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—
Die ran
Monatsfärrift für das gefnnte Franenleben |
umferer. Beit
Her ausgegeben
Melene ECunge
Achter Jahrgang. 1900-1901
Berlin
Verlag: W. Moeſer Buchhandlung
Siauicreiber⸗ Straße 34. 35.
1901.
Inhalt des achten Jahrganges.
Abhunndlungen und Schilderungen.
Auerswald, X. von. Die Ausftellung des Vereins Berliner Künftlerinnen
Bäumer, Gertrud. Moderne Yebensprogramme. I. Das dritte Reich
” ” n ” II. Deutſcher Glaube
Politik und Frauenbewegung
„ Padagogiſche Zeit: und Strätieggen
Beßinertuy, M. Cin Gymnaſium für Bauernmädden in Nufland .
Boyrich, Karl. Aus der Berliner Koftümfchneideri . . oo.
Bruunemann, Anna. George Sand und ihre Bedeutung für Die Kravenbeivegung
Pi P Die Frau im Spiegel der modernen franzöſiſchen Yitteratur
Ghriftaller, Helene. Ein Kapitel zur Kindererziehung
Conrad, Elfe. Hauswirtſchaftliche Unterweiſung armer Mädchen in Deuiſchland
Ebner-Eſchenbach, Marie von. Gouvernantenbrieie .
Edart, Ilſe. Der Mönd von Heiſterbach . oo.
” n Wlerlei Charakteriftiiches zum Fortſchritt der Zrauenbeiregung
Ernſt, Anna. Ausſchluß der Yehrerin aus der Voltsſchuloberllaſſe?
" " Zur Kriminalität der Geſchlechter
Floriant, ©. de. Arauenirage in Indien. 1b
Goetze, Anna. Die neue fünjtlerijhe Bewegung .
kt von Adele Pohl
Pi Pi} Architektur und Innendekoration
Groening, A. Die Laeisz a —
Hausmanun, Dr. S. Die Beſtimmungen über das Univerſitätoſtudium der Frauen in
Deutſchland, I
Heilborn, Eruſt. Les vierges fortıs .
rreich- Ungarn und in ber Schweig . . 350,
eene
Wilbraudt, Dr. Robert. Die Frauen und der Getreibegoll . . 2 2.2.2020. 40%
n n ” Hausinduftriele Frauenarbet . . . ......... 453. 538
Wilmerödoerffer, A. Ruskin und die Fraueee. 2
Wolf, Fr. Bodenrefom. . . . nn BR6
” m Staatlihe Wohnungafrforge in 1 Preußen ... nn. 487
Zimmer,‘ Profefior Dr. Das Tüchterheim „Comeniushaus” . . . .......... 416
Bingrnphieen und Iharakteriftiken.
Bäumer, Gertrud. Königin Victoria von England . . 2. 2 nn nn nn. 328
Bouffet, Alice. Mary Somerville. (Mit Portrait) . . 2 2 22m nn nn. 669
Ganth, Minna. Celbftbiographie. Überfegt von E. Etine. (Mit Portrait). . . . 383
Freudenberg, Ika. Marie Stritt. (Mit Portrait) . . 2 2222222. 419
Gottheiner, Elifabeth. Mary Aſtel3500
Landsberg, Alice. Profeſſor Carl Goldbed. . . 2 2. 2 2 2 2m.
Zange, Helene. Auf vorgeihobenem Poſten. (Mit Portrait)... 2 2220.20. 680
” n Kaiſerin Friedrich ẽcẽ. 765
Nacrup, Carl. Ellen Key. Überſetzt von Luiſe Weif338
Raſſow, Maria. Fredrika Bremer. (Mit Portrait). . . . . nn TA
Stavenhagen, W., Hauptmann a. D. Cine Frau als Mittärfchuittllerin. 200
Vely, E. Lina Morgenſtern und die Berliner Volkoküchen. (Mit Portrait) . . . . 108
Romans, Moucellen und Skizjjen.
Auerswald, A. von. Einſamleitt13463. *
n nm Brüblingsgefdichte . 1F
Brauer, Frieda. Drei Monate Kündigungsfrrſt26091
Canth, Marie. Blinde Klippen. Überſetzt von E. Stine . . V. 82. 1690
Chriſtaller, Helene. Stärker als der Td. 429;
Dornau, C. von. Die Roggenmuhmmeee...753
Faltowst. Mitjka — der Ausreißer. Überſetzt von M. Swerd43
Foley, Charles. Die Blumenſchlacht. Überſetzt von Wilhelm Thal. 2. urd
Fromm, A. Um einen Kopf Blumentoll . . 2 2 222. 15
Henry: Moor, 8. Ein falomonijhes Urteil. . oo 2 on nn. BR
Hoffmann, Mar. Hans, unjer Dolitiree ZRH
Meinhardt, Adalbert. Stella's Kantelmur. . FE 334
Müller-Riga, Luiſe. Ein Hodzitstag . 777
VI
Nouhuys, W. G. van. Tagesanbruch. Überſetzt von R.Speyer
Rex, Ina. Unter fremden Leuten .
Schanz, Frida. Lisbets Schuhe ..
Siewert, Eliſabeth. An der Kindheit Grenze .
Bely, E Der Eniiee . > > m on nn... 526. 600.
Biered, Erna. MWebermeifter Rotter .
Winkler, Paula. Der Heine Andreas.
GBedirhte ır.
Ed, Miriam. Sprüde .
Flosky, Margarete. Trauermarſch
Fuchs⸗-Nordhoff, Felix von. Es iſt zu ſpät
Janitſchek, Maria. Frieden
Krukenberg, Elsbeth. Gebenfblatt.
L. H. Verſöhnung.
Lobſien, Wilhelm Troſt.
Du biſt bei mir .
Matthey, Maja. Lebenzbild
Roland, Emil (Emmi Lewald). Gedichte .
Schanz, Frida, An das Neue Jahr .
Schettler, Paul. Weihnadt . ..
Stern, Maurice von. Ankunft des Morgens
„ „ » Mondnacht am Zugerfee
Thielert, Arthur. Das Buch der Weisheit .
Ermerbsthütigkbeit Der Fran.
Chemiferinnen in der Zuderinduftrie. Von Hildegard Jacobi.
„Geſellſchaftshilfe“, Die. Bon M. Beßmertny
Handel und Gewerbe, rauen im . ur
Heilgymnaftif und Maflage, Erſte haut sfmige ern in Kiel a Von
Amalie Sunk . on
Koch⸗ und Hauswirtſchafts⸗ Lehrerin, Die en
Kunſt- und Hansweberei, Die neue Lehranftalt in Kiel ir Don Hildegard Jacobi
Milhwirtichaftliches Lehr-Inſtitut. Von Hildegard Jacobi .
Webeichule, In der höheren. Von Erich Stoboy .
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121
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355
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643
342
373
118
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158
249
629
436
—FrauenIchen und --Streben.
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Frnurnurereine.
Seite u 119. 18%
Für Tonns und Inmtilir.
BDiüũncher ſchuu.
4.
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Seite 50. 12. 186
Kleine Mitteilmigen.
Seite 2>1 518.381. 48. Sl. eh
Anırigen.
128. 1eo— 1, SIS-
1704. F61-
Zeite #161. 125 SE 4 HS
510.
3. Bocier Budhdrunferei, Derlm &
2 National oder Anternational.
Und was es ſonſt noch charakterifierte: es war durch und durch fpontan.
Spontan war auch der Siegesjubel von 1870/71, wenn auch die mehr realen
Intereſſen und Erfolge ihm eine andere Färbung verliehen.
Diefen fpontanen Charakter Hat unjer Nationalgefühl, das ſich allmählich in
„Patriotismus“ ummandelte, mehr und mehr verloren. Der Patriotismus wirb
offiziell geaicht, in Schulen und Kafernen eingebrilt, feine Pflege durch Erlaſſe
befohlen, und jo erhält er, wie alles bei äußerem Zwang, einen verdroffenen Charafter.
Die Lehrer ftöhnen über die ihnen aufoktroyierten patriotichen Reben, und die Schul:
jungen auf der legten Bank fpielen während des „Aktus“ Sechsundſechzig. Und wie
jebr der Patriotismus die Fühlung mit dem Nationalgefühl verloren bat, das hat
das Verſagen des deutjchen Volks bei der Goethefeier gezeigt.
Spontan trat dagegen der Internationaliamus hervor, und man hat eine Weile
geglaubt, in ihm das Größere, Umfaflenvere, höhere Willensimpulfe Gebende jehen
zu dürfen. Liebäugelten doch ſchon unfere Klajfifer mit dem „Kosmopoliten“.
Auch die deutiche Frauenbeivegung bat dieſe Entwidlung vom Nationalismus
zum Internationalismus mitgemacht, und es verlohnt fich wohl, diefer Thatjache eine
Heine Betrachtung Zu widmen. |
Luiſe Otto ſteht durchaus auf dem Boden des nationalen Empfindens der
vierziger und fünfziger Sabre. Selbſt wenn ihr Blid über das Nationalheiligtum
hinaus ſich auf ein „Eden.der Menfchbeit” Heftet, jo trägt dieſes Eden das charafte-
tiftifche Gepräge deutichen Gemützlebend. Es ift der weibliche Ausdrud für den
Kosmopolitismus unferer Klaffifer: das Neich der Menjchbeit ift die Vereinigung aller
unter dem Zeichen des deutichen Idealismus.
Der moderne Internationalismus zeigt dieſes Gepräge nicht. Nur möglid)
gemacht durch die Entwidlung der modernen Technif, trägt er auch ihre charafte:
riftifchen Züge. Eiffelturm, Betroleum:Ring und Blipzug haben bei ihm Pate
geftanden.
Das gilt nicht ganz von den internationalen Verbänden der Frauen. Mehr
als die Männer haben fie ſich die Abneigung vor der Parteifchablone und die Ur—
Iprünglichleit ihrer Natur bewahrt. Ein Grundzug der Frauennatur ift aber jener
Idealismus, den wir fo gern für deutſches Pachtgut halten. Und jo beruben faft
überall die internationalen Verbindungen der Frauen nicht auf Parteiintereffen, fondern
fie verfolgen fittliche Endzivede. Zu dieſen fittlihen Endzweden gehört freilich in
erfter Linie. auch die Einfegung der Frau in ihre Bürgerrechte, die umerläßliche Bor:
bedingung zur Erfüllung ihrer Bürgerpflichten.
Sn diefem Zuge der internationalen Frauenbewegung liegt zugleich die Erklärung
ihrer Anziehungskraft gerade für die deutjchen Frauen. Und ebenfo die Erklärung für
die Thatjache, daß da3 in der Mitte des Jahrhunderts ſtark entiwidelte nationale
Gefühl gerade der „Frauenrechtlerinnen“ mehr und mehr zu fehwinden und ein blaſſer
Spnternationalismus an deifen Stelle zu treten fcheint.
Denn von all dem BVerftändnis, das die deutjchen Frauen bei fremden Nationen
für die treibende dee der Frauenbewegung: der Frau in der Kulturwelt ihre Stelle
neben dem Mann anzumeifen, fanden, war in Deutichland nicht die Nede. Die Heute
gemächlich die Früchte der Frauenbewegung einheimfen, kennen den Falten Hohn, mit
dem man den erften Kämpferinnen für ihre Ideen begegnete, nur vom Hörenfagen.
Er ift lange Zeit eine ſchwer laftende Wirklichkeit gemefen.
m .
HE m —
National oder International. 3
Als vor kurzem der Allgemeine deutjche Frauenverein feinen Flottenaufruf erließ,
tonnten die deutfchen Zeitungen bei aller Befriedigung über die Sache ſelbſt es fi
nicht verfagen, darauf hinzumweifen, daß die Bewegung der nationalen Grundlagen
bisher entbehrt babe. Won dem in diefer Behauptung liegenden Mangel an biftorijcher
Kenntnid kann man angefichts der Thatjache, daß die deutfche Frauenbewegung für
die deutfchen Zeitungen überhaupt eine terra incognita ift, füglich abſehen. Aber Hat
ich wohl einer der Herren Zeitungsfchreiber die Frage vorgelegt, woher denn in die
deutjche Frauenbewegung diefer Zug zum Internationalismus gefommen ift, der.
eigentlid, dem deutſchen Volkscharakter und dem Frauencharakter fremd ift? Sind fie
fih wohl jemals Ear darüber geworden, daß der deutjche Dann die rau, die ihre
nationalen Pflichten erfüllen wollte, in den Internationalismus bineingedrängt hat?
Denn zivei Momente entfremden rettungslo8 der eigenen Nation und laflen taftende
Hände nach allen Seiten ausftreden: Rechtlofigkeit und ein Mangel an tiefgreifenden
Beziehungen zum SKulturleben des eigenen Boll? in Vergangenheit und Gegenwart.
Beides traf bei den deutjchen Frauen zu. Die Rechtlofigkeit zwar teilten fie jo ziemlich
mit den Frauen aller andern Kulturböller, aber während bei allen anderen Nationen
fchon der erjte Appell wenigiteng ein Verſtändnis fand und eine wenn auch nur jehritt-
weile Gewährung der gerechten Forderungen der Frauen nach fi zog, find ihnen in
Deutfchland bis in die jüngfte Vergangenheit binein auch die bejcheidenften Rechte
verjagt geblieben. Am verhängnispollften iſt das für die Bildung der Frauen
geworden. Mer die fonfreten Berhältniffe der Gegenwart richtig erfalfen und aus
ihnen richtige Folgerungen ableiten will, muß den gejchärften Blid für hiſtoriſches
Merden haben, den. nur ein vertieftes Studium verleiht. Und men man vor einem
abftrakten Radikalismus ſchützen will, der die lofalen und nationalen Bedingtheiten
verfennt und glaubt, organifche Entwidlungen in mechanisch Fonftruierte Kurven
ziwingen zu können, den ftelle man mitten in die konkreten Verhältniſſe Binein ünd laſſe
fie auf ihn und ihn auf fie wirken. Nur jo fann er praftiich erfahren, welche Früchte
fein Boden zu tragen im. ftande ift und kommt nicht in die Gefahr, in der Mark
Baumwolle bauen zu wollen. _
Erſt heute beginnt man langſam, die Frauen durch Erkenntnis und Praxis in
die Kulturarbeit der Nation einzuführen. Die Folge muß eine ftärlere Betonung der
nationalen Eigenart innerhalb der Frauenbewegung jein. Der nationalen Eigenart,
nicht eines geichmadlofen Hurrah-Patriotismus. Und erft dadurch wird fie ihre volle
Stärle gewinnen.
Denn fo wertvoll auch die "Anregungen fich erweiſen mögen, die aus den
internationalen Beziehungen erwachſen und auf den internationalen Kongrefjen in die
Weite getragen werden, fo find andererſeits doch mancherlei Bedenken auch nicht zu unter:
drüden. Die beliebten Zehnminutenreden, die Überfiille des Materials, die Gewöhnung
an ein Urteilen über nicht genügend beberrichte Verbältniffe, die durch die Zeit:
fnappheit notiwendig werdende Beſchränkung auf Hauptpunfte, grelle Schlaglichter —
das alles führt notwendig zur Oberflächlichkeit und zum Phraſentum, wenn nicht eine
tiefgründige Bildung und eine genaue Kenntnis der Bedingtbeiten der eigenen Volks—
entwidlung die richtige Abjchägung und Verarbeitung des Gebörten ermöglicht.
Und jo erweift fih, was die deutichen Frauen zuerft faft inftinktiv unternommen
baben: ihrem Gejchlecht vor allem eine gründliche Bildung und die Teilnahme an
der gemeinnügigen Thätigfeit der Männer zu ermöglichen, auch in Bezug auf Diefe
1*
Les vierges fortes, 5
Und das Studium des Milieus und der Naffe, wie es das 19. Jahrhundert
verjuchte — was ift es andres als ein Studium der Individualifierungecentren und
der Individualifierungsgruppen? Der Lehrling zu Sais hob den Schleier, ber das
Bild der Wahrheit dedte, und er ſah — fich ſelbſt. Diefelbe Neligion wird innerlich,
und äußerlid eine andre in England als in Deutichland, als in Frankreich. Die
gleichen Freiheitägedanfen werden zu andern politiichen Anfchauungen, fegen fi in
andre Thaten um in jedem ber drei Länder. Die Freiheitsfrage der Frau, die Frauen—
frage, ift in jedem Lande eine andre.
Ich fage niemand damit etwas Neued. Der oberflächlichle Zuſchauer weiß das.
Schon der Grad deſſen, was die Frauen in den verfchiedenen Ländern erreicht haben,
legt Zeugnis davon ab. Hier ijt der Boden günftiger, dort fteiniger; bier find bie
Kämpferinnen beſſer geſchult für den Kampf, dort verfügen fie über reichere Mittel.
Die Unterfhiede liegen auf der Hand, die Verfchiedenheiten find felbftverftändlich. Es
ift aber auch nicht dies Hußerliche, was uns interefjiert, fondern ein Innerliches: die
Enttwidlung des Freiheitsgedankens bei Frauen verſchiedner Nationalitäten, Raffen,
Temperamente. Und in dieſer Hinficht war mir Marcel Prévoſt's neuer Roman
nl.es vierges fortes“ (2 Bde., I. Frederique, II. Lea, Paris 1900, Alphonfe Lemerre)
wichtig. Man mag daraus erfehen, zu welcher Individualität ſich in Frankreich die
„meue Frau” auswachſen wird. Und ift e8 nicht vielleicht ſchon charakteriſtiſch, daß
wir in Deutichland von einer „neuen Frau“ reden, und daß man in Frankreich von
einer „vierge forte“ fpricht?
Pravoſt's Roman als ſolchen will ich nicht Toben und nicht tadeln. Er wird
vielen gefallen; mir gefällt er nicht fonderlih. Nur als ein „document humain*
fol er bier dienen. Freilich, mit Vorfiht und mit Kritif zu verwerten wie —
jedes Dokument.
Eine Anzahl von Frauen, ich muß präzis jein und fagen älteren Mädchen, tritt
zufammen, eine Echule zu gründen. Eine von ihnen giebt das Kapital dazu, ein
Terrain in einem Parifer Vorort wird gefichert, die notivendigen Baulichfeiten werden
aufgeführt. Es wird eine Mädchenfchule fein, an der nur Frauen unterrichten. Die
Schülerinnen werden zunächft unter den Unbemittelten und Verwaiften ausgefucht.
Gelehrt werden nicht nur die gewöhnlichen Schulunterrichtöfächer, fondern alles, was
die Mädchen fpäter befähigen kann, fich im Leben eine ſelbſtändige Stellung zu Schaffen,
den Konkurrenzlampf aufzunchmen. Scitlerinnen und Lehrerinnen leben gemeinfam
in den Schulräumlicjeiten wie eine große Familie.
Innerer Zwed der Schulgründung ift: junge Mädchen zu Perfönlichkeiten zu
erziehen. Die Freundinnen, bie ſich zu diefem gemeinfamen Werk zufammengefunden
haben, find Vorfämpferinnen der Frauenbewegung. Die meiften unter ihnen find zu
diefem ihrem Herzensberuf im Ausland gefchult worden. An Stelle der bisher üblichen
Erziehung der jungen Mädchen für den künftigen Mann foll eine Erziehung für die
Menfchheit treten. Das Frauengewiſſen fol auf ſich felbft geftellt werden. Das
falfche Schamgefühl, das auf der Lüge beruht, fol ausgerottet werden. Die jungen
Mädchen ſollen lernen, fich felbft genug zu jein. Den Männern gleichen ſoll nicht
das Ideal fein, fondern fie übertreffen. Der unverbeirateten Frau foll auf Grund
folder Erziehung ein Menſchheitswirken ſich erfchließen.
Das alles fünnte, falls es cine hohe obrigkeitliche Genehmigung fände, in
Deutſchland in derfelben Weife und mit dem gleichen Zwede vor ſich gehn. Doch
Les vierges fortes. " 7
ihrer Seele.“ Dieſe Mädchen ſehen in jeder ehelichen Gemeinſchaft einen Abfall vom
Ideal, eine Erniedrigung ihres reinen Seins, — zwei von ihnen, und die ſchlechteſten
nicht, unterliegen der Liebe zum Manne. Freilich, einer reinen und ſchönen Liebe.
Und das ſcheint mir auch — wenn Prevoft richtig gefehen hat — das
differengierende Merkmal für die Frauenbewegung auf franzöfifchem Boden. Deutfchen
Frauenrechtlerinnen ift das Wort „Mutterfchaft“ nie unbequem geweſen, die Frau fteht
ihnen nicht unter der Jungfrau, ihr Ideal ift Fein asketiſches. Aber es ift auß inneren
Gründen nicht unwahrſcheinlich, daß Prevoft recht hat und daß bei einzelnen feiner
Vertreterinnen ber Feminismus in Frankreich diefen eigenen Zug trägt. Die Sinnlichkeit
fpielt jenfeits des Rheins eine andere Nole als bei uns; fie drängt ſich in Kitteratur,
in Kunft, im Leben hervor, und c3 ift vielfach eine ungefunde Sinnlichkeit, zum Teil
eine perverfe, zum Teil eine brutale, die ſich offenkundig giebt. Wie jede ausgeprägte
Erſcheinung ruft fie den Gegenfag, ihr Widerfpiel hervor. Wie der finnliche
Katholizismus dem Möndetum, fo mag in Frankreich die größere oder doch nadtere
Sinnlichkeit zum Teil einem radifaleren oder doch finnenfeindficheren Feminismus Geburt
gegeben haben. In dem Prevofischen Noman fagen diefe Zungfrauen: die Frau büßt
in der Ehe ihre Freiheit ein, fie twird, jelbft wenn fie ihrem Mann vorher überlegen war,
zur Sklavin des Mannes. Das ift nicht wahr und ift aud) nicht ihr Herzensmeinen:
fie felbft empfinden jede eheliche Gemeinſchaft als eine Erniedrigung, beinahe als eine
Schmach, die ihnen angethan werden könnte. Es ift etwas Perverjes in ihrer
Unfinnlichfeit.
Und das ift recht eigentlich, und wie mir ſcheint bezeichnenderweife, das Thema
dieſes Emanzipationsromang: der Kampf um die Liebe.
Die Mutter der beiden Heldinnen des Buches, Frederique und Lea, ift als
junges Mädchen einem Verführer anheimgefallen. Sie ift dann von dem Water des
jungen Mannes no; rechtzeitig an einen andern, an irgend einen andern, verheiratet
worden. Freberique hat unter diejer entwürdigenden Ehe ſchon als Kind ge
litten. Durch einen Zufall hat fie es dann mit anſehn müffen, wie dieſe beiden
Gatten, ihre Mutter und der fremde Mann, die fich gegenfeitig verachteten, fich in
nieberer Sinnlichkeit zufammenfanden. Lea ift ihre Stieffchwefter nur. Aber diefer
Stiefſchweſter hat fie von Hein auf ihren Haß gegen alles, was die Menfchen Liebe
nennen und das fi ihr immer nur von der häßlichften Seite gezeigt hatte, einzu:
flößen geſucht. Das dunkle Empfinden der jungen Mädchen war dann unter den
Einfluß von Romaine Pirnig zu einer Doftrin, zu einem feminiftiichen Glauben?:
belenntnis geworden.
In England tritt Lea der Mann entgegen, der ihr das Schickſal verkörpern
wird. Der unfchuldigen Eva ein unſchuldiger Adam. Er ift ein junger, norwegifcher
Dealer, der immer nur mit feiner Schwefter, unter ihrem Einfluß gelebt hat. Zwiſchen
ihmen beiden entfteht eine tiefe, rein jeelifche Freundichaft.
Sie verkehren zufammen wie zwei Kinder. Wie Kinder fehmiegen fie fi) auch
zärtlich aneinander. Ihre Lippen finden ſich in einem erften Ruß. Und diefer Kuß
erwedt in ihr das Gefühl der Scham, der Erniedrigung, des Abfall3 von ihrem Ideal.
Sie flüchtet von ihm fort. Erſt dadurch wird auch er ſich feines finnlichen
Empfinden bewußt.
Eine Zeit ift verflrichen, er ift nach Italien gereilt, eine andre, finnlichere Welt
ift ihm dort aufgegangen. Er jucht Lea wieder auf und begehrt fie zum Weibe. Cie
Blinde Klippen.
Erzählung
von
Minna Canth.
Autoriſierte ÜÜberjegung aus dem Finniſchen von E. Stine.
Naytrud verboten.
L
p) Fin goß das
Waſſer über Hein Helmi,
die auf dem Rüden in der Badewanne lag,
ein Polfter aus Baft unter dem Kopf und
eine Wolldede über dem Magen. Tie Kleine
ſchrie vor Entzüden, ftrampelte die Dede ab
und ſchlug mit den Händchen in das Waſſer,
daß es weithin umberfprigte.
„Warte nur, warte nur, du Heiner Milds
fang, du fprigft Mama ja ganz und gar an!”
plauberte Alma. „Und verfühlft dich noch
obendrein. Eei jegt hubſch ftil! Nun fommt
das Heine Köpfchen an die Neihe und dann
das Geſicht; mas fagft du dazu? Eiehft du,
fo! Nein, nein, nur ja nicht böfe werben.
Na, wer fommt da nun wieder? Schließ die
Thür! Das Kind ift nadt!”
Es mar Maja Lifa, die den Kopf durch
die Küchenthür ftedte.
„Frau, es kommen Fremde aus der Etabt.
Sie find mit zwei Pferden in den Hof hinein-
gefahren.“
„Herrn oder Damen?”
„Herren. Der Apotheler und der Bürger-
meifter und biefer frembe Herr — Magifter
ift er wohl? Was foll man nun zum Abend:
brot haben, wenn nichts, auch nit das
mindefte zubaufe ift?”
„Du machſt ja immer etwas ausfindig,
Maja Lifa.”
„Ja, das iſt leicht gefagt. Die Frau
nimmt alles als Spielerei. Diesmal weiß ich
aber wahrhaftig nicht, was ich ihnen vorfegen
fol. Der Kudud auch, foll man ſich da nicht
ärgern! Daß fie einem auch immer fo zur
Unzeit kommen müfjen!“
„Es braucht ja Feiner großen Umftänbe.
Wenn man nur etwas zu cfien hat! Sie
wiſſen ja, daß man auf dem Lande nicht
immer vorbereitet fein kann.“
„Wenn man nur Fifhe hätte! Aber auch
die Fiſche find zu Mittag aufgegefien worden
— jedes Schwänzchen —“
„Wir geben bloß kaltes Fleiſch und faure
Milch.“
„Einen Rat wüßte ich freilich!“
„Nun?“
„Wenn die Frau mich ein paar junge
Hühner nehmen ließe.”
„Wieviele?“
„Nur drei. Da könnten wir wohl ein
gutes Abendbrot vorſetzen.“
Alma fand, es ſei eigentlich ſchade, aber
ſchließlich mußte fie einwilligen. Höchlich zu⸗
frieden ſchlenlerte Maja Liſa ihres Wegs, und
Alma war wieder für eine Weile ungeſtört.
Sie hob Helmi aus dem Waſſer, trodnete
fie forgfältig in dem Leintuch ab und zog ihr
reine Wäſche an. Strahlend und zufrieden
faß die Kleine nun auf der Mutter Schoß.
Ein blendend weißes Spigenhäubchen umgab
die runden Wangen, und aus dem Ärmel kam
ein Heines, dides Händchen zum Vorfchein.
Alma füßte die weichen Wangen und das
Kinn und den Hals und die Heine Hand.
„Mein ſüßer Schag! Mein Zuderpüppden,
Mama ißt did) wirffid noch auf!“
Helmi lachte und fagte: „gää.” Und bei
jeder Liebfofung der Mutter lachte fie und
fagte „gää.”
„Gää, gää, gää!“ ahmte Alma nad.
„Du Meine Plaudertaſche, kannſt du fonft
Blinde Klippen.
Während Mina die Kinder entkleibete,
ordnete Alma ihre Toilette. Sie band cine
nette, weiße Schürze um und legte einen
weißen Spigenftreifen um ben Hals. Der
Sommerhut ftand ihr gut, dad mußte fie, wie .
fie fo vor dem Spiegel ftand und ihn auffeßte.
Dann nahm fie ihr Arbeitstäfhchen und
ging trällernd hinab.
„Da tommt fie ja,” fagte John. .
„Wer von den Herrn hat mich vermißt?” .
fragte Alma.
„Unterzeichneter, Ihr ergebenfter Diener,” '
erwiberte Magifter Numark.
„Sehr artig von Ihnen!”
Lagander.
„Ablehnung ohne entſprechende Gründe
wird nicht anerkannt.“
„Deren habe ich mehr ald genug.”
„Zum Beifpiel?” J
„Zum Beifpiel, daß John es nicht billigen
würde.“
„Nun, jegt wälzft du felbft ja die Schuld
auf meine Achſeln,“ fagte John.
„Und zweitens, daß id) feine Luſt babe.”
„Sie intereffieren fih alfo gar nicht für
die Befreiung des Weibes?“ fragte Numark.
Mein,” lächelte Alma. „Häme es auf
mid) an, fo würde ih auch bie Freiheit des
: Mannes nod einſchränken.“
„Auch ic) vermißte Sie, wenn ich es auch I
noch nicht äußerte,” erflärte Bürgenmeifter
Apotheker Leiftin lächelte nur; er hielt ſich !
für zu alt für dergleihen Komplimente.
„Wenn Sie müßten, tie oft wir ie
vermiſſen,“ fuhr Lagander fort. „Und melde
Vorwürfe mir Karel maden, daß bas
gefelige Leben fo langweilig und troden
geworben ift.”
„Armer John! Wie können Cie ihm bie |
: wollten Eie fagen,” fügte Lagander hinzu.
Schuld zufgieben?”
„Ja, er hat Sie ja unferem Kreife enis
riffen.
ſich nirgends gezeigt.”
„Und iſt es auch ſein Fehler, daß ich alt ;
geworden bin?”
Sie alt?” rief Nymark aus, fie mit ent:
züdten Bliden betrachtend.
„Bald dreißig Jahre.”
„Nah Balzac beginnt das Weib erſt da
intereffant zu werben.”
„Balzac ift tot, und foviel ich weiß, haben |
die Männer in diefem Punkt feine Lehre nicht
anerkannt, Die Siehzehnjährige behauptet ſich
figreih auf dem Throne.”
„Weil die Dreigigjährige ihn verſchmäht
hat.“
„Aber wir haben ein Mittel ausgedacht, |
um Sie felbft gegen Ihren Willen der Gefell:
ſchaft zurüdzugewwinnen,” fuhr Yagander jort.
„Ich bin neugierig, es zu hören.”
„Wir wählen Cie in die Direktion der
Finnländifhen Geſellſchaft.“
„Dante ſehr. Aber diefe Ehre nehme ich
nit an.”
Eeit Sie verheiratet find, haben Sie ,
„Was fagft du dazu, John?”
Nymarf.
„Nichts,“ entgegnete John lächelnd und
blies ruhig eine Rauchwolke aus dem Munde,
„Wabrhaftig,” fuhr Alma fort. „Der
Sommer bier auf dem Lande ift fo beſonders
angenehm, eben deswegen, weil John immer
zu Saufe it. Hier haben wir feine Nereine,
fein Vaterland, fein Finnentum und ...
nichts, was ung ftört.”
„Und feine Freunde
ſcherzte
meines Mannes,
„So dumm bin
jagen.”
„Sie find gar zu eiferfüchtig auf die Ver:
eine und auf das Vaterland,” fagte Numark.
„Was meint du dazu, John?”
„Ich höre es mit Überraſchung.“
„Er macht ſich natürlich nichts daraus,
wenn ich auch eiſerſüchtig bin.“
Es lag etwas Pikiertes in ihrer Stimme,
weshalb John fich becilte, das Geſpräch auf
ein anderes Gebiet zu leiten.
„Dir wird fühl fein, Alma,” fagte er,
„Soll id deinen Mantel holen?”
„Danke, ich nchme ihn felbit.
ohnedies hinaufgehn.“
ALS fie nach einer Meile zurückkam, hatte
man einftweilen angefangen, von Politit zu
fprehen. Eie nahm ihre Handarbeit und feßte
ſich ein wenig abſeits.
„Diefer Sprachenftreit muß einmal doch
ein Ende nehmen,” fagte Apotheker Xeiftin,
ih nicht, das zu
Ich muß
,„die Finnen haben alle Rechte erhalten, die
fie verlangen fünnen; was follten fie noch
mehr zu wünfchen haben?”
Der Tiſch mar auf der Veranda gebedt.
Alma warf einen prüfenden Blid darüber hin
und lächelte dann Maja Liſa zu, deren Augen
in dem Spalt der Vorzimmerthür glänzten.
„Zei ruhig!" fagte Maja Lifa zu Dina,
die fih hinter ihr auf die Zehenfpigen ftellte,
um ebenfallö die Herren effen zu fehen, „fei :
ruhig, damit fie nichts merken. Ein hübſcher
Menſch, diefer junge Magifter, nicht wahr?
Und fo artig gegen die Frau — da läßt ſich
nichts jagen. Aber das Eſſen ſcheint ihnen
zu ſchmecken. Eiehft du, wieviel der Apotheker
auf feinen Teller nimmt? Du lieber Gott,
das Brot geht zu Ende. Schnell, ſchneide auf,
ich hole den Korb.”
Mit roten Baden und in einer Verlegen-
beit, daß ihr die Anie zitterten, beeilte ſich
Maja Lifa, den Korb vom Tiſch zu nehmen.
Sie war der Meinung, daß aller Augen ihren
Bewegungen folgten — allerdings ein großer
Irrtum, denn die Herren bemerlten fie faum.
Sohn und Leiftin fegten ihren in der Laube
begonnenen Disput fort, während Numark
und Alma, die am andern Tifchende ſaßen,
fih von andern Dingen unterhielten.
„Ihr Frauen feid gar nicht politiſch,“ fagte
Numark.
„Eoliten wir es denn fein?“ frug Alma.
„Natürlih. Um Ihrer felbft willen, fehen
Sie. Wer nicht verfteht, feinen Vorteil zu
wahren, wird unbedingt ber verlierende
Teil.”
„In welder Beziehung meinen Sie, daß
wir verlieren könnten?” frug Alma.
„In dem, was den Grundftein und Kern
Ihres Daſeins ausmaht. In Ihrer Liebe.”
„Wir find alfo in umferer Liebe der ver-
lierende Teil?”
„Unleugbar. In der Liebe ift das Weib
Sklavin und der Mann Herr, wiewohl es
umgefehrt fein ſollte.“
Alma lachte.
„Und tvas ift die Urfahe? Erklären Eie
doch!“
„Gern. Das Weib wird darum ber ver: |
lierende Teil in der Liebe, weil fie den Mann
den gemwinnenden werben läßt.”
„Daraus kann man nicht Hug werden.”
„Warten Sie, id werde mid) deutlicher |
erflären. Zu Beginn, wenn der Mann die |
Gunft einer Frau zu erwerben trachtet, ba iſt
feine Liebe feurig und ftark, nicht wahr?“
„Allerdings.“
„Bis die Frau fich ergiebt und fagt: ic
bin bein.”
„Gewiß.“
„Nun hat der Mann geſiegt, und ſogleich
verliert die Frau ihre Macht über ihn. Schen
Sie, der Mann liebt Sport und Wettfpiele.
Braucht er um bie Liebe eines Meibes nicht
mehr zu ringen, fo weiß er fie nicht mehr zu
ſchätzen. Das ift das ganze Geheimnis.“
„Es iſt gut, das zu wiſſen. Aber wie
meinen Sie, fol nun die rau zuwege gehen,
um das zu verhindern ?”
„Zie follte niemald einen Mann aus
ganzer Seele lieben, niemals zu ihm jagen:
id bin dein. Sie foll den Mann zwifchen
Furcht und Hoffnung ſchweben laſſen. Sie
ſoll bisweilen auch andern Männern ihre
Gunſt bezeigen und ihnen geſtatten, ſie zu
bewundern. Auf dieſe Art wird ſie den Mann
anſpornen, ſich ihre Liebe zu erhalten.“
„Gott behüte, welche Lehre! Man merkt,
daß Sie nicht verheiratet ſind, Magiſter
Nymark.“
„Gott ſei Danlk.“
„Wieſo?“
„Ich hätte ganz ſicher bald genug von
meiner Frau. Insbeſondere, wenn ſie von
dieſer treuen, demütigen und aufopfernden
Art wäre, wie es Frauen gewöhnlich find.”
„Sie find entfeglic leichtſinnig.“
„Es iſt beſſer, leichtfinnig als langweilig
zu fein. Ich finde diefe ernſthaften Pflicht»
menſchen furchtbar ermüdend. ch künnte es
nicht einen einzigen Tag in ihrer Geſellſchaft
aushalten.”
Wie müßte alfo Ihre Frau denn eigent-
lich bejchaffen fein?” lächelte Alma.
„Das will ih Ihnen fagen. Erſtens
unbeftreitbar ſchön. Zweitens müßte fie bie
Gabe befigen, zu bezaubern, auch andere in
fi) verliebt zu machen, nit nur mic.“
„Und einem der anderen vielleicht einen
größeren Play in ihrem Herzen einräumen,
als Ihnen?”
„Das würde fie nicht thun. Dafür würde
ich ſchon Sorge tragen.”
Alma fhüttelte den Kopf.
„bift du glüdlich?“
Außerordentlich zufrieden mit dem Dafein, |
menigften® gegentwärtig. Und du, meine Alma?“ :
„Grenzenlos glüdlih. So glüdlih, John,
daß ich den Lauf der Zeit hemmen und biefen
Augenblid in alle Ewigkeit fefthalten wollte.”
John lachte.
„Ob das nicht doch einförmig würde?”
„ui, John, wie kannſt du fo ſprechen?“
„Ih wollte wetten, daß du ſchon nad
ein paar Stunden hungrig würbeft und gern
wieder beim gingeft.”
Alma ertiderte nichts. Sie fah von ihm
fort und fühlte fih verlegt. Nein, John
verftand fie nicht.
„Nun, Alma?”
John verfuchte ihr in die Augen zu ſehen.
Alma wandte fih ihm zu und lächelte,
aber ihr Blick war feucht.
„Und ſolch eine Stleinigleit kannſt du dir zu |
Herzen nehmen? Du bift wirklich kindiſch.
Nun, laß es gut fein.
daß ich dir die Thränen trodnen kann.”
Er ftredte den Arm aus und zog Alma an ſich.
„Ich nehme dich auf den Schoß wie ein
lleines Täubchen, mein geliebtes, teures Weib!”
Er hob Almas Kopf empor und küßte fie.
Teure Weib!”
Ein warmer Blid traf Alma aus der
Tiefe feiner Augen.
Alma ſchlang den Arm um feinen Hals.
