejenigen Stellen, welche am cehbejten an- ! 
faufen, wie Rüdfeiten der Badzähne, Zahnfpalten, 














Zahnli den u u. |. w., bei der Zahnreinigung mittel 
Pulver oder Baftaı unbeheiigt bfeiben. Da fault 
«8 alfo ruhig weiter. Cine Flüffigteit dagegen 
Tann überall hinbringen, und wenn fie antifeptifch 





"it, wirkt fie den zahngerftärenden Progeflen ent- 


gegen. WS ein zuverläffig antifeptifch twirkendes 
Präparat ift in erfter Zinie das belannte Obol zu 
nennen. Die Afepfis (Freifein von Fäulnid und 
Gärung) de Mundes und ber Zähne ergiebt ſich 
beim Gebraude dieſes Mundwaſſers vornehmlich 
durch bie merfivürbige Eigenart des Dbolß, daß ed 
fi in die Zaßnfleifchfhleimpäute und in die hohlen 
Dame einjaugt, bier gewiſſermaßen einen anti: 
feptifchen Vorrat zurüdläßt, welcher no ftunben: 
Lang fortwirtt. Die Zähne werden durch regel: 
mäßige Obol:Reinigung vor Hohliverden geſchubi. 


640 


verfertigten Apparaten und um: 
geihulten Leuten, nad) enblofen 
Schwierigleiten und emormen 
Gelbopfern, gelang «3 ihm fchlieh- 
lich, regelrechte Vohrlocher von 
120—130 m Tiefe bis in bie 
naphthaführende Schicht herunter: 
zubringen, dieſe zu verrohren, 
die Ropnaphiha dur Scöpfen 
zu Tage zu fördern, das gewonnene 
Gemenge von Naphtha, Waſſer, 
Sand u. ſ. w. in großen Holy: 
gefäßen medanifh zu trennen 
und jodie Rohnaphtha zugetvinnen, 
melde den Grundftoff für das 
wertvolle Heilmittel Naftalan ab: 
geben follte. Gortſetung folgt.) 
* 


Originalrezept. — Ein: 
gemachte, gebackene Mat: 
relen: KRochtauer 3 Stunden. 
6 Rerfonen. 2 kg Matrelen 
merden gewaſchen und in zwei 
langen Filet® von den Gräten 
abgelöft. Man beftreut die Fiſche 
mit Saly und läßt fie eine Stunde 
liegen. Dann werben fie in Mehl, 
geihlagenem Ei und Beikbrot: 
Irumen umgedreht und in kochen: 
dem Fett 1), Stunde braun und 
gar gebaden. Die nun aus ber 
Pfanne genommenen Stüde legt 
man nebeneinander auf große 
Schüffeln und läßt fie abtüfen. 

Dann werben die Matrelen 
in einem großen Steintopf lagen: 
weifemit Swiebelfceiben, Lorbe⸗ 
blättern und Pfefferlörnern ein: 
gepadt. Unterbefien hat man 
2 1 gewöhnlichen Weineffig auf: 
gekocht, läßt denfelben vollſiändig 
erfalten, rührt 3—4 Theclöffel 
Maggivürze träftig darunter und 
füllt dies über bie Matrelen. 
Man bindet den Steintopf mit 
Pergamentpapier zu, ftellt ihn 
äinige Tage an einen Falten Ort 
und fann dann beliebig davon 
gebrauchen. M.v. B. 











— c 
„Die Fran“ kanu db 
die Poſt (Boftzeitungstifte “ 
ferner direkt von der ( 
handlung, Berlin S. 1-' 
Inland 2,30 TRR., nad) 


Ale für die Mi 
eines Bamens an Die i 
u adreſſieren. 


Anverlangt eing 
beigulegen, da w. 


Verantwortlich für die Redaktion 








Anzeigen. 





Der de 


beziet 
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Sifase: 
Potsdam 

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Drud: ©. Hoc. 


642 Zur Kriminalität der Gefchlechter. 


lichen Gefchlechtd. Als Durchfchnitt ergiebt fih, daß von 1000 Perſonen weiblichen 
Gejchleht3 rund 20, von 1000 Perfonen männlichen Geſchlechts 104 wegen Verbrechen 
und Vergehen verurteilt wurden. 

| Leider fteht und feine derartige Statiftif andrer Länder zur Verfügung, um 
einen Vergleich anzuftellen; ein jolcher würde dieſem Beitrag zur Pſychologie der 
Gefchlechter erhöhten Wert verleihen. Aus dem aber, was Kulturgefchihten und 
Sittenbilder und zur Kenntniß bringen, dürfte e3 fein Fehlſchluß fein, anzunehmen, 
daß das Kriminalitätsverhältnis der Gejchlechter in den verſchiedenen Nationen nicht 
wejentlich variiert. Zugegeben, daß es unter den Männern mehr „rüftige”, pofitive, 
unter den Frauen mehr „ichmelzende”, negative Naturen giebt, zugegeben, Daß die 
Reibungsflächen, an denen der verbrecherifche Funke fich entzlindet, fich dem Manne 
gewaltſamer aufdrängen als dem Weibe, jo bleibt immer noch ein Reſt, die Größe 
des Unterſchieds iſt damit nicht völlig aufgeklärt. Auch darf nicht vergeflen werden, 
daß unfere Zeit mit ihren Arbeitsanforderungen, mit ihren Rampfanfprühen an bie 
Frau die fogenamnten negativen Naturen umzuwandeln beginnt, daß fie das Latente 
auslöſt und frei macht, und daß die Neibungsflächen auch für die Frau ſich mebren, 
feit fie nicht mehr allein ins Haus gehört. Diefes Schleifen, Weden, Umbilden, 
Nehmen und Geben der Zeit war anfänglich ein langjames, doch fteigert es fich bis 
zur Vervielfachung, je länger es fich bethätigt; jedes Jahr beweift es dem Sehenden. 
Trotz diejer Amwandlungen jprechen die legten fünf Jahre jener zehnjährigen Periode 
noch mehr zu Gunften der Frau und zu Ungunften des Mannes als die erften fünf 
Sabre. Die Frau betrat neue Gebiete, verließ fchügende Mauern, war auf fich felbit 
geftellt, mußte hinaus ins feindliche Leben, geriet in taufend neue Verfuchungen und 
doch verlor fie nicht, wa fie befaß. Sie mußte im Kampf ım das Dafein gleichen 
Schritt mit dem Manne halten, fie holte ihn vielfach ein, aber in diefem Punkte blieb 
fie zurüd, weil fie fich jelbft getreu blieb. 

E3 müjjen der Frau alſo moralifche Dualitäten eignen, die mehr als negativen 
Wert haben, weil fie fich nicht auffaugen laſſen. Sittlichfeit ift nicht nur ein rocher 
de bronce, an dem fich bricht, was nad) Vernichtung ftrebt, fie ift eine Jchaffende 
Macht, ein Fruchtträger, wenn fie auch nicht nach Art der Intelligenz wirft. Ein? 
ihrer Elemente iſt das Verantwortlichfeitsgefühl, das ſelbſtſüchtige und felbftherrliche 
Iſolierung ausfchließt, und freiillig Gott und den Mitmenſchen mit in die Berechnung 
bineinzieht. Verdichtet fich fol ein Berantwortungsgefühl unter Beftrahlung der 
Intelligenz zu einem feften Kern, einem Prinzip, das ſelbſt Licht aufgefogen hat und 
eine Leuchtlraft befigt, die die Umgebung erhellend durchdringt, Jo wird es zur Melt: 
anfchauung. 

Das Verantivortlichteitsgefühl, dieſes Urelement aller Sittlichkeit, das dem Selbft: 
erbaltungstrieb gleichberechtigt zur Seite ftebt, bereit fich ihm zu vermäblen, ift in 
den Frauen ftark geworden, das ift die pofitive moralifche Qualität, die fie einzujegen 
haben und die fie zu Gewinnenden macht, wenn man die Gefchlechter an dem unbeug— 
famen Maße der Kriminalität mißt, einem Maße, an dem fi) nicht drehen und deuteln 
läßt. Nach feinen Wirkungen zu fchließen, bat der Verdichtungsprogeß ſchon begonnen, 
-der es über das Individuelle, das Zufällige erhebt; die Frauen gelangen zu einer 
Weltanſchauung, einem feiten Prinzip. Das ift eine Stärkung des Pofitiven, denn 
mit dem Erkennen fchließt foldy ein Prozeß nicht ab, es ift die Vorftufe der Zweck— 
jegung, des beiwußten Eingreifens und Handelns zur Erfüllung des Zived®. 





Mondnacht am Jugerfee. 648 


Sehen wir fo langfam, weil ungepflegt, das Pofitive in der Frau fi) entfalten 
und Boden gewinnen, immer in Gefahr, der Luftzufuhr beraubt, wie ein Schädling 
niebergehalten oder gar vernichtet zu werben, fo regt ſich's wie Auflage in all den 
twägenden Gedanken, daß der Staat diefen Strebenden, diefen Tüchtigen, dieſen Ernte: 
verfprechenden fo gar nicht aus eignem, freiem und erfennendem Entjchließen bie 
Hand bietet. 

Bir fünnen annehmen, daß die verurteilten männlichen Perfonen zum mindeften 
dem Staat fünf mal fo viel Loften wie die verurteilten weiblichen Perfonen. Werfen 
wir dieſes Plus und diefes Minus zu dem Plus und Minus für Schulen aller Art, 
dann fleigt uns etwas wie Schamröte ins Geſicht. 

Wo bleiben die Fortbildungsfchulen für Mädchen? 

Alle Lebensverhältniffe, man ftudiere nur die Verichte der Gewerbeaufſichts- 
beamten über die Fabrikarbeit der Frau, reden dieſelbe eindringlihe Sprache, aber 
nur die Gebundenen leihen ihr dad Ohr und verftehen fie. 

Da liegt Land brad. Was der Wind an Samenförnern binauftrug, trägt 
reiche und gefunde Frucht; aber die das Saatlorn zu verteilen haben, hätten ein 
wenig weiter zu wandern von ihren vollen Speichern aus, und der Weg zeigt noch 
feine ausgefahrenen Gleife, er ift unerprobt. So benimmt fi die Gewohnheit wie 
eine Heilige, fie thront felbftficher in ftolger Unnahbarkeit. 


er 


Bonsnaht am Zugerſee. 


Su ift die Nacht. Der alte Gaufler Mond 
Spielt auf dem See mit feinen gold'nen Tellern. 
Und dag zum Schein auch Klang den Laufcher lohnt, 
Schallt in die Nacht hinaus ein leifes Trällern, 
Schnalzende Sifche. Irrend' Sunkenjprüh'n. 

Ein Schwärmen gold’ner Mücken auf den Wellen, 
Ein Gligern, Riefeln, Wandern und Derglüh'n, 

Dem Tanz gleich abendtrunfener £ibellen. 


Was fällt dort fchattenhaft ins £icht hinein? 
Das Spiegelbild des Nigikegels in den Fluten. 
Dort fehlummert Arth in Duft und Mondenfchein. 
In Gligern fanft zerrinnen dort die Gluten. 
Verwirrt ſchau' ich auf alle diefe Pracht, 
Geblendet wie vom Glanz vom heil'gen Grale. 
Wie eine große gold’ne Srüchtefchale 

Erglänzt der See, ein Prunkgerät der Nacht. 


Waurire von Sfern. 
ER 7 BR 


41* 


614 


Allerlei Öharakterifiifhes zum Hortfhritt Ser 
Frauenbewegung. 


Bon 


Ile Erkart. 


an 


Nahdrud verboten. 


WI) zum erftenmal über bie Zulaffung der Frauen zu den Univerfitäten und zu den 

© willenjchaftlichen Berufen. Die deutfchen Frauen verbandelten über diefe Frage 
freilich jchon ſeit 25 Jahren, aber die deutjchen Landtage hatten „noch feine er: 
anlaffung gehabt”, fih damit zu befchäftigen. Als man eine Weile hin und her 
geftritten hatte, ob die Unterrichtsfommiffion bei der Vorberatung der Srauenpetitionen, 
mit denen man e3 zu thun Hatte, bejchlußfähig geweſen ſei oder nicht, wurde die ganze 
Angelegenheit jchließlich won ber Tagesordnung abgeſetzt. Man wollte dem Kultus: 
minifter erft Gelegenheit geben, einen für die Arztinnenfrage zuftändigen Vertreter zu 
Ihiden. Augenicheinlih war man erleichtert, den „heiklen“ Gegenftand noch einmal 
für ein Jahr ad acta legen zu können. Hatte doch in der vorangegangenen Sigung 
eine® der Kommijlionsmitglieder, als ganz gegen feine Erwartungen die Frauen 
petitionen ernfthaft verhandelt wurden, erzürnt feine Sachen zufammengepadt und das 
Zimmer verlaffen, weil es ihm zu „phantaftifch” wurde. 

Verſchiedene deutfche Landtage, die biß dahin „Feine Veranlaffung“ dazu gehabt 
hatten, erwogen in jenen Tagen die Frage de3 Frauenftudiumd. Da ift manches 
Wort gefallen, das gleich dem der Mädchenfchullehrer, „das deutſche Mädchen müſſe 
gebildet werden, damit der deutfche Mann fich nicht Iangweile”, in den Annalen der 
deutfchen Frauenbewegung aufbewahrt zu werden verdient. Es fei durchaus über: 
füffig, meinte damals einer der Volksvertreter, den Wirkungskreis ber Frau zu er: 
weitern; er genüge vollfommen. Es handle fich nur darum, den richtigen Punkt in 
biefem Kreis zu finden. Gute Köchinnen 3. B. feien immer gefucht und gut bezahlt. 
Zuweilen wieſen auch Huge Gegner auf da Schredgejpenft des weiblichen Richters 
oder gar des weiblichen Parlamentarier® am Ziele ded Weges, den ahnungsloſe 
Gönner der Frauenbewegung zu befchreiten gedachten. Und diefer Hinweis verfehlte 
feine Wirkung felten. Aber aud) der Auzblid auf den Einzug der Frau in bie 
Univerfität und das gemeinjchaftliche Studium der Gefchlechter ftimmte bedenklich. 

Kingsley bat einmal gelagt, jede neue Wahrheit erlebe auf ihrem Wege durch 
die Entwidlung der Menfchheit drei Phaſen. Zuerft jage man, fie fei falſch, dann, 
fie jei gegen die Religion, und jchließlich, jedermann habe fie fchon lange gewußt, fie 
jei ſelbſtverſtändlich. 

Optimiften — und die Frauen thun gut daran, optimiftifch über ihre Sache zu 
benfen — finden heute ſchon Beiveife dafür, daß der Gedanke der Frauenbewegung 











Allerlei Charakteriftifches zum Fortfchritt der Frauenbewegung. 645 


in jenes dritte Stadium fberzugchen beginnt. Zuweilen gewinnen diefe Beweife über: 
zeugende Kraft auch für fleptifcher Urteilende. 

In einer Verfanmlung des Vereins fludierender Frauen ſprach vor wenigen 
Wochen vor einem großen Kreis von Frauen und Männern, Studierenden und 
Gäften, Herr v. Gerlach über dad Thema: „Die Frau und das öffentliche Leben.” 
Schon der Charakter der Verfammlung möchte den Herren, die vor zehn Jahren die 
Frage des Frauenftudiund gar feiner ernften Behandlung wert hielten, überrafchend 

. gewefen fein. Seit mehreren Semeftern ſchwankt die Zahl der Studentinnen an der 
Berliner Univerfität zwifchen 300 und 400. Ihre Anweſenheit in den Auditorien ift, 
wenn auch noch nicht formel, fo doch thatfächlich felbftverftändlich geiorben. Und 
allmählich Hat ſich zwifchen ihnen und den Studenten jene gefunde „Communion of 
Labow‘“, jene glüdliche „Gemeinfamkeit der Arbeit” entwidelt, die eine der erften 
Führerinnen der englifchen Frauenbewegung als eigentliche Biel ihres Strebens 
hinſtellt. Sie ift noch felten in Deutfchland, und man bat wohl behauptet, daß fie 
deutfchen Traditionen zu wenig entipreche, um überhaupt bei und im Verkehr ber 
Gefchlechter zum Ausdrud kommen zu können. Daß von vielen Studenten und 
Studentinnen dieſer neue, kameradſchaftliche Ton gefunden ift, mag für die künftige 
Entwidlung ber Frauenbewegung bedeutungsvoller werben, als manches einzelne 
Zugeftändnis der Gefeggebung. Es ift ein Fortfchritt jener inneren Entwidlung, bie 
der Veränderung äußerer Formen vorausgehen muß, die fich in ihnen erſt materialifiert. 
Zreilih, Heut wird man aus dem fröhlichen Genießen des werdenden Neuen noch oft 
genug zu der Erfahrung gewedt, daß noch recht viele nichts won dem wiſſen wollen, 
mas einem oft ſchon über das Diskutiertwerden hinaus als felbftverftändlich erſchien, 
daß die Frauenbewegung den Charakter eines Kampf ber Gefchlechter noch nicht 
verloren bat. 

Man braucht nur an die drei Auflagen bes Buches über den phyfiologiichen 
Schwachſinn des Weibes zu denfen, oder an die Bemühungen bed Herrn Profeflor 
Koßmann, einer Bewegung, die er nicht aufhalten kann, wenigftend noch bier und da 
ein Heines Gewicht anzupängen. Das legte ift die auf feinen Antrag befchloffene 
Eingabe der brandenburgifchen Ärztefammer an den Reichstag, um die kürzlich erfolgte 
erfte taatliche Approbation von zwei Arztinnen, die auf Grund der Schweizer Maturität 
zugelaffen waren, womöglich noch rüdgängig zu machen.) 8 trifft fih ja, dag in 
denfelben Tagen die beiden erften deutfchen Mebdizinerinnen, die alle Borbedingungen 
rite erfüllten, die ftantlihe Approbation erlangten. 

So fieht man wohl getroft all diefe Hemmungen an wie bie geftrengen Herten, 
die, wie jeder weiß, in den legten Tagen des Spätfrühjahrs nod einmal kommen 
müffen. 

Ein andre aus jener Berfammlung erfdien noch mehr wie eine glüdliche 
Prognofe für die Zukunft. Der Vortrag behandelte die Frau und das öffentliche 
Leben — oder, um die vorfichtigere Faſſung durch die prägifere zu erfegen „die ' 
Frau und die Politik.“ Vielleicht iſt es das erſte Mal in der Gefchichte der deutfchen 
Frauenbewegung, baß von einer aus ben verjchiedenften Elementen bunt und zufällig 
zufammengetvürfelten Verfammlung die Forderung des Frauenſtimmrechts als das 
feloRverftändliche Ziel der Frauenbewegung widerſpruchslos anerkannt, ja als ſolche 


) ©. Frauenleben und :Streben. 


646 Allerlei Charalteriftifhes zum yortfchritt der Frauenbewegung. 


gar nicht einmal in die Diskuffion gezogen wurde. Wohl wurde von einer Zeur 
fonftatiert, daß ihre Erfüllung ſoviel Schatten= wie Lichtjeiten haben würde; daß dir: 
Erfüllung kommen müſſe, ftellte feiner der Diskutierenden in Zweifel. 

Es ift für den Deutſchen gewiß leichter, an eine gelebrte Frau zu glauben, al 
an eine, die Politik treibt. In feiner Hinficht Hat der Deutſche ſein Frauenideal un: 
ſoviel unflarer Sentimentalität ausgeſtattet, als in bezug auf ihre Stellung zuu 
Baterlande. 

Einerjeit3 Hat man von konfervativfter Seite immer wieder die deutſche Muttcr 
gepriefen, die in ihren Kindern die Liebe zum Baterlande, den Stolz auf feine 
Errungenfchaften in Krieg und Frieden, die Begeifterung für feine großen Männer 
weden und pflegen fole Man bat der Mäbdchenfchule eine „nationale” Grundlax: 
gegeben und verlangt, daß fie ihren Schülerinnen das Verſtändnis für die Aufgaben, 
die Kultur, die Entwidlung Deutfchlands erfchließen ſolle. Man erzählt ihren ven 
ben Frauen, die jelbjt mit in den Kampf zogen, und von den Fürſtinnen, die div 
Geſchicke ihres Landes zu überjeben und zu leiten verftanden. Und dann verlangt 
man von ihnen, daß fie fich jedes eignen Urteils begeben, fonfervativ mit dem 
fonfervativen Bater und dann womöglich Liberal mit dem liberalen Gatten denken, 
nie mehr ein felbjtändiges Intereſſe für die Kulturfragen ihres Vaterlandes befunden, 
jondern ſich damit begnügen, dem Gatten zu Saifer® Geburtstag die Ehrenzeichen 
anzufteden, die Kinder vaterländifche Lieder zu lehren und ihnen Schärpen zu 
nähen. 

Es war charakteriftiich, daß man jeiner Zeit in der Tagespreffe da3 öffentliche 
Eintreten de3 Allgemeinen Deutſchen Frauenvereinz für die Flottenvorlage wohlwollend 
begrüßte, während man die Erklärung einiger Frauen gegen die Getreidgölle als 
etwas durchaus Unpaffendes und Unweibliches binftellte. Man will den Patriotismus 
der deutichen Frau in den Formen jener Zeit feithalten, da man den deutſchen Mann 
auch nur zu nationalen Pflichten rief, wenn es hieß, das Vaterland nach außen zu 
verteidigen, ihm aber feinen Teil an der Arbeit des innern Aufbaus gab. Dean 
vergißt, daß der Schwerpunkt der nationalen Aufgaben mehr und mehr auf da3 
Gebiet der inneren Politik gerücdt if. Da müſſen auch die nationalen Intereſſen 
heute eine andre Nichtung nehmen, als zu der Zeit, da die deutiche Frau die Wagen: 
burg verteidigte und der Mann ihr das aufgezäumte Schlachtroß zur Brautgabe 
brachte, als ein Zeichen, daß fie jeine Gefährtin wie im Frieden, jo im Kriege fein 
ſolle. Die deutfchen Mädchen hören es in der Schule mit Stoß, daß die deutſchen 
Frauen zu fo hohem Dienft berufen waren, um nachher zu erfahren, daß fie heut: 
zutage nur die himmlischen Roſen ins irdifche Leben zu flechten haben. 

Aber auch darin beginnt der Wandel, wenn auch erſt langſam. Und daß es 
jegt Schon Männer giebt, für die e3 auch felbftverftändlich ift, daß die frauen an der 
Kulturarbeit ihrer Nation ihren vollen, unverfürzten Anteil haben, daß die afademifche 
Sugend für diefe Forderung eintritt, wie es an jenem Abend geſchah, läßt die Zeit 
nicht mehr zu fern erfcheinen, wo die Frauenbewegung ihr Ziel: Communion uf Labour 
auf allen Gebieten erreichen wird. | 








— — 





647 


— 





Bon 


Palesca Jachel. 


Radıprud verboten. u 
enn Friedländer fagt, daß zwar alle Darftellungen römischen Lebens unvoll: 
ftändig bleiben müßten, daß dies aber am meiften vom Leben der Frauen 


elte, „von dem fich zufammenhängende Anfhauungen am ſchwerſten gewinnen laffen“, 
0 hat er unzweifelhaft bis zu einem gewiſſen Grade recht; denn zu allen Zeiten wurde 
vom Manne das Frauenleben als etwas fo Unwichtiges betrachtet, da die bezüglichen 
Nachrichten in den Duellen aller Völker fich nur ganz zerflreut vorfinden. Dennoch 
wird der, der genauer zufieht, in den römischen Überlieferungen noch manches bisher 
Unbeachtete antreffen und nmamentlih folde Mitteilungen, die den bergebrachten 
Meinungen über bie der Heidin erwieſene Nichtachtung durchaus wiberfprechen. 
Allerdings fanden die Frauen Roms während der älteren Jahrhunderte gleich 
den erwachſenen Söhnen in der Mundſchaft; fie erbten nicht, Magten und verteidigten 
fi nicht, konnten verkauft und getötet werden. Aber dieſe Barbarei bedeutete nicht 
im mindeften eine Vergewaltigung durch den Starkeren, fondern fie berußte auf den 
Gefegen der Religion!), und fo lange der Ahnenglaube in Kraft land, richtete der 
römiſche Hausvater, von religiöfer Scheu gezügelt, vor den Augen der gefürchteten 
Ahnengötter?). Zudem feheinen mehrere Nachrichten, die eine ſehr hohe Achtung vor 
dem weiblichen Gefchlecht befunden, den Schluß zu fordern, es habe der Römer der 
älteften Zeit nicht anders als es für dem Inder und Hebräer bezeugt wird, das 
Gedeihen der Häufer von einer guten Behandlung der mater familias, der Haus: 
priefterin?), abhängig geglaubt. Nicht nur daß der ältere Cato, der bekanntlich gern 
altertiiimelte, eine uralte und heimifche Anficht ausgeſprochen haben dürfte, wenn er 
fagte: „Ein Mann, der feine Frau oder feine Kinder fchlägt, entweiht durch ruchlofe 
Hände das, was das Heiligfte und Geweihtefle in der Welt ift.“ Die Thatjache, daß 
während der erften fünf Jahrhunderte des Beſtehens der Stadt feine Eheſcheidung 
fattfand, ift ein Umftand, der, wenn man ihm mit verfchiedenen Gebräuchen vergleicht, 
nicht die Annahme zuläßt, er fei das Ergebnis männlicher Härte geweſen. Die Braut 
betrat nach einem alten Herkommen die Schwelle ihres neuen Heims mit den an ihren 
Bräutigam gerichteten Worten: „Wo du Hausherr bift, bin id; Hausherrin“; auch 
empfing die Hausmutter bis zum Untergange Noms von allen Familiengliedern, den 
Hausherrn miteingefchloffen, den Titel „Herrin“. Jeder Bürger Hatte den frauen 
— bie von ber Gefelligfeit in feiner Weile ferngehalten wurden‘) — auf der Straße 
auszuweichen, und es gab ein Gefeß, demzufolge jeder, der ſich leichtfertige Neden 
gegen eine Frau erlaubte, vor den Blutrichter geftellt wurde. Zu keinem häuslichen 
Geſchäfte waren die Frauen verbunden außer zur Anfertigung der Kleider. Eine 
Verherrlichung des weiblichen Gefchlechts, die mit dem Marienkultus auf einer Stufe 
fteht, zeigt fi in dem Inſtitut des Veftaprieftertums. Die Veftapriefterinnen befaßen 
viele und große, fie teilweife über die höchſten Beamten hinaushebende Vorrechte, als 
deren eined Plutarch erwähnt, daß fie noch bei Lebzeiten des Vaters ein Teſtament 


') Zuftel de Coulanges, La cite antique. Paris 1874. ©. 97. — ) ebenda 107. — 
3) ebenda 110. — *) Friebländer, Darftellungen aus der Sittengefhichte Noms ... Leipzig 1862. 


Die Römerin. 649 


hatten frei ausgehen laffen, zur Steuer heran und verminderten die Zahl der befteuerten 
Frauen von 1400 auf 400. 

Das Selbftgefühl der Cäfar-Bändigerinnen ging übrigens aus einer häuslichen 
Stellung hervor, die an Anſehen teilweife die der älteren Jahrhunderte überbot. Seit den 
punifchen Kriegen hatten die Töchter Roms mit Hilfe ihrer Väter es durchgefett, ſich 
durch Ehekontrakte eine Unabhängigkeit zu fichern, die fie oft genug über ihre Männer 
erhob.) Mit Ausnahme der Mitgift, die in die Hände des Mannes überging, behielt 
die Frau das freie Verfügungsrecht ſowohl über ihr eingebrachtes Vermögen als über 
das, was ihr fpäter dur Erbichaft aus dem Vermögen ihres Vaters zufiel. „Auf 
dieſe Weile ging ein ſehr beträchtlicher Teil des römischen Neichtumd in den 
unbefchräntten Befig der Frauen über.“ Der „Ichöne Profurator”, der Privatgeichäfts- 
führer der Frau, den der Ehemann als einen regelrechten Cicisbeo zu dulden und jogar 
mit Nüdficht zu behandeln Batte?), war fchon zu Ciceros Zeit eine Lieblingsfigur der 
Zuftfpieldichter und die von reichen Frauen gegen ihre Männer geübte Tyrannei 
— fie follen ihnen bisweilen Geld gegen hohe Zinſen geliehen haben — ein ftehendes 
Thema der Satiriker.?) Jeder Teil konnte die Ehe (öfen, und die Löſung gab beiden 
Teilen das Recht, ſich wieder zu verbeiraten. Daß von diefer Erlaubnis Gebrauch 
gemacht wurde, ift häufig genug gefagt worden; das außerordentlichite Beiſpiel der 
Art Führt Hieronymus an: er verfichert, daB in Rom eine Frau lebte, die an 
ben breiundzwanzigften Mann als deſſen einundzwanzigſte Lebensgefährtin verheiratet 
war. Man bat nun jehr viel Aufheben davon gemacht, daß mande Männer, obzwar 
fie in folchen Fall, uraltem Geſetze gemäß, ihr ganzes Vermögen einbüßten, ihre Che 
leichtfinnig und willkürlich trennten; nicht aber bat man das Leid und Unrecht in 
Betracht gezogen, das ebenſo oft dem männlichen Teil durch leichtfertige Löfung von 
Chen und Berlöbniffen zugefügt wurde. Sulia, die Tochter Cäfard, war mit Cäpio 
verlobt und follte ihm in wenigen Tagen angetraut werden; da hielt es plötzlich 
Pompejus für angemeffen, fie zur Gattin zu begebren, und er verfpradh, um den 
Unwillen des Bräutigams zu bejänftigen, diefem feine eigene Tochter, die dem Fauſtus, 
einem Sohn Sullas, zugejagt war.) Auguftus zwang feinen Stieffohn Tiberiuß, die 
Agrippina, die er liebte, zu verftoßen; auch erzählt man, es babe der Beraubte 
„großen Schmerz” über die Trennung empfunden, und als er der Gejchiedenen einit 
begegnete, fie mit jo „unverwanbdten und thränenvollem Blick“ verfolgt, daB man 
Sorge trug, fie ihm nicht wieder vor die Augen kommen zu laffen.’) 

Noch find andere Berichte und zwar in großer Zahl, weit über die von Fried: 
länder angeführten Beifpiele hinaus, vorhanden, die zur Widerlegung der von Gibbon 
und fo vielen andern erhobenen Behauptung dienen, dem Römer fei zartfühlende, 
achtungsvolle Liebe etwas Unbekanntes geweſen. Der ältefte Bericht diefer Art ſcheint 
bie Erzählung von dem Vater der Gracchen zu fein, dem Gatten der berühmten 
Cornelia; er ließ von zwei in feinem Haufe gefangenen Schlangen das Männchen 
töten, das Weibchen freigeben, weil ihn ein Wahrfager bedeutet hatte, wenn jenes 
zuerit jeinen Tod fände, würde er, Gracchus, feiner Gemahlin im Tode vorangehen. 
Der Senator Cajus Plautius Numida bing mit jo großer Liebe an feiner Gattin, 
daß er auf die Nachricht von ihrem Tode fich mit dem Schwert durchbohrte und 
nachdem feine Hausgenofien, bie ihn überrafchten, die Wunde verbunden hatten, den 
Verband abriß.) Als Marcus Plautius, der nach dem macedonifchen Kriege mit dem 
Oberbefehl über die Bundesgenoflen-Flotte betraut worden war, feine Gemahlin 
Oreſtilla duch den Tod verloren hatte, ftürzte er fich neben ihrem Scheiterhaufen in 
fein Schwert; man legte ihn der Vielgeliebten zur Seite und verbrannte beide 
auf einmal.) Lepidus, ber befannte Triumvir, mußte fich infolge der Untreue 
leiner Gattin, da es das Geſetz fo gebot, fcheiden laſſen; aber er ftarb, wie 


— —— — — 


i) Juvenal VI, 210 f. — Plutarch, Cato der Ältere c. 8. — Legouvé, Histoire morale des 
ſemmes. Paris 1869. ©. 150. — ?) Friedländer I, 273; 274 in Note. — °) Lecky, Sittengeſchichte 
Curopad. Leipzig 1879. II, 254. — *) Plutarch, Pompejus c. 47. — ?) Sueton, Tiberiud c. 7. — 
*) Valerius Magimus IV, 6,2. — °) ebenda IV, 6,3. 


Die Römerin. 651 


zu eigen geweien find, jo gemährleiflen noch viele Berichte von direkter Art 
den geiftigen Standpunft der NRömerinnen als einen merkwürdig hohen. Es ilt 
bierbei nicht nötig, auf einzelne Geftalten zu verweifen, etwa auf die kluge Polla 
Argentaria, die Gemahlin de3 oben erwähnten Zucan, die im flande war, ihren 
Gatten bei feinen Arbeiten zu unterftügen, oder auf die Satiriferin Sulpicia, oder 
auf die in der Redekunſt hervorragende Lälia!), eine Tochter des Redners Lälius, 
oder auf Cornelia, die Mutter der Gracchen, deren ausgezeichneter Bildung und Er: 
ziehungsgabe man den Hauptanteil an der Trefflichleit ihrer Söhne zufchrieb, oder 
auf die jpätere Cornelia, die Gattin des Pompejus, die mit befcheidenem, fchlichtem 
Weſen und mit zärtlicher Liebe zu ihrem Gemahl eine gediegene SKenntniß der 
Ichönen Wiffenfchaften, Mufit und Geometrie verband und gewöhnt war, philo- 
fophische Schriften mit Nugen zu lefen.?) Gleichviel, welches Motiv Epiltet den 
Nömerinnen unterfchiebt — er weiß mitzuteilen, daß fie fih mit dem Studium 
des platonifchen Staats befchäftigten.?) Nach dem Zeugnis de Juvenal — 
der, beiläufig gejagt, die Männer für den verderbteren Teil des vwerderbten Rom er: 
Härt*) — vermochten nicht wenige Frauen fich trefflich in der griechiichen Sprache aus— 
zudrüden, entwarfen al® Kläger und Bellagte die Gerichtgreden mit eigener Hand 
und nahmen e3 in der Kenntnid des Rechts mit den beiten Suriften auf; audy waren 
fie mit Gefchichte, Litteratur und Grammatit gründlich vertraut, ja nad dem 
Geſchmack und ehrlichen Bekenntnis des Scharfzüngigen viel zu jehr; denn „dent 
Manne muß Schniger zu machen erlaubt ſein“.“) Schon zu Dvids Zeit wurden Die 
Stüde Menanders in Mädchen: wie in Knabenſchulen gelefen, ®) und zumeilen lajen bie 
Mütter felber mit ihren Töchtern Homer und Birgil.”) Daß die Frauen „Verfe 
machten, griechifche und Iateinifche, war in einer Zeit des wuchernden poetifchen 
Dilettantismus natürlich und daß die Dichterinnen ſich gern mit Sappho vergleichen 
ließen, nicht minder. Machten fie nicht jelbft Gedichte, fo Eritifierten fie fremde”. *) 
Irrt Friedländer fich nicht, jo befaßen die Römerinnen „ehr gewöhnlich” die Fertigkeit, ' 
eigene Verſe oder die Gedichte andrer nach ſelbſt gejegten Melodien auf der Laute 
vorzutragen.*) Auf antiken Bildern ſieht man überrafchend Häufig Malerinnen 
dargeftellt; auch wird von einer gewiffen Sata, die lebenslang Jungfrau blieb, berichtet, 
fie Habe ſowohl mit dem Binfel ala mit dem Grabftichel Bildniffe ungemein ſchnell 
und fo vorzüglich berzuftellen verftanden, daß fie weit beffer bezahlt wurde als bie 
berühmteften Maler ihrer Zeit. 1%) 
Endlich ift es ein für den feeliihen Wert der Römerinnen höchſt ehren: 
voller Zug, daß Meinungsäußerungen wie die des Frauenhaſſers Cato, jobald 
bei öffentlichen Beratungen die echte der Frauen zur Sprade kommen, 
gewöhnlich zurücdgewiefen werden. Als Gato mit Bezugnahme auf dag Oppiſche 
Gefep tiber die „Unbändigfeit” der römifchen Weiber fich ereiferte, warf Lucius 
Valerius fih zum Derteidiger der Frauen auf und führte ihre Sache durch. 
Als Severus Cäcina den Frauen die in der Provinzverwaltung auftretenden Mißſtände 
zur Laſt legte, erfuhr er den heftigen Widerfpruch der Majorität, und Valerius 
Meffalinus antwortete: „Vergeblich wolle man dem Mangel an Mannheit bei den 
Männern einen fremden Namen unterlegen; e3 ſei doch nur de Mannes Schuld, 
wenn das Weib aus den Schranken gehe.“1) Als Metellus in feiner Rede über die 
Ehe die Frauen als ein notwendiges Übel bezeichnete, übernahmen ſofort mehrere 
Redner die Ehrenrettung des weiblichen Geſchlechts; fie erklärten, es rührten die libel 
der Ehe in den meiften Fällen von den Fehlern und Ungerechtigkeiten der Männer ber. !?) 
Sp blieben auch, wie Plinius überliefert, felbft diejenigen „Lärmreden” 3) Catos, in 
denen er die uralte und vielgepflogene 1?) Sitte anfocht, Frauen auf Gemeindeloften durch 


) Duimtilian I, c. 1. — ) Plutarch, Pompejus c. 55. — ?) Epiltet, Handbüchlein der Moral. 
Überf. v. Stih c. 58. — *) Juvenal II, 36 ff. — 5) Juvenal VI, 455. — °) Friedländer III, 275. — 
’) ebenda J, 265. — 9) ebenda I, 290. — ®) ebenda I, 267. — 10) Plinius, Naturgefchichte. Stuttgart 
1840. S. 4017. — !') Tacitus, Jahrbücher. Über. v. Gutmann. IH, c. 1. — '*) Gellius, Oeuvres 
complenen. Przis bei Garnier freres. I, c. 6. — 19 Plinius, Naturgeſchichte 34, c. Id. — 1) Fried: 
änder III, 168, 


662 Die Römerin. 


Standbilder zu ehren, ohne jeden Erfolg; man fuhr fort, deren in den Provinzen und 
in der Hauptfladt zu errichten, und e3 werden u. a. für Nom ein Standbild der Veſtalin 
Suffetia erwähnt, eines der Cornelia, drei Standbilder der Sibylle und ein Reiter 
Kanbbild der Clölia. Auch fuhr man troß Cato fort, den Frauen die größte Freibeit 
im Verkehr zu gewähren, jo baß fie, einerlei ob jung oder alt, ohne Begleitung im 
Theater, im Zirkus, in den Tempeln und bei Gaftmäßlern ericheinen burften 
Ja, man fuhr fort, den Frauen einen fehr häufig!) gelibten und oftmals recht günitigen 
Einfluß auf die öffentlichen Angelegenheiten zu geſtatten. So trat Pulvia, die Ge— 
mahlin des Antonius, das Schwert an der Seite, den Helm auf dem Haupt, vor 
die von ihr gefammelten Legionen, hielt Anfprachen an die Krieger und verrichtete 
alle Gefchäfte eines Feldern. Tiberius ließ fih in allen Dingen von Antonia, 
der Teufchen Witwe des Drufus, leiten.) Als die Beſatzung von Caftra Betera 
im Jahre 15 n. Chr. die Nheinbrüde abbrechen wollte, weil dad Gerücht laut wurde, 
es fei das römifche Heer vernichtet und dasjenige der Germanen in vollem Anmarid 
begriffen, widerfegte fich Agrippina, die edle Gemahlin des Germanicus, dem Beginnen 
und ſah zu ihrer Freude bald darauf vier übel zugerichtete Legionen die Brüde befchreiten. 
Auch Weiterhin vertrat fie die Stelle ihres abweſenden Gemahls, indem fie die 
Mufterung über bie Geretteten abhielt, Kleidung und Verband fpendete und ihnen 
den Dank des Vaterlandes ausfprad.”) Daß die Kaiferinnen ihre Gatten auf 
den Kriegäzügen begleiteten, war elwas ganz Gewöhnliches; Cäfonia, die ſechſte Gr: 
mahlin des Caligula, pflegte im Soldatenrod neben dem Kaifer eingerzureiten. Von 
anderer Sinneart war Plotina, die kluge, ernfte, beſcheidene Gattin Trajans; fo oft 
der Kaiſer von einer friegerifchen Unternehmung in Anfpruch genommen war, führte 
fie die Negierungsgefchäfte. Und ſolche Negentichaft fteht nicht vereinzelt ba; auch 
unter felbftthätigen Kaifern nahmen die Kaiferinnen häufig an der Regierung bedeutenden 
Anteil.) Sogar Auguftus, einer der größten Staatdmänner aller Zeiten, ließ ſich 
oftmals von feiner Eugen Gemahlin leiten; ja, „man erzählte fi in Nom, daß er 
nie mit Livia ein wichtiges Geipräch führe, ohne ſich fhriftlich darauf vorzubereiten“. °) 
In den Provinzen ſah man vielfach die Gemahlinnen der Statthalter den Übungen 
der Truppen beiwohnen, fi unter die Soldaten mifchen, von Genturionen umgeben; 
fie beteiligten fih an den Geſchäften, und die Provinzialen mußten zwei Hofhaltungen 
ihre Aufwartung machen und hatten mitunter doppelte Erpreſſungen zu erleiden.) 
Vielleicht am deutlichſien charakterifiert den weitgehenden Einfluß, den die Nömerinnen 
ſich zu verfchaffen mußten, das Schlußwort der bereit3 erwähnten, von Gäcina gegen 
die Frauen gehaltenen Rebe: fie beherrfchten, „der Feſſeln ledig, Käufer, Gerichte und 
bereit8 auch Heere.“ 


) Ley a. a. ©. II, 254. — 2) Flavius Joſephus, The Antiqnities of the Jews. Über!. 
v. Whiſton. London. XVII, c. 6. — 3) Tacitus, Jahrbücher I, 69; vgl. Klemm, Die Frauen. 
Dresden 1859. III, 99. — *) Zriebländer I, 288. — 5) ebenda. — 9 ebenda. 





—>- der Sinzig > 


Roman 


von 


G. Pelp. 


Nachdrud verboten. 


Aawinete Wagner ſchiebt das weiße 
Morgenhäubchen auf die blonden Haare; ſie 
hat die ganze Nacht nicht geſchlafen, immer 
angeſtrengt auf jede Bewegung von Fritz nach 
der angelehnten Thür hingehorcht. Er iſt 
merkwürdig ruhig geweſen, kein Stöhnen, 
Herumwerfen, Seufzen. Und welchen inner⸗ 
lichen Kampf wird er gekämpft haben! Ihr 
armer, armer Junge! Seinem Herzenstraum 
entſagen ſollen, das kann nicht leicht ſein, dem 
weichen Gemüt ihres Fritz gewiß nicht. Wie 
Ihwer wird es ihr ſchon, an die Etelle, wo 
die Tiebe, lachende Mile geweſen, Emmy zu 
ſetzen. Die wird ihr immer fremb bleiben. 
Sie allein hat's doch gejeben und mahr: 
genommen, was in dem jungen Menfchen 
vorging. Und foll nun aus fein. — Reif ift 
über Nacht gefallen. Sie hat ihre leifen 
Thränen getrodnet, ihre Hände gefaltet. „Gott, 
gieb, daß er’3 hinnimmt und trägt, nad 
deinem Willen, was fein Vater nun einmal 
will!” und wieder Thränen und wieder die 
Bitte. Stunde um Stunde ift verronnen, 
jede hat die alte fchnarrende Standuhr auf 
dem Eftrihvorplag da draußen angezeigt. 
Wenn fie nur müßte, ob ihr Junge ge: 
ſchlafen hat. 

Das Gefiht ift bla, das ihr aus dem 
Epiegel entgegenfteht, und dunkle Ringe liegen 
unter den Augen. Das Leben ift ihr ſchwer, 
jehr fchwer geweſen in all der Wohlhabenheit 
des Hauſes. Nun bat fie gemeint, es wäre 
ihr fchuldig geworden, daß es ihrem Einzigen 
gut geben müßte. Mber, da ift bald die 
Krankheit gefommen und bat ihn zu einem 
Eorgenfinde gemacht. Und nun? 

Sie trägt ein graues Morgenfleid, einen 


.IRANLUTTMUUG 


(Schluß von Seite 619.) 


Ichlichten, meißen Halsfragen und faßt nad) 
der fauberen, blauen Küchenjchürze mit dem 
frifchgebügelten Knid. 

Der Tag ftellt feine Anforderungen wieder 
an fie. 

„Bit du Schon auf, Mutter?” klingt es 
aus dem Nebenzimmer. 

„Ja, mein Junge!” und fie unterbrüdit 
den Seufzer. 

„Dann will ih auch —.” 

Sie faßt nah dem Schlüſſelkorb und 
fommt an die Thür. 

„Ad, nein doch, bleib man noch liegen. 
Erbol’ dich.” 

„sb bin ganz Träftig.” 

Sie geht hinein, zieht den Vorhang auf, 
daß die Sonne einfällt, und tritt dann an 
fein Bett. | 

„Haft ſchlafen können?“ 

„Ganz gut.“ 

Sie verſucht zu lächeln. „Das iſt aber 
recht geweſen,“ meint ſie und ſtreicht ihm das 
volle Haar aus der Stirn und ſetzt ſich auf 
den Rand ſeines Bettes. „Und ein ſchöner 
Tag wird!“ 

„Glaubſt du das wirklich, Mutter?“ fragt 
er. „Ich meine, es wird wohl ein ſchwerer 
ſein!“ 

„Ach, mein Fritz, mein Fritz!“ 

Er richtet ſich auf, und wie ſie in ſein 
Geſicht ſieht, dünkt es ſie, als ſei ein fremder 
Zug hinein gekommen. Den einen Arm um 
ihre Schulter gelegt, mit der anderen Hand 
über ihre Backen ſtreichend, ſagt er: „Arme 
Mutter! Was für ein ſchweres Leben haſt 
du gehabt. Immer getragen, getragen, ge— 
tragen!“ 








654 


Eie fieht zu Boden, auf das Mufter des 
Heinen Teppich bin, der vor dem Bett liegt 
— Roſen und Tulpen. 

„Mein Junge, das ift ja wohl das Los 
der meiften Yrauen. Es fteht in der Bibel 
— fieh, das babe ich mir immer vorgehalten —“ 

„Wenn er dich gar zu fehr tyrannifierte.” 

„Ad, laß das!“ 

Nun ftreichelt er ihre Kleinen, fleifchigen, 
verarbeiteten Hände. 

„Der große, große Egoift!” 

„Fritz, das liegt in den Männern, fie find 
die Herren, fie haben den Willen!” 

Langſam fchüttelt der junge Menfch den 
Kopf. „Ih mil es dir gleich fagen, id 
füge mih nicht. Sch laſſe mich nicht mie 
eine Ware behandeln.” 

„Fritz!“ Wie am geftrigen Abend ſieht fie 
ihn mit großen, erfchrodenen Augen an. 

„Ich heirate Emmy Roth nicht!“ 

Set weiß fie, was das Fremde ift, das 
fie in feinem blaſſen Geficdht entdedt hat: Ein 
fefter Wille, der über Nacht über ihn ge= 
fommen it. 

„Fritz!“ Sie rüdt ein wenig von ihm ab. 
„Mein lieber, lieber Sunge! Was foll dir 
denn anders übrig bleiben? Er will es doch 
nun einmal!” 

„Und nun und nimmer gebordy’ ich!“ 

„Wegen — Mile!” flüftert fie. 

Ein rofiger Schein Tommt über feine 
Baden, und feine Augen glänzen. „Du weißt 
e3, daß ich fie lieb habe!“ 

„Ach, mein Herzensfritz!“ 

„Mile!” Eine Falte rüdt feine Brauen, 
die dunkler find als fein Haupthaar, faft 
ganz zufammen. 

„Mile!“ Sein Mund zudt, er ſchlingt die 
Hände ineinander, und fie fieht, wie fich feine 
Iranfe Bruft hebt und fenft. 

„Das wäre das höchſte Glück getvefen,” 
fagt er mit einem traumberlorenen Blick ins 
Weite. Dann blendet ihn der Sonnenftrabl, 
und er wendet den Kopf. „Und ich habe mir 
eingebildet, er verſtehe mich, als er mich fragte 
— ad, Mutter, ob ich ſchon Eine gern 
gehabt.” 

„Er fragte dich.” Sie weiß es beffer, 
was er gedacht hat. O, ihr guter, unfchuldiger 
Junge! 


Der Einzige. 


„Arme, arme Kinder!” 

„Aber, Mutter, wenn ich fie mir aud 
nicht erfämpfen fann — den Willen mit te 
andern thu’ ich ihm doch nicht.“ 

Eie ringt die Hände. „Hat er fden 
mal fein Wort zurüdgenommen? Tas Bı 
noch Fein Menſch erlebt!” 

„Daß ih mich nicht füge, Das wird ır 
erleben.“ 

„Darum ſollſt du doch Eichberg nur 
kriegen.“ 

Und ſie meint, es hebe ſich da aus der 
eindringenden Sonne heraus das alte graue 
Haus mit dem Turm, umſtanden von vielen 
Bäumen, mit dem freundlichen Roſengarten. 
den ſie immer angeſtaunt hat, wenn ſie bin 
kam. Die Blumeroder machen ihre liebſien 
Spaziergänge nach dort. Mile hatte ſie auf 
der Schwelle geſehen, an ben blanken Scheiben. 
zwiſchen den hoben Nofenftöden unb neben 
ihr den, der ihr einzig Gut und? Glück au 
der Melt if. — ihr Sorgenlint. 

Antoinette Wagner ftarrt hilflos wor Tid 
hin. „Mile giebt er dir nicht!” 

„Das glaube ich felber niht. Aber —“ 

Zwei ſchwere Thränen rollen fiber da? 
Geſicht der Matrone. 

„Die unglüdlid bin ich!” 

„Warſt du's nicht immer, arme Mutter?“ 
Er legt feinen Kopf an ihre Schulter. „Neben 
einem Menſchen, den bu nicht lieb haben 
konnteſt.“ 

Eine ganze Weile iſt's ſtill in dem Raum, 
die Uhr vor der Thür holt aus und ſchlägt 
dann heiſer. Die Hähne krähen unter dem 
Fenſter, das Federvolk wartet auf die Haus— 
frau, die ihm um dieſe Zeit das Futter 
bringt. 

Dann dreht fi) Antoinette Wagner herum 
und ficht ihrem Sohne voll ins Geſicht. 
„Lügen will ich nicht, mein Junge. Sch babe 
ihn aud) mal lieb gehabt. Bon Herzen. Nicht 
zuerft, da war ich ihm nur gut. Mir waren 
ja aud fo zufammengebradyt. Nach meinem 
Willen hatte midy Feiner gefragt. Dann 
plößlic) gingen mir die Augen auf für all das, 
was gut an ihm ift, und daß er fo Hug war 
und hoch ftand, und er behandelte mich aud 
gut. Und du kamſt auf die Welt! Sa, id 
babe ihn lieb gehabt und zu ihm aufgefchen 











Der Einzige. 655 


und babe ihm jeden Wunſch von den Lippen 
gelefen und — ad), was hätte ich nicht noch 
tbun tollen und Lönnen.” Sie fdhmweigt, es 
jchüttelt fie, ald ginge ein Froſt über fie hin. 
„Aber, das wurde anders!” 

„Mutterchen, Mutterchen, er wurde zu dem 
faltherzigen Egoiften! Nicht, das war's?“ 
Eie nidt, und dann find fie wieder beide ftill. 

Das Schreien und Krähen draußen wird 
ungebuldiger; fie ſteht mechaniih auf. „Ich 
muß runter!” 

„Dein Junge, mein Frib,” fie bittet mit 
weicher Etimme, „bedenl' dich noch.” 

„Ich fürdte mid nit. Thuſt du es?“ 

„Warum follte ich's noch? nicht für mid). 
Dich, mein Zunge, dich —” fie ftoct, fie geht 
nad ber Thür und fagt von dort herüber: 
„Geh' ihm menigftend nich’ glei unter bie 
Augen.” 

Zangfam find ihre Schritte auf dem Eſtrich⸗ 
boden, ſchwer auf der Inarrenden “Treppe. 
Wenn er fie nur nicht hört. Aber, da ift er 
fhon, er fteht in der offenen Hausthür, vor 
fih hinpfeifend. Seine breite, wuchtige Geltalt 
fült faft die ganze Öffnung aus, und er 
achtet den Windzug nicht, der über die Diele 
fommt. Die ſchwarzweißen liefen glänzen 
noh von der Feuchtigkeit, fie find eben ge- 
fäubert. 

Der große Hund fteht neben ihm, und 
feine Hand ftreicht über feinen Kopf. 

Sa, die Inarrenden Etufen haben fie ver: 
raten, er wendet ſich halb herum. Sie konnt's 
ja wiſſen, er ift auch immer pünktlich, die Uhr 
fann man nad ihm ftellen. 

Ehe fie ihm guten Morgen fagen Tann mit 
einem fcheuen Blid in fein Geficht, ruft er: 
„Ra, mas macht das Mutterföhnden? aus: 
geichlafen? will's hoffen, muß ihn Sprechen.” 

„Es bat ihn angegriffen, die Hibe, die 
Menfben —“ murmelt fie. 

„Unfinn!” 

„Sollteſt man erft rausgehen, Magner.” 

„Natürlich! ich geh’ aber nich’ erjt raus! 
Sch will den Herrn Cohn erſt mores lehren. 
Schimpf und Schande war's, eine Undankbar- 
feit fondergleihen. Geſchämt habe ich mich.” 

„Ah — darım! Bor Rothe!“ 

„Du!” 

Der Schlüffeltorb Hirrt leife an ihrem Arm. 


„Lie find nid’ fo, Wagner. Die ver- 
gefien jo was! Sind ja aud beide nid’ 
davon ber.” 

„So! Er ift aber jebt der Senator Roth 
und ein reiher Mann, und fie ift feine frau. 
Un’ in ein paar Monaten find Wir ver: 
ſchwägert.“ 

„Willſt du nich' wegen Fritz den Sanitätsrat 
anrufen, wenn er vorbei kommt?“ 

Er ſtampft mit dem Fuße auf. „Die 
ewige Wehleiderei! Nein!“ 

Die zweite Magd kommt mit dem Kaffee 
über den Gang. Er wendet ſich ab und geht 
in die Stube. 

Frau Antoinette ſchließt die Speiſekammer 
auf, entnimmt verſchiedenen auf der Erde 
ſtehenden Behältern das Hühnerfutter, füllt 
einen Korb und ſtößt auch die untere Hälfte 
der geteilten Hofthür auf. 

Gackernd kommt das Hühnervolk an⸗ 
geflattert, die Hälſe werden lang, die Flügel 
ſchlagen. „Nur Ruhe,“ ſagt ſie und geht erſt 
bis zur Mitte des Hofes, eh' ſie auszuſtreuen 
beginnt. Dann ſieht fie zu. Dasfelbe Spiel 
Winter und Sommer, ein paar mal am Tage. 
„Ruhe! Ruhe! Geduld!” 

Ihr Junge, ihr armer Junge! und fie ift 
fo Hilflos. Aber pflichtgetreu blickt fie umher. 
Da find die Waflernäpfe nicht gefüllt, da ift 
nicht gefegt vor dem Entenftall. 

„Tine! Tine!” ruft fie. 

Wie das fchnattert und flattert; fie Bat 
ein paar Lieblingshennen, das bunte, in der 
Eonne glänzende Gefieder iſt auch Miles 
Freude. Bald muß fie wieder die Gluden 
fegen. Der Kleine, weiße Epit liegt drüben 
und wedelt mit dem Schweif; es ift ein ganz 
gewöhnlicher Schäferhund, den Frig aufgezogen 
hat. Sie bat ihn darum lieber ald den großen 
Zeonberger, der ihren Mann immer auf feinen 
Gängen begleitet. Sa, aber Tine ift doch 
fonft verläßlid. Eie ruft noch einmal. 

Erft nah einer Weile fommt das andere 
Mädchen. 

„Wo ift Tine?” 

„Die i8 ja wohl ganz narrih —“ 

„Wie fo?“ 

„De fitt in de Kammer un’ hüelt.“ 

„zine? bijt auch wohl narrſch. Habt ihr 
euch gezanlt?“ 


656 


„Ne!“ 

„Was iſt denn los?“ 

„Na Hus will ſe!“ 

„Nach Hauſe?“ Frau Wagner giebt der 
Stehenden den Korb. „Die Enten kriegen 
noch und dann feg' und bring friſch Water.“ 

„Ja, ja!“ ſagt Hanne und ſchlurft mit 
langſamen Schritten nach dem Entenſtall und 
ſchiebt mit Umſtändlichkeit den Riegel zurück. 

Viel Fragen iſt nicht die Sache der Frau; 
ſie geht nur ein wenig ſchneller als vorher. 

„Morgen, Fru Holzherrn!“ ſagt der Knecht, 
der mit einer Trage quer über den Hof kommt. 
„Nu kümmt et aber!“ 

„Was denn?“ 

„'s Fräujohr!“ 

„Ja ſo! freilich. Nu kümm't!“ 

Neben der Mädchenſtube hinter der Küche 
iſt die kleine Kammer von Tine, Hanne ſchläft 
oben mit der alten Franken, die als Tagelöhnerin 
einen Gnadenunterſchlupf im Hauſe hat. Auch 
in der Küche hat die ordnende Hand von Tine 
bereits gefehlt. Die taube Franke ſitzt auf 
einem niedern Stuhl und putzt Meſſer. 

„Morgen!“ An ihr vorbei geht die Haus- 
frau und klinkt mit fcharfem Drud die Thür 
der Mädchenſtube und dann die von Tines 
Kammer auf. 

Konrad Wagner hat feine große Tafle noch 
nicht geleert, die Zeitungen, die ber Poftbote 
ibm durd das Tenfter gereiht, auch nur 
flüchtig durchblättert. Man fieht ihm die 
Mipftimmung an. Als feine Frau nad) einer 
Meile eintritt, giebt er feinem Stuhle einen 
Nud und fagt: „Schöne Wirtfchaft! Als ob 
feiner im Haufe wäre, laßt einen da allein 
figen.” 

Sie ftelt den Schlüffelforb mit einer 
baftigen Bewegung hin und bleibt neben dem 
Sofa ftehen. 

„Das vergißt du doch oft genug, daß du 
Frau und Kind im Haufe haft!” 

Er fieht in die Höh, verzieht den Mund, 
ftreicht die Zeitung glatt. „Was fällt denn 
dir ein?“ 

„Auch ’mal die Wahrheit, Wagner!” 

„Laß die Albernheiten, zu Spaß bin ich 
nid aufgelegt. Dafür hat dein Söhnen 
geſtern Abend geforgt.” Dann ſteht er auf, 
geht nach dem Fenſter, betrachtet das Wetter: 


Der Einzige. 


glas, twirft einen Blid nad der Ubr und hir 
zurüd an den Platz. „Er fol endlich runırı 


| Tommen, ich babe mit'm zu reden.” 


Die Fleine, zierliche Frau ſteht noch in der— 
felben Haltung, ihr feines Geficht hat cm 
fteinerne Ruhe. 

„Wenn du etwa ein Etrafgericdht halten 
willſt, Wagner —“ 

„Dadrum werde ih dich grade fragen. 
Du baft'n verzärtelt, du —“ 

„Was ich gethan habe, iS jeßt einerlcı 
Eh Fritz kommt, habe ich mit dir zu fprecben — 

Er madt die geballte Hand, mit der cı 
auf den Tiſch Schlagen wollte, auf und zu, 
und läßt fie gelöft hängen. 

In all den langen Sahren ibrer Ehe tritı 
die da zum erftenmal ihm feit und fide 
gegenüber. Er findet vor Erftaunen kaum 
Worte, dann ruft er: „Was ich gefagt habe, 
das halte ich — ihr fennt mih. Davon keit: 
die Maus Fein Haar. Sch Heike Konrad 
Wagner. Wenn der Junge andere Gebanten 
bat, muß er fie fih aus'm Kopf fchlagen. 
Beltimmt is beftimmt. Un’ nu feß dich zum 
Donnerwetter bin!” 

Sie jchüttelt den Kopf. 

„Ich babe ganz etwas andred, Wagner —" 

„Nu — denn —” 

„sh will über dich und mid mit dir 
Ipreben!” Und raſcher, wie fonft fallen dir 
Worte von den Lippen; „barüber, daß tu 
mich gekränkt haft, mit Füßen getreten, be— 
banbelt haft, wie'n Haustier, das man ein: 
mal bat — ich kann's nich fo ſetzen — aber 
mal habe ich doc in einem von beinen ge: 
lehrten Büchern was von Frauenwürde ac: 
lefen —” 

„Du bift wohl —” 

„sb bin vernünftig, Wagner, ganz ver: 
nünftig. Geheult babe ih nid’ und Wiber: 
worte auch nich’ gehabt, und dein Haus verforgt 
und unfer einziges Kind aufgezogen. Haft mir 
nie'n Bortvurf machen können —” 

„Ra, alſo —” 

„Aber, was die Frauenwürde bebeutet, was 
ja wohl fo viel is, wie die Achtung vor der, 
mit der man mal an den Altar getreten iö 
und fie zu ehren und lieb zu haben verfprocen 
bat — das haft du bei mir mit Füßen ge: 
treten, rein gezogen in'n Schmutz. Die Yeute 


Der Einzige. 


haben mich erfi ausgelacht, und dann habe ich 
fie gedauert. Ich habe alles geſehen und alles 
gewußt, aber ich bin hin und ber gegangen 
und babe gethan, als wär' id dumm und 
blind. Ich Habe ja verfprochen gehabt, dab 
ich gehorfam fein wollte gegen meinen Mann!” 

„Dummbeiten!” brummt er, „alte Sachen 
aufrühren! ein laſſen — werben jegt alte 
Leute!” aber, er fieht fie nicht an. 

„Ja, wir find alt neben einander geworben, 
Wagner — jeber auf feine Art. Aber, ein 
älterer Mann, der an feine grauen Haare 
denkt, daß er fie in Ehren hält, bift du nid’ 
geworben.” 

„Ru hör' auf!” 

„Wenn id über Tine mit dir gefprochen 
habe.” 

Lang gezogen „Ad fo!" 

„Das junge Ding figt in feiner Kammer 
und meint und will fort. Es kann da nicht 
bleiben, fieht e8 ein, wo der Mann im Haufe 
ihm nacftelt.” 

„Ah, Dummheit. Ich hab's erſchreckt 
diefe Nacht. Das is alles! Wenn man Iuftig 
nad Haus kommt!” 

„8 alles —“ die Stimme der Frau wird 
leifer, „weil Tine an das gedacht hat, was 
es in der Chriftenlehre gelernt hat.” 

„Meinswegen!“ Cr verzieht den Mund 
zum Pfeifen. „Wenn man mal an 'ne Kammer: 
thür Hopft —. Du haft ja fo ’ne ſchöne 
Nede gehalten. Du meißt doch —“ 

„Bas in diefem Haufe ſchon vorgegangen 
is! Jal“ 

„Das dumme Frauenzimmer foll fi nich’ 
haben und machen, daß es raus fommt!” ruft 
der Holzherr plöglich zomig. „Ich will's gar 
nid’ mehr fehn!” 

„Sollſt's auch nich” — Mann! Noch in 
diefer Stunde foll bad Kind fort.” 

„Alfo!” Er dreht ihr den Rüden und 
will nad) feinen eitungen faſſen. Eie ift ihm 
unbequem; al die Jahre her hat er feine 
Heinen und großen Späße gehabt, und fie ift 
an ihm vorbei gegangen und bat ihn im Uns 
fihern gelafjen, ob ſie's gemerkt ober nicht. 
Sein Herrenredht, das hat er geltend gemacht 
in der Welt, das ift wahr und ging feinen 
was an. Heute fühlt er fih zum erftenmal 
befchämt; feine grauen Haare, ja! Und daß 





657 


er wie ein junger Burfhe Dummbeiten gemacht 
bat mit dem ſchweren Wein im Kopf. 

„Alſo — ſchichs weg!“ 

„Es is dod der Anna ihr's —“ und 
wieder Ieifer, fi halb hinüber beugend, daß 
ihre Lippen faft fein Ohr berühren: „Anna, 
ber du 'ne Ausſteuer gegeben Haft und bie 
den Walbarbeiter Feiſt freien mußte in Sonn- 
burg. Die!” . 

Konrad Wagner wiſcht mit der flachen 
Hand über feine Stirn, eine plötzliche Hitze 
überlommt ihn. 

„Ich — ich — weiß nid" — 

„Wirſt di ſchon erinnern, Wagner. Die 
blonde, hübſche Anna! und der vertrunfene 
Kerl, der's nid” fo genau nahm, wenn er nur 
Geld ſah.“ 

Er fieht fie unſicher an, daß ihn das nichts 
angeht, möchte er jagen, kann's aber nicht. 

„Sie war bis dahin, wo fie leichtfinnig 
wurde, — gewiß aus Dummheit, Wagner, bei 
vielen von ben armen Geſchöpfen verrüdt das 
ja den Kopf, wenn wer nach ihnen gudt, der'n 
Herr i8 — bis dahin war fie ’ne brave und 
willige Kreatur. Un’ hat's gebüßt! Grund: 
elend hat fie ber verfoffene Menſch gemacht; 
schauen hat er fie und hungern laſſen mit 
ihren armen Würmern!” 

„Hm!“ feine Hände fnittern das Papier, 
er fharrt leife mit dem Fuße. Es überfonmt 
ihn zornig, er möchte mit einem Fluche bie 
Trage herausichreien, warum fie denn grade 
die Tochter von der blonden, hübfchen Anna, 
die er plöglih vor fich fieht, in fein Haus 
brachte, und kann's nicht. Und als läfe fie 
in feinem Herzen, fpricht fie weiter. 