„Ich liebe dich, John. Über alles. Mehr
als alles andere im Himmel und auf Erben.”
„Ich weiß es, mein Liebling.”
Er drüdte Alma feft an ſich und füßte fie
nochmals.
„Aber du mußt vernünftig fein. Nicht
mehr eiferfüchtig — weder auf Vaterland
noch Finnentum.”
„Aber fie nehmen ja dein ganzes Herz in
Beſih.“
„Gewiß nicht. Du herrſchſt unbeſchränkt
darin.”
„a, aber nur diefe paar Wochen hier auf '
dem Lande. In der Stabt haft du kaum
Zeit, auch nur an mich zu denfen.”
„Alma, Alma, was würdeſt du jagen, |
wenn id) nun beginne, an anderen Frauen
Gefallen zu finden?”
Nein, komm hierher, |
: beinen Augen an.
au
Alma zudte vor Schreden zufammen.
„Nun, nun, rege dich nicht auf. Natürlich
wird das nie gefchehen. Ich wollte did) nur
auf biefen Gedanken bringen, damit du künftige
bin deine Eiferfuht auf das Vaterland auf:
giebſt.“
„John, ich werde verſuchen, von nun an
vernünftig zu fein. — Sch muß ja,” ſetzte ſie
mit einem Seufzer hinzu.
„Siehſt du, daran thuft du recht,” jagte
John ſchmeichelnd.
Alma ſetzte ſich auf das Brett im Alter
und lehnte ſich an ihres Mannes Knie. John
glättete ihr Haar.
„Sag mir nun etwas, Alma, tvas ih dich
; oft fehon fragen wollte.”
„Nun, was ift es?“
„Erinnerft du did eines Abende — es
war im legten Winter — als id nachhauſe
tam und bu beim Klavier ſaßeſt und fpielteft 2”
„Kurz bevor Helmi zur Welt am?“
„Ja. Da hattet du geweint, ich fab es
Aber ih erfuhr micht,
weshalb, wieviel ich auch fragte.”
Alma lachte ein wenig verlegen.
„Geſtehe, warft du damals nur eiferfüchtig
auf die Außenwelt?”
„Nein, es war etwas anderes.”
„Was alſo?“
Kindiſche Dinge. Garnichts.“
„Weißt du, es quälte mich lange. Ich
Tonnte es mur ſchwer aus dem Kopf bringen.”
„Und du fagteft nichts, lieber John?”
„Da du fo verſchloſſen warſt, wurde ich
es auch. Aber nun fagft du es mir, nicht
wahr?”
„Es war wirklich nichts. Etwas fo furcht⸗
bar Minbiihes. Ich kann nicht, John, ich
ſchäme mich, davon zu fpreden.”
Aber John ftreichelte und füßte fein Meines
Mäushen und fah ihr in die Augen. Und
fo mußte fie es doch fagen.
„Es war nur, John, daß ich fürdhtete,
fterben zu müſſen.“
„Wie immer vor einem Mochenbett. Und
" war das allest“
„Es kommt noch etwas dazu. Aber bu
Ladjft.“
„Ich lache nicht. Sch bin ganz ernft.”
Binde Klippen. 17
„Das Kiffen!”
Mina drehte ih um und flarrte fie an,
ohne zu verſtehen. Alma zeigte auf das Kiſſen.
Aber fie begriff nicht. Sie kam auf Alma
zu und faßte ihre ausgeftredte Hand.
Alma ſtieß einen Schredenaruf aus und
308 die Hand fort, lachte aber im nächſten
Augenblid wieder.
„Du bift eine Närrin. Hier das Kiffen.”
Sie legte ed auf Minas Arm. „Seht geb!”
Dina ging mit dem Kiffen auf dem Arm
durch das Kinderzimmer in die Küche, und
aud Alma begab ſich ins Kinderzimmer, um
nad den älteren Kindern zu fehen. Sie
liefen alle füß. Ella bielt die Hand unter
der Wange und fah im dieſer Etellung fo
lieblih aus, daß das Herz der Mutter vor
Stolz und Freude ſchwoll. Lypli hatte bie
Dede abgeworfen; da es ſehr warm war, lich
Alma fie bei den Füßen liegen und hüllte
das Kind nur in das Leintuch.
„Gottes Frieden!” flüfterte fie. Und es
war wirklich, als hätte der in dem Raum
geherrſcht.
Als fie ſich niederlegte, kamen ihr Nymarks
Worte in den Sinn: „Furcht iſt Beweis von
Schwäche.“ Was hatte er damit gemeint?
Wie fonderbar er fie den ganzen Abend
angefehen ... .
Sport? Die Männer lieben Sport? ...
Dummpeiten!
U.
Die Sommerferien näherten fi ihrem
Ende, und Rektor Karell und feine Familie
hatten nur noch einige Tage des Yand-
aufenthaltes vor fih. Die Wäſche mar ab:
gethan und alles für die Überfiedelung vor:
bereitet, die in drei Tagen ftattfinden follte.
Da das Wetter ſchön war, ließ Alma den
Nachmittagskaffee in die Laube am Ufer tragen.
Zie faß am Tiſche und zeichnete neue Taſchen⸗
tücher mit roten Buchſtaben. Lypli Metterte
auf die Bank neben fie; die andern Stinder
faßen im Grafe und fpielten mit Steinchen.
Auch Helmi wurde herausgetragen; fie lag in
einem feinen Wagen im Schatten eines
Baumes, mit einem meißen Schleier zum
Schutz gegen Fliegen und Müden. Bei jeder
ihrer geringften Beivegungen war Mina zur
Stelle, um den Wagen in Bewegung zu
fegen, während fie gleichzeitig die andern
Kinder zur Ruhe ermahnte. Und dann fchlief
Helmi wieder ein. Einftweilen ordnete Mina
den Kaffeetiſch.
„Ich darf wohl die Kaffeekanne nicht früher
berunterbringen, bis der Herr Rektor kommt?“
fragte fie.
„Nein, laß fie am Herd ftehen, damit der
Kaffee nicht kalt wird.”
Alma Hielt die Nadel in eifriger Beivegung
und bob die Augen nicht von der Arbeit. Sie
warb mißgeftimmt, fobald fie an die bevor:
ftehende Überfieblung und an das Etadtleben
date. Gar ſchnell war der Sommer ver:
gangen; man wußte faum, daß er begonnen,
fo war er auch fehon vorüber. Aber noch
mehr quälte es fie, daß John nicht dasfelbe
Bedauern empfand wie fie. a, es fehien
Alma, als freue er ſich fogar auf die Abreife.
Er fühlte fi eben auf die Dauer von dem
einförmigen und ruhigen Familienleben nicht
befriedigt, er fehnte fih nad Abwechſelung,
Beſchäftigung.
Davon würde er nun im nächſten Winter
vollauf haben. Ja, ſoviel er ſich nur wünſchen
mochte. John war zum Landtagsabgeordneten
gewählt worden. Alma war hierüber ganz
betümmert und wagte es Taum, an das Früh:
jahr zu denfen, wo fie allein bleiben follte,
für fo lange, lange Zeit von ihrem Manne
getrennt.
Sie hatte geweint, als fie es erjuhr, und
noch mehr getveint, als fie fab, mit welchem
Eifer John alle Vorbereitungen zu feinem
Amte traf. Nicht ein Wort des Bebauernd
über die Trennung vom Haufe. Nicht ein
einziges!
Alma war tief verlegt. Mehrere Tage
war fie falt und einfilbig geweſen. Aber
Sohn hatte ſich nicht daran gelehrt. Und
nun war fie infolge deſſen bei ſchlechter Laune
— die ſich von Zeit zu Zeit in Heinen
Stichelreden Luft machte. Nicht einmal dies
hatte Wirtung. John zog fi) bloß auf fein
Zimmer zurüd, ſchrieb, las, dachte und ſchwieg.
Seine Gedanken waren anderwärts. Alma
fühlte ſich verlaffen, unglüdlic.
Sie hatte verfucht, ihre bittern Gefühle zu
unterbrüden, fie machte fih um die Rinder zu
2
Binde Klippen. 21)
Das Blut ftieg ihr zu Kopfe; fie preßte
bie Lippen feft zufammen und nähte noch eifriger.
Nah einer Weile kam John vom Ufer
herauf, immer noch Lypli auf dem Arm
tragend.
„Bitte ſchön, Mama, dem Kind die naſſen
Strumpfchen auszuzichen und ihm trodene zu
geben,” fagte er ſchon in einiger Entfernung.
„Ziehft du, Mama, Lypli ift ins Waſſer ge
ftiegen und naß geworden.“
„Sie Tann zu Mina hinaufgehn.”
„Mina ift nicht da, fie war eben mit
Helmis Wagen im Walde.”
„Dann ift Maja Liſa da.“
John ſchwieg eine Weile, dann ftellte er
Lypli auf den Boden.
„Lauf, mein Kindchen, und bitte Maja
Liſa, dir zu helfen.”
John zündete eine Zigarre an und ſetzte
ſich auf das Schaulelbrett.
„Alma! Warum?”
Keine Antwort.
„Warum bift du fo ſchlechter Laune?”
Noch feine Antwort.
„Alma —“
Er wollte fie an ſich zichen.
„Ad, laß mid."
Alma ſchob feine Hand fort, obne bie
Arbeit finken zu lafien.
„Wie? — Bin id dir läftig?”
„dJa.“
John ſah ſie mit einem langen Blick an,
aber ſie ſchlug die Augen nicht auf.
„Wahrhaftig?“
Nicht ein Laut.
Da ſtand John auf und ging. Alma
merkte es an feiner Art, ſich umzuwenden und
an feinem Gang, daß er böfe ſei. Zie
erichraf, denn fo etwas war noch nie gefeheben.
Es dunfelte ihr vor den Augen, ihr Herz
hörte auf zu fchlagen. Hände und Füße
wurden fall. Was hatte fie gethan?
Sie blidte auf und ſah, wie John mit
einem beftigeren Rud als gewöhnlich die
Flurthür Hinter ſich zuzog.
„Sohn, John,“ flüfterte fie.
Aber Zohn hörte nit. Alma warf die
Arbeit fort. Sie ging ein Stüd ſeitlich zwiſchen
die Bäume, warf fi vornüber in das Gras
und meinte bitterlid.
Das Verhältnis zwiſchen ihnen mar zer⸗
ftört, und nichts in der Welt konnte es wieder
berftellen. John würde fortan noch kälter,
noch unfreundlicher werden — und fie? —
Sie hätte unter die Erbe verfinten mögen,
wie fie da lag, das Gefiht im Grafe. Gleich
in biefom Augenblid und für ewig!
Tenn feine frohe Stunde konnte fie mehr
im Leben haben. Alles war verändert, und
fo plöglid) war es geſchehen, wie mit einem
einzigen Schlage. Die Vögel zwitfcherten mie
früher in den Bäumen, und vom Ufer ber
ſchollen die fröhlichen Stimmen der Kinder,
aber fie Hangen in ihrem Ohr nit mehr wie
ehedem.
Und John kam nicht, ſie zu ſuchen. Halb
hoffte, halb fürchtete ſie es. Aber er kam
nicht. Ihm war es gleichgiltig, ob das
Verhältnis zwiſchen ihnen ein gutes oder
ſchlechtes war.
Sie weinte, bis ſie ſo müde wurde, daß
ſie nicht mehr zu denken, nicht einmal ſich zu
grämen vermochte. Immer noch lag ſie in
derſelben Stellung. Endlich, als ſie fühlte,
tie der feuchte Boden fie durchkältete, ſtand
fie auf. Die Gemütsbewegung hatte fie derart
geſchwächt, daß fie fih ſchwanken fühlte und
am ganzen Körper zitterte.
Sie fah fi) um. Die Eonne war ſchon
im Untergehn; es wurde Abend. Sie ging
zum Ufer, wuſch die Augen mit dem fühlen
Waſſer und nahm die Kinder mit ſich hinauf.
Das Ejien ftand auf dem Tiſche. Sie
hieß Arvi den Vater rufen.
„Papa ißt nicht,” verkündete Arvi, als er
vom Zimmer des Vaters zurüdkam.
Alma machte fi, ohne ein Wort zu fagen,
um die Kinder zu fchaffen, brachte fie zur
Ruhe und Iegte fich felbit.
Aber fie fonnte nicht ſchlafen. Eine
Stunde verftrih, und alles blieb ſtill um fie
ber. Anfangs hörte man nod bie und da
aus der Küche ein Klappern, doch bald ver-
ftummte aud das. Helmi fchlief ruhig und
feft im ihrer Miege neben dem Bett, das
Händchen auf der Dede geballt. Ihre Augen
waren geſchloſſen, die Züge fo vol Frieden.
Der Mund verzog ſich zumeilen zu einem
Lächeln; fiherlih träumte fie von etwas
Freundlichem, die Kleine. Glüdliche Zeit!
27
20 Frauen vor dem Gewerbegericht.
Keine Sorge, kein Schmerz und feine Seelen:
angft!
Die Thür zum Salon ftand offen. Aber
‚sohn hatte die feine auf der anderen Seite
geſchloſſen. Wie lange wollte er aufbleiben?
Wartete er, bis fie fchlafen würde? Ober
hatte er die Abficht, garnicht zu kommen?
Bielleiht wollte er fih auf das Sofa in
feinem Bimmer- legen?
Alma Schloß die Augen nicht, fondern lag
und fchaute in das Mondlicht, das durch die
Ealonfenfter über den Boden fiel. Im Schlaf:
zimmer waren die Garbinen herabgelajlen;
aber im Salon war es hell. Und fo frieblidh
fill und beimlih! Auch die Möbel, Stühle,
Tiſch und Sofa fahen fo friedlich drein; fie
fühlten nichts von den Schmerzen der Welt.
Jetzt aber — jeht!
Die Thür zu Johns Zimmer öffnete fich,
und er Fam dur den Ealon, die Kerze in
der Hand. Almas Herz Flopfte heftig, aber fie
ſchloß die Augen und lag unbeweglich, mie
tot da. Sohn ftellte das Licht auf den Tiſch
neben dem Bett und ftand eine Meile ftill.
Alma fühlte, daß er fie betrachtete. Dann
wandte er fih ab und begann fih zu ent:
Heiden. Sie öffnete ein wenig die Liber und
betrachtete verftohlen fein Geſicht. Es mar
Streng und ernit. Zitternd fchloß fie wiederum
die Augen. |
Nun wandte fi) Sohn nicht mehr nad
ihr bin, fondern legte fih und blies das Licht
aus. Mie nahe war er ihr nun. Cie laufchte
feinen Atemzügen und folgte jeder feiner
geringften Bewegungen.
„Sohn!“ flüfterte fie für fih. „Verzeih
mir, ih bin ja dein. Ich liebe dich ja von
ganzer Seele. Berzeih’! Sei nicht böfe! Ich
fann nicht leben, wenn du fo kalt und
unverjöhnlich bift!”
Sie hob den Kopf vom Kiffen. Vielleicht
wollte fie dasjelbe laut jagen; aber John war
ſchon eingefchlafen. Schwer und gleichmäßig
atmete er und wußte von feiner Dual.
Alma ſank auf ihr Bett zurüd.
(Fortſetzung folgt.)
—
Zranen vor Sem Gewerbegericht.
Rlire Salomon.
Nachdruck verboten.
— *2
en Beſuchern des internationalen Frauenkongreſſes, der im Juni in Paris
F 8
tagte, bot fich vielfacd, Gelegenheit zu beobachten, daß die franzöfiichen Frauen
J trotz der mangelhaften Organiſation ihrer Frauenbewegung zu Stellungen,
AÄmtern und Rechten zugelaffen werden, die den deutſchen Frauen trotz energiſchen
Eintretend ihrer Vereine noch vorenthalten bleiben. Nachden erft vor kurzem eine
Frau in den franzöliichen Arbeitgrat gewählt worden, bat diefe Behörde (Conseil
superieur du Travail) ſich jest in einer Sigung unter dem Vorfig des Handels:
minifter8 für die Wählbarkeit der Frauen in die Prud’hommes - Gerichte (die mit
unjern Getverbegerichten verglichen werden Fünnen) erklärt.
Die Bedeutung jolcher Errungenfchaften und die Notwendigkeit ſolcher Forde—
rungen wurde durch eine Begebenbeit der legten Monate auch den’ deutfchen Frauen
gegenüber heil beleuchtet, und zivar durch die Lohnbewegung der Berliner Wäjcherinnen
und Plätterinnen, die mit einer Verhandlung vor dem Berliner Gewerbegeridht endigte.
Für die Hausfrauen dürfte diefe Bewegung von feinem geringeren Intereſſe
fein als die Dienftbotenbewegung. Handelte es fich doch hierbei nicht nur um Ber:
hütung eines Streils, der mit der Wirtichaftsführung, mit Beſchaffung eines häus—
Frauen vor bem Gewerbegericht. 2i
lichen Bedarfsartikels zuſammenhängt und ſomit die Hausfrauen getroffen hätte, nicht
nur um Fellfegung des Lohns für Leitungen, die jede Hausfrau zu ſchähen und zu
bewerten verfteht. Denn die Bervegung der Wäfcherinnen und Plätterinnen, die in
der Einigungsverhandlung vor dem Gewerbegeriht ihren Höhepunkt erreichte, hat
für die Frauen noch eine andre Bedeutung; fie trifft fie auch als Anhängerinnen der
Frauenbewegung. Sie bewies die Notwendigkeit und Berechtigung von frauen
rechtlerifchen Forderungen; fie kann aber auch al ein Erfolg in der Geſchichte der
Brauenbetyegung verzeichnet werden. Zum erften Mal gefchah es in Berlin (und
foweit mir befannt geworben, aud in Deutfchland), daß eine außfchlichlich weibliche
Drganifation das Einigungsamt des Gewerbegerichts angerufen hatte, zum erften Mal,
daß an biefer Stelle eine Frau ald Sprecherin ihre Arbeitögenofien vertrat. Der
ausgezeichneten Haltung der Vertreterinnen der Wälcherinnen und Plätterinnen if es
zuzuſchreiben, daß die Verhandlungen mit einem Sciebsfpruch endigten, der den
2500 Arbeiterinnen der Wajch: und Plättanftalten Berlins eine erfreuliche Beſſerung
ihrer Lage bringt. Die Vorgänge, die den Lohnftreitigfeiten zu Grunde lagen, find
folgende.
Seit Jahrzehnten befteht in Berlin die Sitte, daß Plätterinnen als Lohn die
Hälfte des Preifes erhalten, den der Gefchäftsinhaber von den Kunden bezahlt befommt ;
fo ftellte fich der Preis für dad Dutzend Oberhemden auf 75 Pfennige, das Dugend
Paar Manfchetten 30 Pfennige, dad Dugend Kragen 20 Pfennige; für Damenblufen
variierte der Preis zwiſchen 8 und 25 Pfennigen. Im allgemeinen erhielt die
Plätterin die Hälfte des Preifes, den die Kundfchait zahlte, die andre Hälfte erhielt
der Geſchaftsinhaber zur Dedung feiner Unfoften und als Unternehmergewinn. Wenn
einzelne Arbeiterinnen bei diefen niedrigen Stüdpreifen einen auskömmlichen Wochen:
verdienft erzielten, jo ift dabei zu berüdfichtigen, daß es ſich in diefen Fällen immer
um. befonderd gewandte und geübte Arbeiterinnen handelt, die als Elite der weiblichen
Arbeiter angefchen werden fönnen. Ebenfo wie Maurer, Maler und Schloſſer, die
ihre Arbeit erlernt haben und über eine feſte Gejundheit verfügen müſſen, einen weit
höheren Lohn erzielen, als die meiften andern männlichen Arbeiterfategorieen, fo muß
fih aud der Lohn einer Plätterin höher ftellen, als bei andern Arbeiterinnen, da fie
eine lange Lehrzeit durchzumachen hat, und da an ihre Gefundheit und Kraft fo große
Anforderungen geftellt werben, daß felbft die befte Konftitution fi ſchnell verbraucht.
Vielfah if in den Berliner Plättftuben, deren Angeftellte ja leider nod jeden
geſetzlichen Schuges entbehren, eine wöchentliche Arbeitszeit von 92 Stunden
die Regel; vom Sonnabend zum Sonntag wird faft allgemein durchgearbeitet. Die
Arbeit3räume liegen ganz vorwiegend im Keller; feuchtheige Dämpfe erfüllen die Luft
und fchäbigen bie Geſundheit der Arbeiterinnen.
Wenn angeficht3 diefer traurigen Verhältnijfe bis vor kurzem noch feine Organi—
fation der Wäfcherinnen und Plätterinnen beftand, die für Reformen hätte eintreten
tönnen, fo ift das wohl darauf zurüdzuführen, daß die Arbeiterinnen faft durchweg
ifoliert in Rleinbetrieben, deren etwa 1500 in Berlin eriftieren, befchäftigt find. Ein
äußerer Anlaß bat aber über diefe Hindernifje hintweg die Wäſcherinnen und Plätte:
tinnen zu einer einheitlichen Aktion geführt. Die zunchmende Preisfteigerung,
namentlich für Kohlen und Kos, veranlaßte die Inhaber der Walch: und Plätt:
anftalten, die zwei große Organijationen befigen, vor einigen Monaten, einen neuen,
bedeutend Höheren Tarif zu vereinbaren, der ſeit Pfingiten allgemein im Kunden:
verkehr gilt und der überall von den Hausfrauen gezahlt worden ift, ohne daß von
irgend einem Proteſt gegen die bedeutende Preiserhöhung (bei einzelnen Artikeln
beträgt fie 100 Prozent) etwas verlautet wäre. Die Pätterinnen erwarteten eine
entiprechende Erhöhung ihres Stüdlohns, ald der neue Tarif eingeführt wurde, um
fo mehr, als auch in den Verfammlungen der Plättanftaltsbefiter die Erhöhung des
Preiſes damit motiviert wurde, daß neben den hoben Nohlenpreifen „auch die Plätte
rinnen höheren Lohn verlangen“. Die Anftaltsbefiger wollten aber allein Nugen aus
der Preiserhöhung ziehen, gingen plöglihd von dem alten Brauch der Teilung ded
Preifes ab und billigten den Arbeiterinnen nur ganz geringe Lohnerhöhungen zu.
Üoserne Lebensprogramme.
Gertrud Bäumer.
Nabrud verboten. na had
I
dus driffe Reid.
E hunderts eine feltfame lange gewachien, eine philofophifche Sekte.
Nicht eine, deren Jünger fih nur im Hörfanl oder auf den Blättern der
philofophiichen Zeitfchriften von Amts wegen zufammen finden, nein, eine richtige
philoſophiſche Sekte, wie in den Tagen, da Sofrates auf den Straßen Athens Schüler
fuchte, die feine Lehre ergriffen und ſich zufammenfcloffen, fie zu leben. Im
Beethovenfaal der Philharmonie feierte die neue Gemeinfchaft ihr erſtes „Kulturfeſt“.
Beethoven, Nietzſche, Ibſen, Stirner, Angelus Silefius, Eugen Dühring, Michelangelo,
Goethe weihte fie zu ihren Propheten.
Sie wirbt Jünger, Erkenntnis: und Lebensgenofien, durch „Flugichriften zur
Begründung einer neuen Weltanſchauung“). Darin fol das Evangelium vom „Reich
der Erfüllung“ verbreitet werden, und das erfte Heft verkündet „Das höchſte Wiſſen“
und dad „Leben im Licht“.
Dieſes erfte Heft fol ein vorläufig Wort fein an die „Wenigen und an Alle“,
d. 5. an die wenigen Freien, die dad höchſte Willen befigen und an alle die andern,
die durch das höchfte Wiflen fich erlöfen und zu lichter Harmonie des Wollens, Dichtens
und Denkens führen laflen wollen.
Die neue Selte behauptet und veripricht viel:
„Unfere Gemeinſchaft ift eine Ertenntnis und Lebensgemeinſchaft, geeinigt in der Weltanſchauung
des realen Monismus, in der Anfchauung von der Bieleinpeit, Wandlung und Wiederverjüngung, von
den fteten Neuwerdungen und Entwiclungen aller Dinge. Den Kern diefer Anſchauung bildet die
Erfenntnid der Jdentität von Welt und Ich, die Vorſtellung vom Welt-Ich. AS Welt-Ad ift alles,
was ba ift, jeber und jedes, ewig, ohne Anfang und Ende, unvergänglich, unzerftörbar. Und in immer
neuen Wandlungen befteht alles, was da ift, von Emigteit zu Ewigkeit. "
Die neue Weltanfdauung überwindet ald Identitätslehre alle Gegenfäge und Widerſprüche, welche
im Gebiet der alten Weltanfgauung Wiſſen, Wollen und Yeben burdjfegen. Und mit dieſen Gegenfägen
überwindet fie bie eigentliche Triebtraft aller Yeiden und Kämpfe, allen Bangen und Zweifelns, aller
Verzweiflung und allen Elends. Über alle Gegenſäte hinaus führt fie zu einer lichten Harmonie im
Denten, (Fühlen und Leben des Einzelnen, für die Gemeinſchaft aber ermöglicht fie die Verwirklichung
des höchften Rulturidents.”
Alfo darin liegt die Erlöfung: das Geſchehen erfaffen nicht als Aufwärts oder
Abwärtd, als Fortſchritt oder Hemmung, ald Sieg oder Niederlage, als fittlich oder
y deinrich Hart. Julius Hart. Vom höchſten Wiſſen. Vom Leben im Licht. Das Reich
der Erfülung. Flugſchriften Heft I. Leipzig 1900.
24 Moderne Lebendprogramme.
unfittlid oder unter irgend einem Geſichtspunkt, der Entgegengefehtes ausschließt ober
verurteilt, jondern die Welt erfaſſen lediglich, ausſchließlich als Verwandlungserſcheinung,
in der jede Moment gleich berechtigt, gleich bedeutend, gleich wertvoll ift, denn in
jedem Tann das Welt-Ich angefchaut und erfaßt werden.
Je tiefer man in die Fülle und Feinheit eines Gejchehens in al feinen
Beziehungen eindringt, um jo deutlicher offenbaren ſich alle Gegenfäte und Wider:
Iprüche, die e8 zu umlagern fchienen, al& notwendige Ergänzungen.
Sp gilt e8 nicht mehr, fein Leben einfegen für die eine oder die andere Sache,
fämpfen für dieſe oder jene Anficht, es giebt fein entweder — oder; e3 gilt nur, Die
Menfchen und Ereignifje in ihrer Allfeitigfeit verftehen, mit immer feineren Drganen
ih in die Umwelt verſenken, auf ihre Eindrüde reagieren.
Mit immer feineren Organen — an diefer Stelle öffnet die neue Weltanſchauung
der Myftit Thür und Thor, anerkennt fie dag Schauen und Erleben von Dingen, die
dem normalen Menjchen verfchloffen bleiben.
Das ift auch die Wurzel der neuen Moral und Ethik: „Lernet einander verfiehen!“
Für den Bürger des Reiches der Erfüllung erwachſen aus bdiefer Wurzel drei Haupt:
gebote — d. h. in der Sprache de neuen Neiches giebt es natürlich eigentlich Feine
Gebote und Verbote, fie jagt vielmehr fo: „Wer zur Harmonie gelangen will, erleichtert
fich den Weg, wenn er breierlei beachtet. Wenn er feine Kräfte nicht unnütz bergeubet,
jondern jedes Arbeit3: und Schaffensziel nach den Geſetz des Eleinften Kraftmaßes
zu erreichen jucht, wenn er jeden Genuß unter geringfter Beeinträchtigung andrer
eritrebt, wenn er jedes Leid durch Betrachtung oder durch die Glut inbrünftiger
Verſenkung aufzulöfen ringt.”
Mit jubelnder Siegedzuverficht fchauen die Stifter des Neiches der Erfüllung in
die Zukunft, in den neuen Morgen, dem fie die Menjchheit entgegenführen; mit dem
gütig-mitleidigen Lächeln unendlicher Überlegenheit zurüd auf die Geiftesfämpfe ver:
gangener Zeiten und ihre Fläglichen Rejultate. Seltſam, daß man fich einft die Köpfe
erhigen konnte über „das erichütternde Bedenken, ob man ficherer mit dem Papft zu
Rom oder mit der Bibel den Weg in die Stadt der goldenen Gaſſen finde”.
Das Alte ijt alles abgethan, und ein herrliches Neues an feine Stelle geſetzt,
ein Neue, um das die Sabrtaufende vergeblich gerungen, das, wie einft die Ver:
kündigung des Chriſtus und des Buddha, die Erfüllung des Alten fein wird.
„Die alte Welt der Zerjplitterungen, Trennungen und Feindichaften bilden wir in eine ncue Melt
großer, wunderbarer Harmonieen um, und ben Sch: Menfchen der Vergangenheit erhöhen wir zum
Menſchen-Ich der Zukunft.”
„Wir treiben den Wahnfinn aus und geben der Welt die Geſundheit wieder,“
„Wer mit und iſt, eins im Willen und eins in der Kraft, wer die neue Weltanfchauung mit jeder
Safer lebt, der weiß und empfindet nicht® mehr von all! dem Hader und all’ dem Zwieſpalt, von den
Sorgen und der Unruße, von dem Ängften und Fürchten derer, die draußen ftchen. Deſſen Geiſt hat
eine Gewalt, die alle Welten durchdringt und erobert, deſſen Seele hat die Stille, die Weihe, den Frieden,
der über jedes Geſchick erhaben ift. Er ift ein allzeit Siegenber, ein allzeit Fröhlicher, ein allzeit Seliger.“
Die neue Weltanjchauung giebt fich in jeder Beziehung als Superlativ alles
Gedachten und Erfannten.
Es ift Bier nicht der Ort, eine willenfchaftliche Kritif zu geben. Mag die Schul:
pbilojophie den Hingeworfenen Handſchuh aufheben, wenn fie Luft dazu bat und bie
unzünftige Lehre ernft nimmt, mag fie nachweifen, was in der neuen Weltanfchauung
alt ift und wo Jie ihre geheimen oder offenfundigen Riffe hat.
Moderne Lebensprogramme. =
Damit wäre fie allerdings noch nicht entkräftet. Sie giebt ſich nicht nur als
Welterklarung, fondern als Welterlöfung. Und fo fchlägt fie ihre Schlachten auf dem
Felde des Lebens. Dort wird der Litterarhiftorifer, der Kulturhiftorifer fie zu fuchen
haben, dort wird er fie wiederfinden ald die mehr oder weniger zur Theorie gelärte
Lebenzflimmung derer, die fih am Anfang des neuen Jahrhunderts die „Modernen”,
im prägnanten Sinne nannten, dort wird fie ihm die Geheimniffe und Ratſel ihrer
Kunft deuten helfen.
Welt-Erlöfung — der neue Glaube ift die Religion der modernen Kunft; fie
wird den Siegesjubel der Befreiten des Lebens im Licht ausklingen, in ihren Geftalten
werben wir die Erlöften des Reiches der Erfüllung fuchen dürfen?
Da ift kürzlich ein Buch erfchienen: „Das dritte Reich” von Johannes Schlaf !),
das fich faft wie eine Probe auf dad Exempel ausnimmt.
Der Bürger des neuen Reiches ift der achtundzwanzigjährige Kandidat der
Philoſophie Dr. Emanuel Liefegang, ber in Berlin im Rofenthaler Viertel von
den Zinfen feines Vermögens lebt.
Er hat — dad muß vorausgefchidt werden — in feiner Jugend an Krampf:
anfällen und fallender Sucht gelitten, und der Gebraud von Morphium und Bromtali
iſt ihm geläufig.
Bir finden ihn eingangs wie Fauft über dad Johannesevangelium gebeugt; ihn
beichäftigt die Idee von der Wiederkunft und dem taufendjährigen Reid. In einem
efflatifch getragenen Gedankengang, deſſen Untergrundseinheit ihm in dem Erdamotiv
aus dem Nibelungenring geheimnisvoll mittönt, entfaltet fich ihm die Offenbarung, daß
jene Erfüllung der Zeiten da fei. Das menſchliche Denken ift auf feinem Wege durch
die Welten, die es fih unterwarf, durh Stirner und Nietzſche zurüdgeführt zum
Individuum, dem „A und D, dem legten unlösbaren Problem“. Die menschliche
Individualität, die fich felbit begriffen und damit in eine neue Metaftafe des Seins
eintritt, eine Neugeburt erlebt: Das ift ber Sinn der Wiederkunft.
Den erichöpfenden Ausdruck dieſes Gedankens findet er in dem Gedichte Alfred
Mombertö „des feltfamften und eigenartigften aller Lyriker, die Deutſchland im legten
"Jahrzehnt Hervorgebracht” — was man nad) folgender Probe jedenfalls gern zu=
geftehen wird —:
Gott ift vom Schöpferſtuhl gefallen
Hinunter in bie Donnerhallen
Des Lebens und der viebe.
Er figt beim Facelſchein
Und trinkt feinen Wein
gwiſchen borftigen Geiellen,
Die von Weib und Meerflut überfhwellen.
Und der Mond rollt über die Woltenberge
Durch bie geſtirnte Meernacht,
Und die großen Werte
Sind vollendet und vollbradt."
Der Dr. phil. Emanuel Liefegang widmet fih von nun an ausichlieklid der
Steigerung feiner Nervenfenfibilität, die ihm neue Dffenbarungen vermittelt; und
überall drängt fih ihm die Veftätigung jener Erfahrung auf, daß die legte Ent:
") Berlin 1900. F. Fontane u. Co.
Moderne Lehensprogramme. 8
ein mehr aſthetiſches und nach jeder Richtung vorurteilsloſes, obiektived Empfinden, wie es der Menſch
etwa der Tier: und Pflanzentvelt gegenüber hat, — diefen Menfchen gegenüber, die der Jargen moderner
Humanität die ‚Elenden‘, ‚Armften‘, ‚Enterbten‘, und tie immer zu nennen beliebt, ein Jargon, ben
aud er einft gefannt und ben feine geöffneten Augen nun als cigenfte perfönliche Unfreiheit erfannten.
Denn das Schicſal der Moſſe ift ftetd eherne und ewige Notwendigkeit.”
Diefes große, - weite, befreite, Finderäugige Gefühl einer neuen Naivetät,
eined Ur: und Paradieszuftandes ermöglicht dem Dr. Liefegang dann aud den
ftrupellofeften, intenfivften Genuß des Verkehrs mit der „Modellmarie”. Auch ber
Anblid der fterbenden Proftituierten in dem entfeglichen Elend ihrer verrauchten, öden
Dachkammer vermag feinen Gleihmut nicht zu erfehüttern.
„Es ging von ihr aus wie ber Troft einer Gelaſſenheit, die keinen Trübfinn auflommen ließ.
Tas echte Berliner Kind! — Dunter, witzig, intelligent, prattiih, tapfer und gelafien, ohne
Illuſionen und — Romantif. —
Und tie — rein, wie wunderbar ſchuldlos fie eigentlich war, mußte er denten. Sie, die feine
ſchwerblütigen Gebanten, teine Grübeleien und feine Reue kannte. Tie ihr Leben refolut und bewußt
nach eigner Fagon Iebte. Und fo würde fie auch fterben, tapfer, ohne Furcht und Reue, mit dem
DVewußtfein, daß dann alles aus und vorüber fei.
Rein, ſchuldlos, harmoniſch! Wie ein Tier ftirht! —“
In den „ſeeliſchen Aequinoktien,” deren Wonnen und Schauer ſich der
Dr. phil. Liefegang durch abfolute Enthaltung von jeglicher pofitiven Arbeit, einen
gelegentlichen Meinen Abſhnthrauſch und im Vertrauen auf die Elaflizität feiner Nerven
je länger, je häufiger und ergiebiger zu verfchaffen weiß, gewinnt der Idealmenſch, das
neue Ich feines realen Monismus immer beftimmtere Züge:
„unfruchtbar, patbologifch, anſcheinend zwecklos, paſſiv und refleftiv, aber mit unendlich volltommenen
feelifgen Fühlern alle Rätſel des Dafeind ertaftend, alle feine weſentlichſten Schicſale erlebend oder mit
ungeheurer Senfibilität miterlebend, ein überreifed Wefen, für dad es feine Rätfel mehr giebt, ein groker
ftiller Schauender und Wiflender . . . Er, dieſer Überfeine, diefer Zarte, Reifſte und Vollendetſte, ganz
ganz Seele, nadtefte Seele... Der neue, ftille Lacher, ber Heimliche, Bielfeitige, Viegſam Fromme!” —
Den Aquinoftien folgen zuweilen unerträgliche Zuftände, da fühlt fi der Doktor
„ſchlaff, müde, fad, unfagbar zerfajert”.
Aber das ift eben die meue, werdende Eeele, das find die neuen Nerven.
Das find „Stimmen kranker Sehnſucht eines Senfitiven, die morgen die Sprache einer
neuen Gefundheit fein werden“. Dr. Emanuel Liefegang meint, daß gerade die Menfchen
mit einem „Rnid“, wie er ihn hat, das „Milieu für den dereinftigen Übermenfchen
abgeben werben“.
Ein einziges Mal wil das Leben den Dr. Emanuel Lieſegang aus der bloßen
Receptivität heraus zum Handeln zwingen. Es padt ihn in der Leidenfchaft für die
Geliebte feines Freundes. Sein Nebenbuhler ift der ftarfnerwige Weltſtadtmann par
excellence, pratifh wie ein Yankee und ohne alle kränklichen „ſpiritualiſtiſchen Sehn—⸗
füchte und Atavismen“. Bon einer einfchüchternden Sicherheit im Auftreten und „in
feinen zahlreichen Beziehungen zu den Weibern ein Schwerendter, der fih auskannte“.
Es illuſtriert die Art diefer Beziehungen gewiß, daß er ein worlibergehendes Mädchen
„ein Prachtbieft” nennt. Wenn man dagegen den Tagebüchern Liefegangs Glauben
ſchenken darf, fo ift fein Freund durch und durch „Gentleman“.
Liefegang fucht feine Abficht, fi in Olgas Beſitz zu fegen, in feine moniftifche
Weltanſchauung einzugliedern durch eine Theorie, für die er Darwin, Niegiche und
Stier zu Hilfe nimmt. Danach muß zur Heraufführung einer neuen Kultur einer
Die Stellung der Fran im Schulgeſangunterricht.
von
JIulie Müller-Tiebenwalde.
Nadbrud verboten.
uf_ dem großen Felde der Kunſt, das ſchon in vieler Beziehung ſich der weiblichen
IM Eigenart ertragfäbig gezeigt bat, liegt ein Stüd Brachland, das ſich gerade
N unter der Fürforge und Pflege der Frau in einen lieblihen Garten wandeln
ließe, der Blumen und Früchte edler Art bringen würde zu Nug und Frommen aller; —
dies Brachland ift die weibliche Singftimme in den Kinder: und Schuljabren.