„Ich wollte das Kind nich’, die Tine, — 
's i8 ihre Ältefte! Aber der Lehrer, ihr Vor- 
mund, bat fo. Und hab's genommen und 
meinte e3 gut und wollte gut machen. Ja — 
Wagner!” dann finft ihre Stimme. 

„Hm!“ macht er, aber es ift ein ſtöhnender 
Laut. 

Sie legt ihm die Hand auf die Schulter, 
und fo Hein bie iſt, er zudt doch darunter 
zufammen, als hätte fie Centnerſchwere. 

„Kannft Gott danken, Wagner, daß bas 
Mädchen nid feiner Teihtfinnigen Mutter 
nachgeſchlagen is! Ich — ich habe es auch 
getban —“ 

42 


658 


„grau, Frau!” murmelt er und fällt gegen 
die Stuhllehne zurüd. 

„Ja —“ Sie fett fih jeßt, die Hände im 
Schoß, den Blid auf ihn gerichtet. 

„Antoinette!” jagt er nach einer Weile. 
„Weiß Gott, ich bin immer in der Be: 
ziehbung — aber nich’ Schlecht, nicht ſchlecht — 
das könnte einem doch —“ 

„Ja, ja!“ 

Dann ſpringt er auf und geht hin und 
her. Zuweilen giebt er ſich einen Ruck. Nun 
ſteht er plötzlih vor ihr. „Das is wahr, 
Antoinette, du haſt viel getragen!“ 

Sie macht eine abwehrende Handbewegung. 

„Viel, was ich gar nich' wieder gut machen 
kann!“ 

„Ich will's vergeſſen, weil dich der liebe 
Gott vor der großen Sünde bewahrt hat —“ 

„Nich' gut machen —“ 

Da faßt ſie mit beiden Händen ſeinen 
Arm und umklammert ihn, und die Blutwellen 
gehen und kommen in ihrem Geſicht, und ſie 
iſt beinah heiſer vor Erregung. 

„Doch, kannſt's auch gut machen, Konrad, 
mußt's. Mach' unſern Jungen nid’ un— 
glücklich —“ 

Sein aſchfahles Geſicht wendet ſich ihr zu, 
ſeine breite Bruſt arbeitet, er hat den Schrecken 
noch nicht überwunden. 

„Was meinſt du?“ 

„Zwing' unſern Fritz nid” — ſieh, er bat 
Mile lieb!“ 

„Was? was?“ Es wogt hinter ſeiner Stirn, 
es iſt ihm rot vor den Augen. 

„Mile Zehſe! Un' er will keine andre, 
eh' geht er von uns, ſagt er. Un' er hat 
deinen Kopf, Konrad, das habe ich heute zum 
erſtenmal gemerkt.“ 

Er antwortet gar nichts, feſt die Lippen 
aufeinander gedrückt ſitzt er da. 

„Geh raus, Wagner, geh’ in’ Wald. Da 
denfe nad); das thut dir immer gut.” 

Er jagt nichts, aber er fteht gehorfam auf, 
fucht feine Müte, ruft den Hund und verläßt 
das Haus. Als fein Echritt verflungen iſt, 
faltet Antoinette Wagner ftill die Hände, 
dann gebt fie hinaus und. gudt über bie 
Hinterthür. 

„Kriſchan, Spann’ och nen Wagen an.” 

„Ja, Fru Holzherrn!“ 


Der Einzige. 


„Aber, up de Stelle! 
hintere Porten!“ 

„Ja, Fru Holzherrn!“ 

Als er vorgefahren iſt, kommt die mu: 
mit Tine über den Hof. 

„Nu fahr uns man nah de Iſenbabn. 
Kriſchan!“ 

„Ja, Fru Holzherrn!“ 

Als Frau und Magd nebeneinander 
ſitzen, ſagt die erſte: „Bleib man fo ba, 
Tine, immer reblid und Gott por Augen, 
und fieh zu, daß bu in feine Sünde willigit, 
wie’3 in der heilgen Schrift beißt.” 

„Ad, Frau Holzherrn!“ 

„Sa, mein Tochter. Und folft nu nad 
Göttingen fahren und bei meine alten Yeut 
rummen bleiben, bis du'n ordentlichen Tienit 
baft. Un denkſt immer, baß ich Deine aut 
Freundin bin und daß du did) an mich wenden 
kannſt!“ 

„Ach, Frau Holzherrn, das thun Sie bed 
gewiß man alles, weil meine Mutter Sie fi 
treu gedient hat?“ 

„Sa, um die Mutter, da tbu ich ed ja 
wohl, mein Dochter.“ 


* * 
* 


Un’ Bol’ vor de 


Frit kommt herunter, fein Schritt ift jejter, 
feine Mienen find entfchloffen, er fieht um 
Jahre älter aus. Er findet das Wohnzimmer 
leer. Hanne räumt zwifchen den Kaffeetaſſen 
umber, 

„Ad, jung Serr, dat is ja nu all wohl 
kolt!“ jagt fie und feßt jetzt erft die Kaffee: 
müte über die Kanne. 

„Is gut!“ 

Er trinkt einen Schluck und ſchiebt Das 
Brot zurüd. Er bat feinen Appetit. 

„sa fo, de Eier forn jungen Herm!“ 
meint Hanne, der die Handreihungen für Die 
Herrſchaft ungewohnt find. 

„ein, nein!” 

„Die Frau Holzherrn bat es mid noch 
eigend gefagt, ih ſollt' fe nich vergeflen, 
mo fie twegfubren, un bin nu doch drüber bin 
gekommen!“ Und Hannes faltiges, gelbes 
Geſicht grinft. 

„Wegfuhr?“ 

„Mit die Tine, jung Herr! In' openen 
Kutſchwagen. Ne, da ſatt ſei drin, als ob 





Der Einzige. 


fe rin gehörte. Nämlich —“ fie ftedt beide 
Hände unter bie blaue Schürze und biegt ſich 
vor. „Tine is narrſch worden över Nacht. 
Un be ol Franlen meint, de Fru brögt fe 
in’t Irrenhus!” 

Seine Mutter fortgefabren, ohne ihm davon 
zu fagen? Er fehüttelt den Kopf, er verftcht 
es nicht. 

„In' Kutſchwagen mit de Fru Holzherrn!“ 
wundert Hanne weiter. „Wat blot de Lüt 
feggen, jung Herr! de Lüt blot!“ 

Sie padt das Geſchirr ein wenig wadelig 
zufammen, macht ein paar Schritte nad ber 
Thür und bleibt dort ftehen. 

„Die Fru Muttern is zu gut, rein zu gut! 
So 'ne narr'ſche Cretur in'n Kutſchwagen!“ 

„Wo iſt denn mein Vater?” 

nDe is ja wohl in’ Wald gahn.” 

Tat, takt! ſchlägt's ans Fenſier, das ift 
des Eanitätsrats Stod. 

Fritz ſpringt hin. 

„Morgen! ih, da ſind wir ja! Un' ſiehſt 
doch ganz gut aus, mein Sohn! Drüben 
vor der Sägemühle hat mir die Schwaffin, 
die holde, aufgelauert und ganz geheimnisvoll 
zugeflüſtert, ich möchte nach dir ſehn. En' 
Anfall!” Er ſchüttelt den Kopf. „Ne, wart’ 
mal, id fomm rein!“ 

Als er im Zimmer fteht, und Frig ihm 
den grauen Hut abnimmt, fagt er: „Siehft 
aber gar nit aus — ich meine, fo was 
Forſches haft du überhaupt noch nicht gehabt!” 

„Ja, Herr Sanitätsrat, es kann ſchon 
ſein. Ich habe nämlich gefunden, über Nacht, 
daß ich alt genug bin, auch meinen Willen 
zu haben!“ 

„Sieh einer mal an!“ 

Fritz wird bald rot, bald bla. 

„Nämlich, die Schwaff wird denn auch 
fhon —“ 

„Hat fie, mein Junge!” 

„Ich thu's nicht, Herr Sanitäterat, ich 
lann's nicht.” 

„Sieh mal an!” Und dann tippt er mit 
dem Zeigefinger gegen bie Herzgrube bes 
jungen Menfhen. „Wer ift denn die andre? 
denn fonft —“ 

„Ih babe Mile Zehſe Tieb, fehr lieb, 
Herr Eanitätsrat,” fagt er und hat babei 
feinen treuberzigen Augenauffchlag. 





659 


„Ale Achtung, mein Junge,“ und der 
alte, vornehme Herr hat ein mohlgefäliges 
Schmunzeln. „Sa, wenn ich die Wahl hätte, 
die wär’ mir auch lieber als Heine, hubſche 
Frau, ald der Gelbfad da brüben!” 

Fritz hat al feine Schüchternheit abgelegt. 

„Emmy Roth! nie, nie!“ 

Der Arzt zudt die Achſeln. „Ja, mein 
Cohn, dein Vater ift aber der Holzherr 
Wagner mit dem fehr diden Kopf.” 

„Herr Sanitätsrat, jet habe ich meinen 
Willen aud gefunden!” 

„Na, denn man zu! Verſchreiben brauch’ 
ich dir da nichts. Wenn’? nur nicht hinter: 
ber fommt, mein Sohn. Mit deinem Vater 
ſchwatze ih gern, denn er ift ein felten kluger 
und für feinen Stand gebilveter Mann! Aber, 
mic mit ihm auseinanderfegen über mas — 
ne, ber fann faugrob werben, und dann kennt 
er fih nit! Ja, dad mußt du nun wiſſen!“ 

Fri begleitet den Gehenden bis über die 
Schwelle. 

„Schon' dich aud noch, men Junge! 
Nicht erhigen, nicht erfälten. Daß du ba 
geftem ohnmädtig geworden bift — fon’ 
did, denn deine Kraft braucht du für bein 
Vornehmen. Die Mile, fieh mal! baft du 
denn, du Schwerenöter, auch fehon 'n Ruß 
von ihr weg?” 

„Herr Sanitätsrat, fie weiß es doch noch 
gar nit!” 

„Eo! fo!” Und er hebt feine behandſchuhte 
Rechte. „Na, denn will ich's ihr auch nicht 
verraten, was? Alfo die Mile — und 
wenn's gut gebt, figt fie mal auf Eichberg. 
Was id) ihr gönne! Guten Morgen, mein 
Sohn!” 

Er geht mit feinen feften Schritten und 
feiner tadellofen Haltung. 

Fritz wandert durch das Haus; es ift fo 
leer ohne die Mutter. Kanne fehreit in ber 
Küche auf die taube Franken ein. Er mag 
jest nichts von Buchern willen. Über den 
Hof in den Garten. Da ift nun alles bunt 
von Frühlingsblumen, Vögel huſchen flatternd 
auf. Er gebt bis zu der Heinen Hinterpforte. 

Auf dem Wege vor berfelben liegen Baum: 
ftämme. Ein Menſch hodt darauf. 

„Morgen!“ kommt es dumpf zu ihm in 
die Höhe. 

42* 


660 


„Morgen! Na, Krade, guden Sie fpazieren?” 
„Kann fich unfereiner ja auch mal leiften!” 
fagt der Sigarrenarbeiter. „Ich babe Teine 
Beichäftigung mehr. Bin’n freier Menſche!“ 

„Was heißt denn das?“ 

„Rausgeſchmiſſen!“ 

„Ih doch!“ 

Kracke macht eine Fauſt. „Zu doll bin 
ich die! zu wild! wollten keinen Raufbold in 
die Fabricke! Nämlich — Angeberei!“ 

„Angeberei?“ 

Der Menſch ſteht auf und ſchüttelt wieder 
die Fauſt. „Bei dem Holzherrn ſteh' ich doch 
lange nich' gut. Aber nu — da is der 
fremde Oberförſter, der Kandidate, der uns 
drüben beim Langfaſt mal auseinandergeriſſen, 
den wilden Mann, Schierkopp und mich — 
Meſſer hatten wir ja — is wahr. Was 
ging's den an? Der hat'n Angeber gemacht 
in der Kneipe beim Herrn Grotefend, der jetzt die 
Fabrik hat. Un' nu krieg' wegen mein' Leumund 
gar keine Arbeit mehr! Un' nu ſitz ich hier 
und guck aus!“ Er grinſt. „Un' laure! Denn 
wenn ich'n mal erwiſche, den Grünrock, mal 
alleine — Jetzt is er auch oben, bei die 
Herzogslaube!“ 

„Kracke, das werden Sie doch nicht! 
machen ſich ja unglücklich.“ 

„Is meine Sache! Wenn er mal alleine 
is und gut zu faſſen, ſehn Sie, denn —“ 
Er- macht eine ſtoßende Bewegung. „Wie 
du mich, ſo ich dich! So weit bin ich nu 
nachgerade.“ Er wirft den Kopf mit einer 
wilden Bewegung zurück. „So weit haben 
mir die ſchlechten Menſchen! So weit!“ 

„Sie haben wieder getrunken, Kracke!“ ſagt 
Fritz Wagner. 

„Habe ich auch. Leugne ich gar nich! 's 
is Einzige, 's Einzige.“ 

Er hebt das verzerrte Geſicht zu dem hinter 
dem Zaun auf. 

„Neulich hätt’ ich'n kriegen können. Ganz 
dichte bei war ich. Aber da war die lüttge 
Mamſell dabei, mit die er ſich da trifft — ne, 
die wollt' ich den Schreck nich' anthun. Die 
ſagt immerſt fo freundlich gun Dag. Un’ 
jetzt ſind ſie wieder oben in die Laube. Er 
is über'n Heidufer hin und fie von die Papier: 
müble aus.” 

„Was für ne Mamjell?“ 


Sie 


Der Einzige. 


„Die Steuerinſpekterſche ihr Mädchen mit 
die krauſen Haare!“ 

„Nein! nein!“ 

Daß Fritz ſein Geſicht weiß wird, wie die 
Blüten des Baumes über ihm, ſieht Krade 
nicht. Er lacht hell auf. 

„Die Steuerinſpekter'ſche geht einem immer 
in’ Bogen aus 'm Wege. Die Olle! Aber 
ihr Mädchen, das is niedlid. Un’ das ba: 
der Grünrod auch gemerkt!“ 

„Ihr irrt euch wohl, Kracke!“ 

„Ich — ne! Is nich!“ Er ſteht taumelnd 
auf, faßt nach ſeiner Mütze, die ihm entfallen, 
und lallt: „die oder ne andre! Is mich auch 
egal. Er ſoll ſich in acht nehmen, ſoll ſich —“ 
dann taumelt er am Zaun entlang ber Heden: 
ftraße zu. 

Fritz wiſcht über feine Stim. Was dur 
Menſch fagt, der Trunfenbold! Wie fann er 
nur einen Augenblid das glauben?! Der bälı 
ja den Himmel für einen Dubelfad! ‘Der hat 
ja jhon das Delirium. 

Mile fol den Oberförfterfanbibaten heimlich 
am Herzogenbufch treffen? Er müßte eigent: 
lich lachen. 

Langſam zieht er den Riegel von der Prorte 
und tritt hinaus, die Thür anlehnend. Cr 
fiehbt nad) der Höhe. Wie lange ift er nidt 
dort geweſen, wo man fol ſchöne Ausfıct 
hat weit in die Ebene und auf die Bergfuppen. 
Und wie es da ſchon zu feinen Füßen fprießt. 
Er geht etwas weiter. Wie oft haben foldıe 
Bauhölger zu feinen milden Knabenfpielen 
gedient. 

Mile — träfe ih? Unfinn! Der verlogene 
Trunfenbold! Daß er ihm auch nur zu: 
gehört hat! 

Und meiter, bi zum Damm! Er muß 
doch ſehn, ob der Fluß jebt viel Waſſer bat. 
Die Luft ift würzig, Scharf, windig iſt's aud. 
Ceine Haare fliegen. Er hat feine Mütze zu 
Haufe gelafien, heut denkt er nidt an bie 
alten Gemwohnbeiten. Bah, er wirb bald 
ihlimmerem zu trogen haben, feinem Water 
und feinem Willen. 

Meiter über die Brüde, die fehr ſchwach 
aus ſchwankenden Brettern zufammengefügt 
it. Was man bier auch aufridhtet, um die 
Verbindung mit dem andern Ufer berzuftellen, 
das Hochwaſſer vernichtet alles. Und für einen 


DE "W m 


Der Einzige. 661 


foliden, feften Bau ift bie Gemeinde nicht zu 
gewinnen. So bleibt es immer ?lidtwerk. 

Die Höhe hinan! Er muß oft ftehn bleiben. 
Der Atem fehlt ihm, er feucht. Aber, fo gar 
nicht mehr weit vom Ziel. Nun möcht er 
doch hin. Mile follte? Wieder drängt ſich 
ihm das Wort Unfinn auf. Ja, warum geht 
er denn eigentlich hier Ihr nachſpuren? Be: 
wahre, das wäre eine Beleidigung, die er nicht 
einmal in feinen Gedanken begehen möchte. 
Es ift, weil er ſolche Unrube in fi) fpürt, das 
Haus fo unheimlich Teer jand. Er hatte gleich 
mit dem frifchen Entſchluß vor feinen Vater 
treten wollen. Nun gährt es in ihm. Es 
ift häßlich zu warten. Schwer, ſchwer wird's 
zu ſteigen. Aber er will! Er iſt jetzt auf dem 
Wege, ſich in allem durchzuſetzen, mit ſeinem 
Willen, mit feiner Kraft. Sie ſollen ihn nicht 
mehr bemitleiden und ausſpotten. 

Oben! Keuchend blidt er hinab. Da liegt 
das Vaterhaus, ba ift der Fluß, die Ebene 
und das Schloß. Herzogsbuſch heißt ber ſchöne 
Wald, in dem eine uralte Laube mit einem 
Steintiſch und einer Bank darin fteht, ſchon 
länger als hundert Jahre all. Sonntags 
wandern die Blumerober hinauf. Manch 
heimlich Liebespaar fol fi dort treffen. 

Mile follte? Nein, nein! Noch hundert 
Schritt ind Gebüſch hinein, dann kann er 
ſehen, daß er fi hat narren lafien von dem 
elenden Trunfenbold. 

Nein, nicht darum geht er jetzt weiter auf 
dem ſchmalen Pfad, über dem die Tannen- 
zweige zufammenfchlagen. Wenn zwei bier 
durch wollen, fo müfjen fie fi) eng aneinander 
preflen. 

Da ift ein geſchütztes Plägchen zum Aus- 
ruhen, benn bier fegt der ſcharfe Wind gar 
zu unbehaglic. 

Wenn zwei hier zufammengehn! Er 
lächelt. Wenn erft — — ja, dann muß er 
mit Mile bier hinauf, juft an biefen Plab. 
Die füß wird das fein. Er fann jeßt fteigen, 
feine Kraftprobe hat er gemadt. Daß fein 
Herz Hopft, ganz wild, das ift nicht Schwäche, 
nicht Überanftrengung, das ift felige Freude. 

Der Platz ift leer. Er ſetzt fih auf bie 
Steinbant, daß fein feuchender Atem ſich legen 
fol. Ein wenig ruhn. So ſtill alles bier. 
So himmlifh ruhig und verjhwiegen! Und 





er faltet die Hände in einander. Hier kann 
man fi wohl glüdlih fühlen. Und es über: 
Tommt ihn eine fo felige Vorahnung. 

Vogelgezwitſcher, ein ganz leifes Kniſtern, 
ihm ift, als vernchme er das Schwellen und 
Springen der Anofpen. Lange figt er fo. 
Wirklich wohl zu lange, denn ein Froftgefühl 
überlommt ihn nun doch. Er wird Hug thun, 
nun enblid) wieder hinunter zu gehn. Mit 
müben Füßen, ſchwerfälliger als empor, er 
empfindet doch die große, plögliche Anftrengung. 
Ob ihn häßliche Gedanken gequält hätten, 
wenn er nicht hinauf gegangen wäre? Aber 
Kraden muß er das häßlihe Lügenmaul 
ftopfen. Der fol ihm 'nur in den Weg 
fommen! 

Am ſchwankenden Brüdengeländer muß er 
fih ein paar mal halten. Schwindel? Nicht 
doch — das kann's nicht fein. Soll's nicht. 
Das hat er ja früher gar nicht gelannt. 

Jenſeits des Stegs ſitzt der Cigarren: 
arbeiter und ſchlägt mit zwei Steinen gegen- 
einander, die Beine weit von ſich geftredt, das 
ftruppige Haar fteht um den Kopf. 

„Mufit! Muſik!“ lallt er vor fih hin. 

Krade!“ fagt der junge, ſchwächliche 
Menſch, „was ihr da vorhin gefafelt Habt — 
Krade, ihr habt doch elend gelogen!” 

„Muſid! Muflt! Un’ wenn er vorbei 
lommt, kriegt er 'n Stein an 'n Kopf, ber 
elende Maldläufer der!” 

„Nehmt euch nur felber in acht, Krade! 
Wenn ihr aber noch mal den Namen von dem 
Fräulein in euer Maul bringt —“ 

„Bas? was hab’ ich?“ 

Frig ſchüttelt feine ſchmächtige Fauft — 
feine Augen bligen. 

„Was habe ich geſagt?“ Der Betrunfene 
lacht. „So, ach, die Lütt! Na, denn is es 
’ne andere geweſen. Is mich doch ganz egal, 
mas für eine. Frauenzimmern bhu ich nichts. 
Aber — der Grünſpecht. Der! der!” 

Fritz wendet fih ab. Bon ſolch tierifch 
blödem Geſchöpf hat er fi} narren lafien. 

Sein Bachſtelzchen! fein Bachſtelzchen! Er 
zieht die Pforte auf und fommt über ben 
Strich Wiefenland in die buchsumſäumten 
Gartenwege. Bachſtelzchen! Bachſtelzchen! fingt 
und klingt es in ihm, und er hat gar feine Furcht, 
mehr vor dem Vater, vor dem Kommenden, vor 


662 


dem, was ſich jet erweiſen fol. Wenn er 
jtill fteht, Tann er das Geräuſch aus der Säge: 
mübhle hören. Er lächelt. Der gejtrige Abend 
liegt fo weit ab von ihm. 

„Aber Fritz, Junge, fag bloß, two biſt du 
geivefen?” Seine Mutter ift drüben am Hof- 
thor und fchlägt die Hände zufammen. 

„Allerwegen babe ich dich geſucht. Un’ 
ohne Mübe! Dreimal bin ich bis an bie 
Hintergafje getvefen. Un’ Vater bat ſchon 
zweimal gefragt.” 

Er lächelt, er hält fich gerade, daß fie feine 
Mattigfeit nicht bemerft. 

„Spazieren, Mutter! Warft ja aud aus: 
gefahren.” 

„ah — das!” Gie vermeidet, ihn an 
zufehen. 

„und Bater habe ich auch vergebens ge- 
ſucht.“ 

„Der is doch im Holze geweſen.“ 

Sie ſchiebt ihren Arm unter den ſeinen. 
„Ausreißer, du!“ 

Ihre Fröhlichkeit, die ſo ungewohnt iſt, 
fallt ihm auf. Sie hat ihn heute Morgen 
gebrüdt, angſtvoll verlaflen. 

„Hat dir die Fahrt gut gethan? Hanne 
- fafelte allerlei — Tine —” 

„Ad, Hanne! Tine hat nad) Verwandten 
gemußt — Bater! ja zweimal hat er nad 
dir gefragt.” 

Fritz Steht einen Augenblick ftil. „Ich 
hätt's jet fchon gelagt, wenn er da geweſen 
wäre.” 

Da zieht Frau Antoinette feinen Arm 
ganz feit an fi und mit einem Flüſtern 
fommt’3: 

„Sr is gut, weihmütig — ich glaube, 
mein Junge, du triffft auf eine gute Stunde. 
Geh man, geh.” 

„Halt du, Mutter?” 

„rag nich'! Geh, mein unge!” 

Wie er nun Über den Hof geht, mit der 
Hand die Haare aus der Stirn ftreichend, von 
der Anftrengung die Züge gerötet, ſteht fie 
unbeiveglid) in dem Eonnenfcdein, der fidh 
jegt über alles gelegt bat, in der Mittags: 
ftunde. Er blendet fie nicht einmal. 

„Herr, mein Gott, mein Gott!” fagen ihre 
Lippen, ein Notruf ift’3 und eine Dankpreifung 
zugleich. 


Der Einzige. 


Kann e3 denn überhaupt noch voller Sonnen 
ichein in ihrem Leben werben? 

Das gefättigte Federvieh kauert m hr 
warmen Strahl, ab und an wird ein gurrendi 
Laut hörbar, der Hund leckt ferne Pioten. 
eine graue, große Kate ſieht mit Den lauernder 
grünen Augen hinauf nah der Dachrinne, 
wo fih ein paar Vögel niebergelaffen haben 
Kriſchan pfeift drüben im Pferdeftall eine at 
gebrochene Melodie, er fann nur den Anfuns, 
dann mißrät ed. Dom Nahbarbofe beruk: 
ein FZlingender Laut, das Schärfen einc 
Schneidegeräts. 

„Er iſt mein Gott, der in der Not —“ 
ja, der fchöne Vers aus dem alten Kirchen— 
lied. Sie nidt vor ſich bin. 

Ihr Leben ift ein verfehltes gemefen, ic 
hat’3 immer gewußt; aber jet will ſie's nid: 
mehr glauben, um ben Jungen nicht. Wenn 
e3 für den bel wird, dann ſoll's mit dem 
bißchen Glück, das fie nicht hat kennen lemen, 
erfauft fein. 

Sie ftelt eine Holzmulde, die umgefallen 
ift, aufrecht, fieht nach den Fenſtern der Hinter: 
zimmer empor. Sa, die müffen auch wohl 
wieder gepußt werden. Eo in der Eon, 
ba fieht man das. Tines Fortgehen mad 
ihr einen Etrih durch die große Wäſce 
Aber Hände, die fie erjegen, finden fich aud. 
Der Botenriefe ihre Tochter wartet ſchon lanac 
auf einen Dienft bei ihr. Eie ift fehr häßlich 
und zigeunergelb. „Tater“ nennen fie bir 
Nachbarn. Bor Tine bat fie lange Zeit 
feine hübfche Magd ins Haus gebracht. „Führe 
uns nicht in Verſuchung.“ Sie hätte das 
auch bevenfen follen. Und wie ihr eben cin 
Gedanke des Vorwurfs in die Seele Fommen 
will, hört fie Fritens rufende Stimme. Eine 
ihrile Empfindung, ein Durchrieſeln des 
Körpers von oben nad) unten, fie meint, ibn 
Füße merden plöglih ſchwer, wollen nid: 
von den WBlafterfteinen weg, auf benen fie 
ſtehen. 

Bedeutet es etwas Gutes? 

„Mein Herr und Gott!“ 

„Mutter, Mutter!“ 

Da beugt er ſich über die Hinterthür, ibr 
Fritz, ihr alles, und ſie hat ihn noch nie ſo 
hübſch geſehen, eiwas, wie Verklärung, — ſie 
kann's nicht ausdrücken. Aber fie läuft, läuft — 








Der Einzige. 


und dann fällt fie ihm um den Hals — und 
darauf weint fie bellauf. 

„Dh! ja, er war meichmütig und alles 
fol gut werden. Und Krifhan fol ihm den 
„Poladen” fatteln, er will raus. Laß — daß 
er nicht warten muß.” 

Er eilt über den Hof, fie bleibt an ben 
Pfoſten gelehnt, und die Thränen ftrömen ihr 
unaufhaltfam über das Gefiht. Waren das 


Minuten! . 
. 


„Nein, Mutter, id bin doch jetzt geſund 
und fräftig. Das muß nun aufhören. Schaff 
mir man. die Dinger aus den Augen!” hat 
Fritz gefagt, als fie ihm nach Tiſch Kiffen und 
Deden bringen will. Sie haben allein ge: 
gefien und jetzt aud ben Kaffee getrunten. 
Der Hausherr ift noch nicht von feinem Ritt 
zurüd gelommen. Und Fri hat bis jegt nichts 
erzählt. Die Mutter hatte kaum Zeit zu ſitzen, 
Leute haben zu fragen gehabt, auch die Schwaff 
ift herangehuſcht und hat mit Iauernden Augen 
umber gegudt. 

„Nur nach dem Befinden erfundigen, meine 
liebe Frau Holzderrn!” 

„Wir find alle munter, ganz munter!” 

ie hat in ihrer Taſſe gerührt. 

„Ein netter Abend war's. Geben fi) fo 
viel Mühe, die Rothe. Emmy ift wirklich ein 
prächtiges Mädchen!“ 

da, ja!“ 

„Nein, Herr Fritz, wie Sie da fo bla 
wurden!“ 

„Jetzt ſieht er anders aus,” hat die Mutter 
entgegnet. 

„War ſchon wer von drüben da?“ 

„Nein!“ 

„Nein, wundert mid) aber — fehr fogar.“ 

„om!“ 

„Doch nicht 'n bifchen beleidigt?” 

Keine Antwort, Frau Antoinette hat plötzlich 
über das Wetter gefprochen. 

„Nämlich, liebe Frau Holzherrn, ich habe 
noch gar nichts erzählt, trotzdem es ber aus: 
drüdliche Wunſch ihres Mannes war. Aber 
Sie — Sie wollten es doch nicht gern. Und 
Frauen müfjen zufammenhalten.” 

„Das is vernünftig von Ihnen geweſen.“ 

Mit etwas enttäufchter Miene ift das alte 
Fräulein gegangen. 





„Nu is fie fo Hug, mie vorher,” meint 
Frau Wagner und ſetzt fi) ihrem ohne 
gegenüber, der den Ellbogen auf die Fenſter⸗ 
banf geftügt hat und in ben beginnenden 
Abend hinausſieht. 

Wenn er nad Binsfelde is, dann fommt 
er nicht vor finfender Nacht nach Haufe.” 

„Er ift lange nicht fo weit geritten!” 

Weil er was los werden will, aus feinen 
Gedanten — dann hat’3 das Tier unter ihm 
nid’ gut. Ad, einmal! Wir waren jung 
verheiratet, hatte er einen Streit mit meinem 
Vater. Da ritt er auch weg; über Gräben 
und Heden is das man fo gegangen. Und 
das Pferd hatt? ihm abgeworfen. Wie er 
nad Haufe kam, hat er's an bie Rüfter ges 
bunden und immer mit der Peitfche gehauen. 
Nich' anfehn konnt’ ich's. So mild is er nicht 
mehr!“ feßt fie mit einem Eeufzer hinzu. 

„Und — nu ſag's auch, Fritz.“ 

„Es war fo ganz anders, Mutter. Ich 
brauchte gar feinen Mut. Er fah mid an, 
du kennſt ja den Blid, ala ich hereinfam und 
fagte: ‚Die Reihe war nad meinem Sinn! 
Du wilft deinem Pater nich’ folgen. Das 
i8 dumm und unpraltifh. Meinft du, daß 
du ohne die andre nicht leben kannſt ?°“ 

‚Schr unglüdlih würde ih, Vater — 
und eine andere, wie Mile, heirate ich nicht,‘ 
babe ich geantwortet. Dann kam wieder fo 
ein befondere® Anguden und er ftampfte mit 
dem Zuß auf. ‚Meinstvegen denn!“ Aber, 
tie ich mic) bedanken wollte, ſchüttelte er ben 
Kopf und nahın meine Hand nicht. ‚Das 
mad’ mit der Mutter ab. Und Krifchan foll 
den Poladen fatteln.‘” 

Sie zieht feine Hand in bie ihre. 

„Dos i8 ja nu einerlei! Ex hat's gefagt.” 

„Wie ih ſchon die Thür in ber Hand 
hatte, rief er mir nad: Nachbar Roth thut 
mir leid. Du kannſt dir morgen deinen guten 
Rod anziehn und zu der Inſpeltorin gehn.” 

„Siehft du! Und das thuft du!” 

„Ad, Mutter, Mutter!” Es ift ein 
Qubelruf des Glüds. Und dann fagt er: 
„Was ihn nur fo umgeftimmt hat —“ “ 

„Is doch einerleit” 

Sie faßt nad) einer Schere, die nicht auf 
ihrem Platz liegt und wirſt dabei einen Blid 
aus dem Fenfter. 


664 


„Da kommt ja Mile!” 

„Ach —“ 

Die Glocke der Hausthür klingelt bereits. 

„Nu, mein Junge, braucht es nich' erſt 
Nacht zu werden, nu —“ und ſie geht hinaus, 
und er hört ihre weiche Stimme das Mädchen 
begrüßen. „Fritz iſt drin. Ich komme auch 
gleich wieder. Geht's Mutter gut? Is recht, 
mein Töchterchen. Leg man ab. Weißt doch 
Beſcheid, biſt zu Hauſe.“ Und dann büpft fie 
über die Schwelle, ſein Bachſtelzchen. „Na, 
mein Herr! Wie geht's uns?“ Sie ſieht hübſch 
aus in dem blauen Kleide, mit dem keck auf: 
geſetzten Bubenhut, den leuchtenden Augen, 
dem frifchen Rot und dem lachenden Mund über 
den bligenden Zähnen. „Wovon träumen 
wir denn, mein Herr?” 

Er umfaßt ihre Heine Hand. 

„Wenn du das mwüßtelt, Mile!‘ 

Sie fchnellt den Hut und den Fragen mit 
einem Wurf auf einen Stuhl und ſinkt auf 
den von der Hausfrau verlafienen Platz. 

„Ach, das Leben ift ſchwer!“ ſeufzt fie. 

„Das ſagſt du, Mile?“ 

„Ra, das Fann jeder jagen; ift doch nur 
ne Redensart, nich” wahr. Denn eigentlich 
ift es doch ſchön, fehr ſchön!“ Und ein glüd- 
ftrahlender Ausdruck liegt auf ihrem lieblichen 
Geſicht, der fie noch hübfcher madt. „Ach, 
mein lieber, alter Fritz, du, du alter Stuben- 
hoder! Wenn ich’3 dir doc) bloß jagen könnte, 
wie ſchön!“ 

„Was meinft du denn?‘ beugt er fich vor. 

Lichtfunken ſcheinen aus ihren luftigen 
Augen zu fpringen. 

„Die Welt, die Menfchen, — ad, e3 giebt 
doch gute, prächtige, liebe Menfchen. Und der 
Frühling! Es ift fo herrlich jegt —“ 

Ernidt. „Sch weiß es! ich habe heute einen 
langen Spaziergang gemadt. Auf die Höhe!” 

Uber fie bewundert ihn gar nicht, wie er 
doch erwartet bat. Ihre unrubigen Finger 
ipielen mit den wertloſen Ringen, die fie trägt. 

„Nicht wahr, der Wald! ch möchte jett 
den ganzen Tag drin fein! Ad, auf den 
Ihönen Wegen!” 

Er nidt wieder. Wenn fie wüßte, wo er 
an das Bachſtelzchen gedacht bat und tie. 
Unter den nidenden Zeigen, mo fie eng, ganz 
eng und verfchlungen gehen müjlen! 


Der Einzige. 


„Weißt du Schon, Mile, daß ter \.: 
Eichberg gelauft hat und daß ich's kriegen \v. 
Bewirtichaften!” 

Sie nidt jetzt auch. „Das erzählt ſich is - 
der ganze Ort.” 

„Hübſch, nicht wahr?“ 

„sein!“ ſagt fie. 

„Du baft das Landleben — ich meine, Tu. 
und Feld und die Tiere doch auch gem! 


„Ib möchte —” fie wird rot und ſcla: 


ein wenig — „ich könnte meinetiwegen ga 
im Walde leben.” 
„So! ſiehſt du wohl.” 


„Denn man glüdlih iſt?“ Eie wird ger. 


eifrig. „Was hat man in ſolchem Neſt, 1. 
unfer Blumerode. 
fie Hatfchen doch fo viel. 
wohnt —” 

„Doch mit einem Menschen, den man cn 
hat”, wirft er ein, denn jeßt ift feine I 
fangenbheit fort. 

„Natürlich, das meine ich ja. Wie jeix 
ih —“ Sie ftodt wieder. „Ein Frauenzimmer 
fann doch nicht allein irgendwo haufen.“ 

„Nein, nein!” Und dann laden ſie bei: 
ſehr fröhlich. 

Sie fpringt plötzlich auf, breitet die Ame 
von ſich und fagt: „Sch möchte tanzen.” 

„Iſt doch fein Winter, Teine Ballzeit mehr!“ 

„Einerlei! mit jemandem, den ich gem babr. 

Er darf nicht tanzen — ob fie das ver: 
gellen hat? 

„Tanzen, tanzen, ach wie jo ſchön! 
Wil das Fräulein tangen gehn? 
Sag mit wem, du böfer Wicht? 
Nein, ah nein, bag fag ich nicht!” 

Und dann hebt fie die Finger und preis 
fie iveit voneinander. 

„Das habe ich früher meiner Puppe ver- 
gefungen, und jeßt mir jelber!” Sie ladt 
übermütig. Ihre großen Augen ſchimmern, 
al die Fleinen, krauſen Locken fcheinen zu 
tanzen. 

Das Gefiht an die Scheiben preſſend, 
blikt fie nach der Linde, und dann wendet 
fie fh um. „Was giebt's denn Neues in 
ber Welt. Erzähl’ mal!” 

Er tritt hinter fie und richtet bie Blide 
auch nah der Gegend, wohin ihr Köpfchen 
jih dreht. 


Kenn man alıı 


Ich hab's ja lieb, akır. 


Der Einzige. 


„Das Alerneufte; fieh doch, drüben bei 
der Schulzeſchen ihrem Haufe geht der Herr 
Forftlandidat mit der Flinte und feinem Hunde.” 

„Ach du! das feh ich doch felber!” Cie 
preßt das Geſicht nod einmal an das Glas. 
„Dumme Wie! Wenn du fonft nichts weißt! 
Warum madft du die eigentlich 3“ 

Er lacht. „Ein prahtvoller Hund!” 

„Treff heißt er.” 

So!" 

„Er ift — er fol fo gut abgerichtet fein, 
fagen die Leute!” 

„Siehſt du, nun erzählft du mir ja etwas 
Neues.“ 

„Ah, was man fo hört! Die Blumerober 
befümmern fih doch um alles!” fpricht fie 
ſchnell. 

„Freilich, um viel mehr, als ſie nötig 
haben.“ 

„Du, was ſoll das? Was willſt du damit 
fagen ? 

Und mit einer blitzſchnellen Wendung dreht 
ſie ſich um und ſieht ihm ins Geſicht. Und 
alles lacht in dem ihrigen, fie iſt ſo lieblich. 
Jetzt droht fie ihm. Ihre Nähe, er kann 
ihren Atem fpüren, macht ihn ganz trunken 
vor Glüd. Er fängt die Hand. 

„Zah mal!” 

„Ad, du!“ 

Ein ganz Meines Ringen. 

„Ich bin ftärker!” will fie fagen, ftodt 
aber dann. „Nein, du —“ 

Ja, er giebt die Meine Hand nicht frei, 
er hält fie ganz feſt. 

„Mile — dadrauf, auf den Finger fommt 
gewiß bald ein Verlobungsring!” 

Sie erglüht. „Was du nicht ſchwatzſt!“ 

„Ich — weiß es!“ 

„Woher denn?” 

„Wärſt damit zufrieden?” 

„Wie werd' ich das denn ſagen, du neu— 
gieriger Burſch du!“ 

Und dann biegt ſie das weiße Hälschen 
zurück und atmet haſtig, wie angeſtrengt. 

„So biſt du doch ſonſt nicht geweſen, ich 
meine, daß du fo nedft!” 

n Was fi nedt —“ 

Darauf hört fie nit. „Gud bloß, ber 
Treff kommt noch mal zurüd, als wenn er 
ſucht. Was wohl?“ 





665 


Ad, laß doch — ber ift auf einer Fährte! 
Sag mir lieber von wegen dem Ring — fehr 
Hein muß er fein, fo ein Fingerchen, fo ein 
Nichts! Laß, ih muß —“ 

„Nichts mußt du!” und fie will fid 
vergebens wieder frei machen. 

Da geht fein Atem fchneller, fein Sprechen 
wird ein Flüftern. „Mile — Eichberg! du 
folft mit hinausfommen und ih, Mile, ih geb 
morgen zu deiner Mutter und frage fie. Und 
dann, fol id dir dann den Ring bringen?” 

„Fritz!“ halblaut, aber mit dem Tone bes 
Schreckens ruft fie es. 

Das hört er nicht. „Mile, ich habe bi) 
immer ſchon fo lieb gehabt, lang ſchon, wie 
du noch ein Kind geivefen bift. Unb heute ift 
es zur Sprache gelommen! Sieh, ich wäre fort 
gegangen von Vater und Mutter — aber, er 
bat feine Eintvilligung gegeben. Vorhin. Und 
nun, Mile —“ 

„Laß, laß doch!“ Und wie er fie ber: 
mundert, erftaunt freiläßt, weicht fie zurüd. 
Ganz weiß ift ihr Gefiht, und ihre Augen 
haben einen erfcpredten Ausbrud. 

„Brig! Es geht nicht, Tann nicht fein — es 
geht nit.“ Und dann beginnt fie leife auf⸗ 
zuweinen. 

„Geht nicht?“ ſpricht er nach und taſtet 
nach der Stuhllehne, um ſich daran zu halten. 
„Mile — ich habe doch denlen müſſen, daß 
du mir gut biſt. Wie wir miteinander geweſen 
find —“ 

„Bin dir ja auch gut, wirklih. Ganz ge: 
wiß!“ beteuert fie. „Aber ſieh mal — an 
Heiraten, daran habe ich doch nicht denken 
fönnen. Du warft immer frank und im Zimmer 
und fieh, ih — ac, wie konnt' ich das denken!” 
Und fie verzieht vorwurfsvoll den Heinen Mund. 

„So thu's jegt — nur Gernhaben gehört 
dazu — und bag —“ 

Sie ſchüttelt den. Kopf. „So nicht, Fritz, 
fo nicht. Ich mweiß beftimmt, es geht nicht. 
Kann nicht fein!” 

„Kann nicht fein? Weil?" 

ie wiſcht mit der Hand über die Ede des 
Tiſches. 

„Weil ih! Ad, Fritz — du darfſt es aber 
noch niemandem fagen, mußt verſchwiegen fein. 
Es darf’3 noch feiner wiſſen. Sieh, ih habe 
mid) doch von dem andern küſſen laſſen und 


666 


ihm verfprochen,” und fie fängt an zu fchluchzen. 
Helle Thränen rollen über ihre Baden und 
während fie das Tuch hervornimmt: „Sieb, 
fein Wort muß der Menſch halten! Nicht 
wahr — das muß man?” 

„Ben Bedmann, ven Forftfandibaten?” 
fragt er mit ganz heiferm Ton. 

„Woher weißt du?” 

Er antwortet nidt. „Dem bift du gut, 
auf den willft du warten? Dem bift du anders 
gut wie mir. Ja dann, dann —“ 

„Ad, fei mir doch nicht böfe, Fritz, wir 
bleiben immer gute freunde! — Ganz gewiß!” 

„Wir bleiben!” Er wendet fih ab und 
macht ihr den Weg frei. Und fie kommt tiefer 
hinein ins Zimmer. 

„Willſt du nicht, Fri?” 

Er ift ſtill. Sie fieht nad) ihm bin, trodnet 
die legte Thräne, geht nad) ihren Sachen und 
fagt: „Daß du böfe bift, nichts mehr von mir 
wiſſen millft, ift nicht recht.” Und fie nidt 
troßig mit dem Kopf. „Denn kann ich auch 
gehn.” 

„Er wird aud) wohl warten — oben, bei 
der Herzogslaube. Wenn der Abend Tommt, 
da iſt's —“ 

„Woher weißt du das? Das?“ 

Mit raſchem Griff hat ſie den Hut auf 
und den Mantel umgeworfen. „Es geht doch 
— dich eigentlich nichts an!“ und dabei tritt 
ſie zornerfüllt mit den kleinen Füßen auf. 

„Meinſt du?“ 

Schwapp! ſie ſchlägt die Thür, die Haus— 
glocke giebt nur einen halben, bimmelnden 
Ton; ihre Tritte erklingen unter dem Fenſter. 
Und nun fort, ganz fort. — 

Es geht ihn nichts an! Fritz ſetzt ſich — 
es geht ihn nichts an. Und fort iſt fein 
Bachſtelzchen gemwippt, fort, für immer. 

Frau Antoinette hat ſich allerlei im Haus 
zu ſchaffen gemacht, in der Küche und im 
Keller ift fie geiwefen und auf den Boden ge: 
ftiegen. Nirgends ließ es fie lange. Die 
Zeit will gar nicht hingehen. So ift fie denn 
auch in den abenddämmernden Garten ge: 
gangen, wo es fie fröftelt. Ohne Tuch, leicht: 
finnig, das ſieht fie felber ein. Aber, einmal 
wird’3 nicht gleich ſchaden. Sie muß doch 
den Kindern da drinnen Zeit günnen. Die 
Stunde fommt nie mieder, das weiß fie, fühlt 


Der Einzige, 


fie. _ Weiß fie nicht aus Erfahrung, aber ihrem 
Fritz fühlt ſies nach — das ift eine eigen: 
Sache um Mutter und Kind; immer Ningt's 
in ihrem Herzen, iva3 den Jungen bewegt. 
Und nun fol es glüdlich werden, ihr Eorgen: 
und Angftfind, nun wird alles gut und ihr 
Lebensabend ſchön, friedlich. 

Gegen den Abendhimmel hin heben ſich 
die Äſte und ſprießenden Knoſpen und die 
Nadelhölzer fein ab. Schön iſt's rings um, 
ſie meint, ſie habe es noch gar nicht ſo geſehen. 
Müde, verzwitſchernde Vogelſtimmen. Sie 
muß an müde Kinder denken, die man in ihr 
Bettchen legt und deren Eleine Mäulchen eben 
noch lallen. Und es ift fo warm in ihr, das 
Herz jo weit. Geben will fie, viel mehr als 
bisher, Thränen trodnen, wo fie fan. Denn 
der liebe Gott hat doch nun alles gut gemacht 
Dankerfüllt ift ihre Bruft. Es ſchlägt vom 
Turm. Sie zählt. Eo fpät [don — dann 
fann fie auch hineingehen. Dann ift gemefen 
ztvifchen ihnen, an mas fie allein nur ein 
heilige Recht haben, das Ausfprechen über 
ihre jungen, glüdlichen Gefühle. Und leichtern 
Schrittes als gewöhnlich gebt die zierliche Frau 

So ftill iſt's, ſonſt hört man immer die 
beiden, Miles Lachen — Hand in Hand werden 
fie fiten. Noch ein ganz flüchtiges Zögern 
vor der Zimmertbür. 

„Ra, nu fol id) wohl —“ 

Das Halbdunkel über dem Raum läßt fie 
im erften Augenblid nichts unterfcheiden. Dann 
fieht fie, daß Frigens Kopf ſich aus der Eofa: 
ede emporhebt. 

„Fritz — allein!” ftößt fie ganz verwundert 
hervor. 

„Ja, Mutter, allein!” Und wie ein 
Schwankender fommt er auf fie zu und legt 
den Kopf gegen ihre Schulter. „Mile, weißt 
du, die fann mich nicht gern haben, die bat 
einen andern lieb. Den fchönen, gefunden 
Forftlandidaten — weißt du!” 


* * 
* 


Neben der Uhr, deren Schlagwerk ab: 
geftellt ift, auf dem Vorplatz, fteht Antoinette 
Wagner und ficht zu den Arzt auf, befien 
hohe Geftalt fie weit überragt. 

„Nein, Herr Sanitäterat, tbun Sie das 
nich' — beichönigen Sie nichts. Ich kann es 





Der Einzige. 


wiſſen, muß es. Ich babe fo viel in meinem 
Leben getragen! Wozu fol ih wien Kind 
behandelt werben?” 

„Liebe Frau —“ 

„Ihm haben Eie doch gewiß die Wahr: 
heit gejagt, gleich nach dem fehredlichen Blut: 
ſturz! 

„Er iſt doch ein Mann!“ 

Ein bittres Lächeln zieht über ihr blaſſes 
Geſicht. 

„Das is er wohl! Ein rechter Mann, 
der über feine Frau fortgegangen is. Immer! 
Aber an dem Sterbebette, da will ich mein 
Recht. Denn — das is es, Herr Eanitätd- 
rat!” 

Und der Arzt, der gewohnt ift, ale Fragen 
und Einmifhungen fonft in feiner herriſchen 
Art Fury abzuſchneiden, nidt und fagt: „Befler 
werben Tann er nicht, die Hoffnung ift vor= 
über!” 

Eie ftößt einen qualvollen Seufzer aus. 

„Eben war er noch bei Bewußtſein. Ich 
ftreichelte ihm und fagte: ‚Weißt du denn, wer 
bei dir iß, mein Junge? Da flug er bie 
Augen groß auf und fah mid an: ‚,Jawohl — 
Mutter! Aber dann hat er fie wieder zu: 
gemacht und liegt ftil, ganz till! Ich möchte 
feine Minute von feinem Bett weg — nur 
Ihnen das fagen wollt’ id, als ich Sie tommen 
ſah. Und — ich babe wohl recht? Lange 
Zeit —" 

Ein Niden nur. 

Eie ſchreit nicht, fie macht Feine Beivegung. 

„Ich — danke, Herr Sanitätsrat!” 

Er faßt nad ihrer Hand und brüdt fie 
teilnehmend, das ift man fonft aud nicht an 
ihm gewohnt. 

„Sehn Eie, daß Wagner — er giebt ben 
Einzigen hin und er thut fid) Gewalt an. 
Mehr als wie ihm gut iſt.“ 

„Den Einzigen,” fagt die Frau. „Nun hat’s 
ihn ereilt, nun iſt's da!” Und plögli greift 
fie in ihre Kleider über der Bruft, als beengten 
fie die. 

Daß es der Einzige blieb, das hat er ja 
gewollt — das ift es ja geweſen. Wie ich 
den Jungen im Arm hatte, fagte er: Das is 
nu für alle Zeiten genug. Dem fein Erbe 
fol nicht verkürzt werden! Und ging hin — 
den andern nad.“ 








667 


Eie lehnt ſich zurüd und fieht wie in 
weite Fernen. „Ich hatte das Kind! Meinen 
Jungen — und das war mein Glüd neben 
der ſchmachvollen Behandlung — aber, wenn 
der Kleine nach Geſchwiſtern verlangte und mit 
ihnen fpielen wollte, tie andre Kinder — das 
that mir weh!” 

Die Lippen des Arztes prefien fich feſt 
zuſammen, er weiß nichts zu antivorten. 

„Ein Mann verfteht das wohl nid — ich 
will aud nid, daß Sie mich bedauern. Aber 
einmal babe ic) es doch ausfprechen müffen. 
Und Sie, Eie haben ja auch immer fo'n be= 
fonderen Menſchen in ihm gefehen! Wenn er 
jegt von dem Schlage hart getroffen wird, — 
inwendig, da wird er fi) wohl noch ganz 
mas anbres fagen!” Dann macht fie bie 
Thür auf und läßt den Arzt borantreten. 
Das Bett ift von einem Stellſchirm gegen das 
zu belle Sonnenlicht gefhügt. Konrad Wagner 
figt am offenen Fenfter. 

„Er ſchläft!“ fagt er leiſe aufftehend zum 
Doktor hinüber. 

Bord fieht auf das weiße Gefiht in den 
meißen Kiffen, faßt nad der ſchlaffen Hand 
und ſchüttelt langſam den Kopf. „Er wacht 
nicht wieder auf!” 

Kein Laut lommt über die Lippen der Frau. 

„Mutter, Mutter!” ftöhnt Konrad Wagner 
und will fie mit einer plöglichen Bewegung 
an fich ziehen. Da wehrt fie ihn ab. 

Ihre Hände find gefaltet, fie fprict in 
ihrem Herzen. 

„Mein Einziger!” murmelt der Mann 
und fintt auf einen Stuhl. Dann fehüttelt 
es ihn. 

Sie ſtreicht über das Haar ihres Lieblings, 
über feine Hände, die ſchmalen Wangen. Co 
viel Friede ift in dem ftillen Gefiht. Den 
Mann, vor dem ber fanfte Junge und fie 
gegittert haben, den fieht fie gar nicht. — 

Langſam geht der Arzt hinaus, die Treppe 
hinunter. Es ift volle Maienfreude in ber 
Natur. Schwartenbeck, der Barbier, bienert, 
an der Linde ftehend. 

„Herr Sanitätgrat, wenn man fragen barf, 
mie fteht’3 um den Patienten?” 

„Der hat feinen Doktor mehr nötig!” 

„D, der arme Herr Holjherr, o jemineh!“ 
und Schwartenbed winkt die Schultzeſche und 


668 


Kracke heran, die drüben an ber Hausede 
fteben. 

„zeute, foeben thut mir Herr Sanitätsrat 
zu willen, daß es mit'm jungen Wagner 
vorbei is. Ganz, wie ich geſagt babe! Keine 
Ausfiht, habe ich gefagt. Der Sit der Krank⸗ 
“beit war tief. Sa, unfereiner! Un’ nu will 
ich gleih mal in die Sägemühle ftürgen und 
denn — Me, das is nu’3 Allerneufte!” 
Und er wirft feine langen Beine und ruft im 
Davonlaufen: „Das is'n Schlag für den 
Holzherrn!“ 

Kracke ſieht die Schultzeſche an. „Ja, 
reiche Leute können ſich's ewige Leben auch 
nich kaufen!“ 

„u der Einzigfte, der Allereinzigſte!“ 
ſagt die Schulte’fche. 

„Denn kann de Holzherrn ja ein’ von bie 
DiePfche ihre aptieren, das ftimmt ja ganz 
gut!” grinft der Bummler. 

„Schandmaul!“ fagt die Schulge’fche. 

An der nächſten Ede trifft der Sanitätsrat 
auf den Bürgermeifter, ber ihn ftellt. 

„Ergebenfter Diener, mein Freund und 
. Gönner; ganz ergebenfter! Sie ſehen mid) 
an 4 . 

„Sind jo patent!” 

Der Heine Herr fuchtelt mit dem Spazierſtock. 

„sn der Eägemühle Beſuch machen. Der 
alte Herr ift jet feltfam nacdhgiebig meinen 
Vorfhlägen in Gemeindeſachen gegenüber. 
Da beißt’ warm halten, fchlau fein! Hahaha!“ 

„So! fo!” 

„Lächeln fo auf Ihre Art, mein Aller: 
verehrtefter! Na ja, was werden fann — 
man foll nichts verſchwören. Eehen Sie, der 
junge Roth, lieber Kerl, der bat mir zu ver: 
ftehn gegeben, daß — nämlich, eine allerliebfte 
junge Dame, Fräulein Emmy, habe fie fennen 
gelernt.” Er ſchwingt das Stöckchen durch 
die Luft. „Und Adel und Titel und Stellung 
— immerhin iſt man doch fein Greis in den 
Augen vernünftiger Mädchen.” 

Der Sanitätsrat zieht 
„Ra, denn: gratulor!” 

„Ganz foweit iſt's ja nicht. 
nicht iſt, kann werben!” 

Den Etodgriff am Kinn, geht der alte 


eine Grimaffe. 


Mag aber 


Der Einzige. 


Herr weiter. Onkel! Onkel!“ rufen ein vaat 
Arbeiterlinder. Er zieht eine Düte mi 
Bonbons heraus und giebt in jedes ber it 
ihm entgegenftredenden dicken Patſchhändchen 
ein paar Stüde. „Onkel, mich auch!” ker: 
es von anderen Heranfpringenben. „Ih, It 
mal an! Gefindel, ihr!” 

Und brüben beim Eingang in den Piart. 
garten kommt ein Paar auf ihn zu, Der er: 
fandidat, Mile Zebfe führend. 

„Bottseindonner! So öffentlich 2” frauı 
er und bleibt drobend ftehen. „Denn von 


dem heimlichen Zufammengelaufe wußte ſchon 


ganz Blumerode.” 

„Darum, Herr Eanitätsrat, babe ich meint 
Verlobung publiziert,“ entgegnet Der jtattlide 
Menſch ſchneidig. 

„So! Ja!“ 

„Onkelchen, Tein Glückwunſch?“ ſchmeichelt 
Mile und duckt das Köpfchen. 

„Manchmal ift der Menſch zu ſowas nid 
aufgelegt.” Er befommt plöglih einen jch 
ernften Ton und wirft fich in die Bruft. „Tas 
Mädchenvolf iS ja nun mal fol Uniform und 
grüner Rod find immer fhöner. Bon Ihnen“ 
und er tippt dem hübfchen Menfhen auf die 
Bruft, „will ich hoffen, daß Sie fein Wind— 
hund find, wie fo viele Ihresgleichen. Ein 
ander Städtchen, ein ander Mädchen!” 

„bo, Herr Sanitätsrat! 

„Sa, ich erlaube mir das zu fagen! Ter 
grobe Bord heiße ih! Is mir ganz genau 
bewußt. Die bier is ſo'n kleiner Liebling von 
mir, troßbem fie ſo'n flattriges Geſchöpfchen 
i8. Die verfteht mich ſchon. Na, denn alle 
zur Beruhigung der lieben Einwohner verlobt. 
Werbe zur Mutter fommen und ihr meine 
Viſite machen. Ins eine Haus fommt Trauer, 
ind andre Freude. Fritz hat's nun über 
ftanden —“ 

„Ad, Onkel!” und Miles Augen werben 
feucht. 

„Ja, das Leben forgt für Abmechjelung, 
das is mal fo. Alſo — der is fein Wind: 
hund? weißt's gewiß!” 

„Wir haben ung doch fo lieb, Onkel!“ 

„Denn man zu!” Und mit ballenden 
Chhritten geht er meiter. 


A 


Harn Homerville. 


Alice Bouffet. 


Racdrud verboten. — 
8 keiner Zeit ſind Weſen und Sein der Frau, ihre Natur und Eigenart ſo 
ſehr zum Gegenſtand der Beobachtung und Forſchung gemacht worden, wie in 
unſeren Tagen. So lange man die genialen, durch Wiſſen und Können hervorragenden 
Frauen als vereinzelte, ſeltene Typen der Gattung hinſtellen konnte, bie feinen merk⸗ 
baren Einfluß auf ihre Gefchlechtägenoffinnen übten, blieben die herrſchenden 
Anschauungen über die weibliche Hälfte der Menfchheit und deren Wertung ziemlich 
unverändert. Das 19. Jahrhundert hat nach diefer Richtung hin einen immer ftärfer 
bervortretenden Wandel geichaffen; feine frühere Epoche hat ß viel bedeutende Frauen 
aufzuweiſen, die Pfadfinder für ihr Geſchlecht geworden find. Die beginnende geiftige 
Mündigkeit der Frau, ihr Heraudtreten an die Offentlichleit mit dem vollen Bewußi⸗ 
fein der ihr eignen urfprünglichen, der Nutzbarmachung hartenden Kräfte, bebeutet 
einen Markflein auf dem Entwidlungswege ber Menfchheit. — 

Unter den Frauen ber Neuzeit, die ihre Begabung und Kraft mit Erfolg dem 
Dienfte ftrenger Wiflenfchaft gewidmet haben, nimmt die Britin Mary Somerville 
wohl den erften Rang ein. Da ihr Leben und ihre umfafiende Thätigkeit auf 
mathematifchem und naturwiffenfchaftlichem Gebiet in Deutichland bisher ziemlich 
unbeachtet geblieben ift, fo fol in folgendem eine kurze, überfichtlihe Darftellung 
besfelben verfucht werden, auf Grundlage des Buches, das im Jahre 1873, etwa 
12 Monate nad) dem Tode der gelehrten Frau, erfchienen ift: „Personal Recol- 
leetions from early life to old age of Mary Somerville with selections 
from her correspondence — by her daughter Martha Somerville.“ (T,ondon, 
John Murrey Edit.) Das Wert umfaßt 376 Seiten, die den „Erinnerungen“ 
entlehnten Auszüge find von der Herausgeberin mit kurzem verbindenden Text 
verfehen. Sie ift, wie es in der Einleitung heißt, nicht ohne Bedenken, nur dem 
dringenden Anraten werter Freunde folgend und geleitet von der Sewägung, daß 
„einige Mitteilungen über einen fo hervorragenden und herrlichen Charakter” nicht 
ohne Intereſſe für die Mit und Nachlebenden fein können, an diefe Aufgabe heran: 
getreten. Dem Sinne der Verftorbenen entiprechend, find Mitteilungen privater Natur 
aus ihrem Leben und ihrer vertraulichen Korreipondenz von ber Veröffentlichung 
ausgeichloffen worden. Die eingefügten Briefe von berühmten Männern und Frauen 
beziehen fich faft ausfchließlih auf Mary Somervilles wiſſenſchaftliche Werte. — 

* J 

Mary Fairfax wurde am 26. Dezember 1780 in dem ſchottiſchen Landflädtchen 
Jebburg geboren, im Haufe ihres Onkeis und fpäteren Schwiegervater Dr. Thomas 
Somerville, der daſelbſt länger als ein halbes Jahrhundert hindurch das geiftliche 
Amt eined Rektors verwaltete. Die Somervilles entfiammten einer alten, zur 
ſchottiſchen Ariftofratie gehörenden Familie; des Rektors Gattin und Mary Mutter 
waren Schwetern. Mary8 Vater, Wiliam Fairfax, trug einen Namen, der buch Lord 
Fairfax, Anführer des Parlamentsheeres gegen Carl I., Hiftorifch geworden iſt. Er 
diente in der englifchen Marine, zeichnete ſich ruhmlich aus in der gegen die Holländer 
fiegreich außgefochtenen Seeſchlacht von Camprebuin, erlangte infolgebeflen die Ritter: 


670 Mary Somerville. 


würde und ftieg allmählich bis zum Range eine® PVizeadmirals; als folcher iſt er 
nach 67jähriger Dienftzeit geftorben. Der Wohnfig der Familie, die während der or 
langen Abweſenheit des Vaters fehr zurüdgezogen und mit geringen Mitteln lebte, 
befand ficb in einem Kleinen Küftenorte der Graffchaft Fife, Burntisland, wo Marv 
mit zivei Brüdern unter Obhut der Mutter in glüdlicyer Freiheit heranwuchs. In 
ihren „Erinnerungen“ giebt fie von beiden Eltern eine kurze Charakteriftil. Ter 
Bater war ein fchöner Mann, tapfer und von vornehmer Sefinnung, ein vollfummener 
Gentleman, äußerlich jotwobl wie im Charakter. ung und mit geringen Schul— 
tenntniffen ausgerüftet, war er in den Dienft getreten, hatte aber durch Lektüre fein 
Willen, durch viele Reifen und Erfahrungen im Berufsleben feinen Geſichtskrei⸗— 
erweitert. Bon der Mutter jagt Mary, daß fie nicht hübſch, aber von vollendeter 
Feinbeit in der Erfcheinung twie im Benehmen geweſen ſei. Sie war nachfichtig und 
gütig gegen ihre Kinder, die völliges Vertrauen zu ihr hatten; fie war eine jebr 
fromme Frau, die Bibel bildete neben den Zeitungen fait ausfchließlih ihre Lektüre. 
Sie befaß einen gefunden Verſtand und bediente fich mündlich wie jchriftlich einer 
fraftuollen Ausdrucksweiſe. 

Burntisland, damals eine Heine ftile Hafenftadt in malerifcher Umgebung, bet 
dem in fich gefehrten, finnigen Kinde von früh an jene Eindrüde, die ihre Liebe zur 
Natur wedten und für alle Zukunft befeftigten. Die Vögel interejfierten fie insbeſondere, 
fie beobachtete ihren Flug, ihre Gewohnheiten und kannte bald alle einheimischen Arten; 
fie wußte „auch ihre Lieblinge gegen Nachftellungen zu jchügen und ift im ſpäteren Leben 
bei manchen Anläflen energifch für den Schu der Tiere eingetreten. 

Marys erſtes Leſebuch war die Bibel, dann kam der Katechigmus an die Reibe, 
deſſen Lehrjäge fie nur ſchwer ihrem Gebächtniß einzuprägen vermochte, weil fie ibr 
unverftändli waren. Im übrigen ließ man fie bis zu ihrem achten Jahr ziemlid 
wild aufwachlen, dann begann fie an den häuslichen Gefchäften teilzunehmen uud 
Intereſſe für Biicher, die ihrem Alter angemefjen waren, zu befunden. Der um dieſe 
Beit heimkehrende Vater hielt fie zu vermehrter Beichäftigung an und forgte dafür. 
daß fie nach vollendetem zehnten Sabre in ein Mädchenpenfionat nad) Muſſelburg 
geichiett wurde, un wenigſiens fchreiben und vechnen zu lernen. Das Maß an Willen 
und Können, das dazumal in Schottland für ein Mädchen aus guter Familie aus: 
reichend befunden wurde, eritredte fich He weit über die Elententarfächer Hinaus, 
und die Methode des Unterrichts fcheint höchſt fchwerfällig und unerjprießlich geweſen 
zu fein. — Der plögliche Übergang von der gewohnten Freiheit zu einer nach jeber 
Richtung fühlbaren Beſchränkung unter pedantiicher Vormundfchaft wurde von Marp 
jehr bitter empfunden. Ihr Geift erwachte indeffen mehr und mehr; als fie nad 
einem Sabre heimkehrte, benubte fie fortan jede Stunde, die ihre häuslichen Pflichten 
ihre übrig ließen, um Shakeſpeare zu Iefen, fowie Gejchichte und etwas Latein zu 
treiben; letzteres ohne eigentliche Nachhilfe. 

Der Sternenhimmel erregte fchon früh ihre Aufmerkjamfeit, fie verbrachte heimlid 
mandje Stunde an dem nad) Süden gelegenen Fenfter ihres Schlafzimmers, um mul 
Hilfe eines Himmelsglobus die Sternbilder kennen zu lernen. Übrigend mußte fü 
ſchon früh die Erfahrung machen, daß ihre Vorliebe für Studien im Kreife der Familie 
und ber Bekannten mißbilligt wurde, und troß ihrer Jugend empfand fie es bereit? 
ala eine Ungerechtigkeit, daß es den Frauen, die Wiſſenstrieb beſaßen, vermehrt fein 
jollte, ihn zu befriedigen. 

ALS vierzehnjähriges Mädchen verbrachte Mary einige Sommermonate in Jebburg bei 
ihren Verwandten; fie erzählt, daß fie nie in ihrem Leben glüdlicher geweſen fei, al? 
zu jener Zeit. Ihre Tante war eine liebensmwürdige Frau, vol Heiterkeit und Wib, 
auch befjer belefen als die Mehrzahl der Damen ihres Standes. In dem Onkel, 
Dr. Somerville, fand Mary zum eritenmal einen Freund, der ihren Durft nach Wiſſen 
verftand und billigte.e Auf langen Spaziergängen, die fie in den frühen Morgenftunden 
mit ihm unternahm, machte fie ihn zum Vertrauten ihrer Beflrebungen, und er lieb 
ihr feinen Beiltand, indem er täglich ein bis zwei Stunden den Virgil mit ihr lad 
und durch ernfte Gefpräche ihren’ Geift förderte. Über das Leben im Pfarrhaus, 











Mary Somerville. 671 


defien reizvolle Umgebung und den Verkehr mit den gleichaltrigen Roufinen finden ſich 
anziehende Schilderungen aus Marys Feber. 

Der näcfte Beluch galt dem Onkel William Charter in Edinburg, in befien 
Haus man nad anderer Richtung bin auf ihre Ausbildung bedacht war: fie wurde 
in eine Tanzſchule gefchidt. Doch fühlte fie fich bei diefen Verwandten viel weniger 
beimifch; in bezug auf die Gegenftände, die fie intereffierten, mußte fie fih Schweigen 
auferlegen, daher fand man fie verfchloffen und antiebensmirbig. Die Wohlerzogenbeit 
junger Mädchen gewöhnlichen Schiags wurde ihr häufig als Vorbild Hingeftellt. 

Die große politiiche Bewegung, die damals, von Frankreich ausgehend, immer 
weitere Kreife zog, beichäftigte lebhaft die Gemüter, und Mary wurde auch ihrerfeits 
davon ergriffen. Innerhalb der Familie und im Belanntenfreife gingen die Anfichten 
weit auseinander, Liberale und Konfervative befehdeten fich mit Leidenſchaft. Die vft 
maßlojen und ungerechten Angriffe gegen den Liberalismus veranlaßten das junge 
Mädchen, fih auf_feiten des Tegteren zu flellen, von Jugend an hatte ihr Geift gegen 
Bedrüdung und Torannei fih aufgelehnt, fo trat fie auch Bier für die Freiheit ein, 
wobei ohne Zweifel der tiefe Unmwille darüber mitwirkte, daß alle Gelegenheiten zu 
wiſſenſchaftlicher Ausbildung, die den Männern fo reichlich geboten wurden, ihrem 
Geſchlechte verfagt blieben. Denn fie felbft war von dem brennenden Ehrgeiz erfüllt, 
ſich nad) irgend einer Richtung hin auszuzeichnen und fühlte in fi, daß die Frauen 
fähig feien, einen höheren Platz in der Schöpfung einzunehmen, als den, der ihnen 
damals eingeräumt wurde. — Übrigens bat Mary die damals eingefogenen freien 
politifhen und religiöfen Anfichten ihr Leben lang bewahrt; fie war jedod nie 
republikaniſch gefinnt, vielmehr hat fie eine bochentwidelte Ariftofratie flet3 für not⸗ 
wendig erachtet, um ein Volk zu regieren und ed auf eine höhere Rulturftufe zu heben. 

Nach ihrer Rückkehr von Edinburg wurde Mary als eben erwachſene junge Dame 
in das gejellichaftliche Leben von Burntisland eingeführt. Sie fand wenig Vergnügen 
daran, empfing aber merkwürdigerweiſe bei einer Polen Gelegenheit den erften Anftoß 
zu dem großen Studium ihres Lebend. Beim Durchblättern einer Modenzeitung fiel 
ihr Blid auf eine algebraifche Aufgabe, deren Zeichen ihr fremd und unverftänblich 
waren; von nun an ruhte fie nicht, bis fie den Schlüffel zum Verfländnis jener 
Wiſſenſchaft fand; es gelang ihr nach einiger Zeit, ſich Elementarbücher für Algebra 
und Geometrie zu verichaffen; doch Fonnte fie zunächſt ohne meitere Anleitung nur 
wenig daraus lernen. Außerdem trieb fie Griechiſch, las den Xenophon und teilweife 
den Herodot; mehrere Stunden bed Tages wurden dem Klavierfpiel gewidmet. Im 
folgenden Winter fiedelte die Familie nach Edinburg über, wo Mary raftlos weiter 
arbeitete und ben Kreis ihrer Studien durch Aufnahme des Italieniſchen erweiterte 
fowie durch den Beſuch der neu eröffneten Malakademie für Damen, die von einem 
tüchtigen Landſchaftsmaler namens Nasmyth geleitet wurde. Durch diefen Lehrer wurde 
Mary auf Euflid „Elemente der Geometrie” bingewiefen, die er ihr als Grundlage, 
nicht nur ber Peripeltive, fondern auch der Aftronomie und aller mechanifchen Wifjen- 
ſchaften bezeichnete. Es gelang ihr jedoch erft im folgenden Jahre, durch Vermittlung 
eined jungen, für ihren Bruder engagierten Hauslehrers das fehnlichft gewünschte Werk 
zu erhalten. Die Bedeutung der Algebra und Geometrie wurde ihr nun zwar erklärt, 
aber der Philologe war nicht imflande, ihr Anleitung zum Studium biefer Fächer zu 
geben; fo blieb fie, wie bisher, auf ihre eigenen, wenig fruchtbaren Bemühungen 
angewielen, und mit tiefer Niedergeichlagenheit empfand fie oft, daß der Erfolg in 
keinem Verhältnis zu dem Aufwand an Zeit und Anftrengung fland. — 

Edinburg war zu der Zeit noch die wahre Haupiſtadt Norbbritanniens, der 
Mittelpunkt des geiftigen Lebens; bie meiften ber angejehenen fchottifchen Familien 
piiegten den Winter dort zu verleben. Das Theater, an dem vortrefflihe Künftler 
wirkten, übte eine große Anziehungskraft, obgleich das unter den ftrengen Kalviniften 
dagegen herrſchende Vorurteil noch keineswegs erloſchen war. Die Familie Fairfar 
batte jedoch in diefem Punkt, wie in manchen andern, freiere Anfichten; Mary befuchte 
daher oft und gern die Vorftellungen, namentlich wenn Shakeſpeares Werke auf die 
Bühne Tamen. Die bedeutendflien damaligen Schaufpieler waren moralifch unantaftbare 


672 Mary Somerville. 


und daher bochgeachtete Perfönlichkeiten; Mary nennt u. a. die berühmte Mira Eibbon:, 
mit der fie in jpäteren Jahren in perfönliche Berührung getreten if. — Unter 
dem Schuß einer möütterlichen Freundin (da die eigene Mutter in Abwefenbeit ihre: 
Gatten von der Gejelligkeit außer dem Haufe fi fern Hielt) befuchte Mary aus 
Gefellichaften und Bälle; fie liebte den Tanz, und fie verfertigte ſelbſt Die einfachen, 
weißen Balllleider von feinem indifchen Mouffelin, die den Anforderungen damaliger 
Zeit genügten. Weber diejen, nicht allzubäufigen Vergnügungen verlor fie jedoch nır 
ihren Hauptziwed aus den Augen; die frühen Morgenftunden maren regelmäßig dem 
Studium, die fpäteren der Mufil gewidmet, außerdem malte fie fleißig und entwidelte 
ihre fünftlerifchen, gar nicht unbedeutenden Anlagen zur großen Freude der Mutter. 

Manche der Litteraten und Gelehrten Edinburgs waren mit den Fairfax befanıtt; 
Mary kam öfter mit ihnen in Berührung, doch Feiner wurde auf ihre ernfte willen: 
Ichaftlihe Richtung aufmerkſam. Ihre Beicheidenheit und eine aus den einfanz ver: 
lebten Kinderjahren berfiammende Scheu verhinderte fie, mit ihren Sntereffen irgendivie 
bervorzutreten; es war ihr fchon peinlich, Gedanfen oder Meinungen im größeren 
Kreife laut zu äußern, geſchweige denn eine führende Rolle in der Unterhaltung auf 
fih zu nehmen. 

Die Außere Erfcheinung bed eben erwachlenen Mädchens war jehr harmoniſch: 
unter Mittelgröße und zart gebaut, Fräftig und leicht in der Bewegung, hatte fie einen 
Heinen Kopf, üppiges braunes Haar, ein angenehmes Gleichmaß der Züge, glänzend: 
Augen mit intelligentem Ausdruck und einen Fehr Thönen Teint. In fpäteren Jahren 
ſprach fie einmal fchergend ihr Bedauern darüber aus, daß niemand fie gemalt babe, 
folange fie noch jung und hübſch gewejen; die Anmut des Ausdrucks und die ihr eigene, 
durchgeiftigte Schönheit hat fie jedoch durch ihr ganzes Leben bewahrt. Eine in Rom 
von Meifterhand modellierte Büfte, die alternde Frau bdarftellend, deren Abbild dem 
Titelblatt der „Memoirs‘ beigegeben ift, legt Zeugnis dafür ab. — 

Im Sabre 1804 Tam ein entfernter Verwandter, Mr. Samuel Greig, Rommilfionär 
der rujfiihen Marine, nach Burntisland; er wurde als Vetter mit fchottifcher Ball: 
freundfchaft aufgenommen, und nach einiger Zeit hielt er um Marys Hand an. Dir 
Eltern gaben ihre Einwilligung unter der Bedingung, daß er nicht nach Rußland 
zurüdtehre; er bewarb fi) um den Poſten eines ruflifchen Konfuls in Zondon, den er 
erhielt, und bald führte er die junge Frau in fein bortiges Heim. Es ift Taum 
anzunehmen, daß von ihrer Seite eine tiefere Neigung zu diefem Mann beftanden 
babe,. da eine Hauptbedingung zu geiltiger Harmonie zwifchen beiden fehlte. Mary 
wußte, daß er weder Verſtändnis noch Intereſſe für irgend einen Zmeig der Willen: 
Ihaft beſaß, daß fie alfo von ihm feinerlei Förderung ihrer Beftrebungen erwarten 
fonnte; zudem begte er eine fehr geringe Meinung von den intellettuellen Fähigkeiten 
des weiblichen Gejchlechtt. Es mögen wohl baupttächtid Bernunftgründe das treibende 
Motiv zu dieſer Heirat gewejen jein. In den „Erinnerungen“ ift wenig über dit 
erfte Ehe gelagt, die jchon nach drei Jahren durch den Tod Samuel Greigs gelöft 
wurde, Mary bat überhaupt jelten davon geiprochen. Sie benugte im Anfang ihre? 
Londoner Leben? die Stunden des Alleinjeind zur Fortfegung ihrer Studien, bis 
Mutterpflichten einen Zeil ihrer Zeit in Anfpruh nahmen. Der gefellige Verkehr 
bejchränfte fich zumeift auf einige ruffifche Familien, die der jungen Frau ſympathiſch 
waren, bejonderd die Komtelle Woronzow, Tochter des ruffiichen Gefandten, die Patin 
ihres Alteften Sohnes wurde, der den Namen Woronzow erhielt. — 

Bald nach der Geburt des zweiten Knaben, ber fpäter im Kindesalter ſtarb. 
tehrte Mary als Witwe in dad Haus ihrer Eltern zurüd. Da fie fehr ftill Ichte, 
blieb ihr neben der Sorge für die Kinder genügende Zeit zu wiſſenſchaftlichen, in®: 
bejondere mathematifchen Studien. Nachdem fie ebene und ſphäriſche Trigonometrie 
und Kegelichnitte, jomwie Ferguſons Aſtronomie gründlich vorgenommen Hatte, machte 
fie ih an Newtons Buch über die mathematische Grundlage der Naturwiflenfchaften, 
„Prineipia“ genannt. Die Schwierigkeiten, auf die fie bei der Durcharbeitung dieſes 
Wertes ftieß, konnte fie nur langjam und nad) eorelor de Bemühungen tieferen Ein: 
dringens bewältigen. Nachdem fie mit Wallace, Profeſſor der Mathematik in Edinburg, 


674 Mary Somerville. 


unbefümmert darum, daß man fie für ercentrifch und thöricht Hielt; das letztere info: 
fern, als man der Anfiht war, daß fie ihre Zeit und ihre Mittel beffer darauf ver: 
wendet hätte, ein behagliches gejelliges Leben zu führen. 

Außer Wallace find noch drei Männer zu nennen, die als Begründer und 
Herauögeber der gerade damald auf ihrer Höhe ftehenden „Edinburgh Review“ bie 
Träger des im beften Sinne modernen Geifteslebend in Schottland waren: Henrv 
Brougbam, Sidney Smith und Profeffor PBlaifair, mit denen Mary in Verbindung 
ftand, und von denen der erftere einen hervorragenden Einfluß auf ihre fpätere willen: 
Ichaftliche Laufbahn gehabt bat. 


* 
* 


Mary Greig hatte in den Jahren ihrer Witwenſchaft mehrere Heiratsanträge 
erhalten und zurückgewieſen. Im Frühjahr 1812 ſchloß ſie den Ehebund mit ihrem 
Better, Dr. William Somerville, und von dieſem Zeitpunkt an wurde ihr Leben in 
breitere, beiwegtere Bahnen gelenkt. Sie gab und genoß das Glüd einer harmoniſch 
geftalteten Häuslichleit und fand fich getragen von der Liebe und Verehrung eines 
Gatten, der ihrer eigenartigen, bedeutenden Begabung die Wege ebnete, ihr jede 
mögliche Förderung zu teil werden ließ. Dr. Somerville war der ältefte Sohn des 
Rektor? von Jedburg; ſeit der Vollendung jeiner Studien bis zum Zeitpunkt feiner 
Heirat Hatte er als Militärarzt im Kolonial- und auswärtigen Departenıent fait 
‚ immer auf Reifen und in den britiichen Kolonien fich befunden. Er war zugegen 
geivefen bei der Einnahme des Kaps der guten Hoffnung burch die Engländer im 
Sabre 1806 und war der erjte Europäer, der (mit Lebensgefahr) in dad Land jenfeits 
des Dranjefluffes vordrang, was zu zahlreichen Beobachtungen von willenfchaftlichem 
Sintereffe führte. Später brachte der Dienft ihn nad Kanada. Nach feiner Rückkehr 
in die Heimat wurde er zunächſt an die Spite des Militär-Medizinalamts in Schott: 
land geſtellt. Das junge Paar nahm feinen Wohnfig in Edinburg. 

Dr. Somerville bejaß feine eindringende Gelehrſamkeit, aber er war in vielen 
Fächern mohlunterrichtet, verfügte über ein gelundes Urteil, eine gut entwickelte 
Intelligenz und viel Weltkenntnis. Seine klaſſiſche Bildung war ebenfo tüchtig wie 
jeine Kenntniffe in mebreren naturwiffenfchaftlichen Fächern, namentlich in ber Botanil 
und Mineralogie. Er war großmütig, Hilfabereit und aufopfernd, wo immer fid) 
Anlaß dazu bot, und wurde feiner trefflichen Charaktereigenſchaften halber Überall gefchäßt. 

Die Ehe beider war eine ſehr glüdliche, da fie fi vollkommen ergänzten; er 
würdigte völlig die ausgezeichneten Eigenfchaften feiner Frau, war ftolz auf ihren 
Befig und erkannte rücdhaltlos ihre geiltige Überlegenheit an. Bon den Schwieger: 
eltern wurde Mary mit großer Liebe als Tochter aufgenommen, beide begten Längit 
den Wunfch, diefe Verbindung fich vollziehen zu fehen. Der Rektor hatte die Nichte, 
die in feinem Haufe geboren war, von jeher wie ein eigenes Kind betrachtet und ibren 
Entwidlungggang mit väterlichem Anteil verfolgt; er zollte ihren ungewöhnlichen 
Gaben und ihrer außgereiften Perfönlichkeit die vollfte Bewunderung und Anerlennung- 

Ermutigt durch ihren Gatten, jeßte Mary nach der Verheiratung das Studium 
des Griechijchen fort, unterftügt von einem jungen Mann, der als Lehrer ihres Sohnes 
Woronzow und als Sekretär des Doktors ihr Hausgenoffe war. Dad Studium der 
Geologie und Mineralogie trieben beide Gatten gemeinfam; fie legten dabei den Grund 
zu ihrer jpäteren wertvollen Sammlung von Mineralien. 

Zu den älteften Freunden der Somervilled gehörte Walter Scott, deijen Wohn: 
fig Abbot3ford nicht fern von Jedburg lag; das junge Ehepaar unterhielt ebenfalls 
freundfchaftlichen Verkehr mit dem gaftlichen Haufe des Dichters, den eine gewenfeitige 
berzlihe Sympathie mit Mary verband. Scott war damals noch nicht der befannte 
Verfaſſer der „Waverley Novels“, die feinen Ruhm dauernd begründen jollten, aber 
nur zu bald lagerten fich die dunklen Schatten um ihn, die feine letzte Lebenszeit 
getrübt Haben. 

Nach vierjährigem Aufenthalt in der jchottifchen Hauptitadt wurde Dr. Somerville 
als Mitglied der Medizinal:Armee-Kommifjion nach London verjegt, wo man ihn zu: 


Marh Somerville. “ 675 


gleich mit der Leitung des großen Militärhofpitals in Chelſea und mit der Infpeltion 
der gleichartigen britiihen Anftalten betraute. Beide Amier hat er bis 1838 verwaltet. 
Innerhalb diefer 23 Jahre entfaltete Mary ihre größte wiſſenſchaftliche Thätigkeit; 
obwohl fie biß dahin noch feine größere Arbeit veröffentlicht hatte, war der Ruf ihrer 
Gelebrfamteit ſchon in weitere Streife gedrungen; es wurde ihr leicht, da das geſell⸗ 
Ichaftliche Leben Londons einen bemerkenswerten Aufſchwung genommen, mannicfade 
wertvolle Beziehungen anzufnüpfen. Durch Profeffor Wallace wurde fie bei Wilhelm 
Herfchel eingeführt; mit ihm und namentlich mit feinem einzigen Sohn John, derzeit 
noch ein Züingling, ift fie durch Bande herzlicher Freundichaft lange verbunden geweſen. 
Mit Wilhelms Schwefter und treuer Gehilfin Karoline, der fpäter, gleich ihr ſelbſt, 
die für Frauen feltene Auszeichnung zu teil wurde, als Mitglied in die Fönigliche 
Aftronomifche Gefelichaft aufgenommen zu werben, wurde fie dagegen nicht bekannt. 

Das Haus der Somervilles in Hannover Square, nahe den wifenfSaftligen und 
Kunftinftituten der Hauptſtadt, bildete bald einen Mittelpunkt für den Verkehr der 
gelehrten Welt; dort erfchienen unter andern auch die beiden franzöfifchen Aſtronomen 
Arago und Biot, die zeitweilig zu Etudienzweden auf englifchem Boden tweilten, um 
der Frau zu huldigen, die fi mit dem Hauptwerk ihres groben Landsmannes La Place, 
der „Mecanique Celeste“, bekannt gemacht hatte und nad) feinen eigenen Worten die 
einzige Frau tar, die feine Werke verftand. 

Während eines bald darauf folgenden Aufenthalts in Paris fanden Mary und 
ihr Gatte die gaftlichfte Aufnahme im Haufe Aragos, defien Liebenswürdigfeit und 
univerfelle Bildung ihr einen bedeutenden Eindrud machte. Er führte fie zu La Place, 
der ihr fein neueftes Werk: „Systeme du Monde“ mit eigenhändiger Widmung 
überreichte. Mit beredten Worten fehildert Mary die Stunden anregenden und heiteren 
gejeligen Beiſammenſeins im engeren Kreife der berühmteften Forſcher jener Tage, zu 
denen außer den Genannten noch 2a Grange, Bouvard und Poinfot zählten; auch 
Alerander v. Humboldt war anweſend, — die Zeit des Konſulats und des erften 
Kaiſerreichs mar die glänzendfte Epoche der phyfifalifchen Aftronomie in Frankreich. 

Marys Intereſſe wandte fi) aud in Paris der Kunft und dem Theater zu; fie 
beiwunderte Talma und bie beiden Hauptvertreterinnen ber tragifchen und der Beiteren 
Mufe Mies. Duchenois und Mars; aber ald große Verehrerin Shakefpeares Tonnte fie 
fih mit den gefünftelten Formen der franzöſiſchen Tragödie nicht befreunden. 

Während ihres nachfolgenden kurzen Aufenthalts in Genf lernte Mary den 
Botaniker de Candolle kennen, mit dem fie fpäter in briefliche Verbindung trat, um 
feinen Rat betreffs tieferen fpftematifchen Eindringens in die Botanik zu erbitten; fie 
betrieb ihre weiteren Studien in diejer Richtung nach feiner Anleitung. — 

Auf einer Schweizerreife im folgenden Jahr erkrankte Mary an einem hart: 
nädigen Fieber, wodurch fie jo geſchwacht wurde, daß Dr. Somerville einen Winter: 
aufenthalt in mildem Klima für nötig erachtete. So lernte fie zuerft Italien kennen, 
daB ihr im Alter eine ziveite Heimat werden follte; fie weilte in Venedig und Florenz, 
danach längere Zeit in Rom. Die Werke der Skulptur, von denen ſie einige der 
ſchönſien ſchon in Paris gefehen, zog Mary denen der Malerei vor, wobei vielleicht 
ihre Vorliebe für die griechiſche Kunſt und Sprache mitwirten mochte. Die Bekannt: 
Schaft mit Thorwaldfen und Canova gehörte für fie zu den intereflanteften Begegnungen 
in Rom. Die erhebenden Eindrüde, die ihre feingeftimmte Seele dort empfing, wurden 
noch bereichert durch öftere vollendete Mufifaufführungen, denen fie bewohnte. Nach 
kurzem Aufenthalt in Neapel und Umgebung kehrte die Familie im Frühling 1818 
nad England zurüd. — ' 

Ein Heiner Kreis aufblühender Kinder, drei Töchter und ein Cohn, umgab jegt 
das Ehepaar. Mary war eine forgfame, pflichttreue Mutter, die das Gedeihen ihrer 
Kinder nad) jeder Richtung bin förderte, fie gab ihnen felbft einigen Unterricht und 
nahm eine franzöfifche Bonne, fowie fpäter eine deutſche Erzieherin ins Haus, um den 
Kindern Gelegenheit zu geben, bie verbreitetften modernen Sprachen ſchon früh ſich 
anzueignen. Sie felbft hatte die Unkenntnis bezw. die mangelhafte mündliche Be: 
herrſchung derfelben zu oft als flörendes Hemmnis empfunden. — Ihre eigenen 

43° 


676 Mary Somerville. 


Arbeiten wurden troß der häufigen Unterbrechungen, an denen es im häuslichen Leben 
nicht fehlte, mit der Ausdauer und Beharrlichkeit fortgefegt, die in Marys Charafter 
lag. Ihr Hauptaugenmerf war fortan auf die gewaltig fortjchreitende Wiſſenſchaft der 
Geologie gerichtet; die daraus rejultierenden ganz veränderten Anſchauungen vom Alter 
des Erdkörpers riefen ſowohl in den Reihen der Theologen als auch fonit in wielen 
ängſtlichen Gemütern lebhaften, zähen Widerfpruch hervor. Als Mary nach einigen 
Jahren ihre Werk über „Phyſikaliſche Geographie” veröffentlichte, in dem die Ergebniſſe 
der neueften geologifchen Forſchungen niedergelegt waren, wurde jogar von der Kanzel 
der York-Kathedrale unter Nennung ihres Namens gegen fie gepredigt. — 

Sn einem Leinen Kreife von Gelehrten, der fi abends oft im Somerpillejchen 
Haufe zufammenfand, wurden die wiffenjchaftlichen Fragen von Bedeutung lebhaft 
bisfutiert; man machte Experimente und ftellte aftronomilche Beobachtungen im Garten 
an. Einer der Herborragendften Teilnehmer war der Mathematiker und Aſtronom 
Dr. Young, der zuerſt die Theorie von den Lichtwellen aufitellte und beren Richtigfeit 
zu beweifen fuchte. Seine Vorlefungen, die veröffentlicht wurden, bildeten eine und: 
grube wertvolliten Materiald für Mary Studien. In diefelbe Beit fiel eine andere 
willenichaftliche That, die den Ausgangspunkt epochemachender kosmiſcher Entbedungen 
bildete. Dr. Wollafton fand bei Beobachtung des Sonnenfpeftrums fieben dunkle, 
dasfelbe kreuzende Linien; er begab ſich fofort zu Mary Somerville und twiederholte 
das Experiment vor ihren Augen; fie erhielt von ihm. ein kleines Prisma, das aus 
Frauenhofers Werkitatt in Münden ftammte, jenes Mannes, deſſen Anteil an ber 
Ausgeftaltung der von Bunſen und Kirchhoff erfundenen Methode der Speltralanaliic 
genugfam befannt if. — Als Tochter eine Seemannes verfolgte Mary mit großem 
Intereſſe und nicht ohne Sachfenntnis die großen Entdedunggreifen, die unter Leitung 
von Franklin und Buchan nad der Oftküfte Grönlande, und von Roß und Paren 
nach Baffinsbay unternommen wurden. Als der lebtere ſich anjchidte, feine britte 
Neife anzutreten, wurde Mary aufgefordert, die Schiffe zu befichtigen, deren Aufenft 
zweckmäßige Ausrüftung, die auf dreijährigen Aufenthalt im Arktifchen Meer berechnet 
war, ihre Bewunderung erregte. Nach Rückkehr der Expedition benachrichtigte man 
die Samilie, daß eine im hohen Norden gelegene, mit ewigem Schnee und Eis bebedte 
nel den Namen „Somerville Island“ erhalten habe. 

Die gute Gefellichaft Londons hatte zu jener Zeit eine Menge talentvoller, geilt: 
reicher ‘Berjönlichkeiten aufzumweifen: Rev. Sidney Smith, Rogers, den Dichter Thomas 
Moore, den Hiftoriker Macaulay, Will, Spencer, Campbell, Sir James Madintofh u. a. 
bildeten den erlefenen Kreiß, den die Somervilles um fich verfammelten. Bezeichnend 
für den Geift, der, von den Wirten ausgehend, die Gejelligkeit im Haufe beberrichte, 
ift der Ausſpruch Marys in ihren Aufzeichnungen darüber: Manche unferer Yreunde 
hatten ſehr ausgeprägte und ſehr abweichende religiöfe Anfichten, aber mein Mann und id 
ließen und niemal3 in eine. Kontroverje ein; wir hatten eine zu hohe Achtung vor der 
Gemillenzfreibeit, um den Meinungen der einzelnen zu nahe zu treten, und jo baben 
wir mit Perfonen der verichiedenften religiöfen Standpunkte in herzlicher Freundſchaft 
gelebt. Ebenfo Habe ich mich in meinen Büchern ſtets rein und ausſchließlich auf 
wiſſenſchaftlichem Gebiet gehalten, ohne das religiöfe je zu berühren. — Marys eigene 
Auffaffung von den höchſten Fragen des Lebens wird beleuchtet durch eine Nußerung, 
antnüpfend an die mathematifch=technifchen Konftruftionen ihres Freundes Babbage: 
„Nichts bat mir einen jo überzeugenden Beweis von der Einheit der Gottheit geliefert, 
wie dieje rein geiftigen Begriffe von der Lehre der Gleichungen und von der Größen: 
lebre, die den Menjchen gewährt worden find und die in dem erhabenen allumfaflenden 
Geifte von Ewigkeit ber beftanden haben müfjen.” — 

Das glüdliche, ſorgloſe Leben in Hannover Square fand einen traurigen Abſchluß. 
Die lange Krankheit und der Tod der älteften Tochter des Haufes, eines Kindes von 
ungewöhnlicher Begabung, verfeßte die Familie in tiefe Betrübnis. Außerdem wurde 
fie durdy große Vermögensverlufte, verfchuldet durch die Unredlichkeit einer Perſon, der 
man unbedingt vertraut batte, in die Notwendigkeit verjegt, das Haus in dem bar: 
nehmen Stadtviertel aufzugeben und nad) Chelſea zu ziehen, wo Dr. Somerville über 


Mar Somerville. 677 


eine mit feiner ärztlichen Stellung am Hofpital verbundene Amtswohnung ver: 
fügte. Diefe Verſetzung in eine unfreundliche, ungefunde Gegend, weit entfernt von 
den Familien, die ihren Umgangskreis bildeten, war für Mary ein empfindliches Opfer, 
das ihr ftet3 fühlbar blieb, weil fie während der Jahre des dortigen Aufenthalts 
geſundheitlich viel zu leiden hatte. Uebrigens bot fi ihr alsbald Gelegenheit, neue 
interefjante Bezichungen anzufnüpfen, u. a. mit Lady Byron und deren Tochter Ada. 
Mary ift mit der Frau und Tochter des Dichters in lebendlanger Verbindung geblieben; 
die legtere ſchloß fich ihr Herzlich an und trieb auf Marys Rat nicht ohne Erfolg 
mathematifche Studien. Ihr fpäterer Gatte, Lord King, war ein Kollege und Freund 
von Woronzow Greig. Eine zweite, warme Freundichaft verband Mary mit der Schrift: 
ftellerin Maria Edgeworth; beide Frauen haben während fiebzehn Jahren Iebhafte 
Korrefpondenz mit einander geführt. Mary rühmte den ungemeinen Zauber ihres Briefftils 
und fügte hinzu: „ficherlich find die Frauen den Männern im Brieffchreiben überlegen“. 

Nach der Nüdkehr von einer Reife durch Belgien und Holland, die Dr. Somerville 
mit feiner Frau im Frühjahr 1827 unternahm, wurde der letzteren durch Lord 
Broughams Vermittlung eine ebenfo überrafchende als ehrenvolle Aufforderung zu teil, 
die ihrem ferneren Leben und Schaffen einen neuen ftarfen Impuls verlich. Die 
„Geſellſchaft zur Verbreitung nüglicger Kenntniffe” wünſchte die Ausarbeitung einer 
popular⸗wiſſenſchaftlichen Darftellung von La Places „Mecaniyue Celeste‘, die 
auch den Ungelehrten die Bedeutung, den Wert und ben wejentlichen Inhalt dieſes 
berühmten Werks in faßlicher Weile nahebringen follte. Die Löfung diefer Aufgabe, 
mit der Mary Somerville auf einftimmigen Vorfchlag des Vorftandes der genannten 
Gefelichaft betraut wurde, war infonberteit geeignet, den Beweis zu erbringen, ob es 
möglich fei, den mit der Differential: und Iniegralrechnung nicht vertrauten Laien 
bis zu einem gemwiffen Grade Einblid in die mathematifchzaftronomische Wiſſenſchaft 
zu eröffnen. — Nach mandyerlei Bedenken und unter der Bedingung, die Sache geheim 
zu halten, und der andern, daß die Arbeit in Fall des Mißlingens in aller Stille 
vernichtet werde, beſchloß Mary, den Verſuch zu machen. Die Ausführung erforderte 
eine beträchtliche Zeit, denn fic mußte bon neuem die Erfahrung machen, daß die 
Frau nicht das Recht ungeftörter Ruhe bei geifliger Arbeit für fich in Anſpruch nehmen 
tann. Sie war au zu rüdjichtövoll gegen die Beſuche, die zu ihr kamen, um ſich 
ihnen zu entziehen, außerdem fonnte und wollte fie um ihres Mannes willen die 
Gefelligfeit nicht zu fehr einſchränken. — Mary befaß in hohem Grade die Fähigteit 
der Konzentration; wenn fie mit einem fchwierigen Problem bejchäftigt war, jo bemerkte 
fie nicht8 von dem, was um fie ber vorging; wurde fie unterbrochen, fo erledigte fie 
ſchnell und ohne Ungebuld, was man von ihr verlangte (dies galt namentlich für die 
Nachhilfe bei den Aufgaben ihrer Kinder), und durch lange Schulung darin geübt, 
ſetzte fie alsbald ihre Arbeit fort. Im großer Spannung erwartete fie das Urteil 
über ihr vollendete Werk, und es machte fie wahrhaft glüdlich und ſtolz, daß es in 
bohem Grade günftig ausfiel. Einer der berufenften Kritifer, Sir John Herichel, 
teilte ihr im Worten voll ehrender Anerkennung mit, daß fie den in ihr Können 
gefegten Erwartungen vollauf entſprochen babe. „Fahren Sie fo fort”, fchrieb er, 
„und Sie werden ber Nachwelt ein Andenken ungewöhnlicher Art hinterlaffen, oder, 
was Sie vielleicht höher ſchätzen als Ruhm, Sie werden ein fehr nügliches Werk 
vollbracht Haben.” Sir John war Marys treuefter und befter Freund, auf deffen 
Meinung fie vor alen anderen Wert legte; fie ſchätzte ihn ala Menſchen wie als 
Gelehrten gleich Hoch, er hegte für fie die größte Bewunderung und Hocachtung, 
erwies ihr ftetd ritterliche Ehrerbietung und übte zugleich offene und freimütige Kritik 
an ihrem Schaffen, die fie ihrerfeitö bereitiillig und dankbar aufnahm. Auf feinen 
Nat wurden einzelne Partien des Buches zur Erzielung geößerer Deutlichkeit und 
Ausführlichleit einer Umarbeitung unterzogen für die Ausgabe, die eine populäre jein 
follte, während die urfprüngliche Faſſung für den Gebrauch wiſſenſchaftlicher Streife 
beftimmt wurde. Diefe Teilung erwies fich als notwendig, denn die Verfafierin ſetzte 
bei dem Lefer zu viel voraus; fie konnte und wollte indefjen nicht, um das Verftändnis 
zu erleichtern, die Präzifion der wiſſenſchaftlichen Terminologie aufgeben. 


Marb Somerville. 6 


Sie vereinigen Gaben und Errungenfchaften männlicger Art mit der feinften und 
beicheidenften Weiblichkeit. Ich weiß in der That von feiner Frau, ich möchte fagen, 
von feinem menfchlichen Weſen, das foviel Erfolg und Beifall Hinnimmt, ohne in die 
Schwache der Eitelkeit zu verfallen.“ — Brewſters Urteil ift in die Worte zufammen- 
gefaßt: „Das Vuch giebt eine Mare und gedrängte Überfiht ber allgemeinen Grund: 
lagen und vornehmiten Thatjachen der phyſikaliſchen Wilfenfchaften unter Benugung 
faft ſamtlicher meuen Entdedungen, die noch nicht ihren Weg in populäre Werte 
geiunden haben. Der Stil ift einfach, Mar, energifh und, wo es fid um Beziehungen 
auf großartige Erſcheinungen der Sinneswelt handelt, hebt die Sprache ſich zu 
ergreffender jeredtſamkeit.“ 

Die Verbreitung von Mary Somervilles Schriften in den Vereinigten Staaten 
hatte zur Folge, daß ihr auch von dort her Ehrenbezeugungen zu teil wurden. Die 
Geographiſche Geſellſchaft von New-NYork und bie P —ES Geſellſchaft von 
Philadelphia „zur Verbreitung nüglicher Kenntniſſe“ ernannten fie zu ihrem Mitglied. 
Perſonliche Beziehungen zu einigen ber bebeutendften Männer der neuen Welt wurden 
von Mary fehr geihägt; das galt befonderd von Wafhington Irving und dem Dichter 
Longfellow. In Bezug auf Iegteren bemerkt fie: „Das Welen und die Erfcheinung 
eine berühmten Mannes entfpricht nicht immer den Vorftellungen, die man fi von 
ihm gebildet hat, in diefem Fall aber wurden meine Erwartungen weit übertroffen.” 
Kongfelotos gewinnende Manieren wie feine Unterhaltung machten auf fie ben 
günftigften Eindrud. 

Der Plan zu ihrem bedeutenden Werk über „Phufitalifche Geographie” beſchäftigte 
bereits Marys Denken, als eine lange und gefährliche Krankheit ihres Mannes fürs 
erfle ihre Zeit und Kraft in Anfpruch nahm. Die Notwendigkeit, für den Winter ein 
warmes Klima aufzufuchen, führte die Familie wiederum nach Stalien, wo fie in 
der Folge mit einigen fürzeren Unterbrecjungen ftändigen Aufenthalt nahm, da 
Dr. Somervilles Gefundheit dem heimifchen Klima nicht mehr ftandhielt. Der erſte 
Winter wurde in Rom verlebt, wo Kunft und Natur, fowie ein Kreis interefjanter 
Menſchen während diefer und mancher nachfolgenden „saison‘ das Leben für Mary 
äußert antegend und genußreich geftalteten. Sie hatte nun endlich die Freiheit erlangt, 
ſich ungeftört und ausgiebig mit ihren wiſſenſchafilichen Arbeiten befchäftigen zu können. 
Durch neue Verbindungen mit Fachgelehrten, fowie durch eigne Beobachtungen und 
Forfchungen in der für ihre Zwede beſonders geeigneten Landſchaft, gelangte fie 
allmählich in den Befig jenes umfallenden Materials, deſſen fie bedurfte, um das 
genannte Werk auszuführen. Während ihres Aufenthalt in Florenz im folgenden 
Winter würdigte der Großherzog Leopold von Toskana fie feines bejonderen Wohl: 
wollens; fie genoß u. a. den Vorzug, Bücher aus feiner großartigen Privatbibliothet 
entleihen zu dürfen, ein Umftand, der ihren Studien ſehr zu ftatten kam. Florenz 
bot überhaupt weit mehr litterarifche und wiflenfchaftliche Hilfsmittel als Rom. 
Mary Ernennung zum Mitglied der dortigen Akademie für Naturwiffenfchaften war 
der Anfang zahlreicher Ehrungen gleicher Art, die ihr in ber Folge feitens anderer 
gelehrter Körperfchaften in verjchiedenen Städten Italiens zu teil wurden. 

Der nach den Jahreszeiten wechſelnde Aufenthalt führte die Familie des öfteren 
ſowohl in die intereffanteften Städte und Drtichaften Oberitaliend, als aud dem 
Süden de3 Landes zu. Mary lernte alle Städte, die fie befuchte, beffer kennen, als 
die Mehrzahl der Ausländer; denn überall boten ſich ihr fait ungeſucht nügliche und 
angenehme Beziehungen zu den bervorragendften einheimifchen Familien, ſowie zu den 
gerade anweſenden Fremden von Bedeutung. Sinige Briefe aus dem Jahr 1843 an 
ihren Sohn Woronzow Greig geben fehr anmutende Schilderungen von dem in Venedig 
verlebten Sommer und von Ausflügen nach Ferrara, Perugia u. |. m. — Während 
der Reifezeit rubten die wiflenfchaftlichen Arbeiten, dagegen beſchäftigte Mary fich oft 
und gern mit Aufnahme von Skizzen nach der Natur. Die alte Neigung zur Malerei 
und bie Fähigkeit, fie auszuüben, blieben ihr biß ind Alter treu. — Im Sommer 1844 
teifte Mary in Begleitung eines alten Freundes auf einige Monate nad) England, 
wo fie zunächft in ber Familie Sir John Herfchels gaftlihe Aufnahme fand. Die 


680 Mary Somerville, 


vielfeitigen hohen Geiltesgaben dieſes Mannes, fein eminentes Willen, fein lieben: 
würdiger Charakter erfüllten fie von neuem mit größter Beiwunderung, und fie freute 
fich der fruchtbaren Anregungen, die fie im Verkehr mit ihm während dieſes Bei— 
fammenfeind wiederum empfing. Ein Befuh in ihrer fchottiichen Heimat und in 
Edinburg, der eine Fülle alter Erinnerungen und neuer Eindrüde hervorrief, endlich 
das Wiederſehen mit dem Sohn und der Schwiegertocdhter in London, das ihrem 
Verweilen auf Heimifchem Boden einen befriedigenden Abſchluß gab, Tieß fie erfriſcht 
und gefräftigt zu den Ihrigen zurüdfebren. 

Unter den Arbeiten, mit denen Mary während des folgenden Winters in Rom 
beichäftigt war, verdient ein Erperiment bejonderer Art erwähnt zu werden. Sie 
unterfuchte die Wirfung des Sonnenſpektrums auf den Saft gewiſſer Pflanzen und 
. anderer Subftanzen; ein Bericht über die gewonnenen Ergebniffe, den fie am Herſchel 
fandte, wurde von diefem mit großem Intereſſe aufgenommen und der „Königlichen 
Geſellſchaft“ vorgelegt. Er beglüdwünichte die Freundin in warmen Worten dazu, 
daß ihr vergönnt geweſen fei, in einem jonnigen Klima wertvolle Unterfuchungen 
folder Art anzuftellen und fügte hinzu, daß dieſelben ein weites Feld fchöner und 
lohnender Forschungen erichließen würden, weil fie ahnen ließen, „daß das Sonnen: 
ſpektrum eine Welt von Wundern birgt, die noch der Entbüllung harten“. 

Als Mary während eines jpäter wiederholten Aufentbalt3 in Schottland ſich 
anjchidte, die „Physical Geography“ in Drud zu geben, erihien Humboldt: 
„Kosmos“. Ihr eriter Impuls war, die eigene Arbeit zu vernichten, aber ihr Gatte 
bielt fie davon ab, und auf den Rat fachverftändiger Männer wurde fie dennod 
veröffentlicht. Das Werk fand eine fehr günftige Aufnahme, und al® Mary nadı 
längerer Zeit ein Eremplar der zweiten Auflage dem Verfaſſer des „Kosmos“ zu: 
Ihicte, erhielt fie ein überaus anerfennendes und jchmeichelhaftes Schreiben von 
Humboldt. „Ich kenne Fein Werk über phyſikaliſche Geographie in irgend einer 
Sprache, das dem hrigen zu vergleichen wäre”, heißt e8 in feinem, vorm Juli 1849 
aus Sansſouci datierten Brief, und er ermutigt fie zu einer Erweiterung desfelben. 
„Sie allein wären imftande, die herrliche Litteratur Ihres Landes durch ein voll: 
jtändiges Tosmologifches Werk zu bereichern, gejchrieben mit jener durchſichtigen Klarbeit, 
jenem erlefenen Gejchmad, der alles, was aus Shrer Feder ftammt, auszeichnet.” Er 
wünfcht, daß die himmliſchen Spbären, in denen fie ebenſowohl heimifch, wie in den 
irdifchen, durch fie in einem Gefamtiwerf zur Darftellung gelangen möchten. Eine 
gleich rühmliche Beurteilung fand das Bud) durd) den von Mary hochgeſchätzten, ihr 
perjönlich bekannten Phyſiker Faraday, der namentlich hervorhob, daß er demfelben 
mandje wertvolle Belehrung verdante. 

Der Krieg zwiſchen Ofterreih und Sardinien verzögerte die Rückkehr der 
Somervilleg nach Italien; fie gingen, um rubigere Zeiten abzumarten, tm Herbft 1848 
nah München, wo fie den Winter verlebten. Seit 1822, da Mary mit ihrem Gatten 
eine Rheinreife unternommen, die fie bis Bonn führte, hatte fie nicht wieder auf deutſchem 
Boden geweilt. Eine furze Notiz aus ihrem Tagebuch über den Münchner Aufentbalt 
erwähnt wenig mehr al3 den Bejuch der Eaffiihen Muftlabende im Odeon; doch 
ſcheint fich ihr das Verſtändnis für die größten Werke alter deutjcher Tonkunſt nicht 
in dem Maße erjchloffen zu haben, wie für die italienische Mufit. Als die Familir 
Ende des Jahres 1849 italienischen Boden wieder betrat, nahm fie zunächit längeren 
Aufenthalt in Turin, wo fie im Haufe Cavour Wohnung fand. Die Belanntichaft 
mit den beiden Brüdern, insbeſondere mit dem Grafen Camillo Cavour, Stalien? 
größtem Staat3mann der Neuzeit, war für Mary von großem Intereſſe; fie feierte 
ihn in begeifterten Worten und beklagte feinen frühen Tod als ein nationales Unglüd, 
deſſen Nachwirfungen fich noch lange fühlbar machen würden. In Florenz, wohin fıe 
mit den Ihrigen zurückgekehrt war, wurde fie Zeuge der Entthronung der Oflerreichiich: 
Lothringifchen Dynaſtie, die Tänger als ein Jahrhundert über Toslana geberrict 
batte; fie begrüßte diefe Wendung der Dinge mit vollem Verſtändnis für ihre 
geichichtliche Bedeutung. Als Tochter eines freien Volks, getreu den liberalen Grund: 
jäßen, die fie feit ihrer Jugend gehegt Hatte, galt ihr das Streben der Italiener nad) 


Mary Somerbille. 681 


Befreiung von fremdem Joch als gerecht und felbftverftänblih. In den Briefen, bie 
Mary während de3 Zeittaumd vom Mai 1859 bis Juni 1861 an ihren Sohn in 
London richtete, nimmt die Politik einen breiten Naum ein. Cie zweifelte nie daran, 
daß die Sehnfucht aller Patrioten nach einem geeinten Italien fi erfüllen werde; 
und als es ihr vergönnt war, den Tag zu erleben, an dem Victor Emanuel in Rom, 
der neuen Hauptftadt des Königreichs, einzog, da flimmte fie vol Begeifterung in 
den Jubel ein, den dieſes denfwürdige Ereignis hervorrief. Die nahen Beziehungen 
der Somervilles zu den leitenden Polititern in Toskana und Piemont, zu Ricafoli, 
Menabrea, Minghetti u. a. trugen nicht wenig bazu bei, ihr Intereſſe an allen 
äußeren und inneren Vorgängen im Lande zu erhöhen. 


* * 
* 


Im Juni 1860 ſtarb Dr. Somerville nach kurzer Krankheit; in dem glücklichen 
harmoniſchen Familienleben entſtand dadurch eine ſehr fühlbare Lücke; aber ſo tief die 
so jahrige Witwe dieſen ſchmerzlichen Verluſt auch empfand, — ihre Lebensenergie 
wurde doch nur vorübergehend dadurch beeinträchtigt. Sie beſaß noch eine verhältnis: 
mäßig große törperliche und geiftige Spannkraft. Die treue Pflege ihrer beiden Töchter 
erleicyterte ihr die herannahenden Beſchwerden des Alters und machte ihr die häusliche 
Vereinfamung meniger fühlbar. Mary jagt von ſich in jener Zeit, „daß die Ausdauer 
und Willenskraft der Jugend noch einmal in ihr aufgelebt fei”, als fie den Entſchluß 
gefaßt, eine neue, ihre legte größere Arbeit zu unternehmen. _ 

Das vervolllommnete Mitroftop hatte während des legten Dezenniums eine biß 
dahin unfichtbare, ungelannte Schöpfung in der Luft, im Wafler, auf der Erde, den 
Menſchen vor Augen geführt; die Struktur der Pflanzen und Tiere war auf das 
genauefte unterfucht worden, die mit dem eleltriſchen Licht angeftellten Experimente 
hatten zu Entdedungen von weittragender Bedeutung geführt. Mary, die alle Fort: 
ſchritte beftändig verfolgt hatte, ſah ein neue, weites Feld vor fi, und fie wünſchte 
ihre früheren Arbeiten, indbefondere „The connexion of Physical Sciences“, zu er- 
gänzen und abzufchliegen durch eine überfichtliche Zufammenftellung der wichtigften 
Ergebnifje auf jenen Forichungsgebieten. Das auf optifche Unterfuchungen geftügte 
Werk erhielt den Titel: „Molecular and Microscopie Science“, fie gab ihm als 
Motto den Ausfpruch des 5. Auguftin: „Deus magnus in magnis, maximus in 
minimis.“ Während des Winterd 1861—62, den fie in Turin verlebte, wo die 
nötigen Hilfsmittel zu diefer Arbeit am reichlichften vorhanden waren, wurde diefelbe 
begonnen. In den Vormittagsftunden, die fie im Bette verbrachte, pflegte Mary, troß ihrer 
zitternden Hände, vier bis fünf Stunden anhaltend zu ſchreiben. Ihre noch ungeſchwächte 
Sehkraft geftattete ihr, den feinften Drud zu leſen, jo daß fie ohne Hilfe arbeiten 
konnte. Das Werk wurde aber erft 1869 in zwei Bänden in London veröffentlicht; 
es findet fi in dem vorliegenden Material keine Erwähnung der Aufnahme, die ihm 
zu teil geworden, Mary felbft fagt fpäter darüber: „EB mar ein großer Mißgriff 
meinerfeit8, dieſes Buch zu fehreiben, und es reut mich, es gethan zu haben. Auf 
dem Gebiet der Mathematik, auf dem meine eigentliche Begabung liegt, hätte ich etwas 
Nugbringenderez ſchaffen können, wenn ich mic) ausfchließlich jenem Studium gewidmet 
haben würde, um fo mehr, da eine neue Ara für dieje Wiſſenſchaft angebrochen war.” 
Dieſes ftrenge Urteil über die_ eigenen Leiftungen ift bemerkenswert angeſichts der 
befannten großen Erfolge, die fie in ihrer litterarifchen Laufbahn errungen. 

Als Mary von langer, bei ihrem hoben Alter nicht unbedenklicher Krankheit 
genefen war, wurde fie durch einen Beſuch ihres Sohnes und feiner Gattin erfreut; 
fie verlebten gemeinfam einige Wochen in Florenz und in Epezia, dann trat das Che: 
paar die Nüdreife an. Es war ein letztes Wiederſehen geweſen, — Woronzow Greig 
ftarb plöglich im Herbft 1865. Die innigfte Geiftesgemeinfchaft hatte ihn ftet3 mit 
der Mutter verbunden; fo.verfiegte für fie mit feinem Scheiden eine Quelle ungetrübter 
Lebensfreude; doch trug fie diefen neuen Verluft mit der ihr eigenen ruhigen Würde 
und Kraft, in der Überzeugung, daß die Zeit nicht mehr fern fei, da der Tod fie mit 
ihren vorangegangenen Lieben wieder vereinigen werde. 





Mary Somerville. 688 


begierde des jungen Mädchens erwedt hatten, welche die an ber Außerften Alterägrenze 
fiebende Frau vorzugsweile befchäftigte, indem fie nicht nur mit den neueften ein= 
ſchiagigen Werken ſich bekannt machte, ſondern auch die Löfung algebraifcher Probleme 
erfolgreich unternahm. Außerdem mar fie bis zu ihrem legten Lebenstag mit der 
Revilion und Erweiterung einer vor Jahren geichriebenen Abhandlung über „Theory 
of Differences“ beſchaftigt. Daneben las fie ihre Lieblingsdichter Dante und 
Shafefpeare, auch die moderne Belletriftit wurde nicht verfchmäht. — In Erwägung 
diefer und aller Umftände ift es begreiflih, daß Mary fih vollkommen glücklich fühlte, 
glüdlicher noch, als in den Tagen der frifchen fröhlichen Jugend; ihrem Ende ſah fie 
mit volllommener Faffung entgegen, obwohl es ihr ein fchredlicher Gedanke war, 
„daß ihr Geift ganz allein in eine neue unbelannte Eriftenz übergehen ſollte“. — 
Dur ein gütiges Geſchid blieb fie von jeder Vorahnung des Toded verſchont; er 
nahte ihr im Schlaf; in den erften Morgenftunden des 29. Novemberd 1872 erlofch 
fanft und ſchmerzlos ihr Leben. 


* * 
* 


Einige Züge, die dad Weſens- und Charafterbild von Mary Somerville zu ver: 
volffändigen haben, mögen ben Abſchluß bilden. Sie war von tiefer und aufrichtiger 
Neligiofität erfüllt, die alle ihre Gedanken und Handlungen beeinflußte. Die Formen 
und Lehrfäge des kirchlichen Belenntniffes hatten für Re geringe Bedeutung, daher 
vermochte fie auch die moderne Weltanschauung, wie fie als Ergebnis einer fort: 
geichrittenen Wiffenfchaft ſich herausgebildei, mit ihrem criftlihen Glauben durchaus 
in Einklang zu bringen. Sie hat fi nie gefcheut, neue Ideen oder Theorieen ernitlich 
zu prüfen, ſelbſt wenn fie mit ihren früher gehegten Überzeugungen nicht überein- 
ftimmten. Sie hatte ein heiteres, fanguinifches Temperament und war flet3 geneigt, 
mehr bei den Lichtfeiten als bei den Schatten des Lebens zu verweilen. Beicheiden 
und anſpruchslos faft bis zum Übermaß, zeigte fie ftet3 das größte Intereffe für die 
Leiftungen und Entdedungen anderer und jorgte für die Verbreitung fremden Ruhmes, 
während fie um ben eigenen nie im minbeften bemüht war. — „Das wahrhaft Be: 
deutende an ihr”, fo urteilt W. de Reumont!) nach wiederholt empfangenen perjönlichen 
Eindrüden, „war das feltene Maß der Beherrichung des großen Gebietes der Natur: 
wiffenfchaften, von deſſen Teilen feiner ihr fremd blieb, während fie in den meiften 
völlig zu Haufe war.” — „Unter allen ihr gegollten Huldigungen blieb fie fich immer 
gleich, einfach und ohne Spur von Prätenfion, gleichſam unbewußt ber ihr allgemein 
zuerfannten hohen Stellung. — Man konnte lange mit ihr verkehren, ohne zu ahnen, 
daß fie auf den Höhen des Wiffens ftehe. In ihrem Auftreten war fie ſehr beſcheiden; 
ihre Unterhaltung hatte —* Glanzendes, ihre Schüchternheit hatte von Jugend an 
ihre Teilnahme an lebhafter Unterhaltung in weiteren Kreiſen behindert. Ihre 
Lieblingsftudien waren zudem von ber Art, daß fie fich für ſolche Unterhaltung weniger 
eigneten. — Obgleih in verſchiedenen Fächern gründlich unterrichtet, Hatte ihr Geift 
außerhalb der mathematifchen Fächer wohl Klarheit und Präzifion, aber weder Tiefe 
noch Originalität. — Ihr Urteil über Menſchen und Dinge wurde mehr duch Wohl: 
wollen und eigene innere Harmonie, als durch fcharfes Erkennen der Charaktere und 
Ermeffen der Umftände bedingt. — In der Erſcheinung, in der ganzen Haltung und 
in den Anſichten fprach ſich die ruhige, einfache Lebensanfchauung und Milde aus, 
gezeitigt durch überwiegend wohlthuende Erfahrungen eines von Leid und Verluften 
nicht verfchonten, aber trogdem reich beglüdten Lebens.“ 


) „Sifterifches Taſchenbuch“ 1877. 


le 


686 Mutter Maria. 


hört zivar neuerdingd wohl behaupten, daß die ftudierenden Frauen fi in Gegenſat 
zur Frauenbewegung ftellten, man hört offen über ihren Undank ber Frauenbewegung 
gegenüber Klagen. Wenn an biefer Klage etwas Wahres fein follte, jo muß mindeſtens 
ein mildernder Umftand geltend gemacht werden. Die heutige Frauenbewegung hat 
in ſich felbft ein dilettierendes Element zu befämpfen, Frauen, die kraft ihrer Eigenſchaft 
als „Frauenrechtlerinnen“ plöglih alles zu verftehen glauben, was mit Frauen 
irgendwie zufammenbängt, und die ſich daher in vieles mifchen, was fie nicht über: 
jehen können und was fie nichts angeht. Sie haben den ftudierenden Frauen meh: 
als einmal ernfte Schwierigkeiten bereitet, und die energifche Zurüdweilung ſolchet 
Einmifchung ſeitens der Studentinnen, wie fie ſowohl bei der Angelegenheit der 
Halliſchen ') Kliniziften, wie beim Fall?) Behrendt in Berlin erfolgte, war völlig geredt: 
fertigt. Im übrigen aber ift jede ftudierende Frau ein Produkt und ein Faktor der 
Frauenbewegung. Sie dient ihr, fie mag wollen oder nicht, durch ihre Arbeit. Gerade 
jegt ift für die deutjche Frauenbewegung der Zeitpunft da, wo fie ihre Berechtigung, 
die jo lange nur durch Neden behauptet iverden konnte und behauptet werben mußte, 
mehr und mehr durch Thaten beweifen kann und muß, und eine tüchtige Ärztin, eine 
Philologin, die fich Lediglich in ihre Studien vertieft, eine fähige Oberlehrerin, ein 
Armen: und Waijenpflegerin, eine Fabrikinfpeftorin kann ihr eine weit feftere Stüte 
werden, als eine Berufs: Frauenrechtlerin, die ohne Rückſicht auf das hiſtoriſch Ge: 
wordene ganz Deutfchland über Nacht „reformieren” möchte. 

Und darum noch einmal ein Glüdauf auch der Frauenbewegung, die in biejen 
Tagen neue Beweisfräfte in Geftalt fähiger, tüchtiger Arbeiterinnen gewonnen bat. 


— I MEr— 


Mutter Maria. 


Ton 
G. 3. Rleft. 


Nachdruck verboten. 


„Willſt eine Weisheit? 's ift fo Menfchenart!” 
„Ich Schau und ſchweige.“ 


a8 find Worte, die bezeichnend für das Schidfal der Bühnen: Dichtung „Mutter 

Maria” ?) von Ernft Rosmer find, die bei ihrer Aufführung durch dad Deutſche 

Theater in Berlin (19. Mai d. 3.) von Publitum und Preffe mit Stimmen: 
mehrheit abgelehnt wurde. Die Ablehnung läßt ſich am Ende begreifen, wennſchon 
vielleicht in der verfloffenen Saifon fein ziveites Stüd vor ung getreten ift, im dent 
joviel ernftes, heißes Wollen, ſoviel fchönes, ftarkes, reiches Können fich geoffenbarl 
haben. Es ift nichts Kleines, Geringes, was und die Frau, gefchenft Bat, die fid 
Ernft Rosmer nennt. Aber wer fi) in die ftile Duntelheit des Zuſchauerraumes 
feßt, um auf der Bühne das Spiel des Lebens an fich vorübergleiten zu lafjen, der 
begnügt fich felten nur mit dem Schauen und Schweigen. Dffenbarungen, die dem 
Zufchauer dad Schweigen aufzwingen, find felten in unfrer modernen Litteratut. 
Und fo fucht er denn, aus einem natürlichen und gefunden Inſtinkt heraus, eine 


1) f. 6. Jahrg. Heft 8 der „Frau.“ — 2%) f. 7. Jahrg. Heft 6 der „Frau.“ 
) Berlin 1900, S. Fifcher Verlag. 


Mutter Maria. 687 


„Weißheit”. Ja, das ift num eben mal fo Menfchenart. Der er läßt ſich's gern 
gefallen, aus des Tages Staub und Nüchternheit ind Land der Märchen zu teilen, 
die in ihrer unbefangenen Selbfiverftändlichkeit und Anfpruchelofigfeit und für Augen- 
blide den lieben, unweifen Kinderglauben wiederfchenten. Aber jolche Märchen werden 
heut nicht mehr geichrieben. Wir können’s eben nicht. 

Ernft Rosmer bat fein Märchen dichten wollen, obſchon fie wohlbekannte 
Märchengeftalten um ſich verfammelt hat. Den jugendtrunfenen königlichen Menſchen, 
dem alle Thale der Erbe zu eng find und der ausftürmt, das Unfaßbare, Erbenferne 
fih zu eigen zu maden. Die Bergfee mit goldenen Haaren und filbernen Füßen, 
die durch die Liebe Menfch wird und mit ihrer thränenſchweren Seele nicht mehr den 
Weg zurüdfindet von der Erde in ihr luftiges, leidloſes Reich. Den uralten Einfiedel, 
der in feiner naiven Frömmigkeit, in feiner humorvollen Weltweisheit gleich dem 
getreuen Edart die Verirrten auf den ſchmalen, fchlichten Weg weiſen möchte — 
und endlid den Tod, der in den legten Jahren Stanımgaft auf unfern Bühnen ges 
worden ift und dem wir armen Sterblichen nachgerade wohl ohne allzu großes Grauen 
ins Auge bliden müßten —- fo fehr zeigt er ſich als einer, der ziemlich gemütlic) 
und — lang mit fi) reden läßt. 

Diefe Geftalten hat Ernſt Rosmer zu einer fymbolifchen Dichtung vereinigt, bie 
üiberquillt von leuchtendfter Poefie, von zartefter, kräftigſter Schönheit, in der fa aber 
nicht ohne Mühe der leitende Gedanke finden und fefthalten läßt. 

Der Tod kommt zum Einfiedel, der aber keineswegs geneigt ift, dem ſchwarzen 
Gefellen zu folgen. Er Hat nod ein Lebenswerk zu vollenden — ein Glaubens: 
denkmal — das Bild der Gottedmutter, aus einem Felſenkoloß gemeißelt; und der 
Tod läßt ihn jein Dafein weiter friften. Er fällt dafür den jungen Bergjäger an, der 
im Rauſch der Früblingskraft an den beiden vorbei in die Wolfen binaufftürmt, die 
weiße Bergſchweſter zu fallen und in Liebe zu fi zu zwingen. Das gelingt dem 
Jäger, doch er büßt feine Schöpferluft mit dem Tode. Der goldene Gürtel, den er 
der Geliebten entrifien hat und in feiner erftarrten Hand feſthält, zieht die Berg⸗ 
ſchweſter nieder aus ipren freien Regionen ind Reich der Menſchen. Schon hält die 
Erde fie, — die Seele erwacht in ihr, und fie Hört den erften Ton des uralten, 
zwingenden Mutterliedes. Sie ift Menfch geworden, und an der Hand bed Todes 
fteigt fie hinab, ihr leidvolles Erdenwandern anzutreten und den Kampf mit dem 
finfteren Gefährten aufzunehmen. In kalter Nacht, im wilden Winterwind, einfam, 
audgeftoßen, ringt fie ihn in allgewaltiger Mutterliebe nieder und bringt ein Kind zur 
Welt, das fie droben in der verlafienen Hütte des Vergjägers hegt. Der Einfiedel 
fteht ihr bei mit Rat und That. Er forgt für fie und möchte fie zu Gott befehren. 
Doch trog ihrer leidenfchaftlichen, fehmerzfreudigen Mutterfchaft drängt in ihr das 
ehemalige Ich, der alte Naturtrieb auf. In lodender Sommernadht geht fie mit den 
einftigen Schweftern, die kommen fie zu holen, hinauf in den Eißpalaft — zum 
Geiftertang. Aber auch das alte Sein hat nicht mehr volle Macht über fie. Ermattet 
und friedlos fehrt fie in ihre Hütte zurüd. Dort bat in der Nacht der Tod das 
verlaffene Kind gewiegt und hat ihm die rote Mohnblüte zu Häupten gelegt. Mutter 
Maria’3 Kind ift tot. 

In tagelangem, ohnmächtigem Jammer, mit „ausgeweintem Menfchenherzen”, er: 
fämpft fie ſich wieder die alte Geifterkraft. Sie ringt um den Schatten ihres Kindes, 
dem fie durch ihre gefpenftiiche Gewalt den Weg zum Himmel wehrt, den fie zu fi 
niederlodt. Aber der ruheloje Schatten weicht vor ihr zurüd, bie ihm eine Fremde 
ift: „Du bift Stein — dort ift meine Mutter” — und wendet ſich von der Lebenden 
zum fteinernen Marienbild. Und in der Bergſchweſter vollzieht fich die legte, höchſte 
Wandlung. Die göttliche Liebe fiegt, fie giebt ihr Kind dem Himmel. Und der Tod 
nimmt fie, die fih durch das Staubgewand des Menfchentums zum Königsmantel der 
Göttlickeit Hindurchgerungen hat, in feine Arıne. 

Eine Fülle von Motiven drängen ſich in der Dichtung, die aber mit einer nicht 
ganz wegzuleugnenden Unflarheit aneinandergereiht find. Ein Hohelied der Mutter: 
liebe — ein Schweftergruß von Weibe zum Weibe — eine in Tönigliches Gewand 


588 Die Blumenſchlacht. 

gekleidete Bitte — Forderung vom Weib zum Mann — oder einfach fchlichtiweg eu 
Zotengedicht — alle jchimmert, wie das Licht aus dem Opal, aus der Gabe, dic 
Ernft Rosmer und bietet. Man läßt am beiten jeden den Kommentar zu foldir 
Dichtung in fich felbft fuchen. Finden wird jeder etwa® — mancher viel. Es liegt 
nun einmal leider in der Kunft unferer Zeit, daß fie und durch viel graue Neflerion, 
durch viel grüblerifche Symbolif den Weg zur Schönheit erfchwert. 

Ein fo außergewöhnlich ſtarkes Talent, wie Ernft Rosmer, wäre wohl aber 
dazu berufen, zu zeigen, daß es die Mittel entbehren kann, mit denen die „Vielen und 
Kleinen” arbeiten, daß es fich von der Driginalitätzfucht, von der tupifchen Furcht 
vor allem Einfachen, Schlichten, Grad: und Neinlinigen freimacen kann. Wer folde 
Sprachkraft beit, wer ſo tiefe Poeſie der Seele zu geben bat, der ift und bleibt im 
einfachiten Gewand am fehönften und am größten. 