Es ift jüngft eine höchſt vwerdienftvole Abhandlung von Profeffor Paulfen in
Kiel erfchienen, in welcher die Gefahren des jegigen Schul: und Chorgefangunterrichts
beleuchtet werben. In einem kurzen Überblid twird darauf hingewieſen, wie gering
das Material ift, dad an Studien und Unterfuchungen über die Stimmen der Kinder
feither zufammengetragen wurde. Um fo danfenswerter find die Erhebungen über
die Stimmbegrenzung im jugendlichen Alter, die, an 2601 Kieler jungen Männern,
jungen Mädchen und Kindern vorgenommen, dem Fachlehrer eine reiche ftatiftifche
Belehrung bieten. Die auffalende Unkenntnis über das MWefen der Singftimme in der
Jugend it um fo befremdlicher, als längft fon bedeutende Gefangpädanogen bei den
Klagen über den Verfall der Gejangkunit auf die mangelhafte Pflege der Stimme in
den Kinderjahren als auf die Wurzel de3 allgemein fühlbaren Übel3 hingewieſen haben.
In der erwähnten Brofchüre von Profeffor Paulfen: „Die Singftimme im
jugendlichen Alter und der Schulgefang” wird unter anderem bervorgehoben, daß
bei dem feitherigen Unterricht zwifchen Knaben: und Mädcenftimmen
nit genugfam unterfchieden wird, und hier möchte id) anknüpfen, um die
Berechtigung der Forderung nachzuweiſen, daß der Gefangunterricht in den Mädchen:
ſchulen der Gefanglehrerin zufomme, und nicht, wie jegt meiſt üblich, von
Gefang: refp. Muſiklehrern erteilt werden fol. Betrachten wir zunächft einmal die
Ducchfänittörefultate bei dem jetzt herrichenden Syftem, nach dem Wort „An ihren
Früchten folt ihr fie erfennen“.
Wenn nach Entlaffung aus der Eule das junge Mädchen den Gefangunterricht
privatim oder an einem Gefanginftitut auffucht, fo follte man annehmen, daß nach
einem mindeftens fechjährigen Eingunterricht während der Schulzeit eine Vaſis der
Tonbildung vorhanden fein müßte, auf der man tweiterbauen könnte, um — ten
aud in individuellen Grenzen — fünftleriiche Leiftungen zu erzielen. Weit gefehlt!
Die Stimmgrenzen find verfchoben, der Tonanfag ift unfrei, die Ausfprache, die vorn
im Munde liegen fol, zeigt fih jo wenig entwidelt, daß — um nur dies Eine zu
erwähnen — kaum ein Zungen: R richtig gebildet wird.
Für diefes Defizit des Organs fann die bisweilen recht weit gefürberte Kenntnis
der mufifalifchen Elementarlehre in feiner Weife entfchädigen. Cie bezwedt im
Treffen von Intervallen, im „Vomblattſingen“, im fogenannten „Mufikdittat” eine
Bildung des Gehör, die ich die „mathematifche” nennen möchte, die aber nichts zu
thun hat mit der Pflege jenes Sinne für Wohllaut und Klangſchönheit, der ein
wefentlicher Faktor für eine geſunde Tunbildung ift. Sie ift es, welde das Organ
fähig macht, mit der körperlichen Entwidlung fortzuſchreiten durch eine aufmerkjame
Pflege im jugendlichen Alter und in den Schuljahren.
Im Gegenfag zu dieſer ‚Forderung eines normal und gutentwidelten Stimm:
materials beim Verlajjen der Echule, bilden diejenigen jungen Mädchen einen großen
Prozentjag, die das untere Etimmregifter, da8 man mit dem Namen „Bruſtſtimme“
bezeichnet, weit über die phyſiologiſch feftgeftellten Grenzen hinaufgetrieben haben. Dadurch
80 | Die Stellung der Frau im Schulgejangunterridit.
wird die Mittelftimme, das eigentliche Element des weiblichen Stinnmorgang, ſchwer
geichädigt, und zahlreiche ftimmliche Fehler und ſchwer auszurottende Beeinträchtigungen
in der Tongebung find die unaußbleibliche Folge diefer Verſchiebung der Negifter.
Woher entftehen diefe Mißftände?
Die Erfahrung lehrt, daß die meilten Kinder fich beim Singen mit Borliebe in
den Tönen bewegen, welche ihnen beim Rufen und Schreien geläufig geworden
find. Das Kind will fih hören, und wenn es in einer Schar von anderen Kindern
fingt, dann will e8 fich erit recht hören, und firengt fein Stinmnihen an, um unbewußt
jene Schwingungen der Stimmbänder hervorzurufen, die eine fräftigere Refonanz geben,
und da? gefchiebt durch die Bruftftimme.. Der kindliche Stimmapparat ermöglicht dies
Bemühen zunächſt ohne hörbare Schädigung des Organs. Die Verbindung der unteren
und oberen Stimmgrenze gelingt auch in höher binaufgefchobenen Tönen vorläufig,
ohne unangenehm durch einen Bruch aufzufallen. Bon Unkundigen wird das Starl-
fingen der Kinder thörichterweife ſogar belobt und protegiert, aber dieſe metalliich
klingenden Töne, die für die natürliche Lage der Mittelftimme fubftituiert werden, dienen
Ipäter, wie ſchon erwähnt, zum Nachteil jener Tonreihe, die nicht nur das Fundament
der Frauenſtimme ausmacht, jondern ihr auch, neben der reizuollen Kopfſtimme, das
Ipezifiich Weibliche im Klangcharakter verleiht.
Wie ift nun dem Kinde bemerkbar zu machen, mo es die Stimmlage wechjeln fol?
Einfach durch das Vormachen ſeitens der geſchulten Frauenftimme. Vermöge
des ihm innewohnenden Nachahmungstriebes faßt ſelbſt ein Kind von 5—6 Jahren
den Unterſchied in der Tongebung überraſchend ſchnell auf, wie ich es oft zu konſtatieren
in der Lage war, von größeren Kindern ganz zu geſchweigen. Für das männliche
Organ ift es eine phyfiologifche Unmöglichkeit, Mittelftimme in der Weiſe zu verdeut-
lichen, wie es die Frauenſtimme kann, denn auch das ausgebildete männliche Falfet
entſpricht keineswegs den weiblichen Gefangtönen in der gleichen Stimmlage. Und
wie ganz anderd entwidelt fich bei der Frau das feine Herausbören der Regilter:
unterjchiede, da fie an fich felber die Studien täglich zu machen in der Lage ilt,
einerlei ob ihre Stimmgattung Alt, Mezzo-Sopran oder hoher Sopran fei.
Wird aber der Mittelftimme von früh auf eine jorgfältige Beachtung zuteil,
dann gelingt auch mühelos die Verbindung mit den energifchen Brufttünen; eine
Bereinigung des Starten mit dem Milden, die auch bier einen guten Klang giebt.
Und wie ift e8 nun mit der Spite jener oberen Tonreibe, die man als Mittel:
ftimme nicht mehr anjprechen kann, miti der jogenannten „Kopfſtimme“, die der weib-
lichen Stimme, namentlid in der Höhe, ihr bejonderes Kolorit verleibt, — follte hier
vielleicht die Geige des Lehrerd in ihren zarten Tönen ein entiprechendes Vorbild fein
fünnen? O nein, denn der infirumentale Ton kann die Modifikation der Vokale nicht
wiedergeben, deren das findliche Organ bei den höheren Tönen jeder Stimmlage
ebenjo bedarf wie ter Kunftgefang der Erwachſenen, um die Tongebung zu veredeln
und um dad Organ zu ſchonen. Auch Hier ift dad Vormachen durch die fünitlerifch
geſchulte Frauenſtimme nicht annähernd durch ein anderes vokales oder inftrumentales
Borbild zu erjegen.
Ich bin weit entfernt zu verkennen, was einfichtövolle Gefanglehrer bisher auch
für Mädchenfchulen geleiftet haben. Manche unter ihnen, 3. B. Profeſſor Kraufe in
feinen von Wärme für den Gegenitand erfüllten Ausführungen zur „Deutfchen Sing:
Ichule” weifen auf die Gefahr des Zubochhinaufichraubend der Stimmgrenzen nad)
drüdlich hin, und wollen den Unterjchied der Bruſtſtimme gegenüber der Mittelftimme
den Schülerinnen verdeutlicht willen; allein, es ift mindeltens fraglich, vb dieſe
theoretische Unterteilung imftande ift, die Schülerinnen jo zu belehren, daß fie bie
falfchen, gejundheitwidrigen Töne meiden, und im Klaffenunterricht in diefer Hinficht
erfolgreich zu wirken, wenn das lebendige Borbild und Mufter feblt.
Und noch eines Punktes möchte ih Erwähnung thun, der es wünſchenswert
macht, den Gejangunterricht in den Mädchenjchulen in die Hand der Frau zu legen.
Es ijt befannt, daß zur Zeit der weiblichen Periode eine gewilfe Schonung der
Singftinnme geboten ift. Die Erörterung über die phufiologifchen Gründe gehört nicht
u wm wi aus 8
hierher. An ſolchen Tagen einfach den Geſangſtunden fern zu bleiben, kann ber
einzelnen Schülerin nicht verftattet werden, denn es würden hierdurch zu große Lüden
im Unterricht entftehen; da junge Mädchen muß wenigſtens pafliv anı Unterricht
teilnehmen. Für ein feinempfindendes Madchengemüt iſt aber die Entfchuldigung:
„I kann beute nicht fingen“ dem Lehrer gegenüber höchft unangenehm, auch die
Ausrede: „Ich bin heifer” wird häufig von einem Erröten begleitet, das mancher
Schülerin fo peinlich if, daß fie ein andermal lieber die Gejangftunde verjäunmt.
Einer Frau gegenüber jedoch, bie für diefe Fritifchen Tage das richtige Verftändnis
hat, bedarf ed kaum einer Anbeutung.
Das junge Mädchen wird der Lehrerin jür die Erfparung einer offiziellen Ent:
ſchuldigung und für jede zarte Rüdficht nur Dank wiffen, der fid) meiſt darin offenbart,
daß die Gefangftunden pünktlich bejuht werden, wodurd das ſolidariſche Gefühl der
Geſangklaſſe, das unter vielen Verfäumniffen leidet, nur gehoben werden kann.
Die Tätigkeit der Frau als Bildnerin der Geſangſtimme ift zunädft in
Betracht gezogen worden, um bie in ihrer Eigenart wurzelnden Vorzüge zu zeigen, es
erübrigt aber noch einer Kraft dabei zu gedenken, die zwar ironijierend dem weiblichen
Geſchlecht als „Zungenfertigfeit“ zugeichrieben wird, die jedoch von jedem, der fid, mit
dem Gefang beicäftigt, als „Sprechſtimme“ befonders ausgebildet und gepflegt
werden follte.
Die Geſchichte von Demoſthenes, der, um ein guter Redner zu werden, fich zur
Überwindung fprachlicher Schwierigfeiten Kiefelfleine auf die Zunge legte, und außer:
dem an den Geftaden des Meeres Atemgymmaftit trieb, dieſe Überlieferung ift allen
geläufig, aber die Nutzanwendung von einer Erziehung der Sprade wird in den
Schulen nur in verfhwindenden Fällen zum Ausdrud gebracht.
Und doch haben die ſprachphyſiologiſchen Forſchungen und die aus ihnen in
Wechſelwirkung rejultierenden praktiihen Studienwerfe, wie wir ſolche Brüde, Heimholtz,
Fr. Schmitt, Stodhaufen, Guftav Engel, Hev, Hermann, U. Kuyperd und anderen
verdanken, und den Mechanismus des Sprechens derartig erflärt und dadurch die
Unterweifung in diefem Lehrgegenftand fo erleichtert, daß unfere Mutterfprache in der
That eine allgemeinere, forgfältigere Pflege und jomit beflere Würdigung ihrer Schönheit
finden follte als bisher. Das wird erreicht werden, jobald die ſprachliche Erziehung
nicht nur bei den Erwachſenen anhebt, die beruflich auf eine Stimmbildung angeiviefen
find, fondern wenn die Ausbildung der Sprache methodiſch ſchon in der
Säule durch fjyftematifhe Übungen gelehrt wird. Diefe Forderung hat
Friedrich Schmitt bereit3 um die Mitte unſeres Zahrhundert3 aufgeftelt.
Mir find auf dem Gebiet des Schulweſens bislang nur die Karlsruher
Beftrebungen des Profeffors Eduard Engel bekannt, die im Klaſſenunterricht der Volts-
ſchule — meift im Anſchluß an den Gefangunterriht — eine methodifhe Schulung
der Sprache zur Anwendung gebracht haben. Der Großherzoglich Badiſche Oberſchul⸗
rat bat, wie ich dem antegenden Vortrag von Tr. med. D. Schwidop entnehme, auf
Grund der ausgezeichneten Nefultate, die diefe ſprachliche Stimmbildung gehabt hat,
fih veranlaßt gejehen, eine größere Anzahl von Lehrern Kurſe in diefer Methode
nehmen zu laffen.
Daß der Gefangunterricht in erfter Linie die Früchte diefer Schulung der Sprech
ftimme einheimft, liegt auf der Hand. Machen doch, wie Hey richtig bemerkt, „die
beftausgebilbeten Sprachwerkzeuge die menigiten Tonbildungsfehler”, aber auch der
fremdfprachliche Unterricht empfängt durch eine derartige Gymnaftif der Stimme und
durch die damit verbundene Verfchärfung des Gehörs weentliche Förderung, wie er:
fahrene Neuphilologen beftätigen können. Den geübten Sprechwerkzeugen gelingen auch
die von den unfern abweichenden Laute viel beffer und leichter (cf. Mund: „Die
Ausbildung und Erhaltung der menſchlichen Stimme“).
In hygieniſcher Beziehung laſſen ſich die Vorteile einer rationellen, ſprachlichen
und gejanglichen Stimmbildung für die Voltögefundheit gar nicht ermefien. Wer darüber
nachzuleſen wünfdt, ben verweiſe ich auf das vortrefflihe Schriften von
Dr. med. €. Barth: „Der gefundheitliche Wert des Singens“, umd auf einen
Hinna Sant. ——
Zelbfibiographie.
Überfegt von
€. Stine
Naqhdrud verboten. zz
Die nachſtehenden Mitteilungen gab Minna Canth feiner Zeit dem norwegiſchen Autor Harald
Hanfen zur Beröffentlihung in ber Zeitſchrift für Pitteratur und foziale Fragen „Samtiden". Bir
alauben ein befonbere® Intereffe bafür bei ben Leſern des pincologiich fo überaus feinen unb inter:
effanten Romans „Blinde Klippen”, befien Veröffentlichung wir in dieſer Nummer beginnen, voraus:
fegen zu dürfen. D. Red.
ich wurde 1844 in ber Stadt Tommerford geboren, wo mein Vater Guftav
"= Wilhelm Johnſon dazumal eine Stelle ald Auffeher in der größten Baumwoll⸗
ſpinnerei unſeres Landes inne hatte. Ich war von früheſter Kindheit an meines
Vaters Augapfel, und ich entſinne mich noch, wie er vor den biederen Arbeitern, die
zu unſerem Umgangskreiſe gehörten, gern ein wenig mit meinen Talenten prahlte. Ich
alt bei ihnen als Wunderkind, denn ich las mit fünf Jahren „wie ein Pfarrer”,
Fang mit lauter Stimme Pfalmen und begleitete mich dabei auf dem Harmonium.
Obwohl mein Vater zu jener Zeit in recht befchränften Verhältniffen lebte, that er
fein Möglichftes, um mir die befte Schulbildung zu geben, die ein Mädchen in unferem
Lande erlangen konnte. Da es in Tommerfors feine Madchenſchule von der guten,
alten Art gab, folte ich nach Abo geſchigt werden; fpäter follte ih mich zur Qebrerin
ausbilden. Es war dies die befte Zukunft, die mein Vater dem in feinen Augen fo
außerordentlich begabten Rinde zu bieten wußte. Meine Mutter war minder zufrieden
mit ihrer Tochter, die unaufpörlich über den Büchern Hodte und fi die Augen frank
las, mit Näbzeug und Stridnadeln aber im Höchften Grade ungeſchickt hantierte und
nicht die geringfte Beanlagung für häusliche Beichäftigungen beſaß.
Als ich acht Jahre alt war, fiedelten meine Eltern nach Kuopio über, wo mein
Vater ein Gefhäft mit den Waren der oben erwähnten Fabrik eröffnete. Hier gab
es eine dreiflaffige, ſchwediſche Mädchenfchule, und ich brauchte demnad nicht nad)
Abo zu geben, um den zu jener Zeit für junge Mädchen als pafjend und hinlänglich
erachteten Unterricht zu genießen.
Als Kind hatte ich ein eigentümliches Phantafie: und Gefühlsleben. Tief religiös,
wie ich war, hatte ich oft Vifionen und Träume, in denen ich Vorwürfe erhielt, wenn
ich etwas Unrechtes getban — Troft, wenn ich betrübt war — Rat und Anleitung,
wenn ich mich in einer wichtigen Sache unfchlüffig fühlte. Ich wähnte mich in
unmittelbarer Verbindung mit der Gottheit, und da der Religionslehrer gejagt hatte,
daß der liebe Gott häufig die Kinder, die er am liebften habe, durch einen frühen
Tod abrufe, fo hoffte ich, daß auch mir diefe Gnade zu teil werben würde. Ya, fo
groß war meine Sehnſucht nach dem Tode, daß ich fogar mit dem Gedanken an
Selbftmorb umging, während allerdings andrerſeits die Furcht vor der Sünde und
ber Beftrafung mid) davon zurüdhielt. Die Jahre vergingen, und ich blieb am Leben.
Anfänglich zweifelte ich am Gottes Liebe, da er e3 fiber ſich gewann, mich den mannig«
fachen Verfuchungen de3 Lebens auszuſetzen. Allein der Gedanke, daß möglicherweile
3
Rinne Canth. 35
ihm „das Brot verbrennen wolle.” NIS das Jahr zu Ende ging, war mein Mann
nicht mehr Redakteur der Zeitung, und ich mußte hübſch zur Nähmaſchine zurüdfehren.
Einige Jahre fpäter tagte es wieder. Eine neue Zeitung, größer als die frühere,
murde gegründet, und mein Mann wurde einer ber Redakteure. Mit verboppeltem
Eifer griff ich abermals zur Feder und fchrieb unter anderem Artikel über die Frauen:
frage, die aber feinen Widerhall fanden; die Anregung war noch zu früh gefommen.
Um diefe Zeit befuchte das „Finniſche Theater“ unfere Heine Stadt und brachte
einige bekannte Stüde zur Aufführung. Der Eindrud, den ich empfing, war tief und
*%
&
Klinna Ganth.
Nach einer Zeichnung von Eero Järneielt.
wedte ein unwiderſtehliches Verlangen in mir, meine Kräfte auf dem dramatifchen
Gebiete zu erproben. Naiv, wie id) war, griff ich ohne Bedenken das Werk an und
fcrieb „Murtovarkans“ (Der Einbruchsdiebſtahl), ein Volksſtüch, in dem ein
junges Mädchen durch die Intriguen eines elenden Zauberer fälfchlicherweife des
Diebftahl3 befchuldigt wird. Die Wahrheit wird jedoch von einem Landftreicher
entbedt, einem luftigen Gefellen, leichtfinnig und gutmütig, übrigens die befte Figur
des Stüdes, keiehaitig der Wirklichkeit entnommen, denn gerade fo fand id) ihn eines
Tages auf dem Marktplage zu Ihväskylä.
3*
36 Minna Santh.
ALS ich ungefähr bis zur Mitte des Stüdes gelangt war, ftarb mein Mann an
einer Gebirnentzündung. Sch war nach dreizehnjähriger Ehe verwitiwet, mit fieben
Kindern, von denen das jüngite fait ſieben Monate nach meines Mannes Tode zur
Melt fam. Mein Vater war einige Jahre vorher geftorben — meine Mutter lebte
noch, doch in ganz dürftigen Verhältniffen. Sch Hatte niemand, auf den ich mich verlaffen
fonnte und war überdies franl. Die Zukunft lag finfter vor mir; ich wußte nicht,
wie meine große Familie ernähren. Mein Bater Hatte Konkurs gemacht. Dennoch
befchloß ich, nach Kuopio zu ziehen und ein Ladengefchäft, wie er es betrieben, zu
eröffnen. Ach beendete „Murtovarkans“, fandte e8 dem „Finnifchen Theater“ und
glaubte nunmehr für immer von jedweder litterarifchen Beichäftigung abſtehen zu müſſen.
Nach der Geburt des Kindes ſchwanden meine lebten Kräfte. Der Lebenskampf
wurde mir zu jchwer, und ri war nahe daran, zu unterliegen. Der Wahnfinn näherte
ſich drohend. Eine entſetzliche Seelenangft erfaßte mich, jo daß ich mehrere Nächte
das Dienftmädchen und die älteiten Kinder bitten mußte, mich zu bewachen, denn eine
unfaßbare Macht wollte mich gewaltſam zwingen, das jüngjte Kind zu töten. Indeſſen
fämpfte die alte Natur in mir mit allen Kräften und fiegte allmählich. Doch Hinterließ
die Krankheit eine jahrelange ſchmerzhafte Nervenſchwäche.
Währenddeſſen hatte die finnische Litteraturgefellichaft mir für „Murtovarkans“
einen Preis zuerkannt. Das Stüd wurde 1882 zum erftenmal in SHelfingfors auf:
geführt uud ging unter vielem Beifall fieben Abende bintereinander in Scene. Es
wurde Später in jeder Saifon aufgeführt, und man ermunterte mich zu einer Fort:
jegung meiner Thätigfeit. Sch hatte unterdejlen meinen Laden in Ordnung gebracht
und fand, daß er mir noch Zeit zu anderer Arbeit übrig ließ. Ach fchrieb zunächſt
„Roinilantalossa“ (Im Roinala-Hof), ein idylliſches Sommerftüd mit Wiefen
und brüllenden Kühen, Liebe, Verwidlungen und einer Hochzeit zum Schluffe. Das
Stüd wurde 1883 gegeben und von Publifum und Kritik jehr freundlich aufgenommen.
In diefen beiden Stüden fand fich durchaus feine Tendenz, und jelbit das jchärfite
Urteil Hatte in diefer Hinficht nicht? auszufegen. Und dennoch gab es einige ehren—
werte Frauen, die fich über den unerhörten Leichtfinn entjegten, daß eine Mutter, eine
Witwe mit fieben Kindern, unter jo ernften Lebensverhältniffen ſich Binfegen konnte,
um Theaterftüde zu fchreiben. Überdies hatten einige der wachjamften Geiftlichen
bereit im „Murtovarkans“ bedenkliche Anzeichen von unfittlichen und chriftentums:
feindlichen Tendenzen gewittert, worüber fie fih denn auch in einigen Provinz»
blättern ergoffen.
Zu jener Zeit las ich Georg Brandes’ „Hauptitrömungen”, ſowie Arbeiten von
Taine, Herbert Spencer, Stuart Mil und Budle. Und endlich fühlte ich mich befreit
von den Dogmen und Vorurteilen, die jo lange meine Seele gefangen gehalten und
mein Gewiſſen mit allem möglichen Satandzeug belaftet hatten. Aufs neue erfaßte
mich der Neformeifer, und ich» fchrieb „Työmichen vaimo“ (Das Weib des
Arbeiter), worin ich die Ungerechtigfeit der Gelee gegen die ‘Frauen, Die
unvernünftigen religiöfen Begriffe, die Trunfjucht und Leichtfertigfeit der Männer, die
Dunmbeit, Außerlichkeit und Engherzigkeit der Frauen, kurz, alles Schlechte und
Verfehrte, das ich in der Welt wußte, — und zu jener Zeit vermochte ich beinahe
nicht3 Gutes darin zu entdeden — zum Gegenftand meiner Angriffe machte. Es ilt
bittere Satire in dem Stüd, aber e8 hat weder eine tiefere Piychologie, noch ift es
fünftlerifch reif. Nichtsdeſtoweniger rief es bei feiner Aufführung 1885 einen mächtigen
Eindrud hervor und wurde von einigen Kritifern in die Wolfen gehoben, während
andere die Schalen ihres Zorned darüber ausgoſſen. Man jchonte mich nicht; es
hagelte Beichuldigungen und Schimpfworte. Ich wurde als Atbeiftin hingeſtellt,
die Eltern verboten ihren Kindern, mein Haus zu bejuchen, ich verlor eine ganze
Menge meiner Freunde, und es erforderte überhaupt einen gewillen moralifchen Mut,
fich zu der Belanntichaft mit mir zu befennen. Natürlich gefchah dies alles nicht nur
auf Grund des letzten Stüdes. Ich Hatte Artikel in demjelben Geift gefchrieben,
naturaliftische Novellen, und überdies die Jugend verführt, indem ich ihr aus Brandes’
Hauptftrömungen vorlad. Es gab überhaupt dazumal keine ärgere Perfon im Lande
Rinna Canth. ar
als die Unterzeichnete. Fromme Menichen erdichteten und verbreiteten die unfinnigften
Geſchichten in dem Glauben, hiermit ein Gott mohlgefäliges Werk zu verrichten; man
bedauerte meine armen Kinder, die fol ein Ungeheuer zur Mutter hatten u. ſ. w.
Und felbftverftändlich übte all dies feine Rüdwirtung auf mid.
Der Seelenzuftand, aus dem „Das Weib des Arbeiters“ hervorgegangen, war
ein Gefühl von Lebenzluft, Kraft und Mut, Hinter dem fich vielleicht dennoch eine
kranthafte Überreizung des Nervenfyfiems verbarg. Da trat ein Umfchlag ein. Die
Überanftrengung des Gehirns, die vielen, heftigen Angriffe auf mich und der Verluft
meiner Freunde riefen tiefe Niedergefchlagenheit bei mir hervor. Aufs neue befiel
mich ein drüdendes Gemütdleiden, ein Gefühl von Lahmheit im Gehirn, das mic das
Argſte fürchten ließ. Ich empfand eine unbefchreibliche Bitterfeit gegen mein Water:
land und dachte ſtark an Auswanderung.
Aber der Gedanke an eine Million lebte unabläffig in mir fort. Ich wollte bis
aufs legte für die Unterbrüdten und Burüdgefegten fämpfen. Und fo fchrieb ich
„Kovan onnen lapsia“ (Die Kinder des Unglüds), eine Schilderung des
Proletarierelends, die mit Verzweiflung, Verbrechen und Gefängnis fchließt. Dies
Stüd wurde bloß ein einzigesmal 1888 aufgeführt. Im gleichen Jahre erſchien es
auch im Drud. Die weiteren Aufführungen wurden verboten, ed wurde al
tevolutionär und aufreizend betrachtet. Hierzu kam etwas für mid, Unerwartetes; es
wurde auch von der Kritit vernichtet, nicht nur von der fonfervativen, fondern auch
mit wenigen Ausnahmen von der freifinnigen.
Ich Hatte alfo auf betrübende Art meinen Abſchied vom Theater erhalten; meine
ſchriftſielleriſche Thatigkeit ſchien in feiner Weile mehr einer Aufmunterung wert.
Neuerdings fand ich Renan's Wort bekräftigt: „Sehr ftark und ſehr Hug muß der
fein, den Pflicht, Ehrgeiz oder ein unfanftes Geſchick beruft, fid in die Angelegenheiten
der armen Menfchheit zu mifchen.“
Ich hielt es nun für gut, eine Zeit lang auf meinen Lorbeeren auszuruhen —
zum großen Vorteil meines Heims und meiner Nerven. Im folgenden Jahre verlor
ih durch ben Tod zwei meiner beften Freunde und eine heißgeliebte, erwachſene
Tochter. Da fühlte ich mich wie zu den Pforten der Ewigkeit geführt, und mein
Bid auf das Leben wurde freier und klarer. Hiebe und Stiche trafen mich nicht
mehr, und ich fühlte mich auch nicht mehr berufen, ſolche auszuteilen. Ich fchied aus
dem Kampfe und wurde zum Zufchauer. Dazu kamen die drüdenden politiichen Ver:
bältniffe, die eine finftere Zukunft für unfer Volt befürchten ließen. Der legte Reſt
von Bitterkeit verſchwand, die Arbeitsluft erwachte wieder, und ich fühlte nicht die
geringfte Luft mehr, mein Vaterland zu verlaffen. Ich fchrieb zunächſt „Papin
perhe“ (Die Paftorsfamilie), eine objektiv gehaltene Schilderung der Spaltung
zwifchen ber alten und jungen Generation. Dies Stüd ift diefes Jahr (1891) ein
halb dugendmal im „Finnifhen Theater” aufgeführt worden, außerdem in den
Provinzen. Es wurde von der Kritif mit Wohlwollen aufgenommen.
Ih kann nicht mit Veftimmtheit jagen, wie oft meine erften Stüde aufgeführt
wurden, aber in jedem Jahr ging diejes oder jenes in der Hauptftadt oder in den Provinzen
in Scene, und auch auf Gejelichaftstheatern wurden fie oft gegeben. „Das Weib des
Arbeiters” kam 1886 ein Halb dugendmal im „Nya teater“ in Stodholm zur
Aufführung.
Eigentlich bin ich mit feiner meiner bisherigen Arbeiten zufrieden; doch Hoffe ich,
noch etwas Beſſeres fchaffen zu können, da ic ja noch dreizehn Jahre vor mir habe
bis zu meinem fechzigften Lebensjahr, ') das will fagen, bis zu dem Alter, in dem
alle Schriftfteller „erſchlagen“ werden follten, wie es heißt.
') Dies Alter zu erreichen war ihr nicht einmal vergönnt.
Unter fremden Leuten.
Nein, glei aufnehmen, fo is in Ordnung.“
— Dann tritt Leder, Pinfel und Möbelbürfte
in Aktion. Ein Blid ringsum: „’t is jo wol
allens in Eid." —
„Herrjeh! Halb acht!“
Der Haarbeſen geht eilig über das Linoleum
des Wartezimmers, das wollene Tuch noch
eiliger hinterher. Die Wiener Stühle wirbeln
und purzeln unter dem Staubtuch. — Eo. —
Abt Uhr! —
Rrrrrrr. —
„Alles in Ordnung?” — Ein grämliches,
altes Geſicht hält Umfhau; knöcherne Finger
fahren prüfend über Tiſchflächen und Senfter:
fimfe.
„Wo iſt die Waſſerflaſche? — — Na, ih
will man felbft — — Eie find aud im Lehen
nicht fertig. So mas geht vor im Haufe
eines Arztes.”
Er planfcht in der Küche herum.
Sie wiſcht ängftlih Hinter ihm ber.
„Wenn Frau Rat kömmt — ümmer mit die
ewigen weißen Morgenröd’.“ . . .
Die erften Patienten fommen; unaufhörlich
geht die Klingel. Gottlob, damit hat fie jetzt
nichts zu thun, das Faltotum ift ja da, Schlag
acht hat es anzutreten.
Erſt einen Schlud Kaffee.
hohl in'n Leib.”
Mit fämtlihem Ruſtzeug betritt fie das
Wohnzimmer ber Gnädigen, rutſcht wieder mit
ihrem Schaufelchen den ganzen Teppih ab
und vertieft fi dann mit Pinfel und Leber
in die Unendlichkeit der Vaſen, Urnen,
Staffeleien, Stehbilvchen, Bücher, Nippes,
Kiffen und Kißchen.
Im Eßzimmer hört fie ein leifes Rauſchen.
„Aha, fie i8 ſchon da, hätt auch noch länger
liegen können; nachher bat man fein’ rechte
Ruh’ mehr zu fein’ Arbeit.”
Da geht’3 ſchon los.
„Rieke, Sie haben bier ſchlecht gebedt.
Es liegt alles ſchief. Sie wiſſen, wie mid
das ſtört. Achten Sie beſſer darauf. Mein
Zimmer iſt doch fertig?” —
„Gleich, gnä' Frau.“
Jetzt der Salon.
„O je, die Tappen! Daß die Leut' nich
auf ein’ Fleck bleiben können!“ —
„Mich is ſo
8
Wieder fliegt der Bohnerbefen auf und
ab, auf und ab. —
So große Zimmer find doch einzig ſchön,
fagte geftern Frau v. S. Niele denkt genau
das Gegenteil; ihr fließt der Schweiß vom
Geſicht. Sie Iehnt fih einen Augenblid auf
den Etiel zum Ausruhen. Aber die Uhr, bie
Uhr! — — Es kann nicht weit von elf fein.
Herrgott, fie muß ja in die Küche! Der
Dfen heizt ſich ſchwer und „dur“ muß der
Hammelbraten fein, fonft ißt der Herr Rat
feinen Happen, und ſowas ift ihr zu
unangenehm. Bloß fein ſchlechtes Efien ab⸗
liefern, das ift ihr gegen die Ehre. „Nein,
nein, fein’ Schuldigfeit thun, daß einen feiner
was nachſagen kann.“
Sie klopft, häutet ab, klopft wieder und
wãſcht.
Der Ofen glüht — die Hammelfeule
rundet und bräunt ſich — — —
Schnell wieder in den Salon — weiter
gelratzt, gewedelt, gewiſcht. — Dazwiſchen die
Treppe heruntergeſprungen und den Braten
begoſſen. — Wie er duftet und glänzt! —
Rieles Geſicht auch.
Nun noch die moderne Ofenecke — mas
da alles fteht und baumelt und liegt —
„dann hat woll allens was gekriegt.”
Flint geht Hand, Lappen und Wedel über
die Herrlichleiten hin. Es ift hohe Zeit; jeden
Augenblid kann Beſuch kommen.
Rrrrrrr. Da ift er ſchon.
„Gnäd'ge Frau zu Haufe?” — —
„J— a“ ... Rieke ftodt; is fie nu zu
Haufe oder nidt . .. .
„Wollen Sie nit anfragen?” —
Sie läuft, das Staubtuch noch in der
Hand, ins Zimmer der Hausfrau und meldet
den Beſuch.
Frau Nat fieht fie groß an. „Wie fehen
Sie denn aus, ganz echauffiert, mit dem Tuch
in der Hand und der unfaubern Schürze? —
Sie find in einem herrſchaftlichen Haufe; es
ift Ihnen wohl unmöglich, ſich das zu merfen.”
Nieles Gefiht wird noch um mehrere
Grade dunkler. Beſchämt verläßt fie das
Zimmer, ftottert draußen verlegen an ihrem
Auftrag herum und ſchleicht in ihre Küche.
Mährend fie das Kraut für bie Fleiſch—
ı fuppe pußt, fommen ihr ärgerliche Gedanken.
Unter fremben Leuten.
bißchen prätelt’3 mehr. — Die Klapp' muß
wieder auf; wird ja wohl nichts paffieren.”
Eie fteigt die beiden Treppen wieder in
die Höhe, etwas langſamer ſchon, feit fieben
Stunden ift fie auf den Beinen — es iſt
reichlich ein Uhr. —
Die legte Hand wird oben noch an das
Schlafzimmer gelegt — was es auch bier
alles zu puſſeln, zu deden und zu bürften
Hiebt! — — Befriedigt geht ihr Blick durch
den Raum: Fadengrade liegen bie Spachtel
über den beiden rotfeidenen Eteppbeden, genau
in ber Mitte unten am Fußende leuchtet das
handgroße „Schlafe wohl!” der Nachttaſche.
Streng aufmarſchiert find Kummen, Kannen
und Näpfchen auf beiden Wafchtoiletten. Die
Spiegel blinfen, die Wandleuchter zu beiden
Seiten erft recht. Das eine Licht „will“
immer nicht. Weiß der liebe Himmel, woran
das liegt. Eie drüdt daran herum. „So,
nu wird fie woll nichts finden; ich mein’, nu
hat allens feinen Schid .. .. wenn nu man
der Braten — — —!“
Eine wahre Angft padt fie. Cie fliegt
die Treppen hinunter und fehnuppert in bie
Küche hinein. Ein bißchen darf riecht's
ſchon. —
Die Klappe finkt; die Pfanne fliegt heraus.
Weiß Gott! Er hat 'was weg... . und
er war fo jhön... wenn 'n hätt! dabei
bleiben fönnen . . .“
Diefe ſchwärzlichen Eden find ihr fürchter⸗
lich. Wehmütig fieht fie fie an. Sorgſam
befüllt fie wieder das Stüd Fleiſch und ſchließt
die Klappe ganz langfam. Die Arbeitsfreude
ift von ihrem Geſichte mie fortgemifcht.
Mechaniſch ſchiebt fie den Dedel vom über:
kochenden Kartoffeltopf zurüd, beforgt die
Euppe mit Durchſieben und Abwellen, zer
drüdt eine Kartoffel prüfend auf der Kelle
und gießt dann ab.
Nun noch die Sauce zurechtrühren, das
Eingemachte auflegen, den Nachtiſch orbnen,
deden, anrichten, die Herrfchaften rufen. — —
Fünf Minuten vor Zwei. —
Pünktlid) betreten Nat und Nätin das
Ehzimmer. Gott fei Dank! Heute braucht
man nicht zu warten. Niefe hätte nicht gewußt,
was unter den Umftänden aus ihrer Hammel⸗
teule geworben wäre.
! herunter.
4
Langſam zieht die Gnädige den filbernen
Ning von der Eerviette. Die hübfchen blauen
Augen gehen mufternd über die Hleine Tafel,
das weiße Näschen fehnuppert ihnen nad.
„So recht forgfältig kocht fie doch nicht.
Ih habe es ihr ſchon fo oft gefagt, genau
zweieinhalb Etunden muß er haben und
unaufhörlich begofjen werden. Er hat wieder
trodene Eden.”
Tem Rat geht heute „ein Fall“ durch den
Kopf, er erwidert wenig und ißt darauf log,
ohne recht zu wiſſen was. Die Gattin ver-
ftimmt das. Man giebt fi ſoviel Mühe...
Unten zifcht der Theckeffel über. Schön.
Rieke trichtert den Kaffee. „Sie werben wohl
gleich Hingeln.”
Während fie nod an der Kanne herum—
pußt, geichieht es fchon.
Schnell werden die Hände abgefpült, die
Schürze wird gewechſelt, das fauber beftellte
Kaffeebrett hinaufgetragen und mit Herzklopfen
bingeftelt. Nun wird ſie's zu hören befommen
— das, was ihr felbft fo fatal ift und was
fie doch nicht ändern fann, wenn ihre Arbeit
auf fo verſchiedenen Stellen Liegt. "
Ter Nat ftredt ſich behaglich im Seſſel,
die Gigarre dampft, die Kaffeetafje auch. Für
lange iſt's nicht. Die Spredftunde! — —
Er fängt ein gemütliches Plaudern an,
und die Gattin bat Mitleid mit ihm. Die
Niefe kann unbehelligt abdeden und ver
ſchwindet hochaufatmend mit dem legten Etüd
Geſchirr hinter der Thür.