Die Blumenſclacht. 


Bon 


Charles Folen. 
Autorifierte Überſetzung von Wilhelm Thal. 


⸗—⸗ 


Nachdruchk verboten. 


D. junge Romanfchriftfteller Francis |! nur der eine Wunſch feiner Lieben in dir 
Donnel wanderte in Nizza an ber Paliſſade Erinnerung, er möge fih ruhen, neuc Kritı 
entlang, die auf der Promenade den Platz | fanımeln und fi zerftreuen. Won alliu 





des Blumenfeltes abjchnitt,; und tief atmete er 
die friſchen Düfte des Tazurfarbenen Meeres, 
über dem ein leiter, von der Sonne in 
opale Töne getauchter Nebel fchiwebte. Er 
freute fih, Baris beim erften Frühlingshauch 
verlafien zu haben und bierher gefommen zu 
fein, um feine Phantafie anzuregen und im 
Zauberfeft des Frühlings neue Eindrüde zu 
fammeln. Zange war er vor der Ausgabe 
zurüdgeichredt, denn er empfand Gewiſſens— 
biffe, den Verbienft feiner Winterarbeit egoiftifch 
in einem Seebade zu verichiwenden, während 
feine Mutter und feine beiden Heinen Schweſtern 
fih in ihrem beſcheidenen fünften Stockwerk 
der Rue Grenelle mit dem Notmwendigiten 
begnügen mußten. Mutter und Schweltern 
aber hatten ihm erflärt, man lebe dort unten 
von Eonne und Maccaroni und fchlafe auf 
den Marmorjchivellen der Paläfte. Und von 
al diefen Spiegelbildern, mit denen fie ihn 
blenden wollten, blieb ihm mit tiefer Rührung 


ftarfer Anftrengung krank geworben, vor 
boffnungslofer Liebe erſchöpft, gab er endlich 
ihrem Drängen nad), denn er fühlte, daß ei 
ausharren und ſich fchonen müßte. War cr 
doc) feit dem Tode feines Vaters ihr einzig 
Beſchützer. Eo reifte er denn ab, doch tu: 
Herz fehnürte fi) ihm zufammen, daß er fen 
Lieben nicht mitnehmen fonnte. 

Und nun fpielte fich hier wirklich alles 
beinah fo feenhaft ab, wie es feine Mutter 
und feine Heinen Schweſtern ihm borgefpiegelt 
hatten. Er war auf feine Sournaliftenfreifart: 
gereift und hatte in der Nähe ber Rhede— 
promenabe, in einer breiten Straße, zu br 
Scheidenem Breife ein Zimmer zu ebner Erde 
gefunden, deffen Fenfter unter Roſenſträuchem 
faft verſchwand. Schon am Tage nad jeint 
Ankunft Schrieb er in einer mahren Leni 
freude an einer Erzählung, füllte mühelos 
Seite auf Eeite, ohne von der Erinnerung an 
diefe Miß Elfa gequält zu werben, die MM 





Die Blumenſchlacht. 


ihn zu bübfch, zu reich, zu oberflächlich war 
und ihn den ganzen Winter hindurch mit 
ihrem flirt gequält hatte. " 

Ein langer Monat war nunmehr in biefem 
Früblingsfefte, das ihm ein blauer Himmel 
bereitet hatte, verfloſſen. Mit ungetrübter 


Kindesfreude ſah er wunſchlos die vornehmen , 


Damen vorüberwandeln, die fih nah den 
Tribünen drängten. Den Blumen, die fie 
mit ihren langen Pliſſeehandſchuhen in dichten 
Sträußen hielten, entftrömte berauſchender 


Duft. Der lodte zärtlihe und heiße Münfche. . 


Doch der ſcharfe, kräftige Meereswind fegte 
dieſe galanten Düfte ſchnell hinweg. 


Francis ftelte philofophifche Betragptungen | 


über bie elegante Menge an, die, um fi 


Bouquets ins Geficht zu werfen, ſich zwiſchen 


ſchlecht gezimmerten Bretterwänden, unter 
erſtickend heißen Zelten, die noch dazu die 
herrliche Ausſicht ſperrten, zuſammendrängte. 
Genoß er nicht unentgeltlich das einzig wahre 
und ſchöne Schauſpiel? Er ging an den 
Eintrittsſchaltern auf und ab, nicht nur, ohne 
ſeine kärglichen Mittel ſchmerzlich zu empfinden, 
nein, er lächelte ſogar bei dem Gedanken, daß 


dieſer Aufenthalt in Nizza, ohne fein Budget 


zu belaſten, ihm noch geſtattete, einen kleinen, 
unerhofften Schatz mit nach Hauſe zu bringen, 
den Lohn feiner Arbeit, die ihm fo leicht ge: 
worden war. Er trug diefe Heine Summe wie 
einen Fetiſch bei fi, und doch waren es nur 
fieben Louisdors, die er im bem feidenen 
Gürtel verborgen bielt, den ihm feine Heinen 
Schweſtern geftidt hatten. Nicht um fi 
gegen die Verfuhung zu ſchützen, den hellen 


Kleidern zu folgen, fondern in ber innigen 


Befriedigung eines guten Bruders und guten 
Sohnes, der er ftet3 geblieben war, ging er 


feine lieben Pläne nod einmal durch: Ein j 


Xouisdor für ein Tafelgeded, ein Tiſchtuch 
und zwölf Servietten aus abgefanteter Leine= 
wand mit ruſſiſchem Mufter, blau in rot; ein 


weiterer Louisdor für einen Käfig mit zwei . 
Infeparables, nad) denen die Heinen Schweſtern 
fo großes Verlangen trugen, ohne daß fie es ' 


twagten, dem Wunſch je Worte zu leihen, und 
den ganzen Reſt für einen Wintermantel für 
die Mama, einen warmen, molligen, gefütterten 


Mantel, denn ihr mit grauem Eichhörnchenfell 


gefütterter Nabmantel, den fie fchon feit 


888 


| zwanzig Jahren trug, war zu fehr aus der 
Mode und ſah zu fläglih aus! Und er 
ftellte fich die Freude bei feiner Nüdfehr vor. 
Er lächelte bei diefem füßen Traum, als eine 
helle Stimme, eine twahre Glodenftimme, an 

| fein Ohr flug: 

H „Her Francis! ... 

! Zufall!” 

Gleichzeitig figelten ihm einige Blumen: 
ftengel das Ohr; der junge Mann blidte ſich 
um und fagte: 

„Wie, Sie, Miß Elfat ... D, teure 
Miß Elfa!” 

Und vor diefem unter den Blumen lächelnden 
Blumengefiht, vor diefer in der Sonne 
gligernden goldenen Haarfülle, vor dieſem 
jungen Mädchen, das in bem Zauber ihrer 
“ weißen und rofa Gazelleiver wie eine rofa= 
weiße Elfe erfhien, empfand Francis ein 
wonniges Herzllopfen, jenen feinen Rauſch, 
der ſich bei dem lebhaften Flirt des Winters 
feines ganzen Weſens bemädhtigt hatte. 

„D, meld’ hübſcher Zufall!” wiederholte 
Miß Elja mit jenem fremdländiſchen Accent, 
der ihren Mund fo niedlich erjcheinen ließ. 
Dann legte fie ihre feine Hand auf den Arm 
des jungen Mannes und fagte bittend: 

„Mein Vater hat Migräne... Eie werden 
fein Tidet nehmen ..... Kommen Sie ſchnell, 
tommen Sie mit meinem ®etter Gib und 
mir mit!” 

Francis bemerkte nun hinter ihr einen 
großen, ſchönen, blonden, jungen Menfchen, 
der ebenſo wie fie mit Mimofen, lieder, 
Nelten und Narcifen beladen war. In fieber: 
hafter Aufregung ftellte Miß Elſa die beiden 
Männer einander vor und zog fie in noch 
größerer Aufregung hinter fi drein. Als 
die Billets fontrolliert waren, huſchte das 
junge Mädchen fchnell zu den referbierten 
Plägen, von denen zwei in der erften Reihe 
und einer dahinter tar. 

„So, vorn und neben mir,” fagte fie zu 
ihm, ohne fih Zeit zum Sehten zu laſſen; 
„wir werben plaudern, und ich werde glüclich 
: fein... O, fehr glüdlih! Gib wird hinten 
bleiben; er wird damit zufrieden fein... 
und wenn er nit zufrieden ift, fo thut das 
aud weiter nichts. Jetzt ſchnell, Gib, geben 
| Cie mir fenell alle Blumen ber... da 

4 


D, welch' reizender 


690 Die Blumenſchlacht. 


fommen die Mackinſons in ihrem Landauer ... 
ih mil Blumen nad ihnen werfen!” 

Als der Wagen näher fam, grüßte man 
fih, lachte und rief fih an; dann flatterten 
Blumen dur die Luft, eine buftende Schar 
erhob fich, Kelche und Golbbolden wogten hin 
und ber. ieberhaft, zitternd, beraufcht ergriff 
Elja die Nelfen, den Flieder, die Veilchen, 
die Nofen mit vollen Händen und ftreute fie 
mit verſchwenderiſchem Leichtfinn toll umber. 
Wenn man den Angriff erwiberte, dann fchloß 
fie unter dem Blumenregen die Augen fie 
eine ſchwache und furchtſame Echtwimmerin, 
‚ bie ihre Gefährtinnen mit Schaum befprigt 
baben. Als der Landauer fern unb ber 
Blumenhagel vorüber war, wandte fie fich zu 
Francis und erflärte mit Iufligem Lachen: 

„Ich babe alles auf einmal fortgetworfen 
und habe nun gar nichts mehr!” 

Dann zeigte fie mit fieberhafter Aufregung 
auf ihre leeren Hände und fügte Hinzu: 

„Da ift die Kalefche der Stubs ..... Den 
Stubs muß ich auch viel Blumen werfen... . 
D, Francis, my dear, verſchaffen Sie mir 
Blumen, aber bitte gleich!” 

Ein Junge, der ihren Kummer bemerft 
hatte, ſchlich zwiſchen die Wagen und hob 
einen Korb mit Anemonen und SHeidelraut zu 
ihr empor. Sie ftieß einen Schrei kindlicher 
Freude aus: 

„Dante, boy ... O, good boyl „... 
Francis, geben Sie dem Boy fchnell Geld, 
foviel Geld, ala er haben will!” 

Sie fagte das ganz natürlid, wie fie es 
zu ihrem Vater oder zu Gib gejagt hätte, 
ohne ſich im mindeſten ihres unbefcheidenen 
Verlangen? bewußt zu werden. Als die 
Kaleiche der Stubs in ihre Nähe gelommen 
war, wurde fie unter einem Sturzbad von 
Blumen begraben, mährend Francis den 
Jungen fragte: 

„Wieviel Tojtet der Korb?” 

„Zwanzig Francs,“ fagte der Kleine, ben 
die Bemerfung der Miß Elfa Ted gemadıt 
hatte. 

Francis hielt es für unnüß, zu handeln, 
während die Anemonen des ungen fchon 
nad allen Windrichtungen flogen. Er fuhr 
mit etwas zitternder Hand nad) dem Seiden⸗ 
gürtel und zog einen feiner armen fieben 


Louisdors hervor, mährend er mit einem 
tiefen Seufzer und einem kurzen Anfall von 
Melancholie dachte: 

„Da verſchwindet die Heine ruſſiſche Tiſch— 
decke mit den rotblauen Stickereien mit einem 
Schlage!“ 

Als der Junge fortgelaufen war, richtete 
er ſich wieder auf, und als er ſich wieber in 
der bezaubernden Nähe von Miß Elfa ſah 
und fie fo hübſch und glüdlich Tächelte, va 
verfpürte er das Herzklopfen tieber, und ber 
feine Raufch bemächtigte fich feiner von neuem. 
Als dann die Kalefhe der Stubs vorüber: 
fuhr, machte fie Francis mit ſchmollender 
Miene leife Vorwürfe: 

„O, my dear, Sie hätten mehr Blumen 
nehmen müflen.... Ich babe keine mehr, und 
jest Tommen die Madinfond wieder zurüd!" 

Und ala der Junge, von dem erften, guten 
Geſchäft entzüdt — der Kleine erriet, wie 
ſchwach der junge Mann den Bitten dieſes 
Ihönen Fräuleing gegenüber war — mit 
einem neuen Korbe erſchien, neigte fie ſich 
zu ihm bernieber, nahm ihn und befahl: 

„Rod mehr Blumen, Boy! Bringe nodı 
mehr, immer mehr, foviel du haft... .“ 

Und nun eröffnete fie gegen den Lanbauer 
ein Feuer mit Mimofen, mährenb Francis mit 
noch ftärfer zitternder Hand, immer langfamer 
und noch linkiſcher ala vorhin einen zweiten 
Louisdor aus dem Seidengürtel zog Mit 
gepreßtem Herzen fagte er ſich: 

„Diesmal fliegen die Heinen Inſeperables 
in die Luft!” 

Er blidte fi um, und plögli war es 
ihm, als wenn alle diefe in Weiß, Blau, 
Rofa und Lila gelleideten Frauengeftalten bei 
den aus den eriten Yrühlingspflanzen aufs 
fteigenden beraufchenden Düften toll würden; 
es war ihm, als mären fie alle von einer 
wüſten Luft befeflen, zu verſchwenden und zu 
vergeuden; doch nicht Blumenkelche und 
-Dolden warfen fie in die Luft, fondern Gold: 
und Silberftüde, die in ben Staub, unter die 
Magenräber und unter die Pferbehufe fielen. 
Dann richteten fi die Augen des jungen 
Mannes auf die Heinen, feinen und weißen 
Hände der Miß Elfa, die nervös Blumen 
und immer mehr und immer Blumen aus 
dem Korbe nahmen. Und diefe Eleinen, vorigen 


Die Blumenfhlcht. 


Hände erfchienen ihm plötzlich recht boshaft, 
und es war ihm, ala ſchidten fie fi an, ihn 
zu paden und zu kratzen, wenn fie feine 
Blumen mehr in dem Korbe fänden. Unb 
von neuem tauchte der Junge mit zivei neuen 
Körben auf. Francis dachte daran, daß es 
jeßt nicht mehr die Tiſchdede mit den blau: 
roten Stidereien var, die da verſchwand, daß 
nit die Meinen Vögelchen davonflogen, 
fondern daß e8 ber gute Wintermantel, ber 
fo heißerfehnte Wintermantel feiner armen 
Muster war, den bie zierlichen, gierigen und 
nervöfen Finger der Miß Elſa padten, zer: 
riffen und nach allen Winden hinftreuten, und 
das fehnürte ihm das Herz zufammen. 

Im Augenblid, da fie den Arm nad den 
Körben auöftredte, umſchloß er mit brutalem 
Griff ihre Finger und zwang fie, ihn anzu= 
fehen. Sie war über die tiefe Traurigkeit, 
die in den großen Augen des jungen Mannes 
ſich abfpiegelte, höchlichſt betroffen, doch da 
fie ihn nicht verſtand, fo fand fie fein Wort 
der Erwiderung. Er fah fie wie beim legten 
Mal mit einem Blid unendlicher Zärtlichkeit 
und tiefen Bebauernd an und fagte ftodenb, 
zögernd, fo fanft er nur konnte: 

„Miß Elfa, wollen Sie mir geftatten, den 
Platz an Ihrer Seite... . Ihrem Vetter Gib 
zu überlaſſen ?“ 

Bewegt ſtammelte fie: 

„Barum wollen Sie den Platz Gib ab» 
treten? Warum denn?” 

Francis rief feine ganze Energie zu Hilfe 
und verfeßte ſchnell, um aud die Kraft zu 
finden, feinen Sat auszuſprechen: 

„Beil... ich nigt genug Geld befige, 
um alle diefe Blumen zu bezahlen.” 

Es lag in Miß Elſas Augen ein Ausdrud 
von Schred und Verwirrung, dann zeigte ihr 
Geficht einen leifen Schimmer von Traurigkeit 
und Rührung. Cie machte eine haftige Ans 
frengung, um zu überlegen und einen ernſten 
Gedanfen feftzuhalten, der ihrem Köpfchen 
entfliehen wollte. Doc es war das zu ſchwer 
und zu ernft für ihr Meines, leichtſinniges und 
oberflächlihes Him. Und fo murmelte fie 


9 


denn in dem unangenehmen Bewußtſein einer 
peinlihen Lage, im Unbehagen über einen 
läftigen Zufall, in ärgerlihem Ton: „Ad, wie 
ftörend das iſt! ... mie ftörend das ift!” 

Doch ſchon ward fie von einem Glödchen- 
Hingeln abgelenkt, blidte nad der andern 
Seite, und die Verwirrung, die ſich noch eben 
in ihren blauen Augen gemalt hatte, ver⸗ 
ſchwand auf der Stelle. Ein Jasminregen, 
der mit buftendem Tau auf fie fiel, betäubte, 
beraufchte fie, und fie rief mit zitternder 
Etimme: 

Die Stubs! ... Ad, die Stubs kommen 
Schon wieder zurüd!” 

Unruhig wanderte ihr Blid von Francis’ 
Augen zu dem leeren Korbe. Eie erinnerte 
ſich der Worte, die er eben geſprochen hatte 
und fdien, wenn auch nicht zu begreifen, fo 
doch wenigſtens alles zu ahnen, was biefes 
tapfere Geftänbni® an verlorenen Hoffnungen 
enthielt, und welche unüberfteiglihe Mauer es 
zwiſchen ihnen aufrichtete. Doch das war nur 
wie ein Blig; fie ſtieß einen vefignierten 
Seufzer aus und fagte: „Nun gut, ja, ja... 
Dann treten Sie Gib Ihren Platz ab! ... 
Und Eie, Gib, fehnell, ſchnell, bezahlen Cie 
dem Boy die Körbe! Da, da find ja bie 
Stubs!" 

Und mährend Gib, der fi ftets ihren 
Launen fügte und wohl wußte, daß er früher 
ober fpäter doch immer heranlommen würde, 
in bie erfte Reihe rüdte, wanderte Francis, 
bevor Miß Elfa noch Zeit hatte, fih um: 
zuwenden, Iangfam dem Stranbe zu. 

Jetzt, da er wußte, baf feine arme Mama 
den Mantel trogbem belommen würde, über 
ließ er fih, nod im berauſchenden Banne der 
lieblichen Erfdeinung der einlullenden Er- 
innerung an Miß Elfa. Doch feltfam! Seht 
war ihm nicht mehr, ald komme der Wind 
herb, friſch und fräftigend aus dem unend⸗ 
lichen Weltenraum, jegt glaubte er, er wehe 
von ber Frühlingserbe, von den Drangen- 
bügeln, und fein Hauch fdien ihm ſchwüle 
! Wärme und dumpfe Zärtlichkeiten mit ſich 
. zu führen. 








vier 


4 


692 


Ragdrud mit Duellenangabe erlaubt. 


* Die 21. Generalverfammlung des All- 
gemeinen Deutfchen Frauenvereins findet vom 
29. September bis 2. Oktober d. I. in Eiſenach 
ftatt, unb mit biefer wird wieder ein öffentlicher 
Frauentag verbunden fein. 

Der Borftand ladet feine Ortögruppen und 
Ziveigvereine, die Mitgliedvereine bed Bundes 
deutſcher Frauenvereine und alle Frauen, bie in 
der Frauenbewegung ftehen und Intereffe dafür 
haben, herzlich dazu ein. 

Das fpeziele Programm wird rechtzeitig in 
den „Neuen Bahnen”, der „Frau“, bem „Gentraf- 
blatt des Bundes deutſcher Frauenvereine” und in 
den Eiſenacher Tagesblättern befannt gemacht 
werben. 

Ein Lofallomitee, deſſen Vorfigende Frl. 
Hedwig Bender, Marienthal 5, ift, hat freundlichft 
die Vorarbeiten in Eiſenach übernommen. 

Anmeldungen für SFreiquartiere, Privatlogis 
und Hotel® nehmen gütigft entgegen bie Mit: 
glieder des Lokallomitees: Frl. Anna Roßhirt, 
Emilienſtr. 11 und Frl. Augufte Wünfhmann, 
Emitienftr. 4. 


* Der Broze gegen die Berliner Ärztinnen, 
laut Anklage „wider die unverchelichte Tiburtius, 
die unverehelichte Bader” ꝛc. (vgl. die vorige 
Nummer), ift durch Freifpregung der Ärztinnen 
entſchieden, ſoweit die Anklage ſich auf die Angabe 
ihres Titel im Adreßbuch ftügte, weil bie Anklage 
innerhalb dreier Monate nach der Veröffentlichung 
des Adreßbuches hätte eingereicht werden müffen. 
Bon den Angeklagten wurde nur Frl. Dr. Bluhm 
zu drei Mark Strafe verurteilt. Frl. Dr. Bluhm 
hatte ſich nämlich auf ihrem Schilde bezeichnet als 
„Dr. med. Agnes Bluhm, praktiſcher Arzt, appro: 
biert in der Schweiz”. Alle diefe Angaben find 
richtig, was aud das Gericht nicht beftreitet. 
Aber nad der Gewerbeordnung fol ſich niemand 
als Arzt bezeichnen bürfen, ber nicht in Deutich- 
land approbiert ift. Nun ſchließt zwar die Angabe 
auf dem Schilde: „in der Schweiz approbiert" 
jeden Irrtum aus, Frl. Dr. Vluhm hat ihr Schild, 





ehe fie es anbringen ließ, von ber Polizei appro 
bieren laſſen, und als fie vor 5 Jahren wegen der 
felben Sache ſchon einmal denungiert wurde, ſtellte 
bie Staatsanwaltfaft felbft das Verfahren ein. 
Das alles hinderte jedoch nicht, dag man diesmal 
an dem Buchftaben des Geſehes fefthielt. 

Ein dem Prozeß nicht nur zeitlich, ſondern 
aud fachlich paralleler Vorgang fpielte fich in ver 
Ärztelammer für Brandenburg-Berlin in ven 
felben Tagen ab. Die Voſſiſche Zeitung berichtet 
darüber (Nr. 293): 


Letter Gegenftand der Verhandlungen ift Die „Zu: 
laffung von Perjonen mit ausländiſchen Reifezeun 
niffen zu den mebizinifchen Stubien und Prüfungen“. 
Der Berichterftatter Prof. Koßmann (!) geht ven 
der Thatfahe aus, daß zwei weibliche Kandidaten 
der Mebigin, die eine von der Brüfungäfommiifion 
in Freiburg, bie andere von der Kommiffton in 
Halle die Approbation als Arzt erhalten haben 
Beide haben zunächft nicht das reichadeutfche Heite 
zeugnis eines humaniſtiſchen Gymnaſiums, jondern 
nur bie ſchweizeriſche ſog. Fremdennaturität für 
das Studium ber Nebizin, der Zahnheutunde und 
ber Pharmazie. Diefe fchmeizerifche Waturität 
ftehe aber nach bem Urteile aller Fahmänner weit 
unter ber beutfchen Reifeprüfung auch eines Real- 
gymnaſiums. Tie Kenntniffe, bie verlangt werden. 
find etwa diejenigen, die der deutſche Sekundaner 

Die Anertennung dieſer Maturität für bie 
Melbung zur reichöbeutfcgen ärztlichen Staate 
prüfung ftehe im ſchroffſten Gegenfage zu den 
Beftinmmungen ber deutſchen Prüfungsordnung für 
Arſte Sodann aber fei ben beiden Meibluhen 
Kandidaten noch eine andere in ber Prüfungs 
ordnung nicht borgefcehene Dergünftigung zu til 
geworden. Vorgeſchrieben fei, daß nur derjenige 
zur ärztlihen Staatsprüfung zugulaffen ift, der 
nach beftandener Borprüfung vier Halbjahre bie 
Kliniken einer reich&beutfchen Univerfität befuct 
Hat, die beiden weiblichen Nanbibaten haben Biel 
Verpflichtung aber gar nicht erfüllen fönnen. Bun 
ihnen die deutſche Approbation erteilt wurde, fe 
fei dies ohne die Beachtung ber geſetlichen Bor 
ſchriften, alfo gegen das Gefeg, geſchehen. Es 
müffe vor allem Einſpruch dagegen erhoben werden, 
daß ausfchliehlid zu Gunften einiger Frauen von 
den Veftinmmungen über die ärztfihe Prüfung ab 
gegangen werde. Zu beanftanden jei, daß nich 
genügend vorgebildete weibliche Berfonen als Galt 
bhörerinnen zugelafen werden. Wan verlange von 


Frauenleben und »Streben. 


den ftubierenden rauen die volle Maturität, aber 
man fchreibe fie auch ordnungemäßig ein. Tr. Koß: 
mann beantragt, daß die Kammer beichliehe: ben 
Minifter zu erfucen, zu beranlafien, daß PBerfonen 
mit ber ſchweizeriſchen Naturität aud) nicht aus: 
nahmsweiſe zum Studium der Medizin an beutichen 
Hodjihufen zugelaffen werben; nict-ummatritu: 
lationsfähige Perſonen follen zum Beſuche der 
Kliniten nicht zugelafien werden, weil andernfalls 
der Unterricht geftört und der Kurpfuſcherei Bor: 
ſchub geleiftet wird. Außerdem foll eine Eingabe 
an ben Heichstag gerichtet werben, daß unterfucht 
werde, ob die Erteilung ber Approbation an die 
beiden weiblichen Kandidaten nicht ungefeplich war 
und daraufhin die Approbationen nicht zurüdzu: 
ziehen find. In der Befprebung wird betont, daß 
die Nrptelammer nur das Recht getvahrt wiffen 
wolle. Gegen bie Anträge ſprechen ſich (eheimrat 
Dr. uefter unter SHimwei® auf die Übergangs: 
verhältnifie, und Dr. R. Lennpoft, dieſer wegen 


des üblen Eindrudes, den die Beſchlüſſe in der 


Cfientlicheit machen würden, aus. Die Kammer 
nimmt die tokmannfepen Anträge an. 


Dan kann nicht eben fagen, daß bie Umſtände 
zu Gunften der in ber Berfammlung aufgeftellten 
Behauptung ſprechen, man wolle nur das Recht 
wahren. Zum Glück ift ja bie Frauenbewegung 
in der age, über dieſe Ichten Heinen Sinderniffe 
vor dem Ziel nun zur Tagesordnung überzugehen. 


* Über die Zahl der weiblichen Medizin: 
fndierenden hat Profeſſor Eulenburg eine Um— 
frage bei den deutichen Univerſitäten veranftaltet. 
Die Refultate veröffentlicht er in der Deutichen 
mebizinifchen Wochenschrift. Bon den reichsdeutſchen 
mebizinifhen Fatultäten hat nur die Münchener 
ihre Mitwirkung bei ber Umfrage verfagt. Tie 
Fatultäten zu Niel und Tübingen verhalten ſich 
negenüber der Zulaffung der Frauen zum Medizin— 
ftubium „ganz oder überiviegend ablehnend“. 
Weibliche Mebizinftubierende find nicht vorbanden: 
außer in Kiel und Tübingen noch in Erlangen, 
Gieken, Göttingen, Greifswald, Nena, Marburg, 
Rofted, Würzburg. Die meiften Hörerinnen der 
Medizin hat Berlin, nämlich 25 (4 reichsdeutſche 
und 21 Ausländerinnen). Es folgt mit 24 (2 In— 
länderinnen, 22 Ausländerinnen) Leipzig, dann mit 
18 (10 immatrifulierten und 4 Hörerinnen ohne 
Reifezeugniffe aus dem Teutichen Reiche und 
4 Ausländerinnen) freiburg i. Br, daran fchlicht 
ſich mit 12 Mebizinhörenden Halle an, von denen 
die 3 Imländerinnen mittlerweile bie Approbation 
als Arzt erlangt Haben; bie 9 Ausländerinnen 








ftammen aus Rußland. Heidelberg hat 6 inländiſche 


eingefchriebene Medizinftubierende, die alle die Reife. 

prüfung abgeleat Haben. It 2 einheimifche Mebizin-* 
hörerinnen weifen die medizinifchen Fakultäten in 
Breslau und Straßburg auf. Schließlich ſtudierte 
nod in Konigoberg cine reichedeutihe Dame, die 
in ber Schweir die Neifeprüfung abgelegt und in 


693 


Bern promoviert hat. Bon den beutich:öfterreichifchen 
Fakultäten hatte Gray 2 Hörerinnen, beide In: 
länberinnen, außerben mehrere Hofpitantinnen in 
einzelnen Xorlefungen. In Prag ift eine aus: 
landiſche Gafttörerin. Innebrud Bat feine weib- 
liche Medizinftubierende; über Wien fehlen die An- 
naben. Von den ſchweizeriſchen Fakultäten hat 
Bern im Sommerbalbjahr 1901 nicht weniger als 
189 weibliche Studierende der Medizin, darunter 
ift nur eine Reichsdeutſche; aus der Schweiz find 
davon 6, aus Ejterreich, Dänemark, Nordamerita 
je 1, hingegen aus Rußland 180. Yaufanne bat 
61 weibliche Medizinftubierende, fämtlih Aus: 
fänderinnen; Zürich hat im ganzen 85 weibliche 
Mebiginftubierende, darunter aus der Schweiz ®, 
aus dem Deutfchen Reiche 12, aus andern Ländern 64. 
Über Bafel und Genf waren Angaben nicht zu er: 
langen. Die Umfrage hatte zum erften Ziele feft: 
zuftellen, welcher Zugang zum Studium ber Heil: 
kunde zunächſt durch bie Zulaflung von Mädchen 
und Frauen zur ärztlichen Staatsprüfung zu cr: 
warten iſt. Insgeſamt ftubieren zur Zeit 52 weib- 
liche Reichsdeutſche (39 auf reichöbeutichen, 13 auf 
ſchweizeriſchen Univerfitäten) die Heiltunde. Nur 
diefe kommen als zufünftige vollwertige Mit: 
beiverber ber männlichen Arzte in Deutſchland in 
Betracht. Tie Gefamtzahl der deutſchen Ärzte be- 
trug nun 1900 27374, der bevorjtchende Zuwachs 
würde ſich danach auf "/ss. das ift auf 0,19 v. H. 
des jegigen Beftandes an Ärzten befaufen. 








* Die Befhäftigung von rauen bei der 
Staatseiſenbahnverwaltung hat nad) befriedigend 


: ausgefallenen Verſuchen aufs neue eine weſentliche 


Erweiterung erfahren, indem bie königlichen Eifen: 
babnbirettionen ermächtigt werden find, in den 
größeren üterabfertigungäftellen weibliche Berjonen 
bei der Anfertigung von Fracht, Koll: und Schalter: 
tarten, Avifen, bei der Führung von Nachnahme. 
Büchern, Anfertigung von Monatsrechnungen und 
Einbeiferung von Tarifen zu verwenden. Ferner 
ſollen zur Bebienung von Schreibmajchinen für bie 
Nanzleiarbeiten bei den Eifenbapnbireltionen an 
Stelle anderer Ranzleikräfte cbenjall® weibliche 
Perfonen angenommen werden. Abgeichen von 
Schrantenwärterinnen kommen jetzt bei der Staats: 
eifenbahnverwaltung für bie Belchäftigung weib⸗ 
licher Perſonen vier Vienftziveige in Betracht: 
1. Fabrlartenausgabe, 2. Telegraphen. und Fern. 
ſprechdienſt, 3. Güterabfertigungäbienft und 4. Harz 
feibienft bei den Eiſenbahndirettionen. Zum Nacht. 
dienft dürfen meibliche Perfonen nicht herangezogen 
werben. Nach ſechsmonatlichem Probedienft erfolgt 
entweder die Entlafjung ober die diätariiche Ve: 
ſchäftigung und Tereidigung im aufßeretatsmäßigen 


694 


Beamtenverbältnig mit monatlich im vorauß zahl 
barem Gehalt von 720 Mark im eriten, 780 Mark 
im zweiten und 900 Mark im dritten Sabre. 
Während der Beichäftigung im Probebienft wird 
eine Tagedvergütung bis zu 2 Mark gewährt. 


* Frau Maria Gubitz, eine um das Berliner 
Vereinsleben hochverdiente Frau, feierte am 13. Juli 
biefes Sahres ihren 70. Geburtätag. Wenn die 
tiefe Wahrheit bes Pſalmworts, „wenn es köſtlich 
geweſen ift, fo ift e8 Mühe und Arbeit geweſen“, 
fih in einem Frauenichen bewährt bat, jo war es 
bag ihre. 

Frau Maria Gubit, geb. am 13. Juli 1831 
zu Berlin, die Zrägerin eined in ber Kunft: und 
Litteraturwelt Berlin hochgeachteten Namens, hät 
es verſtanden, dieſem Namen eigene Bedeutung zu 
geben. In Reichtum und Wohlleben herangewachſen, 
ſtand ſie, mit 26 Jahren verwitwet, der ſchweren 
Aufgabe gegenüber, für ſich und ein einige Wochen 
nach des Vaters Tode geborenes Töchterchen den 
Kampf ums Daſein aufzunehmen. Und dieſer 
Kampf war in ber Mitte des abgelaufenen Jahr⸗ 
hunbertö fchwieriger, bornenvoller als er, dank den 
Errungenfchaften der Frauenbewegung, heute ift. 
AU die neu. erfchloffenen weiblichen Erwerbsgebiete 
waren gebildeten Frauen vor 4, ja 3 Jahrzehnten 
noch verichloffen. Das Unterricht: und Er: 
ziehungsgebiet bot ihnen die faft einzige und darum 
überfüllte Ermwerbögelegenbeit. 

Mutig nahm die junge Mutter den Kampf ums 
Dafein auf, erfolgreich focht fie ihn durch, und bie 
geftählte Kraft, den geweiteten Sinn, das klare 
Auge für die Nöte und Gebrechen der Gefchlecht2- 
genoffinnen, Löftliche, ibeale Errungenschaften dieſes 
Kampfes, ftellte fie in den Dienft ihrer Mit 
ſchweſtern und barüber binaus in ben der All: 
gemeinbeit. 

Nah Tängerem Aufenthalt in England nad 
der Baterftabt Berlin zurüdgelehrt, nahm Frau 
Gubitz an al den Bereindgründbungen, die das 
Jahr 1866 fo bedeutſam in ber Bereindgejchichte 
Berlind machen, thätig teil. ALS im genannten 
Jahre ber Letteverein zur Schaffung von ver: 
mehrten Ertwerbögelegenbeiten für bie rauen und 
Töchter ded unvermögenden Mittelftanded und zu 
ihrer Vorbildung für neue Erwerbögebiete gegründet 
wurde, war fie eine der erften, die die Bedeutung 
der neuen Gründung für das meibliche Gefchlecht 
erfannte und Zeit und Kraft in ihren Dienft 
ftellte. Gine wie treue, unermübliche Mitarbeiterin 
Frau Maria Gubitz der Gründerin der Volksküchen 
in Berlin, Frau Lina Morgenftern, von An: 
fang an bis zum heutigen Tage ift, weiß biefe zu 
Ihägen, auch wurde ſchon in einem Artikel ber 


Frauenleben unb :Streben. 


„Frau“ darauf hingewieſen. Dem Berein zu: 
Speifung armer Kinder, ber feit 26 Jahren ſegens 
reich wirkt, gehört Frau Gubig ebenfalls Teit feiner 
Begründung an. Der Verein zur Unterftüßung 
Heiner Handwerker und Fabrilanten Bat fie zum 
Dank für langjährige treue Mitarbeit an feiner 
Darlehnskaſſe zu feinem Ehrenmitgfiebe erwählt. 
Die deutſche Gejellichaft für ethiſche Kultur, ber 
Erziebungsbeirat für ſchulentlafſene Waifen, ter 
Kinberfchugverein, alle biefe in fo hohem Gratt 
fogial wirkenden Vereinigungen zählen fte zu ifren 
thätigen Mitgliedern, trogbem fie bei deren bem 
letzten Jahrzehnt angehörenden Grünbungen den 
in einem "höheren Lebensalter fand, in bem ſonſt 
Frauen es für ihr Recht halten, nur ihren eigenen 
Sinterefien zu leben. Wie Har und unbeſtechlich 
der Blid der Siebzigjährigen ifl, weiß aud ber 
Kaufmänniſche Hilfsperein für weiblide Angeſtelltt 
zu ſchätzen, für den fie mit Zalt unb Umſich 
Recherchen beforgt, wenn Unterſtützungsgeſuche se 
ftellt werden. Dem Komitee für daB Kaifer und 
Kaiferin Friedrich-Kinderkrankenhaus gehört fie ſen 
feiner Begründung an, eine Auszeichnung, bie von 
der Wertfhähung zeugt, bie bie in allen Wohl 
fabrtSbeftrebungen fo bewährte Frau genießt. Im 
ihrem unermüblichen, meift in ber Stille geübten 
Wirken gerecht zu werben, müßten alle rauen: 
und Wohlfahrtövereine ber Reichshauptſtadt auf; 
gezählt werben, benn faft allen ſteht fie in irgend 
einer Weiſe nahe, aber einem als nur zählendes 
und zahlendes Mitglied. 

Daß fie bei ihrer Geiftesrichtung ihr thätigee 
Intereſſe beſonders den fpeziellen Frauenbeftrebungen 
zumendete, braucht faum betont zu werden. Seit 
Gründung des Allgemeinen Deutichen Frauenvereins. 
des Bundes Deuticher Frauenvereine, des Vereins 
zur Förderung bes Frauenerwerbs durch Obft- und 
Gartenbau, der erften deutſchen unb Berliner 
Lehrerinnen-Bereinigungen fördert fie in ihrer ftillen, 
nicht eigene Ehre fuchenden Weiſe beren Bellre 
bungen birelt und indirekt. Es ift gewiß noch im 
Gedächtnis aller Beteiligten, wie fie geholfen hat, 
dem im Sabre 1896 in Berlin tagenden inter: 
nationalen Frauenkongreß die Stätte zu bereiten, 
wie fie den viclen fremben Teilnehmerinnen ein 
freundliche Beraterin und Führerin war. 

Die von fo vielen verehrte Frau wolle biele 
Heine Skizze ihres Wirkens als Dankeszoll bin: 
nehmen von einer ber vielen, die Anregung MM 
gleihem Thun und Streben von ihr empfangen 
haben. Möchte fie, in das achte Jahrzehnt ihred 
Lebend tretend, noch weiter wirken können ale 
eine der rauen, die bie „Ssrauenbemegung” zu 
Ehren gebracht. In der Stile wirkend, hat ſie 
geholfen, Großes zu ſchaffen. — A. B. 


Frauenleben und Streben. 


* Die Zahl der Waifenpflegerinwen in Berlin 
ift in den legten zwei Jahren um B1 geftiegen. 
Sie betrug am 1. Januar 1899 397, am 
1. Januar 1901 488. Tie Zahl der (Gemeinde 


wwaifenräte, benen noch feine Frauen eingegliedert | 


find, ift von 68 auf 54 gefunten. 


* Die Co-Education nimmt auch bei uns in 
Deutſchland langfam aber beitändig zu. Das 
führende Land ift Baden, wo kürzlich aud bad 
sroßherzogliche Gymnaſium von Konftanz ſich 
entiloffen hat, Mädchen als Schülerinnen auf: 
zunehmen. Eine Heine Duartanerin machte ben 
Anfang. Aber aud in Hannover hat bie Ober: 
prima des Gildemeifterfhen Realgymnafiums feit 
Oſtern einen weiblichen Schüler. 


* In Heidelberg promovierte Anfang Juni 
Miß Neena aus Reiw:Nork unter Profeſſor Thode 
und errang das Präbifat cum laude. Ais Haupt: 
fab hatte fie Aunſtgeſchichte gewählt, ald Reben: 
fächer Archäologie und deutſche Litteratur. Ihre 
Tiffertation: „Die Anbetung ber Könige in ber 
todeaniſchen Malerei”, in der fie durch grünbliche 
Stubien in Florenz und Rom ganz neue (Hefichte: 
puntte eröffnen konnte, ift von dem Berlag von 
Seig. und Mündel in Straßburg in bie Serie „zur 
Kunftgeichichte bed Auslanbes” aufgenommen, worin 
fie in erteiterter Form noch diefen Herbſt aur Ver: 
öffentlichung gelangen wird. 


* el. Helene Stöder promovierte kürzlich 
an der philoſophiſchen Fakultät von Bern auf 
Grund einer Arbeit über „Wadenroder und bie 
Kunfttheorien des 18. Jahrhunderts“. 


* Das Doppelheim zu Paris, 21 Ruc 
Brochant, das zugleich beutfche Lehrerinnen und 
— Dienſtmadchen Obdach gewährt, ift ſchon früher 
einmal Gegenftand Ichhafter Kontroverfen geivefen. 
Es werben ſich noch viele unfrer Leferinnen ber 
Thatfache entfinnen, baf in den BOer Jahren ein 
Aufruf eines Frl. Lamprecht erſchien zur Be: 
gründung eines Lehrerinnenheims und -Vereins in 
Paris. Sie legte den Grund zu einer Gelb: 
fammlung. Die von ihr gefammelte Summe über: 
gab fie dem deutſchen Prediger zu Paris. Dieſem 
gelang «8, ber Heinen Summe durch eifriged Werben 
im Vaterland grofe Beträge zuzugeſellen; leider 
ließ er fich aber dazu bewegen, enigegen der ur: 
ſprünglichen Abficht, dad Heim für Lehrerinnen 
auch Dienftmäbden (in Frantreich betanntlich 
Bonnen genannt), unter einem Dach, wenn auch 
in getrenntem Raum zugänglich zu machen. Gewiß 
war den deutſchen Dienftmäbchen cin Heim im 
fremden Land zu gönnen; es verriet aber wenig 





695 


Kenntnis deſſen, was bie beutiche Lehrerin in 
Frankreich brauchte, wenn ihr fozialer Abftand von 
den Dienftmäbchen fo wenig markiert wurbe. Die 
Zranzöfin ift ohnehin fehr geneigt, auf ihre Er: 
zieherin, zumal auf die beutfche, herabzuſehen. 

Des weitern entnehmen wir einem Bericht von 
Fel. Helene Adelmann auf ber Bonner General: 
verfammlung über die Stellenvermittlung bed AU: 
gemeinen Deutfchen Lehrerinnenvereina, deſſen 
Zweigverein der Parifer ift: 

Die beutfchen Lehrerinnen in Frankreich, die in 
der Berbindung ber Stellenvermittlung für 
Lehrerinnen und ber für Dienftboten, wie fie cin: 
gerichtet worden, Gefahr für ihre Stellung int 
fremden Lande fahen, fehlofien fi vor 10 Jahren 
zuſammen und erreichten, daß die Stellenvermittlung 
für fie im „Doppelpeim“ aufgehoben und dem 
Vorſtand des Pariſer Yehrerinnenvereind überlaflen 
wurde. Gie hat feitbem, wie Sie aus unfern 
Verhandlungen erſehen Eonnten, in ber fegens: 
reichſten Weife gearbeitet. 

Nun fäht e& dem Borfigenden des Heims, 
einem noch ziemlich neuen und jungen Herrn Paftor 
ein, neben der im Doppelheim feit feiner Gründung 
beftchenden Gtellenvermittlung für Dienſtmädchen 
wieder eine für Vehrerinnen gu eröffnen. Die Ber: 
eine in Paris und England haben cbenfo dringend 
wie höflich gebeten, man möge bavon abftehen, und 
auf die Bitte der beiden Vereine hat fi) unfer 
Vorſtand des Allgemeinen deutſchen Lehrerinnen: 
vereins gleichfalls mit derſelben Bitte an Herrn 
Paſtor Anthe gewandt. Der Herr Paſtor hat es 
nicht einmal für nötig gehalten, dem Vorſtand des 
Allgemeinen beutihen Lehrerinnenvereind zu ant: 
orten. Uns bfeibt nun nidt® übrig, ald 
einig und feft zufammenzuhalten. Mag e3 ben 
Frangöfinnen gefallen, fih ihre Lehrerin im Dienft- 
botenheim zu fuchen. Wenn wir und in biefem 
Haus nicht finden laffen, müflen fie zu uns kommen. 
Wir haben ba® Keft in ber dand. Zeigen wir 
denen, bie unfre Beftrebungen nicht verftehen ober 
nicht verftehen wollen, daß wir gewilit find, die 
deutfche Fahne im Ausland hoch zu halten und 
der beutichen Lehrerin zu ihrem Recht zu verhelfen, 
ſoweit es in unfern .Rräften fteht. 

Unfer franzöfifcher Schweſterverein hat ſich ge: 
nötigt gefehen, vorläufig Lehrerinnen, bie im 
Doppelheim wohnen, nicht unter feine Mitglieder 
aufgunehmen unb au placieren, und bemüht ſich, 
ihnen gute frangöfifhe Penfionen nachzuweiſen. 
Erleichtern wir ihm nad Kräften biefe feine Ber 


* mühungen; gründen wir einen Leihfonds, aus dem 


folchen Lehrerinnen burdh zinäfreie Darlehen ge: 
bolfen werben Tann, bie den höheren Preis (die 
Differenz ift etwa 20 Fres. monatlich) folder 
frangöfifchen Penfionen nicht zu zahlen im ftanbe 
find. Unfer Borftand ſchlägt Ihnen vor, dem 
Parifer Verein für dieſen Zwed 1000 Mast zu 
bewilligen. Meine (freundin, Frl. Bohnenberger 
aus Stuttgart, Mitglieb des englifgen Lehrerinnen: 
vereind, erbietet ſich gleichfalls, 1000 Mark bei: 
zuſteuern. 

Statt der beantragten 1000 Mark bewilligte 
die Generalverfammlung 2000 Mark. No eine 
Anzahl Heinerer Summen famen bazu, ſo baß ber 


696 Frauenleben und :Streben. 


Berein binnen kurzem in der Lage fein wirb, ber 
nach frankreich Tommenden, mit knappen Gelb: 
mitteln verſehenen Lehrerin bie Wartezeit zu er: 
leichtern.. Der Allgemeine beutfche Lehrerinnen: 
verein, die größte weibliche Berufsgenoffenichaft 
Deutfchlandg, hat in diefer Angelegenheit ben Be- 
weis geliefert, wie notwendig ſolche Berufsgenoſſen⸗ 
ſchaften ſind und. wie wichtig ſie gegebenenfalls 
auch für die im Ausland lebenden Berufsgenoſſinnen 
werden koönnen. 


* jiber den Prozeß der Baronin Dr. Poſſanner 
wegen Verweigerung des Wahlrechts für die Ärzte— 
fammer berichten die Dokumente der Frauen 
(Nr. 7): 


Beim Verwaltungsgerichtshof ſtand am 18. Juni 
bie Frage in Verhandlung, ob weibliche Ärzte, die 
Mitglieder der Arztelanımer find, auch das. aktive 
und paffive Wahlrecht in den Kammern befigen, 
und man bat dieje prinzipielle Frage zu Gunſten der 
Frauen, die ſich dem ärztlichen Berufe gewidmet 
haben, entſchieden. Anlaß zur Enticheidung vieler 
Trage giebt eine Beſchwerde, welche Frau Baronin 
Dr. Gabriele Poffanner wegen Verweigerung des 
aktiven und paffiven Wahlrechtes in der Arztekammer 
gegen eine Enticheidung des Miniftertums des 
Innern an den Berwaltungsgerichtäbof erhoben 
hat. Frau Baronin Dr. Gabriele Poſſanner, der 
einzige weibliche praftiiche Arzt in Wien, wurde, 
obwohl fie Mitglied der Wiener Arztelammer ift, 
bei den im Borjahre ftattgchabten Arztefammer: 
wahlen in die Wählerlifte nicht aufgenommen; 
fie rellamierte ordnungsgemäß beim Magiftrat, 
wurde aber abgewieſen, da fte weder das aftive 
noch paſſive Wahlrecht für die Gemeinde bejike. 
Auh die Rekurſe an die Statthalterei und das 
Minifterium des Innern - wurden abgewicien. 
Rah einftündiger Beratung erkannte der Ber: 
waltungsgerichtäbof, es werde in Stattgebung der 
Beſchwerde die angefochtene Enticheidung des 
Minifteriumd des Innern al® unbegründet auf: 
gehoben. 

Die Entſcheidung des Verwaltungsgerichtöhofes 
ift eine felbftverftändliche. Eine Hutmacherin darf 
in ihrer Genoſſenſchaft mitreden. Eine Arztin 
foflte dag nicht dürfen? Das Sntereffantefte an 
diefer Verhandlung waren bloß die unbegreiflichen 
Entfcheidungen des Wiener Magiftrated, der Statt: 
balterei und des Minifteriumg! 


* Zum Dr. phil. der Univerfität Wien 
wurde am 19. Sul d. Is. Frl Emma Ott 
promoviert. 


* Die erfte Franenpromotion in Prag war 
die Fürzlih erfolgte von Frl. Marie Babor zum 
Dr. phil. 


* Die erfte öffentliche medizinifche Doltor- 
prüfung einer Frau in Holland fand am 5. Juli 
statt. Frl. Marie des Bouvrie promovierte 
an ber mebdizinifchen Fakultät von Amſterdam 
mit Auszeichnung. Sie wird im Herbſt die 


Affistentin des Profeſſor Treub, der ein eifrigtt 
Förderer der Frauenſache in Holland äft. 


* Das politifche Frauenwaßlrecht in Belgien 
ift jegt durch ähnliche Perbältniffe einen Schrin 
vorwärts gerüdt, wie fie kürzlich dem kommunalen 
Mahlrecht der Frauen in Norwegen aum Sicege 
verholfen haben. Auch dort ift, wie die Frankfurte: 
Zeitung berichtet, Die Frage aufgeworfen werten 
auf Grund der neuerdingd wieder lebhafter auf. 
genommenen Agitation der radikalen Parteien um 
Einführung des allgemeinen Stimmrecht. Tir 
Antrag der Nabilalen wurde zwar mit einer 
ziemlich ftarfen Majorität abgelchnt, aber ter 
Verlauf der Debatte zeigte doch, daß ber Sieg ber 
radilalen Forderungen nahe bevorftünde. Angeſicht⸗ 
biefer Gefahr bat nun die klerikale Preife di 
Forderung aufgeitellt, bei Einführung des ul: 
gemeinen Stimmrehtd® auch ben Yrauen Bad 
Stimmrecht zu geben. Die Gründe für diein 
Vorſchlag find durchſichtig; man braucht nur daran 
zu denken, wie bie klerikale Partei in Oſterreich 
die rauen für ihre Wahlagitation zu lancderın 
verftanden bat. Borläufig aber mag es Sid 
auch darum gehandelt haben, die radikalen Parteien 
unter fih zu Spalten. Thatſächlich nämlich war 
man unter biejen geteilter Anfiht in der Frage, 
vor allem eben wegen der Gefahr, daß durch dus 
Frauenftimmrecht die klerikale Partei eine grebr 
Stärkung erfahren würde. Im Generalrat der 
Arbeiterpartei Fam die Frage kürzlich zur Ber 
handlung. Bon den Gegnern wurde auf diele 
Gefahr hingemwiefen, von den Freunden des Frauen 
ſtimmrechts den aber entgegengehalten, daß felbit 
wenn bie politiicde Emanzipation der Frau vor 
läufig eine Stärkung des Klerifaliamus nach ſich 
ziehen würde, dieſe Wirkung doch bald durch die 
politifche Erziehung, die bie Frauen in der Aus 
übung des Wahlrecht? erhalten, überwunden fein 
würde. Es gelang, die Gegner bed Frauenftimm: 
rechts zu überzeugen und bie Annabıne ber folgenden 
Refolution durchyufegen: 

„Der Generalrat erinnert die Gruppen und 
Mitglieder ber Arbeiterpartei an bie früheren 
Befchlüffe betreffend die politifche Gleichheit beider 
(Sefchlechter und erfucht fie, die Agitation unter 
den rauen mit dem größten Nachbrud au 
betreiben. 


* Eine Frauenapotheke in Petersburg wurde 
kürzlich eröffnet, deren geſamtes Perſonal bis auf 
den zweiten Provilor aus Frauen beficht, Die 
erfte „Frauenapotheke“ in Rußland ift auf Initiative 
von Frl. Leßnewski begründet worden, ber erſten 

| und biöher auch einzigen Frau, die den Grab eince 
ruſſiſchen Mag. pharm. beſitzt. 


— — — 


— — 


Frauenvereine. 


Totenſchau. Am 22. Juni ſtarb in Tübingen 
eine der erften Borlämpferinnen ber Frauenbewegung, 
Frau Mathilde Weber. 
ihr Wirken hat eine eingehende Würdigung in 
einem früheren Jahrgang ber „Frau“ gefunden. Es 
fei hier nur noch einmal darauf hingewieien, daß 
fie es ift, der die deutſche Frauenbewegung ven 
erften entfchiedenen Fortſchritt auf dem Gebiet ver: 
dantt, auf dem fie ſich heute der erften Errungen: 
ſchaften erfreut, auf dem Gebiete des mediziniſchen 
Frauenſtudiums. Es iſt in vielen Fällen kein Ber: 
dienſt, unter den erften zu fein, die für einen ort: 
ſchrin eintreten, nur dann iſt es ein Verbienft, 
wenn hinter einer ſolchen Agitation eine Berfön: 
lichteit fteht, die ihr cine Wirkung ſichert, und 
eine Arbeitölciftung, der cine Beweiokraft für 


Ihre Bedeutung und | 


er 


! bie Reife und den Ernft des Forderns innewwohnt. 
| MS der deutiche Reichstag die Frage bed mebizi: 
niſchen Frauenftubiums vor zehn Jahren zum erften 
| Mal crörterte, da konnte der Abgeordnete Ridert 
den Bedenken gegen die „Emanzipationägelüfte” die 
Frage entgegenhalten: „Kennen Zie bad Buch von 
Mathide Weber: Arztinnen für Frauentrankheiten? 
Kennen Sie die Frau ſelber?“ 

Darin, daß fie eine vollwertige Perfönfichteit 
in den Dienft der Frauenfache ftelte, liegt das ber 
ſchloſſen, was wir Mathilde Weber verdanken, liegt 
bie Schwere des Verluſtes, den ihr Tod für une 
bedeutet. Co lange bie Frauenbewegung diefen 
Wertmeffer für ihre Arbeiterinnen fefthält, wird 
das Gedächtnis von Mathilde Weber in ihr 
lebendig bleiben. 





—E — 


Frauenvereine. 


Der Landeöverein preußiſcher Bolloſchul⸗ 
lehrerinuen 

bat eine Petition bei dem Miniſter für Handel 
unb Gewerbe und bei den Rultusminifter eingereicht. 
Die_erfte Mmüpft an die am 1. ftober 1900 in 
Kraft getretene Gewerbeordnungsnovelle, die in $ 120 
Gemeinden und Kommunalbehörden dad Recht zu: 
ſpricht, den Fortbildungszwang aud [ 
weibliche YHanblungsgehilfen einzuführen. Ta 
das Beifpiel Wicdbadens und die in andern großen 
Städten eingeleiteten Verhandlungen zeigen, daß 
die Städte von biefem Recht Gebrauh machen 
werben, da andrerſeits zum Unterricht an dieſen an 
die Volksſchule anfchliekenden Fortbildungsſchulen 
die Volksſchullehrerinnen in eriter Linie berufen 
find, fo richtet der Verein an dem Unterrichts: 
minifter die Bitte: 
1. Eine hohe Königliche Staatöregierung wolle 

durch Errichtung faatlicher Hurfe zur Aus: 


bildung von SandelBichulfehrerinnen dem vor: . 


liegenden Bebürfniß genügen und 
2. zuglei) den preußiichen volts ſchullehrerinnen 
durch befonbere Einrichtungen die Möglichleit 
der Teilname an dieſen Kurfen gewähren. 
Damit die Ausbildung der Handelsſe 
Ichrerinnen eine gründliche werbe, bittet der Verein 
a) die Ausbilbungäzeit auf mindeftend ein 
Jahr hemeſſen zu wollen, b) die Kurfe an eine 
Univerfität anzugliedern; c) mo cine Handels⸗ 
hochſchule gegründet wird, die Bulaffung ber 
Xehrerinnen verfügen zu wollen, d) nad Schluß 
der theoretifcpen Ausbildung die dreimonatliche 






a 





Einfihtnahme in den Geihäftägang eines fauf: 


männifchen Betriebeö anzuordnen; e) die geivonnene 
Ausbildung durch eine Prüfung abfdliegen zu 
wollen. 

Da die materielle Lage ber Vollsſchullehrerinnen 
Erfparnifje für Stubienzwede nur in geringem 
Umfange möglich macht, fo bittet ber Berein, 


Stipendien zur Unterftügung für die Teilnehmerinnen 
diefer Kurfe auöwerfen zu wollen. 

Die zweite Petition an den Aultusminifter 
enthält die Bitte um Errichtung ftaatlier 
Kurfe zur Ausbildung von Fortbildungsfgul: 
Iehrerinnen. Für bie Art biefer Ausbildung 
fpricht der Verein folgende Wünfche aus: 

ALS Unterrichtsfächer follen gelten: Piychologie 
und Methobil; SKulturgeldichte, Bolswirtfpafts: 
lehre und Gefepeöfunde; Geſundheitslehre mit 
befonderer Berüdfichtigung der Kinberpflege; haus: 
wirtſchaftlicher Unterricht mit Bethätigung in der 
Küche, ald Wahllurſe Schneidern und Mäfchenähen. 
Der Verein erbittet ferner: eine Zeitdauer der 
Rurfe von einem Jahre; die Errichtung der Kurfe 
in einer Univerfitätöftadt, damit die Teilnehmerinnen 

zusleich Borlefungen an ber Univerfität in den 
| von ihnen bevorzugten Fächern hören können; 
! die Bewilligung von ftaatlihen lnterftügungen 
während ber Teilnahme an den Kurſen, damit 
diefe jeder begabten und ftrebfamen Boltzjchul: 
lehrerin auch thatſächlich zugänglich find. 
— 
| Die Bereind: Zeutralftelle für Rechtsſchutz 
(Leiterin Frl. Dr. jur. Marie Raſchke) ift am 
i 1, Oftober 1900 in® Lehen getreten, um eine Ber: 
bindung aller derjenigen (rauen: Vereine und 
Vereins Unternehmungen herbeizuführen, welche bazu 
dienen, den Frauen Rat und Hilfe in Rechtsfragen 
! und Rechtöftreitigteiten zu getvähren. 

Turdh ftatiftifhe und milfenfhaftfiche Ber- 
arbeitung der Erfahrungen und Refultate der ber 
Bentralftelle amgeglieberten Iotalen Nechtafhug: 
| vereine will biefe 

a) der Öffentlichfeit die Notwendigkeit des 
Rechtöiguges durch Frauen für Frauen und den 
Segen, den biefe Einrichtung einer großen Anzahl 
von Frauen gebracht hat, vor Augen führen (An: 
regung zur Bildung neuer Rechtsſchutzſielien), 





698 


b) durch Hinweiß auf etwaige Ungleichheit in 
ber Rechtiprechung und wiflenfchaftliche Erörterung 
biefer letzteren Einfluß auf bie Rechtſprechung 
nach der Seite des Rechtsbewußtſeins der Frauen 
bin gewinnen. 

Hierdurch ſoll ſich die nationale Rechtsſchutz⸗ 
ftelle zu einer — fo zu fagen — juriftifchen Stätte 
erweitern, von der aus das Mitwirken der Frauen 
bei der Geſetzgebung des Reiches vorbereitet wird. 

Die Zentralftelle erläßt einen Aufruf an bie: 
jenigen Nechtöfchugvereine und -Stellen, bie ihr 
noch nicht angeſchloſſen find und bittet fie, fich bis 
zum weiteren Ausbau der Bentralftelle bedingt 
anichließen zu wollen, indem fie fich eventl. nur 
verpflichten, der Zentralftelle alle 3 oder 6 Monate 
ihre Erfahrungen auf dem Gebiete bed Rechts- 
ſchutzes ſowie den Verlauf ihrer Bermittelung bei 
Rechtsſtreitigkeiten mitzuteilen. Der Bericht müßte 
die Angaben enthalten: 

a) in welchen Fällen Rat oder Hilfe eingeholt 
worden ift. 

b) welche Fülle gütlich beigelegt oder durch 

außergerichtlichen Vergleich erledigt worden find, 
ß 8 welche Fälle dem Gericht überwieſen worden 
ind. 
In lehrreichen Fällen, wie Alimentations-Ehe⸗ 
ſachen, Lohnſtreitigkeiten, Schadenserſatzklagen ꝛc. 
müßte, wenn es irgend angängig iſt, der Ausgang 
des Prozeſſes der Zentralſtelle mitgeteilt, d. h. ihr 
eine Abſchrift des Urteils mit Thatbeſtand und 
Entſcheidungsgründen auf ihre Koſten eingeſandt 
werden. Zu dem Zweck wäre die Klientin zu 
erſuchen, eine Abſchrift des Urteils vom Gericht 
zu verlangen und der betreffenden Rechtsſchutzſtelle 
zu übergeben. 

Da ſelbſt der vorgeſchrittenſte Rechtsanwalt 
nicht in allen Rechtsfragen die Rechtsanſchauung 
der vorgeſchrittenen Frauen teilt, empfiehlt der 
Aufruf, daß ſich die Leiterinnen der Rechtsſchutz⸗ 
vereine und :Stellen in Rechtsfragen, die in das 
Gebiet des Familienrechts fallen, im Zweifel an bie 
Leiterin der B:8.:5telle, Berlin SW., König: 
gräßerftraße 88, wenden, die laut Programm in 
ſolchen Fällen gegen Einfendung von 1 Mark (in 
Briefmarken für die Kaffe der Zentralftelle) ein: 
gehend ſchriftlich Auskunft erteilt. 

Dad Programm der Vereins: Zentralftelle für 
Rechtsſchutz ift in Heft 2—6 der „Zeitichrift für 
populäre Rechtskunde“ abgebrudt. 





Der Letteverein 


(Dorfigende Frau Elifabeth Kaſelowsky) zeigt 
in feinem 28. Jahresbericht für das Jahr 1900, daß 
er in den altbewährten Bahnen fortjchreitet. Bei der 
von der erwählten Baulommilfion ausgefchricbenen 
Konkurrenz für den Neubau eines Vereinshauſes 
find 6 BPreife verteilt worden. Den erften Preis 
erhielt Herr Baumeifter Schulz, in Firma Schulz & 
Schlichting, der beauftragt wurde, feinen Plan aus⸗ 
zuarbeiten. Es ift jedoch noch nicht möglich 
gewefen, die Pläne fomweik fertig zu ftellen, um fie 
ber Behörde zur baupolizeilichen Genehmigung ein: 
reihen zu können. Der Berein hofft jedoch, noch 
im Laufe des Sommers den Grunbftein legen zu 
fönnen und ben Bau entſprechend zu fördern. 
S. M. der Kaiſer bat 50000 Mark aus bem 
Dispofitionsfonde zum Bau des Haufes bewilligt. — 
Das Vertrauen bed Publikums zu bem Verein ift 


Frauenvereine. 


fo groß, daß alle Klaſſen bis zur äußerfien Grenv 
der Aufnahmemöglichkeit gefüllt ſind, und toi 
namentlih in ber Handelsſchule, ber Kochſchoun 
und ber pbotographifchen Lehranftalt Schülerinnen 
zurüdgemwiejen ober auf einen fpäteren Termin 
verwiefen werden müflen. Neue Kurſe ſind ım 
laufenden Jahre nicht eingerichtet tworben, jedes 
ift eine Buchbinderei-Lchranftaft ind Auge getar:. 
und ber Berein bofft, mit der Einrichtung bıda 
Lebranftalt mieber einer größeren Anzahl ven 
Mädchen und Frauen einen lobnenden Erwerb- 
zweig zu eröffnen. 





Der „ Rechtsfchugverein für Franen“ im Dredden 


bat im Laufe bed Vereinsjahrs 1900 18 Ti 
glieder: und öffentliche Verſammlungen abgebalten, 
außerdem einen in Gemeinfhaft mit der hieſigen 
Abteilung Frauenbilbung : Frauenſtubium veran 
ftalteten Vortraggabend. Die vom Berein unter 
nommene Enquäte in der Strobhutnäherei ıft ſower 
zum Abſchluß gelommen, daß mit ber Sichtung 
und Zufammenjtellung des gefammelten, zieml:t 
reichhaltigen Materials begonnen werden konnt: 
Die Rechtsſchutz-Geſchäftsſtelle des Vereins wurd. 
in 792 Fällen in Anſpruch genommen. Bon dm 
die Sprechftunde auffuchenden (yrauen waren tir 
heiratet 569, unverheiratet 228. Bon befonderem 
Intereſſe iſt das im vergangenen Jahre erketit 
Verlangen verlobter Berfonen nad Ebevertrügen 
mit Ausschluß der ehemännlichen Nupnichung un? 
Verwaltung am Frauenvermögen, ſowie die Anfrage 
verbeirateter Frauen, wie bie Ausſchließung ver 
Nubniekung und Verwaltung nad geichlofiene 
Ehe zu bewirken fei. Als erfreuliche Thatfache it 
ferner das dankenswerte Entgegenfommen der Be 
hörden zu erwähnen, mit benen bee Berein in 
Verbindung zu treten Gelegenheit hatte. Mit x 
fonderer Freundlichkeit berüdfichtigten bie Herren 
Vormundichaftsrichter und die Poligeiorgane, aud 
die Spitzen bderfelben, die an fie geftellten Anliegen 
und Anfragen. — Die Auskunftsſtelle für Wohl 
fahrtseinrichtungen ift in biefem Vereinsjahr — 
dem zweiten feit Beftehen berfelben — von 119 
Berfonen — gegen 60 im borbergegangenen — 
aufgefucht worden. 