Am Küchentiſch verzehrt fie übellaunig
ihren Anteil. „Ja, er hat zu viel. Iſt ftellen-
meife ganz troden; aber was foll man machen.”
Wenn fie die Schelte nur erft weg hätte!
Kriegen wird fie fie.
Die lebte Kartoffel will gar nicht recht
Ihr ift fo eng im Halje.
Zange fann fie fi bei ihrem Kummer
nicht aufhalten. Rings herum fteht das ge
brauchte Geſchirr und wartet aufden Reinigungs⸗
prozeß.
„Ra, denn man zu; denn man flink ab—
waſchen.“
Sie nimmt den Kleiderrock hoch und bindet
eine fefte Schürze darüber, ftreift die Ärmel
der Blufe auf und arbeitet wader darauf los.
Rrrrrrr.
Unter fremden Leuten.
Seufzend erhebt fie ſich von ihrem Kuchen⸗
ſtuhl und rüftet fih zum Weiterarbeiten.
Während fie abwäſcht, lommen ihr wieder
allerhand Gebanten. Ob fie body nicht lieber
kündigt? — Als Frau Paſtor ihr damals das
gute Zeugni® mitgab und biefe Etelle ver-
ſchaffte, warnte fie eindringlich: „Nur nicht fo
oft wechſeln, Riefe! Dabei kommt nichts heraus,
vermacht ift überall etwas.“ Aber man könnte
doch verfuchen. — Eie fagen immer alle, da
find feine Kinder. ..... Ja, was würde das
maden? — Kleine Kinder find fo nett, fie
möchte wohl, daß ſolch' Dingeldyen oder auch
mehr davon um fie herum pappelten. Bei
Paſtors waren foviel liche Kinder; fein cin
ziges tar ihr im Wege geweſen. Und Garten=
arbeit auch — und doch war fie fertig ge⸗
worden und hatte abends noch im Geſangbuch
Iefen fönnen. — Hier fielen ihr immer bums
die Augen zu, wenn fie das legte Stüd an
die Ceite gebracht hatte. Es kam mohl vom
vielen Laufen. Und daß fein Menid cin
Wort mit ihr fprah! — — — Dies Un:
heimliche — immer fo für ſich allein. — Und
einen Tag wie den andern, gar feinen Eonn-
tag dazwiſchen. Denn was ift das für ein
Sonntag hier! — — — Feine Kleider haben
fie jeden Tag an, Braten efjen fie mitten in
der Woche, von Kirchengehen hört und ficht
man nichts, wo fol da ein richtiger Sonntag
berfommen! Gar feinen Anfang haben ſolche
Wochen und gar fein Ende, immer eine nach
der andern, eine nad) der andern — um ſechs
auf, um zehn zu Bett — wird auch elf und
zwölf, und alle vierzehn Tage ein Ausgehtag.
Na, das wäre genug, das viele Auslaufen
foftet bloß Zeug, wenn's nur nit gar fo
ftill im Haufe wäre! Manchmal denft man,
man gehört gar nicht mit dazu und thut doch
aud feine Schuldigkeit. God und niedrig
muß e3 ja geben in der Welt, aber dies ift
doc fo fehnurrig, fo, als wär’ man gar fein
Menſch. Doch man licher kündigen —
anderswo zufehen. —
Am Sonntag wird fie zur Tante gehen
— mie alle Mädchen vom Lande hat aud
fie ihre Tante in der Etabt, ber Vetter beim
Militär fehlt ihr freilich noch — und berat-
ſchlagen.
48
find gepußt, das Silber ruht ficher oben im
Buffet.
Nun noch Kartoffeln ſchälen, morgens hält
das fo lange auf, und es ſchadet auch nicht,
wenn fie ein bißchen auswäflern; und dann
fih noch 'n Eti) nähen — „man reißt ab,
wenn 'n nich zu rechter Zeit nachſieht.“
Nãchſte Woche ift Waſchwoche, dann geht's
im Trapp, und an fo etwas ift nicht zu denfen.
Sie fit vor ihrer Meinen Lampe, einen
wollenen Strumpf auf den Arm gezogen, die
EStopfnabel in der Hand. Es iſt totenftill um
fie. Sie zieht den blauen Wollfaden durch,
nimmt bie Mafhen auf und zieht mieder
durch — und wieder. — — Immer lang-
famer werben bie Bewegungen. Oft ſchwebt
der Faden ein Weilchen in der Luft, und die
Nadel ſtochert unficher in dent Gewebe herum.
Endlich fucht fi} der beftrumpfte Arm einen
Halt auf dem Tiſche und der blanlgeſcheitelte
Kopf folgt ihm, als müſſe es fo fein.
Die lange Nadel macht fi das fofort zu
Nuge. Sie entwifcht der fchlaffen Rechten,
rutſcht am hängenden Faden herunter und
gleißt hãmiſch aus der engen Dielenrige herauf:
„So, nu ſuch'!“ —
Ein leifes Stöhnen durchzieht den niedrigen,
falten Raum. Das junge, weiche Geſicht
bettet fi immer fefter auf den runden Arm,
die abgefpannten Züge glätten fih; Rieke
ſchläft. Bunt durdeinander wirft der Traum
die Bilder, die die Einfame beſchäftigten, bis
ihr die Augen zufielen.
— — — — Das lange Dorf. — Da,
gleih um die Ede beim Krämer, liegt's. Wic
freundlih der neue Hausanftrih ſich macht.
Mutter ſteht am Schweinskoben und fann
gar nicht genug abwehren, immer find die beiden
Schnauzen wieder da. Es ift ein Schnüffeln
und rungen, man muß laden. — Mutter
thut's auch; fo recht gut und lieb, über das
ganze Gefiht.
Dicht bei der Dunggrube fpielen die beiden
Zwillinge: Kuhlſäg. Sie werben doc nicht
hineinfallen? — — Na, die großen Göhren!
Mutter würde fie ſchön ... . Die fadelt nicht.
Das Pfarrhaus. Gleich an der Thür die
Stube vom Herm Paſtor — immer riecht'3
da nah der Pfeife Lüften hilft. Den
Der legte Telker ftcht im Bort, die Mefjer | Chorrod hat Frau Pajtorin längft aus dem
„Ru bin ich noch in bie Jahren... .”
„Haft noch lang Zeit. Was beim Heiraten
’rausfommt, bleibt dir no ümmer ... .“
„Bin vierundzwanzig . . .”
„Is 'was rechts... ."
„Un dien’ nu al rund 'acht Jahr... .”
„Un nu is es bir über?” —
„Über nich. Die Arbeit ni, aber das
Ganze. Die andern machen fi) davon ab,
fo gut fie können. Kriegen fie ausgefcholten,
haben fie 'was gegen an unb fordern ſich
ihren Schein. Ich hab’ ümmer gedacht, es
müßt doch'n Stell’ geben, wo ein’ fein’ Arbeit
in Ruh’ und Freud’ thun könnt', un wo ein’
das auch ’n büfchen gedankt würd! Aber da
is fo viel, fo viel. — Vorlommen fann 'n
nid allens, denn man ümmer auf'n Ruff. —
AM die neumodfhen Sachen — kaum mang
durchzufinden — un belien thut einen fein
Menſch. An folde Arbeit hat man fein’
Freud’. Ih bün vor's Gründliche.“
„Je, das wiſſen fie auch.“
„Was nützt das.” —
Du gewöhnſt ihn’ ümmer zu viel an.
Von glei an mußt bu ihn’ Beſcheid
46
Nee, das laß man ’ne andere thun, ba
hab’ ich fein Luft zu.”
„Ich hab’ mid) ümmer gewundert, daß bu
nid bloß ad Köchin gehn willſt; ümmer as
Einmäbchen. — Kommerzienrat® würden dir
nehmen, die ba i8, taugt nicht viel. Abends
i8 man denn bod mit ein’ zufammen un
lann 'n Wort reden.”
„Je, das is auch fo. Haut man nich mit
ihr in ein’ Kerb’, is nich getroffen, denn fo
is't Kalf in 't Og flahn.”
„Sciden muß ſich ein jeder.”
„So mein’ id nid. Du büft doch auch
mang fremde Leut' geivefen as Mädchen.
Did) i8 das woll mehr vergeflen, fonft müßt
du wiſſen, daß fi das nich ümmer gut vers
trägt. Ich geh’ grab durch — vor Heimlich-
feiten bün ich ni.” —
„Denn geh’ wieder nach'n Land.”
„Nee, nu nich mehr.” —
Sie fteht auf und brüdt den bunten
Sonntagshut auf ihr blankes, glattes Haar.
Langſam ſchiebt fie die lange Nadel durd den
feftgeflochtenen Zopf.
„Denn fag’ ihm man, er follt' man bie
fagen.”
Ning’ beftellen.. . . .”
en
Äbend in Foscana.
In Siena war's. Die Abendfchatten ſanken.
Orangendüfte wogten um den Dom,
Und alle meine fchweifenden Gedanken
Befchwichtigte des Marmorbronnens Strom.
Ich ſtreckte taftend meine beiden Hände
Tief in des Sonte Gaha's kalte Flut —
Die Slut, die von Toscanas Berggelände
Berablam in die Stadt voll Sommerglut.
Und aus dem Abendfchatten der Paläjte —
So war mir — fchritt hervor ein langer Zug,
Ein lebensfroher aus der Zeit der Sefte,
Da Sienas Jugendfraft die Guelfen fchlug.
Da um das Blondhaar fühner Ghibellinen
Der £orbeer fich, der frifchgepflüdte, wand,
Und Ruhmesfonnen jenen Sels befchienen,
Auf deffen Scheitel Sienas Wölfin ftand.
Don ftolzen Männern fam ein ftummer Reigen,
Tyrannenfürften, eingefchient_in Stahl,
Und Papfigeftalten, die die Stirnen neigen
Dor jenem Größ'ren an des Doms Portal.
Rerlobung und Frauung.
Bon
Belene Köhnk.
WVB BRD
T- germanifchen Leben wurde der Ehe, als der wichtigften menschlichen Inftitution
zur Begründung und Erhaltung des Staates, die größte Bedeutung beigelegt.
Das beweifen die Alteften Rechtsüberlieferungen und Weistümer ſowohl, ald auch der
Umftand, daß die Germanen erft im reiferen Alter zur Ehe fchritten, wie Cäfar und
Tacitu berichten. Bor dem zwanzigſten Jahre mit einem Weibe zu leben, galt für
eine Schande; auch den Mädchen wurde Zeit zur vollen Entwicklung gelaflen. Die
Sitte des fpäten Heiratens, die übrigens auch von NAriftotcles empfohlen wird, fcheint
erft gegen das Ende des 13. Jahrhunderts abgelommen zu fein. Der Dichter der
Dierrichsflucht erzählt, daß zu feines Helden Dietwert Zeit weder Mann noch Weib
früher als mit dreißig Jahren Heiraten durften. Leider fei dies nicht mehr allgemeiner
Brauch, und die Folgen zeigten fih an der Welt. Ganz ähnlich klagt faſt drei Jahr:
hunderte fpäter Sobannes Murner in feinem Gedicht „eelih Stads nütz und
beſchwerden.“
Daneben fehlt es natürlich nicht an Zeugniſſen für frühe Heiraten. ‘So wurde
die heilige Elifabetb dem Landgrafen Ludwig von Thüringen befanntlic) ſchon mit
dem vierten Jahre verlobt, und im „armen Heinrich“ Heiratet der kranke Nitter ein
zwölfiähriges Mädchen. Andere Beifpiele aus Gefchichte und Dichtung laffen fich
leicht finden. Ob in den alten Gewohnheitsrechten ein heiratsfähiges Alter feftgeicht
war, fcheint mir weder aus dem Sacjenipiegel, nody andern Stammes- und Sonder:
rechten mit Deutlichleit berborzugehen. Erft mit dem Einfluß des römifchen Rechts
wurde faft allgemein da8 12. oder das 14. Lebensjahr angenommen.
Die urfprüngliche Form der germanifchen Chefchliegung war der Brautlauf, der,
im Mundlauf zu milderer Form entwidelt, fich das ganze Mittelalter hindurch erhielt
und in Perlobunge- und Hochzeitägebräuchen, vor allem in der rechtlichen Stellung
der Frau, noch heute nachflingt. Unter Mundkauf verftand man ben Vertrag des
Käuferd mit dem bisherigen Gewalthaber, Vater oder Bormund, gegen eine beftimmte
Summe dad Kaufobjekt, die Jungfrau, in feine Gewalt zu geben. Um die Höhe des
Preifes wurde in früherer Zeit gehandelt, wie das in verjchiedenen Volfsliedern
erhalten if. So beißt es in einem fchlefifchen Liede: „Sind drei draußen, Frau
Mutter!“ Frag’, was fie woll'n, meine Tochter.‘ „Einer will mich haben, Frau
Mutter.” „Frag' wieviel Thaler, meine Tochter.‘ „Dreihundert Thaler, Frau Mutter.”
‚Das ift zu wenig, meine Tochter.‘ Der Freier geht bis auf 500 Thaler, und die
Mutter ftimmt zu. Später begegnen wir bei den verſchiedenen bdeutfchen Stämmen
überal feften Anfägen. Bei den falifchen Franken find es 62'/,, bei den Nipuariern
50, bei ben Nlemannen 40 Solidi. Ganz beſonders hoch aber ftanden die Jung:
frauen bei den Sachſen und riefen im Preife. Hier wurde feine Frau unter
300 Solidi erworben.
Urfprünglich erhielt der Vater, reſp. der Vormund den Kaufpreis, der in der
deutfchen Rechtöfprache den Namen „Wittum“ führt. Als aber die dos oder Mitgift
üblich geworden, wurde er mit diefer vereinigt und als Witwenverforgung der Frau
audgefegt. In ältefter Zeit ift von einer Mitgift noch feine Rede. Der Brautlauf
verlangte feine andere Gegenleiftung, als die der Übergabe der Braut. Auch das
47
48 Verlobung und Trauung.
Waffengejchenf, das nach Tacitus die Braut dem Manne zubrachte und das von
ihm jo jchön als Sinnbild der gleichberechtigten Genoſſenſchaft gedeutet wird, ift nicht
als Mitgift, jondern vielmehr als Zeichen der Gewalt zu betrachten, in bie ber
Bräutigam durch Übergabe der VBormundichaft trat, und kraft derer er über Leben
und Tod der Frau entjcheiden konnte. Diefe altgermanifche Auffaffung Hat fich
vielleicht am längften auf den norbdfriefifchen Inſeln erhalten. Dort herrſchte bis in
dad 17. Jahrhundert der Hochzeitsbrauch, daß die Braut unter einem über der Thür
befeftigten Schwert in das Haus des Mannes eingehen mußte. Es wurde Ächtſwird
(Eheichwert) genannt, und nad friefifchem Recht konnte der Mann im Fall eines
Ehebruchs jeine Frau mit diefem Schwerte töten.
Der Verlobungdvertrag wurde ſtets vor Zeugen geſchloſſen und hatte bindende
Giltigkeit, Jobald die Zahlung erfolgt, Tpäter die arrah, das Handgeld, gegeben und
der Weinfauf oder das Lobelbier getrunken mar. Sn ältefter Zeit Hatte die zu
verlobende Jungfrau feinerlei Einſpruchsrecht, erſt die fortichreitende Kultur des
Chriſtentums räumte ihr die Konjenserflärung ein. Damit ſank auch der Mundfauf
zu einem Scheinfauf herab, d. 5. der frühere Kaufpreis wurde thatlächlich nicht mehr
gezahlt, aber die Braut empfing nun von den Bräutigam ſelbſt das Handgeld, einen
Solidug und einen Denarius, einen Goldpfennig und einen Silberpfennig. Dieje
Sitte ift fpäter in die kirchliche Trauung übergegangen. In Frankreich, wo bie
firchliche Trauung früher als in Deutjchland Volksſitte geworden war, hielten wohl
die Kirchen eigene Geldftüde, die von jedem Bräutigam jeder Braut gegeben wurden
und die nad ftattgehabtem Gebrauch an die Kirche zurüdfielen. Dasjelbe war
mit Trauringen in einigen jchleswig-holfteinifchen Kirchen der Fall, beftimmt ift es
mir aus der Gejchichte der Kirche des Gutes Pronftorf bekannt. Friedberg!) giebt
die Abbildung einer folchen Münze, die auf der einen Seite die Aufichrift führt:
Tournois — Denier, entiprechend dem alten Solidus et Denarius — auf ber
anderen: Pour Epouser. Erft am Ende ded Mittelalters finden wir das Geldſtück
duch den Ring erjegt. Er ift fein deutſches Symbol, jondern wie die Sitte, bie
Braut bei der Verlobung und Übergabe mit Kranz und Schleier zu fchmüden, aus
Stalien eingeführt, und zwar follen die Töchter der vornehmen Nürnberger Patrizier:
familien zuerft den Ring wie auch Kranz und Schleier getragen haben. Zu Luthers
Beit war beides ſchon eingebürgert, denn er bedient fich in feinem Eheſtandsbüchlein
wiederholt des Wortes Schleier in ſymboliſchem Sinne. „Das Weib fol den Schleier
auffegen wegen der böfen Lüfte und die Sünden ded Mannes tragen in aller Geduld
und Frömmigkeit.” Und der Trauringe erwähnt er in feinem ZTrauritual.
Der Verlobung folgte die Übergabe der Braut, die traditio, wovon unfer
heutiges Wort Trauung abgeleitet if. Trauen kommt von tradere, d. b. auf Treue
übergeben, daher ift noch bis in das 15. Sahrhundert nicht von einem Trauen
beider Ehegatten, fondern nur von einem Trauen der Braut die Rede. Sie wurde
dem Manne getraut, d. b. übergeben, und erhielt allein das Handgeld, den Ring.
Diele Sitte bat ſich bis heute in England erhalten, und aus meiner fpeziellen Heimat,
Ditmarfchen, weiß ich, daß Brautleute erft in neuefter Zeit Ringe austaufchen.
Die Übergabe oder Trauung gefchah durch den Vormund, d. 5. durch den
Vater oder fonftigen Gewalthaber der Jungfrau. Diefer übertrug durch Hingabe der
Sungfrau fein Mundium auf den Bräutigam, der eben dadurch von nun an ber
Eheherr der rau wurde. Die Trauung ijt die Erfüllung der Verpflichtung, bie ber
Vormund durch den Ehevertrag übernommen hatte. Der Befighingabe durch den
Bormund entjprach die Beligergreifung jeiten® des Bräutigamd. Er trat, wie das
noch Heute in Schweden vorfommen fol, der Braut auf den Fuß zum fichtbaren
Beichen feiner Herrichaft über fie.
In älterer Zeit wie im früheren Mittelalter fiel die Eheſchließung jeher oft mit
der Verlobung zuſammen. ch erinnere an Kaifer Heinrich® Heirat mit Mechthild.
Jedenfalls follte zwijchen Verlobung und Trauung grundlos Fein längerer Zeitraum
ı) Friedberg, Das Recht der Chefchliehung in feiner geichichtlichen Entwidlung. Leipzig, 1865,
Berlobung und Trauung. 40
als zwei Jahre, nach frieſiſchem Brauch nicht mehr als zwölf Monate, nach ben
erften Kirchenordnungen nur 6 Wochen verftreihen, wie denn Theubebert, der Entel
Shlodwigs, den Unwillen fämtlicher Franken erregte, weil er im fechften Jahre feiner
Verlobung noch mit der Vermaͤhlung zögerte.
Daß fi) an die Übergabe der Braut viele Symbole und Gebräuche fnüpften,
ift felbftverftändlich. Ausführliche Beichreibungen finden wir in vielen Gedichten des
Mittelalters, und über die Hochzeitsgebräuche der Marjen und Friefen werden wir in
Neocorus Geſchichte Ditmarfchens unterrichtet. Ein Haupterfordernis war die Offent⸗
lichkeit der Eheſchliezung, die auch ſchon aus dem Grunde gefucht wurde, weil eine
wenig befannte oder heimliche Ehe annulliert werden und jedenfalls den Kindern bie
Groberechtigung abgefprochen werden konnte. In den Gedichten bed Mittelalter wird
ſtets der „Ring“ erwähnt, in welchem die Ehe geichloffen wurde. Pipin machte dieſe
Dffentlichfeit jogar zu einer gefeglichen Verordnung.
Beiebberg u. Som!) teilen eine ſchwäbiſche Verlobungsformel aus dem 12.
und eine Kolniſche aus dem 14. Jahrhundert mit. Anfchaulicher ift der Eheritus in
Heintih von Fribergs „Triftan“ und Wernhers „Meier Helmbrecht“ vorgeführt.
Dort fehildert der Dichter, wie ein Biſchof zur Weihe unter die Tanzenden tritt, hier
die Laienfopulation des Raubers Lammerſchling mit dem Bauernmädchen Gotelinde:
„Ein Greis erhob ſich aus der Mitte,
Der war befannt mit Braub und Eitte,
Und war in Reden Hug und weile,
Er hieß fie ftehn in einem Kreife
Und fprad} zu Sämmerfhling: „Wenn Ahr
Wollt Jungfrau Gotelinde hier
Zum Chetoeib, fo ſprechet: ja!" —
„Gerne,“ ſprach ber Knappe da.
Zum zweiten Wale fragt er fo:
Ich nehme,“ ſprach der Knappe frob.
Zum dritten Mal fprach er das Wort:
Rehmt Ihr fie gern?" Der Knapp’ fofort:
Bei meiner Seele, meinem Yeib,
ch nehme gerne fie zum Weib!“
Da fprad zu Gotelinden er:
„Nun faget mir, ift Euer Begehr,
Zu nehmen Yämmerichling zum Wann?" —
„Ja, fo es Gott läßt gehen an!" —
„Nehmt Ihr ihm gern?“ ſprach wicher er.
„Ja, Herr, gewiß; gebt ihn mir her!”
Zum dritten: „Lämmerfchling wollt Ihr?“
„Gern Herre; doch num gebt ihm mir.”
Da hat er Gotelind fürs veben
Tem Lämmerfhling zum Weib gegeben
Und gab den Yämmerfchling fodann
Ter Gotelind zum Ehemann,
Sie fangen noch den vochzeitsgruß
Und er trat ihr auf den Zuß.”
Eine kirchliche Eheſchließung als Perfektiongmittel gab es bis in bad 13. und
14. Jahrhundert nicht. Wohl hatten ſchon die Kirchenväter auf die Heiligkeit der
Ehe bingewiefen und die Geiftlichen des Mittelalter3 e3 nicht an Verordnungen und
Ermahnungen fehlen laſſen. Allein Prof. Sohm fcheint hier im Gegenfag zu Friedberg
richtig zu folgern, wenn er fagt, daß die Trauung erft durch eine weltliche Über:
gangsform zur firchlichen werden konnte. Sie ward durch den Untergang der
Geſchlechtsvormundſchafi herbeigeführt. Mit Eintritt der perſönlichen Selbjtändigfeit
der Frau mußte, wie an Stelle der Verlobung dur den Vormund die Gelbft-
verlobung, fo an Stelle der Trauung dur den Vormund die Selbfttrauung treten.
Die Braut traut fich felbft dem Bräutigam, d. h. fie giebt ſich durch ihren eignen
1) Sohm: Daß Recht der Ehefchliehung aus dem Deutihen und Kanoniſchen Recht geſchichtlich
entwidelt. Weimar 1875.
4
Berlobung und Trauung. 51
Dekret forderte bie firchlihe Trauung mit dem Zuſatz, daß jede nicht Firchlich gefchloffene
Che ungiltig, bezw. ala Konkubinat zu achten fei. Außerdem wurden die kirchlichen
Aufgebote und die regelrechte Führung don Trauregiftern verordnet. Bis dahin
‚waren in Deutfchland Trauregifter überhaupt nicht und Tauf- und Sterbeliften nur
zufälig und ganz unregelmäßig geführt worden, wogegen das Führen von Kirchen-
büchern in Frankreich ſchon feit dem 14. Jahrhundert üblich gewefen fein fol.
Die Ehereform des Tribentinums wurde von der proteftantifchen Kirche nicht
anerkannt, und die vielumfirittenen Begriffe der sponsalia de praesenti und de
futuro blieben noch lange ein Stein des Anftoßes für die evangelifche Geiftlichkeit.
Luther hielt die Che für eine weltliche Inftitution. „Zum andern,” beißt es in feinen
Tiſchreden vom Eheftande !), „fo gehet die Ehe die Kirche nichts an, ift außer derſelben,
ein zeitlich, weltlih Ding, darum gehöret fie vor bie Dbrigfeit-" Und er begnügte
fih nicht damit, neben der firchlichen Seite der Ehe eine weltliche anzuerfennen, wie
das ſchon im Mittelalter von den Scholaftifern geichehen war, fondern er verlangte
vor allen Dingen, daß die Eingehung der Ehe den von ber Obrigkeit erlaffenen
bürgerlichen Beſtimmungen unterliege, er wollte die Chegerichtöbarkeit dem Staate
tiberlaffen und die Ehegefeggebung von der Dbrigfeit ausgeübt willen.
Andererfeitd aber nannte er die Ehe auch den fürnehmften geifllichen Stand,
wie denn feine Auslaffungen über diefen Gegenftand ziemlich widerſpruchsvoli ericheinen
und die Eheſachen ihm viel zu denken und zu fchaffen machten. „Diefe Händel ftehlen
und heimlich die Zeit zu fludieren, zu lefen, zu predigen, zu fchreiben und zu beten,“
Magt er einmal in den Tifchreden. Daß er nur durch copula carnalis geſchloſſene
Ehen für giltig erachtete, ift bekannt. Auch erflärte er DVerlöbniffe, feloft ohne Ein:
willigung der Eltern, für volle Ehen, was zu vielen Verwirrungen Anlaß gab.
Allerdingd waren Derlöbniffe nach deutfchrechtlihem Begriff immer bindend, aber
dennoch löslich geivefen, wenn der Verlobte die erforderliche Buße für Verlöbnisbruch
an den Mundwalt zahlte, während die Braut, fo lange fie nicht eigentlich Kontra⸗
hentin war, ſich nicht einfeitig zurüdziehen fonnte. Cie war dem Bräutigam Treue
ſchuldig und wurde nah burgundifchem, longobardiſchem und weſtgotiſchem Recht im
Fall gefchlechtlihen Umganges mit dritten gleih einer Ehebrecherin beftraft.?) Und
nod Heinrich der Achte konnte beifpielsweife feine Ehen mit Anna Boleyn und Anua
von Cleve für nichtig erflären, weil beide precontracts, d. 5. frühere Verlöbniſſe
mit andern eingegangen waren.
Die bindende Macht des Verlöbniffes fcheint ſich bis in das 17. und 18. Jahr:
hundert hinein erhalten zu Haben, und zwar nach der veränderten rechtlichen Stellung
der Frau nicht einfeitig zu Gunften des Mannes. So fand ich (bei den Nach—
forſchungen zu einer Gedichte der Staller in Eiderftedt) im Staatsarchiv zu Schleawig
einen ganz intereffanten Fall aus dem Ende des 17. Jahrhunderts. Die als
Dichterin und David-Joritin bekannte Nordfriefin Anna Owens verlobte fih, kaum
ſechzehnjahrig, mit Harmen Hoyer, Staller oder Statthalter von Eiderftedt, der aber
vor ihr einer andern die Ehe veriproden hatte. Nach feinem Verlöbnis mit Anna
Dwens Hagte die Mutter der erften Braut bei dem Herzog von Gottorp, und Johann
Adolf befahl Anna Owens, von der Heirat abzuftehen, bis die Sache geordnet fei.
Dies geſchah auf gütlihem Wege, da die Verlaffene fih anderweitig tröftete. Die
Mutter berichtete diefe Veränderung pflichtichuldigft an den Herzog: „Weil aber nun
Harmen Hoyer fein Herz und fein Gemüte, welches ich zwar nicht gehoffet, von
feiner lieben Tochter ganz und gar abgeivandt, ift meine Tochter hierdurch auch
bewogen und bat ihr Herz wiederumb von ihm abgelehret und Gott dem Almächtigen
beimgeftellet,“ worauf der Herzog den Konfens zur Ehefchließung des Stallerd mit
Anna Dwens gab.)
Ich zitiere nach der Reclamausgabe von Friedrich von Schmibt.
2) Schröder, Lehrbuch der deutfchen Kechtsgeicichte. Leipzig 1889.
») Dimend-Aten. Staatsarchiv zu Schlestwig.
1
Verlobung und Trauung. 53
€. Quandt, dad die Danziger Reformationsbewegung ſchildert, ift dad meifte Gewicht
auf das Lobelbier, d. h. das Verlöbnis des Predigerd mit einer Bürgerstochter, gelegt.
Eine wichtige Quelle für das Necht der Cheichließung find die Kirchenordnungen,
von benen Friebberg eine ganze Reihe zufammengeftellt hat. ALS göttliches Gebot
wird die firhlihe Trauung aud hier nirgends dargeftelt, und wenn auch viele
Kirchenordnungen ihre Beftimmungen an die befannte Genefisftele anfnüpfen, an bie
Zufammenfprehung und Benediktion Adams und Evad durch Gott felbft int Paradiefe,
jo dient das höchftend dazu, um, juriftifch ausgedrüdt, einen göttlichen Präzedenzfall
der Trauung anzuführen, und zur Ermahnung an die Nupturienten, ihre Ehe als
von Gott jelbft geftiftet und daher unauflöglich zu betrachten. Diefe Ideen wurden
in da8 17. Jahrhundert binübergenomnten und find für einen Teil desfelben als bie
geltenden anzujehen, denn noch immer ftelten Rechtsgutachten und ehrengerichtliche
Urteile die kirchliche Eheſchließung nicht als notwendige Bebingung einer rehtägiltigen,
verpflichtenden Ehe auf. Erſt in der zweiten Hälfte des 17. und am Anfang des
18. Jahrhunderts iſt der kirchlichen Trauung der Charakter der abjoluten Notwendigkeit
in Deutfchland durchweg beigelegt worden, den man fälfchlich feit der Reformation
oder gar feit der Zeit der erſien chriftlichen Kirche angenommen hat.!)
Und nicht lange follte ſich die Kirche des fpät errungenen Rechte freuen. Die
frangöfifche Revolution, die im Sturmwind neue Ideen unter die Völfer brachte, war
aud für die Entwidiung der Eheichließung bedeutfam. Der Code civil gab Frankreich
die Zivilehe, die feine der verfchiedenen Dpnaftien, die nacheinander das Land
beherrfchten, abzufchaffen für gut befunden hat. Nicht einmal der der Kirche fo
geneigte Karl X., wenngleich die Petitionen der Geiftlichkeit ihn unabläffig dazu
aufforderten. Die Zivilehe war überhaupt Feine neue Einrichtung. Genau genommen
forderte der Staat feine der Kirche überlaffenen Rechte zurüd, und bereit3 zur Zeit
der NRationaliften waren Stimmen für eine ſolche Regelung der Ehedoftrin laut
geworden. In England hatte Cromwell Ziviltrauung eingeführt, die aber nad) fieben-
jährigem Beftehen von Karl II. aufgehoben wurde. Auch das Chepatent Joſephs II.
vom Jahre 1783 war ein Zivileheprojeft, das auch feine Nachfolger beichäftigte, aber
1850 verworfen wurde. In den Niederlanden ift feit den Tagen der franzöfiichen
Oberherrſchaft die Zivilehe obligatorifch geblieben, in Ztalien ift fie 1866 eingeführt,
in Deutfchland 1875.) Einige europäifche Länder find vorangegangen, andere gefolgt,
wenige zurüdgeblieben.
So haben mehr als dreihundert Jahre die Rulturvölfer Europas einen guten
Teil ihrer gefeggeberiichen Thätigkeit auf die Regelung der Eheſchließung verwendet,
und ſchwer nur hatte die firhliche Trauung den ftarren Sinn der Völker beziwungen.
Aber fie hatte dabei um jo tiefere Wurzeln gefchlagen, und groß waren Schreden
und Entfegen, al in den preußifchen Maigelegen vom Sabre 1873 die Zivilehe
proflamiert wurde. Wie alles und jedes in Deutſchland rief das Für und Wider
eine ganze Litteratur hervor, und die Prediger entwidelten von der Kanzel herab ihre
Meinungen und Anfihten. Die hochgehenden Wogen haben fi verhältnismäßig
fchnell gelegt, denn die Zivilehe bat bei unfren verwidelteren und ſchwierigeren Kultur:
verhältniften fih als gut und nützlich erwieſen. Und fie war feine gewaltfame
Neuerung, fondern die Folge der langſamen Entwidlung des ftaatlihen und kirchlichen
Lebens, Fein Eingriff in die religidjen Bedürfniſſe und Nechte des Volkes, fondern
eine humane Befreiung vom Herzens: und Gewiſſenszwange. Wer in echt chriftlichem
Sinne die kirchliche Weihe wünfcht, kann und wird fie nach wie vor einholen; wen
die einfachere Form der Ziviltrauung genügt, ber ift gefeglich und ſtaatlich geichügt.
) Auch die Führung des Namens des Mannes ſcheint erft Ende des ſiebzebnten und Anfang des
achtzehnten Jahrhunderts in Deutſchland üblich geworben zu fein, wie es in Tänemart, Schweben und
Rortvegen bis zum heutigen Tage nur Hecht, nicht Pflicht ift.
2) In Dänemark, Schweden und Norwegen gilt die bürgerlihe Trauung nur für gemiſchte Eben.
—E
Raqhdruc mit Quellenangabe erlaußt.
* Der Bund deutſcher Frauenvereine hält
vom 2.
Generalverſammlung in Treöben.
der Delegierten find an den Vormittagen des 28.,
29, 30. September, fowie bes 1. CHober. Sie
dienen ber Erledigung ber Geſchäftsberichte des
Bundes und der Kommiifionen, ſowie der Beratung ;
und Beſchlußfaſſung über die geftellten Anträge.
Diefe betreffen zum großen Teil Fragen ber
Irganifation und ber Geſchäftsordnung. Als auf |
die Arbeit des Bundes bezüglich find folgende ;
Anträge bemertendmwert:
Anträge des Borftandes auf Einreichung einer
Petition um Schutz gegen veneriſche Krankheiten
«(mit Borlegung eined Entwurfes), auf Einreihung
einer Petition, betrefiend ben internationalen
Rädchenhandel.
Antrag des Dresdner Rehtsfhugvereins
für Frauen, unterftügt von 12 Vereinen: „Der
Bund wolle in eine umfaffende Agitation für
eine moglichſt allgemeine Einführung von Che:
verträgen bei Eheichließungen eintreten.”
Antrag desſelben Vereins, unterftügt von
Vereinen: „Auf ein gemeinfames Vorgehen be:
yügfi) des internationalen Mädeienhandeld in ber
von Dr. Fuld im GCentralblatt Nr. 17, 1899, vor:
geichlagenen Form."
Antrag der Hamburger Ortögruppe des
Allgemeinen Deutfben Frauenvercins,
unterftügt von 5 Vereinen, im felben Sinne: „Der
Bund der Frauenvereine wolle befchlichen, folgende
Petitionen an die Reichsregierung zu richten: Die
verbündeten Regierungen werben gebeten, eine
Konferenz zum Zwecke ber Bekämpfung des inter
nationalen Viadchenhandels zu berufen.”
Antrag des Vereins Frauenwohl-Berlin:
„Der Bundesvorftand möge beim Beginn ber
Reichötagafeffion bed Winters 19U0-1401 wiederum
eine Petition im Namen ber Bunbeövereine cin:
reichen, betreffend die einheitliche Geftaltung des
deutfeben Vereind: und Berjammlungsrerhtes und
die diesbezůgliche (Gleichftellung ber Frauen mit
ihren männlichen Voltsgenoſſen.“
Anden Nachmittagen finden folgende Rommilfions:
figungen fatt:
September bis zum 2. Oftober feine :
Die Sigungen '
Freitag, den 28. September, von 3 bis:
6 Uhr.
der Sittlichteit.
Vicber: Böhm.
3 5i6 Y5 Uhr. Vorl: rau
a) Sigung der Kommiſſion für Hebung ,
b) Sigung der Kommiffien für ‘
Mäßigteitöbeftrebungen. ',5 bis 6 Uhr. Xorf.:
Fräulein Ottilie Hoffmann.
Sonnabend, den 29. September, von
3 bis 6 Uhr. a) Cipung der Kommiffion für
Erwerbötbätigleit der Frauen. 3 bis Y,5 Uhr.
Vorſ.: Frau Eliſabeth Kaſelowsky. 1) Sigung
der Kommiffion für Sandelsangeftellte. 1,5 bis
6 Uhr. Vorſ; Fräulein Ita Freudenberg.
Montag, den 1. Cftober, von 3 Bid 6 Uhr.
a) Sigung der Kommiſſion für Rinderihut. 3 bis
Y.5 Uhr. Vorſ.: Frau Helene von Forſter.
b) SEibung der Kommiſſion für Arbeiterinnenſchutz.
5 bis # Ubr. Vorf rau Anna Simfon.
Dienstag. ben 2. Dftober, von 9 bis
. 8) Sigung ber Kechtätommiifien. 9 bie
EU Frau Marie Stritt. vy Sitzung
der Kommiſſion für Erziehungsweſen. Ni bis
12 Uhr. Vorſ.: Frau Henrietie Goldſchmidt.
Wit der Generalverſammlung find öffentliche
Verfammlungen verbunden, in denen nachfolgende
Vorträge gehalten werben:
Freitag, den 28. September, abends
Allbr: 1. Vortrag von Frau Marie Stritt:Tresden:
Aufgaben, Ziele und biöherige Entwidelung des
Bundes deuticher Frauenvereine. 2. Vortrag von
Fräulein Dr. jur. Rarie Rafhte-Berlin: Selbfthiffe.
Sonnabend, ben 29 September, abends
8 Uhr. 1. Xortrag von Fräulein Alice Salomon:
Berlin: Üffentliher und privater Arbeiterinnen:
” Vortrag von Fräulein Ita Freudenberg
Vüngen: Tie Frau als Arbeitgeberin. 3. Vortrag
von rau Hanna Bieber Böhm Berlin: Der fitt:
lie Schuß der Arbeiterin durd das Gefeh.
Montag, ben 1. Dftober, abends 8 Uhr.
1. ortrag von Fräulein Gertrud Yäumer:Berlin:
Frauenbildung und Zeitforderungen. Vortrag
von Fräulein Natalie von Milde:Weimar: Gegen:
wart und Zukunft der Familie.
Wie man fieht, ift ein umfangreiches Programm
für die Verſammlung vorgefehen. Die befriedigende
Erledigung wird abhängen von ber Art, wie die
Arbeit angefaßt wird. Wir möchten da auf einen
Artitel binweifen, den die derzeitige gefchäftsführende
Vorſihende ded Bundes, rau Marie Stritt:
Dresden, in Nummer IL des Gentralblatts des
Bundes deutſcher Frauenvereine veröffentlicht hat
unter bem Titel „Rabital und gemäßigt.” Im
ihren fehr treffenden Ausführungen weift fie darauf
hin, daß der in biefen beiden Schlagworten nieder:
Frauenleben und «Streben.
reiten. Cs muß bemerkt werden, bak auch bie:
jenigen Berichte, die einer Fernhaltung der Haus:
frau von ber Fabrikarbeit nicht abgeneigt find, die
Verwirtlichung der tiefeinfchneidenden Maßregel
von Vorbedingungen abhängig machen wollen, deren
Erfüllung zum Zeil niemald zu erreichen fein wird.
Weniger bebentlih in der Rücwirkung auf bie
wirtſchaftliche und foziale Yage der Arbeiterfamilien
wäre bie gefepliche Verkürzung der Arbeitözeiten
für die Hauöfrauen, um ihnen für die Beſorgung
ibres Hausweſens mehr Zeit zu gewähren. Tie
Berichte der Gewerbeauffihtäbeamten laſſen daher
diefer Anregung zumeift eine wohlwoliende Be:
urteilung zu teil werden, heben aber auch hervor,
daß bie jFrauen, von Ausnahmen vieleicht ab
geſehen, zweifellos dadurch eine Einbuße erleiden
würden. Denn nicht nur, daß ihr Werdienft ſich
verringern würde, fie könnten aud Gefahr laufen,
aus ihren Stellungen gebrängt zu werben; denn
im Intereſſe des einheitlichen Betriebes in den
Fabriten würden die ledigen Arbeiterinnen, für
welche die Normalarbeitäjeit gilt, vor den im
Wefeh begünftigten Frauen bevorzugt werden. für
unfere Fabritarbeiterverhältnifje ift ferner bezeich
nend, dab in mehreren Berichten von einer
eingefchräntten riwerbömöglichleit verheirateter
Arbeiterinnen eine Vermehrung des Kontubinats
befürchtet wird. Viele Ehen, die ven vornberein
mit Rechnung auf die Mitarbeit und den Berbienft
der Ehefrau gefchloffen werben, würden unterbleiben,
wenn ber Berbeirateten ein Erwerb abgeichnitten
wirb, ber ber Unverheirateten offen fteht.
Die Gutachten beweifen, ein tie ſchwer zu
Töfendeö Problem die Arbeiterinnenfchuß:(Yefeggebung
in jeder Beziehung barftellt. Um fo mehr iſt es
zu wünſchen daß feine xöfung ohne Deranzichung
aller Beteiligten, vor allem eben der Frauen jelbft,
verfucht wird.
* Der 8. Bundestag deutſcher Gaftwirte,
der kürzlich in Heidelberg ftattfand, hat eine Petition
in Sachen des Arbeiterinnenfhuges beſchloſſen.
Tas Rätſel, wie die Fyabritarbeiterin zu dem
freundlichen Intereffe der Gaftwirte kommt, Löft
fi leicht. Man erwartet, durch eine Befhräntung
der weiblichen Arbeit in Fabriten mehr Kräfte für
den Haudhalt frei zu befommen. So beſchloß ber
Bundestag mit dem Deutſchen Gaftwirteverband
und dem Bund der Landwirte, dem Reichstag eine
Petition einzureichen, wonach Mädchen unter 17
querſt war fogar vorgeichlagen unter 18) Jahren
in Fabrikbetrieben nicht befchäftigt werben dürfen.
* Der Arbeitöuachweis für Frauen, ind-
befondere für weibliche Dieuſtboten, ift der Titel |
eined in mancher Sinficht bemerkenswerten Artitels
von Hermann Frey-Wiesbaden in Wr. 48 ber
„Sozialen Braris”. Der Arbeitenachmweis in
Wiesbaden, den der Referent organifiert bat und
leitet, arbeitet mit einer befonderen frauen:
tommiffion, der die Auffiht über die Abteilung
für Frauen übertragen ift. Ter Referent ficht in
diefer Einrichtung, die feitben nur nod) in München
57
eingeführt ift, eine weſentliche Urſache dafür, daß
der Wiesbadener Arbeitsnachweis für Frauen im
Verhältnis zur Einwohnerzahl mit feinen Refultaten
an der Spitze aller andern im beutichen Reiche fteht.
* Frauen in den Schulauffichtsbehörden
Englands. Im Jahre 1895 enthielt der Bericht
ber englifhen Rohal Commiſſion für das höhere
uUnterrichisweſen ben Paflus: „Wir find der An
fit, daß auch Frauen in die Auffichtsbehörben
für den höheren Unterricht wählbar jein müßten,
da die Erfahrung Ichrt, daß die Antereflen der
Mädchen bisher nicht felten ungenügende Berüd-
fihtigung erfahren haben. Wenn aber nicht be:
fondere Vorkehrungen dafür getroffen werden, ift
es immerbin fraglich, ob eine hinreichende Anzahl
von rauen in dies Amt gewählt werben bürften,
während wir es doch für durdaus erſtrebensweri
halten, daß eine beftimmte Anzahl der Mitglieder
biefer Körperfpaften Frauen wären" Thatfächlich
find denn auch jeitbem nur verhältnismäßig wenige
Frauen dafür gewählt worden, namentlich wo es
fib um das technifche Unterrichtsweſen handelte.
So bat fi denn neuerdingd in London ein
Executive Committee gebildet, das biefem Übel:
ftande abbelfen und die für dringend nötig erfannte
Beteiligung der frauen an biefer wichtigen Auf-
gabe wirklich herbeiführen will. Das neugegründete
Komitee verjuht in erfter Yinie, die zur
Erreichung feines Zweckes nötigen Geldmittel flüſſig
au machen.
* Der Congres International de la Con-
dition et des Droits des Femmes tagte vom
bi® 8. September im Palais des Congres
in Paris. Tie Gröffnungsrede — eine Programın:
rede für die Nictung der franzöfifden ‚frauen:
beivenung, deren Wünfche dieſer Kongreß zum
Ausdrud bringen folte — bielt die Leiterin Maria
Rognon. Der (efichtspuntt, unter dem fie die
; Frauenfrage betrachtet, ift fogialiftifch: (erechte
Xerteilung bes Gewinns aus (Grund und Boden
und \nduftrie, ein gerechter Entgelt für bie per:
ſonliche Arbeit und Zerbütung der Arbeitslofigteit
ift die Aufgabe, an der Männer und rauen mit
volltommen gleichen Rechten und Pflihten zu
arbeiten baben. Aus dielem Grunde fordert fie
das politiihe Stimmredt für die rauen, eine
| beffere privatrecptliche Stellung, gleiche Biltunge.
gelegenbeiten mit ben Männern. \mmer wird
betont, daß bie Frau unter volllommen gleiche
Arbeitsbebingungen zu ftellen jei wie ber Mann.
Dementiprecbend fiel auch — troß heftiger Debatte
— die Rejolution aus, die die Verſammlung im
Anfhluß an den zweiten Vortrag von Marie
Bonnevial, „Öleihheit der Entlohnung”, faßte.
Die Rednerin forderte Ernennung von Fabrik.
inipettorinnen zur Veauffihtigung der Frauen
und Rinberarbeit durch ein ‚srauenfomitee, Ver.
türzung der Arbeitözeit, uneingefchränttes Koalitionv-
recht für weibliche und männliche Arbeiter, Gleich:
beit der Entlohnung bei gleicher Yeiltung, und bie
Der Berein „Ftauenwohl“ Jena
bat vor kurzem einen Bericht über die von ihm
begründete „Sauöpflege“ veröffentlicht. Sie ift nad
dem Muſter der in Frankfurt, Berlin und Gotha
bereits beftehenben Beranftaltungen begründet worden
und verfolgt den gleichen Zweck wie diefe, nämlich
die Entfendung einer Aushülfe in ſolche Haus
bhaltungen, in denen die Hausfrau verhindert i
ihren Pflichten nachzulommen. Die Hauspilege wird
Armen unentgeltlich geleiftet, von beſſer Geſtellten
wird ein Meiner Beitrag erhoben. Es wurden im
Wefchäftsjahr 1898/1899 87 Pflegen geleiftet, die
qufammen 317 ganze, 87 halbe Nflegetage und
7 Nächte umfaßten. Ter Gemeinderat der Stadt
Jena unterftügt dad Unternehmen durch einen
jährlichen Zufhuß von 300 Marl. Der Borftand
der Abteilung „Daußpflege“ beftcht aus folgenden
Damen: Fran A. Neugeboren, Fräulein. Adermann,
Frau Dr. Türk, Fräulein Snel und Frau Zmweg.
Der Berein „Fraueuwohl“, Adnigsberg i. Pr.,
(Porfigende: Frau Pauline Bohn) veröffentlichte
feinen zehnten Jahreöbericht.
Vefriedigung auf die Ehrung hinweifen, die dem
Xerein durb die Verwaltung der Stadt anläklich
der 20. Generalverfammlung des Allgemeinen
Deutfchen Frauenvereind zu teil wurde. Ein
Er konnte darin mit ,
am Schluß bes Frauentages gehaltener Vortrag '
ven Fräulein Nice Salomon aus Berlin
gab Peranlaffung zur Erweiterung des biöherigen
Arbeitsgebietes des Vereins durch die Gründung
fogiafer Hilfsgruppen. Cbenfo find infolge der
(eneralverfammlung bie Befugnifie der aifen-
pflegerinnen erweitert worden. Cs wurde cine
Kommiifton vom Vorſtand eingefept zur Zorbe:
reitung einer Kod: und Haushaltungöſchule für
Frauen und Mädchen aller Stände. Tie vom
Königsberger Yehrerinnenverein und vom Verein
Frauenwohl begründeten Ghmnafialturfe wurden
von 7 Bollichülerinnen und 7 Teilfchülerinnen
befucht. Die Handelsfchranftalt und bie haus:
wirtſchaftliche Fortbildungsſchule erfreuten ſich eines
regen Beſuchs. Beſonders wichtig erſcheint die
Thätigleit der Nechtöfepugfonmifften. Es wurde
172 Perfonen in 177 Rechtsangelegenheiten Nat
erteilt,
Die ſchweizeriſche Pflegerinnenſchule mit
Branenfpital
in Zurich hat ihren dritten Bericht herausgegeben.
Danach ift die Vorbereitung zu der großen vom
Verein geplanten Organifation im beiten (ange.
Exemplare des Berichte, der ſchon über die zu:
fünftigen Ginritungen in mancherlei Beziehung
orientiert, werden durch die Vorſitzende, Zr. Dr. ned.
A. Heer, Untere Zäune 17, Zürich 1, verfandt.
ui
Bücherſchau.
„generbiumen“, Roman von Adolf Wil:
brandt. (Stuttgart, 1900. Verlag der I. ©.
Cottaſchen Buchh. Nachf.) In der langen Reibe
der Wilbrandtſchen Romane nimmt „Feuerblumen“
eine hervorragende Stellung ei
Leiſtungen iſt's auf diefem Gebiet. „ieuerblumen“,
dad find nad) Wilbrandt® Aamengebung die
Menſchen, die in holdem Genießen und unthätigem
Zuſchauen ihr Leben hinbringen — Untraut ben
einen, fchönfter Schmud im Wenfchpeitägarten den
andern. Und wieder eriveift fi) Wilbrandtö neuer
Roman als Erzichungsroman. Die Erzichung einer
eine feiner beften ,
folchen „geuerblume” gilt es, oder um das Bild ,
zu wahren, ihre Veredelung zu reichem, thätigen,
bilfeträftigem Wenfhentum. Und diefe Erziehung
gelehicht durch eine Frau. Wie in all feinen
Romanen hat Wilbrandt aud in „seuerblumen“ ,
fein Menfcpheitsibeal geftaltet, diesmal in der Per:
; im reicher Bildung — in Chriftgläubigteit und
frommen ®ertrauen in die göttliche yügung auch
Ein junger Mann wird durch diele Frau erzogen;
Xiebe eint die beiden, die feeliih zueinander ge:
bören und ſich doch nicht angehören dürfen; Yeiden:
ſchaftsirren bleiben feinerfeit® nicht aus. Tann
aber, nach ihrem Tode, findet er die Wege, die fie
ihm Icbend vworgezeichnet hatte. Er findet feinen
Frieden. An eine Sdhlle fpinnt er ſich ein, und
ein Sonderlingsleben ift's, das er führt; aber zu:
gleich cin Yeben des ftarten Wirken® im engen
Areife und der Vethätigung des Adcals, das jic
ihm lebte. Man findet den ganzen Wilbrandt in
feinem neuen Roman. Ban mag es tadeln, daß
feine neue Arbeit allzufchr die wohlbefannten
Züge trägt, allgufehr in oft von ikım felbft
befahrenen Geleiien fich bewegt. Aber wer ihm
lieb hat, der wird fih freuen, ihn fo wieder:
fönfichkeit jener Frau; ein Ideal in Thatlraft und ! zufinden.
Die vierte Generafverfammlung bed Bundes beutfcher Frauenvereine. 6
Konferenzen üblichen Formalitäten auf ein Mindeftmaß befchränft. Die unumgänglichen
Formalitäten aber wurden raſch und ohne viele gutgemeinte, jedoch überflüffige Worte
erledigt. Auch die feltenen und ftet3 ſehr furzen Debatten zur Geſchäftsordnung
befundeten, wie Mar die Genoffinnen ſich der Notwendigkeit bewußt find, Zeit für
die Tagedorbnung zu getvinnen, aber auch, welche Gewandtheit und Disziplin fie für
die Verhandlungen mitbrachten.”
Von Fräulein Augspurg fonnte ungefähr das Gegenteil gefagt werden.
Sadli Hatte fie nicht? von befonderer Bedeutung beizubringen; in bezug auf
rein Formales aber, das von ihr mit ungeheurer Wichtigkeit behandelt wurde,
Gefchäftsordnung, Neubildungen innerhalb der Drganifation des Bundes, die erft in
Hamburg eingehend revidiert worden war und in bezug auf ihre Leiftungsfähigfeit in
der kurzen Gefchäftöperiode noch faum erprobt fein konnte, erwies fie fih als
Dauerrebnerin. Geſchaftsordnungsmäßig mar dagegen nichts zu machen. Wenn
jemand die Unverzagtheit befigt, zu jeder Frage, er mag viel davon verftehen oder
wenig, zu ſprechen und die feftgefegten „zweimal zu jedem Gegenftand“ dahin aus:
zunügen, daß möglihft zu einem halben Dugend Amendements, dann wieder zur
Geſchaftsordnung, zur Richtigftellung und zu einer perfönlichen Bemerkung das Wort
ergriffen wird, fo kann eine Gefcäftsordnung feine Handhabe dagegen bieten. Denn
jede Geſchaftsordnung ift unter der Vorausfegung gemacht, daß man es mit Leuten
zu thun hat, bie eine gemeinfame Arbeit wirklich wünſchen. Daß fie im Dienfte von
Parteiintereffen zur Obftruftion gemißbraucht werden kann, zeigt die Praxis der
Parlamente oft genug. Und der Parlamentarismus, wie er ſich räufpert und wie er
fpudt, ftachelte den Ehrgeiz der „Partei“ zu fast kindlichen Leiftungen auf. Denn
kindlich muß man es nennen, wenn in einer Frauenverfammlung, die ernfter Arbeit
beftimmt ift, eine Anzahl von Teilnehmerinnen fich in aller Morgenfrühe die linken
Pläge zu fihern fucht, wenn mit Dho! und Hört, hört! die Debatten begleitet werben,
wenn alle formalen Angelegenheiten mit dem tödlichften Ernft und einer ſtlaviſchen Nach-
ahmung parlamentarifcher Bräuche vollzogen werden, bie einen modernen Ariftophanes
zu neuen Efflefiazufen begeiftern könnten. Denn es trat nicht nur der den Griechen
allerdingd noch nicht bekannte Parlamentsfoler charakteriftiiih hervor — fo
harakterifliih, daß eine anweſende feinfinnige Vertreterin der Frauenbewegung die
Hußerung that: Wenn das fo weiter geht, fo bekommen wir aud) in der Frauen:
bewegung den ganz fommunen Parlamentarismus von heute, bei dem es einfach heißt:
„Dichäuter vor!” — fondern aud die fachliche Aufjaffung erinnerte an dad Rezept
der Efklefiazufenweisheit:
Nun fäume nicht länger und mad’ Did) ans Werk und erörtre die neuen Ideen.
Wenn nur eilig es geht, dad erfreut fie zumeift und gewinnt Dir den Beifall der Menge.
und:
PERF von Regierungdmagimen erjcheint uns
Nur die eine: „Das Neufte, das Beſte“ probat; alles Alte verachten wir gründlich.
Und diefe Regierungsmagime ließ die Stellung der „Neuen“ und der „Alten“
im Lichte der finnigen Unterfcheidung „von Vereinen, die den Bund fügen und folchen,
die von ihm geftügt werden” erfcheinen, ein Vergleich, der, wenn nichts weiteres, fo
doch die naive Zufriedenheit mit ſich ſelbſt befundete.
Parlamentarifche Formen find nötig und nüglih, mie ein gutes Statut und
eine gute Geihäftsordnung nötig und nützlich find. Aber daf bei einem fehlechten
5*
Die vierte Generalverfammlung bed Bundes beutfcher Frauenvereine. *
werfen zu laſſen, wie der Bund durch den Antrag Liſchnewska, ein Beweis dafür, daß
man in jenem Lager das Wertverhältnis von Arbeit und Nefolutionen anders abichägt.
Die einzige ganz entfprechende Antwort auf die Erwägungen im fozialiftiichen
Lager hätte wohl in einem ruhigen vermehrten Entgegenfonmen von Vertreterinnen
der Frauenbewegung, in ber fozialen That, gelegen. Diefe Empfindung teilten viele
der Delegierten. Und daß man gerade diefen Weg zu beichreiten gewillt if, das
bewies die Annahme des Gegenantragd Lange: Freudenberg, der biefen Weg
betont und damit weit über das afademifche „wünfchenswert” hinausgeht. „Die
vierte Generalverfammlung des Bundes beutfcher Frauenvereine erfennt bie Wichtigfeit
einer Verfländigung zwifchen den Vertreterinnen der Frauenbewegung und der
Arbeiterinnenbewegung an und empfiehlt, die Möglichkeit einer Verfländigung auf
gemeinfamen Arbeitögebieten von Fall zu Fall in Betracht zu ziehen und zu fuchen.“ 1)
Aber mit diefer Faſſung war der „Linken“ keineswegs gedient. In endlofen
Debatten verteidigte fie ihren Antrag und beftand vor allem auf der Bezeichnung
„ſozialiſtiſch“, obwohl wieder und wieder betont wurde, daß der Bund feine politifche
Körperfchaft fei noch fein dürfe und daher eine parteipolitifche Bezeichnung in feinen
Refolutionen weder anwenden fünne noch dürfe. Und es mar ein Höhepunkt der
Diskuffion, ald zwei anweſende fozialiftifche Arbeiterinnen durch den Mund von Frau
Profeſſor Krukenberg erflären ließen, daß ihnen an der Aufnahme des Wortes
„ſozialiſtiſch“ in die Nefolution nicht? liege, fondern nur an der thatfächlichen An:
näberung, eine Erflärung, die die „Linke“ nicht Hinderte, nach einem furzen Moment
des Verblüfftfeins, plus catholique que le pape, bennod auf ber Aufnahme des
Wortes „ſozialiſtiſch“ zu beſtehen. Es darf wohl ald ein gutes Zeichen für die
richtige Beurteilung der Sachlage durch die Majorität der Delegierten angefehen
werden, daß fie fih aus ber politifch:neutralen Stellung, die der Bund innezuhalten
verpflichtet ift, nicht herausbrängen ließen. Sie haben damit die Stellung gerecht:
fertigt, die der Bund von Anfang an eingenommen bat: die Arbeiterinnen find ihm
von jeher von Herzen willkommen geweſen, gleichgiltig, zu welcher politifchen Fraktion
fie fich rechneten, zu den Sozialdemokratinnen als ſolchen aber konnte er fein Ver:
haltnis haben. Er hat damit feinerfeits genau denfelben Standpunkt innegehalten,
wie die fozialiftiihen Führerinnen ihrerſeits von jeher und noch jegt in Mainz. Nach
der Haren Zufammenfaffung der Verhandlungen von Henriette Fürth in den
„Dokumenten der Frauen“ wurde betont, daß „von einem Zufammengehen mit
der bürgerlichen Frauenbewegung als folder nicht die Rede fein“ könne.
Es ift bedauerlih genug, daß auch diegmal die unzählige Male widerlegte Be:
hauptung wiederholt wurde, der Bund habe die Arbeiterinnen zurüdgemwiefen. Sollte
feiner Zeit wirklich eine mißverfländfiche Außerung gefallen fein, fo mußten die immer
wieder gegebenen und auch diesmal wiederholten Erflärungen des Vorftandes genügen,
um jede faljche Auslegung zu befeitigen. Unter gebildeten Menfchen pflegt die beftimmte
Berfiherung, daß eine Sache, eine Meinung fo oder fo fei, zu genügen. Jedenfalls wird
man in Zufunft nach der auch diesmal gegebenen bündigen Erklärung dad Recht haben,
bei nochmaliger Wiederholung jener Unwahrheit von böswilliger Verleumdung zu fprechen.
* *
*
1) Die endgiltige Faffung ſtrich — nicht ganz glüdfid, wie mir feinen will — bie Ber:
treterinnen, fügte dem Wort Frauenbewegung „bürgerlichen“ hinzu und verftärtte auf Beranlaffung
der Antragftellerinnen ſelbſt den Iepten Paffus durch den Ausbru: „nad; Kräften zu fudhen.“
Te en 71
„Alſo 1900 iſt kein Schaltjahr. Paßt ja recht auf: es giebt keinen 29. Februar!
Ihr werdet's wohl alle erleben, es iſt wenigſtens anzunehmen, ihr ſeid noch jung.
Du, rechne flink einmal aus, wie alt biſt du dann?“
„Zwanzig Jahr!“ antwortete der Knirps, der ſeine vier bis fünf Jahre in der
erſten Klaſſe abzuſitzen hatte.
„Schönes Alter! Schönes Alter, 20 Jahre! — — Und du? — 22 Jahre?
Na, das ift auch noch ganz ſchön; aber freilich 20 Jahre iſt's nicht mehr. — Und
du, Kind, wie alt wirft du 1900 fein?“
„24 Jahre!“ lautete die gepreßte Antwort.
„24 Zahre! Hm, hm! Das ift — ja — das ift ſchon ganz etwas andres —
ganz jung ift das nicht mehr” —
Die Tonabftufungen, das Hernieberfteigen von faft überſchwänglichem Entzüden
zu bebauerndem Mißbehagen fagten mehr als die abgeriffenen Worte.
Ein Mädel, das über feine 14 Jahre hinaus in der Schule geblieben war, weil
es etwas Tüchtige lernen und werden wollte, verftedte ſich fchnell: es fchämte fich,
im Jahre 1900 26 oder 27 Jahre zu zählen, fo alt, jo unweiblich alt zu fein.
Stets, wenn ich höre, daß in einer Anzahl von Städten und in einer Anzahl
von Volkeſchulen die Lehrerinnen prinzipiell von der Oberftufe ausgeſchloſſen werden,
daß fie hin und wieder wohl Fachunterricht in der erſten Klaſſe erhalten, nicht aber
zur Alaffenlehrerin heraufrüden dürfen, fält mir jener Tag und jenes feltfame Eramen
ein. Es hat fymptomatifche Bedeutung, und die Symptome, die es zeigt, leben
von Urſachen und erzeugen Wirkungen. Wären die Symptome unfruchtbar, Zudungen,
deren Schwingungen das Subjeft umfpielen, ohne zum Objekt hindurchdringen zu
tönnen, fie ließen ſich mit einem Achjelzuden abthun oder es genügte, ihre Erſcheinungs⸗
form wiederzugeben und unter die Iuftigen Geſchichten zu reihen. Aber fie pflanzen
ſich fort und fuchen eine Begegnung, und nun fpringt das Dritte hervor, die Wirkung,
die rüdficht8los und pfeilgrade ihren fihern Weg verfolgt.
Diefe Wirkungen find das Erfte, Seite, Greifbare der Dreiheit, das jedem in die
Augen fpringt, der die Heine Welt einer Madchenvollksſchule zu beobachten Gelegenheit
bat. Beobachten ift zu viel gefagt für die einfache Wahrnehmung einer Thatfache,
die wie Fett auf der Oberfläche ſchwimmt, wohin man auch ſchauen mag, und bie fich
leicht abichöpfen läßt, felbft von den ungeübteften Händen. Die erfle Klafje ver-
wandelt die Mädchen. Die Verwandlung vollzieht ſich nicht mit einem Rud, aber
doch verältnismäßig fchnell; es gehen Zeichen voran, Heine Kämpfe, ein paar Zag-
baftigkeiten und Unficherheiten, aber dann giebt’3 fein Hindernis mehr für die frifche,
fröpliche Fahrt auf der neuen Bahn. Der Standpunkt der zweiten Klaſſe ift über:
mwunden und der Ballaft fortgeivorfen, mit dem fie das Lebensſchifflein befchwerte.
Die Mädchen beginnen fi zu fühlen, ſich jelber als etwas Reizvolles, Fertiges, fie
fchreiten fed und felbftbewußt einher, ſtets durch ein Zuviel an Würde oder Lebendig-
feit, an rüdfichtölofer Läffigkeit oder huldvoller Liebenswürbigkeit charakterifiert, das
auf den Wahn Hindeutet, jederzeit ein Höchft intereffantes Beobachtungsobjekt zu fein.
Der Ordnungsſinn drüdt ein Auge, oft beide Augen zu. Unter den Banken
liegt der Papierfchnee zerriffener Blätter und wird durch dad Zimmer getragen; des
Frühftüdspapierd und der Frühſtücksreſte entledigt man ſich nad) Belieben, wie e3
dem freien Menſchen geziemt. Die eigene Perfon verliert fcheinbar nicht? bei diefem
Ordnungsſchlummer, denn die Eitelkeit nimmt fid ihrer an und fucht durch Schleifen:
Ausfchluß ber Lehrerin aus der Volksſchuloberklafſe. 73
aufgerichtet in diefer ausſichtsloſen Enge fteht und in goldnen Zeichen lehrt: „Dein
Leib ift nicht nur mehr als die Speife, er ift mehr als der Geift. Nur was fi mit
den Händen begreifen läßt, gehört dem Leben, bringt Glüd, bringt Genuß. Mad
deine Sinne nicht zu Thoren der Erkenntnis, es ift ein thörichtes Beginnen, das bie
Zeit ftiehlt und die Kraft; fie follen Diener des Genufles fein; genießen heißt leben!”
Aber daß die Gefahr da ift, daf fie etliche in ihre Wildnis gelodt hat, daß
fie immer droßt und lauert, weil fie cbenfo gut inneren wie äußeren Urfprungsquellen
entfließt, fchließt ihre fiegreiche Bekämpfung nicht aus. ES brauchte nicht jo zu fein,
wie es ift. Diefelben Alteröftufen in einer tieferen Klaffe befigen die Hare Erkenntnis
oder fügen fih der Erkenntnis des Lehrenden, daß das Leben eine Wanderfchaft ift,
für die ein zerbrechlicher Steden nicht ausreicht, daß man fih Waffen zu jchmieden
bat in der Jugend, weil diefe Waffen unentbehrlich find für das Leben, und daß die
Natur uns diefe Waffen nicht fertig in die Hand drüdt.
Das Hinzutretende, Bonsaußen-Rommende ift das Entfcheidende. Immer und
überall giebt die Begegnung den Ausfchlag. ie zertritt die Funken, oder fie entfacht
fie zur hellen Flamme; fie verbindet Wunden, oder fie reißt die Wunden auf. Der
befte, der trefflichfte, der mit den erhabeniten Grundfägen gefättigte Unterricht, form:
vollendet, methodifch exalt, von Begeifterung getragen und Überzeugung durchdrungen,
entbehrt des erziehlichen Einfluffes ohne die richtige Begegnung, die Springwurzel,
die erft erfchließt.
Die Begegnung des Lehrers iſt das Sumptom, das uns in feine Seele ſchauen
läßt, das wahrhaft Vorbildliche und darum Bildende. Nach allen Erfahrungen muß
die Begegnung des Lehrerd und Schülers eine andere fein als die des Lehrers und
der Schülerin, und wiederum eine andere die Begegnung der Lehrerin und der
Schülerin. Aus der Begegnung, dem Erſchließungsprozeß, läßt fid) der Wandel der
Schülerinnen ber Oberklaſſe erklären.
Jener Reviſor ift ein Beifpiel für folche Begegnung. Als er dem Klaffenzimmer
den Rüden kehrte, mußten bie Mädchen nicht nur, daß der 24. Februar der eigentliche
Schalttag ift, ihre eigene Perfon war ihnen bis zu einem gewiffen Grade erjchloffen,
in die richtige Beleuchtung gerüdt worden, in ihrer Bedeutung für die Welt und
fomit für fie felber. Sie hatten gelernt, von einem Dann, der ihnen Autorität fein
mußte: „Dein Wert ift die Jugend, drum erliſcht er mit der Jugend. Deine Jugend
ift ein Aaußeres Prangen. Das ift dein hödjfle®, dein fchönftes, dein Loftbarftes
Gut, aber es vergeht fchnell, es erwartet nicht einmal deines Körpers Blüte, feine
Reife, es achtet deinen Geift als nicht® und Hört nichts von dem Stlingen deiner
Seele. Iſt dieſes Prangen vorbei, dann bift du tief zu beflagen! Die Gefundheit
des Leibe und der Seele, deine Kraft, die Arbeitd: und Schaffenskraft, deine Liebe,
die dich zu Thaten treibt, deine Freude an der Natur, dein Wiſſensdrang, der dich
zu Büchern zwingt, deine Religion, die did) mit Gott verbindet, was find fie denn?
Was vermögen fie zu deinem wahren Glüd? Zie find ein trüber Neft, deine Sonne
ift untergegangen.” Das batte die Begegnung erjchloffen.
Ihre Bewegungslinie liegt parallel mit der, auf welcher eine Mehrzahl der
Lehrer die ehrlichen, unabhängigen Grüße für ihre Mädchen pflüdt. Diefe Grüße,
leicht hingeworfene Worte, müflen als ernfter, bedeutungsvoller, behaltenswerter und
nachfolgeheifchender genommen werden als der Unterricht felbft mit feinem vielfach
lebensfremden Stoff; denn fie gelten dem Mädchen, dem Weibe, ihm fpeziell und feiner
Ausfhluß ber Lehrerin aus der Volksſchuloberklafſe. 75
des Nageld Kopf träfe. Wie viel fchlimmer, wenn man einer Klafle, einer Gattung
zuführen fol, was fie nicht braucht, was fie nicht fallen, nicht feſthalten ann. Hier
öffnet fich eigentlich nur ein Ausweg, der, zu jagen: „Dazu gebe ich mich nicht ber,
es ift Spiegelfechterei!" Selbftverftändlic) wird diefer Ausweg nicht gewählt, es hieße,
fih in das eigene Fleiſch ſchneiden.
Die Danaidenarbeit wird übernommen; fie beginnt. Die mißtrauijchen Augen
erfpähen die Siebnaturen zuerft und ſchützen ſich flugs durch die Scheuflappen des
eingewurzelten Vorurteils, der granitfeften Tradition, um bie andersartigen aus dem
Gefichtökreis zu bannen. Der Unterricht finft. Lauheit, Gereiztbeit, Gleichgiltigkeit
laſſen ihn verfumpfen. Die Mädchen, denen wie Schwacjlöpfen begegnet wird, ver:
lieren den Glauben an ihre Lernfähigfeit, ihr Selbfivertrauen verfpurloft, fie ſchauen
nun wirklich darein wie die Schwachköpfe. Kein Wunder! Sole Stunden find
Verbummungsgymnaftil. Und doch aud nicht! Denn während das Flämmchen des
einen tiefgefchraubten Dochtes, dem das Ol in [nunenhafter Karglichkeit zugeführt
wird, nicht leben und nicht fterben kann, zünden fi die Hugen Kinder eigenmächtig
ihre Lamplein an in Hirn und Herz, Gedanfen und Phantafie. Was fie da ſehen,
teilen fie den Kameraden als gute Nachbarn mit; fie erleben viel, beiprechen viel,
beſchreiben viel — Papier.
Der Unterricht gleicht den Halligen, an denen das Meer reißt. Wer bezweifelt,
daß fie untergehen müffen? Niemand! Aber e3 giebt auch niemand, der da behaupten
würde, daß auf dem jeften Lande todgeweihte Inſeln ihres Schidjals harten. Diefe
Unterricteftunden find fünftlihe Halligen; dem Zauberlehrling glei rief man bie
Fluten. Sie erhalten ihre Namen, willfürlihe Namen, wie fie diefen Willkürsfluten
gesiemen, durch die man die eigene Ehre rettet und mehrt! Mangel an Konzentration,
Zerftreutbeit, Schwatzhaftigkeit, Oberflachlichkeit und dergleichen mehr am ſpezifiſch
weiblichen Eigenfchaften.
In der That, fie alle werden gerufen oder wach gerufen und immer wacher, fie
ſchwellen zum tedften, toflften Übermut; jegt wagen fie fih aud an die forgfältig ein-
gehegten Schonungen, der Verftöße werden immer mehr, und werben fie abgeichlagen,
fo laſſen die Angreifer, bildlich gefprochen, Plakate zurüd, denen nicht unähnlich, die
Joachim I. an feiner Kammerthür gefunden baben fol.
* *
*
Quellenwanderungen find meift nicht ganz ungefährlich, aber fie haben ihren
Wert. Die Wandlung fo vieler Mädchen fo mander Oberklaſſe mußte einmal bis
zu einigen ihrer Quellen verfolgt werden. Alle konnten nicht aufgebedt werden, es
find ihrer zu viele. Auch ſollte e8 eine Wanderung obne Fadeln fein, die man für
gar zu dunkle Gebiete nötig hätte. Hier leuchtete trog allem die Eonne, die Sonne
„treuer“, wenn auch enggefaßter, eigengefaßter, lediglich fubjektiver Pflihterfülung.
Die Sommerwärme, die Frühlingshele geben diefer Sonne ab, fie Hat etwas
Grämliches, Winterliches, faſt etwas Gegnerifches.
Mädchen aber brauchen zu ihrer Erziehung ficher fo viel Wärme und Licht wie
die Traube, die zu edlen Weine beftimmt ift; daher —
Doch hören wir einen Mann, ehe wir übereilte Schlüffe ziehen.
Am 3. Oktober dieſes Jahres erklärte laut Zeitungsbericht Lehrer Hing in ber
9. Provinzialverfammlung des Verbandes katholiſcher Lehrer Weftpreußens, „die
Das Fahrzeug der Zukunft. Kl
weil nicht nur feine Knochen, fondern aud manche andere Hohlräume feines Körpers
mit Luft gefühlt find, die fein Gewicht bedeutend erleichtert. Kommt hinzu, daß die
Bruſtmuskeln beim Vogel viel ftärker im Verhältnis find al3 beim Menfchen. Die
befannten Verſuche Lilienthal mit feinem fledermausflügeläßnlichen, von Spitze zu
ES pige 7 Meter meflenden Apparat haben nur bewichen, daß es möglich iſt, beim Anlauf
gegen mäßigen Wind mit einem folchen über die Arme gejchobenen Apparat ſich eine
Strede weit — Lilienthal erreichte einige hundert Meter — in der Schwebe zu halten.
Als er ſich im Auguft 1896 mit einem neuen, etwas größeren Apparat einer zu ftarken
Luftſtiömung anvertraute, verlor 'er die Herrſchaft über feine Flügel und ftürzte von
dem 30 Meter hohen Hügel, den er eigens für feine Schwebeverfuche errichtet hatte, ſo
unglüdlich ab, daß er den Verlegungen bald darauf erlag.
Die Nachfolger Lilienthals haben ſich im wefentlichen mit Heinen Modelapparaten
begnügt, aber Wife in den Vereinigten Staaten und Baden-Powell in England haben
doch auch des öfteren ſchon fich felbft ihren Apparaten anvertraut, die in diefen Fall
nicht Flügel nad Art der Vögel oder Fledermäufe, fondern Drachen waren, und ver:
mochten fi damit bis zu einer gewiſſen, freilich noch ſehr befcheidenen Höhe empor:
heben zu laſſen. Die Form des Drachens, namentlich die des malayiſchen, der bei
gleicher Höhe breiter ift als das bei uns beliebte Spielzeug und ald Gerüft ein Kreuz
mit fligbogenartig gebogener Duerftange hat, bietet jedenfalld die Möglichkeit, eine
Flugmaſchine, fofern fie erft einmal genügend hoch gekommen ift, dauernd in der
Schwebe zu erhalten, indem gewölbte und in beſtimmtem Winkel geneigte große Flächen
als Tragflächen wirken. Denn beim Schwebeflug, auch der Vögel, kommt es, wie
Langley nachgemwiefen, darauf an, daß zwiſchen der horizontalen Geſchwindigkeit des
Windes und der des fliegenden Körpers ein genügender Unterfchied vorhanden ift.
Haben fi beide Geſchwindigkeiten ausgeglichen, fo braucht die Tragfläche nur in eine
andere Lage gebracht zu werden, um den nötigen Unterſchied wieder herbeizuführen.
Lilienthal Hatte dad bei feinen Verfuchen wohl verwertet, indem er bei plöglichen
Windftögen den Schwerpunkt feines Körpers zu verlegen fuchte. Wirklich gefichert
wird aber die Tragfähigkeit einer ſolchen gewölbten Fläche erft durch einen beftimmten
Grad von Geichwindigfeit, mit der fie vorwärts bewegt wird. Ye größer dieſe
Geſchwindigkeit, deflo ficherer Hält ſich die Tragfläde in den Lüften. Die Drachen
fliegen deshalb fo hoch in die Luft, — die vom Blue Hill-Obfervatorium erreichen
durchinittlich eine Höhe von 2400 Metern, ein am 28. Auguft v. 38. auf:
gelaffener ftieg fogar bi® 3600 Meter — weil ihnen vom Erdboden aus eine
bedeutende Vorwärtöbewegung gegeben wird, die alebald den Auftrieb zur Folge hat.
Und diefe Vorwärtsbemegung, die der fpielende Knabe dadurch erzielt, daß er
mit feinem an der Leine gehaltenen Drachen eine tüchtige Strede läuft, müßte
bei Dradenfliegern, die Laften tragen jollen, durch Majcdinenantrieb erzeugt werden.