Der Berein Berliner Dienſtherrſchaften und 
Dienftangeftellten 

will bei feinem praktiſchen Zufammenarbeiten ben 
Hausfrauen und Dienenden zunächft ben tielem 
Hfundenen Schäden der Stellenvermittelung entgegen 
treten. Bekanntlich bat der Verein bereitö cınem 
gut funktionierenden eigenen unentgeltfiden Stellen: 
nachweis für feine Mitglieder eingerigtet Ti 
Gefchäftäftelle ift Potsbamerftr. B3c, nachmittage 
von 3—7 Uhr geöffnet. 





Der Stabtbunb ber Vereine für Armenpfen 
und Wohlthätigleit zu Fraukfurt a. M. 


(BVorfigende: Frau Profeffor Edinger) ift ver 
zwei Jahren aus dem Bebürfnid hervorgegangen. 
alle in ber Wohlfahrtäpflege thätigen Organe IM 
gemeinfamer Arbeit zu vereinigen. Er bemübt 
fih, eine Zentral: und PVermittlungäftele zu ſein 
für alle diejenigen Vereine und Private, bie auf 
dein weiten Feld der fozialen Hilfsarbeit that 


Frauenvereine. 


find. — Eeinem Charakter entſprechend läßt es ſich 
der Stabtbund angelegen fein, eine möglichft große 
Zahl von Namen folder Familien in feinen Alten 
zu befigen, melde jemals bie öffentliche ober 
private Wobftpätigleit in Anfprucd genommen 
haben. Hierdurch ift er im ftande, einen großen 
Bruchteil der an ihm gerichteten Anfragen andrer 
Vereine oder Privater zur Zufriedenheit ber 
Fragenden zu beantworten. Weiterhin bemüht er 
fib, auögleihend und vermittelnd thätig zu fein 
bei der Organifierung von Weihnachtöbeiherungen 
fowie bei den Beftrebungen zur Beichaffung eines 
Sommeraufenthaltes für Kinder unb Erwachſene. 
Turd) Aufnahme von Meldungen und Pergleichung 
von Liften ift ed dem Stabtbund gelungen, hierin 
günftige Nefultate zu erzielen. Er barf ſich 
rühmen, daß durch feine Vermittlung cine größere 
Anzahl von Doppelbefcherungen vermieden, und 
dafür andern Familien, bie noch von feiner Seite 
her bebadht wurden, etwas zugeivenbet worden ift. — 
Nicht minder fegendreih waren feine Bemühungen 
betr. bie Sommerpflege von Schultindern und im 
Beruf ſtehender junger Mädchen. Durd feine 
vermittelnde Beihilfe konnte eine nicht geringe 
Anzahl Erholungäbebürftiger der Wohlihat eines 
mehrwöchentlichen Lanbaufenthalteöteifhaftig werben. 
— Ein großed Verdienft erwarb ſich der Stadt: 
bund außerdem noch durch bie Lerausgabe bed 
Sand: und Nachſchlagebuches „Die private Fürforge 
in Frankfurt a. M.“ Dasjelbe enthält eine genaue 
und praktiſche Zuſammenſtellung der in der Stabt 
beftehenden gemeinnügigen SBeranftaltungen und 
ift für alle diejenigen, die fih mit MWohlthätigkeit 
und Armenpflege befaflen, von wirklich gro| 

Nugen. — CB ift begreiflich, daß die fi über ein 
fo weites Feld erftredende Thätigkeit des Vereins 
einer großen Anzahl von Arbeitöfräften bedarf. Es 
ift daher von Anfang an das Beftreben des Stadt: 
bundes geivefen, möglichft viele freiwillige Si 
träfte heranzuziehen, ta® ihm auch gelungen ift. 
Tantbar blidt er auf eine große Zahl von frei 
willig mit ihm Arbeitenden, und es iſt erfreulich 
zu konſtatieren, daß das Intereſſe und die Liebe 
zur fozialen Hilfethätigkeit immer weitere Kreiſe 
der befferen Gefellichaftätlafien erfaßt. — Cine 
Menge junger Mädden arbeiten im Tienit des 
Stabtbunded auf ben verfchiebenften Gebieten. 
Befonder® bevorzugt wird dad Erie len von Rad): 
biffeunterricht an durd Krankheit ober mangelnde 
Begabung zurücgeblicbene Schultinder; aber aud) 
die Befuche bei Armen und Kranken. Die Arbeiten 
aur SHeritellung von Blindenſchrift, ſowie bie 
Hilfe in Kinderſchule, Kindergarten, Kinder: 
bert und jlidfurs werden eifrig, betrieben. — 
Auf der diesjährigen Generalverfammlung bes 
Bundes wurde über eine Cingabe des Stabt: 
bunbes an ben Magiftrat der Stadt Frankfurt, 
betreffend die Einführung des Sauähaltung 
unterrichte® in bie oberfte Klaffe der Vollsmädche 
ſchule in Tebhafter Debatte verhandelt. Aus der: 
felben ging hervor, dafı die große Mehrheit der 
Schulmänner dem Antrag nicht günftig geftinmt 
gegenüberfteht, während alfe auf fozialem Gebiet 
Arbeitenden von der unbedingten Notwendigkeit 
einer obligatorifhen hauswirtfchaftliden 












698 


Die beiden Parteien einigten ſich ſchließlich dahin, 
daß bie Eingabe gemacht werben follte und die 
Lehrer ihre Yuftimmung zu einer probeweifen Ein⸗ 
führung des betr. Unterrichteö geben würden. 





Die hauswirtſchaftliche Fortbildungsſchule des 
Vereins Fraueuwohl zu Königsberg i. Pr. 
veröffentlichte ihren 7. Jahresbericht für bie Zeit 
von Dftober 18989— 1900. Ihre Maieftät die 
Naiferin Friedrich hat das Proteftorat über die 
Säule übernommen. Es wurden ſtets circa 
30 Mädchen in ben verfeiebenften Siveigen ber 
Haußwirtfchaft mie: Kochen, Waſchen, Plätten, 
Schneidern, Mafchine: und Wäfchenähen, fowie auch 
in Deutich, Rechnen, Haushaltungdhunde, Zeichnen 
und Turnen unterrichtet. Zum Teil nehmen bie 
Mädchen nad vollendetem Kurfus Stellen an, zum 
Zeil aber verwerten fie auch die erworbenen Fertig: 
feiten im eiterlichen Haushalt. Der Magiftrat hat 
die bieherige Subvention von 300 Wart auf 

600 Mark erhöht. 


Der Berei 





zur Gründung eines Mädchen: 
muafiums in Münden 
veröffentlicht feinen 7. Jahresbericht. Ta bie 
wiederholte Gingabe ded Vereins an das Agl. 
Kultusminifterium um bie Genchmigung zur Er⸗ 
richtung eines Mädcengumnafiums abfehlägig be: 
ſchieden worden war, machte fi) in der 8. ordent⸗ 
lichen und einer fpäter einberufenen außerorbent: 
lichen Sauptverfammlung das Verlangen nad) 
Errichtung von gumnafialem Privatunterricht geltend. 
Die betreffenden Anträge wurben aber mit geringer 
Majorität abgelehnt, da der Verein an feinen 
Grundfage fefthielt, nur ein ftaatlich genehmigtes 
Bolgymnafium mit dem Rechte auf Ablegung ber 
Abiturientenprüfung errichten zu wollen, wenngleich 
er der Einrichtung von Privatunterricht auch fym- 
pathiſch gegenüberftehe. Im Laufe des Sommers 
fünbigte derr Rektor Sidenberger bie Errichtung 
von gumnafialem Privatunterricht für Mädchen 
unter feiner Zeitung an und ftellte im Januar den 
Antrag, fein Unternehmen durch Gewährleiſtung 
von greiplägen bezw. Schulgeldnachlaß an be: 
bürftige Schülerinnen zu unterftüen. Bit biefem 
Gefuh mar der Borftand nicht einverftanden, 
einigte ſich aber fpäter mit verrn Reltor Siden: 
berger über bie Bedingungen, unter welchen ber 
Verein bereit fei, feine Kurfe als ſolche zu unter: 
fügen. Danach leitet Herr Sidenberger biefelben 
für das laufende Schuljahr unter feinem Namen 
und nah dem von ihm feftgefeßten Lehrplan, 
während der Berein da gefamte Soll und Haben 
für da laufende Schuljahr übernimmt. Eine Er: 
neuerung des Zertraged für das nachſte Schuliahr 
ift vorbehalten. Bis dahin follen die Beriehungen 
des Vereins zu dem Unternehmen durch den Vor— 
ftand, fpäterhin durch ein aus Bereindmitgliedern 
beftehendes Kuratorium wermittelt werben. — 

€3 wurden 12 Borftandd: und Ausſchuß · 
figungen abgehalten und im inter ein Cheius 
von 6 Vorträgen de Herrn Dr. Grafen von Du 
Moulin-Edart, Profefjor an der techniſchen Goch: 





Aus: ! fhule, über die „Franzöſiſche Revolution“ ver: 


bildung unfrer weiblichen Jugend überzeugt find. ı anftaltet. Auferbem fanden 4 Kitglieberabenbe ftatt. 


2 ep 


700 


Eine Reihe von hervorragenden deutſchen 
Künftlern, Litterarhiftoritern und Gelchrten ver: 
öffentlicht den nachftehenden 


Aufruf. 


Am 8. September d. 3. vollendet, fo Gott 
win, Wilhelm Raabe zu Braunſchweig fein 
ſiebzigſtes Lebensjahr. 

Seit beinahe einem halben Jahrhundert haben 
fi) Taufende und Abertaufende an ber Gemüts: 
tiefe und an dem Gedanfenreichtume der Dichtungen 
Raabe's erfreut und erbaut; doch wie er felbft alle 
Zeit fill feined Weges gegangen ift, fo haben ibm 
aud feine Leſer bisher nur in der Stille danken 
tönnen. Um jo näher liegt e8, daß jetzt, da feines 
Lebens Feierabend naht, alle, bie auß bem köft: 
lichen Borne feined Humors fo oft Erquidung und 
neuen Lebensmut geihöpft Haben, fi) einmütig in 
dem Gedanken zufammenfinden, dem Dichter aud) 
vor der Welt ihren Dank darzubringen. 

Zür eine folde Ehrung glauben die Unter 
zeipneten eine Form gefunden zu haben, bie der 
Verfönlichteit des Dichters und ben Wünfchen feiner 
Verehrer gleicherweife entiprechen würde. 

Es ift ein oft beflagter Mangel, daß es noch 
immer am einer Gefamtausgabe der Werke Raabe's 
fehlt, fo daß es wohl nur wenigen vergönnt ift, fie 
alle zu befigen. Giner folhen Gelamtausgabe 
ftand und jtcht das Hinberniß entgegen, baf die 
Verlagrechte auf Raabe’8 Schriften nicht in einer 
Hand vereinigt find. Durch Befeitigung biefes 
Dinberniffea ciner Gefamtausgabe die Wege zu 
ebnen und bem Dichter an feinem fiebzigften Ge: 
burtötage das Verfügungsrecht darüber in bie 
Hand zu legen, ift der Plan, zu beffen Ber: 
wirkung fi) bie Unterzeidhneten zufamınen- 
gefunden haben. 

Sie wenden fih hiermit an alle, die Wilhelm 
Raabe kennen und Lieben, mit der Aufforderung, 
die zu bem bezeichneten Ziwede erforderlichen Mittel 
feibft und durch Verbreitung diefes Aufrufes in 
ihren Kreifen aufbringen zu helfen. 

Für den Fall, daß fic) die Verhandlungen mit 
den beteiligten Verlegern zerfchlagen follten, erbitten 
ſich die Unterzeichneten die Befugnis, den Ertrag 
der Sammlung zur Ehrung des Dichter8 aud in 


einer andern, feiner würdigen Form zu ber: | 


wenden. 
Beiträge nimmt entgegen: 
Direktion der Diskontogeſellſchaft, Berlin, 
Herr Sigmund Schott, Deutiche Effekten: 
und Bechfelbant, Frankfurt a. M, 





Herr Bankdireltor Paul Walter, Hz 
ſchweig Hannoverſche Simpothefenbant, Bra: 
ſchweig. 

Mitteilungen jeder Art und Anmeldungen '= 
der Feier in der Stabt Braunſchweig am &. Zu 
tember 1901: 

Feftverfanmlung morgens 11%/. Ubr, 
Fefteffen nachmittags 4 Uhr, 
werden — letztere Bis zum 15. Auguſt — * 


Händen des Nechtdanwalts und Notard Louu 
Engelbrecht in Braunfchtveig erbeten. 
„Das Ehepaar Orlow“. Bon Marin 


Gorki, deut von A. Scholg. (Berlin, Brun 
und Paul Caffirer.) Ein Buch von Marim Merk 
zur Hand nehmen, das heit nicht, wieder einmal 
einen andern — neuen Schrifiſteller unter di 
Fingern haben, den man auf Wollen und Können 
Bin betrachten, betaften und prüfen mag. Ce kait 
Leben vor ſich fehen, um fi fühlen — lelendut 
Zehen, in dem eine ftarfe, umendfiche, weit 
Seele wohnt — bie Secle des ruffifchen Boltit 
Nicht der Schriftfteler tritt einem aus_diekı 
Buche zuerft, am Fräftigften und greifbarften en: 
gegen, fordert den hrenplag fir fi, fondern dir 
Menfch, der Ruffe. Und wen des Dichters arte 
Stammesbrüber noch nicht gelehrt haben, das Full 
zu achten und zu lieben, über beffen Seele für un 
immer noch ein Schleier liegt, die tief, weit. 
unbegrenzt und voll Schtwermut ift wie ber Mutter 
hoben, aus dem fie ihr Sehen faugt, und in bern 
Schoß unbetannte Riefengebilde no falummern 
— — ber findet an Marim Gorfi'3 Hand tur 
Weg, der in die Tiefe diefer Seele führt. 

Der Schuſter Orlow — in ber erften Lüngerer 
Erzählung des vorliegenden Bandes — berlün! 
die flaviiche Raſſe in ihrer urfprünglicen, nd 
unvermifcpten und ungebändigten Eigenart. © 
lehrig gefhmeidig, fähig, alle Einbrüde 
empfangen, alle Formen anzunehmen, ein un 
fehulter Geift, ein Teidenfcpaftlicher Charakter, weit 
und gutberzig, immer mit trüben, unllaren, [hw«T- 
mütigen Empfindungen ringenb, mit dem dumpfer 
Gefühl fortwährender blinder Empörung, das fit 
in Trog, Boöheit und Gehäffigkeit Luft mabt 
Ein Mann mit ftarken Lebenstrieben, der doch det 
Leben nur irgendwo „weit — weit ba drehen 
fluten hört — ein Dichter, den bie Erbe, auß N’ 
er beraußgetvachfen ift, umerbittlidh feftbätt. Ti 
neben die rau, bie meitaus —3 de 
reprodultive Natur, bie eben, weil fie die mindt 





Bücerfhau. — Anzeigen. 


ftarfe Perfönlichkeit if, den Weg aus den engen 
Kreis ihres Ich heraus findet. 
Es folgen dieſer Erzählung noch drei Stizzen, 
alle aus dem Leben der Enterbten, Seimatlofen. 
Vielleicht kommt hier dem Leer — wie mir — 


fo nebenbei ber Gedanke, mie wenig bei und in ; 


Deutſchland grade auf dem reizvollen Gebiet ber 
Stigge geleiftet wird. Man nehme einmal bie 
meiften unfrer Skizzen! Faft alle baufchen fie nur 


einen einzigen Gebanten — eine einzige mehr ober ' 


minder gute Pointe, einen Ballaft von jentimentaler 
Lyrit und wortreicher Betrachtung auf — und bie 
Wenfben find Figuren — Schatten ohne feite 
Form — ohne dieſſch und Blut! Dagegen 5. 8. 
Raupaffant — Tſchechow u. a.! 

Auf zwei — brei Seiten, ohne großen Apparat, 
opme ein überflüffiges Wort, ein ganzes Drama, 
das fih in ſcharfen Umriffen vor und entwidelt! 
Und bier — Warim Gorti. Chme Zuthat, ohne 
Sentimentalität, ohne verftimmende Abfichtlichteit, 
in ber unbelümmerten feflellofen Art des Wander: 
‚gefellen, der unbeſchwert von Befig über die Erde 
— dur das Dafein ftreift, erzählt er feine Heinen 
Erlebniffe. Welch ein Hauch zartefter Poefic, 
rührenden Humor8 über diefen Menfcen! flder 
Rolaſcha der „Gefallenen“, bie hungernd, obbadh: 
108, geihlagen, auögeftoßen, in echtefter Frauengüte 
noch Teoft für dem ebenfo hungrigen, elenden, 
armfeligen Jungen findet! Über dem einfältigen, 
gutmütigen, ewig betrunfenen Mifchla, der aus ber 
unfichern Tänmerung feiner Philoſophenſeele heraus 





701 


der alten Betſchweſter das geſtohlene Silberſchloß 
gurüdbringt! Über ber abftoßenden, verfonmenen 
Terefa, die in ihrer taftenden Sehnfucht nad} einem 


: Menfejen der „für fie da ift“, fid einen Freund 


erfindet — — — 
Aber wozu weiter rühmen? Derartige Bücher 
find da, um gelefen zu werden. G S. fett. 


„Die foziale Stellung ber Sranfen- 
pflegerinnen“ von Schwefter Elifabeth Storp 
(Tredben, im Selbftverlag, KRaigerftr. 29). Die 
Xerfafferin giebt in dem Schriftepen einen Überblid 
über die (Jehalt8: und Werforgungsverhältniffe der in 
interfonfeffionellen Vereinen organifierten Kranten. 
pflegerinnen und fnüpft baran Vorfchläge zur 
Befferung diefer Berhältnife. Wir werden in diefer 
geitfeprift auf biefe außerordentlich wichtige Frage 
noch zurüdtommen und empfehlen vorläufig das 
Schriften von Elifabeth Storp allen Inter: 
effierten zur Kenntnisnahme. 





Eine internationale Bibliothek zur Zrauı 
frage von feltenem Umfange und jeltener Reich: 
haltigteit Hat Dr. Aletta Jatobs in Amfterdam 
geihaffen. Gin Hatalog diefer Bibliothek ift unter 
dem Titel: La femme et lo feminisme im Ber: 
lage von 2. Giard et E. Briered, Paris, er: 
fhienen. Er wird jedem, der die Frauenbewegung 
der verſchiedenen Länder ftubieren will, cin iwert: 
volles bibliographifdhes Hilfsmittel fein. 





Schöne Fütze und ſchöne Zähne find bie 
wichtigften Schmudattribute de Menfchen. Während 
man aber mit den häßlichften Platt: und Plump⸗ 
füßen kerngeſund fein und fi} körperlich fehr mollig 
fühlen Tann, haben häßliche Zähne fehr häufig 
lörperlice Yeiden, namentlich Verdauungaftörungen 
im Gefolge. CS ift geradezu lächerlich, daß fo 
viele Nenichen, die fortwährend über Magen:, Kopf: 
feomerzen oder verdorbenen Magen Hagen, lieber 
allerhand Mirturen und Magenfchnäpje vertilgen, 
als die Urfahe diefer Yeiden zuerft in dem Nä 
liegenden, nämlid) in ber Belchaffenbeit ihres Kau: 
apparates zu ſuchen. Man bedente doch: Schlecht: 
gelautes Effen wird ſchlecht verbaut, und nur das, 
mas mir verbauen und ordentlich verbauen, ernährt 
und, nicht das, was wir effen. Mit fchlechten 
Zähnen ift aber eine gute Verdauung undenkbar. 
An einer ricptigen Verdauung hängt die Gelundgeit 
und an die (Sefundfeit ift unfer 2eben, find erft 
bie Lebensgenüffe gelnüpft. Die Erhaltung und 








Vflege unferer Zähne ift alfo immens wichtig, und ; 


€& ift hoc) Bebauerlich, daß «8 immer noch Menfehen 


giebt, die in ihrer allgemeinen Bequemlichkeit ihre : 


Zähne dahinmodern laffen. Solde Leute find 
einfach) Verbrecher an fich felbft. Tiefe Bequemlid): 
teit_ift um f> unverzeihficher, ais und bie moberne 
Wiſſenſchaft hemifche Mittel zeigt, mit deren Hilfe 
jeder fein Gebiß in gutem, minbeften® in feiblich 
guter Zuftande erhalten kann. 

Freilih muß man ein wirklich zuverläſſiges 
Mittel anwenden. 
Zahnjeife oder Rulver, wie das noch vielfach üblich 


Das einfache Puhen mittels , 


ift, hat gar feinen gwed. Das fann man daran 
fehen, daß viele Leute, die ihre Zähne täglich mit 
Pulver oder Pafta reinigen, doch ſchadhafte Zähne 
haben. Ja häufig werben bie Zähne durd Puder 
ober Pafta nod mehr verdorben; denn altalifhe 
Zahnfeifen machen die Zähne mit der Zeit brücjig, 
und dur) das tägliche Bugen mitteld Zahnpulver 
ober Pafta wird die Zahnglafur angegriffen und 
dünn. Abgeſehen aber von dieſen ſchädlichen 
Nebenwirkungen können Zahnpulver ober Paſten 
ſchon deshalb die Zähne nie und nimmer vor 
Verderben ſchützen, weil ja gerabe diejenigen Stellen, 
die am cheften anfaulen, wie Rüdfeiten der Bad- 
zähne, Zahnfpalten, Zahnlüden u. f. w. bei dem 
Bugen “mittels Pulver ober Pafta unbchefigt 
bleiben. Da fault e8 alfo ruhig weiter. — 
Will man feine Zähne vor Fäulnid und Verderben 
frei, alfo gefund erhalten, fo kann bad nur durch 
den Ionfequent täglichen Gebrauch des flüffigen 
Bahnantifeptitums Tdol erzielt werden. Tiefer 
dringt beim Spülen überall Hin, in die hohlen 
Zähne ſowohl wie in die Zahnfpalten, an die Rüd: 
feiten ber Badenzähne u. f. w. Obol ift, wie neuer: 
dings  twieberholt tiffenfehaftfih  nachgewiefen, 
unbedingt allen anderen befannten Zahnreinigunge: 
mitteln weit überlegen, weil ed, ohne die Zähne 
aud nur im geringften anzugreifen, ftundenlang 
im Munde fortwirkt, nod lange nachdem man fid 
den Mund obolifiert bat. Man beginne alfo mit 


einer fonfequent täglichen Runbpflege mittels 
Diol. Viele werden dann dankbar unferer 
gebenten. 


Anzeigen, 708 


» » W. Moeser Buchhandlung, Berlin. » » 


Demnächst erscheint: 


Dandbuch der Hrauenbewegung 


herausgegeben von 
Helene Lange und Gertrud Bäumer. 


Mitarbeiter: 


Für Deutschland: Alice Salomon, Marie Stritt, Anna Pappritz, Ottilie Hoffmann, 
Dr. Robert Wilbrandt, Lisbeth Wilbrandt. 

Für das Ausland: Emilie Benz, Marie Bessmertny, Ersilia Majus Bronzini, 
Biee Cammeo, Maria Cederschiold, Auguste Fickert, Kirstine Frederiksen, 
J. Gatti de Gamond, Alexandra Gripenberg, Marianne Hainisch, Anna 
Hierta-Retzius, Martina Kramers, Gina Krog, Jane Scherzer, Martha 
Strinz, Dr. phil. Caroline Michaelis de Vasconcellos, Professor Dr. 





Wyehgram u. a. BEE BEE 
l. Teil. 

Die Geschichte der Prauenbewegung in den Kulturländern. 
I. Teil. 


Die Geschichte der Prauenbewegung und der sozialen Prauenthätigkeit 
in Deutschland auf ihren einzelnen Gebieten. 
Il. Teil. 
Der Stand der Prauenbildung in den Kulturländern. 
IV. Teil. 
Die deutsche Prau im Beruf. 


Jeder ca. 20—25 Bogen starke Band ist einzeln käuflich. 
u — 





Das vorliegende Buch ist auf deutschem Boden der erste Versuch, eine Über- 
sicht über das ganze Gebiet der Fragen und Bestrebungen zu geben, die man in 
den Namen Frauenfrage und Frauenbewegung zusammenfasst. Es soll angesichts 
der grossen Unkenntnis, die in weiten und einflussreichen Kreisen über Ursprung. 
Ziele, Umfang und Bedeutung der Frauenbewegung herrscht, Aussenstehenden die 
Möglichkeit geben, sich an der Hand einer objektiven, wissenschaftlichen Darstellung 
über Geschichte und Stand der Frauenbewegung eingehend zu orientieren. Es soll 
allen, die in der Frauenbewegung arbeiten, zu einem gründlichen Studium der ein- 
schlägigen Fragen und der in Betracht kommenden Arbeitsgebiete. sowohl in Bezug 
auf Beutschland als auf das Ausland, die Hand bieten. Die Herausgeberinnen 
hoffen damit einem Bedürfnis enigeı enzukommen, das weder die propagandistische 
Litteratur, noch die wissenschaft chen Darstellungen der Frauenbewegung durch 
Aussenstehende befriedigen können. 

Der Verlag wird die Ausstattung des Werkes in jeder Weise würdig und 
gediegen gestalten. 


704 


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Berantiortig für die Rebattion: Helene Lange, Berlin. — Beriag: 


rud: @. Moefer Bugbruderei, B 





706 Kaiferin Friebri +. 


blieb das nicht aus. Eine Frau mit felbftändigen politiichen Anfihten, die Nat“: 
dem Thron, in der Bismardichen Aera! Die Prinzeß Royal von England, bie cı 
weitblidender Bater jchon als Halbes Kind mit in dad Parlament genommen bat:: 
um ſich nachher von ihr die Dispofitionen der gehörten Reden geben zu laſſen ur: 
ihr politifches Urteil allmählich zu bilden, am preußilchen Hof! 
Was dann die neunundneunzig Tage ihr brachten, was bie befannte Zeitung? 
bee damals an ihr gejündigt bat, bat fih ihr unauslöfchlich eingegraben, ohne ihren 
ftarfen Geift brechen zu können. 

Ein vornehmer Geift ift fie geweien, und mit vornehmen Geiftern liebte fie es. 
ſtille Zwielprache zu halten. Weder Salonphiloſophie noch vberflählide Roman: 
litteratur, die den „Gebildeten” jo bequeme Gefprächsgegenftände liefern, Hatten tr 
etwas zu jagen. Sie liebte Geifter, mit denen fie zu ringen batte, die nicht gelelen, 
fondern ftudiert fein wollten, die ihr inneres Selbft mit aufzubauen im flande waren. 

Aber es ift völlig unmöglich, auch nur andeutungsmweile bier die Grenzen 
beftimmen zu wollen, innerhalb derer dies überreiche Geiſtesleben ſich bewegte, 
unmöglich, auch nur flizzierend den Gang eined Lebens verfolgen zu wollen, ba, in 
feinem äußeren Verlauf jedem befannt, in feiner reichen inneren Außgeftaltung fo viele 
ungehobene Schäge birgt, die noch der Wünfchelrute eines feinfinnigen Interpreten 
barren. Uns ſteht fie in erfter Linie als Frau nabe, und ber erfte Artikel unjeres 
Blattes aus der Feder von Georg von Bunjen hat ihr gegolten. Er bat die That: 
ſachen gruppiert, die Außerlich von ihrem Anteil an Frauenarbeit und Frauenbildung 
in Deutjchland zeugen. Mir bleibt der Verfuch, zu zeigen, welder Geift dieſen 
äußeren Zeugnifjen ihre Geftalt gab, mie es thatſächlich um ihre innere Stellung zur 
Frauenbewegung ftand, über die jo manche Tageszeitungen, die eine „Beichäftigung“ 
mit der Frauenfrage jchon an fich für ein leichtes Brandmal halten, jo viel Unver: 
ftandene? und Mißverftändliches beibringen. 

Ihre Auffaffung der Frauenbewegung wurde, wie das ja auch faum anders 
fein Tann, in ihrem Grundzug durch ihre eigene geiftige Entwidlung beſtimmt. Durd 
ihre wiflenfchaftlichen Studien und durch die ihr fo reichlich gebotene Möglichkeit, 
tiefere Einblide in foziale Fragen und ihre weitverzweigten Bufammenhänge zu 
gewinnen, ſowie durch ihren praftifchen Blid würde fie fich im ftande gefühlt haben, 
wenn dad Schickſal ihr die äußeren Möglichkeiten gegeben hätte, im Kulturleben die: 
jenigen Kräfte beftimmend zur Geltung zu bringen, die nur ber Frau eigen find. 
Und fo konnte fie fih auch eine kulturelle Wirkjamleit der Frauen im großen nur 
durch allfeitig gebildete PVerfönlichkeiten denken. Die Vorbedingungen bazu zu fchaffen, 
das ſchien ihr die nächlte Aufgabe der Frauenbewegung; an diefem Punkte würde fie 
jelbft eingejegt haben, wenn Kaifer Friedrich, der bier ganz eines Sinnes mit ihr war, 
eine längere Herrfchaft befchieden gewejen wäre. Als nach feinem Tode der Katjerin 
ber Wunfch ausgeſprochen wurde, der Trauer um ihn irgend einen bleibenden Aus: 
druck zu geben, da äußerte fie in feinem wie in ihrem Sinne: „Wie märe eB, wenn 
man einige feiner Ideen verfuchte zur Ausführung zu bringen? 3. B. das Inſtitut 
für die Erziehung der Frauen — die Klinik für Halskrankheiten — die Arbeiter: 
wohnungen um Berlin — das Beftalozzi: Fröbel: Haus?” — — — 

Ein Inftitut für die Erziehung der Frauen — das war ber Gedanke, ber fie 
jelbft Jahre lang beichäftigte und zu dem fie Pläne entwarf und entwerfen ließ. Sie 
dachte es fich als einen Kompler von Anftalten, in denen die Gelegenheit zu jener 


8 








aaiſerin Friedrich +. 07 


allfeitigen Ausbildung ber weiblichen Perfönlichkeit geboten werben follte, mit der für 
fie die Löfung ber Frauenfrage vor allem verbunden war. Nicht ala ob alle alles 
lernen follten, Wiſſenſchaft und Kunft, praftifche Hausführung und Kindergärtnerei, 
Krankenpflege und foziale Hilfsthätigkeit, aber das räumliche Nebeneinander follte jeder 
die Möglichleit des Einblids in die Sphären gewähren, die in ihrer Totalität die 
gefamte Kulturarbeit der Frau umfaßten, follte die gebildete Frau vor ber ihr fo oft 
anhaftenden hausfraulichen oder gelehrten Einfeitigfeit in gleicher Weife bewahren. 

Man mag über die Zwedmäßigkeit und Ausführbarfeit diefes Planes denken wie 
man will, für fie war er harakteriftiih. Im ihm glaubte fie die Möglichkeit gefunden 
zu Haben zur Verwirklichung ihres Frauenideals — eines gefunden Ideals. Sie ift 
nicht dazu gefommen, diefen Gedanken auf feine Durchführbarkeit hin prüfen zu können. 
In einzelnen Schöpfungen fah fie einen Teil ihrer Ideen ſich verwirklichen. Wer fie 
verwirklichen half, wer auf gleichem geifligen Boden mit ihr fland, dem gab fie nicht 
„hohe Proteltion“, fondern die lebendig wirkende Anregung geiftiger Mitarbeit. Ihre 
Beziehungen zu Henriette Schrader, Hedwig Heyl, Ulrike Henſchke, zu den 
Vorfteherinnen der unter ihrem Schuß ftehenden Anftalten, zu allen, die arbeitend ihre 
Ideen verkörpern halfen, ruhten auf einer Gemeinfamleit der kulturellen Intereſſen, 
die ihren fchönen, rein menfchlichen Ausdrud in den Stunden fand, da fie den Kreis 
diefer Frauen zu gegenjeitigem Gedankenaustauſch um ſich verfammelte. 

Eine vornehme geiflige Kultur, praktifches ſoziales Verftändnis und die haus— 
frauliche Dispofitionsfähigfeit und Tichtigfeit, die vor dem Beherrſchtwerden durch 
bausfrauliche Sorgen bewahrt, dad war ihr bie vor allem notwendige geiftige Grund» 
Tage, durch die ihr die Gefundheit der wirtſchaftlichen und rechtlichen Entwidlung der 
Frauenbewegung am beften gefichert erfchien. Von diefen Prämifen ausgehend, hat 
fie die Konfequenzen der Frauenbewegung: den Einfluß der Frauen auch im öffent— 
lichen Leben zur Geltung zu bringen, zu Ende gedacht. Denn daß auch bei uns dort 
Frauenforge und Fraueneinfluß not tue, mußte. der praltiſche Blid der Tochter 
Englands ſchnell genug erkennen. 

Aber ihre Hiftorifche Bildung war zu tiefgründig, um fie nicht die Gefahr des 
Dilettantismus, der notwendige Stufen überfpringen will, deutlich erkennen zu laſſen. 
Und obwohl fie die Notwendigkeit einer vernünftigen Propaganda nicht verfannte — 
fie hat jelbft einem Frauentag de3 Allgemeinen Deutfchen Frauenvereins beigemohnt — 
fo war ihr doch jede auf Augenblidserfolge gerichtete Reklame, jedes Vorwegnehmen 
legter Ziele um der demonftrativen Wirkung auf unreife Maſſen willen, ald eine un— 
wurdige Charlatanerie erſchienen. Sole Richtung lehnte fie durchaus ab. 

So war ihr Eintreten für die Frauenbewegung vol ficheren, vornehmen Ver— 
trauen auf die unfehlbar wirkende Macht der kulturellen Kräfte der Frau, die fie 
helfen wollte zu befreien. 

ALS Kaifer Friedrich Gemahlin — mußten die Zeitungen zu fagen — wird fie 
in die Weltgefchichte eingehen. Der Weltgefchichte, die aus Fürftengallerien mit 
Schlachtenbildern im Hintergrunde befteht, wird fie nichts bedeuten. In die Kultur= 
geſchichte aber wird fie eingehen als felbftändige Perfönlichkeit, als bie erfte Fürftin, 
die ihren vollen Einfluß für die Frauenbewegung einfegte, zu einer Zeit, in der die 
Acht weiter Kreife noch ſchwer auf ihr laſtete. Helene Tange. 


RER 


45* 


708 


— Sisheis Schafe. —I> 


Skizze 


von 


Frida Sıhany 


Nachdruck verboten. 


—— —7z 


ID ie froh war bie junge rau, als fie | Strafe, Prügel. Die Mutter hatte fie ver: 


in dem großen Garten mit den vielen Lilien- 
beeten aus ihrem Traum erwachte! 

Sie fah fih verwundert um. 

So war alles nicht wahr? 

Nicht wirklich ihre Angft, ihre Schluchzen 
um Lisbets zerriffene Schuhe? 

Graufig hatte fie geträumt. Ihr fchöner, 
guter Mann war geftorben, die Leute hatten 
feine lieben Bilder meggeholt und alle ihre 
herrlichen Sachen; die Freunde hatten fie nicht 
mehr gefannt; in ein fchredliches Vorftabthaus, 
wo die Armut unterfroch in bundertfacher Ge- 
ftalt, hatte fie mit ben drei verwöhnten Lieb⸗ 
lingen ziehn müflen. Sie hatte Geld verbienen 
folen und fonnte nichts. Mit Sprachftunden 
hatte ſie's verſucht; aber der Hals war ihr 
immer fo troden vom vielen Weinen, bie 
Bruft that ihr weh, und fie hatte fo große 
Angft vor ihren: feden Schülern. Und die 
Kinder wurden immer bläfjer; der Winter 
fam. Lisbet mußte in die Armenfchule gehn. 
Aber dann konnte fie fie nicht mehr fchiden. 
Lisbet huftete die ganze Nacht. Es regnete, 
regnete. Und Lisbets Schuhe waren zerriffen, 
fo zerriffen, daß der Schufter fie nicht mehr 
flicken gewollt. 

Da kam der Höhepunkt ihres Traums. 
Gie hatte an ihrer Kleinen Mädchen Betten 
geſeſſen und mit ihren fieberglübenden Händen 
die drei paar Falten Füßchen erwärmt, bie 
Kleinen waren dabei eingefchlafen, aber Lisbet 
hatte in wilder Angft die zarten Hände ge- 
rungen. Sie mußte morgen in die Schule, 
fie mußte, mußte; zu Haus bleiben wegen 
der zerriffenen Schuhe konnte fie nit. Wenn 
fie nit fam, befam fie am andern Tag 


tröftet: fie wolle Rat fchaffen; fie folle gehn. 
Da fchlief fie ein; und die Mutter faß dann 
bei der Lampe und hatte bie gerriffenen Schube 
in der Hand, und ihr Elend fief auf fie nieder 
wie eine Bergeslajt. Sie mußte nicht aus 
noch ein; fie fchrie in ihrem Innern nach ibrem 
Mann, um Hilfe für ihre Kleinen; fte ſchrie, 
ohne daß fie die Lippen bewegte, ftumm und 
doch fo fchrill und lau, — — — bis auf 
einmal das Wunderbare geſchah, bis der 
glühende Reif zeriprang, ber feft um ihre 
Stirn gelegen, bis fte fanft fiel, hinabglitt, 
wohl viele hundert Klaftern tief unb dann — 
erwachte. 

Da ſtand ſie in dem Liliengarten. 

Ja, an die Lilien auf dem Felde hatte ſie 
ja in ihrem entſetzlichen Traum eben noch 
gedacht. Es war, als ob ihr jemand mit 
goldiger, ſonniger Stimme das Wort zuriefe, 
auf das fie ſich ſeit ihrer Kindheit nicht mehr 
befonnen, das Wort von den Lilien auf dem 
Feld, die nicht arbeiten und nicht fpinnen 
und die doch ſchöner bekleidet find ala König 
Salomo in feiner Herrlichteit. 

Und nun um fie ber lauter foldye weiß: 
goldene Blumenkelche. Sie befann fich einen 
Augenblid. Kennft du denn das alles? De 
dunfle Traum wollte noch einmal die Hand 
nach ihr außftreden; eine Bifion von weinenden 
Kindern, fchreienden Nachbarinnen und einem 
großen Blutfled auf der Diele ftieg vor ihr 
auf; aber da ſchwang ſich auf einmal eine 
Lerche aus den Lilien, body hoch auf, und 
fchmetterte in zitternder Luft: „Sehet bie 
Vögel unter dem Himmel an! Sie fäen nict, 
fie ernten nidt . . .“ 


Liebets Schufe. 


Der furdtbare Traum war nun ganz ver⸗ 
geffen. Sie fuhr fi mit der Hand über bie 
Stim; da mar’, als fiele auch das legte 
Band, und fie wußte nun, ja, fie mar unter 
den Lilien, daheim, in dem Garten, über dem 
in blauer Luft die trillernde Lerche fang. Sie 
mußte es genau, denn eine Stimme tönte an 
ihr Ohr; deren bloßer Klang fagte ihr: „Ya, 
du bift bier daheim, denn bier bin ih!" — 

Da kam eine Beruhigung über fie, füßer 
als alle Wonnen, die fie je gefühlt; von 
weitem hörte fie nun aud feinen Tritt; da 
ſah fie fhämig-felig an ſich herab und fah, 
mie ihr meißes Gewand die weißen Blüten 
ftreifte. In Weiß hatte er fie immer fehen 
wollen! Hatte fie nicht eben ein häßliches, 
altes Trauerfleid getragen? — Nein, nein — 
alles ftrahlte an ihr. Und mit feligem Schrei 
flog fie ihrem Mann entgegen, — zwiſchen 
den Lilien fam er daher, — mit dem ruhigen 
Schritt, mit ausgebreiteten Armen, mit dem 
Götterläheln ber Güte, das ihm immer 
eigen war. 

D, ausruhn an feiner Bruft! Es tar, 
als thue ihm etwas weh an ihr, denn er fah 
fie fo eigen, fo mitleidig an. Und ihr Atem 
ftodte. Waren fie nicht taufend Meilen und 
taufend Jahre getrennt geweſen, mußte fie ihm 
nicht erzählen von jenem Grauen, das fie 
durchſchaudert, von ben tiefften Qualen ber 
Menfhenbruft? 

Sie konnte fih nicht mehr befinnen, was 
es war. Er tar ja bei ihr, er umfing fie 
feft. Sie fann und fann. Da burdyzudte es 
fie. Klein⸗Lisbets zerriffene Schuhe fielen ihr 
ein und was fie um beretwillen für Angft 
gelitten. — D Wohlthat, es ihm zu fagen, ihm 
alles zu Hagen! — 

Aber er fhüttelte den Kopf, als ob fie 
Märchen erzähle. „Was willſt du?” fagte er 
und küßte fie innig. „Du bift ja bei mir, 
und die Kinder find ja hier!” 

Und da floß ihr Herz faft über von Sonne. 
Denn die Kinder famen gefprungen, — um 
die Ede des weißen Haufes herum, das mitten 
in den Lilien ftand. Ihre blonden Haare 
flogen, ihre blauen Augen ſchimmerten und 





709 


glängten. Weiße Kleider trugen fie, tie immer 
in ber Sommeräzeit. Und an ben Heinen 
Füßen trugen fie goldene Schuhe. Damit 
flogen fie leicht wie der Sommerwind, tänzelnd 
wie Sonnenftrahlen, über den lichten Sand. 
Sie flogen an der Mutter Hals und dann an 
des Vaters Bruft, führten einander dann an 
den Händen und gingen vor ben Eltern ber, 
die Heine Maria in der Mitte zwiſchen der 
zaͤrtlichen Dorothea und ber ernften, verftändigen 
Lisbet. Ganz ruhig, ganz ſicher ſchwebte nun 
das Glüd über den Lilienbeeten. 

Nur einmal noch fuhr's wie eine Natter 
hervor, das alte, ſchwarze Grauen. 

Einen kurzen Moment lang war bie junge 
Mutter wieder aus dem Garten verfloßen. 
In buntgewürfelten Kifjen lag fie, in einem 
Eifenbett, zwiſchen vielen anderen im Kranken⸗ 
haus. Ein bleiches, ftrenges Frauenantlig 
beugte fi} über fie, und die namenlofe Angft 
fchrie aus ihr: 

„Schweſter, find meine Kinder verforgt? 
Hat Lisbet ganze Schuhe?” — 

Feſt und ruhig, wie eherner Glodenklang, 
lam die Antwort: 

„Seien Sie ganz getroſt, liebe Frau! 
Ihren Kindern geht's gut. Alle drei haben 
neue Kleider und Schuhe bekommen.“ 

Da nickte fie verklärt. Ach ja, goldene 
Schuhe! Nun wußte fie'3 wieder! Und nun 
wollte fie es merken, und nichts follte ihren 
Frieden mehr ftören im Garten mit den Lilien, 
die nicht fpinnen und forgen. 


* D 
* 


Drei Tage fpäter ſchritten drei Meine 
Mädchen in Waifenhausfleivern in ber auf: 
geweichten Kirchhoferde hinter dem Sarg ihrer 
Mutter ber. Nur die Schweſter, bie ihre 
Mutter gepflegt, und der Paftor ging mit 
ihnen. Regen fiel. Es ging fich ſchlecht auf 
den ſchmalen Seitenwegen zwiſchen den Hügeln. 
Die neuen, harten Lederſchuhe brüdten bie 
zarten Füßchen. Aber es war doch gut, daß 
die Schuhe fo hart und derb waren. 

Denn fie follten den langen Weg durchs 
Waiſenhaus ins harte Leben gehn. — 


BI 


710 


Hranemarbeit in der ' 


Alire 


Rachdruc verboten. 








lerwärts giebt es noch Frı 
Induſtriearbeiterin feinen 
E Induſtrieſtädte aufwuchſen 
darüber zu orientieren. Nicht nur 
nur Zeitungen und Zeitfchriften rei 
umzufegen verfteht: auch unzählige 
verknüpfen das Leben der Induftei 
Konfumentinnen. Ganze Induftrien, 
beihäftigen außfchließlich oder größ 
die Frau und wird auch von ihr — 
mann — bezahlt. Vom Gejchmad 
wird die Arbeit der produzierenden 
bier wie auf allen Lebensgeb 
Vorderhaus und Hinterhaus läßt ſich 
zwiſchen Xillenviertel und Arbeiterv 
Zu den Lurusinduftrien, di 
Abfaggebiet ſich hauptſachlich auf 9 
von Bijouteriewaren, die in Pforzh 
bergifihen Drtfchaften unter ftarker 
foeben erfchienene Schrift „Die fo; 
berüdfichtigt daher auch insbefondı 
Arbeiterichaft; das Intereſſe für bi 
Arbeitsgebiete behandelt, auf dem Q 
die Natur des Gewerbes, durch Sit 
aufnehmen. Um fo lehrreicher ilt es, 
zwifchen den Geſchlechtern Platz gr 
Arbeit, die ſich aus ber befonder 
die nur durchbrochen wird, wo ei 
Sefehtechtägenoffen nicht teilen, ohn 
dadurch erleidet. Yon anderen ähnl 
daß fie die Verhältniffe eines abgefd 
Wirtfchaftsgebietes, ſowie aud) eine 
Unterfuchungen fi in ber Regel 
über das ganze Land verbreiteten 
beachtenswert, daß die Monographis 
bearbeitet und von der Badiſchen Fa 
dafür, daß in dem Staat ber vorge 
erftattung zu den Aufgaben der Aı 
darüber: „Die Zeit, welche den Fa 


M Die foziale Lage der Pforzheimer 
Fabritinfpektor Fuchs. Karlsruhe. Ferd. 





Frauenarbeit in der Pforsheimer Bijouterieinbuftrie. 711 


der übrigen Aufgaben verloren geht, wird reichlich aufgewogen durch das tiefere 
Eindringen der Auffichtsbeamten in die Arbeiterverhältnifie, ganz abgefehen von dem 
Nugen, den eine genaue Kenntnis und das Bekanntwerden dieſer Dinge für den 
Arbeiter felbft bringt.“ 

Die wirtfcaftlichen Verhältnifie ber Pforzheimer Gegend find durchaus abhängig 
von der Entwidlung der Bijouterie-Induftrie — als Pauptfächlicher oder einziger 
Erwerböquelle; feine andre bebeutende Induſtrie beſchränkt fih auf ein fo enges 
Gebiet, wie die badifche Schmudwarenfabrifation, die mit 15 000 Arbeitern die dritt⸗ 
größte Induftrie Badens ift. Unter 14 152 in den Fabriken der Gegend befchäftigten 
Bijouteriearbeitern find 4944 Frauen, und zwar 796 Arbeiterinnen unter 16 Jahren 
und 1443 verheiratete Arbeiterinnen. Die allgemeine Annahme, daß die Teilnahme 
der Frauen an einer Imduflrie befonderd groß ift, wo die Löhne der männlichen 
Arbeiter nicht zum Unterhalt der Familien ausreichen, trifft Hier nicht zu. Mehr noch als 
in andern Induſtrien bat ſich der Prozentfag weiblicher Arheiter mit dem Aufblühen 
des Gewerbes vergrößert, und Hand in Hand damit ging eine Verbefferung ber 
Arbeitöbedingungen. „Gerade die in dem legten Dezennium verhältnismäßig hoch⸗ 
geftiegenen Löhne der Arbeiterinnen fcheinen biefe auch noch als Ehefrauen in die 
Fabrik gelodt zu haben, nachdem bie gefegliche Feftiegung des elfftündigen Arbeitätages 
doch auch eine übermäßige Ausnügung der weiblichen Arbeitskraft im einzelnen Fall 
unmöglich gemacht hatte. Geordnete Verhältniffe und fleigende Löhne laffen weit 
mehr die noch vielfach brachliegende Arbeitskraft von Mädchen und Frauen für die 
Induftrie nugbar werden, als lange Arbeitszeiten und niedrige Löhne, welche bie 
Maſſen zur Außerfien Bebürfnislofigleit erziehen, aus der herauszukommen fie oft gar 
nicht einmal das Beftreben zeigen. Erſt ein gewiſſes Maß befferer Lebenshaltung 
erwedt weitere Bebürfniffe und zieht auch die legte Kraft zur probuftiven Thätigkeit 
heran.” Fuchs glaubt, daß eine weitere Verkürzung ber Arbeitszeit auf 9 Stunden 
einen vermehrten Eintritt von Frauen in die Fabrik herbeiführen, aber auch bie 
Schäden befeitigen oder vermindern würde, die unter dem jegigen Syſtem für Familie 
und Kindererziebung aus der Frauenarbeit erwachien. 

Wie die Arbeiter, fo machen auch die Arbeiterinnen faft regelmäßig eine mehr: 
jährige Lehrzeit durch. Die Fabritanten durchziehen geradezu die Gegend, um die Eltern 
zu bewegen, ihre Rinder in die Lehre zu ſchicken. Es pflegte nämlich in den legten 
Jahren ein beftändiger Mangel an Arbeitern und Arbeiterinnen zu berrichen, aller: 
dings mit Ausnahme der ftillen Zeit, die gewöhnlich in den Hochjommer fallt. 

Um die Schwierigfeiten des Saifonbetriebs zu fiberwinden, haben die Unter: 
nehmer ſehr wechſelnde Arbeitzeiten eingeführt; von 6 Stunden in ber ftillen Zeit 
herauf bis zu 13 Stunden in Perioden des guten Gefchäftäganged, und den Arbeiter 
ſchutzgeſetzen iſt energiicher Widerftand sutgegengejegt worden. Der in bdiefen Der: 
bältniffen begründete Mißſtand für die Arbeiter wird noch dadurch erhöht, daß die 
Lohne der Arbeitszeit proportional find und namentlich jlingere Arbeiter ſich ſchwer 
an eine wirtichaftliche Verwendung fo unzegelmäßiger Einnahmen gewöhnen. „In ber 
Zeit der gefüllten Börſe verfagt man fich feinen Lieblingswunſch, um in der Zeit des 
Xeerftanded nachher zu darben. Es bringen biefe Umftände eine gewiſſe Unficherheit 
in die Eriftenz, Neigung zum augenblidlihen Genuß, nicht aber Streben nad 
tulturelem Fortichritt wird Bervorgerufen, eine Erfcheinung, die überall bei Saifon- 
arbeitern hervortritt.” 

Es wird dann auch in der Pforzheimer Gegend, nicht nur von Fabrifanten, 
fondern auch von älteren, gefeßten Arbeitern allgemein über die Zügellofigleit der 
Jugend geflagt. Nirgends in Baden ift die Unfitte des Blaumachens fo verbreitet 
und fo ausgeartet wie in der Bijouteriefabrifation. Biel Schuld daran tragen aller: 
dings mande Fabrifanten, die das Blaumachen in der ftilen Zeit nicht ungern fehen. 
Ein Geſchäftsinhaber, bei dem nod am Dienstag die meiften erwachſenen Arbeiter 
fehlten, erklärte das entfchuldigend damit, daß in der letzten Zeit viele Überftunden 
gemacht worden wären. „Die Kirchmweihen der um Pforzheim herum gelegenen Drte 
bieten den äußeren Anlaß, um die Tage von Sonntag bis Dienstag dem tollſten 


Frauenarbeit in ber Pforzheimer Bijouterieinbuftrie. 713 


ber phyſiologiſchen Bilanzen, daß häufig eine unzwedmäßige Verteilung ber Nährftoffe 
ftattfindet, die auf Unkenntnis über bie zur Emäßrung notwendigen oder wünjchend- 
werten Stoffe zurüdzufüßren iſt. In einzelnen Fällen geht das natürliche Beſtteben 
zur Erhaltung ber Arbeitskraft zu weit. Das fteigende Einfommen wird häufig nur 
zur Verbefferung der Ernährung benugt, und bie Befriedigung andrer Kufturbebürfniffe 
oder die Sicherung der Zukunft, die oft neben ausreichender Ernährung fehr wohl 
möglich wären, werben nicht ins Auge gefaßt. Dazu trägt auch viel der ftarfe Glaube 
an bie fräftigende Wirkung des Atodote (in Form von Wein und Bier) bei, der ganz 
allgemein bei Frauen und Männern verbreitet if, und der oft zu einem Alkohol 
verbrauch führt, der 10—15 Prozent der Gelamthaushaltungskoften verichlingt. 
Daneben treten andre Bebürfniffe bei den Vijouteriearbeitern und ihren Familien 
ganz zurüd. Außer bei den unverheirateten Arbeiterinnen, die einen großen Teil 
ihre Verdienſtes für Beihaffung von Put ausgeben, verſchwinden die Beträge für 
Kleidung und Hausrat volftändig Hinter den Sonntagsausgaben, die neben Wohnung 
und Ernährung einen beträchtlichen Poften ausmachen. Die mangelnde Befchaffung not 
wendiger Gebrauchögegenftände wird aber anfcheinend nicht empfunden. Fuchs fagt darüber: 
„Diefe Erſcheinung lehrt deutlich, daß tro& aller Fortichritte der Kultur in einer nicht 
einmal ſchlecht bezahlten Arbeiterfchaft das Bedurfnis nach Gegenftänden, die das 
Leben angenehm und behaglich machen, noch fchlummert. Den Arbeitern müflen Be: 
dürfnifje erft noch erwedt werden, die kulturell höherftehenden Klaſſen längft zur Ge: 
wohnheit getoorden find. Das Erwachen ſolcher Bedürfniffe und der lebhafte Wunfch, 
ihnen zu genügen, wird für die Arbeiter ein wirkſamer Anfporn zur Vervollommnung 
ihrer Leiflungen fein; er wird fie befähigen, einen immer fteigenden Anteil am Volks⸗ 
einfommen zu erringen, vermöge deſſen fie als zahlungsfähigere Käufer unferer 
Induftrieprodufte auftreten Lönnen, als das heute noch der Fall iſt.“ 

Über die erft in den legten Jahren Umfang gewinnende Hausinbuftrie, die faft 
ausfchließlih Frauen beichäftigt, ift ein abfchließendes Urteil noch nicht zu geben; 
Fuchs glaubt, daß ihr Beftehen wefentlih davon abhängen wird, ob die Mode dauernd 
ein Abſatzgebiet für leichte Ketten (fogenannte Meterfetten) aus unechtem Metal Ichafft, 
da andrer Schmud faum in der Haußinduftrie herzuftellen ift. Die ſchnelle Ausdehnung 
diefes Syſtems führt er einerſeits auf die fteigende Entwidlung der Bijouterie-Induftrie 
zurüd, die aud die legte verfügbare Kraft in Anfpruch nehmen mußte, andrerfeits 
auf den Wunſch ber Induftriellen, die Beichräntungen der Schuggefeßgebung und die 
Laften des Verſicherungszwanges zu umgehen. 

Fuchs bringt vielfache Anregungen und Vorſchläge zur weiteren Ausgeftaltun 
der Schuggefeßgebung, auf die einzugehen im Rahmen dieſes Artikels nicht mö, Nie) 
iſt. Lehrreicher noch find für die Frauen die Betrachtungen über das Nulturs 
niveau der Arbeiterbevölferung, die eine Mahnung für Befigende und Nichtbefigende 
enthalten. Es gilt nicht nur, den Arbeitern fürzere Arbeitäzeit und höhere Löhne zu 
ſchaffen; dieſe find nur Mittel — oder follten e8 werden — zu dem Zived, ihnen zu 
befferer —e und höherer Kultur zu helfen. An den Frauen 
biegt es, die Konfequenzen folcher Betrachtungen zu ziehen. In ihre Hand ift es 
gegeben, auf eine richtige Verwendung des Einkommens und der Mußeflunden Bin= 
zuwirlen; die Arbeiterin kann bei jachgemäßer Verteilung der einzelnen Ausgabepoften 
den größtmöglichen Vorteil aus dem Familieneinkommen ziehen. Die befigende Frau 
mit gefchultem Intelleft Tann ihr aufflärend darin zur Seite ftehen; fie fann ihr zu 
dem Glauben an den Wert der materiellen Güter den neuen Glauben an ideelle Werte 
bringen. Die einzelnen Arbeiter und Arbeiterinnen mögen nur einen geringen Einfluß 
auf die Erhöhung ihres Lohnes ausüben können; aber fie können einen Teil davon 
für materielle Genüffe gröbfter Art hingeben, oder ihn „zur Verfeinerung des Lebens 

und Find Veredlung feines Inhalts benügen. Nur die volllommene Ausnügung des 
Gegebenen befähigt und berechtigt zur Erringung von Größerem.” 


ver 


„green nn jrsattiit GOULITUGE uUber „Di 

Beobachtungen bis zum Ausgange des 17. Jahrhunder 

Berlin auf bem 9. deutfchen Meteorologentag in S 

glaubte er ausdrüdlich „die felbft in Fachkreiſen 5 

müffen, „daß mit ganz vereinzelten Ausnahmen 

meteorologifchen Beobachtungen feine Rede fein Für 

fängen der menfchlichen Kultur, jo führte der Redner 
Hirten gany beſonders eingehend das Wetter betrachte 
auch die eriten natürlichen Wetterzeichen feftgeftellt t 
für gewifle Wetterregeln zur Vorausbeſtimmung der A 
erbten fih von Geſchlecht zu Geſchlecht fort und ha 
heutigen Tag erhalten. Eine große Anzahl unjrer fc 
fo das Erbftüd aus frühefler Vorväterzeit fein, dan 
Bronzezeit auf den Sümpfen Europas feinen Pfahlba 
Roden fein Stüdlein Aderland dem Urwald entrang 
um 4000 vor Ehrifti ein mwohlgeordneter Betrieb von W 
und Voraudberechnungen ihrer Folgeericheinungen, mie 

Forſchungen zur Gewißheit gemacht haben. Spyitematif 
das Wie der Wettererfcheinungen fanden auch bei d. 
ftatt. Ariftoteles bat fchon ein Buch fiber Meteorolog 
das Wieviel, alfo „quantitative” Unterjuchungen, fchein 
hundert nach Chrifti, und zwar in Paläftina ausgeführ 
erftenmale der Regen gemeſſen. Die Miſchna, die 

bildet und die dem Leben und Gebrauch angepaß 
ftelt, überliefert ung noch den Betrag der Frühregen, 
maßgebend ift, nach unfrer Rechnung nämlich 54 Ce 
Meffungen in derſelben Gegend und für dieſelbe Per 
ergeben, jo gewinnen wir daraus den interejlanten Sch 
der Negenfälle in Baläftina während zweier Yahrt 
ändert bat. 


Diefe quantitativen Meſſungen ſtehen allerdings 
ſind wioder Marnmualt..- 


Wetterlunde und Wetterkünder. 716 


von Witterungsnotizen in den Kalendern werben allgemein üblich, und am Ausgange 
des 15. Jahrhunderts tritt Meteorologie bereit? an der Wiener Univerfität als Lehr: 
gegenftand auf. 

Die erperimentelle Meteorologie hat ihre Wiege zu Florenz, wo fie um die Mitte 
bes 17. Jahrhunderts zur Ausbildung gelangte, und in Stalien find auch zuerft 
Barometer, Thermometer und Regenmeffer für die Zwede ber Meteorologie zur An: 
wendung gelommen. Ende be3 17. Jahrhundert? wurden regelmäßige inftrumentelle 
Beobachtungen bereit in allen Nulturländern nicht bloß Curopas, fondern auch 
Afrikas, Aſiens und Amerikas vorgenommen und die wichtigften Grundlagen für eine 
wiſſenſchaftliche Wetterkunde feftgeftelt. Im 18. Jahrhundert wurde die erfle ſyſtematiſche 
Drganifation gefchaffen und im 19. greift zum erftenmale die ftantliche Fürforge ein, 
die fi in der Errichtung und Unterhaltung von meteorologiſchen Stationen, mit allen 
Inftrumenten der Neuzeit ausgeftatteten und von erften Forſchern geleiteten Wetter: 
und Seewarten äußert. 

Wir haben heute erkannt, daß nur die allerforgfältigften, fyftematifch über den 
ganzen Erdball ausgeführten und mit einander verglichenen Beobachtungen der Vorgänge 
in der Atmofphäre uns einigermaßen zuverläffigen Aufihluß über die Verhältniffe 
geben können, von denen die Witterungszuftände an beflimmten Orten und zu 
beftimmten Zeiten abhängig find. Aufs genauefte werden an unzähligen Stellen 
Entflefung, Fortbewegung, Schnelligkeit der Winde und Stürme beobachtet und 
berechnet, die Verſchiedenheiten des Luftdruds, der Temperatur und des Waſſerdampf⸗ 
gehalts gemefjen, die Wolfen von ben tiefften Nimbus: und Cumulus- bis zu ben 
höchſiſen Cirruswolken, die mehr ala 10 Kilometer hoch gehen, in ihrem Laufe 
verfolgt, wird bie Atmofphäre noch weit darüber Hinaus, jet bereit3 bis zu 
14000 Meter Hoch durch Regifirierballons auf ihre Temperatur, ihren Feuchtigkeits- 
gehalt, die Stärfe und Richtung der in ſolcher Höhe herrſchenden Luftftrömungen u. ſ. w. 
bin unterfucht, werben bie verborgenften Meeredftrömungen berüdfichtigt, bie ja, wie 
dad vom marmen Golf: und dem falten Polarſtrom bekannt ifl, einen ungemeinen 
Einfluß auf Klima und Wetter haben. Auf Wetterfarten wird tagaus tagein ber 
BWitterungszuftand, wie er ſich aus den Beobachtungen nicht nur auf meteorologifchen 
Stationen, fondern auch auf den Schiffen herleiten laßt, gewiſſenhaft verzeichnet, 
werden bie Linien vermerkt, die die Orte gleichen Luftdruds (Iſobaren) und bie 
gleicher mittlerer Temperatur (Jfothermen) verbinden. Und wenn alle dieſe Beobachtungen 
auf den einzelnen Stationen gemacht find, werden fie fofort nach den Zentralftationen 
telegraphiert, verglichen, zufammengeftelt, — für Deutſchland ift e8 die Seewarte in 
Hamburg — und dann hat man wohl ein ſchönes Material beieinander, um allerlei 
Wahrfcheinlichkeitsfchlüffe auf die möglichen Wind: und Wetteränderungen ber nächften 
24 Stunden zu ziehen. Und menn man fi mit der mehr ober minder großen 
Wahrſcheinlichkeit begnügt, die immerhin fo groß ift, daß gegenwärtig bereits 80 Prozent 
der von der Hamburger Seewwarte außgegebenen Wetterprognofen zutreffen — von 
den vom Dbfervatorium in Wafhington, der Zentralftation für Nordamerika, auf ein 
bis zwei Tage im voraus berechneten Wetteranfagen follen fogar über 90 Prozent 
zutreffen, wohl nicht allein, weil e8 von mehr als Hundert Stationen Nordamerikas und 
der Antillen telegraphifch aufs befte und ſchnellſte bedient wird, fondern mehr noch, weil 
der Golf von Mexiko, der Wetterwinkel Nordamerikas, die Luftfirömungen recht 
gleichmäßig beeinflußt, jo daß die Witterung dort immer eine gewifle Stetigkeit hat — 


716 Metterlunde und Wetterkünder. 


jo fann man wohl auch jagen, daß das Problem des MWetterfündens, iwenigfien 
der Vorausſage auf die nächften 24—48 Stunden, einigermaßen gelöft if. 

Neuerdings noch bat Prof. Dr. van Bebber, der eifrige Meteorologe ber 
Hamburger Seewarte, die Vorausfage des Wetterd auch auf längere Zeit durchaus 
für möglich und_notwendig erklärt. Er fucht, wie das auch Prof. Hellmann getban, 
einer befriedigenderen Löfung der Frage, als es bisher möglich war, daburch bei: 
zulommen, daß "er in der Wiederkehr ähnlicher Witterungdverhältniffe eine gewiſſe 
Periodizität nachzumeifen beftrebt if. Es müſſen ſich Gefegmäßigfeiten in der Auf: 
einanderfolge und im MWechjel der Witterung innerhalb längerer Zeiträume, Monate 
und Jahreszeiten auffinden laffen. So ftellt er fünf Hauptiwettertopen für Europa 
auf, deren Dauer und Wandlung er zu berechnen verjucdht bat. Im Durchfchnitt 
fann man annehmen, daß eine Wetterlage höchſtens drei Tage anbält, fürzer, wenn 
das Hocdrudgebiet über Deutfchland felbft lagert, länger, wenn es ſich weſtlich oder 
nördlich befindet. Höchſt jelten überjchreitet eine Wetterperiode die Dauer von zwei 
Wochen. Solcher langen Perioden bat van Bebber in dem Zeitraum von 1876—1895 
nur zwölf verzeichnet. 

Daß die Häufigkeit der Gewitter eine gewiſſe Periodizität, und zwar eine ſolche 
von durchfchnittlich 26 Tagen, aufweilt, haben Profefior v. Bezold und die beiden 
ſchwediſchen Forſcher Eckholm und Arrhenius feftgeftellt. 

Mehrjährige Wärme- und Kälteperioden haben Brückner und Hellmann ermittelt, 
und zwar kleinere Perioden von 9—15 Jahren und größere von einer durchſchnittlichen 
Dauer von 36 Jahren. Jedenfalls ift damit dargethan, daß es eine müßige Epielerei 
unferer Kalendermacher ift, wenn fie noch immer des biedern Langheimer Abtes 
Mauritius Knauer (1612—1664) „hundertjährigen. Kalender” abdruden, wodurch der 
Glaube erweckt werden fol, als gäbe ed eine au2gerechnet Bundertjährige Periodizität 
der Witterunggerjcheinungen. 