Die Tragflähe müßte einen Motor befommen, der cin jehr geringes Gewicht
bei fehr großer Leiftungsfähigfeit aufweiſt. Daran hapert's aber gerade, wenn man
aud in den legten zehn Jahren ungeahnte Fortſchritte auf diefem Gebiete gemacht
hat. Galt früher ein Gewicht von 25 Kilo bei Dampfmafchinen, von 40 Kilo bei
Benzin und Petroleummotoren ald das Minimalgewicht zur Erzielung einer Pferdes
kraft, fo hat neuerdings Hargrave in Auftralien eine Dampfmaſchine von nur fünf Kilo
pro Pferdekraft konftruiert, und Langley in Amerika hat eine Eleine, allerdings nur eine
Pierdefraft erzeugende Mafchine zufammengejegt, die mit Kefjel ſogar nur 7 englifche
Das Fahrzeug der Zukunft. Li)
Die „Feuerluft“ erfegte kaum ein Vierteljahr nach Montgolfierd Erperiment der
Phyſiler Charles durch den noch viel leichteren Waflerftoff, mit dem als dem leichteften
aller bekannten Gafe noch heute die Luftballons gefüllt werden, und fchon im November
des Erfindungsjahres unternahmen zwei beherzte Männer, Pilätre de Rozier und
der Marquis d’Arlandes, den erften Flug in die Wolfen. Zwei Jahre fpäter, am
7. Zanuar 1785, volführte Blanchard feine berühmte Luftfahrt über den Kanal von
Dover nad) Calais; 1794 fand die erfte Anwendung eines Feffelballons für mili-
tariſche Zwede in der Schlacht bei Fleurus ftatt, und 1803 unternahmen Robertfon
und Lhoeſt von Hamburg aus den erften Luftflug zu wifienfchaftlichen Zweden. Bei
einer ſolchen Fahrt, die ihn 7000 Meter hoch trug, fonnte der berühmte Gay-Luſſac
feftitelen, daß die Luft in biefen hohen Negionen diefelbe relative Zufammenfegung
bat, wie in den tiefften Schichten. Die höchſte Höhe erreichte im Ballon der engliſche
Meteorologe James Glaiſher, der von 1861 biß 1866 zufammen mit Corwell nicht
weniger als 30 Luftfahrten unternommen hat. Ungefähr dieſelbe Höhe erreichte
Dr. Berfon mit dem deutichen Ballon „Phönir“, mit dem er bereit, meift in Gemein:
ſchaft mit Hauptmann Groß, einige 50 Fahrten volführt hat.
Solche Hochfahrten machten mit dem Element, das einmal das unferer Verkehrs:
wege zu werden berufen fein mag, gründlich vertraut. Man ftellte feit, dab man ſich
bis zu einer Höhe von 3000 Meteyn noch unter allen Umftänden leidlich wohl fühlen
tann, meift noch bis 5000 Meter. Empfindliche Perfonen beginnen zwiſchen 3000
und 4000 Meter zu leiden, darüber hinaus macht ſich der Einfluß der Kälte, die
Dr. Berfon bei 7000 Meter auf — 30° gemefjen hat (Negiftrierbalons haben fogar
bei 14000 Meter Höhe bis 80° Kälte verzeichnet), und der verdünnten Luft auch
für ſtarke Nerven unangenehm bemerkbar, der Atem geht ſchnell und heftig, das Herz
pocht ftürmiich, die Kräfte laffen bis zur völligen Ohnmacht nach, fein Glied gehorcht
Ichlieglih mehr dem Willen. In Höhen von 7000 Metern und darüber hiljt auch
die künſtliche Einatmung von Sauerftoff nicht mehr, die ſich ſonſt als ficherfted Gegenmittel
gegen einen Zuftand erwiefen hat, der völlig identiſch ijt mit der gefürchteten Berg:
krankheit, jener merkwürdigen Erſcheinung, die den Hochtouriſten befällt, ſelbſt den
gelbten Bergfteiger, und die ſchon ein Paraceljus bejchrieberi hat. Die „Soroche“
nennen fie die Chilenen in den Gordilleren. Merkwürdigerweiſe tritt fie in den Alpen
an gewiſſen Abhängen, wie dem Montblanc, die auch von den Bergführern befonders
gefürchtet find, ftärfer auf als an andern, und dort ſchon in Höhen wenig über
3000 Meter, während im Himalajagebirge noch in einer Höhe von 4500—4900 Meter
Ortſchaften dauernd bewohnt find. Auch in den Cordilleren. Entipricht doch die Lage
der Stadt Potofi in Bolivia der Höhe des Jungfraugipfel® (4170 Meter), und die
peruanifche Gordillereneifenbahn pafiiert gleih den großartigen Kunftftraßen der alten
Inkas Höhen von 4760 Meter. ebenfalls liegen alle diefe höchſten Wohn: und
Arbeitzftätten noch unterhalb 5000 Meter, der Grenze, über die hinaus der Sauer:
ftoffmangel empfindlich bemerkbar wird. Wir werden alfo, follte der Luftballon wirklich
das Fahrzeug der Zufunft werden, dafür zu forgen haben, daß er jtet3 unterhalb
diefer gefährlichen Grenze bleibt. Andree kam auf den Gedanken, den Ballon in
einer ganz beftimmten Fonftanten Höhe über der Erde zu erhalten durch ein herab:
hängendes und mit feinem möglichft rauhen Ende auf der Erde fchleifendes Schleppfeil.
Will der Ballon Höher fleigen, als er foll, fo wird er, abgejehen davon, daß das
rauhe Seil fein Steigen ohnehin jchon durch den Reibungsmwiderftand zu hemmen
Das Fahrzeug der Zukunft. 8
lichen Stärke bei möglichfter Leichtigkeit fein, um gegen jede Luftftrömung anzufämpfen,
dann thäte man, wie ſchon Renard 1890 erklärte, beffer, zum dynamifchen Flug über:
zugehn. Denn am Ende bedeutet die rein dynamiſche Luftſchiffahrt doch erft die
volle Löfung des Problems, das ſchon der Phantafie des alten Homer vorgeſchwebt
bat, als er die Geſchichte von Daidalos erzählte, deſſen Sohn Ikaros ſich die funft-
reichen Flügel leider an der Sonne verbrannte, aljo daß er ind Meer abflürzte und
elend ertrant. Als Übergangsftadium mag die Flugmafchine einftweilen noch in
Verbindung mit dem Lufballon bleiben, um jene teilmeife zu entlaften; Drachenfläche
und Segel werden dann immer größer werden und ber Ballon in dem Maße
Heiner, bis er ganz überflüffig geworden fein, und der Daidalos der Zukunft allein
auf feinem Drachenſchiff frei durch die Lüfte ſchweben wird.
Daß aber auch Sohn Ikaros nicht fehle in diefem Zufunftsbilde, dafür hat ein
Phantaft unferer Tage geforgt. Kerr Hermann Ganswindt in Schöneberg bei Berlin,
der bald ernft, bald nur mehr humoriſtiſch zu nehmende oflpreußifche Erfinder, bat
dem beutfchen und dem ruſſiſchen Kaifer ein Buch unterbreitet, in dem er den beiden
Monarchen die Löfung der fozialen Frage verfpricht durch nichts Geringeres als die
Anfieblung der überflüffigen Menfchheit auf Mars und Venus. Nichts leichter für
Herrn Gandwindt ald die Reife durch den Weltenraum zu den Nachbargeftirnen. Er
nimmt eine beſonders fonftruierte Dynamitpatrone und fchießt damit einen großen
Stahlbod, an dem eine cylindriſche Stahlgondel mit zwei Reifenden — Weltreifenden
im tühnften Sinne des Wortes! — befeftigt ift, in die Höhe. Iſt die lebendige Kraft
des Blocs erichöpft, erfolgt automatifch eine neue Erplofion, welche die durch die
erfie Exploſion erlangte Fahrgefchwindigfeit verdoppelt. So geht es fort, bis man in
circa 23 Stunden auf dem Mars oder der Venus ift. Und ein Lemberger Profeffor
zechnet dem fühnen Erfinder allen Ernſies in der „Zeit“ nad, daß nur 421 Kilogramm
Nitroglycerin auf einen Schlag verbrannt zu werben braudten, um die Ganswindtſche
Rakete mit ihrem menſchlichen Inhalt bis an die Grenze der Atmoſphäre zu ſchleudern,
wo fie dann zunächft wie ein Trabant, ein fünftlicher Liliputmond um die Erde freifen
würde; in dem widerfiandslofen Mittel außerhalb der Atmofphäre wäre es dann ein
Leichte, beliebig in den Anziehungsbereich eines andern Geſtirns oder auch zurüd in
den der Erde zu gelangen und an jeder erwünfchten Stelle zu landen. Leider haben
weder Herr Ganswindt noch der Profeffor daran gedacht, daß ein Geihüg, das dem
nötigen Gasbrude bei der Exrplofion einer ſolchen Sprengftoffmenge zu mwiderftehen
vermöchte, unmöglich berzuftellen ift, und fo wird es wohl fein Bewenden dabei haben
müffen, daß wir und mit dem dynamischen Flug in Wolfenhöhe begnügen und auf den
„dynamitiſchen“ über die Erdatmofphäre hinaus verzichten. Hätten wir jenen nur erft
verwirklicht.
Blinde Klippen. . 88
„Schade nur, daß niemand es verfteht,“
fagte Nymark lächelnd.
„Bann haben die Menſchen eine größere,
höhere Wahrheit fogleich verftanden? Es find
bald zweitaufend Jahre vergangen feit Aufs
tauchen des Chriftentums; haben fie bis zum
heutigen Tage gelernt, es fo recht zu ver
ftehen?”
Auf diefe Frage kann ich nicht antworten.
Was ich wünfchte, wäre zu wiſſen, mas Ibſen
im Grunde wi. Bisher hat der Liberalismus
ihm gepaßt, nun verwirft er auch dieſen.“
Weil er fieht, wohin bie Freiheit führt,
wenn nicht eine geiftige Veränderung mit dem
Menſchen vor ſich geht. Ibſen ift eben darum
der mächtigfte Geift unſerer Zeit, weil er
ihre Mängel, Verirrungen und Bebürfniffe
tiefer und klarer ald irgend ein anderer
erfaßt. Und im Grunde genommen verwirft
er nicht die Freiheit, fondern er befämpft nur
Zügellofigkeit und Leichtſinn.“
„Und dann geht er hin und fnetet bie
Eittenlehre in die Kunſt ein. Nein, Gott
behüte uns, es ift befier, jedes Ding hübſch
zu feparieren. Laßt die Kunft Kunſt bleiben,
die Wiflenihaft Wiſſenſchaft und die Ethik
Ethil.“
„Ich bin anderer Anſicht. Ich glaube,
daß nur der Menſch harmoniſch und geſund
werden kann, der das Reſultat der Entwidlung
nicht nur von ber einen, ſondern auch von der
weiten und britten Geite fi einzuverleiben
verfteht. Und Lönnen fie in berfelben Seele
Platz finden, marum dann nicht auch in dem:
felden Wert? Darin liegt die große Be:
deutung der Dichtlunft unferer Zeit; denn ob
mit größerer ober geringerer Klarheit, immer
ftrebt fie doch nad) diefem Biel.”
„Ohne Erfolg; denn die Kunft gebt feinen
Bund ein, am menigften mit der Religion.”
„Warum nit?”
„Weil fie dann ihre Lebensbebingungen
einbüßte: Freiheit und Natürlichkeit.”
„Irrtum! Nicht der religiöfe Geift, bie
Dogmen fefjeln die Freiheit und Natur. Er
dagegen veredelt und reinigt, erhebt und abelt
beide.”
„Und errichtet Grenzpfähle.”
„Nur wo fie nötig find,” fagte John
lächelnd. „Und eigentlich find es feine Grenz:
pfähle, fondern Warnungszeichen vor blinden
Klippen und anderen gefährlichen Stellen.“
„Blinden Klippen — ?”
„Worüber bebattiert ihr?” fragte Alma
im Eintreten.
„Wir find hoch über den Mollen, Frau
Karel. Cie kommen zu rechter Zeit, uns zu
erinnern, daß es viel Schönered und Herr
licheres bier auf Erden giebt, ald da droben.”
„Erinnere ih Sie daran?”
„Man fühlt es in Ihrer Nähe.”
„Angenehm zu hören. Und unfer Bürger:
meifter? Iſt er auch droben in den Wollen
verſchwunden ?“
„Gott behüte! Nein, der ſitzt dort auf
der Veranda. Lagander! In deinem Häuschen
brennt's!
Der Buürgermeiſter zeigte ſich, mit dem
Taſchentuch die Stirn trodnend, in der Thür.
„Schon? Ya, e8 ift wirklich gehörig warm.”
„Kommen Eie und fühlen Sie fi mit
einer Tafje heißen Kaffees.”
Zagander lachte und folgte der Einladung.
„Buerft mit heißem Kaffee und dann mit
Reifenmwerfen ?”
„Ganz richtig.”
„Frau Karel,” fagte Nymark, „da wir eben
von Litteratur Sprachen, mörhte ich gern hören,
was Sie über Zola denfen.”
„Garnichts. Ich habe nichts von ihm
gelefen und kenne ihn alfo nicht.”
Nicht? Iſt's möglich? Ober ift das fo
zu verftehen, daß Eie ihn aud nicht kennen
wollen?”
„Darauf fann id erft antworten, wenn
ich erfahren habe, wie er iſt.“
„Erlauben Eie, daß ich Ihnen einige feiner
Arbeiten bringe?“
„Gern. Aber ift er fo, mie man fagt,
fo kann es leicht fein, daß ich nicht über ein
paar Seiten hinausfomme.”
„Sie werden nit umhin fönnen, feine
Bücher zu lefen, wenn fie einmal auf Ihrem
Tiſche liegen. Man muß fie bewundern, denn
fie find Natur von Anfang bis zu Ende.
Und die Natur wird gezeigt in ihrer ganzen
Häßlichfeit, in allen ihren Erſcheinungsformen,
die ohne Ausnahme dargeftellt find als gleich
berechtigt, gleich frei, gleih bedeutungsvoll.
Nichts wird verftedt, nichts verheimlicht.”
6*
Blinde Klippen.
Nähe die rofige Reinheit ihrer Haut und bie
weiche Rundung der Formen bewundern fonnte.
Und es fiel ipm bisweilen ſchwer, die Ge:
danken hinlänglich zufammenzuhalten, um an
dem Gefpräd ber übrigen teilzunehmen.
John und Lagander fprahen von den
Landtagswahlen. In den meiften Städten
hatten die Schwwebifchgefinnten gefiegt, obwohl
die Etimmenffala begrenzt worden. Lagander
donnerte gegen die Echmebifchgefinnten und
nannte fie „Tellerleder”. John fuchte ihn zu
beruhigen.
„Es ift unfer eigener Fehler,“ fagte er.
„Bir Nationalgefinnten haben nicht genug
Energie und Kraft. Die Schwediſchgeſinnten
halten zufammen, das ift natürlih. Aber fie
hätten nicht fiegen fönnen, wenn wir wachſam
geweſen wären.”
„Wer fann mit ihnen fonkurrieren? Cie
haben das Kapital auf ihrer Eeite, und fie
halten alle höheren Amter. Da fann man
fich leicht blähen.“
„Aber die Kraft iſt ja doch auf unſerer
Seite, denn wir haben das ganze Volk
hinter und.”
„Das Volt iſt noch nicht dazu erwacht,
feine Rechte zu verteidigen.”
„Es wird zu rechter Zeit erwachen. Rom
wurde nicht an einem Tage erbaut.”
„Jawohl, alles braucht feine Zeit. Frau
Karel, das erinnert mich an unfer Gefpräd
vom letztenmale.“
„Wiſſen Eic, daß ich oft daran gedacht
babe und befonvers in dieſen legten Tagen?”
fagte Alma lächelnd.
„Wirhlich?“
Er blickte Alma forſchend in die Augen
und begriff, daß fie beide auf dasſelbe hin—
zielten, nämlich auf ihr Ichtes Gefpräd von
der Liebe zwiſchen Mann und Weib.
„Räumen ie vielleiht ſchon ein, daß ih
ein wenig recht hatte?“
„Noch nicht.”
„Rom wurde nicht an einem Tage erbaut,
und alte, eingewurzelte Gewohnheiten find
nicht auf einmal auszurotten,” fagte Nymark
lächelnd.
„Aha,“ rief Zagander aus, „ich weiß ſchon,
wovon Sie reden.”
Alma errötete leiht. Cie hätte unter
8
feinen Umftänden das Gefpräh vor ihrem
Manne wiederholen mögen.
Nymark bemerkte ed und fam ihr ritterlich
zu Hilfe.
„Nun natürlid) davon, daß Frau Karel
unter feiner Bedingung am Geſellſchaftsleben
Anteil nehmen will.”
Ihre Augen begegneten ſich wieder, und
die Blide beftätigten einen Heinen, heim—
lichen Bund.
„Karel, ſteh' uns bei,” fagte Lagander,
„und fage deiner Frau, daß fie wirklich in
diefer Sache ihre Anſicht ändern muß.”
„Es lebe die Freiheit!” fagte Karel.
„Bravo!“ rief Nymart, „an dieſes Wort
halte ih mid. Von deiner Ecite ift alſo
fein Hindernis zu fürdten, fobald deine Frau
einwilligt 2”
„Natürlich nicht.”
„Und du nimmft es auch nicht übel, wenn
id ales mir Mögliche thue, um ihre Zu:
ftimmung zu gewinnen?“
„Gott bewahre!” fagte Karell lächelnd.
„Ich gebe dir volle Freiheit.”
„Hören Sie, Frau Karel?”
„Ich höre.“
Alma beugte ſich über ihren Teller. John
fümmert fi nicht darum, dachte fie; er würde
es ſich faum zu Herzen nchmen, wenn id) mich
in einen anderen verliebte.
Nymark beivunderte ihr feines Nadenhaar,
das ſich in Löckchen auf den weißen Hals ringelte.
„Was meinen Sie, Frau Karel! Wird
es mir gelingen?”
„Dan kann ja den Verſuch machen.”
„Sie lächeln. Das giebt mir Hoffnung.
D, Sie haben nicht das Herz, nein zu fagen.”
„Aber warum? Ich frage es noch einmal.
Ih werde zu feines Menſchen Vergnügen
beitragen.”
„Darüber lafjen Sie andere entſcheiden,“
fagte Lagander.
Cie ftanden vom Tifde auf. Nymark und
Alma traten auf die Veranda hinaus.
„Sie werden zu feines Menfhen Freude
beitragen, meinen Sie?” fragte Nymark leife,
ſich zu Alma hinabneigend, die fih auf feinen
Arm ftügte. „Sagen Sie lieber, daß Eie an
feinem Menſchen Freude haben. Eie, die
Sie fih um feinen fümmern.”
Blinde Klippen.
lich Böfes darin? Auf Gegenliebe hatte er
ja von allem Anfang an nicht hoffen dürfen.
Jedenfalls würden feine Gefühle ſich innerhalb
der gebührenden Grenzen halten müffen, denn
Alma befaß ja einen mädtigen Schuß in ihrer
Xiebe zu John...
Und nichts hinderte fie, freundlich gegen
Numark zu fein oder mit ihm zu verlehren.
Er war angenehmer und Iuftiger ald andere
Herten, allerdings etwas leichtfinnig, aber was
lag daran! Im gefelfchaftlichen Leben ſchadet
das ja nichts ...
Außerdem hatte er beſonders eine gute
Seite: er war dankbar für jeden kleinſten
Beweis ihrer Gunft. Wie überglüdlich würde
er fi mit nod fo wenig Gegenliebe fühlen!
Ganz anders ald John! .. .
Mina kam und bat fie, hereinzufommen.
Helmi meinte und tar nicht zu befchwichtigen.
„Ich meine, fie fchliefe vielleicht beſſer bei !
der Frau ein,” fagte fie.
Alma ging ‘hinein, öffnete die oberjten
Knöpfe ihres Kleides und legte ſich aufs Bett.
„Wollen Sie fich nicht gleich ſchlafen legen?“
fragte Mina, „es ift ja ſchon fpät.”
„Noch nicht. Bringe Helmi her!”
Kaum lag Helmi an der Mutter Bruft,
fo hörte fie auf zu weinen. Nachdem fie ihren
Hunger geſtillt, lag fie ganz zufrieben da, fah |
zur Mutter auf und lächelte. Aber die Mutter
lächelte nicht Antwort, wandte ihr nicht ein=
mal den Blid zu.
Helmi fah eifrig zur Mutter auf und fügte
„gää“, um ihre Aufmerkſamkeit zu weden.
„Schlafe nur fon,” fagte Alma etwas
ungebulbig und gab ihr wieder bie Bruft.
ALS Helmi eingefehlafen war, erhob Alma
ſich vorſichtig, ſchloß das Kleid und ging auf
die Veranda hinaus. Es war ftill und dunkel.
Zwiſchen den herabgelafienen Gardinen von
Johns Fenfter glänzte Lichtſchein.
Sie faß auf derfelben Stelle, wo fie am
Tage gefefien, während Nymark ihr das Garn
gehalten. Sie lehnte ſich gegen bie Rüdlehne,
legte die gefreuzten Hände in den Schoß und
ftredte die Füße aus.
So tief war fie in Träume verfunfen,
daß fie nicht fah, wie das Licht aus Johns
Fenſter verſchwand, und nichts hörte, bis er
neben ihr ftand und fagte:
„Zigeft du immer nod ba?”
Alma zudte zufammen und warf einen
ſcheuen Bid auf ihn. John lächelte. Eelbft
das legte, bittere Gefühl vom geftrigen Tage
verſchwand, wenn er überhaupt noch ein foldes
gehegt.
Alma war ſo entzückend in ihrer halb⸗
liegenden Stellung. In der Abenddämmerung
erſchien ihr Geſicht bläſſer als gewöhnlich,
aber zugleich auch rührend ſchön.
„Komm, Liebchen!“ flüſterte John und
nahm ihre Hand.
Gehorfam folgte fie ihm hinein.
Und obgleich fie nichts ſprachen und feine
Auseinanderfegung zuftande fam, fand doch an
jenem Abend eine vollftändige Verföhnung
zwiſchen ihnen ftatt.
V.
Hiernach war Alma einige Tage ruhiger
geſtimmt. Die Überſiedelung gab ihr auch
vollauf zu thun, und dann war wieder die
Wohnung in der Stadt in Ordnung zu bringen.
Es war feine Zeit, an amberes zu denken,
wenn man bis zur Ermüdung arbeiten mußte.
John hatte wie ale Männer ein Grauen
| vor tiefen großen, häuslichen Eäuberungen.
So oft fie in Ausficht ftanden, ergriff er
jederzeit die Flucht; fo aud) nun. Alma fah
es diesmal mit Vergnügen.
„Geh nur,” fagte fie, „dann können wir
bier alles ordentlich abmachen.“
John warnte fie nur noch, feine Papiere
anzurühren — und ging.
Der Salonboten war noch nicht geſcheuert.
! Dahin trug nun Alma alle Topfgewächſe,
überfprigte fie mit Waſſer, wiſchte bie Blumen
töpfe rein, ſchnitt die trodenen Blätter ab
und glättete die Erde obenauf.
Eie hatte nur ein rotlarriertes Morgenkleid
an, und das Haar war unter der Bewegung
berabgeglitten.
Ta fam gerabe fo recht zur Unzeit Nymark.
Es verbroß Alma ein wenig, aber fie ud
ihn doch ein, in das Zimmer ihres Mannes
zu treten, das ſchon aufgeräumt war.
Um feinen Preis, er wolle nicht ftören.
„Aber darf ich Ihnen denn nicht bier zus
fehen? Zie pafjen jo gut unter die Blumen,
| Eie, die Sie ſelbſt zu ihnen gehören.“
Blinde Klippen
fo gelingt es uns ſchließlich, ihn zu ver⸗
jagen.“
„Topp! Wir wollen einen Bund ſchließen.
Und wir wählen Cie zum Chef. Wann fol
der Kampf beginnen?”
„Heute Abend.”
„Und auf welche Art?“
„Bir wollen auf das Feuerwehrfeſt gehen.
Ih fam eben, um Sie an Ihr Verſprechen
zu erinnern.”
„Ab, Sie haben alfo daran gedacht?”
„Ich habe es feinen Augenblid vergefien.”
Diefe Worte wurden von einem Blid
begleitet, der Alma erröten machte. Aber fie
fagte: „Natürlich bleibe ich bei dem, mas ih
einmal beſchloſſen.“
Ihrer fpäteren Entſchließungen erinnerte
fie fih ſchon gar nicht mehr.
„Wirtlih? Und ih dachte ſchon, Sie
hätten es bereut.”
Alma lachte ein wenig verlegen. Aber fie
wurde ihrer Antwort enthoben, denn in biefem
Augenblid trat John ein.
„Gebft du heute Abend auf das euer:
wehrfeſt, John?“ fragte Alma.
„Ich Tann nicht,” fagte er, fi in den
Lehnſtuhl neben fie fegend; „ich babe Sitzung
der Gemeinberäte.”
„Wäre es fo gefährlid, wenn du einmal
da ausbliebft?”
„Es liegen heute wichtige Fragen vor.
Und um die Wahrheit zu fagen, ich habe aud)
feine Zuft zu dem ganzen Feſt.“
„Das ift es eben.”
Alma ſah Nymark melancholiſch an.
„Kommen Sie doch wenigſtens,“ ſagte er.
„Ja, du kannſt ja gehen, wenn du Luſt
Haft.“
„IH brauche auch wirklih einige Zer-
ftreuung. Kein Menſch hält das in Ewigkeit
aus, nur kochen und Kinder warten.”
Alma fah vor fi nieder und zupfte nervös
an einer Ede ber Tiſchdede, die ihr in die
Hand geraten war.
„Es hindert did ja niemand, in dieſer
Hinficht deinem eignen Willen zu folgen,“
entgegnete John ernſt.
Er ftand auf und ging in fein Zimmer,
ehe Alma etwas erwidern konnte.
„Es hindert dich niemand!“ Alma lämpfte
8”
mit den Thränen. „Das weiß ich mohl.
Aber doc wird es übel aufgenommen.”
Wer nimmt es übel auf? Sie felbft.”
„Nein, nicht ich, fondern John und alle
Leute.”
„Das ift nicht richtig, Frau Karel. Und
thäten fie es felbft, was brauchen Eie fih
darum zu kümmern?”
Unaufgaltfam drangen die Thränen aus
Almas Augen. Ein wenig verlegen brüdte
fie ihr Taſchentuch gegen ihr Geſicht.
„Wie kindiſch ich bin!”
„9a, wahrhaftig. Wann werden Eie fih
von dieſen altmodifchen Anfhauungen foweit
befreien, daß Sie es wagen, die friſche, freie
Zuft zu atmen?”
„Dann würde ich vermutlic) die Beteiligung
am Gemeinderat und Landtag anftreben, wie
andere energifche Frauen unferer Zeit.”
„Mein, Gott behüte, lajjen Eie das ben
Alten und Häßlichen. Ihnen bietet das Leben
ein ſchöneres Glüd.”
Nymark nahm feinen Hut.
„Darf ic Cie heute Abend abholen, da
John nicht mitgeht?”
„Wenn Sie fo gut fein wollen?”
„Mit größtem Vergnügen. Alfo auf
Wiederfehen heute Abend, Frau Karel.”
„Auf Wiederſehen!“
Sie reichten einander die Hand, und bie
Thür ſchloß fih Hinter Nymarl.
„Er ift freundlich und angenehm,” dachte
Alma, als fie allein war, „es ift fein Wunder,
wenn man fi in feiner Gefellfhaft mohl
fühle.“
Abends, als Alma Toilette für das Feſt
madıte, fam Arvi mit Karte und Geographies
buch zu ihr.
„Ich finde nicht? auf diefer Karte, Mama.
Und wir haben foviel zu lernen. Alle Gebirge
in Mitteleuropa.”
„Ad, geh zu Papa, er wirb es bir zeigen.”
„Papa ift nicht zu Haufe.”
„Berfuhe, dich ſelbſt
Mama hat keine Zeit.“
„Aber ich kann es nicht.”
Arvi wurde eigenfinnig und begann zu
weinen.
„Biſt du unartig gegen Mama? Nun
helfe ich dir ſchon gar nicht. Und du ſchämſt
zurechtzufinden.
Blinde Klippen. 9
„Ihre Gefundheit erlaubt es nicht.”
„Aber es ift fo luſtig. Ich kann noch
nicht aufhören.”
Cie war ſchon wieder auf den Füßen.
Sie tanzten ein paar Schrüte, als Alma
ſich plötzlich ſchwer auf den Arm ihres Herm
ftügte.
„Mir ſchwindelt,“ kam es von ihren
Lippen.
Nymark eilte herbei und trug fie zu
einem Sofa im Nebenzimmer. Halb ohn»
mãchtig tie fie war, wußte Alma doch, mer
fih um fie bemühte. Mit einem Gefühl der
Dankbarleit überließ fie fih Nymarks Fürs
forge. Es war ihr ganz fo, als habe fie
einen neuen Freund und Rameraben gefunden.
„Es geht ſchon vorüber,” fagte fie leife,
obwohl fie noch nicht die Kraft befaß, die
Augenlider zu heben.
„Warum find Eie mir nicht gefolgt?”
warf Nymark ihr vor.
„Schelten Eie mid nicht; ich bin ſchon
wieder gefund.”
„Aber Cie dürfen feinen Schritt mehr
tanzen.”
„Ich muß wohl gehorchen.“
Nun vermochte Alma fon, ſich aufzu—
richten; fie ftügte fih gegen die Lehne des
Sofas. .
„Wie blaß Sie nod find!”
„Es kommt ganz ficher daher, daß ich fo
lange nicht getanzt habe,” fagte Alma lädyelnd.
„Früher hielt ich es ohne Unterbrehung bis
zum Morgen aus.”
Nymark holte ihr Wein, und nachdem fie
ein paar Glas getrunfen, fühlte fie fi) wieder
vollkommen hergeftellt.
Sie hatte Luft, weiterzutangen, aber Nymark
ließ es nicht zu.
„Wenn Sie frank werben, läßt John Eie
ein andermal nicht gehen,” fagte er.
Und fo blieben fie für den Reſt des Abends
dort figen. Sie foupierten unter heiteren Ge:
fpräden und Lachen.
Belannte Damen fpragen Alma an. Cie
that ihr Beſtes, um fi ihnen dankbar zu
erweiſen, aber im Herzen wünſchte fie, fie
mödten bald gehen und Nymark und fie
allein laſſen. Es mar ja fo gemütlich zu
zweit. Sie fpraden frei und ungezwungen
über verfdiedene Dinge, die fie in anderer
Beifein faum berührt hätten, obwohl es weder
Geheimniffe, noch fonderlich gefährliche Themen
waren.
Am nãchſten Morgen war Alma fo müde,
daß fie um zehn Uhr, als John zum Frühe
ftüd heim fam, faum aufzuftehen vermochte.
„Helmi bat nachts nad) bir gemeint,“
fagte John.
„Laß fie meinen,” erwiderte Alma. Sie
lag ausgeftredt auf dem Eofa in ihrem
Zimmer und machte gar feine Miene, zu Tiſch
zu fommen. „Ich muß fie entwöhnen, fie
raubt mir alle Kräfte. Eie ift fo groß und
ſtark und will nichts anderes nehmen, fo lange
fie an der Bruft ift.”
„Arme Helmi, Hörft du, welches Urteil
Mama über di ſpricht?“ fagte Mina, die
im Kinderzimmer Almas Worte gehört hatte.
„Bir wollen fie fragen, ob das wahr iſt.“
„Hole fie nicht ber, ich hatte fie ja erft
eben jetzt,“ fagte Alma ungebuldig, „laß mich
doch wenigſtens einen Augenblid in Frieden,
wenn bu fiehft, mie ſchwach und kraftlos ich
heute bin.”
Mina mwandte fih um, aber Helmi, die
mit Händen und Füßen gefochten und fröh—
liche Lalllaute auögeftoßen hatte, als fie die
Mutter erblidte, begann zu meinen. Mina
ſchloß die Thür und trug Helmi zum Fenſter.
Sie fummte und lopfte an die Scheibe.
„Schau, ſchau, Pferdchen fpringt, nein,
wie ſchön!“
Helmi fah das Wunder und vergaß ihre
Thränen.
„Ich bin heute Mittag zu Lagander ge
laden,” fagte John aus dem Epeifezimmer
heraus, „es fommen noch zwei andere Land:
tagsabgeordnete.“
„Bleibſt du den ganzen Tag?“ fragte
Alma, um etwas zu ſagen.
„Bis Abend. Ich gehe von der Schule
bin, um drei Uhr,“ fagte John, zu ihr tretend.
„Wie fteht'3 mit dir? Bift du krank?“
Er feßte fih an den Rand des Sofas
und betrachtete fie.
„Nein, nur etwas matt.”
„Vielleicht haft du geftern zu viel getanzt?’
meinte Sohn.
Alma erwiderte nichts. John ftand auf.
Blinde Klippen.
„Wieder Schmeicheleien. Nein, gehen Eie
noch nit, da Sie nun einmal ohne Mittag-
efien geblicben find. Wir wollen fehen, mas
Maja Lifa und vorzufegen hat.”
Es war nicht fo übel. Bouillon und
Kohlrollen mit gebratenem Fleiſch und Reis.
Und wollten fie fih nur ein paar Augen-
blidchen gebulden, fo würde fie auch für einen !
Nachtiſch forgen.
Nomark ging alfo noch nicht, fondern blieb
bis fieben Uhr. Nicht einmal da wwollte Alma
ihn gehen laffen, denn fie vermutete, daß John
nit vor dem fpäten Abend nah Haufe
tommen türde. Und im Verlauf diefes Tages
waren fie einander näher gelommen, als
während ber ganzen Zeit ihrer bisherigen
Belanntſchaft. Cie verftanden einander fo
gut. Alma war entgüdt. So hatte fie denn
endlich gefunden, was fie fo lange unbewußt
entbehrt, einen fröhlichen, friſchen Kameraden, :
der gern mit ihr beifammen mar und in defjen
Gegenwart fie fi fo wohl fühlte, daß fein
andere? Vergnügen fi damit vergleichen lich.
Er mar juft der Gegenfag zu dem ernſten
und ruhigen John. Und es ſchien Alma, als
ob fie, obwohl John ihr fehr teuer war,
dennod in ihrem Herzen Nymark noch lieber
hätte. Ihr Gewiſſen beruhigte fie damit, daß
ja aud John fi ihr nicht fo ungeteilt hin-
gebe. Er vergaß nie um ihretwillen irgend
eine geſellſchaftliche Verabredung, wenn cr
fonft Luft hatte, zu gehen; das aber hatte
Nymark eben erft gethan.
„Bleiben ie doch,“ bat fie, als Nymark
Abſchied nehmen wollte.
„Nein, Frau Karel, num muß ich gehen.
Aber wir fehen uns bald wieder.”
„Recht bald!” fagte Alma, ihre Hand in
die Nymarls legend.
Nymark ſah fie mit einem fo zärtlichen
Blid an, daß ihr das Blut in die Wangen ftieg.
„Adieu denn!” fagte fie und zog ſchnell
die Hand zurüd,
Als Nymark gegangen war, ftredte fie ſich
mieber auf dem Sofa aus, drüdte das Antlig
gegen das Kiffen und fhloß die Augen. Sie
fühlte fich weder müde noch ſchläfrig, dachte
an nichts und fümmerte fih um nicht. Aber
ihr Herz ſchlug, ihr Geſicht glühte, und ein
füßes Gefühl jülte ihren Bufen.
\ jüngeren, norbifchen Autor.
28
„Mama,“ flüftertee Arvi leiſe neben ihr,
„bift du wach, Mama?“
Alma fuhr auf.
„Arvi, haft du deine Auigabe gelernt?“
„Ja, Mama, willſt du mid) überhören?“
Alma nahm dad Bud. Es mar Ge:
ſchichte, und Arvi fagte feine Aufgabe ber,
fließend wie Waſſer. Alma vermochte gar
nit mitzulommen, obwohl fie ſich Mühe gab;
fie war fo zerftreut. Aber es war aud nicht
nötig. Arvi ftodte nicht ein einziges Mal und
hielt nicht inne, ehe er fertig war.
Alma lobte ihn, gab ihm Sußigleiten und
ließ ihn gehen.
VL
Eines Tages fand John auf Almas Tiſch
Strindbergs „Eheſtandsgeſchichten“.
„Iſt Nymark hier geweſen?“ fragte er.
„Er war vormittags hier, während du im
Lyceum warſt,“ erwiderte Alma.
In nächſter Zeit tauchten bei Alma immer
wieder neue Bücher auf, bald von Zola oder
Guy de Maupaſſant, bald von irgend einem
Einmal erſchien
ſogar unter ihnen Arne Garborgs „Aus der
Mãnnerwelt“.
„Es ſind gute Bücher, wenn man ſie nur
richtig zu leſen verſteht,“ ſagte John.
„Wie fol man fie denn lefen?“
„So, daß man die Folgen des Böfen
ſieht. Wenn Arne Garborg feine Helden in
Aus der Männerwelt” von ſich jelbft jagen
läßt, fie feien große Schweine, fünnten es
aber nicht mehr ändern, fo ſollte das mehr
wirfen, als die beften Moralpredigten.”
„Nymark nimmt fie nicht von diefer Seite.“
„Nymark! Der ift eben einer jener ober:
flächlichen und leihtfinnigen Menſchen, die
nicht die Kraft haben, in den Kern einer Cache
einzubringen.“
„Das ift nicht wahr. Nymark ift im
Gegenteil ein ſcharfer Denter.”
„So ſcheint es dir, Almachen, weil du
ſelbſt dein Köpfchen nicht mit allzuviel Ge—
danlen beſchwerſt.“
John glättete lächelnd Almas Haar. Aber
beleidigt ſtieß fie feine Hand zurüd.
„IH bin natürlih dumm. Ich verfiche
nichts. Nicht wahr, das meinft du doch?“
Blinde Klippen. os
dabei, ſah aber von Zeit zu Zeit von der
Arbeit auf und horchte.
„Weint Helmi, oder was giebt es?“ fragte
John lächelnd.
„Nein, mir war's nur — ba läutet
jemand!” fügte fie hinzu und warf bie Arbeit
beifeite.
„Wenn es nur fein Beſuch ift. Das
lãme mir recht ungelegen.”
Alma ging Öffnen und kam nad einer
Weile, gefolgt von Nymark, zurüd.
John rungelte ein wenig die Augenbrauen.
„Du fheinft beihäftigt zu fein, John,“
ſagte Nymart.