Solange nicht alle die Hundert und taufend Umftände, die bei ber längeren 
Vorausbeſtimmung des Wetter mitjprechen, rechnungsmäßig aufs forgfältigite in Be⸗ 
tracht gezogen werden fünnen, wird das Prophezeien eine recht unfichere Sache bleiben. 
Das ift 3. B. der große Irrtum auch von Leuten wie Falb, daß fie glauben, ein 
einzelner Faktor, wie der — ja immerhin mögliche, dann aber gewiß nur ſehr 
minimale — Einfluß des Mondes beberriche alle übrigen fo, daß es genüge, Dielen 
einen Faktor in Betracht zu ziehen, um die Wetterprognoje nicht nur für Tage und 
Monate, nein fürs ganze Jahr mit unfehlbarer Sicherheit zu fielen. Bor kurzen bat 
fogar ein Rufe, N. A. Demtſchinsky, ein eigenes vierjprachiges Journal gegründet, 
das auf Grund der Theorie vom Einfluß der Mondanziehungstraft auf die Geftaltung 
des Metter® „genaue Prognofen des Wetter und der atmoſphäriſchen Erſcheinungen“ 
auf beliebige Zeit, mindeftens aber einen Monat im voraus, zu Nug und Frommen 
aller von der Witterung abhängigen Berufsmenjchen aufftelen will. Als ver: 
allgemeinerungsfähig kann noch nicht einmal die neuerdings von Hazen für die nord: 
amerifanifche Küfte beobachtete Thatfache gelten, daß dort 70,5 Prozent der Gewitter 
auf die Flutzeit und nur 29,5 Prozent auf die Zeit der Ebbe entfielen. Denn 
Hellmann bat auf der Inſel Föhr inzwilchen feftgeftellt, dab von 209 während einer 
zehnjährigen meteorologifchen Beobachtungszeit notierten Einzelgewittern 103 auf 
das fleigende und 106 auf da3 fallende Waſſer kamen, „von einer ausgeſprochenen 
Vorliebe der Gewitter für die Flut danach feine Rede fein kann“. 














Wetterkunde und Wetterkünder. 717 


Beſcheiden wir uns alſo bis auf weiteres bei der Vorausſage auf ein bis zwei 
Tage, die ſchon nugbar genug wäre, wenn fie auch nur mit annähernder Sicherheit 
einträfe. Für ſolche Wetterprognofen auf 24 Stunden bat neuerdings die Regierung 
in ber Provinz Brandenburg eine fehr dankenswerte Einrichtung getroffen. Die von 
der Hamburger Seewarte an das Berliner Wetterbürenu täglich telegraphiic über: 
mittelten Berichte vervollſtändigt dieſes unter Berüdfichtigung örtlicher Beobachtungen 
zu täglichen Wetterprognofen, die es fofort früh morgens an das Haupttelegraphenamt 
übermittelt, und dieſes drahtet fie noch während der Vormittagsftunden weiter an 
ſamtliche Telegraphenanftalten der Provinz. In deren Schaltervorraum oder am Poft- 
haus gelangen fie zum Aushang, zur allgemeinen Kenntnis der Bewohner, insbeſondere 
der landwirtſchaftlichen, die fich in ihren Arbeiten danach richten fünnen. Wer biefe 
Wettertelegramme zu fi ind Haus gebracht haben will, Tann fi darauf abonnieren 
und befommt fie je nach Wunſch durch den gewöhnlichen Briefträger ober auch 
durch Eilboten zugefhict, gegen einen billigen Monatsbetrag. Immerhin kann ber 
Landwirt, der ja meift felber ein halber Wetterprophet ift, feine eigne aus Erfahrung 
und liebevoller Naturbeobachtung gefhöpfte Prognofe daran ftändig Tontrolieren. 
Someit er fie fi) felber auch nur aus rein meteorologifchen Elementen bildet, ift es 
zweifellos fiherer, fich auf das ihm von den Wetterwarten gelieferte Material zu ver: 
laffen, als auf die ihm geläufigen Anzeichen, etwa ob die Sonne Har untergeht, mit oder 
ohne glühendes Abendrot, ob der Mond einen Hof hat u. f. w. 

Freilich bat der Landwirt, der Förſter und Jäger und fonft jeder in und mit 
der Natur Lebende außerdem noch eine große Anzahl anderer Anhalte, bie zuweilen 
noch viel zuverläffigere Wetteranfagen geftatten als alle meteorologifchen Beobachtungen. 
Da find in erfler Reihe die Tiere, die oft merkwürdig unfehlbare Wetterpropheten 
find. Natürlich denkt man gleih an den Laubfroſch im Glafe, wenn von Wetter: 
propheten unter Tieren die Rede ift. Das Unglüd ift nur, daß das arme Kerlchen 
im bierzu beliebten Einmacheglaſe meift in fo unnatürlicher Verfaſſung fi befindet, daß 
es eher alles andre ift als ein verläßlicher Wetterprophet. Iſt in dem Glafe nichts 
meiter als auf dem Grunde etwas Waffer und daraus emporragend eine Heine Leiter, 
wie das beinahe ftet3 ber Fall, fo ift gar nicht davon bie Rebe, daß ber Froſch gutes 
Wetter anzeigt, wenn er auf das Leiterchen Mettert, fchlechtes, wenn er ins Waller 
taucht. Vielmehr wird er ind Waſſer fleigen, wenns ihm oben auf dem unbequemen 
Gerüft zu unbehaglich geworden, und umgekehrt. Wil man vom Laubfroſch wirkliche 
Wetterprognofen haben, fo halte man ihn in einem großen Glasbauer oder einer Kifte, 
deren Boden auf einer Seite mit Moos bededt ift und auf der andern Seite ein 
genügend großes Waflergefäß enthält. Dann Tann man ficher fein, dab bad Tier 
nur dann ind Waffer geht, wenn Regenwetter im Anzuge ift. 

Der Schlammpeigler oder Wetterfiich, der vielfach zu demfelben Zwed im Zimmer: 
aquarium oder Goldfifchglafe gehalten wird, kundet dadurch Regenwetter oder Gewitter 
an, daß er an bie Oberfläche kommt und unruhig umherſchwimmt, während er fi 
fonft ruhig am Grunde des Waſſers hält. Vollends wenn er Schlamm und Sand 
aufzumühlen beginnt, kann man auf Sturm und Ungewitter rechnen. 

Apotheker haben die Beobachtung gemacht, daß die für mebizinelle Zwecke in 
einer Flaſche gehaltenen Blutegel bei guten Wetter ſtill und zufammengefrümmt auf 
dem Boden liegen, bei herannahendem Regen an die Oberfläche kommen und bei Wind 
lebhaft hin⸗ und herſchwimmen. Im Winter liegen fie bei Harem Froft am Boden, 


ig an Bäumen und Mauern. Wenn Hühner bei bei 
Ställen zulaufen oder ſich unter Heden, Schuppen, 
Regen bald auf. Bleiben fie aber im Regen ruhig 
ein jogenannter Zandregen; es lohnt ihnen gewifjerma 
Naßwerden zu fehügen, wenn ed doch tagelang ſi 
drohendem Regen mit großem Gefchrei ind Feld ober 
mit den Flügeln. Kehren Zauben in raſchem Fluge i 
wieder ausfliegen, jo find jchwere Gewitter im Anzug: 
Bienen. Kehren Tauben ungewöhnlich ſpät aus bei 
Hühner noch nad Beginn der Dunkelheit Futter ſuchen 
Tage ein dauerhafter Landregen ein. Desgleichen iſt 
Katze ibre Toten ledt, fich über die Ohren jtreicht u 
wenn Fuchs und Wolf jchreien; wenn die Maulwürfe 
die Waſſervögel maſſenhaft un Land geben; wenn die Sı 
aufluchen und nabe über feine Fläche ftreichen; wenn db. 
in Scheunen oder unter Dächer flüchtet; wenn der ®: 
und knarrt; wenn der Fiſchreiher vom Waſſer aufflie 
niederläßt; wenn der Storch jeine Jungen zudedt. Lailı 
Gewitters die Vögel in ihren Beichäftigungen nicht itörı 
gerade md, jo zerteilt fih das Wetter, bevor es ber 
für kommenden Regen ift es, wenn der Hund Gras fan 
Verdauung bulber, wenn er zu viel Fleiſchnabrung zu 
dad Bedürfnis nach Vegetabilien empfindet. 

Schöne Tage folgen, wenn Die Fledermäuſe am 
Unter den Inſekten nnd Viebbremien, Fliegen und Amei 
dringen in! Zimmer und techen wütend, wenn Reger 
jummen frärtiger als font, Die Ameiſen tragen in grofe 
zu Net und verichliegen die Lecher. Daß es ſchön E 
wenn „die Müden ſpielen“, it allbbekannt. 

Mit zu den verläßlichken Wetterrrondeten gebö 
Kreusirinne rebt langſam und order tt 


Wetterkunde und Wetterkünber. 719 


fie das Netz durch Einziehen von Fäden zu lichten, fo fommen Winde, um fo fchneller, 
je eiliger fie diefe Arbeit ausführt. Schwere Stürme und Unwetter folgen, wenn das 
Netz zerriffen außfieht, während die Spinne am Ende eines Fadens oder gar außer: 
halb des Netzes figt. Geht fie dann ind Net zurüd und beginnt die Ausbeſſerung, 
fo kann man auf gutes Wetter Hoffen, wenn's augenblidlih auch noch jo ſchlecht aus— 
fieht. Eine charakteriflifche Anekdote erzählt M. Dankler, dem wir diefe Zufammen- 
ftellung von Wetteranzeichen feitend der Tiere verdanken, bei diefer Gelegenheit: „Im 
vorigen Sommer machte ih mit einer Anzahl Naturfreunde und Forſcher einen 
botanifchzentomologifchen Ausflug in die Waldgebiete der holländifchen Grenze. Alle 
Teilnehmer erjchienen im leichteften Sommeranzuge und Strohhut. Nachdem ich einige 
Kreuzfpinnen meines Gartens befucht, die eilig ihre Gewebe Fichteten, nahm ich Regen: 
mantel und Schlapphut mit und erregte dadurch großes Gelächter. Nachmittags gegen 
drei Uhr aber begann ein Unmetter, wie lange feines erlebt war, und ald wir nad) 
einftünbigem Marfche ein Haus erreichten, befanden ſich alle Genoffen in einem wirklich 
erbarmungsvollen Zuftand. Alle find feitdem aufmerkſame Beobachter der Spinnen 
geworben.“ 

Im Winter muß man die Hausfpinne beobachten. Baut fie bei kaltem Wetter 
ihr Gefpinft in die Nähe des Fenfterd, fo wird bald mildes Wetter eintreten; ftarfer 
Froft dagegen, wenn fie fih aus den Fenfterwinfeln entfernt und fi nad dem Dfen 
anbaut. Beim Eintritt naßfalter Witterung zieht fie vor den Eingang ihre Gewebes 
Fäden, die fie bei herannahendem heitern Wetter wieder entfernt. Spinnt fie eine 
Anzahl Fliegen ein, ohne fie gleich zu verzehren, fo deutet das ebenfalls auf fchlecht 
Wetter. Auf andauernd gutes ift zu fchließen, wenn fich viele fleißige Hängefpinnen 
zeigen. 

Sogar auf die Jahreszeiten weiß Dankler feine Beobachtungen auszudehnen. 
Ein frenger Winter ift zu erwarten, wenn Gänfe und Hafen im Herbft recht fett 
und ſtark befiedert, reſpektive behaart find, beögleichen wenn Eichhörnchen und Erd⸗ 
nager große Vorräte anlegen und die Waldameifen ungewöhnlich große Haufen von 
Tannen: oder Kiefernadeln anhäufen. 

Als befonders bewährte Wetterpropheten in den Alpen nennt Arthur Achleitner 
die Ziegen, die zur Hochſommerzeit ſchon flundenlang vorher das Kerannahen eines 
Wetterfturzes wittern, in auffallender Haft die Höhen verlaffen und unter das fchügende 
Dach des Geißerd flüchten. Ferner den Kolkraben, deſſen dumpfer Ruf allemal bei 
einem feltfamen Flimmern der Luft und bei auffallender Unbeftändigkeit des Windes 
ertönt; fein „Krrof, Krrok“ ift eine Warnung vor Schneefturm oder Lawinengang und 
wird felbft von Gemfen beachtet und verftanden. 

Sonft achtet der Alpler noch auf das Gligern der Sterne und auf ſchwitzende 
Felſen, die namentlich bei Neumond ftundens, felbft tagelang vorher jähen Witterungs⸗ 
wechſel und warmen Südwind anfünden. 

Aber auch eine Pflanze hat er, die ſchon einen halben Tag vorher einen Wetter: 
ſturz verfündet. Das ift die Stroh: oder Wetterbiftel (Carlina). Ihre Blütenköpfe 
find von einer bichtblättrigen Hülle umgeben, deren innerfter Blattkreis ftrahlenförmig 
enttwidelt ift und aus zungenfürmigen weißen ober gelben, ſtark hygroſtopiſchen 
Blattchen befteht, d. h. fie biegen fich bei hohem Feuchtigleitägehalt der Luft über die 
Blüten herüber, während fie bei trodner Luft ftrahlenförmig nach außen ftehen. Bor 
dem nahenden Wetterfturz fchließt fie alfo ihre Strahlenblätter. Ahnliche Hygroflopifche, 


721 


I Sagesandrad. — 


=. G. van Bouluygs. 
Autorifierte Überfegung von R. Speyer. 


Ragyprud verboten. 


uf dem Dorf in der Niederung herrſcht 
ungewohntes Leben. Angſtliche Augen ftarren 
nah dem Signalliht dort oben, das in der 
Ferne gegen das büftere Gewölk zittert. Als 
es dunkel ward, ift es da drüben aufgeflammt, 
auf dem hohen Turm des Etäbtchens, weithin 
fihtbar. 

Aus den Kellern und Unterwohnungen der 
großen Gehöfte wird aller Hausrat und 
Proviant auf den Schultern zuſammengeſchleppt 
und in bie oberen Wohnungen geſchafft. Die 
reihen Bauern geben mit weithin ſchallender 
Stimme ihre Befehle, unterbroden von dem 
lauten Gebrüll des in feiner Ruhe geftörten 
Viehes. Wer keine hochgelegenen Ställe hat, 
treibt feine Kühe und Pferde auf die Hügel 
und bebedt die ſchutzloſen Tiere mit. Kleidern 
und Deden. Weit über die Nieberung brauft 
der heftige Wirbelmind in toller Jagd, fegt 
zwiſchen Häufern und Ställen umber, treibt 
Inarrend die Flügel der Windmühlen, beugt 
die Wipfel der Bäume und fchlägt offenftehende 
Thüren und loſe hängende Lufenfenfter zu. 

Nleine Leute, Arbeiter, laden ihren ganzen 
Hausrat auf Heine Handwagen und Karren; 
können fie bei Höherwohnenden fein Unter= 
fommen finden, fo ziehen fie hinüber zur 
Stadt, die einzige Kuh und ein paar medernde 
Biegen vor ſich her treibend, die unter dem 
Regen erfhauern, ber auf ben breit ge 
ſchwollenen Kanal nieberbrauft. 

Unter den Flüchtlingen fein Murten, kein 
Fluchen. Etwas wie dumpfe Refignation ift 
über die Armen gelommen, die Hoffnung auf 
beffere Tage und ein Leben dort oben, wo ber 
helle Schein des Signals erglänzt. Unverwandt 
bliden fie darauf bei ihrem ärmlihen Aufzug 


auf der Landftraße. Hin und wieder bleibt 
einer ftehen und lauſcht mit borgebeugtem 
Haupt, und fragt den andern, ob er fein 


Glodengeläut hört, feinen Alarmſchuß? 
Dann geht es raſcher weiter — dem 
Städtchen zu. 


Sept ift e8 Iebhaft in den fonft fo ruhigen 
Straßen. Auf dem Marktplag vor dem Wirts⸗ 
haus brängen fi den ganzen Abend über 
Neugierige zufammen und arten auf bie 
Berichte. Zwiſchen der Telegraphenftation und 
dem Gaftzimmer, in dem einige Leute aus bem 
Deihamt figen, laufen die Boten unaufhörlich 
bin und ber. Unaufhörli kommen Geftalten 
aus ber Gaffe neben dem Rathaus, mit hohen, 
fotbefprigten Etiefeln und einer Laterne in der 
Hand; fie berichten über den Pegelftand und 
werben, bevor fie in dem Wirtshaus ver 
ſchwinden, ängſtlich ausgefragt. 

„Wie ſteht's? Noch mehr geftiegen? Wie 
iſt's jetzt?“ Und einige laufen die Strafe 
hinauf, um felbft zu fehen. 

Der Wind, der wie an den Tagen vorher 
beftändig an Heftigfeit zunimmt, rüttelt an den 
Laternenpfählen, läßt die Scheiben erflirren 
und die Gasflammen fi ängftlih Duden oder 
wie erfchredt emporfahren; jeßt jagt er heulenb 
die Straßen entlang, an den Häufern empor 
und mirbelt um bie Giebel und Schornfteine. 
Das ftöhnende Achzen bes hoben, breiten Turms 
ift ftraßenweit hörbar. 

In den Häufern bericht Unruhe. Jeden 
Augenblid gleitet ein breiter Lichtſchein aus 
einer geöffneten Hausthür auf bie feucht: 
glänzenden Pflafterfteine. Schatten huſchen 
an den erleuchteten Fenftern ber Wohnungen 
vorbei. 





46 


.. yupro IYUEH INS Geſtcht, 
ſickern aus ihrem Bart. Sie ftehen und warten. 

Und inter dem Pegel, binter den plumpen 
Schiffsrüumpfen unfihtbar der Etrom, der 
wütend anftürmt gegen alles, was ihn in feinem 
Lauf hemmt, gegen den tobenden Norweftwind, 
der jede Nacht mit ihm kämpft, während die 
gewaltigen Stimmen mie urfräftige Kämpfer 
einander brohend entgegenheulen. 

Am Ufer fchäumt braufend das Waſſer. 

„Seit Mittag wieder acht Zoll mehr,” 
dernimmt man murmelnde Stimmen, „und in 
Köln wieder von neuem geitiegen. Es ift 
ſchlimm für die Niederung, daß fie den Deich 
drüben verftärft und die Schleufe gefchlofien 
haben.” 

„an Velddonk find alle Mann an ber 
Arbeit. Sie fürdten, daß er fich ſenkt.“ 

„Die Deihe werden faul. Den ganzen 
Winter über fein Froſt. Und das Toben 
vom Wind jede Nacht!“ 

„'s dauert zu lang’! 

Tas Mailer ift nur nod einen halben 
Meter vom Deichrand entfernt, und als ein 
Wächter mit feiner Laterne erfcheint, wird 
auf dem gelben Wafler ein Rand von an— 
gefpülter Lehmdeicherde fichtbar. Die Laterne 
fladert auf, der Mann klettert über den Deich 
und verfchivindet in der Straße. 

Auf dem Markt noch größere Unruhe, 
noch beftigered Durcheinanderreden, noch 
dichteres Zufammendrängen. 

Grauen Atem aus den Nüftern jagend, 
mit fliegenden Flanken ſteht ein Pferd. Dice 


Echhmarban-.- 


en 
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Der Dei 
es in dei 
Der 
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zweiräder 
ein Zeiche 
Dann gre 
weicht zur 
Noch 
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aus einer 
dem Markt 
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aufgeladen. 
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Sogleich 
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Und nod) ei 
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auf. 
„Vorwär 
Die Bı 
aus, und I 
mit einer 
Säufen bi 
Tenften rü 
läßt. 
Die fün 


— 
CK TI, Li 


Tage danbruch 


Flüchtlingen, hören fie Kindergeſchrei und das 
Medern der Biegen. 

Es wird gerufen und gefragt. 

ua, es ſteht ſchlecht.“ 

„Sie ſagen, es wäre ſchon durch.“ 

„Bot" 

Es erfolgt feine Antwort mehr. 

In das Gebränge kommt ein Handwagen 
mit einem alten Mann darauf, quer vor das 
Pferd. Und das Pferd plöglih zum Stehen 
gebracht, bäumt fi auf. 

Derbes Fluchen auf dem Wagen und 
ängftlihes Wehflagen auf dem Heinen Ge: 
fährt. 

Der Wind trägt die Laute raſch fort. 
Der Weg ift ſchon wieder frei. Nun rumpelt 
der Karren weiter. 

Dorus blidt hinaus in die Dunkelheit. 
Eie find bald am Deih. Mit Mühe ftedt 
er fi eine Pfeife an, und hodt in einer 
Ede des Wagens nieber. 

Die Männer fangen an ſich zu unterhalten, 
ab und zu mit ber Hand an die Stim 
fahrend, fobald ein Winbftoß über ben 
Wagen fährt. Das Pferd erflimmt Schritt 
für Schritt den Deih. Das Geſchirr knarrt 
bei dem feften Anziehen. 

„Meinetwegen Tönnte es noch vierzehn 
Tage dauern.“ 

Meinetwegen auch 
draußen nichts zu thun.“ 

Dann zu Dorus, der ſchweigend verharrt: 

„Du ſchlenderſt auch ſo müßig umher.” 

Dorus nidt und bläft feine Pfeife weiter an. 

Der Bauer bat feine Arbeit mehr für 
ihn, alles, was im Haus gefchehen konnte, ift 
vollendet, und wegen der Waſſersnot ift das 
Land noch nicht zu bearbeiten. 

Das Pferd, das in dem Licht der Laterne 
fihtbar wird, fchleppt fi im mühſeligen 
Trapp weiter, und der Wagen rumpelt über 
den hohen Deich, Hinter den gleichmäßig auf 
ſchlagenden Hufen her. Hin und mieber ift 
der Drud des Windes fo gewaltig, daß das 
Pferd kräftig nach linls gehalten werben muß. 

Die Männer boden ſich Hinter die Säde. 

Dorus bleibt auf dem Seitenrand figen 
und verfucht ſich umzuſehen. 

Überall tieffte Dunkelheit. Cr hört 
die dürren Zweige der Nußbäume am Weg- 


s giebt doch 


723 


faum Inadend gegeneinander fahren, aber er 
fieht fie nicht. 

Und in ber breiten, formlofen Dunkelheit 
dahinter allerlei fremde Klagelaute, oft vers 
{lungen von dem beulenden Toben des 
Windes. Nun peitfcht der Regen über Waſſer 
und Land und fehlägt feine großen Tropfen 
gegen bie Karre. 

Dorus kennt den Fluß. Sein Bater ift 
Fiſcher, und als Junge hat er zu Zeiten Nacht 
für Nacht im Boot zwiſchen den Lachsnetzen 
getrieben. " 

eine Augen find an die Dunkelheit ges 
wöhnt, aber jegt kann er doch zwiſchen Waſſer 
und Land keine Trennung ſehen. Alles ſchwarz 
in ſchwarz. Ganz in ber Ferne ein paar aufs 
bligende Lichtfünlchen, — mehr nicht. Drüben 
erben fie wohl aud nicht ruhig ſchlafen ... 

Innerhalb des Deiches und weiter hinauf 
fieht man Lichter in der Nieberung. Das 
Land liegt tief, — fein Wunder alfo, daß bie 
Menſchen im Angft leben bei dem hohen 
Waſſer. Noch einen halben Meter höher, und 





fie ertrinfen alle erbarmungslos, wie bie 
Mäufe, wenn fie ſich nicht bei Zeiten in 
Sicherheit bringen. 

Wie eine Warnung leuchtet das Notfignal 
nod immer body oben vom QTurm, ſtundenweit 
in der Runde fihtbar. 

Ein Geräuſch .... immer näher und 
näher Der Huſſchlag eines raſch 
trabenden Pferdes. Es naht, e3 ift ſchon bicht 
daneben. 

Es wird zum Schritt gebracht, und eine 
Stimme ruft aus dem Wagen: 

„Sind's die Säde? Raſch vorwärts. Ein 
Loch wie ein Keller!” 

Dann verllingt der Huffchlag in der Richtung 
des Stãdtchens. Der Fuhrmann läßt die Peitſche 
Hatfchend auf das Pferd fallen. 

Vlöglih aufſchredend, trabt das Tier ein 
paar Sekunden lang raſcher, verfält aber bald 
wieder in feine trottende Gangart. 

Nach einigen Minuten fehen fie erleuchtete 
Fenſter aus der Dunkelheit auftauchen. Eie 
nähern fih dem Werwolf, Fährhaus und 
Herberge zugleich. 

Durch die geöffnete Thür fällt ein breiter 





Lichtſtrahl auf den Deich, in dem ſich Menfchen 
I Hin und ber beivegen. 
46* 


724 


Die Waflerwarte bat bier einen Poſten. 
Die Stimme eines Rottmeiſters, der eine 
Laterne hochhaltend, von der andern Eeite des 
Deiches ankommt, ruft gegen den Wind an: 

„Wie viel Mann?“ 

„Fünf.“ 

„Ich muß zwei hier haben. Hundert 
Schritte weiter fängt es an zu rutſchen. Werft 
ein paar Säcke ab.... So. Sand haben 
wir bier gleich daneben liegen. ’3 ift noch 
nicht arg, aber wir müſſen es im Auge be- 
halten.“ 

Dorus und ein andrer junger Burſche 
waren flugs vom Wagen gelprungen. Gie 
werden wohl bier bleiben. 

„Und nun, vorwärts, marſch! Zu Velddonk 
it Not am Mann.” Der Kutfcher zieht die 
Leine an. Das Pferd greift aus. Nüttelnd 
Ichiebt der Karren ab, fie hören ihn noch an 
der Schöpfitelle vorbeifahren, den Querweg 
entlang, wo nur die Laterne, einem Irrlichtchen 
gleich, ſichtbar ift. 

„Eine böfe Nacht, Jungens,“ brummt der 
Mann mit dem Olrod und den hohen Stulp- 
ftiefeln. „Jeder ein paar Säde auf den Rüden 
und dann mit. Halt! Kommt einen Augen- 
blick mit ’rein.” 

Das kleine Gaftzimmer, das fie mit ihren 
derben Eohlen auf dem fnirfchenden Sand 
betreten, ift voller Betroleumsgeruh und 
Tabafzqualm. 

Der Nottmeifter beftellt etwas bei der 
Wirtin. 

Der Gaftwirt, ein altes Männden, fibt 
jtumpffinnig an einem Tiſch und antwortet 
auf jede Frage über den hohen Wafferftand: 

„sa, ja, es ift mir als wenn's gejtern 
wär’, die Sylut von 60... .” 

Die Außenthür wird wieder aufgerijlen, 
und ein fräftiger Mann mit hohen, kot⸗ 
befprigten Stiefeln fett die Xaterne nieder, 
Ihüttelt die Regentropfen von ſich ab und 
brummt: 

„Roh drei Zoll mehr!” 

Ein junger Menſch mit bleihem Geficht 
und einer Brille, fit rauchend am Tiſch 
unter der Lampe, legt feine Zigarre nieder, 
nimmt die Feder von dem neben ihm ſtehenden 
Tintenfaß, ſieht nach der Uhr und fchreibt 
etwas auf eine Liſte. Dann legt er die Feder 


Tagedanbrud. 


wieder bin, laufcht auf da8 Rütteln Des Sur: 
an den Fenften, nimmt enen Sclud ur. 
einer bampfenden Tafle und ftedft feine Jiaım 
mit bebaglicher und wichtiger Miene miete 


" Brand. 


Wieder das dumpfe Geräufch von Pferde 
hufen. 

Die Wirtin öffnet bie Thür, und der mai. 
Schein der Lampe fällt auf die Beine em: 
Schimmels und die Stiefel eines Reiters. 

„Die iſt's oben?” 

Sie halten’S noch, ak:: 
e3 fommt jede Stunde etwas dazız.“ 

Er nimmt ein paar Papiere, Die ibm von 
bem Schreiber zugereicht werben, ſteckt fie in 
feine Tafche, zieht die Zügel an, und vor 


wärts trabt das: Pferd in die Dunkelbeit 
hinein. 

„Vorwärts nun, Jungens,“ ruft der 
Rottmeiſter. 


Ein paar Säcke auf der Schulter, erklimmen 
ſie den Deich, ſich mit aller Kraft gegen den 
heftigen Wind wehrend. Sie ſehen nichts, 
als das erleuchtete Stückchen Damm dirk: 
vor fih. Wie eine Mauer umgiebt fie die 
Duntfelbeit. 

Jetzt hat's aufgehört zu regnen. Hoch 
oben im dichten Gewölk ein Spalt, der ſich 
von Minute zu Minute mehr verbreitert. In 
dem Riß werden Sterne fihtbar. 

Die Männer bören das Klatſchen des 
Waſſers dicht neben fih. Sie können ten 
Strom nicht fehen, aber es ift, ala fühlten 
fie in dem Boden unter fih den gewaltigen 
Andrang des immer weiter vorbrängenden, 
einen Ausweg juchenden Waſſers. 

Dorus läuft mehanifh Hinter feinem 
Vordermann ber. Zumeilen muß er jtillftehn, 
wenn der fcharfe, von Nordweſt nach Nordoſt 
umfchlagende Wind ihm den Atem raubt. 

Das Knirihen der Schubfohlen auf dem 
Sand geht vollftändig verloren im Toben 
des Windes und dem Toſen des Waffers, 
dad hin und wieder heftiger gegen cin 
Hindernis antreibt. 

est kommen fie an einen Eandhaufen 
auf der inneren Deichfeite. Einige Säde 
füllen fie halb an, binden fie zu und fchleppen 
fie dann einige zwanzig Schritt weiter, imo 
der Rottmeifter feine Laterne niedergejeht bat. 


Tagesanbruch. 


„Das Loch iſt größer geworben. Schiebt 
ein paar Säde vorſichtig her; nicht zu 
weit.“ 

Beim gelben Fladerfchein ſieht Dorus, 
wie fih in der Deichfpige ein balbfreisförmiger 
Zirkel von der dunkelbraunen, aufgewühlten 
Erde abhebt. Er ftedt feinen Spaten hinein, 
es ift noch nicht tief. 

Der bineingefhobene Sad verſchwindet 
aber doch. 

Noch einer. ” 

Vorfihtig halten die Männer den Sad 
mit dem Spaten auf, aus Angft, er könnte 
vom Deich abrutſchen. Er bleibt in gleicher 
Höhe des Deichrandes liegen. Nun fteden fie 
etwas Erbe hinein zum Ausfüllen und ftampfen 
fie mit den Füßen feft. 

„So“, fagt der Rottmeifter, „wenn er nun 
von unterwãrts nicht wieder fortgeſchwemmt 
wird, wird er fhon aushalten. Aber ciner 
muß dabei bleiben.” 

Dorus ftedt feinen Epaten in den Deich 
zum Zeichen, daß er hier bleibt. 

„Dann gehen wir höher herauf. Aber 
halt, es könnte bier anfangen zu rutſchen. 
Da!” und babei reichte er Dorus eine Heine 
metallne Pfeife. „Wenn du nicht allein 
damit fertig toirft, ſchwenke nur mit der Laterne 
und pfeife. Wir bleiben in Gehörmeite. 
Hier ftehen noch ein paar Säde, und wenn's 
not thut, ift bei der Witwe Vermazen auch 
noch Hilfe zu befommen.” 

Er weiſt auf ein paar Lichtfleden in 
einiger Entfernung. 

„Schön, Meifter!” 

Die beiden Männer verſchwinden. 

Zuerft fieht Dorus noch den Lichtſchein 
einer Laterne, dann weiß er fih allein. 

Warum ift er eigentlich mitgegangen? 

Er weiß es felbft nicht. 

In den legten Tagen ift er ſchon immer 
berumgelaufen ohne Arbeit, den Deich auf und 
ab, bat nach dem Waſſer gefehen, geſchwatzt 
und dann mal eine Stunde lang dem Vater 
beim Negefliden auf dem Boden geholfen. 

Es ift ihm ziemlich gleih, was er treibt, 
wenn er nur etwas zu thun hat... .. 

Ob's gefährlich ift, hier fo allein auf dem 
Deich zu ftehen? 

Ihm ift’3 gleich. Gleichgiltig ſieht er nad) 








725 


dem geflidten Deichrand und fühlt den Wind 
um feinen Kopf faufen. 

Das Leben wird es ja wohl nicht koſten, 
wie's aud wird. Und felbft dann! Was 
madt ihm das? 

Eben hält er die Laterne hoch. Der Sad 
liegt nicht mehr in gleicher Höhe des Randes. 
Es mühlt darunter. Cr ftampft mit dem 
Fuß, ſchlägt mit dem Spaten darauf, um ihn 
beſſer zu verftopfen. 

Dann bleibt er mit beiven Händen auf 
den Epatenftiel gelehnt ftehen und ftarrt in 
die Dunfelheit. Schwarz, ſchwarz überall. 

Immer das elende Gefühl, ſobald er allein 
ift und immer der Wunſch nad Alleinfein. 

Er fann es noch immer nicht verſchmerzen ... 

Vierzehn Monate ift er im Dienft geweſen, 
und in ber Zeit ift e8 geſchehen. 

Wie fonnte fie nur fo fein? ... 

Seine Schwefter hatte ihn mohl fchon 
früher gewarnt, aber er fonnte es nicht glauben. 
Daß fie ſo ſchlecht fein konnte! Er war doch 
fo gut zu ihr geweſen. Wenn er aus dem 
Dienft fam, wollten fie heiraten. Er ftedte 
den Spaten tiefer in ben Sand. 

An dem Sonntag Nahmittag im Haag... . 
In der ſchwarzen Nacht fieht er alles Har. 

Er faß mit ein paar Kameraden auf einer 
Bank unter den Bäumen vor der Wilhelms⸗ 
taferne. Ein Iebhaftes Hin und Her von 
Spaziergängern auf der Menritölade. Da 
trat der Briefträger in den Hof. Einen 
Augenblid fpäter ftand er an den Baum 
gelehnt und las einen Brief feines Vaters: 
er wolle es ihm jeßt nur fehreiben, da er es 
fonft darch einen andern erfahren würde. Es 
wäre ein öffentlicher Skandal, Hanne hätte mit 
einem andern angebandelt und nun wäre fie 
fo weit. 

Es drehte ſich ihm alles vor den Augen, 
er lehnte fih mit dem Rüden fefter gegen den 
Stamm, da er fürdtete umzufallen, — fo 
ſchwindelig war ihm. Der Giebel der Kaferne, 
die hohen Bäume, feine Rameraben, alles im 
dichten Nebel. 

Und wieder lad er biefelben Worte und 
Zeilen und dann noch einmal. 

’8 war doch nicht möglich! Cie, fie mit 
einem andern! Cr hatte noch einen Brief 
von der vorigen Woche, alles lieb und gut. 


ww. guwyev yys V⸗ vi u. 8% lin " 


nach dem andern Brief, ihrem Brief, zer⸗ 
knitterte das Papier, zerriß es, und ſtampfte 
die Papierfetzen in die Erde, als wollte er 
die Erinnerung an ſie vernichten. 

Aber wieder fing es in ihm an zu fragen, 
zu rufen: Großer Gott, wie iſt es nur möglich, 
— und die Betäubung, wie durch einen 
unvorhergeſehenen Schlag, ward nun zur Pein, 
zur wilden, heftigen Pein, die an ſeiner Seele 
fraß, wie eine bösartige Krankheit. 

Das ging ſo Tage lang. 

Zuweilen wußte er ſich nicht zu helfen 
und vergaß alles in ſeinem Dienſt, bekam 
Verweiſe und Strafe. 

Dann ließ er ſich durch ſeine Kameraden 
verleiten, mehr Schnaps zu trinken, als ihm 
gut war. 

Auch ging er an einem Sonntag Abend 
mit einem Mädchen aus dem Haag, das ihn 
früher ſchon immer angeſprochen hatte. Aber 
das half alles nichts. 

Hanne, Hanne... 
gebalten. 

Dort oben Waren die Sterne wieder 
verſchwunden, und der Himmel eine winzige, 
büftere Drohung. 

Als er ausgedient hatte, 
Städtchen zurüd. 

Bei feinem alten Meifter, bem reichen 
Bauer, hätte er gleich wieder Arbeit befommen. 
Aber es war nun alles anders gemorden. 
Wie oft hatte er früher, wenn er des Nachts 
auf Wade Stand, Pläne gefchmiedet und 


Er bat zuviel von ihr 


fehrte er ing 


wus U CE 
mutwillig in 
war. 

Der Nadıi 
die Herbftmon 
Arbeit, mit ti 
und er arbeite 
tobmübde nad) ! 
durdhichlief. 2 

Das Ärgfi 
ließ er fih w 
zur Kegelbahn 
auf das E hr 
und ließ ſich 
Spiel verleiten 
Manchmal hal 
fühlte er fih n 
Dann ging il 
der Gedanke d 
batte thun för 
doch ficher, de 
hatte... I 
ein Kerl gewe! 
zubringen wuf 
werden, wenn 
mußte doch im 

So gingen 

Eines Aben 
ſich auf einen 
hörte er ihren 
und Schweſter 

. Er bo: 
etwas bon „Tat 

Er ftand au 


Tagedanbruch. 


Und aus ihrem Mund kam es dann Wort 
für Wort, daß Hanne dieſe Nacht entbunden 
fei.. . daß ſie's fehr ſchwer gehabt hätte — 
daß das Kind tot fei... und daß fie... 

Reiter, weiter,” fagte er heifer. 

Er konnte felbft kaum fprechen. 

Es ftände ſehr ſchlecht mit ihr, fie thäte 
nichts als phantafieren und fohreien.... . 

Dann bielten fie wieder inne. 

„Und — und — fie haben bier ſchon 
zweimal erzählt, daß fie immer nad) bir ruft.” 

Er fühlte, wie ihm ein alter Schauer 
über den Rüden riefelte und ſtand dann ba 
wie betäubt, mit ftarren Augen. 

„Ich hätt’ es bir gar nicht fagen tollen,” 
begann feine Mutter twieder. 

Sie blidte ihm ' erftaunt an, als er 
antwortete. 

n’8 ift gut, ich werbe gehen!” 

Und fo war er in die Straße gegangen, 
die er monatelang gemieben hatte, in bas 
Häuschen, in das er früher täglich kam. 

Hannes Mutter war bei feinem Eintritt 
erſchredt zufammengefahren, hatte ihn fragend, 
erftaunt angeblidt, aber er Fam ihr zuvor: 

„Hanne hat nad) mir gefragt?” 

„Ja, Dorus, aber nun ſchläft fie” — 
mit einer Bewegung des Kopfes auf die Bett: 
ſtelle deutend, — „ſchon feit zehn Uhr. Den 
ganzen Morgen über bat fie nur bon bir 
gerebet.” 

Dorus ſah fi) in dem Heinen Stübchen 
ratlos um und wußte nicht, was er fagen 
und ob er gehen ober bleiben follte. 

„Es ift hübſch von dir, daß du gelommen 
bift, Dorus,“ begann die Mutter in meiner: 
lihem Ton. „Sa, ja, — e8 ift doch folde 
Heimfuhung für uns!” 

Sie wiſchte ſich mit dem Handrüden über 
die Augen und wies auf eine Heine Wiege in 
einer bunfeln Ede hinter der Thür. 

„Am Abend bringen fie den Heinen Sarg.” 

Dorus bleibt unfdlüffig ftehen, feine 
zitternde Hand hatte die Stuhllehne ums 
Hammert. 

„Wenn's jetzt wenigſtens dabei blieb... 
es ſteht ſehr ſchlimm. Aber willſt du ſie 
jehen?” 

Er hatte feinen Willen. Er machte ein 
paar leife Schritte und ftand nun neben ber 





727 


Mutter am Bett, die den Vorhang behutſam 
zurüchſchlug. 

Erſt ſah er nichts, und dann hob ſich im 
Halbdunkel ein bleiches Geſicht von den Kiſſen 
ab... dunkle Augenhöhlen, ſchwarze Haare. 

„War das die Hanne?“ 

Die Mutter ließ den Vorhang fallen. 

„Ja, ja, es ift zu ſchredlich,“ klagte fie, 
während er ſtill zurüd zur Thür ging. „Aber 
hübſch ift e8 von bir, Dorus. Sie ift jung 
und ſtark, vielleicht Tommt fie doch noch 
dur, — und wenn fie wieder nad) dir fragt, 
will ich dich rufen laſſen ... Ach ja, fie hat 
es fo fhmwer gehabt. Das Mädel ift bitter 
geftraft . .. das kann ich dir fagen.” 

Dorus ſchauerte, weil er die Berechnung 
aus biefen Worten herausfühlte. Ex erwiderte 
fein Wort und ging nach Haufe. 

Am folgenden Tage hörte er, daß Hanne 
geftorben fei. 

Große Tropfen ſchlagen ihm ins Geſicht. 
Er muß die Augen in dem plöglihen, heftigen 
Regen, der klatſchend auf den Fluß niebergeht, 
feft zufmeifen und fi) umdrehen. 

Nun fieht er wieder einen Lichtſchein ſich 
nähern, und allmähli löſt ſich eine Geftalt 
aus dem Dunkel ab. 

„Die ftehr 3?" 

Der Mann blidt auf die ſchadhafte Stelle. 
„Stromauftwärts fteigt das Waſſer nicht mehr. 
Ih gehe nach dem Werwolf und werde ab 
und zu mal nachſehen.“ 

Er ftößt mit dem Fuß gegen die Sand» 
fäde. Bei jeder Bewegung gligern die Tropfen 


an bem Öltod wie Tautropfen. Er holt 
feine Uhr heraus. 
„'s ift nun bald zwei... Ich werde 


fehen, daß ich dich in ein paar Stunden hier 
ablöfe.” 

Dorus nidt und murmelt etwas. Ihm ift 
alles gleich. 

„Run — bu weißt, wenn bir etwas 
paffiert ...“ 

Er geht mit dem Klatfchen der Stiefel im 
Moor davon, jagt noch etwas, wovon Dorus 
nur noch das Wort Laterne verfteht. 

Der Regen läßt nah... er fühlt nur 
noch vereinzelte Tropfen an feinen Wangen. 
Bei der Unterhaltung hat er gefpürt, daß er 


Tagesanbruch. 


die Taſche und ftedt fie zwiſchen die Zähne. 
Schrill tönt der helle Klang in dem bumpfen 
Braufen, aber er wundert ſich nicht, daß ihn 
niemand hört. Wie ein ohnmächtiger Schrei 
wird der Ton in die Niederung getragen und 
geht dort verloren. 

Er bat mit feiner Laterne geſchwenlt und, 
bie Pfeife zwifchen die Zähne geflemmt, ſchrille 
Töne ausgeftopen. Nun fchleppt er einen 
Sad dit an den Rand der Böfchung, wo 
ſich dem Waffer jegt fein Hindernis mehr 
in den Weg ftellt. Während er den Sad mit 
großer Anftrengung weiter ſchleppt, bünft es 
ihm, als ftiege die Laterne, die ſeitwärts fteht, 
langfam empor; und es bauert ein paar 
Selunden, bis es ihm zum Betwußtfein fommt, 
daß er mit dem Sad und allem ſinkt. 

Sein Herz klopft fehneller vor Schred, und 
dann pfeift er fo ſchrill und lang, daß ihm 
die Zähne von dem heftigen Zittern wehe 
thun. Er fühlt feine Füße feftgellemmt, müht 
ſich vergebens, fie aufzuheben, ftredt die Arme 
aus, um einen Halt zu finden... Gott fei 
Dank, — jetzt fühlt er wieder fefte Erbe unter 
fi! Nun arbeitet er Fräftiger, in der Meinung, 
fi aufpeben zu können, er breitet feine Arme 
aus, fpannt feine ganze Muskelkraft an. Aber 
es ift, als würden feine Beine feftgefogen im 
naſſen Schlid, und der Boden, auf dem feine 
Hände einen Halt zu finden meinten, weicht 
dem Drud feiner gefpreizten Finger. 

Er fieht die Flamme feiner Laterne langſam 
höher und höher fteigen. 

Er fühlt, wie das Wafler dur feine 
Kleider zuerft an feine feitgebannten Beine, 
dann an feine Kleider oberhalb der Hüften 
dringt und fühlt, daß er beftändig tiefer rutfcht. 

Wird er bier feinen Tod finden — und 
auf dieſe Weife? 

Hier erftiden? 

Der Wunſch zu leben und ſich zu befreien, 
läßt ihn noch einmal feine Arme ausbreiten 
und den Verſuch machen, nad etwas zu greifen, 
woran er fi feſthalten ann, läßt ihn die 
Kraft finden, um feine Beine in der lot 
ſchweren Klammer zu beivegen; und einen 
Augenblid hält er ſich auf derfelben Höhe, 
das Licht von ber Laterne in derſelben Ent: 
fernung ſchräg über fih. Alle feine Musteln 
find zur äußerften Willenskraft angefpannt, 





729 


und der Schweiß 
Stim. 

Dann aber fängt das Licht wieder an zu 
fteigen,.. langſam, quälend langfam, und er 
weiß, daß das Erftiden immer ‚näher kommen 
und fi) feft um feine Kehle legen wird. 

Nah diefer äußerften Anfpannung fommt 
eine dumpfe Ruhe über ihn. 

Er kann nicht mehr. So weit wie möglich 
hält er die Arme ausgebreitet und fühlt das 
Waſſer fhon an feiner Bruft. Sonft aber 
thut er nichts mehr. 

Die Todesangft ift vorbei... . 

Das Toben des Windes, das Klatſchen 
des Regens um ihn ber wirken wie eine 
Betäubung. 

Eifige Kälte dringt ihm, langfam vom 
Rüden auffteigend, bis an den Naden. 

Er hat feine Vorftelung mehr von ber 
Wirklichkeit, er gerät in eine Art von Traum- 
zuſtand ... 

Ein wunderliches Durcheinander von Wahn⸗ 
vorſtellung und Wirklichkeit. 

Hanne... die Kaſerne ... der Weg ... 
Kirſchen . . . Sommerabend ... Laden... 
Schwatzen ... 

Daran klammert er ſich — Schwatzen — 
Stimmen. 

Und nun erwacht er zum Bewußtſein durch 
ein berbes Geräuſch. 

„Greif’ doch zu, es ift dicht neben dir.” 

Er fühlt etwas an feiner halberftarrten 
rechten Hand. Langfam umfängt er ed mit 
feinen Fingern. Nun weicht die Betäubung 
mehr und mehr. Die linke Hand führt er zur 
rechten und nun umllammern fie beide das Tau. 

„Run, nur langfam — gut fefthalten. — 
Zieh’ nur mit, Marie!” 

Dorus fühlt ziehen, ziehen... und langfam 
entlommt er dem moorartigen Boben, ber ſich 
an feinem Leib feftgefogen hatte. 

Kannſt du noch halten?” 

„Ja!“ 

„Paß auf, Marie, nicht zu nah heran, 
halt den Fuß auf dem Brett! Nun langfam 
ziehen! Sieh fo... nun eine Hand... 
Marie die andre... . noch einmal ziehen... 
du bift fteif geworden, Freundchen.” 

Mehr und mehr mitarbeitend, ift er enblich 
fo meit, daß er ohne Hilfe auf das Brett 


tropft ihm von der 


Tagesanbruch. 


Aber ſie weigert ſich. Sie kann das 
Wachen ſehr gut vertragen. Sie hätte es 
anfangs des Winters oft thun müſſen. 

Das iſt der Anfang eines Geſprächs in 
kurzen Sätzen, mit langen Zwiſchenpauſen, 
wobei ſie nicht von ihrer Arbeit aufblidt und 
Dorus ab und zu die Augen ſchließt. 

Vater und Mutter ſind ihr kürzlich am 
Typhusfieber geſtorben. Ja, — darum iſt ſie 
in Trauer. 's war eine ſchwere Zeit geweſen. 
Wohl zwanzig Nächte hatte fie gewacht. 
Manchmal waren ihrer dreie geivefen, die den 
Vater im Bett zu halten fuchten, wenn er 
rafend wurde im Fieber. Und ihre Mutter, 
die zuerft frank war, ift eines Nachts, als die 
Schweſter wachte, aufgeftanden und auf den 
Deich binausgelaufen. Sie hatten fie am 
Außendeich auf den Steinen liegend gefunden — 
vierundzwanzig Stunden fpäter war fie tot. 
Vater war viel länger Frank geivefen. Zuerft 
dachte ber Doktor, daß er ihn durchbringen 
twürbe. Aber nad) vierzehn Tagen wurde es 
je länger, je ſchlimmer, und in ber vierten 
Woche war's mit ihm zu Ende. 

Eie erzählte das fo ruhig, daß Dorus, der 
immer lauſchte und nur hin und wieder etwas 
fagte, ftil vor ſich Hinbrütend fie beim Klang 
diefer leifen Stimme plötzlich anſah ... Sie 
blidte eben von ihrer Arbeit auf, und in 
ihrem ganzen Gefiht, in den braunen Augen, 
um ben ftrengen Mund lag eine ftille Er- 
gebenbeit. 

Wieder ftand fie auf und trat an ben Dfen, 
um bie trodnenden Kleider umzuhängen, fo 
ernft in ihren Trauerfleidern und fo leife aufs 
tretend. 

„Alſo Ihr feid hier noch nicht lange?“ 

Rein.” 

Als ihre Eltern geftorben waren, mußte 
die ganze Geſchichte auseinander. Das ging 
nit anders. Es mar noch ärger, als fie 
gedacht hatte. Es war eine große Hypothel 
darauf. Und fo war fie dienen gegangen, wie 
ihre Schweſter. Es war wohl eine große Um- 
mwälzung für fie, aber was follte man thun? 
s war Gottes Wille. 

Nun fehweigen fie. 

Dorus fieht, wie der Kopf mit den glatten 
Scheiteln fih immer tiefer über die Lampe 
beugt; er fieht, wie fie ruhig weiter arbeitet. 





731 


Er fühlt großes Mitleid. Was giebt es doch 
für Kummer in der Welt! ... Und plötzlich 
fommt etwas tie Ehrfurcht über ihn. Wie 
fie da fo ruhig fagte: „'s war Gottes Wille.“ 
Er dachte an ihr Leben bier in ber Küche, 
dicht neben dem Deich, Tag für Tag, allzeit 
dasſelbe ..... Und wie ganz anders es damals 
war, als ihre Eltern noch lebten. 

Und darüber nachdenkend, hört er nichts 
anderes, als das Heulen des Windes im Dfen, 
das Tiden der Uhr und das leife Ziſchen der 
Lampe, und er fällt langfam in Schlummer. 

Dur) das Herunterbrüden ber Thürklinke, 
das Öffnen und Schließen der Thür wird er 
wach. Gijs tritt, bis zur Hälfte mit Schlid 
beſchmutzt, triefend naß ins Zimmer. 

Mit einem tiefen Atemzug fällt er auf den 
Stuhl nieber. 

„Das war 'ne Quälerei !” 

Er hat den Rottmeifter im Fährhaus 
gefunden mit noch einem Mann. Alles war 
nach Velddonk, um zu helfen, und fie zu dreien 
hatten's fertig gebracht. Zulegt war nod ein 
Mann von der Wache dazu gefommen. 

Marie war aufgeftanden, hatte Brot aus 
dem Kaften genommen und fing an, für alle 
zu fehmieren. Gij aß mit vollen Baden und 
brummte unaufhörlih vor fih Hin. 's mar 
doch fein Halten, wenn's Wetter fo bleibt. 
Der Deich ift überall faul. Sie hatten noch 
über den Kanzliften laden müſſen, der mit 
feinem Negenmantel und feiner Brille auf der 
Nafe nachſehen gekommen war und faft hinein 
ſchoß. 

„Der von der Wacht ſagte, daß es die 
letzten beiden Stunden gefallen wäre .... 
hohe Zeit .... Seht mal meine Hofen .... 
fteif vom Schlid.“ 

Zu Dorus: „Wenn du dad Zeug da aus: 
ziehſt, zieh’ ich's an.” 

Dorus ift aufgeftanden. Jede Bewegung 
thut ihm meh, fo fteif if er geworben. Er 
unterfucht feine Kleider am Dfen. Sie find 
troden. Er nimmt fie über den Arm und 
geht dann zur Scheunenthür, an bie andre 
Seite der Küche. 

„Du brauchſt di meinettwillen nicht zu 
eilen“ ... ruft Gije, der noch kauend, mit 
vollem Mund, über einer breiten Schale 
Kaffee figt. 


Tagesanbruch. 


Wieder blidt Dorus auf Marie, in 
deren bunfelbraunem Saar etwas wie Gold 
glänzt, und in deren bleichen Zügen es farbig 
aufflammt. 

Eie fteht ruhig emft und blidt in bie 
Niederung auf eine hohe Pappel in der Ferne. 

„Dort ift es?“ fragt Dorus. 

Sie nidt, den Blid unverwandt dorthin 
richten. 

Er will noch etwas fagen, aber er weiß 
nicht was. Doch das Schweigen wird ihm 
noch fchwerer. 

„Kommft du wohl mal in die Stadt?” 

„Ja, Sonntags zum Kirchgang.“ 

„Kennft du dort niemand?” 


„Rein.“ 
„Nun, — dann fomm’ doch mal mit 
beran. Vater und Mutter werben es ficher 


fehr gern mögen.” 

Er nennt die Straße. 

Sie blidt ihn nun forſchend an, als 
ſchwanke fie. 

„Das will id wohl thun ... 
geh’ ich wieder heim.” 

Dorus ftredt ihr feine Hand Bin und 
hält die ihrige, die fi innen rauh anfühlt, 
feft umflammert. 

„Ich danke auch, — ich danl' aud recht 
ſchön.“ 

Raſch geht ſie zurück, die Stufen herauf. 
Ihre ſchwarze Jade verſchwindet hinter der 
Scheune. 

Dorus blidt fih um. 

Der Wind ift viel ſchwächer geworben. 

Ruhig gleitet die riefige Wafjermafje auf 
dem Deih entlang, tiefe Furchen bildend 
und bei jebem Hindernis jäh auffprigend. 

An dem Uferrand fieht man, daß das 
Waſſer gefallen ift. 


und nun 





783 


Dorus fchreitet der Richtung des Städichens 
zu, vorbei an dem Fled, an dem num noch 
ein Mann die Wacht hält, und wo er wenige 
Stunden vorher fiher den Tob gefunden 
hätte, wenn fie ihm nicht zu Hilfe gelommen 
wäre. 

Er hatte geglaubt, gleichgiltig gegen das 
Leben geworben zu fein. Wie hatte er im 
Tobesangft gerungen! ..... Wie dankbar ift 
er für feine Rettung gemwefen. Wie dankbar 
iſt er Marie! ... 

Nun tritt das Waſſer zurüd, der Frühling 
kommt, die Mühlen drüben in ber Ferne follen 
die Pfügen aus der Niederung auffaugen. Dann 
tommen weiter oben Acker und Wiefen dampfend 
im Sonnenfdein, um wie alljährlich bebaut 
und abgegraft zu werden. Dann zieht er des 
Morgens, je nady der Jahreszeit mit Harfe 
und Spaten und Eichel auf dem Rüden, um 
zu arbeiten bis zum fpäten Abend... . 

Vereingelte, ſchneeweiße Wolfen treiben 
gen Südweſt, und mie in ein großes 
Beden flutet das Eonnenliht in den tiefen 
Polder. 

Nun fängt das Arbeiten wieder an in 
Wetter und Wind ... Tag für Tag. 

Und dann des Sonntags? 

Einen Augenblid twieder dad Weh der 
Erinnerung. 

Einen Augenblid wieder der Anblid des 
wachsbleichen Gefihts auf dem ſchwarz be 
ſchatteten Kiffen. 

Aber dann verfcheucht er das Bild wieder 
durch den Gedanken an das andere, ftillzernfte 
Geſicht, mit den wundervollen Augen. 

Auf dem Deich in der Tiefe glänzt unter 
dem hereinbredienden Tageslicht ein Strahl 
neuertoachender Hoffnung, viel verheißender 
Zukunft. 


7184 


Fredrikha Bremer. 


Bu ibrem Bundertfien Geburtstag. 
Bon 


Maria Raſſow (Bremen). 


Nachdruck verboten. 

RR dem Mimen, jo fliht auch dem Romanfchriftiteller die Nachwelt bäufig 

feine Kränze. Keine Gattung der Poeſie veraltet jo jchnell, wie der 

Roman; wie Kein ift die Ausleſe der Meifterwerfe auf biefem Gebiet, die ſich Dauernde 

Sugend bewahren, wie riefengroß die Mafje auch der beifällig aufgenommenen, wiel 

gelefenen, die eine verhältnismäßig kurze Lebensdauer haben; und tauchen bie Werke 
in die Vergeſſenheit unter, fo ziehen fie meift den Verfaſſer mit fich binab. 

Nicht anders ift es der ſchwediſchen Schriftitellerin Frebrifa Bremer und ihren 
Romanen in Deutichland ergangen. Ihre bei uns einft recht beliebten Bücher führen 
beute ein ungeflörtes Dafein in Leib: und andern Bibliothefen, und das Vergeſſen 
bat fich wie eine dicke Staubjchicht über fie gelegt. Und wir wollen fie da in Frieden 
ruhen laſſen! Die heutige Zeit jchäßt ihr gefühlvolles Pathos, ihren harmloſen Humor 
nicht mehr. Aus dem bei feinem Erfcheinen in fieben Sprachen überfegten „Haus“ 
bon 5. Bremer jcheint mir Beute ein Moderduft entgegenzufchlagen, und welches 
moderne Mädchen würde von den Schidfalen der Nina, Petren, Rofa gerührt? Dielen 
Geſchöpfen der Bremetichen Pbantafie fehlt das Leidenjchaftliche Temperament, das in 
George Sands Frauengeftalten pulfiert (werden übrigen? die Werke der genialen 
Franzöſin nicht heutzutage auch mehr erhoben als gelejen?); es fehlt ihnen die unver: 
welfliche Frifche, die George Eliot ihren Heldinnen einzubhauchen verftand. 

Hätte F. Bremer nur ihre Romane der Welt geichenkt, jo wäre ed — aud 
an ihrem hundertſten Geburtstag — ungerechtfertigt, ihrer bier zu gedenken. Aber 
fie war mehr als eine Durchichnitt3:Unterhaltungsschriftitellerin für Damen; viel 
größer als ihre litterariiche war ihre joziale Bedeutung; und die Beitrebungen, die fie 
durch ihre Bücher verfolgt, find nicht veraltet, fie beben fie hoch empor über viele 
zeitgenöffiiche Konkurrentinnen der Feder und geben ihr wohl Anjpruch auf einige 
Zeilen der Erinnerung auch bei un. 

In ihrem Baterlande ftand und fteht F. Bremerd Andenken hoch in Ehren. 
Wie Hoch, zeigt eine geiftuolle, feinfinnige Biographie, in der vor wenig Jahren zwei 
ſchwediſche Schriftftellerinnen in gemeinfamer Arbeit der Vorfämpferin der Frauen; 
bewegung im Norden ein Denkmal gelegt haben. (Fredrika Bremer. Biografisk 
Studie af S. L—d Adlersparre och Sigrid Leijonhufvud. Stockholm 1896.) 
Sn zwei ftarfen Bänden werden F. Bremerd Leben und Schriften beſprochen, und 
wenn man auch beim Leſen empfindet, daß Pietät und Dankbarkeit bei der Schilderung 
„einer ber edelften meiblichen Perfünlichkeiten, die die Gefchichte der ſchwediſchen 
Kultur während des 19. Jahrhunderts aufzumeilen hat” (Bd. I. S. 7), manchmal 
bie Feder geführt haben, jo ſchweigt doch die Kritik nicht, und das Geſamtbild fimmt 
ganz mit dem überein, das mir einft durch mündliche Erzählung von Belannten ber 
bedeutenden Frau gegeben wurde. — Eine große Anzahl bisher ungedrudter Briefe 
baben die Biographinnen eingeflochten und bei der Auswahl befonders den Brief: 
wechfel Fredrikas mit dem Gelehrten Böklin berüdfichtigt, ihrem Freund und Lehrer, 
der zuerft ihr Sehnen nach wirklich willenichaftlicher Bildung befriedigte und ihr, als 
fie ihn im Zwieſpalt mit fich felbft, im Ringen nad Klarheit über Gott und Welt 
fennen lernte, bilfreih mar, fich zu der inneren Harmonie durchzukämpfen, die fie 
jpäter in jo hohem Grade auszeichnete. 

%. Bremer war 30 Jahre alt, als fie Böklin näher trat, und eine ſchwere Jugend 
lag hinter ihr. Für den äußeren Beobachter allerdings jchien ihr Leben glatt und 
glüdlich verlaufen zu fein. Am 17. Auguft 1801 in Abo in Finnland geboren, gehörte 











Fredrita Bremer. 787 


Mangel an Selbftvertrauen am eigenen Talent gezweifelt hatte, ſah plöglich, daB auch 
fie in der Welt etwas leiften Tönne und bekam wieder Lebensmut. Der im folgenden 
Jahre eintretende Tod des Vaters Löfte die häuslichen Ketten, und bald darauf lernte 
fie durch Vermittlung ihres Schwagers in Chriftiansftad den ſchon erwähnten Rektor Böllin 
fennen, mit dem fie hinfort bis zu ihrem Tode im regften geiftigen Verfehr blieb. Da 
diefer Verkehr hauptſachlich brieflicher Natur war, kann man Fredrifas Werdegang Schritt 
für Schritt verfolgen. Jubelnd und dankbar läßt fie fi von dem Gelehrten in fein 
Gebiet, die Philofophie und Theologie, einführen. Doch folgt fie ihrem Führer 
nicht blind, religiöfe Kontroverjen, naturphilofophifche Debatten find Häufig in 
den zahlreichen Briefen. (Im Jahre 1834 wurden allein 96 gewechſelt.) Ihr reicher 
Geift entwidelte fih mit bewundernswerter Schnelligkeit, und neben den Studien tritt 
das eigene Schaffen mehr und mehr in den Vordergrund. Aus dem überfehenen 
Altlihen Mädchen entpuppte fi, nun ihm ein Platz an der Sonne vergönnt war, 
eine feine, weibliche Perfönlichkeit, und Männer, wie der große ſchwediſche Hiftorifer und 
Dichter Geijer, wie Tegner und Anderfen traten in freundfcaftliche Beziehungen zu ihr. 
Ihr Lehrer Böllin begehrte fie zur Gattin, aber da fie nur Freundichaft für ihn empfand, 
lehnte fie feinen Antrag ab, und nad} kurzer Störung blüßte die feltene Freundſchaft weiter. 

Man merkt F. Bremer Nomanen an, daß ihrem Leben die große Leidenſchaft 
gefehlt hat; die erotifche Seite ihrer Erzählungen ift häufig die ſchwächſte. Ihr Talent 
lag in der frifchen, Humorvollen Schilderung des fehtwebiligen Familien und Alltags: 
lebens, wie fie und äbnlih der liebenswürdige Erzähler Hedenſtjerna heute in 
mobernerer Form bietet. Hier war fie originel, und ihre feine Beobachtung auf 
biefem Gebiet, der gemütvolle Ton ihrer Schreibweife gewannen ihr die Herzen, — an 
einem Zufag von Sentimentalität wurde fein Anftoß genommen. Aber den Boden 
der Wirklichkeit durfte fie nicht verlaſſen, die romantiſchen Epifoden, bie fie gern ein- 
fliht und die uns heute zum Teil rührend unwahrſcheinlich vorfommen, fanden ſchon 
damals feine ungeteilte Bewunderung. Der Einfluß der Romantifer, von denen 
Fredrika befonderd Jean Paul verehrte, ift hier nicht zu verkennen. 

So ſehr F. Bremer nach künftlerifcher Vervolikommnung ftrebte, die Kunft blieb 
ihr nicht Selbftzwed. Bereits in ihren erften Schriften findet man die Keime ihrer 
fpäteren Beftrebungen. Schon 1833 fchreibt fie, daß die leuchtende Laufbahn der 
Frau von Stael fie nicht lode, fie wünfde vielmehr eine Schriftftellerin zu werden, 
in deren Schriften Mutlofe und Belümmerte, beſonders ihres Geichlechts, ein Wort 
der Aufmunterung und des Troftes finden möchten. Was die Leferinnen denn auch 
zuerft fanden, war Fredrikas tiefes Empfinden für die „gebundenen Seelen” unter 
den Frauen, d. 5. folde, die, wie fie felbft einft durch Verhältniffe und Vorurteile 
beſchrankt, die geiftigen Kräfte nicht entwideln können. Und fie blieb nicht beim Mit- 
gefühl ftehen! Noch halb unbewußt, ohne polemifche Abficht, betonte fie, erhob fie die 
Debeutung ber Frau. In der Gefcichte der Edla fchon, in den „Töchtern des 
PVräfidenten” (1834), erkannte Böklin fpäter ihr Bemühen, „eine wahrere und tröftlichere 
Auffafjung der Stellung der Frau zum Manne und zum Menjchenleben hervorzurufen, 
als die, welche in den alten Vorftelungen von Adams Rippe liegt”. In ihrem Roman 
„Das Haus“ ließ fie ſich zuerft mit klarem Bewußtfein von der Tendenz beeinfluffen, 
die allmählich dad innerfte Motiv ihrer Wirkjamfeit wurde: die Befreiung der Frau. 
Im „Haus“ ift e3 die Unverheiratete, das ältere Mädchen, für das fie eintritt. Sie 
ſchrieb, während fie an dem Buche arbeitete, an Böllin: „Bisher find die Penaten 
echt befchränkte Götter geweſen; Leben und Luft von Millionen Frauen find unter 
ihrer frommen Tyrannei verwelft, und von Millionen welfen fie zu diefer Stunde.“ 
Sie fuchte neue Wirkungskreife für die Frau, Kunſt, Wiffenfhaft und Induſtrie hätten 
ja aud) ihre weiblichen Seiten, fie befämpfte die Anficht, daß die einzige Be: 
ftimmung ber Frau die Verheiratung fei und fand es verlegend für ihr Gefühl und 
ihre gejunde Vernunft, daß die ganze Bildung, das Weſen fogar der Frau darauf 
zugeſchnitten werben folle, daß fie für den Mann paſſe. „Sollte nicht,” ſchrieb fie 
damals in einem Briefe, „jede Frau (wenn möglich) fo gebildet werden, daß fie 
felbftändig beftehen und wirken fönnte ohne Rüdlicht auf Che? Wie viel freier und 


edler würde die Ehe dann werden!“ “ 


Fredrila Bremer. 739 


Sentimentalität ausgeftattet. Die Berechtigung aber der darin enthaltenen Forderung 
konnte troß alles Zeterns nicht dauernd Gektitten werben, unb welcher Triumph war 
es für die Verfaflerin, als zugeftandenermaßen ihr Roman zu einer baldigen Ein— 
führung der weiblichen Mündigkeit verhalf! 

Viel heftiger noch als die eben erwähnte Forderung wurde bie zweite ber in 
„Hertha“ vertretenen, die ber höheren Ausbildung der Frau, angefochten. Vielleicht, 
gab man zu, könnte eine etwas beffere Schulbildung gewährt werden, nun ja, etwas 
mehr Religions: und Litteraturunterricht, aber was verlangte biefe F. Bremer! Sie 
beanfpruchte in „Hertha”: „Die Möglichkeit einer Erziehung und Selbftbeftiimmung, bie 
der männlichen gleich if. Offnet, der Frau Schulen und Lehrfäle, die ihr Gelegenheit 
geben, ſich felbit und ihre angeborenen Anlagen kennen zu lernen; und eröffnet ihr 
dann die Wege, dieſe Anlagen ungehindert zu entwideln, da fie fonft für fie und für 
den Staat ein totes, vergrabenes Bund bleiben. Nehmt die alten Schranken hinweg; 
fort mit aller Meinmütigen Furcht; hegt das großherzige Vertrauen zu Gott, daß Er 
fein Werk leiten und bewahren fann.” — Bir lächeln heute, wenn wir in den von 
den Biographinnen mitgeteilten Kritifen Ausdrüden der tiefften Entrüftung, der vor⸗ 
nehmſten Geringihägung begegnen über folche Forderung und dann baran benfen, 
daß feit dreißig Jahren junge Schwebinnen die Hochſchulen befuchen, daß Stodholm 
die erfte Univerfität in Europa war, die in unferer Zeit eine weibliche Lehrkraft 
(Sonja Kowaleweky) berief. 

Die Bahnbrecherin aber wurde geihmäht, und bie große Allgemeinheit in 
Schweden hielt lange Zeit die Verfafferin der „Hertha“ wirklich für das ercentrifche, 
überfpannte, unmeiblihe Geihöpf, als das ihre Gegner fie darftellten. Allerdings, 
wer ihr näher trat, wurde fchnell eines befferen belehrt. Milde blidte ihr Auge aus 
den unſchönen aber vergeiftigten Bügen, fchlicht legte ſich das Haar um bie Fat zu 
hohe Stirn, und eine weiße Haube vollendete den Eindrud anſpruchsloſer Einfachheit. 
So fehen wir fie auf Büften und Bildern, nur eins macht eine Ausnahme und zeigt 
fie ung in full dress; dieſe altväteriiche Eleganz von Sammet und Spigen war gewiß 
ihr Hofgewand, wenn fie ber verwitweten Königin Amalia Karolina von Dänemark 
oder ber Königin von Griechenland aufwartete, bie ihr beide fehr geneigt waren. 
Frute doch König Georg von Griechenland F. Bremer bei ihrem Aufenthalt in 

then feine eigene Yacht zur Reife nach den Inſeln zur Verfügung.) — Sie hatte 
nichtö geiſtreich Sprüßendes, diefe Heine, zurüdhaltende Schwedin, und fein pifanter 
Reiz umgab fie und ihre Vergangenheit; fie nahm die Menichen nicht im Sturm, aber 
wie feſſelnd und anregend wirkte fie, wohin fie auch Fam, durch ihre feine Weiblichkeit 
und ihren originellen Geift! So ſchildern fie und Longfellow und Hawthorne und 
ähnliches fagt George Eliot von „the great little authoress". 

Ruhig und unbeirrt durch die heimifchen Anfeindungen ging die alternde Schrift: 
ftellerin ihren Weg weiter und zeigte in einem neuen, weniger eingreifenden Roman 
„Bater und Tochter“, wie trefflich wiſſenſchaftliche Bildung und echt weibliche Pflicht 
erfüllung fich vereinigen laſſen; fie plante eine „Aurora“, in ber fie ihr deal der 
Zufunftäfrau zeichnen wollte. Teils hinderten längere Reifen, deren Erfahrungen fie 
in mehreren Bänden nieberlegte, die Ausführung, teild veranlaßten ihre umfafjende 
philanthropifche Wirkfamfeit, deren Spuren man nod heute in Stodholm verfolgen 
Tann, und die großen Anfprüche, die nahe und ferne Freunde an ihre Zeit und ihre 
Sympathie machten, den Aufſchub diefer Arbeit. So war „Aurora“ ungefchrieben, 
als in den legten Stunden des Jahres 1865 das warme Herz ber ſchwediſchen Schrift 
ftellerin erfaltete. 

Aber Hatte F. Bremer ihr Ideal nicht mehr mit der Feder ſchildern können, — 
was fie für feine Verwirklichung gethan hatte, mar mehr. Durch Arbeit und Beifpiel 
bat die „erfte Fürfprecherin im ſchwediſchen Lande für die neuzeitliche Auffaffung der 
Frau“ unendlich viel dafür gewirkt, die Iphigenienklage über das Frauenſchichal 
des unnügen Lebens, über die enge Gebundenheit des weiblichen Glüds verftummen 


zu machen. 
Er 


47* 


740 


Die Fran im Spiegel der modernen franzöfifehen 
itteratur. 


Von 


Anna Brunnemann. 


Nachdruck verboten. un 


IN äbrend die germanifche Frau in ben legten Jahrzehnten mit Vorliebe ibr 
| 1) Seelenleben zeichnet und unabhängig vom Mann zunädft ihre Individualität, 
ihre Forderungen ans Leben, und dann erft ihre veränderten Begriffe von 
Liebe und Ehe zur Darflelung bringt, zeigt die Franzöfin die Bedürfnis fo gut mie 
‚gar nidt. Wir Haben in Frankreich zwar eine Emanzipationsbewegung, doch macht 
fie nur langfame Fortichritte und zieht vorzugsweiſe ertreme Geifter in ihren Bann: 
kreis, jo daß Häufig mit viel Lärm weit über das vernunftgemäß Mögliche hinaus⸗ 
gegangen wird. Wir hören die Feminiftin in öffentlichen VBerfammlungen viel über 
Politik, Stimmrecht, Sozialismus, Anarchie, Freigeiiterei und freie Liebe deflamieren — 
von den inneren Wandlungen und intimen feelifchen Forderungen, von der gefteigerien 
Geiftigkeit des Weibes, das gelernt bat über fich felbft hinaugszubliden, erfahren wir 
nichts. Das einzige weibliche Seelendofument, das als beachtenswert in der modernen 
franzöſiſchen Litteratur vorhanden ift, find die Aufzeichnungen der Rujfin Marie 
Baſhkirtſeff, deren gejchmeidiges Anpaffungsvermögen fich die jcharfe, wunderbar 
feine Analyfierungsmethode des Goncourt zu eigen machte, die aber dad jüngfte Tarifer- 
tum nur von der phantaftifchen Slavin reflektiert fchildert, nicht das Seelenleben einer 
ftreng mit dem wirklichen Leben rechnenden Franzöſin vor uns erfteben läßt. 
Wie fi) die franzöfiiche Frau Zu dem modernen Ideenfond verhält, ob ein 
Weib der Zukunft zum Segen oder zum Fluch ihrer-Nation erftehen wird, die Frauen⸗ 
litteratur läßt dag nicht erkennen. Sollen wir die Urſache dazu in geiltiger Indolenz, 
in prüder Zurüdhaltung oder aber in einem Gutheißen des gegenwärtigen Zuftandes 
Juchen? Dem erften widerjpricht die alte Kulturüberlegenheit der Franzöfin, ihre 
geiflige Bedeutung, die fie zu allen Zeiten beſeſſen. Die Paſſivität der beichränfteren, 
in Pfaffenhand befindlihen und allenfall3 prüden Frauen fommt bier, wo e3 fi 
um litterarijche Produktion Handelt, nicht in Betracht, und eben dieje il, wenn nicht 
frömmelnd und für Badfiiche beftimmt, genau nach männlichem Vorbilde jeder Prüberie 
bar. Bliebe alfo nur das völlige Zufriedenfein mit dem übrig, was als beftebenbe 
Thatjache gefchildert wird. Offenbarungen über das Weib geben uns in Frankreich 
nur die Männer, und ihre Belenntniffe laffen an Mannigfaltigfeit und Deutlichkeit 
nichts zu wünſchen übrig. Auf der großen Spiegelfläche jener franzdfiichen Litteratur, 
die augenblidlih für die Weltlitteratur in Betracht kommt, erfcheint das Weib trot 
taufenderlei Varianten in feinen Grundlinien immer als ein und dasjelbe: als 
berrichende Sflavin, ein minderwertiged, aber reizvolles, kluges und deshalb 
triumphierendes Geſchöpf. 








Die Frau im Spiegel der modernen franzöfiichen Litteratur. 741 


Neun Zehntel der franzöfifchen Romane, Novellen und Dramen find Pariſer 
Sittenbilder; fie behandeln Dreiedsverhältniffe, aus dem Konflikt zwiſchen Sittengeſetz 
und Leidenfchaft hervorgegangen. Das fo finnlich angelegte franzöfifche Volt ſchließt 
die Ehe aus taufend Vernunftgründen, nicht aus Liebe. Da nun aber die Frau für 
den Franzoſen die flärkfte Anziehungskraft befigt, muß einerſeits das niedere erotifche 
Verlangen, andrerfeit® bie wirklich edle Glücksſehnſucht tiefe Konflikte herbeiführen, 
und biefe find dem franzöfiichen Schriftfteller die intereffanteften. Die übrige Litteratur, 
die fi mit dem Werdegang des Mannes, feiner Stellungnahme zu den Fragen und 
Aufgaben feiner Zeit beichäftigt, die ftofflich wertvollere, krankt an der zu weit: 
gehenden Bedeutung, die das Weib auch hier in allen Lebensverhältniffen einnimmt. 
Man Iefe „education sentimentale“ von Guftave Flaubert, mit nüchterner 
Wahrheitsliebe und fouveräner Ironie wird hier geſchildert, was die Frau für einen 
Durchſchnittsfranzoſen bedeutet. Sie iſt die „Alümeufe“, die in die Speichen feines 
Glucks- und Lebensrades eingreift, daß es ſich vafcher dreht und fchneller verbraucht. 

Selbftverftändlich läßt er fich frühe ſchon von ihren Sphinzaugen faszinieren 
und fucht ihr Geheimnis zu ergründen. Seine Erfahrungen plaudert er mit Vorliebe 
aus: der Naturalift brutal; der Piychologe mit raffiniert erfünftelter oder nüchtern 
wiffenfchaftlicher Methode; der Dekadent ftimmungsmalend, äſthetiſierend. 

Wenn Zola in feiner Neigung zur Vergrößerung, zur Steigerung der Alltags: 
erfcheinungen ins Ungeheuerliche Weibtypen ſchuf, die an die Vifionen eines Felicien 
Rops erinnern, fo hat fich feine Auffaffung allmählich von roher Animalität zu einem 
Typus verfeinert, der dem altgermanifchen Frauenideal nahe kommt, dem der Eräftig 
gefunden, fländig Leben gebenden und Leben erhaltenden Mutter, die noch fo ziemlic) 
Inſtinktmenſch ift und nichts andres fein will (vergl. „Paris“, „Fecondite“). Zola ift 
der einzige, der dies zwar recht elementare, doch normal geſunde Ideal aufgeftellt hat. 
Einen Blick weiter in den Naturalismus, und das pathologifche Gebiet thut ſich auf. 
Anormale Fälle werden mit objektiver Wahrheitsliebe gefchildert, „mal Equilibrees“, 
detraquees“, „nevrosdes® find es in ungezählten Scharen von ber Marquife bis zur 
Dienftmagd (3. B. die „Germinie Lacerteux“ von Goncourt). Bon der Meifter 
band Flauberts ſehen wir die unbefriedigte Frau der Provinz gezeichnet: „Madame 
Bovary“. Dant einer verberbten oder verftänbnislofen Umgebung erregen folche Frauen 
ihr Gefühlsleben, ihre Nerven auf immer ungefundere Weife, und die zunehmende 
Willenlofigleit macht fie im Fortgang der ziwingenden Ereigniffe zu ſehr komplizierten, 
abgefeimt böfen Geihöpfen, gegen die Satirifer, wie der kraftvolle Dramatiker 
Henri Becque nunmehr ihren Haß fchleudern und fie, die Trägerinnen der Sitte 
fein foltten, den vollkommenſten moraliſchen Nihilismus ausfprechen laſſen (Becque: 
„la Parisienne“). Neben den gefunden und kranken Inſtinktmenſchen tritt beim 
Naturalismus ein dritter Typus, der bewußt handelnde weibliche Vampyr auf; mir 
finden ihn in feiner roheſten Form bei Zola, ungleich verfeinerter bei Maupaſſant, 
der ihn in feinen fpäteren Arbeiten bereits als Piychologe und mit der Sonde bed 
Forſchers in der Hand ftubiert. 

Es ift die Frau als befländige Dual des Mannes, weil fie, zu überzivilifiert, 
zu verfeinert, die Kraft der echten Leidenfchaft verloren Hat und nur noch Senfationen 
will, ohne irgend welche veredelnde Verpflichtungen auf fih zu nehmen. 

Diefer Typus fcheint dem Heutigen Schriftfteller der weitauß interefjantefte zu 
fein. Bon folhen Frauen geht auß, was ewig von neuem reizt und anfpornt, was 


Die Frau im Spiegel der mobernen franzöſiſchen Litteratur. 743 


Nur Daudet, Paul Bourget in feinen fpäteren Werken und Edouard Nod 
fehen kraft ihre warmblütigen Dichtertemperamentes das echt Tragifche in dem Konflikt 
zwiſchen Pflicht und Liebe; die Folge davon ift eine lebensvolle Darftelung fittlicher 
Fragen. 

Bei Rod ſtilles Verbluten und fchließliches DVerfteinern, weil dem Leben fein 
Inhalt geraubt wurde („Le silence“, „lesRochers blanches“), äußere und innere Sühne 
(„la Sacrfüce“), gewaltfame Löfung durch Selbfimord („Dernier Refuge*). Bon Schuld 
und Strafe auch bei Bourget („Terre promise“). Die legteren gehen nicht wie Daubet 
zu Werke; fie legen mit Forfcherleidenfchaft die fubtilften Seelenregungen bloß und 
ſchildern nur das Weib in feiner höchſten Entfaltung und Verfeinerung. Seine Be— 
ziehungen zum Mann werden immer vergeifligter, Tomplizierter, und doch bleibt es 
dasfelbe, was fhon Benjamin Conſtant in feinem auf ſcharfer pſychologiſcher 
Beobachtung beruhenden Roman „Adolphe”, der traurig bedillufionierenden Geſchichte 
einer erfaltenden Leidenſchaft, ſchilderte: Werführerin oder Opfer ded Mannes, von 
ihm, durch ihn lebend. Wir fehen es nur als Geliebte, nie als Gefährtin oder 
Mutter. In keinem Lande hat die Frau eine größere Rolle gefpielt als in Frankreich, 
niemal3 war fie fo fireng wie etwa die deutſche and häusliche, private Leben gebannt; 
wenn fie nur wollte, konnte fie ihre Intelligenz, ihren Arbeitötrieb frei bethätigen, und 
kaum in einem Lande ift fie, ob auch Gattin und Mutter, fo eriverbsthätig wie hier. 
Wie viel Treffliches Hat nicht ſchon die norbifche Frau dank ihrer Bewegungsfreiheit 
und ökonomiſchen Unabhängigkeit gewonnen! Der männerfeindlihe Zug, den bie 
extremfte Emanzipation mit ſich brachte, ift bereit3 überwunden, und dad Ideal eines 
Weibed der Zukunft wird aufgeftellt: „eine ſtark ausgeprägte menfchliche Individualität, 
die Solidaritätsgefühl und Geſellſchaftsintereſſe befigt und doch bie volle Offenbarung 
des tief Weiblichen if.“ ') Nie tritt uns die franzöfiiche Frau als Menſch und um 
ihrer felbft oder, wie in hiftorifchen Momenten, um hoher Ziele und Aufgaben willen 
entgegen. Ganz felten fehen wir fie als Mutter und dann nur als überzärtliche 
Hüterin, nicht Erzieherin des Kindes, oder als blind verehrte Heilige. 

Iſt Ibſen ganz ohne Einfluß geblieben? Wenn wir nach einer Aufführung ber 
„Nora“ Bemerkungen wie „das ift ſinnlos“ vernehmen, fo giebt das zu denfen. Eine 
franzöfifche Nora würde, wenn fie überhaupt möglich wäre, entiveder a la „Frou-frou“ 2) 
mit dem erften beften Mann davongehen, oder aber ihr verlogenes Cheleben aus 
Utilitätsgründen weiterführen, Hellmers Heine Schwächen ausfpüren und über ihn 
triumphieren, ihre verratene Zärtlichkeit als Affenliebe auf ihre Kinder übertragen — 
niemal3 aber würde ihr beifommen, fih nunmehr zum Individuum zu erziehen. 
Wir haben keine NoraBelenntniffe oder nur entfernt Ähnliches in der franzöfifchen 
Kitteratur. . b 

Dennoch Hat der nordiſche Revolutionär an ein paar männlichen Gewiſſen 
gerüttelt. Einige junge Schriftfteler bliden tief hinein in die heuchleriſchen 
geſellſchaftlichen Zufände und finden, daß es neben Beherrſcherinnen des 
Mannes noch viel mehr Frauen giebt, denen daB Courtifanen= Temperament fehlt 
und bie die Literatur gefliffentlich überfieht, wie fie das reine junge Mädchen 
überfieht. Diefe Frauen, die fi traditionsgemäß in die Vernunftehe mit dem Mann 


) Bel. Ellen Key: Das Weib der Zukunft. Eſſays S. 29. 
%) Bergl. Meilhacs gleichnamige „Comedie*. 


7144 Die Frau im Spiegel der modernen franzöfifchen Litteratur. 


„qui veut faire une fin* gezwungen und jelbft um die befcheidenften Glückshoffnungen 
betrogen jeben, befigen feeliiche Verfeinerung genug, um edle moralifche Forderungen 
aufzuftellen und unter ihrer Nichterfüllung unjäglich zu leiden. Kühn und energiſch 
ergreift Paul Hervieu, ein talentvoller Dramatifer, Partei gegen die gefegmäßige, 
lieblofe Unterdvrüdung de Weibeg. „Les Tenailles“ und „la loi de I’homme* 
behandeln die unglüdlichen Ehen Frankreichs. Seine Heldinnen find feine „feinmes 
incomprises*, hyſteriſch oder jenjationsfüchtig, nur in ihrem Innerſten verwundete und 
zu trauriger Lieblofigkeit verdammte Frauen, die nach einmaligem, verzweifeltem Auf: 
bäumen nur nod) elender werden. Noch furchtbarer ift die Anklage, die Jules Caſe 
in feinen Roman: „La Vasalle* der Gefellfchaft mit ihrer heuchleriſchen Doppel: 
moral entgegenschleudert. Eine echte Lebensgefährtin will bier die junge, geiftig und 
feinfühlig veranlagte Gattin werden, doch ihre guten Vorfäge fcheitern an der egoiftijchen 
Noheit des Gatten, der fie nicht verfteht, ſich anderweit zerftreut und fie ſchließlich, 
moralifch vernichtet, in die Arme eines ungeliebten Bejchügers treibt. 

Hier gewiffermaßen ein Fortſchritt: das fchonungslofe Enthüllen eines Not: 
ftanded. Der männliche Autor aber, der den Schrei des gemarterten Weibes nad 
geläutertem Cheglüd ertönen läßt, zeigt ung niemals defjen Verlangen nach ſich felbit. 
Wo es halb unbewußt emporfeimt, wird e8 bald durch das noch ftärkere Anlehnungs- 
bebürfnig erftidt; gejunde, rettende Heilquellen im ebeljten inneren des Weibweſens 
jelbft werden nie aufgetban; nach unficherem Klopfen am toten Stein ift Dumpfe 
Verzweiflung oder das Anklammern an den erften beiten Strohhalm der gewöhnliche 
Ausgang. Während fich die germanijche Frau mutig auf fich jelbft ftellt oder ſchweigend 
duldet und dabei noch rettet, tröftet und vergiebt, fehlen der Franzöſin, wie fie und 
geichildert wird, die ficheren Grundlinien zu einem Weſen, das fich mit frei erbobener 
Stirn, ſtolzem Ichbewußtſein und ſtarkem Pflichtgefühl einer nütlichen Aufgabe Hin: 
giebt, der Gejellichaft, dem Mann Achtung abnötigt und fi) jo von äußeren Sklaven: 
banden und den noch gefährlicheren inneren Sallitriden befreit. 

Soweit die Schriftfteler und die wenigen Schriftftellerinnen, die es ihnen nach— 
tbun. Von Seiten der übrigen Frauen fein Proteft, feine maßvolle Kundgebung ihres 
Suchen: nad ſich ſelbſt, Fein freies über fich Hinausdeuten nach einem veredelten 
Frauentypus, der das Leben als heilige Kulturaufgabe betrachtet und das Arbeiten an 
der Erhöhung der eigenen Würde als Grundbedingung zur Erhöhung der Menjcen: 
würde anfieht. 

Die Taufende von Frauen, die mit fchmweigender Tapferkeit im Joch der Arbeit 
gehen und die große Schar der Genießenden find anfcheinend mit ihrem Los zufrieden, 
‚Ihre Schwächen werden ja zumeift als Vorzüge angefehen, und die Bedeutung, bie 
ihrem Gefchlecht von jeher in dem alten Kulturlande zuerkannt murde, giebt den 
Klugen unter ihnen immer neunundneunzig Chancen, über den Mann zu triumpbieren, 
unbefümmert darum, ob fie mehr zerjtören als aufbauen. 


——6 
Re 


745 


Butter und Kind in der Heimarbeit. 


Erich Stobuy. 
Nachdruc verboten. — - 


Motto: Uns ihres Leibes Frucht und Gegen, 
Bon ihrem Arm befhügt vor Rot, 
Ihr Kind und ftart und gut zu geben 
Das ift der Mutter erft Gebot. 


In allen Diskuffionen über die Schädlichfeit der Heimarbeit fpielt bei der Frage 

F — Abihaffung oder Reform — das Argument, daß man die „Mutter nicht von 
ihrem Kinde trennen dürfe,” ein far unüberwindliches Hindernis. Haben die Bejaher 
der Abſchaffung die Schädlichkeit derfelben felbft bis auf dem Tipfelchen über dem 3 
bewiefen, es nüßt ihnen nichts; fie müffen, gleich Siſyphus und den fozialdemofratifchen 
„Unnaturen“, mit ihrer Arbeit wieder von vorn anfangen; fie müflen von neuem be: 
weifen, von neuem überzeugen, um bon neuem auf der Höhe angelangt, wieder in bie 
Tiefe zu ftürzen; denn es ift unnatürlich und unmenfchlich, herz⸗ und gewiſſenlos, bie 
Mutter von ihrem Kinde zu trennen. 

Diejer Werdegang bat fich bisher fo oft wiederholt, daß es endlich einmal an 
der Zeit fein dürfte, dieſes Argument auf feinen wirklichen Wert zu unterfuchen und 
den Kern auß der Schale zu fhälen. Es dürfte nachzumeifen fein, wie weit wahre 
und echte oder falſche Mutterliebe auf der einen Seite, Flunkerei, Böswilligkeit oder 
praltiſche Brauchbarleit auf der andern Seite, die Antvendung dieſes Arguments be: 
Dingen ober geboten erfcheinen laſſen. Aber auch die Stellung, des Kindes, ala bes 
eigentlich Leidenden und die der Gefelfchaft dürfen wir nicht vergeſſen. Wir müflen 
uns fragen, toie fich die Geſellſchaft jelbit, auf Grund ihrer anerkannten oder freien 
Moralanfhauung zu der Thatfache ftellt, daß ein großer Teil der in der Heimarbeit 
erzogenen Kinder, als erwachſene Menfchen, an phyſiſchen ober pſychiſchen Defekten 
leiden, fich felbft zum Verdruß, der Gejellichaft zur Scham. Wir werden und fragen 
müffen, ob nicht auch eine Mutter, wenn die Intereffen der menſchlichen Gefelfchaft 
und ihres Kindes dad geboten ericheinen laffen, den Trennungsichmerz zu tragen hat. 
Wer möchte bei einem Krebögefchtvür — und dies ift die Heimarbeit am Gefellichafts: 
törper — dem Arzte die Operation verbieten? Iſt es nicht beffer, den Schmerz zu 
ertragen, al fiech und mund durchs Leben zu gehen? Diefe Fragen an der Hand 
der in der Heimarbeit herrſchenden Verhältnifie kurz zu beantworten, fol der Zived 
diefer Zeilen fein. 

Stellen wir zunächſt einmal die Verhältniffe, unter denen in der Heimarbeit 
gelebt, oder vielmehr vegetiert wird, an einem Beifpiel feſt. ine eheverlaffene Frau 
mit zwei Kindern im Alter von zwei und fieben Jahren bewohnt eine Heizbare Stube. 
Sie näht Jacketts biligfter Sorte. Das Ausfertigen wird beim Zwiſchenmeiſter bes 
forgt. Preis pro Rumpf 0,40—0,55 Marl. Ein Bett, eine Wiege für das Jungſte, 
ein altes Spind und Komode, ein Tifh, zwei Stühle, etwas Küchengerät und ein 
Dfen mit Kocheinrichtung bilden die Ausftattung. Am einzigen Fenſter fteht die Näh- 
maſchine, daran die Frau arbeitet. Die Gardinen haben eine undefinierbare Farbe 
angenommen. „Ich kann fie nicht wajchen, ich habe feine Zeit, ich kann nicht einmal 
meine Kinder waſchen,“ fagt die Frau, ohne gefragt zu werden. Sie felbft empfindet 
nur zu ſehr das Niederbrüdende ihrer Umgebung. Wenn die Saifon vorbei iſt, wird 
ja alles fauber gemacht. Die Kinder aber, die Fpmugig und zerriffen auf dem Fuß: 
boden fpielen, find den ganzen Tag fich felbft überlaflen. Die Sense nad ihrem 
Verdienſt beantwortet die Frau wie folgt: „Ich bin auf die Sachen ſehr eingearbeitet; 
6—7 Rümpfe ſchaffe ich den Tag, auch 8 habe ich fchon fertig bekommen; freilich,” 


Mutter und Kind in der Heimarbeit. 7147 


in die Schule, jo haben fie zwar feine Lernergebniffe dem Lehrer, dafür aber einen 
reichen Schag von in ber Nacht gefammelten Erfahrungen ihrer Nachbarſchaft mit: 
zuteilen und bilden jo geradezu eine Peſtilenz für die andern Kinder. Und nun ihr 
perfönliches Verhältnis zur Schule! Durch fortwährenden häuslichen Unfleiß bleiben 
fie dem verftändigen Lehrer ein ftetes, wenn auch bemitleideted Sorgenfind. Aber 
nicht alle Unterrichtenden wiſſen den befonderen Verhältniffen folcher Kinder Rechnung 
zu tragen. Demütigungen mannigfacher Art bleiben ihnen daher jelten erfpart. Und 
doch vergißt gerade ein Kind, das wenigſtens zum Teil für ſich felbft zu forgen 
meint, die am ſchwerſten. 

Aus diefen Berhältniffen Heraus erklärt fi auch zur Genüge das leidige 
Schwänzen der Schule. Diefe Zeit erfegt dann wenigſtens zum Teil ben verlorenen 
Nadmittag, den andre Kinder zum Spiel freihaben. Auch wird ja in der Schulzeit, 
und das ilt die Hauptfache, fein Geld verdient. „Immer nur arbeiten und nie fpielen 
madt aus Hans einen dummen Jungen“, — dies gilt natürlich auch von biefen 
Kindern. Die Folgen all diefer Verhältniffe liegen auch Mar auf der Hand und follen hier 
kurz regiftriert werden. Die alleinftehende, verwitwete, gefchiedene, oder von ihrem 
Mann getrennt lebende Arbeiterin, mit oder ohne Kinder, iſi nicht in der Lage, ſich 
regelrecht zu ernähren. Sie alle können von bem, was fie verdienen, nicht leben. 
Armenunterftügung, Proftitution oder körperlicher Verfall ift ihr Los. Ich habe nicht 
den Mut zu unterfuchen, welche pfuchiichen Gründe es find, die dieſe bedauernäwerten 
und meiner vollen Überzeugung nach an ihrem Elend unfchuldigen Menſchenkinder 
der Proftitution in die Arme treiben. Unter den gegebenen Umftänden fcheint es 
mir mehr als gewagt, von „kühler Berechnung“, „Leichtfinn” und „Benußfucht” zu 
reden. für mich, der ich über praftiiche Erfahrung in Nähftuben und Heimarbeits- 
betrieben verfüge, ift der Weg zur Proftitution weder der der Berechnung und Genuß⸗ 
ſucht, noch der des Leichtfinns! Für mich liegt er im ganzen Syftem und nur in 
ihm begründet. Und num eine Frage: Iſt eine der Proftitution verfallene Mutter 
zur Erziehung ihres Kindes geeignet? Glaubt irgend jemand, daß in der Hausinduftrie 
und Heimarbeit erzogene Kinder nicht wiſſen, was die Mutter ihut? Herr Dr. Wilbrandt 
ſchreibt im Juniheft diefer Zeitichrift: „Witwen mit Kindern, die der Kinder wegen 
zu Haufe arbeiten, richten fich dabei zu Grunde; denn für fi und die Kinder genug 
zu verdienen, ben Haushalt und bie Kinder zu beforgen, das überfteigt bei ſolchen 
Lohnen jede menschliche Kraft.” Nur bei „ſolchen“ Löhnen? Angenommen, die Löhne 
der Heimarbeiter ftiegen bis zur Höhe der Werkſtatt- und Fabrifarbeiter; ift es nicht 
au dann noch „unnatürlich”, von der Frau neben einem vollgefchüttelten Maß an 
Tagedarbeit, — Lohnarbeit —, die Erhaltung der Wirtfhaft und die Pflege ber 
Kinder zu verlangen? Und bie Kinder, um bderentwillen die Mütter bei diefer Arbeit 
bleiben, werben mit zu Grunde gerichtet, denn die Mutter, fieberhaft arbeitend, behält 
für ihre Pflege und Erziehung feinen freien Augenblid. Verwahrlofung und Schmug 
ift trog aller Aufopferung der Erfolg. Verwahrlofung und moralifher Schmug iſt 
der Erfolg auch bei den ül rigen Aeinftehenden! Dem brauche ich nichts Binzuzufegen. 
Und in — Jammer will man Kinder belaſſen? Was ſoll denn hier aus ihnen 
werden? Glaubt man vielleicht, daß dieſe entſetzliche und entnervende Armut, aus 
ber es fein Entrinnen giebt, die Willenskraft eines „Garfield“ und „Lincoln“ gebiert? 
O nein! Sie gehen daran zu Grunde. Von früheften Kindesbeinen an keine Wartung 
und Pflege, kein Geld zu geſunder Nahrung, feine Luft, keine Bewegung, — fo fallen dieſe 
Erdenwürmer neben al dem andern Ungemach der englifchen Krankheit anheim, die fie 
zwar nicht gleich zum Tode, aber oftmals für ihr ganzes Leben zum Siechtum 
verdammt. Ohne Wiffen und Bildung, ohne Liebe und Kraft zur Arbeit, die ihnen 
von jeher eine nie verfiegende Duelle der Dual war, ohne Verſtandnis für bie 
Zufammenhänge bed Lebens, lieblos und herzensroh treten fie hinaus ins Leben; von 
vornherein durch die DVerhältnifie präbeftiniert für Arbeitshäufer und Gefängniffe. 
Eine lebendige und gewaltige Anklage gegen alle die, die fie werden ließen, was fie find! 

ber al diefem Jammer, all diefem Elend thront unberührt von allem bie 
Mutterliebe! Sie heißt alles ertragen, alles erdulden. Was fehadet es auch, wenn 


748 Mutter und Kind in der Heimarbeit. 


das Kind Frank, ſchwach und verwahrloft ift? Die Mutter Hat e8 nur nod lie: 
und iſt um jo weniger bereit, fih von ihm zu trennen. Was fchadet ed, wenn td: 
Mutter durch die übermenfchliche Anftrengung zu ihrer und ber Kinder Ernährung ;: 
Grunde geht und ftirbt? Sie ftarb ja im Beifein ihrer Kinder! Mögen fie dam 
zu fremden Leuten, dann in eine Anftalt fommen, fie trifft feine Schuld; fo lange e: 
ihr irgend möglich war, bat fie mit ihnen gelitten, mit ihnen gehungert und bie Aus 
Übung ihrer Pflicht mit dem Tode bezahlt. O, es find liebe, herzensgute Leute, die dir 
Mutter nicht von ihrem Kinde trennen wollen! Denn daß es einen vernünftiger Dienjchen, 
eine vernünftige Mutter giebt, die ihr Kind lieber frank und verwaßrloft Bei fich bebält, 
als daß fie es in eine gut geleitete Anftalt giebt, erſcheint mir unmöglich! Und dann 
noch eind: giebt nicht die Verſorgung ihres Kindes auch der Mutter mehr Kraft ımd 
Nahrung? Kann fie fich nicht leichter dem Ringen ihrer Berufsgenoffinnen nach Ver— 
beflerung ihrer wirtjchaftlichen Lage anfchließen? Kann fie dann nicht zur Werkftatt geben 
und den Schmuß aus ihrem ohnehin ja Schon jo engen Heime fchaffen? Aber abgejeben von 
diejen fragen: wird fie fich auf diefe Weife die Liebe ihres Kindes nicht fiherer erringen 
und erhalten fünnen und ihm zur Seite ftehen, wenn e3 des mütterlichen Rates am 
bringenditen bedarf, im Lebensernſt? Und andrerfeit3: bleibt ihr benn, während ſie 
ich um die notdürftigfte Erhaltung des Lebens müht und quält, auch nur Die gerinuite 
Zeit, dem Kinde Liebed zu erweilen? Iſt fie nicht gezwungen, jede ſelbſt erfüllbare 
Bitte des Kindes abzumweifen, weil es für fie eine Störung bedeutet? Sit fie nicht 
geradezu oft gezwungen, ein barjches Weſen zur Schau zu tragen, da3 ind, das fie 
umarmen will, von fich zu weiſen? Mird fie nicht öfter, als e8 gerecht ift, zur 
Züchtigung greifen? Wird ihr nicht manchmal der unglüdfelige, aber erflärliche 
Gedante kommen, daß es befier wäre, fie hätte nie geboren? Daß die Laft, die fe 
zu tragen bat, fie zu erdrüden droht? Und das Kind? Liebt das Kind die Mutter, 
weil fie Mutter beißt? O nein! Das Kind liebt den, der ihm Gutes erweiſt, es 
beſchenkt und wieder liebt. Es ift anhänglich an die, die es verftehen und auf feine 
Wünſche eingehen. Die pietätwolle Achtung und Verehrung der Mutter an ſich fommi 
viel jpäter, die Liebe aber will erworben fein. Man muß unter der in folchen Ber: 
hältniffen aufgewwachjenen Jugend gelebt Haben, um zu willen, daß fie Die Mutter 
jelten ander als jeden andern Menſchen auch bewerten. Was babe ich denn von 
meiner Mutter, wenn ic) den ganzen Tag arbeiten muß, — ift das traurige Eco 
ihrer Kindesrede. Die foziale Frage ift eine Magenfrage, aber die Kinderliebe ift e3 
auch. Wenn die Kinder groß find und nicht leiften, was man von ihnen verlangt, 
wen Hagen fie an? Die Eltern, die Mutter. Und wenn die Mutter aus faljcer 
Liebe und thörichter Verblendung nicht alles that, was in ihren Kräften ftand, um 
förperliche® und geiftige® Siehtum vom Kinde fernzuhalten, — dann mit Redt. 
Hierher aber gehört vor allen Dingen auch dad Tragen des Trennungsfchmerzes. 
Die menjchliche Gefellichaft hat Fein Intereſſe an geiftig oder körperlich Kranken. 
Ihr Streben muß in erfter Linie darauf gerichtet fein, ihre Mitglieder ſtark 
und arbeitsfroh in jeder Hinficht zu geftalten. Sie bat in diefem Sinn fein Intereſſe 
an Krankenhäufern, Aſylen, Gefängnifjen, Arbeits: und Zuchthäufern. Sie hat in: 
folgedeffen auch fein Intereſſe an wirtfchaftlihen Erfcheinungen, die diefen heute 
notwendigen Übeln Snjaffen zuführen. Zu diefen twirtichaftlichen Erfcheinungen aber 
gehört vor allen Dingen die Heimarbeit! Ihre vollftändige Abſchaffung ift daher 
unter allen Umftänden eine ernfte und dringende, eine im Intereſſe der Menfchheit 
abjolut gebotene Aufgabe. Über den Weg diefer Abfchaffung, über die Art und 
Schnelligkeit kann man geteilter Meinung fein, über die Notwendigkeit an fich wohl 
faum. Die Werkjtätten können und follen fo befchaffen fein, daß ein jeder in ihnen 
arbeiten kann. Auch die verheirateten Arbeiterfrauen, die am Tage ein paar Stunden 
freie Zeit zum Verdienen haben, können in die Werkftatt gehen. Sind fie zu Haus, 
von den Kindern umgeben, jo arbeiten fie an einer Arbeit von 56 Stunden ben 
ganzen Tag, bis ſpät in den Abend Hinein; in der Werkſtatt aber find fie in 5 Stunden 
fertig, gehören ihrem Mann und ihren Kindern wieder. Die Kinder können in bieler 
Zeit in Anftalten vielleicht nach „Sröbelfcher” Art gewartet und erzogen werben. 





Über Eheverträge. 749 


Sie werben in biefen Stunden, die für fie Freude und Erholung bedeuten, die Mutter 
nicht vermiffen. Zu Haufe aber wird es rein und fauber fein. Ich gedenke dabei auch 
der Mütter mit Kindern im erflen Lebensjahr, die fozufagen nur wahrend ber Zeit, 
in ber das Kind fchläft, arbeiten können. Muß es für die wenigſtens geftattet fein, 
im Haufe zu arbeiten? Ich beftreite auch dieſes! Die VBefeitigung der Heimarbeit 
wird die Löhne ber in Werkitätten Arbeitenden Heben unb fichern. Sept trägt die 
Öffentliche Armenpflege einen großen Teil der Unterhaltungsfoften der Heimarbeiterinnen; 
diefe Koſten kommen den Unternehmern zu gute. Mit Befeitigung der Heimarbeit hört 
das auf. Eine Menge Unterftügungsfräfte werben frei werben, die hier verwandt 
werden können, verwandt zum Segen des Kindes und der Mutter. Es ift zuzugeben, 
daß das Problem damit noch nicht gelöft if, und viele Zwifchenfragen ihrer Erledigung 
harten. Eins aber ift fiher: wo ein Wille ift, da ift ein Weg! Die Erledigung 
diefer Frage bat meine® Erachtens von dem Grundſatz auszugehen, ob der mit der 
Abſchaffung der Heimarbeit erzielte Nugen größer ift als der Schaden. Ich antworte: 
Taufendmal größer; er ift fo groß, daß ber Schaden daneben verfchwindet; ganz 
abgejehen davon, daß er ja überhaupt nur für eine Übergangszeit in die Erſcheinung 
treten fann. Bisher bat jede große, der Menichheit und Menichlichkeit dienende 
Anderung des Beftehenden das Leid einzelner bedingt; man hat fid) davon mit Recht 
nicht abichreden laſſen und foll es auch Hier nicht thun. 

Zum Schluß noch einmal die Frage: „Darf man Mutter und Kind voneinander 
trennen, wenn die Intereſſen der Mutter, des Kindes und der Gefellichaft es er- 
fordern?” „IR es graufam und umnatürlich, wenn hierbei feitens des Staates 
Zwangsmittel angewandt werden?” "Auf die Gefahr Hin, zu den „Unnaturen“ zu 
gehören, beantworte ich die erfte Frage mit — Ja — die andre mit — Nein —.') 


BB 


Über Shevperträge. 


Bon 
Helene Vöhnk. 


Ragprud verboten. ann nn 


uf der Verfammlung bes Bundes Deuticher Frauenvereine zu Dresden im 

Dftober v. 3. hat der Dresdener Rechtsſchutz-Verein den Antrag geftellt, „ber 

Bund wolle in eine umfaffende Agitation für eine allgemeine Einführung von 
Cheverträgen bei Eheſchließungen eintreten“. Es dürfte im Anfchluß an dieſe für bie 
Frauenwelt fo überaus wichtige Forderung den Leferinnen und Lefern der „Frau“ 
von einigem Intereſſe fein, dab im fchleswigsholfteinifchen Adel von alteröher Ehe: 
verträge üblich geweſen und geblieben find bis auf den heutigen Tag. Mit der 
Drdnung des Graflich Broddorff-Ahlefeldtſchen Familienarchivs beichäftigt, find mir 
eine ganze Anzahl folder Dokumente durd die Hände gegangen, bie ben Namen 
Ehepalten, Chefliftungen, Eheverträge oder Ehebriefe führen. 

Obwohl nach den Landeögefegen, dem gemeinen Sachſenrecht, das auf dem Lande 
giltig, die Gütergemeinfchaft ſchon an und für ſich ausgeſchloſſen war, jo wurden 
die Eheverträge doch für mötig erachtet, „im Zalle die Eheleute ihr domicilium 
mutieren und fih in Gegenden nieberlaffen jollten, wo eine allgemeine ober befondere 
Gutergemeinſchaft eingeführt fein möchte”. 


1) Bei der Entſchiedenheit, mit der bie Sozialpolitit für bie Heimarbeit der Frauen eintritt, um 
der Familie die Mutter zu erhalten, erſchien es mir zur Klärung ber Frage geboten, auch die Er: 
fahrungen eines unter diefem Spftem Aufgewachſenen mit heranzuziehen. 98%. 


750 Über Eheverträge. 


Die Eheverträge, von Mitte des 18. Jahrhunderts an nur auf geitempelt.n 
Papier giltig, waren im 15., 16. und zu Anfang des 17. Jahrhunderts Pergamen‘ 
urkunden mit den angehängten Siegeln des Brautpaares ſowohl, ala min de ſtens zweirt 
Eltern, gewöhnlich des Vaters und der Mutter der Braut, in deren Haufe Verlobung 
und Cheftiftung vollzogen wurden, oder wie man damals fagte, die Ebeberedun: 
stattfand. Im Laufe de 18. Sabrhunderts find die Dokumente meift in fir. 
in Octavis Trium Regum, d. 5. in der Woche nad) ben Heiligen drei Rönigen, au®: 
geftellt, wenn zur fogenannten Umfchlagszeit der Adel und die wohlſituierte PUrgerliche 
Bevölkerung des Landes die hauptjächlichiten Jahresgeſchäfte abzumwideln pflegten. 

Die Eingangsformel bleibt fich durch die Jahrhunderte ziemlich gleich und lautet 
mit einigen Abänderungen oder Zujägen gemöhnlid: „Im Namen ber bepligen um: 
zeribeilten Dreyfaltigkeit, jey Hiermit offenbahr fund und zu willen Sedermännialidsen, 
infonderheit denen, jo daran gelegen, daß nach Gottes des Allmäcdtigen ſonderbaren 
Schidung un Providence zwilchen dem Hoch: un Wohlgebormen Herrn — (es folat 
der Name des Bräutigamd und feiner Eltern mit allen Titeln und Würden) — ın 
einem und der Hoch: und MWohlgebornen Jungfer (auch wohl Fräulein) — (es folat 
der Name der Braut und ihrer Eltern) — am andern Theile, nad vorher wehlüber: 
legtem guten freyen Willen dem großen Gott zu Lob und Ehren vor benannter behyden 
Perſohnen Wolfabrt, Heyl und Gedeihen, auch beiderjeit3 Familien noch weiter zu 
befeftigender Freundichaft und Verbündniß einer Chriftlichen befländigen unb aummwider: 
ruflichen Ebeftiftung nachgelegtermaßen abgeredet, behandelt und geſchloſſen worben: 

„Nachdem vorgedadter . . . ſich umb die wollgeborne Sungfer ... . beb dero 
Herr Vatter und Frau Mutter gebührlich durch feinen Herrn Batter und Frau Mutter 
umwerben laßen, auch Perſöhnlich diefelbe zu feiner Chriftlichen Ehegemahl begebret, 
worauff die Jungfer Braut auch Ihres ohrtes Shrer Herkvielgeliebten Eltern willen 
und gubtachten fich gebührend untergeben, und in die von Ihrem Liebften gefchebene 
anwerbung condescendiret, alß ift Shm . . . von dem Herren Vatter und Frau Butter 
Ihre Herbgeliebte Sungfer Tochter... . im nahmen der Allerheyligſten und Hoch— 
gebenebeyten Dreyeinigfeit, dahin Chlich zugeſaget und verfprochen, ich einander alle 
ebeliche Liebe, Treue und Affection auf ihre Lebenszeit zu beiweilen und dabev un: 
abläffig zu beharren, auch ihren Eheſtand dergeftalt zu führen, wie es Chriſt-Adelichen 
Chegenoßen geztemet und twollanftehet, wozu der barmherzige Gott, als Stifter des 
heiligen Eheftandes, Ihnen Seinen mildreichen Seegen ertheilen und alle Wollfahrt und 

Glückſeligkeit gnädiglich verleihen wolle, wie denn diefe abgeredete Ehe durch prieiter: 
ie an nach Landesüblicher Sitte oder Chriftlihem Gebrauche vollzogen 
werden ſoll.“ 

Der Zeitpunkt der Hochzeit ift felten angegeben, gemöhnlich ift „demnächſt eheſtens“, 
„baldmöglichit” oder „angängig” geſetzt. 

Von diefen erbaulichen Betrachtungen und Vorfchriften gebt Punkt 2 direft auf 
das Materielle, die Mitgift der Braut über. Sie beftand in der landesühlichen 
adligen Ausſtattung an „Kleidern, Kleinodien, Gold und Perlen, wie auch Kiſten und 
Kiftenwaren, Betten und Bettgewand, Zinn, Kupfer, Meſſing, Schränfe, Spiegel, Tiſche, 
Stühle und was des Hausgerät3 mehr”, und den Brautjchatgeldern, bie Fllen über 
10 000 Reichöthaler, nach unferm Gelde etwa 50 000 Mark betrugen. Die Brautſchatz⸗ 
gelder wurden entweder in der erflen auf die Hochzeit folgenden Octavis Trium 
Regum, alias SKieler Umjchlag, 6.—15. Januar, ausgezahlt oder in Obligationen 
übertragen, wobei dann ein landesübliches Einlager abgehalten wurde. Das heißt, 
einer der nächften Blutsveriwandten der Braut mußte ſich an dem verabredeten Orte 
und Tage in Haft begeben, bis die Schuldverjchreibung perfelt und in aller Form 
übergeben war. 

Gegen dieſe Mitgift verfprach der Bräutigam feiner zukünftigen Gemahlin ein 
Leibgedinge, das meilt mit der Summe des Brautfchaßes Torrefpondiert, und wenn et 
Beamter war, fo mußte er, jeit Errichtung der General-Witwenfaffe zu Kopenhagen um 
die Mitte des 18. Jahrhunderts, fich verpflichten, feiner zukünftigen Gemahlin durch eine, 
feinen Einfünften entjprechende Einlage, eine Wittwenpenfion zu fihern. Die Quittunſ 





Über Eheverträge 751 


wurde der Braut vor ber Vermählung überreicht, Später, d. 5. zu Anfang des 19. Jahr⸗ 
hunderts, mußte fie dem kopulierenden Prediger vorgezeigt werben, wie die Plöner 
Trauregifter nachweiſen. 

Außer Leibgedinge und Witwenpenſion war ber ablige Bräutigam noch gehalten, 
feiner Braut eine Morgengabe und ein jährliches Nabelgeld „zu ihrer Kleidung und 
willfürlihen Dispofition“ zu verfprechen. 

War die Braut elternlos und Erbtochter, fo wurbe dem Bräutigam vorgefchrieben, 
daß er auf die Verwaltung der Güter, reſp. des Geldes, allen Fleiß zu legen babe 
und nichts ohne Genehmigung feiner künftigen Gemahlin befchließen folle. 

War die Braut dagegen bei einem der vier adligen Nlöfter (Preetz, Itzehoe, 
Ueterjen oder St. Johann vor Schleswig) eingefchrieben, jo hatte fie ihre Erbportion 
und Dotem ſchon zum voraus empfangen und der Bräutigam konnte feinen Braut: 
ichag erwarten. „Rlofter-Zungfern, wenn fie befreyet werben, können feinen Dotem 
fordern, dody wird ihnen der Hauptftuhl gereichet, damit fie bei der Einkleidung be 
gabet“, Heißt es in einer landgerichtlichen Entfcheidung vom Jahre 1604. Indeſſen 
gab der Vater aus „freundmwilliger Gefinnung gegen feine herzgeliebte Tochter“, 
wenn er leidlich bemittelt war, doch meiftens einen Brautichag, was dann natürlich 
in dem Berlaffungsbrief von dem neuvermäßlten Paar entſprechend gewürdigt und 
hervorgehoben wurde. 

Ein meiterer, ſehr wichtiger Punkt der Chepaften ift die Ablöfung der 
fogenannten Haubenbandsgerechtigkeit. Nach Iandezüblichem Gebraud und Herkommen 
hatte die adlige Witwe dad Recht, nach dem Tode ihred Mannes „Jahr und Tag, 
als nemblih ein Jahr, ſechs Wochen und drey Tage in feinem vollen Gute befigen 
zu bleiben, und alle Aufflünfften und Habungen deſſelbigen Jahrs darauszuheben“. 
„Darzu konnte fie”, nach der revidierten Landgericht3:Crdnung von 1636, „nehmen 
alles Haußgerath, jo nicht Regel oder Erdfeft if. Item Wollen un Linnewandt, 
alles geihlagen Silber un Gold zum halben Theile fo ihr Mann un Sie in 
ftehender Ehe mit einander gezeuget un machen haben laſſen. Imgleichen alle 
fahrende Haab, Ochſen, Kühe, Pferde, Schaffe, Schweine, Gänfe, halb, wes übrig 
aber vom Haußgerathe, Gold, Silber, Bücher, Kleinodien, Tapezieren un Deden, fo 
fie nicht zufammen gezeuget, un dem Mann von feinen Eltern un Freunden an= 
geerbet um gegeben, bafjelbige alles foll den Kindern un Erben allein bleiben un 
die Frawen barinnen nicht Erben, wie auch imgleichen an den reifigen Pferden, 
Harnifh, Wagen un Wahren, Büchſen, Gelhüg, Pulver, Bücher un mas hierzu 
geböret, folches folget billih den Erben, wie auch all bahr Geld fo auff Brieff un 
Siegel geweſen, damit fol die Wittwe nichts zu Ichaffen haben, das ander gehöret 
ihr halb, fo dar befunden, wie aud da der verftorbener Ehemann bahre Gelder 
ftehen gehabt un nachgelaſſen, welche nicht auf Siegel un Brieffen geweſt, fondern 
von den Zinfen oder der Güter Einkünfften erhoben, ob er diefelbe glei auff Rente 
zu belegen vorhabens, aber vor feinem tödtlihen Hintritt nicht hätte aufgethan, 
ſeyn diefelben unter der Wittiben un Erben halb un halb zu theilen. Wenn 
aber der verftorbener Ehemann fein Guth Hinterliefle, hat die Wittibe an ftatt des 
Jahr Hebung von den Gütern deſſelben Jahrs Zinfe von deſſen freyen Geldern zu 
genieffen, des Mannes Ketten un Slenodien behalten die Erben, dargegen behält die 
Sram alle ihre Guldenen Ketten, Gulden un Silber Gefchmeide un Slenodien, die 
Morgengabe, fo der Mann ihr geben, gehöret der Frawen. Darzu nimmt fie ihr 
Heyrath Guth, fo fie dem Manne zugebracht mit der Segenvermachung und Zugabe 
des Mannes, es fey Geld oder Erbguth, jo ihr zum ibgebing verfchrieben um 
vermacht ift. Dedgleichen alle Ketten, Klenodien, Kiften un Kiftenwahr, jo ihr von 
ihrem Vater um Freunden gegeben un angeerbet ift, daſſelbige alles gehöret einer 
Frawen vom Adel nach ihres Mannes Tode zu ihrer Fräwlichen Gerechiigkeit und 
Huvenbande.“ 

Statt dieſer Gerechtſame aber ſetzte der Bräutigam feiner künftigen Gemahlin 
im Ehevertrag eine beftinunte Abfindungsfumme aus, „dagegen Sie fih der Hauben- 
banbeägerechtigkeit in Faveur derer aus dieſer Ehe Borhandenen Kinder begiebt“. 





752 Über Eheverträge. 


Im Falle aber feine Kinder verbanden fein würden, bliben ber Frau : 
adligen Witwe fompetierenden jura refervieret. Und ſchließlich behalten jit 
ausdrüdlich Die Befugnis vor, „einander durch teftamentmiige Anordnung r.: 
zu benefizieren”, wie e3 denn auch wohl vorfam, daß die Ebepaften ganı : 
wurden. „Wir zu Endesunterzeichneten Eheleute haben zwar vor el. 
unferer Heirath mit einander Cheverträge errihte. Da wir indeſſen 
glüdlichften und vergnügteften Ehe mit einander leben und bei Der Ungue:: 
Dauer des menjchlichen Lebens, nichts ſehnlicher wünſchen, als einander alle 
Gute, Toviel nur in unfern Kräften Steht, zuzumwenden, jo bat dieſe Betrac:: 
beivogen, unter Aufhebung der eingangsermwähnten Ehepalten und WBorausicz 
allerhöchften Confirmation ein wechjelfeitiges Teſtament zu errichten“. | 
Die Schlußformel der Cheverträge bat wieder eine gewiſſe flereotuv: | 
„Dbiges alles feft und treu und unverbrüchlich zu halten, au demfelben in ken: | 
und Wege, unter welchem Praetert und Vorwand es auch geſchehen Fönnte, ı | 
entgegen zu bandeln, jo verzeihen und begeben der Herr Bräutigam, die x. 
Braut und deren beiderjeitige Eltern aller und jeder dawiber zız machenden €: | 
und Exeptionen, als der argliftigen Überrebung, daß die Sache nicht recht wert: | 
oder jelbige anders beredet und beichloffen, al3 wie fie bier beihrieben, ber Frl. 
über die Hälfte, Wiedereinfegung in vorigen Stand, ſammt aller andern Aust. 
und Behelffen, nebjt der befannten Regul, daß ein gemeiner Verzicht nicht gelt: : 
fein bejonderer vorhergegangen, zu malen dieſen alten, wie felbige bereit erdae. 
oder durch Menjchen Wig Fünfftig noch erfonnen werben mögen, Site für Eu 
Ihre Erben auf? bündigfte und die Fräulein Braut an Eidesftatt, hierdurch ren. 
und, zu Fellhaltung obiger in der Abficht und Krafft eine® unmwiberruflid: 
bündigften Contracts bejchriebenen und, nad) vorhergegangener reifen Überlegung, : 
bedächtlich und freiwillig gejchloffenen Ehe-Pacten, bei Verpfändung Ihrer geſa— 
Haab und Güter und bei Halt: und leitung eines Landesüblichen Einlagers S:: 
Ihre Erben verbinden. Alles getreulich und fonder Gefährbe Uhrkundlich fin 
Ehe⸗Pacten geboppelt, doch eines Innhalts ausgefertiget, unterjchrieben und mi: 
angebornen adligen Betfchaften befiegelt.” Es folgt das Datum oder Gegebu | 
Ort, Jahreszahl und Monatstag, oder, wie ſchon oben erwähnt, daß viel bi 
In Octavis Trium Regum. 

Nach vollzogener Ehe und Auszahlung des Brautſchatzes ftellten bie m“ | 
Neuvermählten dem Vater der Braut einen Berlaffungs- oder Verzichtbrief ar 
dem zunächſt über den Empfang ber Brautfchaßgelder und der Mitgift zu 
und dann auf die wäterliche und mütterliche Verlaſſenſchaft Verzicht geleiftet ur 
„Wir... urtunden und befennen hiermit für uns, unjere Erbnehmer und fonften 
männiglichen, denen diefer Verlaffungs- und Verzichtbrief zu ſehen und zu fein: 
fommt, daß wir von unjerm berzgeliebten Herrn, respective Batter und Sam 
vatter vermöge der von uns auffgerichteten Cheftiftung die verſprochenen Yraullt“ 
gelder und was Sonften an Kleinodien, Goldt un Perlen, wie auch Kiften un RN 
wahre u. ſ. w. volles Genüge empfangen haben und ihn biemit quit, frey, los und ki 
Iprechen, wogegen wir, ebenfalls nach obberührter Eheftiftung einen genughafften t 
beftändigen Verzicht thun auf die väterliche um mütterliche Erbſchaft, es fei an 1a 
oder fünftigen, liegenden und fahrenden Gütern, aller Nominibus und Actionibis. " 
gehen aus auf Zinfen, geldt und gülde, wie das alles Nahmen bat un zukünftig babe 
mag, nicht3 außbeichieden u. |. w.“ Be 

Mit der Verzicht: oder Verlaſſungsurkunde zugleic) wurde der Leibgedingebr 
ausgeſtellt, eine Vollſtreckung des in den Ehepakten gegebenen Verſprechens und nike 
Beitimmung über die Leiftungen des Ehemannes und die Ablöfung ber Haubenband⸗ 
gerechtigkeit. 

Auch dieſe Dokumente waren in älterer Zeit auf Pergament, fpäter a 
geftempeltem Papier gejchrieben und zählen mit dem Ehevertrage unter bie ih! 


Familienurkunden. 








753 


Die Roggenmuhme. 


Eine Stizze 


von 


C. v. Dornau. 


Raderud verboten. 


Kısı und dunfel liegt der ſchweigende 
Wald da. Die bochjtämmigen Buchen ver— 
ſchränken oben ihre Zeige feier undurch⸗ 
dringlid, und nur vereinzelt, wie Golbtropfen, 
riefeln Sonnenftrahlen durch das Dichte 
Blatterdach, leuchten auf dem Teppich von 
dunfelgrünem Moos, der den Waldboden 
bebedt, und malen filberne Reflere auf die 
glatten, weißen Stämme. Draußen aber 
herrſcht die volle, ungebändigte Mittagsglut. 
Eie liegt auf dem Kornfelde, das in gelben 
Wogen fi) unüberſehbar ausbehnt. Die 
vollen Halme neigen ſich mit leiſem, geheimnis⸗ 
vollem Raufchen, die bunten Blumen dazwiſchen 
glühen frembartig mit fübländifher Farben: 
pracht, und der Himmel liegt über der Fläche, 
tie eine ungeheure Schale von blauem Kriftall, 
die hernieberfchmelzen möchte auf die glühende 
Erde — — 

Auf dem ſchmalen Pfade, der mitten durch 
das Kornfeld führt, gehen ein Mann und 
ein Mädchen. In lebhaftem Geſpräch waren 
fie neben einander auf dem ſchattigen Wald⸗ 
wege dahingeſchritten, ſeitdem fie das einfame 
Oberförfterhaus tief drinnen im Forſt verließen. 
Jetzt geht fie ſchweigend vor ihm her zwiſchen 
den engen, golbgelben Wänden, die fie von 
der ganzen übrigen Welt zu trennen fcheinen. 
Drinnen im Walde war fie Fräftig ausgefchritten, 
und er hat im ftilen beivundert, wie ruhig 
und gleihmäßig dies Waldkind atmete, trotz 
des raſchen Ganges. Nun geht fie unwill⸗ 
kürlich Tangfamer in der fengenden Hitze — —. 
Eie trägt feinen Hut, fondern hat nad Art 
der Landleute ein großes, weiße? Tuch um 
den Kopf gebunden. Darunter hängen bie 
ftarfen, ſchwarzen Zöpfe hervor, und wenn fie 





den Kopf zur Seite wendet nad einer Blume 
oder einem Vogel, fieht er das feine Profil, 
das fih in bräunliher Tönung von dem 
weißen Tuche abhebt. Er hat gelernt, jedem 
Zuge in dieſem leidenſchaftlich geliebten Antlig 
nachzuforſchen, und er fieht jegt, daß fie in 
ernfte Gedanfen verfunfen ift und tagt 
nicht, fie darin zu ſtören. Auch auf ihm 
liegt's wie ein Drud. Sie hat etwas Un— 
heimliche, diefe große Stille, dies Ruhen der 
Natur in der flirrenden, gleißenden Sonnen: 
glut. — Er atmet tief auf und geht rafcher, 
um feine Begleiterin wieder einzuholen. Der 
ſchmale Pfad verbreitert fih ein wenig, fo 
daß er von neuem neben ihr gehen kann. 

Eie ift ftehen geblieben und ſieht ſich 
lächelnd nah ihm um. 

„Welch wunderliches Gefühl mich mand= 
mal überkommt, wenn ich jo ſtill in der Mitte 
ſommerzeit durchs Korn wandle!“ fagt fie mit 
einem leichten Seufzer und fpricht damit genau 
das aus, was er eben felbft empfunden hat. 
„Solte man nicht denken, irgend etwas 
Geheimnisvolles, Gefpenfterhajtesmüßte plötzlich 
da vor einem auftauchen? Und tie viele 
Leute haben auch ſchon an ſolchem Tage wie 
heute die Roggenmuhme gejehen!” 

Sie hat ganz ernſthaft gefprochen. 
bleibt lächelnd ftehen. 

„Die Roggenmuhme? Wer ift denn das?“ 
fragt er. 

„Wiſſen Sie das nicht, Herr Profefjor?” 
ruft fie erftaunt. „Und fammeln doch Volts- 
märden und alte Sagen? D, dann werde 
ih Ihnen diefe bier erzählen! Die müſſen 
Eie kennen lernen.” 

„Gut!“ erwidert er heiter; „bereichern 

5 48 


& 


754 Die Roggenmuhme. 


Sie meine Kenntniſſe! — ich babe ſchon viel 
bon Ihnen gelernt,“ feßt er erniter hinzu. 
Eie ſetzen jebt nebeneinander ihren Weg 
fort, und das Mädchen erzählt mit fanfter, 
gebämpfter Stimme das uralte Märchen von 
der Noggenmuhnme, dem WMittagsgefpenft: 
„Sie erjcheint nicht wie andre, ehrbare 
Geipeniter, die willen, was fie ihrem Etanbe 
Ihuldig find, um Mitternadt, in alten 
Gemäuern, auf dem Kreuzwege oder dem 
Kirchhof — nein, nur zur Beit der Kornreife, 
an fo dunftig beißen, erftidenden Sommer: 
tagen wie diefer, und nur in der Mittagszeit, 
wenn die Sonne am höchſten fteht, taucht 
bie Roggenmuhme aus dem Ührenfelde auf. 
Wenn der ahnungslofe Wanderer durch das 
reife Korn geht, fo wie wir bier, fieht er 
fie plöglich vor ſich; doch wenn er näher tritt, 
verſchwindet fie wieder zwifchen den wogenden 
Ühren. Meiftens erfcheint fie in Geftalt 
einer alten, bäßlichen Frau, und immer be- 
deutet ihr Anblick Unheil für den, ber fie er- 
blidt. Sieht fie aber wie ein fchönes, junges 
Mädchen aus, fo droht ihm ein Unglüd, das 
ihm bis ans tiefite Herz gebt, und er wird 
Schmerzen tragen bis zum Tode!” 

Die Erzählerin hat mit großem Ernft ge: 
ſprochen; jetzt aber fliegt ein fchelmifches 
Lächeln um ihren Mund. „Bon uns in ber 
Oberförfterei bat fie noch feiner zu ſehen be- 
fommen, aber die alte Waldhütersfrau behauptet, 
ihr einmal begegnet zu fein; fie hat wie ein 
böfes, altes Weib ausgeſehen — mein Bruder 
meint, fie bätte gewiß in einen Cpiegel 
geichaut, die brave Frau Mohr — und nad: 
ber iſt ihre befte Kuh geftorben!” 

Der Profeffor lacht mit feiner Gefährtin, 
dann fieht er fie jchalfhaft an und fagt mit 
fcheinbarem Ernſt: „Fräulein Gerda, wiſſen 
Sie wohl, daß ich neulich die Roggenmuhme 
gejeben babe?” 

Das junge Mädchen fährt zufammen und 
fieht ihn ängftlih an. „Treiben Eie feinen 
Scherz damit!” warnt fie, „wann follte denn 
das geſchehen fein?” 