„Um die Wahrheit zu fagen, ja, etwas.
Aber fee dich jedenfalls.”
„Ich werde nicht lange bleiben. Ich
fomme nur in einer Heinen Angelegenheit.”
Alma nähte eifrig und fah nicht einmal
flüchtig auf.
„And die wäre?”
„Ich möchte deine Frau verleiten, an einer
Vergnügungsfahrt teilzunehmen.”
„Mit dem Dampfboot nad Imatra?“
„Du weißt alfo ſchon davon?”
Nymark ſah Alma an.
„Alma hat nichts gefagt. Ich hörte nur,
daß diefer Ausflug geplant fei.”
„Es wird eine Iuftige Erkurfion.
angenehme Geſellſchaft. Auch Militärmufit
geht mit. Frau Karel würde fi gewiß recht
erfriicht und geftärkt fühlen, wenn fie wieder
beimtäme.”
„Was meinft du, Alma?”
nJa—a... vielleicht... . auch Helmis
wegen... . Aber das hängt von bir ab.”
„Durchaus nicht. Thu ganz und gar,
mas du willſt.“
„Sehen Cie, Frau Karel! John giebt
Ihnen volle Freiheit. Sie kommen aljo?”
„Die Reife wird vielleicht ein paar Wochen
dauern.
Alma blidte auf und fah ihren Mann
ſcheu an.
„Am jo länger dauert das Vergnügen,”
fagte John.
„Boltommen richtig, um fo länger dauert
das Vergnügen. Und nun gehe id, um
nicht zu flören. Morgen Abend um fieben
Uhr geht das Schiff, Frau Karel.”
Und-
Er nahm Abſchied, und Alma begleitete
ihn in das Vorzimmer, um hinter ihm zuzu⸗
fperren.
„Alles ift gut gegangen,” fagte Nymark
halblaut. „John machte ja gar keine Ein-
wendungen.“
„Nein, wie merkwürdig! Und ich dachte,
er würde ſich auf das beftimmtefte widerſetzen.“
„Bergefien Sie nicht: um fieben Uhr!”
Nymark faßte nochmals ihre Hand.
Ich werde nicht vergefien.”
John ſchrieb, ala Alma zurücklam und
ſich auf ihren früheren Plag am Tiſche nieder:
ließ. Cine Zeit, lang feßte jeder ſchweigend
feine Arbeit fort.
Dann aber legte John die Feder weg,
ftügte den Kopf auf die Hand und blidte
Alma ernft an.
„Eprach Nymark ſchon vormittags mit dir
davon?” fragte er.
„Ja,“ ertwiderte Alma etwas unficher.
„Und du mußteft, daß er wiederkommen
würde, um mich zu überreden?”
Almas Ohren wurden rot, aber fie fagte
nichts, fondern nähte eifrigft weiter.
nWußteft du es, Alma?”
„Ja,“ kam e8 endlich leiſe von ihren Lippen.
„Es wäre befjer geweſen,“ fagte er ein
wenig fpäter mit beflommener Stimme, „wenn
du offen und aufrichtig mit mir darüber ge:
fprochen hätteft.”
Alma wußte nicht? zu eriwidern, aber ber
Boden brannte ihr unter den Füßen, und fie
ſuchte eifrig nad einem Anlaß, ſich zurüd:
zuziehen.
„Ach richtig, Arvis Leltionen —“
Sie ſtand auf und legte die Arbeit zu
fammen. John ließ fie gehen.
ALS fie von dem Ausflug heimlam, war
fie heiterer und lebhafter denn je. Sie ſcherzte
und fang, fpielte mit den Kindern und ftellte
die Möbel im neuer Gruppierung auf. Auf
alle Art verfuchte fie John zufriebenzuftellen
| und erwies ihm bie und da Meine Dienfte.
John bemerkte, daß fie wie verjüngt mar.
Nachts aber erwachte er davon, daß Alma
| fi im Bett herumivarf, und lauſchte er, fo
fand er fie wachend.
„Kannft du nicht ſchlafen?“ fragte er.
„Nein. Aber ich bin auch nicht ſchläfrig.
Blinde Klippen. 9
Sprache kommen. Während er fo an bie
allgemeinen Angelegenheiten badhte, vergaß er
feine privaten Sorgen.
„Der Getreidezoll,“ ſchrieb er unter anderem,
„soürbe unbeftreitbar den Bemittelten, ind:
befondere den vermögenden Gutöbefigern,
Richtern und Geiftlihen zum Vorteil dienen.
Für die zahlreiche arme Bevölkerung dagegen,
die fein Aderland befigt und auf deren Rechte
und Vorteile der Landtag bedacht fein fol,
wuürde er eine Laſt bedeuten. Das fnappe Brot
bes Arbeiters, des Tagelöhners würbe dadurch
noch knapper werben. Trachten mir baber,
ihre Laft nicht noch mehr zu erfchtveren, denn
fie ift ohnedies nur zu drückend.“
„Vor allem heißt es in unferem fozialen
Leben die Gerechtigkeit walten zu laffen. Das
ift die erfte Bedingung für unfere gefunde,
nationale Entwidlung. Und es ift zugleich
das einzige Mittel, die gefährlichen Unruhen
zu vermeiden, die heutzutage in den großen
Aulturländern die Fundamente der Geſellſchaft
unterminieren.”
Wir follen freben, die Lage unferer
minder gut geftellten Landsleute zu heben und
zu beffern, insbefondere ihr Beftes im Auge
zu haben ...“
„John, ſieh ber; ich bin fertig.”
Alma ſtand in der Thür, lächelnd und
ftrahlend in einem filber: und goldglänzenden
Tulllleide.
„Run, was ſagſt du?
blendet?“
„Schön bift du.
fagte John.
Aber die Etimme war ohne Klang, denn
es fuhr ihm dur den Sinn, wieviel dieſe
nur für das Vergnügen eines einzigen Abends
beftimmte Toilette geloftet haben mochte.
Wieder befam die frühere Unruhe Gewalt über
ihn. AU die verwidelten Gefchäftsangelegen-
heiten legten fi wie eine Laft auf feine
Schultern.
„Und du, du ſchreibſt nur immer.
wirft du genug davon haben?”
„Wenn id nicht mehr fann.”
„Es dürfte Zeit fein, zu gehen,” fagte
Alma, indem fie fi bemühte, die letzten
Knöpfe ihrer Handſchuhe zu fhließen. „Hilf
mir, John, fie find fo eng.”
Biſt du nicht ge=
Außerordentlich ſchön!“
Wann
John that, wie gebeten, und begleitete ſie
dann ind Vorzimmer.
„Gehſt du zu Fuß?” fragte en.
Mein, ich fahre. Der Wagen wartet im
Hofe.”
„Wie? Du nimmt nur einen dünnen
Negenmantel? Bei diefer Kälte? Wo bentit
du hin?“
„Ach, der Weg ift ja fo kurz, daß ich mich
faum bis dahin abkühle.”
„Aber du fönnteft body ebenfo gut einen
märmeren Mantel nehmen.“
„Der mein Koftüm ganz zerfnittern würde.
Dante ſchön. Und nun adieu, John.”
Sie wollte ihm zuerft bloß bie behand⸗
ſchuhte Hand reihen, aber dann, ald wenn
eine plögliche Sinnesänderung mit ihr vor=
gegangen wäre, fchlang fie beide Arme um
Johns Hals und fühte ihn.
„Adieu!“
„Adieu! Erkälte did nicht!“
Alma lief ſchnell die Treppen hinab, und
John kehrte in fein Zimmer zurüd.
Das unklare, halb reuige Gefühl, das fi
fo plöglih im Vorzimmer Almas bemächtigt
hatte, ſchwand bald im mwirbelnden Vergnügen
des Maslenballes. Die „Nacht folgte dem
Tage” wie ein chatten, und hinter ber
Maske wurden Worte geflüftert wie niemals
zuvor.
Sie tanzten zufammen, und nad) dem Tanze
tranfen fie Champagner. Alma war wie im
Rauſch. Cie wagte faum an das zu denten,
mas Nymarf ihr zugeflüftert; und doch dachte
fie daran und erftidte die. vorwurfsvolle
Stimme in ihrer Bruft damit, daß das alles
ja nur QTändelei fei. Und Nymark brauchte
ja gar nicht zu wiſſen, daß fie etwas gehört,
wenn auch in Wirklichkeit Fein Wort ihr ver-
Ioren gegangen war. D, fie verftand recht
wohl diefe abgebrochenen Säge, diefe erftidten
Seufzer, dies Zittern der Stimme — alles.
Die Glut ihrer Wangen hätte es wohl ver:
raten, aber die Wangen dedte die Masfe...
Und wieder tanzten fie, und wieder tranfen
fie Champagner. Die Mufit rauſchte. Rings
um fie her war Freude.
Alma mwünfchte, diefe Nacht möchte nie ein
Ende nehmen. Längs der Wand aber faß
eine Gruppe Damen, die abwechſelnd mit:
’
Blinde Klippen.
begriff, daß Verachtung und Verurteilung in
ihnen lag. Ihr war zu Mute, als fei fie
von der Gemeinfhaft ber Menſchen auss
geſchloſſen.
Und ſie konnte nicht bei John Schutz
ſuchen, noch mit ihm von ihrem Schmerz
ſprechen. So vollftändig fremb erfdien er
ihr, wie er fo in feinem Beit lag, daß fie
nicht einmal in feine Nähe fommen, nicht ihr
eigenes Bett aufjuchen mochte. Es Mar
unmöglid. Die Lampe brannte noch. Sie
löfchte fie, nahm einen Shawl um und legte
fi wieder auf das Sofa im Salon.
Dort lag fie die ganze Nacht wach. Gegen
Morgen verfant fic in einen betäubungss
äbnlihen Schlummer, aus dem fie plöglid
wieder emporfuhr. Wieder begann das Herz
beftig zu fehlagen, und der Schmerz in ber
Bruft befiel fie mit ermeuter Gewalt. Aber
erft nach langer Zeit konnte fie fih klar
machen, weshalb fie fo erregt fei.
„Warum Tiegft du bier?” fragte John,
ala er eintrat.
Alma erwiderte nichts.
„Biſt du kant?”
„Rein.“
„Deine Stirn ift ganz feucht.
dir zu warm im Schlafjimmer?”
War es
Eie legte den Kopf auf das Kiffen und
wünfchte, John möge in fein Zimmer geben.
Er fam ihr fo fremd vor, fo völlig fremd.
Und die Hand, die er auf ihre Stirn brüdte,
war fo ungewöhnlih fall. Ein Schauder
durchfuhr fie.
„Sie heizen zu fpät des Abende. Daher
fommt e8. Aber lege dich doch jet in bein
Bett. Es ift doch jedenfalls beſſer.“
Alma that, wie er gefagt hatte. Sie
ſchloß die Thüren und kroch unter die Dede,
wie um fi vor den Augen ber ganzen Welt
u verbergen. Und nun enblih brach fie in
Thränen aus und weinte fo heitig, daß ihr
ganzer Körper zitterte. Kiffen und Betttud)
durdnäßten ihre Thränen, und das Haar fiel
in langen Zoden herab und flebte an ber
feuchten Etirn.
Sie meinte fo lange, bis die Augen feine
Thränen mehr gaben. Ihr Körper hörte auf
zu zuden, und die Pulſe klopften nicht mehr.
”
Eie lag ftill wie eine Tote; kaum merfbar
tam ihr Atem.
Aber allmählih begann ihr unter ber
Dede heiß zu werden. Sie warf fie zur
Hälfte von fi, ftrih das Haar aus dem
Gefiht und ſah fih um. Eie blidte auf das
Zimmer, auf die Tiihlampe und auf die
Möbel. Alles war fo wie geftern und vor—
geftern und all die Tage vorher. Eie allein
ar verändert, war eine ganz andere geworden.
Die Dinge umber waren biefelben und
doch nicht diefelben. Ihr war, als fähen fie
düfterer und kälter aus. Cie betrachteten fie
tie eine fremde Perfon, die fie gleichfam von
ſich abwiefen. Es war etwas in ihnen, was
fie an die Blide von geftern erinnerte.
Mina brachte ihr ein Billet.
„Von Magifter Numark,” fagte fie. „Der
Bote wartet auf Antwort.”
Alma riß das Billet auf.
„Sie find geftern fo unerwartet ver—
ſchwunden,“ ſchrieb er. „Frau Leiftin fagte,
Cie feien allein nad Haufe gegangen, und
machte mir einige Andeutungen, die mid
abnen lafien, daß Sie einen befonderen Grund
zu Ihrem rafchen Auſbruch hatten. Ich möchte
Cie fo gern fpreden! Kommen Cie, Frau
Karel, Heute vormittag zu einer Schlittſchuh⸗
partie. Das Wetter ift ſchön und klar und
das Eis wie ein Spiegel. Wenn Eie erlauben,
To hole ih Sie um elf Uhr mit den Schlitt-
ſchuhen ab.”
Alma fhrieb nur zwei Worte,
„Kommen Sie!”
Sie ftand raſch auf, kleidete fih an und
babete das Geficht in kaltem Waſſer.
Sie hatte wieder Hoffnung gefaßt. Nymark
würde fie tröften, fie gegen die Verleumdungen
der köfen Menſchen fügen. Nymark würde
fie nicht verachten und verurteilen, fondern ihr
Freundfhaft und Teilnahme erweifen. Um
feinetwillen hatte fie dies leiden müſſen, und
darum würde er ihr helfen, fie fügen, nicht
fie verftoßen, wie alle anderen fie verftießen.
Als Nymark Fam, ging ihm Alma mit
audgeftredten Händen entgegen und brad in
Thränen aus.
„Bas fehlt Ihnen? Frau Karell, was
ift gefchehen? Nein, fagen Sie nihts! Ich
errate alles.”
7*
Blinde Klippen.
„Sollen wir den ganzen Tag hier bleiben?
In Vihtalanta torp belommen wir Epeifen und
Kaffee. Auf Yagbausflügen habe ich oftmals
da gegefien.”
Alma dachte an die Ihren, und ein Heiner
Zweifel hielt fie zurüd. Aber es war fo frei
hier, fo friſch, daß fie ſich noch nicht ent»
ſchließen konnte, heimzukehren.
„Gut denn!” fagte fie. „Wir wollen bis
zum Abend hier bleiben.”
Sie waren hungrig, und Alma fühlte ſich
ermübet, als fie zur Hütte famen. Nymark
ſprach mit den Hausleuten. Sie befamen ein
fepariertes Zimmer, zu dem eine Thür aus
dem Flur führte. Ein weißes Tuch wurde
über den Tiſch gebreitet, und die junge, derbe
Haustochter trug die Speifen auf. Ungeheure
Butterbrote, Fiſch und Fleiſch. Butter ſoviel,
daß es ganz ſicher für zehn Perfonen gereicht
hätte. Schließlich heiße Kartoffeln und Mil.
Die großen, diden Brotftüde erregten
Almas Heiterkeit. Sie fagte, fie könne fie
nicht efien. Da zog Nymart fein ſcharfes
Taſchenmeſſer heraus und ſchnitt ihr das Brot
und Fleifh in bünne Scheiben. Ter Lade
mar fo ſcharf gefalzen, daß der Mund davon
brannte. Cie lachten beide darüber, aßen
und plauberten.
Nachdem fie Kaffee getrunken, gingen fie
zu ben anderen in bie Stube. Da gab es
einen ganzen Haufen Heiner Kinder, mit denen
Alma ſogleich Bekanntschaft zu fehließen ver:
ſuchte. Nymark begann ein Geſpräch mit der
Xirtin, die am Herde hantierte. Und während |
Alma mit den Kindern fpielte, hörte fie eben,
wie die Wirtin das Geſpräch unterbrach und
zu Nymark fagte:
„ber was für eine ſchöne rau der Herr
Magifter hat. Meiner Seel’, wunderſchön.
Wir meinten gerade, daß es wohl in der ganzen
Stadt fo mas Echönes nimmermehr gebe.”
„Sie ift nicht meine Frau,” erwiderte
Nomark mit leifer Etimme.
Alma war bis zu den Haaren hinauf
errötet und hatte ſich herabgebeugt, um den
Kindern etwas zu fagen. Dennoch folgte fie
aufmerffam dem Geſpräch.
„Richt? Na, dann ift fie Ihre Braut.
Ja, das hätt’ man ſich aud denken können.”
„Wieſo?“ fragte Nymark lachend.
101
„Man hat fchon fo feine Zeichen.”
„Sieh mal an! Darf man fragen, welche
Zeichen?”
„Muß ich's wirklich jagen?”
„Natürlich.“
„Das merkt man ſchon an ben Bliden.
Ein verheirateter Mann fehaut feine ‚Frau fo
verliebt nicht an.”
„Und doch irren Sie fih. Sie ift nicht
einmal meine Braut.”
„Richt?“ Die Wirtin blidte zweifelnd erft
auf Alma, dann auf Nymark.
„Sm,“ ſchmunzelte fie, „ift ſie's nod nicht,
fo wird ſie's bald.”
Nymark lachte und trat zu Alma, dic noch
immer mit den Kindern fpielte. Sie war rot
und vermich forgfältig, aufzubliden.
Nymark betrachtete fie und brebte feinen
Schnurrbart. Er begrif, daß Alma alles
gehört hatte, und beobachtete fie noch ſchärfer.
Alma fühlte feinen Blid und beugte fi
errötend noch tiefer hinab. Da ihr nichts
einfiel, was fie den Kindern fagen fonnte, fo
ftrid) fie nur mit der einen Hand über den
| Kopf eines weißlocligen Jungen, während fie
die andere in die Eeite ftüßte.
Und als Nymark fi neben fie auf die
Bank ſetzte und die Namen der Kinder wiſſen
mollte, da rüdte Alma fort und wandte ſich
zu dem Alten, der Nege Inüpfend beim Tiihe
faß. Sie zeigte ihm, wie die Damen Knoten
machen, wenn fie Tiſchtücher Mnüpfen. Allein
dem Alten ſchien das recht umſtändlich und
Schwierig, und, als ſchämte er ſich feiner groben
Plumpheit, z0g er ſich in [heuer Beinunderung
ein menig zurüd. Lächelnd fah er dann zu,
wie flint die feinen, mweißen Finger fi in
feinem grauen Net beivegten.
AU diefe Zeit ſchwebte Alma etwas
Undeutliches, Yormlofes vor. Die Worte der
Wirtin Hangen ihr beftändig in den Ohren.
Ihre Nerven bebten, die Wangen brannten,
und ber Bufen hob fi) gewaltfam. Cie ver:
| mieb e3, Nymark anzubliden, folgte ihm aber
um fo eifriger mit ganzer Seele.
€3 war über fünf Uhr — Zeit, an den
Heimweg zu denken. Alma ftand auf und
reichte den Wirtsleuten die Hand zum Abſchied.
In der Thür blich fie noch ftehen und ſah
ı fih um. Die Etube war warm und gemütlich,
Lina Worgenftern und die Berliner Boltöküchen. 108
unverſchloſſen. Die Hängelampe brannte, die Bor ihr ftand John, body und emft.
Rode und Mäntel hingen an der Wand, fie | Almas erlöſchender Blick fuchte den Boden.
bemerkte nichts Ungewöhnlices oder Neues. N Weißt du fchon, daß Arvi krank iſt?“
Sie hing ihren Mantel auf, legte Hut | fragte John. „Er kam vormittags mitten in
und Muff auf den Tiſch, trat in den Salon, | der Stunde ‚von der Schule heim und liegt
blieb aber wie feftgenagelt jenfeits der Schwelle in ftarlem Fieber. Der Arzt fürdtet, daß er
ftehen. ı die Blattern befommt.” (Schluß folgt.)
Een
ina Forgenſtern und die Berliner Folksküchen.
von
€. Dely.
Nagprud verboten. —
m nebelfeuchten und grauen Reſidenzſtädtchen Oldenburg fragte vor beinah vier
Jahrzehnten ein hellaugiges Schulmädchen den Lehrer bei der Erklärung von
Schillers Glode und dem Vers: „Arbeit ift des Bürgers Zierde“ — „Warum nicht
auch der Bürgern?”
Bon oben herab kam die Antwort: „So etwas giebt es nicht!” War es doch
bie Zeit, in der ſich die Frauenarbeit noch ausfchließlih im Haufe abipielte und, wenn
fie ins Öffentliche Leben hinaus wirkte, als blauftrümpflich mit dem Anflug der Lacherlich⸗
teit behaftet war, in der man Lehrerinnen als „gelehrte Frauenzimmer“ brandmartte.
Wie anders ift dad jet. — Wenn wir auch noch nicht vollgiltige Bürgerinnen find,
fo find wir doch auf dem beften Wege dazu: wir empfinden die Pflicht der Arbeit über
das Bereich des Haufe hinaus. Jene Meine Fragerin aus den friefiihen Kiften:
lande ift felber eine Ruferin und Führerin geworden in dem Kampfe, den aufzunehmen
die deutſche Frau endlich reif wurde — um ihre Menſchenrechte. Schon hat
mande Frau geigı was der Bürgerin Arbeit vermag, und damit find auf allen
Gebieten die Vorbedingungen zu voller Entwidlung geichaffen. Freilich vergeffen gar
zu leicht die meuzuftrömenden Jüngeren, wie viel fie der Arbeit der Vorläuferinnen
verdanfen. Sie klettern auf die Schultern der Daflehenden und rufen hinaus: „Wie
groß find wir! Wir fehen jegt weit in die Lande!”
Darum ift es Pflicht, auf die unter und hinzuweiſen, die vornan im Kampfe
ftanden und ftehen und den erften Anprall aushielten. Heute ift die Fürforge für das
leibliche Wohl des arbeitenden Volkes, für die Beköſtigung der Hunderttaufende, die
ala alleinftehende Menſchen, als Angehörige von Familien, deren Glieder zerftreut
durch verfchiedene Arbeit fich nicht zu gemeinfamen Mahlzeiten zufammenfinden fünnen
oder folder, deren geringer Verdienſt vollwertige Ernährung im Einzelnen nit
zuläßt, in Berlin, wie in vielen Provinzitädten in großartiger Weife entwidelt.
Das alles, worauf man heute als jelbfiverftändlich bückt, ift mit in erfter Linie
zurüdzuführen auf die Anregung und Thatfraft einer Frau, Lina Morgenftern. Der
Name biefer ganz von thätiger Nächftenliebe erfüllten, regiamen Frau ift jelbftverftändlich
aud mit al den andern Errungenfchaften auf dem Gebiet der Frauenbewegung verknüpft.
Aber ihr unbeftrittenes Schlacht: und Siegesfeld ift das eingreifender, thätiger Hilfe
für das Volt — ihr ift der Segen der Volkskücheneinrichtung zu danken. Sie hat
in praftifcher Arbeit beiviefen, was eine Frau vermag, fie hat Hunderten von Mit:
ſchweſtern Wege und Ziele gezeigt, fie dienfibar gemacht für die Arbeit zum Wohle
anderer und fie zum Nachdenken gebracht über die Lage der Armen und Elenden in
der menfchlichen Gefellfchaft. Wenn man die Ecine, lebhafte, bewegliche Frau mit den
gutblidenden Augen und dem freudigen Enthuſiasmus fiebt, fo hat man den Eindrud,
Der Verein Deutſcher Lehrerinnen in Frankreich. 107
Mittel werben aufgebracht durch die Jahresbeittäge der Mitglieder, durch Gaben von
Gönnern und Freunden des Dereind und durch regelmäßige Beihilfen mehrerer
deutſchen Städte, insbeſondere der Reichshaupiſtadt Berlin.
Der Verein bietet den dauernd oder vorübergehend in Paris ſich aufhaltenden
deutſchen Lehrerinnen einen nationalen und beruflichen Mittelpuntt, er giebt ihnen
Rat und Auskunft in allen ihren Angelegenheiten und fucht fie nach allen Richtungen
bin in ihren Zweden zu fürdern. Die Bereinsräume ftehen den Mitgliedern täglich
zum Aufenthalt offen, eine Bibliothek ſowie Tageszeitungen find zu ihrer Verfügung.
Jedes Mitglied kann gegen einen geringen Preis an dem täglichen Dittagetiie) teile
nehmen. Sonntag nachmittags vereinigt ſich hier eine zahlreiche Schar Lehrerinnen
zu geielligem Zufammenfein. Im Winter werden allmonatlidy litterarijche oder andere
Vorträge gebalten in deutfcher oder franzöſiſcher Sprache.
Die Stellenvermittlung des Vereins, mit der die Damen v. Harbou und Pflüder
betraut find, verforgt jährlich über 100 Mitglieder mit Stellen, Tagesbeſchäftigungen
oder Stunden. !)
Sehr erfreulich ift e8, daß in den Iegten Jahren der jährliche Zuzug deutfcher
Lehrerinnen nad Parid vorwiegend aus folchen befteht, die ausichließlich den Zived
haben, ſich in der franzöfifchen Sprache zu vervolllommnen. Infolgedeffen haben
die franzöfifchen Unterrichtöfurfe, die bald nach der Gründung des Vereins eingerichtet
wurden, ſich mit der Zeit bedeutend erweitert. Sie werden jährlih von 60 bie 70
Schitlerinnen befucht und ftehen unter der Leitung der Vorfigenden, Fräulein Schliemann.
Es wird dabei befonders darauf Bedacht genommen, die Teilnehmerinnen zur praktiſchen
Ausübung des Sprachunterrichtd tüchtig zu machen und großer Wert auf die Aneignung
einer richtigen Ausſprache gelegt. Das Eindringen in die befonderen Eigentümlich—
keiten der franzöfiichen Sprade, das Verftändnis für die richtige Bedeutung ber
Wörter, die Feinheiten des Ausdruds und der Wendungen wird den Schülerinnen
vermittelt duch die Übungen im fchriftlihen und mündlichen Überfegen vom
Deutſchen ins Franzöfifche, die von M. Bellon, agrege de l’Universite, professeur
au Lycee Condorset, geleitet werden. Zur Befeſtigung der für eine Sprachlehrerin
fo notwendigen grammatifalifchen Kenntniſſe dient der Kurfus der „Lecture expliquee“
von Mile. Jeautet. Diefer Unterricht, der in die Einzelheiten der Grammatıf und
logiſchen Analyfe eingeht, kommt auch beſonders den Lehrerinnen zu ftatten, die Ipäter
in franzöfifhen Familien den Kindern bei ihren Schularbeiten beiftehen follen. —
Der Unterricht in der franzöfifchen Litteratur ift auf zwei Kurſe verteilt und unfaßt
einerſeits die Klaſſiker des 17. und 18. Jahrhunderts, andrerjeit3 die Schriftfteller des
19. Jahrhundert? bis auf umfere Zeit. Er giebt den Schülerinnen einen gedrängten
Überbiid über das ganze Gebiet der franzöfifchen Litteratur der legten drei Jahr:
hunderte, ſoweit der furze Zeitraum eined Schuljahr dazu ausreicht. Im übrigen
werden fie angewieſen, ihre litterarifchen Kenntniſſe fpäter durch eigne Studien zu
vervollftändigen und zu vertiefen. An dem Unterricht der Profefioren knüpfen fich
Schriftliche und mündliche Übungen der Schülerinnen.
Die Kurfe beginnen Mitte Oftober und dauern bis Mitte Juli. Sie zerfallen
demnach in drei Abichnitte von je drei Monaten. In folhen Fächern, wo eine
größere Schülerinnenzahl die Fortfchritte der einzelnen beeinträchtigen würde, werben
Parallel:Abteilungen eingerichtet von je 8 bis 10 Schülerinnen. Auf Wunſch können
die Kurfiftinnen fich einer Prüfung unterwerfen und im Fall tes Beſtehens ein Be:
Indeſſen ift die Zahl der in Paris Verdienſt ſuchenden deutſchen Lehrerinnen ftets größer als
die Nachfrage nach deutſchen Vehrkräften. Es fei daber erwähnt, daß feine Yehrerin darauf rechnen barf,
hier in kurzer Zeit einen außreidenden Erwerb zu finden. Sie barf nie ohne Nittel tommen, da fie oft
mehrere Donate auf eine Stelle warten und folglich aus eigner Taſche Ichen muß. Cs ift nußlos, von
Deutſchland aus eine Stelle nachzuſuchen, da man hier ftets verlangt, daß bie Bewerberin ſich perfünlich
vorftelle. Anerbietungen durch Agentinnen oder Zeitungen find mit größter Norficht aufzunehmen. Zur
veſedung von beijeren Stellen find nur ſolche Erzicherinnen verwendbar, die jhen etwas Erfahrung in
ihrem Fache und eine geweiffe Nenntni® der franzöflien Sprache befigen. Ganz junge, ungeübte
vehrerinnen müjfen ſich meiftend mit au pair-Stellen begnügen. Im allgemeinen werben bier mehr
deutfche Kinderfräulein (hier gouvernantes genannt) als eigentliche geprüfte Erzieherinnen verlangt.
Der Berein Deutfcher Lehrerinnen in Frankreich. 108
Der Verein Deuticher Lehrerinnen in Frankreich ift eine nationale Berufs:
genofienichaft, und es werden als ordentliche Mitglieder nur deutiche Lehrerinnen auf:
genommen. Das bedingt fchon feine Eigenichaft als Zweigverein des Allgemeinen
Deutichen Lehrerinnenvereind. Als folder fteht er in naher Fühlung und beftändigem
Wechſelverleht mit den Lehrerinnenkceifen diejed über ganz Deutichland verzweigten
Bundes und nimmt kraftig teil an deſſen Reformbeftrebungen auf dem Gebiet der
Erziehung und des Unterrichts. Auch Mitglieder anderer deutfcher Lehrerinnenvereine
ichliegen ſich hier unferer Genoffenfhaft an, um unter deren Schug und Beihilfe ihre
Zivede zu verfolgen. Manche bisher feinem Verein angehörende Lehrerin ift durch
den Anſchluß an unfern Verein bei der Rückkehr in die Heimat dem großen Mutter:
verein zugeführt worden.
Es bleibt und noch zu erwähnen, daß der hieſige deutſche Lehrerinnenverein
dreimal im Jahre dad „Parifer Vereinsblatt” herausgiebt, dad zunächſt für feine
Mitglieder beftimmt ift. Es dient vornehmlich dazu, dieſen die Bekanntmachungen
des Vorftandes zu vermitteln und die Abwejenden mit dem Vereinsleben in Verbindung
zu erhalten. Es bringt Mitteilungen aus der Lehrerinnen und Frauenbewegung im
Vaterlande und ift allen fozialen und püdagogifchen Fragen der Gegenwart offen.
Auch Nichtmitglieder können es beziehen für den Preis von 1 Mark jährlid.
Dur feine ausgedehnte Etellenvermittlung fteht der Verein mit zahlreichen
gebildeten franzöfifchen Familien in Verbindung. Die meiften Dlitglieder leben in
frangöfiicher Umgebung. Die franzöfiihen Lehrer der Vereinskurſe walten mit Hingebung
ihres Amtes und Öffnen ihr Haus gaftlich den Schülerinnen. Die einzelnen Mitglieder
ftehen mit franzöſiſchen Hausgenoffinnen oder Lehrerinnen, mit denen fie Stunden aus:
tauschen, in freundlichem Verkehr. Auch den höheren Unterrichtöbehörden ift unjer
Verein befannt, und fie wenden feinen Beftrebungen eine wohlwollende Beachtung zu.
Auf Empfehlung der Vorfigenden des Vereins wird einzelnen Mitgliedern vom Direktor
der Pariſer Akademie die Erlaubnis erteilt, an den biefigen ftaatlichen Lehranftalten
für Mädchen zu Hofpitieren. Bei diefer Gelegenheit möchte ich mod) eine Erläuterung
zu ber in einem Artifel von A. Neumann im Juliheft diefer Zeitichrift ala münfchens:
wert bingeftellten Aufnahme deutſcher Lehrerinnen als repetitrices in den Ecoles
normales d’institutrices (Bildungsanftalten für Volkefhullehrerinnen) geben. Schon
vor einigen Jahren ließ das franzöfijche Unterrichtöminifterium an die englifhen und
deutfchen Lehrerinnen die Aufforderung ergehen, fi) zu ſolchen Stellen zu melden.
Die Sache wurde als ein Verſuch angefehen. Es liefen zahlreiche Anmeldungen ein.
Do ſchon nach Verlauf des erften Jahres ftellte fi) heraus, daB das Zuſammen-
wirken franzöfiicher und deuticher Lehrerinnen an diefen Anftalten zu Unzuträglicpkeiten
führte, und die Zulaſſung deuticher Lehrerinnen wurde wieder aufgehoben, während die
der englifchen beibehalten ward. Auf wirkliche Anftellung an ftaatlihen Mädchen:
ſchulen dürfen Deutfche wie andere Fremde hier überhaupt nicht rechnen. Bei der
Einführung der neuen Schuleinrichtungen für Mädchen find in einzelnen Fällen Aus—
länderinnen angeftellt, weil noch feine genügende Anzahl in den Sprachen außgebildeter
Franzöfinnen vorhanden war, jet, wo der Bedarf an Sprachlehrerinnen reichlich
durch Einheimifche gededt werden kann, werden überhaupt feine Fremde mehr zu den
Staatöprüfungen zugelaffen, deren Ablegung zum Anſpruch auf ſtaatliche Anftelung
berechtigt, es jei denn, daß fie ſich naturalifieren ließen.
Wenige Monate nach der Gründung des Allgemeinen deutſchen Lehrerinnen:
Vereind ind Leben gerufen, wird der Verein Deutſcher Lehrerinnen in Frankreich im
November dieſes Jahres auf ein zehnjähriges Veſtehen zurüdbliden. Die glüdliche
und vielfeitige Entwidlung, die er in diefen wenigen Jahren erfahren, die ftete Mehrung
feiner Mitgliederzahl legt das befte Zeugnis davon ab, daß feine Einrichtungen den
DVedürfniffen und Ziveden der deutichen Lehrerinnen in Frankreich entiprechen. Die
bisherigen Erfolge des Vereins laffen vorausjchen, daß feine Einrichtungen in Zukunft
nach mander Seite hin eine wünjchenswerte Erweiterung erfahren werden, und wir
fprechen zum Schluß den Wunſch aus, daß unfer Yeuttiges Werk im Auslande auch
über die Fachkreife hinaus mehr und mehr Beachtung finde und neue Freunde gewinne.
— mo —
Moderne Lebendprogramme. m
„Deutſcher Glaube” ift ein modernes Lebensprogramm in dem Sinne, daß alte
Worte, alte, ja fait abgeleierte und entivertete Parolen, aus dem Reichtum, der Kraft,
den Werten der Zeit heraus neuen Inhalt, neue Farben erhalten.
Modern ift das Fräftige, ariftofratifche Perfönlichfeitsgefühl, das feine Ideale
nit in blaffen Begriffen und Maßſtäben, fondern in ber Weſensbeſtimmtheit des
ſchaffenden Menſchen fucht, und dem adelig und gemein, frei und knechtiſch, tapfer und
feige, Ariftofrat und Philifter mehr bedeuten als pofitiv und liberal und alle
philoſophiſchen und religiöfen Meinungen.
Modern ift auch das feine Verftändnis für das Organifche, für Wege und
Weſen Hiftorifher Entwidlung, für die innere Einheit geiftiger Bewegungen, auch wo
fie difparate Erſcheinungen zeitigen, für die Möglichkeiten, die in der Kontinuität
geichichtlichen Werden liegen. Nicht auf einfamer Höhe wird die Fahne „Deuticher
Glaube” aufgepflanzt, eine kräftige Hand, ein rüftiger, jugendfroher, unverzagter Mut
trägt fie hinunter in die Wirklichkeiten des Lebens, zu entſchiedenem Kampf mit dem
böfen Feind, wo immer er fi finden läßt, zu ehrlihem Ringen aber auch mit
feinen Göttern.
Deutſcher Glaube wird nur errungen in Freiheit. Und das ift e8, mas den
Chriſtgott in fo vieler Augen discreditiert, was einen Geruch wie nach Heinen Leuten um ihn
ausgebreitet, daß man ihn in YBuchftaben feflelte. Man Hat e3 mit ihm gemacht wie
der Mann mit dem Geift in der Flaſche.
„Ich fehe dich lieber ba drinnen“, ſprach er, ftedte bie Flaſche ein und verwahrte fie fiher. An
den Sonntagen nahm er fie hervor, zeigte fie feinen Kindern und Nachbarn und erzählte ihnen, daß ein
Geiſt da drinnen fei, und wie er außfehe und was für eine mächtige Stimme er habe.
Du lachſt? Sie laden alle, wenn fie die Märe hören und weiter erzählen, fie follten weinen.
Es wäre Hüger, er ließe ben Geift heraus und machte ihn fi bienftbar. Was hat er vom Gaffen!
Ihr Habt euren Gott auf Flafchen gezogen. Aber ich lobe mir den, ber ihn herauskommen läßt und
wagt es auf Gnade und Ungnabe mit ihm.
Der Ehriftgott ift ein gefeffelter Gott auch in der Bruft jedes einzelnen; ftatt
ihn mit allen Mächten, die von außen und von innen lebenbeftimmend eingreifen
wollen, ftolz und ſtark ringen zu lafien, pflegt man Kranfentugenden: „ein geruhiges,
ſtilles Leben, möglichft große Enthaltfamfeit, Gehorfam, Sanftmütigkeit, Ergebenheit. —
Es ift religiöfe Mode geworben, das Grundverhältnis des Menfchen zu Gott als das
eined Patienten zu feinem Arzt aufzufaffen. — — Aber der Gefunde läßt ſich lieber
prügeln al3 bemitleiden und — befeelforgen im Sinne der geifligen Krankenpflege.”
Weichlih und fchlaff ift auch dad Ebdelfte geworden. Das Wort Liebe ift fo an-
gefült mit Sentimentalität, daß es einem bei feinem Gebrauch zu Mute wird, als falle
man Gallert an. Daran liegt es, daß Chriftentum und deutſches Vollstum noch
unverföhnt nebeneinander flehen.
Dies beides fteht ſich gegenüber: ein gefunbes, lebensfreudiges und arbeitäfuftiged, Tampfed-
mutiges Bolt und die Krankenpflegerweisheit der Kirche, die ihre Mdepten mit Inbrunft und Eifer an
die Sterbebetten weift, als an bie rechte Schule, um zu lernen — tie man die Lebenden behandelt.