„Bor acht Tagen, grade an dem Tage, 
an dem ich zu Ihnen fam! Eie wiflen, daß 
Ihr Bruder mir den Wagen zur Bahn gefickt 
hatte, für mid) und mein Gepäck. Aber id) 
erzählte Ihnen noch nicht, wie mic) unterwegs 


eine unbezwinglihe Luft anwandelte, Die 
ftaubige, heiße Landſtraße zu verlaſſen, Ihrem 
alten Gottlieb meinen Koffer anzupertrauen 
und zu Fuß zum Haufe meines alten Freundes 
zu pilgern. Der brave Gottlieb ſah zwar auf, 
ala ob ihm mein Wunſch unbegreiflih erfchiene; 
aber er wies mir boch treulih den Meg, Der 
von der Chauſſee abbiegt, über die große 
Wieſe und dann durch ein Kornfeld führt, 

bis er nach einer Viertelſtunde Ihren ſchönen, 

fühlen Wald erreiht — — Unb feben Zie, 

Fräulein Gerda, in dieſem Kornfelde ſah ich 

dann das Geſpenſt! — Es ſah freilih gar nicht 

wie ein ſolches aus!“ unterbridt er fih felbit 

auflachenb. 

„Eondern?” fragt Gerda angjtvoll. 

„Sondern wie ein großes, fchlanfes, ſchönes 
Mädchen in einem meißen Kleive! Urplöglich, 
lautlo8 tauchte es auf bem fchmalen Pfade 
vor mir auf; in der einen Hand trug e3 einen 
Strauß von Feldblumen, in der andern hielt 
e3 Scheinbar — deutlich Tonnte ich's nicht 
erkennen, die ganze Erfcheinung dauerte auch 
feine halbe Minute — einen offenen Brief 
ober etwas Ähnliches. Sehr profaifh und 
zugleich ungewöhnlich für ein Gefpenft, was? 
Ich mar unwillfürlih fteben geblieben, um 
die liebliche Erjcheinung nicht zu ftören. Du 
erzitterte die Luft plöglid) von Glockenllängen, 
bie jedenfalls von der Welfinger Dorflirde 
herrührten. Die frommen Töne verfcheucten 
wohl den weißen Epufegeift; er fubr zufammen 
und verſchwand plößlich ſeitwärts, fo ſchnell 
und lautlos, mie er aufgetaucht! Als ich eiligft 
die Stelle erreicht, wo ich ihn foeben gejeben, 
war nicht mehr rings um mich, als die gelbe, 
raufchende Einſamkeit!“ 

Der Mann erzählt lächelnd, Beiter, ſchein⸗ 
bar gänzlich unbelümmer. Aber fein Bid 
haftet dabei forfchend auf dem Schönen, braunen 
Antlig an feiner Seite. Er fieht, wie eine 
tiefe Nöte es überflutet, fein Herz beginnt 
ftärfer zu fchlagen, und unwillkürlich jtodt er. 
Sie aber fragt baftig: „Und was geſchah 
dann?” 

„Dann Fam ich zu meinem alten Freunde, 
und er empfing mich mit offenen Armen und 
führte mich) in das liebe, gemütliche Haus mit 
den vielen Hirſchgeweihen an den Mänden, 
den grünen Kachelöfen und den altertämlichen, 


— — — — — — — 








Die Roggenmuhme. 


geichnigten Möbeln — —. Wie wir aber 
noch im allerjhönften Fragen und Erzählen 
waren, öffnete fih die Thür, und auf der 
Schwelle erſchien mein Mittagögefpenft, meine 
Roggenmuhme, im weißen Kleide, mit ben 
Felbblumen in der Hand, und mein alter 
Gerhard ergriff diefe Hand und fagte zu mir: 
‚Dies, Oswald, ift meine liebe Heine Schwefter 
Gerda, mein Gausmütterhen, mein Sonnen: 
fchein!“ 

„Und dann gab das Gefpenft Ihnen bie 
Hand und benahm ſich völlig, wie ein gefittetes 
Fräulein aus dem neungehnten Jahrhundert!” 
vollendet Gerda lähelnd. Tadelnd fährt fie 
fort: „Sie haben mir zuerft einen rechten 
Schred eingejagt; das war nicht recht bon 
Ihnen!” 

„Würden Sie denn um mid bangen, 
wenn mir ein Unglüd widerfahren follte?” 
fragt der Mann neben ihr mit einem Beben 
in der Etimme, dem er vergebens Halt zu 
gebieten verfucht. 

Sie fieht ihn freimütig an: „Gewiß!“ 
fagt fie ruhig. Dann blidt fie träumeriſch 
grabe aus und rebet leifer: „Ich möchte gern 
Sie und alle guten Menſchen glücklich fehen 
— fo glüdlich, wie ich's felber heute bin! — 
Doch bier find wir am Ziel!” unterbricht fie 
ſich felbft und zeigt auf eine Heine Anhöhe, 
die ſich vor ihnen aus dem Kornfelde erhebt. 
Ein großes Hünengrab iſt's, wie es viele hier 
zu Sande giebt. Cine verwitterte, alte Eiche 
krönt den Hügel; unter ihrem Schatten winkt 
eine grüne Raſenbank. Wie eine Dafe liegt 
das fühle, fchattige Plägchen in der gelben, 
fonnendurchglühten Fläche, die es umgiebt. 

Gerda ift vorausgeeilt, Oswald folgt ihr 
langfam. Das Blut Mopft ihm in den 
Schläfen, und ſchweratmend drüdt er einen 
Augenblid die Hand aufs Herz — tie leichten, 
frohen Gemüts ift er vor einer Woche hier 
hergefommen, zu dem alten Univerſitäts⸗ 
freunde, dem herrlichen, großen Menfchen mit 
dem reinen Kinderherzen! Aus dem Treiben 
der Großſtadt hat er fi) hinausgeflüchtet für 
eine kurze Woche in biefe köſtliche Walds 
einfamteit, ahnunglos, daß fein Geſchick ihn 
bier erwarte. Aus großen, dunklen Rätfele 
augen hat es ihn angeſchaut und fein ganzes 
Weſen und Sein in unlöglihe Bande gefchlagen. 





755 


Morgen ruft ihn die Pflicht fort, aber er 
tann, er will nicht gehen, ehe er nicht verſucht 
bat, den wundervollen Schatz zu heben, den 
das einfame Forfthaus für ihn birgt. Dft 
ſchon bat fi in den letzten Tagen das 
Geftänbnis auf feine Lippen drängen tollen. 
Und immer bat er es nicht gewagt. — Wenn 
zrifhen all bem heiten, herzlichen Geplauder 
plöglich ihr Mund verftummie und bie großen 
Augen fo meltenfern, fo ſehnſüchtig blidten, 
als fähen fie etwas, das weit, weit von ihnen 
fei — dann hatte fein Herz gebebt und feine 
Stimme gejittert. Und dann hatte fie ihn 
wieder fo ruhig fragend angefehen, und ber 
Mare Kinderblid hatte ihn verwirrt gemacht, 
ihn, den weltgewandten Mann, den erfahrenen 
Menſchenlenner! 

Geſtern Abend, als ſie alle drei im 
Mondenſchein unter den großen Buchen vor 
der Hausthür faßen, die beiden Männer 
rauchend und Jugenderinnerungen austaufchend, 
mährend bie Hunde bes Oberförſters zu 
Gerdas Füßen lagen — wie hatte fie da ernft 
und ſchweigſam bagefefien, die Hände gefaltet, 
das Köpfchen an des Bruders Schulter gelehnt! 
Und ald der Überförfter dem lauſchenden 
Freunde erzählte, wie fie feit der Eltern Tode 
ihm alles fei: die bravſte, forgfamfte Meine 
Hausfrau der Welt, die Freude, das Licht 
feines Lebens — da ftanben plöglic große 
Thränen in den wundervollen Augen, fie 
hatte ſich aufſchluchzend auf des Bruders Hand 
gebeugt und fie gefüßt, und dann ar fie 
aufgefprungen und ins Haus zurüdgeeilt. 

Und heute früh! Wie rofig, wie glücklich 
ſah fie aus, als fie die beiden Männer am 
Frühftüdtifh begrüßte! Sie huſchte hinaus, 
häuslichen Pflichten nachzugehen, und ber 
Freund fagte behäbig fhmunzelnd: „Gerda 
ift feit deiner Ankunft fo heiter, fo blühend 
wie feit Jahren nicht. Sie ließ in letzter 
Zeit öfters den Kopf ein wenig hängen; bie 
Einfamteit hier war ihr doch wohl manchmal 
zu groß. Ich bin auch um ihretwillen froh, 
daß du hier bift, mein alter Junge; fchabe, 
daß es fo bald fehon ein Ende hat — aber 
du Zommft bald mieber, gell?” Damit hatte 
ihm der prächtige, harmloſe Waldmenſch einen 
träftigen Schlag auf die Schulter verfegt und 
war bröhnenden Schrittes hinausgeeilt. 

EC 


756 


Mit Bligesfchnelle gleiten all diefe Er: 
innerungen an dem geiftigen Auge ded Mannes 
vorbei, während er langjam die mäßige Ans 
höhe emporfteigt. Gerda ſteht oben und fieht 
ihm freundlich Tächelnd entgegen; fie bat das 
weiße Tuch abgenommen und fächelt ſich 
Kühlung damit zu. Eine leichte Brife hat fich 
aufgemadt und weht das ſchwarze Loden- 
gekräufel von ihrer Etirn, unter der die dunklen 
Augen wunderſam leuchten. Der Mann, der 
jegt an ihre Eeite tritt, weiß, daß die nächſten 
Minuten über fein Geſchick entjcheiden werden. 
Trotz der unfäglichen Erregung umfaßt fein 
Auge mechaniſch alles, was ihn umgiebt — 
bis aufs Eleinfte. Noch nad langen Sahren 
wird er mit peinlicher Genauigkeit das grüne, 
Ichattige Fleckchen Erde vor fich jehen, das hohe, 
ſonnendurchglühte Korn ringsum, dort den 
langen, dunklen Streifen des Waldes am 
Horizont, und weit, meit im Oſten, funfelnd 
und fprühend im reinjten Blau, den Silber- 
jpiegel des Meeres. 

Mit einem Blick hat er das alles in fidh 
aufgenommen, da hört er ein leijes Auf- 
ſchluchzen neben ſich. „Gerda!“ ruft er tödlich 
erfhroden. Sie ift in die Aniee gefunfen, die 
gefalteten Hände hat fie aufs Herz gepreßt, 
und ihre thränenumflorten Augen haften mit 
einem unbefchreiblichen Ausdruck auf dem 
leuchtenden Meeresitreifen. 

„Ich danke dir! o, ich danke dir!” haucht 
fie, die Arme nach der fernen See augftredend. 
„Du bringft ihn mir wieder! Du giebit ihn 
mir zurüd! du liebes, fchönes Meer — o, ivie 
ich dich Tiebe! Und wie ich ihn liebe!” Ihre 
Stimm ſenkt fi, heiße Thränen fallen aus 
ihren Augen auf den Nafen nieder. 

Oswald ift hinter ihr auf die Rafenbanf 
getaumelt; ein würgender Schmerz fchnürt ihm 
die Kehle zu, kalte Schweißtropfen jtehen auf 
feiner Stirn, und feine Hände Trampfen ſich 
zujammen. 

Er bat fo wonnevoll geträumt, — jäh und 
fürchterlich ift dag Erwachen. 

Gerda hat fi erhoben und leiſe neben 
ihn geſetzt. Schüctern legt fie die warme, 
fleine Hand auf feine eisfalte Nechte, und mit 
gefenkten Augen bittet fie demütig: „Verzeihen 
Sie, daß id) fo maßlos mich gezeigt! Was 
müſſen Sie von mir denken? Es Tam. über 


Die Noggenmuhme. 


mid, ich weiß felbft nicht, wie! O, Bedenten 
Eie, was alles ih durdlebte in biefen Iangen, 
bangen Sahren! Hier war's, wo er Damals 
Abſchied von mir nahm, und beim Abjchien 
fagten wir uns, daß mir uns lieben. Am 
nächſten Morgen mußte er an Borb feines 
Schiffes. Und dann drei Sabre in fernen 
Gewäflern, in Sturm und Fieber, n Kampf 
und Not! Willen Eie, was das heißt, jem 
Liebſtes da draußen zu willen, jahrelang, auf 
dem großen, furdtbaren Weltmeer? Als er 
damals fortging, dachte ich, ich Fünnte es nicht 
ertragen. Wie oft habe ich bier geſtanden, 
und zur See binübergefhaut, unb die Hände 
gerungen und geflebt: ‚Bringe ibn mir 
wieder —.‘” 

Ihre Stimme, die zuletzt leidenſchaftlich 
erregt geklungen, bricht, und fie lehnt 
kindlich vertrauend, wie ſie's beim Bruder ge— 
wohnt, den Kopf an ihres Gefährten Schulter 
und ſchließt die Augen. 

Der Mann neben ihr ſitzt regungslos da, 
er beißt ſich die Lippen blutig, um nicht laut 
aufzuſchreien, und das Schmerzgefühl, das ibn 
erfüllt, raubt ihm faft die Befinnung. Nur 
dag eine weiß er ganz klar und wieberbolt 
fih’8 immer wieder: Gerda darf nie erfahren, 
was fie dir zu Leide getban! Kein Schatten 
fol in ihr Glück fallen — — 

„Und nun fehrt er zurüd!” fährt Gerda 
leife, mit gefchloffenen Augen fort; „in wenigen 
Tagen ift er bei mir! Grabe vor einer Woche, 
als Sie zu ung kamen“ — bier zudt Oswald 
zujammen — „hatte ich feinen Brief erhalten — 
von der legten Außenftation; heute kommt 
dag Schiff in Kiel an, und dann nimmt er 
Urlaub und geht zu meinem Bruder — —“ 

Der Mann erträgt es nicht länger; er 
Ipringt haftig auf und dreht ihr den Rüden; 
feine Augen ftarren verzweiflungsvoll ins 
Meite. Wäre Gerda nit fo völlig erfüllt 
von dem wundervollen Gefühl reden zu dürfen 
über das, was ihr ganzes Sein ausmacht, jo 
entginge ihr gewiß fein verftörtes Mefen nicht. 
Sp aber fragt fie nur, wie aus einem Traum 
ertvachend: „Was it Shen?” 

„Ich denke an Ihren Bruder!” fagt er, 
mühfam die Zähne auseinanderbringenb. 

Ein trüber Ausdrud überfliegt ihr Geficht. 
„Mein armer Bruder!” fagt fie gedankewoll. 





Die Roggenmuhme. 


„Jetzt muß er es doch erfahren! Es wird 
ihm ſchwer jallen, mich fortzugeben — Und 
doch ift die Hauptſache beim Liebbaben, daß 
man das Glüd des andern über das eigne 
ftelt — — Er wird auch glüdlih fein — 
über unfer Glüd! Und Sie, fein liebfter 
Freund, find nun mein erfter, mein einziger 
Vertrauter!” Ein warmer Schein bricht aus 
ihren Augen. 

Oswald hat fi) umgewendet und ficht fie 
an; fie ift zu jung und zu unerfahren, um 
den tiefen Leidenszug zu verſtehen, der plötzlich 
in feinem Antlig liegt. Er nimmt ihre Hand 
in die feine und fragt liebevol: „Drei Jahre 
baben Eie geſchwiegen und alles allein ge— 
tragen, Eie tapferes Kind?” 

„Sollte ih den .Bruber mit all meinen 
Qualen und Ängſten belaften?“ fragt fie 
ernfthaft zurüd. „So habe ih ihm die 
drei Jahre über feine Sorgen zu maden 
brauchen, fondern nur Freude; das war doch 
ein wenig Überwindung wert!” 

Er fieht in das junge, tapfere Gefiht und 
gelobt fi, ihrem Beifpiel zu folgen. Cie 
bat ihn gelehrt, was „die Hauptfache beim 
Liebhaben“ ift; er will ſich nicht von ihr be— 
ſchämen laſſen. Er dent an ben braven, 
ehrliden Freund, der num aud ein großes 
Liebesopfer bringen muß, und fein Herz wird 
weit. Diefe einfachen, graden Waldleute mit 
dem treuen, feſten Einn follen nie wiſſen, 
was ihn ihre Gaſtfreundſchaft gefoftet hat; 
feinen Wermutstropfen will er in ihren 
Freudenbecher gießen! Er zicht Gerda neben 
fh auf die Bank nieder und zwingt fi, 
rubig und gleihmäßig zu ſprechen. Er ſetzt 
ibr auseinander, wie fie fih mit dem Bruder 
ausfprechen, ihm alles geftehen fol, ehe ihr 
Verlobter — wie ſchwer das Mort über feine 
Lippen geht! — kommen fann. — „Gehen 
Sie jetzt gleich zu Gerhard,” bittet er; „ſagen 
Sie ihm alles, bereiten Sie ihn vor und 





767 


laſſen Sie ihm dieſe Tage über Zeit, fih 
Bineinzufinden. Wollen Sie das?“ 

Sie hat ihn mit großen Augen nachdenklich 
angefeben. „Sie haben recht!” fagt fie endlich. 
„IH will thun, was Cie mir raten. Dann 
wird fi alles zum Guten fügen!” 

„Ich aber werde Eie jetzt gleich verlaſſen,“ 
fährt Oswald fort. „Bei einer folhen Aus— 
ſprache ift jeder dritte überflüffig — ftörend. 
— Widerſprechen Sie mir nicht!” bittet er, 
ala fie Miene macht, ihn zu unterbrechen. 
„Ich gehe fofort von hier aus übers Feld 
bis zur Waldchauſſee; von ba ift mir ber 
Weg zum Bahnhof mwohlbelannt. Sie aber 
fagen meinem alten Gerhard, weshalb ich mich 
fo ohne Sang und Klang fortftehle. Es ift 
nun einmal Gottliebs Schikfal" — er zwingt 
ſich zu einem Lächeln — „daß er nur mein 
Gepäd, nicht mid; felber kutſchieren darf. 
Und nun gehen Sie, Gerda, gehen Eie zu 
Ihrem Bruder, und Gott fegne Sie!” 

Er hat fih erhoben und ftößt bie legten 
Worte haftig hervor. Mit innigem Dantes- 
bli reicht Gerda ihm beide Hände und fieht 
ahnungslos in fein blafjes Antlig. Ihre 
ganze Seele ift erfüllt von dem Gebanten 
an bie Unterredung mit ihrem Bruder — — 

Nebeneinander gehen fie beide den Abhang 
binunter; dann ſcheiden fie. Das Mädchen 
seht gebanfenvoll weiter. Da, wo der Weg 
eine Biegung madıt, wendet fie fih noch ein 
mal um und winkt ihm ftumm zu. Er über: 
windet fi, ihr freundlich, ermutigend wieder 
zuzuniden. Noch wenige Selunden, und fie 
ift verſchwunden. Die goldenen Wogen haben 
fie verfhlungen, wie einen Traum, eine Ers 
ſcheinung aus andrer Melt. Nichts ift mehr 
da, ald das raufchende Kom, bie brennende 
Sonne und ber unbarmberzige, blaue 
Himmel — 

Er aber weiß, daß er „Schmerzen tragen 
muß bis zum Tode“. 


758 


Die Koh: und Hauswirtihafts-Lehrerin. 
Nachdrud verboten. u 


Es mird über die Ausbildung der Hand: 
arbeitö«, Geiverbe- und Fortbildungsſchullehrerin 
viel debattiert und geſchrieben, und das hat ben 
erfreufichen Erfolg gehabt — nicht, die nad} biefer 
Richtung an den Staat geftellten Forderungen er: 
füllt zu ſehen, dazu gehört eine längere Zeit 
meitgehendfter Erwägungen, — wohl aber einen 
größeren Teil ber Standesangehörigen auf ſich 
aufmerffam gemacht, ihn aufgerüttelt und ihm die 
Einſicht vermittelt zu Haben, baf man zunächft ſich 
ſelbſt helfen muſſe, wenn einem geholfen werben 
fol. Man beginnt in weiteren Kreifen die alte 
Prüfungsordnung von 1885, 1886 und 1867 dem 
Geift nach aufzufaffen und auszuführen, und bie 
Gewerbe- und Fortbildungsſchullehrerin zweck 
entſprechender, einheitlicher und namentlich päba: 
gogifcher auszubilden, indem man abgegrenzte und 
verlängerte Kurſe einrichtet und bei der Aufnahme 
forfättiger auswäßlt. 

Von der Koch- und Hauswirtſchafts-Lehrerin 
und ihrer Ausbildung ſpricht man inbes entweder 
garnicht oder ſtets als von etwas Fertigem, Selbſt. 
verſtandlichem, über das nachzudenken nicht von 
Nöten ift. Und doch berricht gerade hier eine 
unheilvoile Unklarheit einerfeits und Unzufriebenheit 
mit den Leiftungen andererfeitd. 

Frau Hedwig Hehl, Berlin, gebührt das Ber: 
bienft, bie häusliche Arbeit, die lange Zeit als 
Afchenbrödel weiblicher Thätigteit galt, wieder zu 
Anfehen und Ehren gebracht, fie zu einem aus: 
gedehnten Lehrgegenftand erhoben und dadurch 
geadelt zu haben. In ihrem „AB C der Küche“ 
tritt fie bahnbrechend für die Durchgeiftigung auch 
der Heinften, aber darum nicht minder wichtigen 
Arbeiten des täglichen Lebens ein, zeigt, daß zu 
nuß: und fegenbringender Tätigkeit in Küche und 
Haus ein gebankenfofes Abgerichtetfein, ein 
mechaniſches Ausführen der nötigen Handgriffe und 
Verrichtungen nicht mehr genüge, daß vielmehr 
allem Thun, felbft dem ſcheinbar unbebeutendften, 





Überfegung, Nachdenti 
Wirkung voraufgehen 
dazu auch umfafiende 
anders bie rau im | 
gemäß erfüen fo. 
Der Lehrgegenftar 
fanden ſich die Lehr 
Frau Heyl die einfü 
richtete im alten Pr 
Schullüche und damit 
ftätte ein, die fie zu 
Caffel, fpäter auch in 
Städten nahm man 
ftanden eine Anzahl 
Geltung verſchafften, 
handenen Bedürfnis « 
ertannte bie Wichtigk 
gemäßer Ausbildung 
öffneteim November 181 
und Gewerbeſchule fi 
nur ein Seminar für 9 
fondern auch ein folches 
Lehrerinnen. Es war 
noiwendiger, als nur 
werden konnte, unabh 
private und pekuniãr 
in den Vordergrund zu 
ſachlichen Standpunkt 
Es ware verfehlt, 
in der Virtuofität in 
taffinierter und Loft! 
dafür kann man bei au 
wenn man ihrer bei 
Kochfrauen in Anfprı 
punkt liegt vielmehr 
novize für die Anford 
zu äußerfter Sparfamt 
Gewöhnung zu einfich 
wobei ber praftifche 
vermögen entividelt ı 
gefördert werden folk 
Kenntniffe und pral 
dem erzichlihen Mon 


Erwerböthätigfeit. 


denn ergiehlich Lchrenlönnen fordert eignes reiches | 
Wiſſen und Verſtehen. Die Unterweifung im 
Kochen, Baden, Einmaden, verfhiebenfter An: 
wendung, Miſchung und Konfervierung der Rahrung: 
mittel, prattifcher Verwendung von Reften u. f. m. 
muß einen breiten Raum im Lehrplan einnehmen, 
und Henntnis und Beurteilung der Rohmaterialien 
nad) Beſchaffenheit, Nährwert und Preis muß ge: 
geben und davon ausgehend bie Aufftellung, Be: 
rechnung und Ausführung von Speifefolgen für die 
verfhiedenften Lebende: und Einnafmeverhältniffe 
geübt werben. 

Um zur felbftänbigen Führung einer Häuslichteit 
oder einer Anftalt zu befähigen, dürfen Rechnen 
und Bugführung nicht fehlen, und ba bie 
Thätigteit der Kochichrerin ſich nicht nur auf das 
Hoden fondern auf auf die hauswirtſchaft⸗ 
lien Arbeiten wie Waſchen, Plätten, 
Fliden, Stopfen und ale zur Aufrechterhaltung 
ber Crbnung und Reinlichteit des Hauſes gehörenden 
Verrichtungen erftredt, find auch dieſe der Aus: 
bildung einzufügen. 

In die theoretifchen Unterweifungen find Aüchen: 
chemie, Ernährungs: und Geſundheitslehre, Schul: 
hygiene einzubeziehen und um bei Hleineren oder 
größeren Unglüdsfällen fehnelle ſachgemäße Hilfe 
leiſten zu fönnen, aud die Abfolvierung eines 
Samariterfurfud zu verlangen. Außerdem wird 
zur Bildung des Schönpeitäfinne wie zur Übung | 
von Auge und Sand, zu praktifcher Ausführung des | 
Anrihtens, Trandierens und Garnieren® 
auf dad Zeichnen Wert zu legen fein. 

In diefer Weife find die Fünftigen Lehrerinnen 
mit Wiſſen und Fertigfeiten auszurüften, die fie in | 
ausgedehntem oder beicränftem Maße ihren der: 
einftigen Schülerinnen weiter geben follen. Aber 
felbft dieſes leiſten und andere lehren Lönnen find 
zwei grundverſchiedene Dinge, deshalb ift als ı 
Hauptſache für jede Lehrthätigkeit die pädagogifche ı 
Schulung zu bezeichnen, die bie wichtigften Gebiete 
der Pſychologie, der Erzichungs: und namentlich 
ber Unterrichtöfchre zu umfaffen Hat Lehtere muß 
zunãchſt theoretiſch zum Verſtandnis gebracht und 
unter Aufficht einer tüchtigen Seminarlehrerin in 
einer Übungöfchule praktiſch geübt werben. 

Zur Erreichung des vorgeftedten Zieles bedarf 
es felbftverftänblich ſowohl einer längeren Aus 
bildungszeit — abgefürpte ober gar nach Wochen 
zähfende Ausbildungen Können nur für beftimmte 











759 


Totale Bebürfniffe im engften Rahmen und dafür 
präbeftinierte Perſönlichkeiten in Betracht kommen — 
als auch eines Schülerinmenmaterials, das beftinmte 
Vorausſehungen erfüßt. 

Der Beruf ftellt gleich hohe Anforderungen an 
den Körper wie an ben Geiſt; es ift fomit ein 
reiferes Alter für die Aufnahme in dieſen Kurfus 
zu fordern, als für Kandidatinnen andrer techniſcher 
Seminare, deren Ausbildungsziele weder fo weit⸗ 
greifende noch fo viel Umficht forbernde find. Wie 
für jede Lehrtätigkeit kann aud bier nur eine 
gebiegene, gründlihe Schul: und Allgemein: 
bildung genügen unb bie zu erfprießlicher Aus: 
übung bed Erzieherinnenberufes notwendige Geduld 
und Ausbauer, praftifh:wirtfgaftliher Sinn, ent: 
widelte® äfthetifches Gefühl und Hingebungs: 
fähigkeit an den Beruf müffen mit einem gefunden 
widerſtandsfahigen Körper verbunden fein. Das ift 
nicht fowohl im Interefie der auszubildenden 
Lehrerinnen felbft als auch von meittragendfter 
Bedeutung für die Frauenbewegung als foldhe, 
deren Erfolg mit den Leiftungen ber beruflich 
wirkenden Frauen fteht und fält. 

Wir fordern viel von ber Rod: und haus: 
wirtſchaftlichen Lehrerin — aber micht mehr, ala 
bie gebildete Frau in einem Beruf erfüllen kann, 
den fie nad Begabung und Neigung gewählt 
Hat. Das Bewußtſein, durch bie wirtfchaftlidhe 
Erziehung und Bildung bes weiblichen Gefchledhts 
mitzuarbeiten an der gefunden Entwicklung voll: 
wirtſchaftlicher und fozialer Fragen, bie Frau zu 
befähigen, Mittelpunkt des eigenen Hauſes, die 
träftig leitende oder helfende Hand in fremder 
Familie zu fein, wird ihr volfte Befriedigung 
gewähren. 

Aber nicht mur der idealen Vorzüge, die diefem 
Berufe eignen, ſondern auch der realen Außfichten, 
die er bietet, foll hier gedacht werben. Die Befoldung 
und Niteröverforgung ber Ko: und Haus: 
wirthſchafts· wie auch ber Gewerbeſchullehrerin an 
ftaatlichen oder mit Staatdunterftügung geſchaffenen 
und geführten ftädtifchen Gewerbe: und Haus: 
haltungsſchulen ift der ber feftangeftellten wiflenfchaft: 
lichen Lehrerin höherer Schulen mindeftens gleich. 
Durch bie wirtfchaftliche Gleichftellung ift auch bie 
fogiafe gegeben, und fo wird biefer Beruf den mehr 
prattiſch beanlagten gebildeten tüchtigen Frauen eine 
nad) jeder Richtung befriedigende und geficherte 
2ebenäftellung bieten. 


u 


780 


NRagbrud mit Duelenangabe erlaubt. 


* Zur Beifegung Ihrer Majeftät der Kaiferin 
Friedrich haben der Bund Deutfcher Frauenvereine, 
der Allgemeine deutſche Sehrerinnenverein, ſowie 
der Verein deutſcher Lehrerinnen in England Kränze 
geſchict. Der Kranz des Bundes beutfcher Frauen: 
vereine trägt die Inſchrift: „Ihrer Majeftät, der 
Kaiſerin Friedrich, der Hohen Befchügerin bon Frauen: 
bildung und Frauenarbeit in dankbarem Gedenken 
ehrfurchtsvoll der Bund beutfher Frauenvereine”; 
der Kranz des Aug. d. Schrerinnenvereind: „Ihrer 
Majeftät der Kaiferin Friedrich, der unvergeßlichen 
Hohen Freundin feiner Beftrebungen in bankbarer 
Verehrung der Allgemeine deutſche Lehrerinnen: 
verein“; der Rrany bed englilden Bereind 
deutſcher Lehrerinnen: „I. M. der Kaiferin Friedrich 
in Liebe und Dankbarteit ber Verein deutſcher 
Lehrerinnen in England“, 


* Die Gymnafialkurfe für Frauen zu Berlin 
eröffnen im Herbſt einen neuen Kurfus. Aufnahme⸗ 
Bedingung ift der Nachweis der vollen Bildung 
einer Höheren Maädchenſchule. Meldungen find an 
den Bertreter der beurlaubten Leiterin, Herrn 
Brofeffor Dr. Wychgram, Kgl. Auguftafchule, 
Berlin S.W., Kleinbeerenſtraße 16—19, zu richten 
(Sprechftunde 12—1). 

Einen meuen Jahrgang eröffnet aud das 
Städtifhe Mädchengymnaſium in Karlsruhe. 
Auskunft über das Gymnaſium wie über das mit 
dem Gymnaſium verbundene Internat erteilt 
Frl. Dr. Gernet, Karlsruhe i. B., Redtenbacher 
ftraße 16. 


* Der Gewerkverein der Heimarbeiterinnen 
für Stfeider- und Wäſchekonfeltion zählt zur 
Zeit in Berlin 629 Mitglieder, darunter 96 aufer: 
ordentliche. Auf die Nordgruppe entfallen 325, 
auf die Zühgruppe 108, auf die Oftgruppe 100 Mit 
glieder. In Bielefeld, Breslau und Stuttgart find 
vorbereitende Schritte zur Gründung von Orts: 
gruppen gefeheben. Der Gewerkverein, deſſen Vor: 
figende die Gräfin Vermftorff ift, hat bereits eine 
Begrabnislaſſe errichtet und ermöglicht den Mit: 








gliedern den billig 
Das Organ des | 
erfcheint zunächſt dı 
Antrag des Dr. 
Arbeiterfchuggefellie 
der Heimarbeiterir 
DVerliner Vereins n 


* Das NRigor 
Fakultät zu Berlin 
Montgomery cu 
tar orientaliſche u 
Differtation behant 
Hammurabis.“ — | 
Beatrice Edgel 
dortigen Univerfität 


* Der Berline 
haberinnen von € 
licher Bedienung 
Voſſiſchen Zeitung 
liche Polizeipraſidi 
betreffend bie Au 
Volizeiverorbnung 
Regierungsrat Dun 
mit dem Verein alle 
material von Gru 
Verein möge die 
die ſich in den Lol 
tommen ließen, ben 
der Aufforderung u 
Stellung weder in 
ſchaffen. Sollten 
dieſer Aufforderung 
das Königliche Poli 
Vermittlertongeffion 
erfannte Regierungt 
wenn bie Aufhebu 
den Proftituierten d 
geftattet, gefordert 
der Verein bie br 
Unterftühung in 
mindeften® eine Um 





Frauenleben und «Streben. 


von 1892 in Ausſicht ftellen zu bürfen. Es follten 
in Zutunft die Animier: und Sihvorſchriften nicht 
mehr ſo ſcharf durchgeführt werden und die poligei: 
liche Revifion höheren Beamten und nicht mehr, 
wie jegt, Schupleuten in Zivil übertragen werden. 
Die polizeilicherſeits notwendigen Recherchen würden 
fib in Zufunft au auf die Bars und Chanıbres 
fepardc® außdehnen. 

Ob diefe Bemühungen, fo lange noch den Zu: 
ftänden im Kellnerinnengewerbe auf anderm Wege 
fo viel Vorſchub geleiftet wird, viel Erfolg haben 
werben, bleibt abzuwarten. 


” Als erfic etatömäßige Reallehrerin ift 
Srl. Dr. Gernet an der Gymnafialabteilung ber 
hößeren Mähdenihufe in Karlsruhe angeſtellt 
worden. 


* Bier Abitnrientinnen entließ das Mädchen: 
avmnaſium in Karlsruhe. Mit ihnen beftanden 
zwei privatim vorbereitete rauen das Cramen. 
Alle ſechs werden Medizin ftudieren. 


* Zu Mannheim wird eine Oberrealſchule 
für Mädchen mit Genchmigung des großherzoolichen 
Oberſchulrats errichtet werden. Die Schule wirb 
mit ber höheren Mädchenfhule in der Form ver 
bunden werben, daß von ber vierten Klafſe an 
Paralleltlaſſen nad dem Lehrplan der Oberreal⸗ 
ſchule Hinaufgeführt werben follen. 


* Für den nadjfolgenden Aufruf Hoffen wir 
auf das rege Intereffe unſeres Leferinnenkreifes. 


Aufruf! 
An die deutſchen Zrauen! 

Am 9. Mai 1905 wird ein Jahrhundert ſich 
vollenden, feit Friedrich Schiller in voller Schaffens: 
traft vahingegangen ift. Wie fein Hundertjähriger 
Geburtötag 1859 zum nationalen Fefttag für das 
ganze deutſche Volk geworben, fo foll aud fein 
bunbertjähriger Todeötag zum denkwürdigen Weihe⸗ 
tag fich geftalten. 

Deutfche Frauen! Dem Dichter, der die höchſten 
Ideale fittliher Kraft in feinen Frauengeftalten 
verförpert hat, wollen wir frauen ein Denkmal 
errichten. 

Ein Denkmal nicht aus Marmor und Erz, ein 
Liebeswert ift «8, zu dem wir Sie einladen. Geit 
am 10. November 1859 von Major Serre durch 
die Schiller-Lotterie der große Fonds der Schiller: 
Stiftung gefehaffen wurbe, Haben ſich die Anfprüce 
an benfelben von Jahrzehnt zu Jahrzehnt gefteigert. 
Die ungeheure Enttwidlung ber Preffe hat bei dem 
Aufſchwung unferes nationalen Lebens Heerfcharen 


761 


geiftiger Arbeiter gefordert, und bie Schiller-Stiftung 
Tann die Fürforge für die bei aufreibenber geiftiger 
Arbeit invalid gewordenen Gchriftfteller und 
Schriftftellerinnen und beren Hinterbliebene nicht 
mehr allein bewältigen. 

Und fo ergeht denn die Bitte an alle deutſchen 
Frauen, ſich zu einem großen Berbande zufammen: 
zufepließen, beffen Eingelglieder an allen Drten, 
wohin unfer Aufruf gelangt, DOrtögruppen bes 
Schiller: Berbandes bilden follen. 

Der Sciller:Berband beutfcher Frauen widmet 
ſich der Aufgabe, bis zum 9. Mai 1905, dem hundert: 
jährigen Tobeötage unfere® großen nationalen 
Dichters, durch Veranftaltungen, Aufführungen, 
Sammlungen, Preisausſchreiben und freitillige 
Gaben der Schiller: Stiftung neue Mittel zuzu: 
führen. 

Friedrich Schillerd Wed: und Mahnruf glauben 
wir zu vernehmen, wenn mir Sie auffordern, 
denen hilfreiche Hand zu leihen, bie in feinem 
Geifte ſich mühen, damit „das Gute wirke, wachſe, 
fromme“. Laſſen Sie und feinem Wed: und 
Mahnruf folgen, um ben geiftigen Arbeitern im 
Sinne unferer Zeit fagen zu können: „Werft bie 
AÄngft de3 Irdiſchen von euch!" 


Der Zentral: Borftand Leipzig. 
Frau Dr. Frida Braſch. 
Frau Profeffor Dr. 9. Credner. 
Frau Dr. Henriette Goldſchmidt. 
Frl. Dr. Agnes Goſche. 
frau Dr. von Hafe. 
Frau Profeflor Dr. A. Köfter. 
Frau Kapellmeifter Profefior A. Nickiſch. 
Frau Präfident Dr. von Deplfdläger, Excellenz. 
Frau Ober Reichsanwalt Dr. Ol ſShauſen. 
Frau Profeſſor Karl Reinecke. 
Frau Baurat Dr. Thereſe Roßbach. 
Frl. Augufte Shmibt. 
Frau Profeffor Dr. Th. Schreiber. 
Frau Profeffor Dr. Meta Boltelt. 
Frau Rechtsanwalt Dr. Elfe Wildhagen. 
Frau Geh. Rat Prof. Dr. Lotte Windſcheid. 
Fe. Dr. Käthe Windſcheid. 
Frau Geheimrat Profeffor Dr. W. Wundt. 


Der Verwaltungsrat der deutſchen Schiller: 
Stiftung in Weimar begrüßt freudig dad Unter: 
nehmen beutfcher Frauen, ber Scjiller-Stiftung 
neue Mittel zuzuführen und begleitet ben Aufruf 
an bie beutfcgen Frauen mit ben beften Wünfchen 
für reichen Erfolg. 

Dr. Freiherr von Gleichen-Rußwurm, 
Vorfigender. 
Staatöminifter Dr. Rothe, Excellenz, 
Borfigender : Stellvertreter. 


ur uwzjipiysie ZUpJLENTINNEN, entſandt worden. 


* Eine Petition um Zulaffung ber Frauen 


zur Bormundihaft haben mehrere öfterreichiiche 


Frauenvereine dem Juftizminifterium eingereicht. 
Ta die Behörden häufig Schwierigfeiten haben, 


URN MI: 
Louvre, bie I 
verleiht, erbieli 
für eine Arbe 
vie et ses od 
en Suisse.“ 


geeignete Berfönlichleiten für die Uebernahme der : voller Beitrag 


— Vereine. 


Die erfte Öffentliche Lefchalle in Verlin, dic 
feiner Zeit von der „Deutichen Gefellichaft für 
Ethiſche Kultur” errichtet wurde, ift, wie wir aus 
dem 6. Sahresbericht entnebmen, in Laufe des 
Jahres 1900 von 100 000 Berfonen befucht worden, 
d. b. von 5000 mehr ald im vorangegangenen 
Jahre, trogdem die Stadt Berlin in demfelben 
Jahr vier neue ftädtifche Lefehallen eröffnet hat. 
Es beftehen in Berlin nunmehr 8 Öffentliche Leſe— 
ballen, 6 ftädtifche und zwei private. 
der Lefehalle find ftet3 gefüllt, zumeilen überfüllt; 
die Durchſchnittszahl der täglichen Beſucher war 
an Wochentagen 283, an Sonntagen 304. ln 
gefähr zwei Drittel der Befucher lafen Zeitungen 
und Zeitjchriften, ein Drittel Bücher, 35 Prozent 
der gelejenen Bücher waren wiſſenſchaftliche Werke. 
Aus diefen Zıblen gebt hervor, daß dic Yefchalle 
einerfeit3 als eine Stätte der Erholung, der 
Sammlung und edler Unterhaltung für viele gedient 
hat, denen im eigenen Heim die Gelegenheit dazu 
fehlt, außerdem aber den Benutern der willen: 
Ichaftlichen Abteilungen und der zahlreichen Fach— 
blätter Bildung, Belehrung und Förderung ihres 
Erwerbslebens gebracht hat. Eine wichtige Neuerung 
ift im Laufe dieſes Jahres eingeführt worden. 
Seit dem April bat die Verwaltung begonnen, 
auch die teilmeife Benutung von Büchern außer: 
halb der Lefehalle zu geftatten, und zwar find 
hauptfächlich wiſſenſchaftliche Merke dazıı nemähtt 


Die Räume 


angeſtellten 


— 


| 


geben werden 
anftaltete die V 
baltungsabenbe, 
mufilalifchen ur 
wurde. 


Der „Schw 
entfaltet, wie d 
eine äußerft viel 
vermittlung mun 
1764 Stellenoff 
alle Arten vor 
in 
Berichtsjahres 1 
833 durch ſei 
Erkundigungen 
746 Antworten 
zügliche, teils bef 
der Generalverſo 
das 10jährige 
des Vereins an 
Vermittlung die 
und dieſelbe jeii 
eine Brämie vor 
5 Jahren verbdı 
235 Fr. für Die 
Klinik des Bere 
136  Berfonen 


mubsalban an.„«“!R. 





763 


Hunger. Von Clifabeth Dauthendeh. (Scufter ' fih in Taten und Wirtfichteiten umfepen lichen. 


und Loeffler. Berlin 1901.) 

In einer Art modernen Märhenftild wird und 
die Gefchichte zweier Frauenfeelen erzählt, die am 
Mangel ded Einen, was not thut — der Liebe — 
zu Grunde gehen. Wie in ihrem Buch „Das neue 
Weib und feine Liebe” vertritt die Autorin auch 
Hier bie Anficht, daß es den Mann nicht giebt, ber 
die tmiürbige Ergänzung der feelifh zarteren und 
feineren Frau wäre. Daß er für fie nit reif ift 
— baß er ihrem Hunger Steine ftatt Brot bietet. 
Es ift hier nicht der Ort, auf biefe Behauptung 
näher einzugeben. Möge man darüber benfen, wie 
man wolle — fidjer ift eins: fügt man ſich be: 
rufen zu fämpfen, fo fol man zuvor feine Waffen 
prüfen. Blinde Dreinfauen tbut oft mehr Schaben 
als Nugen. Ich Habe bie vollfte Sympathie für 
jede imputfive Xußerung eines warmen, lebendigen 

verzend. Aber wer mit feinen Teibenfgaftlicen 

lagen und Anlagen ernft genommen fein toill, 
muß fi vor allzuviel Übertreibung, Unwahrſchein⸗ 
ligpleit und Ungerechtigteit hüten. Daß die Heldin 
des vorliegenden Buches auöfgliehli nur von den 
alfergemeinften Schmugnaturen umgeben fein foll 
— daß bie vier Männer, die einen Pla in ihrem 
2eben haben, alle geradezu Außbünde von Robeit 
und Riebertradht fein follen —, daß fie feldft in 
ſoich fhauberhaften Sumpf zu einem Gefchöpf von 
ſoich Leuchtender Reinheit erblüht, das freilich neben 
bei eine ungemein ſtark entwwidelte Sinnlichkeit zeigt 
— das alles klingt denn doch ein bißchen gar zu 
fabelhaft. Die aufbringliche Abficht verftimmt fehr. 
Auch würde ein einfadherer, Harerer, nicht fo ganz 
und gar an dem arg mißbrauchten Niekiche ver: 
bildeter Stil, etwas weniger Schwüle und Schwilftig- 
feit und bofteriiche Ayrit dem Büdjlein fehr zu 
mwünfchen fein. 





Liebe. Bon Mathieu Shwann (Eugen Diederichs 
Verlag. Leipzig 1901.) 

Dap alle Männer — in der Theorie wenigftend — 
nicht ganz fo f&hlimm und Bartherzig find, wie 
Elifabeth Dauthendey es uns glauben machen lafjen 
till — nicht ganz unfähig aller feinern und kom: 
pligierteren Seclenregungen, zeigt das borliegenbe 
populär-philofophiige Werk, das in einer Reihe 
von Iofe aneinander gefügten pfychologiſchen Stigen 
und ziemlich lang ausgejponnenen Betrachtungen 
das Weſen der wahren Siebe in jeberfei Geftalt 
darthun will. Man ift durchaus einverftanden mit 
dem ichönen und guten Grundgedanten bed Ber: 
faflerd; ab und zu taucht vielleicht der Gebanfe 
auf, wie ſchön es fein müßte, wenn alle die Worte 


Das Buch ift übrigens von dem — in dieſer Hinſicht 
rühmlichft befannten — Berlag Diederichs äußerft 
geihmadvoll ausgeftattet. 


Die Halben. Roman von Emil Jeanot Frei: 
here von Grotthuß. (Greiner u. Pfeiffer. Stutt: 
gart 1901.) 

Der Kampf gegen Lüge und Vorurteil — gegen 
Feigheit und Blindgeit — gegen alle Haldheit im 
Menden und in der menſchlichen Geſellſchaft — 
die Thema wird immer intereffteren, weil es nie 
erfchöpft wird. Der Kampf wird ja immer ein 
unaußgefochtener bleiben. Um fo ernfthafter wenbet 
fi} die Spmpathie benen zu, bie biefen enbfofen 
Kampf auf irgend eine Weile aufnehmen. Und 
diefe ernfthafte Sympathie muß man aud der 
ehrlichen und guten Meinung des Verfaſſers ent: 
gegenbringen. Im übrigen ift der Roman als 
Kunftwert und ald Tendenzroman nicht eben geglüdt. 
Die Figur des Gelden bleibt dem Leſer fremd und 
unglaubhaft. Cr ift wahr und ehrenhaft und ver: 
abfäumt die nädjfte, natüclichfte Prliht — feiner 
Braut und deren Vater feine Vergangenheit Har: 
zulegen. Cr ift Mug und enorgiſch und glaubt 
allen Ernfted mit einem Nomitee, wie ter Ber: 
faffer e8 fehildert — mit Karifaturen — feine 
hochſtrebenden Pläne für ſoziale und geiftige Reform 
verwirklichen zu Fönnen. Das find unlößbare 
Widerfprüde. Auch mit dem feltiam taftenden 
Ghriftentum des Helden wiffen wir nicht? anzu 
fangen. Am beften gezeichnet unter all dieſen 
Menichen, bie eniweder ziemlich blutlos oder als 
Übertreibungen wirken, ift Klara, die Braut bed 
‚Helden, in ihrer Großftabtpflangennatur. G. N. 


„Rechtsbücher für dad deutfche Volk’. Her: 
ausgegeben von Dr. jur. NarieHafchke. 2. Band. 
Die Soungeerziehung nad) der im Anfchluffe an 
dad Bürgerliche Geſetzoͤuch erfolgten Neuregelung 
burdh bie Sandeögefege. Bon Dr. Franz v. Eiözt, 
Brofeffor, und Frieda Duenfing, stud. jur. 
(Berlin 1901, Drud unb Berlag von E. Ebering) 
Der 2. Band der von Dr. jur. Marie Rafehte 
herausgegebenen Rechtöbücher, die als Beilage zu 
der von ihr geleiteten „Jeitſchrift für populäre 
Rechis lunde · erſcheinen, bietet in ber Arbeit von 
Profeſſor dv. Liszi und Frieda Duenfing einen Bei: 
trag von außerorbentlicher aktueller Bedeutung. 
Die fehr Mare und überfichtliche Anordnung bed 
Stoffes macht die Schrift auch für den Laien ver 
ftändlich. 


meinen. Aber fie können die Verantwortung für 
ihr Handeln nicht frei und ftolz auf ſich nehmen, 
fie find abhängig von den Menſchen, unter denen 
fie leben müſſen, fie müfjen verbergen, verichweigen, 
heucheln. Und bad Heucheln hilft ihnen nichte. 
Das Alttagsleben ift ſtärker als ſie; Richard 
Volkmar hat ſich ſelbſt die Möglichkeit abgeſchnitten, 
ſeine beſte Kraft, das, aus dem er fein Recht 
zur Überſchreitung toter Geſetzze ableitete, im Leben 
zur GGeltung zu bringen. Der Kampi, den er auf: 
genommen, gebt über feine Kraft; fein Weib Ticht 
es und verläßt ibn, um ibm den Weg in die Ge: 
ſellſchaſt zurüd freizumaden. Ihre That wird 
zugleich eine innere Erlöfung für in. Zcin Leben 
Ichrt ibn, daß er mit dem Anfpruch an größere 
perfönliche ‚zreibeit das Recht verwirkte, ein geiftiger 
Führer zu fein. Tas ift der Gang und bie 
Motivierung der inneren Entwicklung. Das 
äußere Tineinandergreifen des Geſchehens ift freilich 
nicht immer ganz geglüdt. 


„zer Tom zu Königöberg” Ein Tentmal 
der geichichtlichen Entmidlung Altpreußend von 
v. Froſt, Nönigöberg (Verlag von Bernb. Teichert). 
Tie febr verdienftvolle Arbeit unirer einbeimiichen 
Echrijtitellerin führt den Yeler an der Dand ber 
(Heichichte des alten Tomes in Die intereilante 
(GGeſchichte des Preußenlandes cin. Tie Ur— 
bevölferung mit ihren heidniichen (Sebräuchen, die 
Kroberung des Landes durch den Teutichen Urden, 
die Erbauung der Burgen und ZSchlöjier, die 
Antiedlung der Nitter auf der Höbe Turwungfte, 
dem jegigen Nönigeberg, bildet die Kinleitung, es 


Berfaflerin mi: 
Tom ein Tea 
Chriſtentums, 
und nationalen 
bald 600 Ja 
geftattete Wii 
des jehigen C 
Borgins einge 
Zeile feine? 

geit und bie 
Herzogs Albre 
dad Bud. Hi 
itellung verbin 
Heinen Schrif 
Buch außerorde 
ibm an zablrei 


Briefe ar 
Nlara Billcı 
und Yeipzig 1% 

Man darf fi 
der veritorbene 
dieſe Hinterlaſſ 
friichen, freien 
geben. Tieie 
Zpanien werde 
ibrer Unmittelb 
einer durch ihr 
ſeele ſind auch 
Jahrzehnte zur 
aegenmwärtig. 1 
Bud! 





“ “ 
hygienisches. 

Fin guter Rat für Magenleidende: Ein 
Arzt äußerte kürzlich: Ach traf wiederholt Patienten, 
welche ſich die ſchwerſten Magenübel, wie Krebs, 
Geſchwür u. ſ. w. u. ſ. w. eingebildet hatten, und 
heilte ſie einfach dadurch, daß ich fie zum — Yahn: 
arzt ſchickte, ihre zähne in Ordnung bringen ließ 
und ihnen dann eine gründliche Mundpilege mittels 


werden. 


Wir 
gegen Magenle 
nur, daß Diele 
Zähne bervorg: 
halb jolgerichti 
durh eine ve 
Wichtig iſt, dal 
und mit einer a 
werde. Tie i 





Rleine Mitteilungen. 


Die Stellenvermittiung des 
deutichen Lehre: 


rinnenvereing wird mit dem 1. DE 


Allgemeinen 


tober ihre Zentrale von Yeipzig, 
Hoheſtr. 35, nah Berlin W., 
Gulmitr. 5, verlegen. 
felben Räumen wird der A: 


In ben: 


gemeine deutſche Zebrerinnenverein _ 


jein Bureau einrichten. 


age 


Ill. Tie Berarbeitung der 
Rohnaphtha auf veredeltes 
Heilöl. Gortſchungy Uns inter- 
eſſiert hier das ſchwere Ol, das als 
Träger der durch die Deſtillation 


Kleine Mitteilungen. — Anzeigen. 


765 


Allgemeiner deutscher Prauenverein. 





Programm 


21. Generalverf ammlung 


und bes 
damit verbundenen Irauentages 
som 29, September bis 2. Oktober 1901 
in Eiſenuch. 


Ale Sitzungen und Berfammiungen finden im Saale ber 


„Erholung‘‘ Ratt und find öffentlic. 


Sonntag, den 29. September, abends 8 Ahr: 


Vegrüßung der Gäfte und zwangloſes, gefelliges Berfimmenfein. 


fonzentrierten ſpezifiſchen Seil: - 


wirkung, wie Jäger durd) au®: 
gedehnte Berfuche feftitelite, in 
feiner andern Rohnaphtha cent: 
halten ift. 
ferner, daß dieſes Öl, nachdem 
nahezu 60 %/, anderer Beltand: 
teile ausgeſchieden, die berühmte 
ſtark fchmerzftillende Heilkraft in 
weit intenfiverer und wirkſamerer 
Form entbielt, wie er urfprünglich 
erwartet batte. Seine in großem 
Maßſtabe bei der eingeborenen 
Bevölferung ausgeführten Ber 
fuche hatten fo glänzende Erfolge, 
daß die Yeidenden bald von weit 
und breit  zulammenftrömten. 
Aber Jäger begnügte ſich damit 
nob nicht! Er wollte ein 
pharmazeutiſches Produkt ſchaffen, 
das allen an ein ſolches zu 
ſtellenden Forderungen voll ent 


Jäger, konſtatierte 


ſprach und das ſelbſt bei offenen 
Wunden ohne Bedenken angewendet 


werden konnte. Nach langwierigen 


Verſuchen, die auf Veredelung 
des Dles gerichtet waren, fand er 


ein Verfahren, welches das DI 
einem gründlichen Reinigung: 
prozejle unterwirft. Dieſes Ber: 
fahren ift Jägers eigenfte Er- 
findung. Eine Befchreibung bee: 
felben müſſen wir uns verfagen, 
da heute ſchon verschiedene aus 
Betroleum: und WVaſelinerück— 
ftänden hergeftellte, dem Naftalan 
zwar äußerlich ähnliche, ſonſt 
aber wertloſe Schmieren als 
„Naftalan:Erfaß” in den Handel 
gebradht werden. Diefe Nach: 
abmungen find billig und fchlecht, 
es kann daher vor ihrem Gebrauche 
nur dringend gewarnt werben. 


We De ı 


[I 


1. 
3. 


. Bericht von Arüulein Anna 


. Wahl der Kaſſenreviſorinnen. 


. Bericht Über bie Berliner Hauspflege. 
e Kafieubericht, erftattet duch die Kaffiererin Fräulein 
. Bericht der Kaflenreviforinnen und Erteilung ber Decharge durch die Nerfammlung. 
. Wahl tes Xoritandes. 


2outag, den 30. September, morgens 9'/, Ahr: 


. Beridt über die zweijdhrige Wirkſamkeit deö Vereins (Oktober 1599—1901), er: 


ftattet durch die Vorfigende: Fräulein Augnfte Schmidt, Veipzig. 


. Verichte zweier Urtsgruppen Über ihre Rechtsſchutſtellen: 


a) Hamburg, Frau Julie Siabotn. 
b) Frankfurt a. M., Fräulein Marie Bfungft 


. Referat von Fräulein Lina Helm, Nurnberg: „Über Gründung von Heimftätten 


iur Förderung der —— 
lum über den „Verein zur Förderung des Frauen⸗ 
erwerbs durch Obſt- und Warıenbau.” 


Dienstag, den 1. Oktober, morgens 9', Ahr: 


. Antrag des Vorftantes über Anderung des 1. Abfchnittes von K 2% der Statuten, 


An Stelle der jegigen ‚yaflung fou es beißen: 


& 2a. 

Befreiung der Berufsarbeit der Frau von allen ihrer Entfaltung entgegens 
ftedenben Hinderniſſen. 

br Belebung des Intereſſes fir hauswirtſchaftliche und gewerbliche, wiifens 
fbaftliide und kinftlerifhe Ausbildung des weiblichen Geſchlechtes. 

e) Förderung der thätigen Anteilnahme an den kulturellen und fozialen 
Arbeiten unfrer zeit. 

d) Forderung der Rechte der Frau im privaten und Öffentliben Neben. 


. Antrag des Boritandes und der Ortsgruppe Frankfurt a. M.: 


„Tie Kaſſenreviſorinnen find In der vorhergehenden (eneralverfammlung 
zu wiblen und follen ibr Amt ver der nädften Generalverfammlung 
verfehden. Es follen zumeift Leipziger Mitglieder zu diefem Amte 
gewählt werden.” 

Vortrag von Frau Elsbeth KUrnkenberg: „Anitation in der Frauenbeivegung“. 


Mittwoch, den 2. OfXtoder, morgens 9',, Ahr. 


(Abteilung des Berliner Frauenvereins) 
Johannes Brandftetter. 


Verſammlungen des Frauentages: 
Montag, den 30. September, abends 7'/, Ahr: 


. Begrüßung durch den Herrn Dberbürgermeifter Dr. won Fewſon. 
. Xortrag von 
. Vortrag von Frau Marie Het, Tilfit: „Die Frau in fommunalen Amtern“. 


rau Gelene von Forfter, Nürnberg: „Arauenbeiwegung”. 


Dienstag, den 1. Okttober, abends 7'/, Ahr: 


. Vortrag von Fräulein Alice Salomon, Berlin: „Ronfumentenmoral und Käufes 


rinnenvereine“. 


. Vortrag von Fraulein Bertrud Bäumer, Berlin: „Moderne Erziehungsprobleme“. 


Mittwoch, den 2. Oftoßer, nachmittags 4'/, Ahr: 


— von Fräulein Vertha Pappenheim, Frankfurt a. M.: „Zur Sittlich- 
leitsfrage“. 

Vortrag von Frau Marie Stritt, Dresden: „Die deutiſchen Vereinsgeſeze und 
die rauen“. 


Der Borflaud Des Allgemeinen dentſchen Frauenvereins. 
Augufte Schmidt. Denriette Goldihmidt. Delene Lange. Jobanna Brandfletter. 


Emilienftraße 4, und 


‚ Dr. Rätbe Windfcheid. Lonife Pace. Marie Bet. Belene von Sorfter. 


Nah der Mitteilung des Ortsausſchuſſes haben Iczplein A. Wünſchmann, 
räulein A. Roßhirt, Emilienſtraße 11, gütigft die Ber» 


« mittelung von Wohnungen übernommen. 





Anzeigen. 7167 


» # W. Moeser Buchhandlung, Berlin. + + 


Demnächst erscheint: 


Handbuch der Hrauenbewegung 


herausgegeben von 


Helene Lange und Gertrud Bäumer. 


Mitarbeiter: 


Für Deutschland: Alice Salomon, Marie Stritt, Anna Pappritz, Ottilie Hoffmann, 
Dr. Robert Wilbrandt, Lisbeth Wilbrandt. 


Für das Ausland: Emilie Benz, Marie Bessmertny, Ersilia Majus Bronzini, 
Bice Cammeo, Maria Cederschiold, Auguste Fickert, Kirstine Frederiksen, 
J. Gatti de Gamond, Alexandra Gripenberg, Marianne Hainisch, Anna 
Hierta-Retzius, Martina Kramers, Gina Krog, Jane Scherzer, Martha 
Strinz, Dr. phil. Caroline Michaelis de Vasconcellos, Professor Dr. 
Wychgram u. a. 





— — 0 — — -—_— 


Die G6eschichte der Brauenbewegung in den Kulturländern. 
Die Geschichte der Brauenbewegung und der sozialen Prauenthäfigkeit 
in Deutschland auf ihren einzelnen Gebieten. 
der Stand der Prauenbildung in den Kulturländern. 
Die deutsche Frau im Beruf. 


Jeder ca. 20—25 Bogen starke Band ist einzeln käuflich. 
4 — 


Das vorliegende Buch ist auf deutschem Boden der erste Versuch, eine Über- 
sicht über das ganze Gebiet der Fragen und Bestrebungen zu geben, die man in 
den Namen Frauenfrage und Frauenbewegung zusammenfasst. Es soll angesichts 
der grossen Unkenntnis, die in weiten und einflussreichen Kreisen über Ursprung, 
Ziele, Umfang und Bedeutung der Frauenbewegung herrscht, Aussenstehenden die 
Möglichkeit geben, sich an der Hand einer objektiven, wissenschaftlichen Darstellung 
über Geschichte und Stand der Frauenbewegung eingehend zu orientieren. Es soll 
allen, die in der Frauenbewegung arbeiten, zu einem gründlichen Studium der ein- 
schlägigen Fragen und der in Betracht kommenden Arbeitsgebiete, sowohl in Bezug 
auf Deutschland als auf das Ausland, die Hand bieten. Die Herausgeberinnen 
hoffen damit einem Bedürfnis entgegenzukommen, das weder die propagandistische 
Litteratur, noch die wissenschaftlichen Darstellungen ‘der Frauenbewegung durch 
Aussenstehende befriedigen können. 


Der Verlag wird die Ausstattung des Werkes in jeder Weise würdig und 
gediegen gestalten. 





768 Anzeigen. 


in der Wärme zu verlieren. Pariser Weltausstellung 1900 
Aud bier kam Jäger hi —* Von der Internationalen Jury wurden den 
langtierigen und mannigfaden Pi P} 
Zerfuchen und Berbefferungen Singer Nähmaschinen 


zum Ziele. Scliehlic gelang 


, dem Dfe bi 
Son hut 8 Frogent einer eigen GRAND PRIX 


H e . f höchste Preis der Ausflellung, guerfannt. 
„artigen Seifenmaffe bie getwünfchte der 
* ur Die Nät ſchi der Su €o. für den familien» 
Ronfiftenz zu geben, und bamit | — Mniten [SE CURLU Amedt ner art 
war nach einer zehnjährigen, mühe: ' verdanten ihren Beltruf ber mujtergiltinen Ronferuftion, 
vollen und zielbewußten Arbeit das vorügliten a und — —V weige 
on jeher alle deren Sabritate aussen 
Ba Pure .. Fe KRoftenfreier Unterricht in d. modernen Kunftftiderel. 
ſich in ber Fabrik eine große Singer @s. Nähmafdinen Act. Geſ. Hamburg. 


Anlage zur Herftellung von Zint: 
blechdojen und stiften zum Wer- 
fande des fertigen Produkte be: 
findet, fo glauben wir in Kürze 
alles erwähnt und damit den 
geneigten Lejer mit ber Geſchichte 
und Entftchung des Naftalan, 
das ihm ein treuer nie fehlender 


Berlin, Kronenstr. II = Lalpzig 


States Mädchengymnasium 
und Internat, Karlsruhe. 





Hausfreund werben foll, genügend Schulgeld S1 Mk. Jährl. Pensionspreis für Internat 600 Mk. Jährl. 
befannt gemacht zu haben, um Auskunft: Frl. Dr. Gernet, Karlsruhe i. B., Redtenbacherstr. 16. 
ihm Vertrauen zu bemfelben ein: 
zuflößen. Gortſehung folgt.) 

* 

Driginalrezept.. Aal in Ka ser W helms-Spende, 
Dillfauce: Kohdauer 30 Mi: | | Allgemeine Bentfge Stiftung für Allers · Renlen · und KapitalYerhärrung, 
men. 0 Benfonen. 11 I | | ne eh Tan Cap vr 
mittelgroße Aale werben enthäutel, | | je's Mar, Die jr Zeit in Betichiger Anjaht gemagt werben fonnen. 
auägenommen, in  fingerlange Auskunft erteilt und Prudifaden verfendet 
Stüde geſchnitten und in Saly- Die Direktion, Berlin W., Mauerstrasse No. 85. 
waſſer mit 1 SBeterfilientourzel, 

1 Mohrrübe, I Bündel Bohnen» 
traut und Did 15 Minuten 8 goldene Medalllen. 
langfam gefocht. Unterbejien 


hat man 60 g Butter mit 50 g Wichtig für jede Mutter 
Meht gelb gedämpft, giebt "/m 1 ist der 
Milchthermoph« 


füße Sahne und fo viel Fiſch 
wafier dazu, daß es eine runde, zum vielstündigen Warmhalten der —A sine Feuer, 


fänige Sauce wird. Man fügt 





u fü nach Untersuchungen des Director: 
Salz, Pfeffer, 1%, Theelöffel Hamburg, Professor Dr. Dunbar, die in Ye —F 

Maggitwürze, den Saft einer Bakterien vollständig ahgeiötet werden, und die Mitch 

halben Gitrone und 2 Eßloffel Stets warme Milch zur Hand, in der Nacht, im Kinderwagen u. auf Reisen. 

Kingetadien Tg ak u Zu haben in allen besseren Hans- u. Küchengen ‚Geschäften. 
(ale in die Tilfauce, läßt fie - 

noch einige Minuten darin ziehen, Deutsche Thermophor - Aktiengesellschaft 





aber nicht mehr lochen und richtet Berlin 8.W. 


fie dann an. Mo. BD. Prospekte gratis und frank: 


Bezugsbeöingungen. 

„Die £ran“ kaun durd jede Buchhandlung im In- und Anslande oder durch 

die Poſt (Boftzeitungslifte Nr. 2586) bezogen werden. Preis pro Quartal 2 TUR, 

ferner direkt von der Expedition der „Frau“ (Berlag W. Moeſer Bud- 

handlung, Berlin S. 14, Stallihreiberfiraße 34—35). Preis pro Quartal im 
Anland 2,30 Mk. nad; dem Husland 2,50 IHR. 


Alle für Die Monatsſchrift beſtimmten Sendungen ne Beifil ung 
eines Namens an die Redaktion der „Frau, Berlin 8.14, $| —X erfirake 
zu adreflieren. 


Unverlangt eingefandten Manuſkripten if das nötige Rüdporte 
beignlegen, da andernfalls eine Rückſendung nicht erfolgt. 


Werantmortig für die Mevatrion: Gelens Lange, Berlin. — Berlag: M Mosfer Bughanblung, Berlin & 
ED. Noefer Vugdruderei, Berlin 8.