Dem bdeutfchen Glauben erſcheint, wenn er ein Bild fucht für das, was er als
göttliche Kraft empfindet, Gott als „Führer, Herzog, König, Feldherr und Meifter*,
Führer in das volle freie Gegenwartsleben hinein, um ſich fämpfend zu verbinden
mit allem, was dort ald Macht und als Wert gilt. Nichts ift fchlimmer, gotttwidriger
als „die Feigheit, die fich verftedt und müde die Hände abwehrend ausftredt: es ift
gut, es ift gut; ihr habt recht, haltet nur Frieden und Ruhe. Nur feinen Streit,
Moderne Lebensprogramme. 118
über bein Weib als fechftes, du follft deinen Vorteil holen, wo bu ihn findeft als
fiebentes, du bift zum Richter gefegt über ale Mitmenfchen als achtes, Rüdjichts:
loſigkeit als neuntes und Mißtrauen und Prozefiieren als zehntes Gebot.“
Jedes einzelne ein entjchiedened Nein auf das, was der Pfarrer zu fagen hat.
" Aber auf dem Dorf ift Götterdämmerung. Der alte Volksgott, der dem Bauern das
Zehngebot des Machtgewinnd um jeden Preis diktierte, unterwirft fi) langfam dem
Gott der Liebe. Langfam — Jahrhunderte arbeiteten daran. Davon erzählen die
Geifter, die in der Sturmnacht durch das Dorf zichen und fragend durch die Scheiben
hineinſehen:
„Schulze, was macft du, Gemeindeſchulze? Fürchteſt du dich Unrecht zu rügen, wo Unrecht ift?
Schulze, wie hängt dein Mantel im Wind? Schulze, geht's vorwärts im Torf? aufwärts im Dorf?
Schulze, wie bauft du die Gemeinde über unfern Fundamente? Biſt du voran oder hintſt du hinten
nach, ängftlid auf die Stimmung achtend? — Pfarrer, mas machſt du? bift du ein Frembling im Dorf?
übel gezwungen, weil du noch feine befiere Stelle haſt? Führſt du den heimlichen Kleinkrieg ums Geld?
Biſt du Feuer oder Feuerrauch? Pfarrer, gieb acht, wie ſprichſt du von deiner Gemeinde, find's dumme
Bauern, Rich, um dad man ſich nicht fümmert, außer um es zu übertölpeln?“
Auf dem Dorf ift Götterdämmerung.
Hier und da einer, der fchon den Kampf aufgenommen, der junge Tagelöhner
Benedikt Heider, der dem Trunke mwiderfteht, an dem feine Väter bid hinauf zu dem,
der noch Hofbefiger war, zu Grunde gegangen, der Schulze, der dem Pfarrer nach
einer fröhlichen und doch ernften Plauderei die Hand reicht und fagt: „ich ſeh's noch
kommen, wir machen zufammen noch etwas Bahnbrechendes für unfer Dorf.”
Ein önigliches Gefchlecht fol heranwachien im Dorf, Menfchen, die Mitichöpfer
Gottes find und über die Erde, das Irdiſche herrſchen. Solches Herrchen aber
bedeutet Selbftzucht. Auch hier ein entſchiedenes, durchgreifendes Entweder — oder.
Ich Habe Menſchen kennen gelernt, junge kräftige Menſchen, an denen der Lebendige Gott feine
elle Freube hätte Haben können, wenn fie verjtanden hätten, königlich gefinnt zu fein, aber fie waren
Vieh. Nicht fie regierten ſich und hielten das Tieriiche in ſich in ſtolzer Zucht, fondern das Viehiſche
in ihnen war König über fie und fie mudften nicht, wenn es feine brennende Geißel über fie ſchwang!
O Schande! Schande! Schweigt alle! Es ift zu gemein und häßlich. —
Und dann fol die Schöpfung ſchon fertig jein? Tie Schöpfung der Könige der Erde, bie über
alled Bieh herrſchen follen, und über alles Gewurm, das auf Erden kriecht, wenn fo das ekelſte Gewürm
und bändigen und über und wegkriechen kann, über uns Ebenbilder Gottes, Könige in feinem Namen?
Er foll nur ſchweigen, der da, der dad Geficht jur Frahe verzieht, als fühlte er ſich weit über:
legen unb müßte befler, wie es der Welt vauf iſt. Ich weiß es auch und bejonders, wie fein und
feineögleichen Lauf ift, obwohl — da fei Gott vor! — nicht fo prattifch wie er.
Aber das weiß ich fogar beſſer als cr, was Liebe wirklich iſt. Sie hat nichts mit dem Schmutz
zu thun, fie ift etwas Heiliges auch noch in ihrem Irdiſchſten, und wer fie nicht heilig zu balten weiß,
dem wird von daher das ganze Leben ſich einihmugen.
In dem Bemühen, die Eigenart von Arthur Bonus im Kern zu fallen, wurde
mir eine Geftalt der modernen Malerei lebendig — der Säemann von Hans
Thoma.
Wie er über die heimiſche Scholle fehreitet, jede Linie der prachtvollen Geftalt
marlige Kraft, edel ohne eine Spur von Weichheit, jede Bewegung ein Ausdruck
unbeirrbarer Zutunftfreudigfeit, einer Hoffnung aus Glauben und der eigenen Mannes:
kraft, — jo ſcheint er eine Verkörperung jenes „deutſchen Glaubens“, der in den
Schriften von Arthur Bonus lebt.
115
Um einen Kopf Blumenkohl.
R. Fromm.
Ragvrud verboten.
In der Küche waltete das alte Mütterchen, !
ganz erhigt von ihrer Thätigkeit und von
freudiger Aufregung. Cie bereitete eine be—
fondere Überrafgung für ihren Mann, denn
es mar heute ihr Hochzeitstag!
Cie hatten ihn ſchon mandes liebe Jahr
begangen, ohne jede Feſtlichleit; denn erftens
ftanden fie allein, und zweitens waren fie arm.
Cie hatten heute wie jedes Mal zuvor ſich
am Morgen einen Kuß gegeben und hatten
gefagt: „Gott, laß uns beieinander bis zu
unferem Ende!” Sonft war die Feier des
Tages damit beendigt geweſen. Aber heute
ſollte es etiwas Befonderes geben, und das
gute, runzlige Geficht der Frau Lehnert lachte
in jedem Fältchen in der Vorfreude.
Sie ging hinein, um den Tiſch zu decken.
Ihr Mann ſaß am Fenſter, über einen Heinen,
tannenen Tiſch gebüdt, der mit Papptafeln,
buntem Papier, Kleiftertöpfen und dergleichen
bebedt war. Der ehemalige Buchbinder trieb
fein Gewerbe nod, fo gut ober vielmehr fo
ſchlecht wie feine halbblinden Augen und feine
gitternden Hände ihm geftatteten.
„Sieh einmal, Hannden,” fagte er ver
gnügt, „ift das nicht etwas Feines?” Gr
wies mit harmlofem Stolz auf ein Schächtelchen,
deſſen fchiefe Wände und fonftige Schäden er
nicht ſehen fonnte. „Das nimmft du in den
Laden mit, wenn du morgen ausgehſt, nicht
wahr?”
„Gewiß!“ ftimmte dad Mütterchen lebhaft
bei. Es war der einzige Betrug, den fie ſich
in ihrem Leben zu Schulden kommen ließ: |
daß fie feine verunglüdten Erzeugniſſe forttrug
und dann vorgab, fie hätte fie verkauft.
wußte, der Gedanke, daß er noch etivas ver⸗
dienen könne, war die einzige Freude, die
Eie |
ihrem Mann geblieben war. Und bei dem
fümmerlihen Leben, das fie führten, wollte
fie ihm die nicht rauben.
Sie hatte nun die Suppe aufgetragen.
Aber fo fehr fie fih bemühte, unbefangen zu
feinen, er mußte doch an ihrer Zerftreutheit
merken, daß etwas Außerorbentlihes in der
Luft Tag.
„Du bift ja fo erregt, Hannchen,“ fagte
er gutgelaunt. „Haft du mir etwas zu
beichten® Iſt das Fleiih hart oder hat es
die Kate gefreſſen ?”
„Rein, nein,” lachte das Mütterchen,
feelenfroh, da er foweit entfernt war, die
Wahrheit auch nur zu abnen. Gie ging
| pinaus, fam wieder und ftellte mit ernfter,
gleihgiltig fein follender Miene das Fleiſch
und die Kartoffeln auf den Tiſch, daneben
eine verbedte Schüffel.
„Was ift das?“ fragte der alte Lehnert,
bob auf einen lächelnden Wink der Frau den
Dedel auf und büdte ſich tief über das Gericht.
„Blumene — nein, e3 ift doch nicht möglid).
— Mahrhaftig, Blumenkohl! Blumenkohl,
noch dazu im Winter! Wie geht das zu,
Hannden ?”
„Nun, Alter,” fagte fie mit vergnügtem
Laden, „wie ich geftern bei dem Krämer
vorbeiging und die ſchönen Köpfe im Fenſter
‚ liegen fah, dachte ich bei Mir: morgen ift unfer
Hochzeitstag; da fönnte ich ihm einmal fein
Zeibgeriht geben. Wir haben ja, Gottlob,
in diefem Winter etwas an ber Heizung
erfpart, das Gelb reicht, bis die Unterftügung
aus dem Verein kommt —“
„Und daraufhin ſchwelgen wir heute,“
lachte der Alte. „Ei, ei, wie, wenn eine der
Vorſtandsdamen dich bei dem Einkauf geſehen
8
Troſt.
Die junge Frau nickte. „Ich bin nicht
der Anſicht der anderen Damen,“ ſagte ſie;
„aber ich dachte, es wäre beſſer, wenn ich Sie
warnte und Sie bitte, in Zulkunft vorſichtiger
zu ſein.“
„Um einen Kopf Blumenkohl!“ ſtammelte
das Mütterchen faſſungslos.
„Ja, es thut mir ſehr leid; aber ich habe
nicht durchdringen können. Und ba ich
fürchte, ie könnten in Verlegenheit fein, habe
ich Ihnen etwas aus eignen Mitten — es
iſt fehr wenig, aber doch beſſer —“ Eie
verlor fih in verlegenem Stammeln, während
fie ein Heines, zufammengemwidelte® Papier auf
den Tiſch legte.
Die beiden Alten fenkten ihre weißen
Köpfe tief vor Scham. Es mar das erfte
wirkliche Almofen, das fie befamen. Das
Mütterchen fuhr ſich mit der runzligen, arbeits:
harten Hand über die Augen und verſuchte
etwas zu ftammeln, aber fie brachte fein Wort
heraus. Da erhob fi} der alte Mann; und
die blöden Augen feit auf das Geficht der
Dame geheftet, fagte er:
17
„Gnädige Frau, wir banken Ihnen für
die gute Gefinnung, mit der Sie uns Ihr
Gehen? machen. Wir haben nad ber
Meinung der wohlihätigen Damen ein Unrecht
begangen, und wir müflen bie Strafe dafür
hinnehmen. Die Strafe ift wohl gerecht, aber
die Lehre, die Cie damit geben, ift nicht gut.
Mas wir aus Unbedacht öffentlich gethan
haben, das werden bie andern armen Leute
heimlih thun; fie werben nicht nur ver—⸗
ſchwenden wie wir, fie werben auch heucheln,
und die Damen werden ſchlechten Dank für
all ihre Mühe und Barmherzigkeit haben.
Das fagen Eie den andern Damen, gnädige
Frau, und feien Sie felber beftens bedanlt,
weil Sie es fo gut mit und meinen.”
Frau Etieler fagte leife „Guten Abend”
und ging eilig die Treppe hinunter. Der
Mann hatte jo unrecht nicht, und fie hätte
gern die Beftelung ausgerichtet. Aber fie
fürdptete fich vor den älteren Vorſtandsdamen;
und fchlieglih: wäre es nicht beſſer für alle
Teile geivefen, wenn bie Alte ihren Blumen-
Tohl heimlich, gefauft hätte?
per -
Sn alle zur Ruh gegangen,
Ich fig im Stäbchen allein.
Da tritt mit leifen Schritten
Meine Mutter zu mir herein.
Ganz leife tajten die alten,
Sitternden Hände mich an,
Und ihre Fippe tröftet,
Wie fie nur tröften fann.
- &rof. -
*
DIL leiſe von mir fehmeicheln
Das Leid, das wild mich quält,
Indem fie mir meiner Kindheit
Goldene Märchen erzählt.
Da thun fich alle Thore
Dor meinen Augen auf...
So fill. Längft hielt die Mutter
Mit Schmeicheln und Reden auf.
£eif'ilt fie fortgegangen,
Sie ließ mich nicht allein,
Mein Heimweh und meine Jugend,
Die mögen wohl bei mir fein.
Milhelm Tobfien.
Frauenvereine.
nötige Material en gros ben ganzen Winter hindurch
beziehen kann und mit dem richtigen Kennerblid
das erforderlihe Tuantum wird feftftellen können.
In jedem Haufe, wo eine größere Feſtlichkeit ftatt:
gefunden, wird belanntlid oft noch tagelang von
den beaux restes gejhmaujt. Das ift im Grunde
eine Verſchwendung! Denn es liegt durchaus nicht in
den Abfichten der dausfrau, die ganze Familie mit '
119
' teuren Mayonnaifen, Poularden, Cremes u. bgl. m.
noch hinterdrein zu regalieren. Man macht aber
eben aus ber Not eine Tugend.
Schon biefer ötonomifche Punkt allein dürfte
ausſchlaggebend für Hinzuziehung einer Kraft fein,
' deren Honorar faum in Betracht kommen Tann,
wenn fih eine Gejelfchaft durch fic beffer, vorteil:
hafter und ruhiger arrangieren läßt.
67.55
Frauenvereine.
Die Kraukenpflegeſtation des Berliner
Fraueuvereius,
Bülowſtraße 14, I., —
bat vom 1. Ottoder 1899 bis 30. September 1900
KL Kranke aufgenommen und zwar
18 unverheiratete,
63 verheiratete Frauen und Witwen.
Son diefen haben 72 aus Krantentaffen, denen
fie angehörten, einen Juſchuß zu ben often ihrer ;
Zerpflegung befommen, während 8 ganz aus den
Mitteln des Bereins erbalten worden find.
Die Zahl der Pflegetage betrug 1256 -- davon
entfallen 132 auf die volljtändig vom Verein unter:
haltenen Kranken —, die der ausgeführten Cpera:
tionen inägefamt ## (48 Meinere und 23 große),
darunter 5 Total-Erftirpationen, 4 Yaparotomicen,
14 Colporchaphieen und Zorfaloperationen. An
Neurafthenie und Anämie find 5, an Unterleibs:
entzündung 10 Patientinnen behandelt worden.
Seit dem Beitehen der Anftalt haben dort im
aangen 834 Franke Frauen Verpflegung und ärztliche
Behandlung gefunden.
Bei der Aufnahme in die Pflegeftation werden
in erfter Reihe die Hausarmen fowohl unferer
ereindmitglieder, als die umferer Freunde berüd:
fihtigt, welche die Anftalt durch Beiträge unter:
ftügen. Bon biefen Kranken komnien zunächft jolde
in Betracht, die feiner Krantentafje angehören,
folglih am bebürftigften find. Die Entſcheidung
über die Aufnahme fteht Sri. Dr. Tiburtius zu,
an welche bie Kranken zur Konfultation zu ver:
weiſen find und zwar entiveber morgens von 8 bio
9 Uhr in ber Pflegeitation, Bülowftraße 14, I, bei
Frl. A. Rnopp, oder vormittags von 1U—I2 Uhr
und nachmittags von 2—4 Uhr in der Wohnung
von Frl. Dr. Tiburtius, Büloroftcape 14, IT. Um
Mißbräuchen vorzubeugen, müflen die Aufzunch:
menden bei ber Konfultation eine Empfehlungsfarte
derjenigen Perfönlichteit mitbringen, von ber fie |
geigiet werben. Auögefchloffen find Arante mit
anftedenden oder unheilbaren Leiden.
‚In der feit dem 1. Oftober 1897 mit dem Berliner
Frauenverein in Verbindung ftehenden Bolitlinit
für Frauen, Alte Schönhauferitrape 23:24,
find vom 1. Dftober 1899 bis zum 30. September !
1900 748 neue Patientinnen bebandelt worden.
Die Zahl der Konfultationen belief fi im lebten
Kechnungsjahr auf 3070. Zeit Eröffnung ber Poli:
finit (am 18. Jumi 1877) Haben dort im ganzen 24308 |
trante Frauen ärztliden Rat und Beiftand gefuct.
Die politfiniichen Sprehftunden finden regel:
mäßig Dienstags und Freitagd, nachmittags von
Y5 Ugr an in ber Alten Schönhauferftraße 23/24
| Sof pt., ftatt. Behandelnde Arztinnen find Frau
ı Dr. med. Bloeg, fowie bie DDrs. med. Frl.
Vluhm und Agnes Hader. NIS Beifteuer zu den
, Unterpaltungötoften ift pro Perfon und Konfultation
ein Betrag von 10 Pf. zu entrichten. Gänzlich Un:
bemittelte erhalten freie Arzenei, müffen ſich deswegen
aber an eine der behandelnden Ärztinnen wenden.
Der Ev. Diakonieverein
bietet beruflofen ‚rauen gebilbeter Stände ben
tommenden Winter hindurch vom Tftober an in
Berlin: Zehlendorf vier theoretifde Rurſe von je
vier Wocen Tauer, in welden fie in die mannig:
faltigen Aufgaben weiblicher Yiebesthätigeit ein:
geführt werben unter Befichtigung der entipredenden
Anftalten in Berlin und Umgegend. Der Unterricht,
und foweit Raum ift, die Wohnung ift unentgeltlich;
Belöjtigung wird zum Selbittoftenpreife angeboten.
Irgendwelche Verpflichtungen entftehen durch bie
Teilnahme an den Surfen nicht, denn ber Ev.
! Tiatonieverein bezweckt lediglich, beruflofen rauen,
foweit fie es wünfgen, durd Erziehung, Berufe:
bildung und dur genoffenfhaftlibe An: und
Zicherftelung für ihr Leben Inhalt, Unterhalt und
Nüdhalt zu gewähren und durd ihre Verwendung
in der Wohltaprtöpflege diefe zu fördern. Wir
nlauben mit diefem Pinweife mander unferer
i Yeferinnen zu dienen und verweilen fie wegen alles
Näheren an den Begründer und veiter bed Vereins,
Brofeffor D. Dr. Zimmer in Berlin: Zehlendorf. —
Derſeibe Verein errichtet ein neues Mädchen:
beim in Gummersbach, Rheinprovinz rn biefem
Heim finden junge Mädchen von 14 Jahren an
Aufnahme, die ſich durch Arbeit in eimer Woll:
ſpinnerei ihren Unterhalt verdienen, und die bie
Genoffenicait in jeder Beziehung ſchützt, denen fie
3%. 8. tur Vertrag und gerictli feftgelegte
Sicherftelung die Bürgfhaft dafür gewährt, daß
| fie ihre Arbeit nicht verlieren, daß der Arbeitölopn
nicht berabgefept wird, und daß fie nach 6 Jahren
Arbeitöjeit mindeftend 1000 Mart rein erfpart
baben fönnen. In den Abenditunden erbalten fie
| Unterricht in allen Zweigen der Hauswirtſchaft,
fo daf fie in einigen Jahren alles das gelernt
haben, was fie ale daubſrauen unb Rutter
gebrauchen. —
| =.
| Die Mädden- und Frauengruppen für foziale
! Hilfsarbeit zu Berlin
| (Vorfigende: Frl. Alice Salomon, Berlin W.,
| Schillſtr. 10)
i
j
veröffentlichen foeben ihren Arbeiteplan für das
kommende Gefchäftsjahr. Belanntlic ift es Auf:
Ragprud mit Quellenangabe erlaubt.
* Über die im den Fabriken Preußens
befchäftigten Arbeiterinnen entnehmen wir dem
im Yaufe bes
Regierungsgewverberäte noch folgende intereffante
Zahlen:
Es find im ganzen 423 764 weibliche Perionen
in den abriten sc. beicäftigt geweſen gegen
397 234 im Jahre 18utz und 378553 im Jahre
1897, fo daß gegenüber bem voraufgegangenen
Jahre eine Yunabme um 26480 Arbeiterinnen
oder 6,7 d. ©. erfolgt ift, während von 1897 au
1898 nur eine Zunahme um 18781 oder 5,0 0. 9.
ftattgefunden hatte.
Von der Geſamtzahl entfallen auf bie weib:
lichen Perfonen unter 14 Jahren 525 (1AAR don) !
(+ 119 v. 9), auf die von 14—16 Jahren
46831 (43186) (+ 8,4 v. ©), auf die von
16—21 Jahren 148331 (139 777) (+ 6,1 v.9.)
und auf die über 21 Jahre alten 228.077 (213 B52)
(+ 6,6.0..9). Eine große Anzahl von Fabriten
bat, vermutlich weil fie männliche Arbeitsträft
nicht erfangen tonnte, auf bie Frauenarbeit zurüd:
gegriffen. Die Zahl der Fabriken, die weibliche
erwachſene Arbeiter befchäftigten, betrug 22 285
gegen 18.698 im Jahre I89R, iſt alfo um 3387
oder 17,9 v. H. geitiegen. Die Zahl der jugend:
lichen Arbeiterinnen verteilt fih auf die einzelnen
Induftriegruppen wie folgt: Von den unter
14 Jahren alten weiblichen Perfonen find 27N, alfo
mehr als bie Hälfte aller, und von den 14 his
16 Jahre alten 18133 (1898 16.590), alfo nahezu
40 v. H. aller, in ber Textilinduſtrie befchäftiat.
Dann folgt die Induftrie der Nahrungs und
Genußmittel mit 6591 jugendlichen Arbeiterinnen
gegen 6807 im voraufgegangenen Jahre, jo daß
bier alfo eine Abnahme ftattgefunden bat.
den über 16 Jahre alten Arbeiterinnen wurden
147 758 (1898 146539) in ber Tegtilinduftrie,
55874 (53.676) in der Induſtrie der Nahrungs.
und Genußmittel und 49H61 (38475) in
Velleidbungs: und Reinigungsinduftrie beſchäftigt;
tehtere Induftrie hat aljo eine fehr torte Zunahme
der Frauenarbeit erfahren. Während von den
27 Auffichtöbezirten 6 eine Abnahme der weiblichen
Arbeiterinnen von 14—16 Jahren hatten, hat bie
Zahl der über 16 Jahre alten Arbeiterinnen nur
in einem Bezirte, nämlich in Merfeburg (um 250)
abgenommen.
der Arbeiterinnen bat in der Stadt Berlin und
Charlottenburg ftattaefunden. Hier waren 23 296
(1898 18310) Arbeiterinnen von 16—21 Jahren
September erfchienenen Bericht der !
Von ;
der ;
Die bei weitem jtärfite Jumabnıe '
| der geforderten Scminarbilbung, fi
und 33008 (25843) Arbeiterinnen von über
21 Jahren, zuſammen alle 56244 (44153)
Arbeiterinnen beicäftigt Es ergiebt Died eine
Zunahme von 12 141 Arbeiterinnen oder 27,5 v. ©.
Mehr als die Hälfte der Zunahme der erwachſenen
weiblichen Arbeiter im ganzen Staate (genau
53,80. 9.) entfällt alfo auf Verlin und Charlotten:
burg. Nimmt man bie jugendlichen Arbeiterinnen
binau, fo beſtand das Arkeiterinnenheer biefer beiden
Städte im Jahre 1899 aus #1 603 Köpfen gegen
48576 im Jahre 1898 und 45 305 im Jahre 1897.
* Die neue Prüfungsorbuung für Ober:
lehrerinnen erfährt im 1. Oftoberheft der „Lehre
rin“ eine eingehende, vorzüglich orientierende
Beſprechung durch Fräulein Gertrud Bäumer,
auf bie wir bie Lehrerinnen im unſerm Yefer-
treis um jo mehr aufmerffam machen, als der
Artitel zugleich eine Witerlegung der in einem
früheren Heft desjelben Blattes von Fräulein Vor-
wert gegebenen Befprechung ber Cberlchrerinnen.
ſache von dem von ihr feit langem und neuerbings
nun auch von ber Regierung eingenommenen
Ztanbpuntte aus enthält. In dieſer Veſprechung
wird fpeziell die Arbeit des Allgemeinen Deutſchen
Lehrerinnenvereins in der Oberlehrerinnenbewegung
dadurch in ein ſalſches Licht gerüdt, daß ſein
Schlußprototoll · mit anderen Xorfclägen zur
vöfung der Frage als „Forticrittlihe Partei”
aufanmengefaßt und in dieſer Zuſammenfaſſung
ungenau charakterifiert wird. Die Beſprechung
der Frage durd Fräulein Bäumer vertritt ben
Standpunkt des Schlußprotofells, das an Stelle
jährigen Amts:
thätigfeit und Abfofvierung der berichrerinnen:
kurfe eine real gymnaſiale Vorbildung mit an.
geſchloſſenem Univerfitätöftubium und Beiud) einer
vor allen bie praftiiche Ausbildung vermittelnden
Sherfchrerinnen-Bildungsanttalt fordert.
Die Gymnafialturfe für Zrauen in Berlin
entlichen im Oftober wieder fünf Abiturientinnen,
bie fümtlich mit gutem Erfolg vor der Agl. Prüfungs-
tommiifton des Luiſenahmnaſiums au Berlin das
Eramen beitanden. Es waren Frl. Charlotte
Srauenleben und Streben.
Tnüpfungepunfte für bie Agitation und Organiſation.
Deranftaltung ven Aufnahmen über die Yohn
Arbeitd: und Yebensbedingungen einzelner Arbeite.
tinnentategorieen u. |. w.
Beim Punkt Wöchnerinnenfchuß einigte man fich
nad) längerer Tiefuffion weitergebender Borihlä
babin, baf der viermöcentlihe Schuß vor der (de:
burt und der fehswöchentlidde Schuß nach der Geburt
obne Ausnahme auch für die ‚Frauen verficherter
Arbeiter, bie nicht Berufdarbeiterinnen find, ver-
langt und die von den Kaſſen zu leiftenbe Unter:
ftügung für dieſe Zeit auf den vollen Betrag des
ortsüblichen Tagelodaes erhöht werden felle.
Schließlich wurde noch die Frage der Stellung
nabme zu ber bürgerlichen ‚Frauenbewegung in Kürze
behandelt. Dan fand feine Veranlaſſung an dem
prinzipiellen, von dem Gothaer Parteitag feitgelegten
Standpunkt zu rütteln. Demnad ann von einem
Zufanımengehen mit ber bürgerlichen Frauenbewe
gung ale folder nicht die Rede fein. Dagegen --
und cs ſcheim ©. Fürth, dafı das ein Vorzang von
geradezu fumptomatifcher Bedeutung ift — joll es
nidpt länger verpönt fein, daß die eine oder andere
Geneffin in geeigneten Fällen mit bürgerlichen
Frauenrechtlerinnen zufammenarbeitet. Es ſoll dem
Tafte der Einzelnen überlaflen bleiben, hier die
Grenze zu finden. 18 folde Jale wären nad
9. Fürths Deinung Beftrebungen anzufehen, denen |
es um bie Hebung ber Lebenslage einzelner Ar:
beiterinnenfategorieen zu thun ift, und jogialpolitiiche
oder foziafetbiiche Beſtrebungen verwandter Art.
(stelfnerinnen, Dienftboten u. a. nt.)
Damit war die Tagesordnung ber Konferenz
erfepöpft. Nhr Berlauf, die Sachkunde, Sachligteit |
und Gewandtbeit, mit der die Verhandlungen ge:
leitet und geführt wurden, fo bemertt Henriette
Furth zum Schluß ihres Berichted, ftellen der zu
funitöfreudigen Kraft und Lebensfriſche der prole:
tarifchen Frauenbewegung ein ſchönes Zeugnis aus.
* Über die Zulafinug der Frauen zum |
Stubinm der Medizin ſprach ſich in feiner Er:
offnungsvorleſung der Gynätkologe ber Wiener Uni:
verfität, Dr. Shanta, aus. Er fteht der Zulaſſung
der frauen zu höheren Studien überhaupt wol
wollend gegenüber, wenn er aud die beiondere
Befühigung der Frau zur Medizin nicht anerkennt.
* Die Univerfität Chriftiania hat Aräulein
Chriftine Bonnevie zum Konfervator an dem
zootomiſchen Muſeum ernannt. Ihre Wahl durd
das atademiſche Kollegium erfolgte einitinmig.
* in ben Bereinigten Staaten von Nord: ,
amerifa, die das „ſchulpflichtige Alter vom 5. bis
zum 18. Yebensjahre auödehnen, giebt es
21500000 Schufpflichtige. Viele, namentlich ,
Anaben, treten allerdings weit vor dem 18. Jahre
in das gewerbliche Leben; immerhin giebt es
15 000 000 Perſonen beiderlei Geſchlechts, die die ı
öffentlichen und Privatichulen befuchen. Dieſer
ftattlihen Schülerzahl fteht eine Rörperihaft von ı
409 198 Lehrern gegenüber, von denen über zwei
Drittel rauen find. Je mehr man nach dem -
| „Letters on Eıu
vorherrſcht.
123
Weften kommt, deſto mehr fteigt das Berhältnis
der Lehrerinnen zu den Lehrern; es beträgt in
weiten Diftritten 10 zu 1. Das Durchſchnitto⸗
gehalt eines Lehrers beträgt monatlich 46'/, Dollars,
das einer Lehrerin 88%, Dollars (= 205 refp.
155 Mark). Tas ift allerdings ein Unterfchied,
ber es den rechenkundigen Ameritanern mag
rentabel erfcheinen lajien, fo viel mehr Lehrerinnen
al3 Lehrer zu befchäftigen canzuftellen Tann man
in Amerifa kaum fagen, ba in ber weitaus größten
Mehrzahl der Staaten die Lehrer ſowohl wie die
Lehrerinnen nur auf Kündigung angenommen
werden). Indeſſen genießen auch abgefehen davon
die xehrerinnen in Amerika wegen ihrer Streb:
famkeit und ihres feinen, verjtänbnißvollen Ein:
gehens auf Lie modernen päbagogiihen Be-
ftrebungen eine unbeftrittene Anerkennung, und
felbft im Unterrichte der Rnaben bio zu ben
böchften Altereftufen baben fi bie Frauen durch.
aus bewährt.
* Catherine Macanlay Graham (1731 bis
1791) über Goeducation. Gelegentlich des
12. Frauentongreſſes in Paris, der Ichhafte Tebatten
über das Thema der Coeducation gebracht hat,
iſt es intereffant, das Urteil einer Frau zu ver-
| nehmen, die ſchon im Jahre 1790 dieje wichtige
Erziehungsfrage erörtert. Es ift Catherine
Macaulah Graham (1731 1791, eine zu ihrer
Zeit ſeht gefchägte engliſche Geichichtsſchreiberin
(History of England 1763), die ſich in ihren
tion“ folgendermaßen äußert:
„Ein weitered Vorurteil giebt cd, das das
Güd der Frau noch tiefer untergraben fünnte,
ein Vorurteil, da® die Grenzen des Orients nic
hätte überichreiten dürfen, jener Staaten der
Stlaverei, wo die frau von jeher unterbrüdt war,
in ber beftimmten Annahme, daß bie geiftigen
Mräfte der rau thatjächlich minderwertig ieien.
* Das Vorurteil, dad ich meine, ift der erniedrigende
Unterfhieb, ber bezüglich der flege der Verftanbes:
träfte jeit mehreren Jahrhunderten in gany Europa
In der erften Zeit ber Nenaiffance
ließen unfere Porfahren alle ihre Kinder gleicher:
weife die Sorteile einer laifiihen Erzichung
* genießen; aber da ſchulmeiſterliche Steifheit der
Fehler jener geit war, fo mag ein weiblicher
Student feine ſehr angenehme Perjönlichteit geweien
jein. Wahre Pbilofophie war damals jelten in
Verbindung mit Gelchrlamteit zu treffen, auch bei
dem männlichen Geichlechte nicht. Tod) jeder, der
nicht von Vorurteilen verblendet ift, muß erfennen,
daß feine Kultur eine jo reihe Ernte veripricht ale
die Kultur des (Heifted, und daß cin Kopf, erhellt
von dem Yichte deo Wiſſens, jeder Aufgabe der
Vernunft, die fi ihm barbietet, gewachſen fein wird.
Die ſozialen Pflichten werden von den rauen
in dem wichtigen Amte der Tochter, der Ehefrau
und der Mutter infolge ihrer Unwiſſenheit und
; Cberflächfichteit mur Schlecht erfüllt, unb in dem
häuslichen Verlehr wilden Ehemann und Ehefrau
Weihnacht.
Bon
Paul Scıeftler.
Bun dämmerf der Friede nieder
Wie leife flokender Schnee,
Mnd Weihnadtskerzen und -Kieder
Flackern frohlockend zur Böh’.
Id weiß von alternden Berzen,
Die irrten fo friedlos weit —
Und fanden bei Weihnadhfskerzen
Beim in die Iugendgeit...
>
cm
MN
Einfamteit.
„Mein ftrenger Genius. Das moderne
Weib mit dem nüchtern tiefen Blid als Be-
feelerin der Kunſt.“ Und er küßte fie.
Eie ging in die Wohnzimmer zurüd. Auf
der breiten, grün umfponnenen Veranda war
ein Theetifch zurechtgeftellt, Gebäd, Zigaretten
und überall behagliche Sitze. Das Mädchen
hatte das kochende Waſſer gebradht, und
darunter tanzte die Spiritusflamme. Lifa
orbnete noch ein paar tieflila Anemonen in
einem Glaſe und vertiefte fih dann in ein
neu erſchienenes Bud, bis das erfte Klingel»
zeichen ertönte. Das Mädchen melbete:
„Herr Doltor Schwartz.“
Liſa erhob fi mit frohem Lächeln, den
Eintretenden zu begrüßen.
„Ernſt iſt nod nicht fertig,” fagte fie in
zutraulihem Plauberton, „er bat natürlich
wieder bei feiner Arbeit jeve Zeit vergefien.”
„Laſſen Sie ihn ſich nicht überanftrengen,”
fagte Doltor Schwartz. „Er war von jeher
ein zarter Burfhe und fieht jeht immer
erfchredend elend aus.”
„Ja, was ſoll ich dazu thun?“ fragte Lifa.
„Es macht mir felbjt folde Freude, wenn er
etwas ſchafft, was nachher wieder fo ganz
groß und fo ganz gut ift. Oder barf ih
Ihnen, dem ftrengen Krititer, fo etwas nicht
Tagen?“
Er lächelte auf fie herab wie auf ein
Kind, aber mit innigem Wohlgefallen.
„Sie wiſſen, es giebt feinen, der das lieber
bört und beftätigt.”
„Ja, und wenn Sie nur einigermaßen
mit ihm zufrieden find, dann ift er es ganz
mit fih. Ich bin oft eiferfüchtig, melden
Wert er auf Ihr Urteil Iegt.” .
„Und dod hatte ich zuerft Grund, auf
Sie eiferfüchtig zu fein, Frau Lifa,” rief
Doktor Schwark lebhaft. „Wenn ein Freund
heiratet, ein Freund in dem Einne, wie Ernſt
es mir ift, dann ift das faft wie ein völliger
Verluft, fein beftes Gefühl geht einem ba
verloren.
der Zweite. Das verzeiht man nur, wenn
die Wahl eine vortrefflihe mar, und bier |
babe ich allerdings verzeihen müſſen.“
Eie ſah ihn ernfthaft an.
„Ich wünſchte, es wäre feine Schmeichelei,
was Sie da ſagen,“ erwiderte fie in ge—
Man bleibt im günſtigſten Falle
131
tämpftem Ton. „Ich möchte ihm gern viel
fein, ganz und völlig fein Kamerad und
Freund in feinen Werken, und überall ihm
dahin folgen können, wo er hingeht.“
„Das ift das Schwere,“ fagte Doktor
Schwartz, vor ſich binnidend. „Denn ſchließlich
hat doch jeder Wege, die nur er allein
gehen kann, die er geben muß, fo uns
begreiflih «8 uns ſcheint. Es kann ihn
eben niemand begleiten.”
„Und was meinen Sie, was man in
folhem Fall am beften thut?“ fragte die
junge Frau und richtete ihr llares Auge nach-
denklich auf ibn.
„Man läßt ihn gehen,” fagte er mit einem
halb ironifhen Lächeln, als fei ihm das Ge:
fpräd ſchon zu ernſt.
„Ras find mir doch für jammerbolle, zu:
fammengeflidte Geſchöpfe,“ rief Liſa. „Das
merkt man nie mebr, ald wenn man fi licht
und nun fo berb zu zweien iſt — veritehen
Eie, wie id es meine?”
Er nidte kurz. „O gewiß. Man möchte
das Befte, das Einzige, das einem zu eigen
ift, fein: Selbſt, vernichten, zerftören, fort:
werfen, um dem andern nur um einen Ge—
danken, ein Gefühl näher fommen zu bürfen.
Nun, es ift felten fo ſchlimm.“
„Und wenn es fo fchlimm ift?”
„Dann ift es doc immer Liebe. Und
darin ift Troft. Die bleibt doch das Einzige,
mas uns erzieht, adelt, Menjchenfeelen ver:
ftehen lehrt und unjern Egoismus, unfere
Selbjtbefangenheit überwindet.” \
„Und doch ift nichts egoiftiiher als bie
Liebe,” fagte Lifa mit nachdenklichem Kopf:
ſchütteln.
„Ach, ſagen Sie das nicht,“ rief Doltor
Schwartz lebhaft. „Ja, wenn Sie Egoismus
mit Ichſucht überſetzen, dann iſt allerdings
alles Ichſucht. Man vergißt nur, daß das
unſer edelſtes Gefühl iſt. Dies fortwährende
innere Kämpfen und Ringen um uns ſelbſt
erhält uns lebendig und kräftig. Aber ſagen
Sie für Egoismus Selbſtbefangenheit, da
haben Sie alles Schwere, Tote, Unfruchtbare.
Da haben Sie die Engen, Kleinen und die
Böfen, Dunklen, alles, was Sie wollen. Nun,
und da bleibt der große, einzige Erlöſer die
Liebe; iſt das nicht wahr?”
9
132 Einſamkeit.
„Wahr, wie immer,“ ſagte Ernſt, der bei
dieſen Worten auf den Balkon getreten war.
„Denn du biſt unfehlbar, wenn du die Begriffe
aufjagſt und aus ihrem verborgenſten Wort-
winkel aufftöberft. Aber grük dich Gott,
Gerhard, wir ſehen uns viel zu jelten. Wenn
du feinen Kneifer auf bätteft, wärft du mir
der liebſte Menſch auf diejer Erbe.”
Sie ſchüttelten fih die Hände. Das
. Mädchen meldete neue Gäſte an. Zuerſt
erſchien ein Tleiner, fchlanfer, bleicher Jüng—
ling, den man faft für einen Knaben hätte
halten können. Nur der ungemeine Ernit in
feinem Auge gab ihm etwas Altes, und dies
Auge richtete fich mit einem kurzen, fieberhaft
erregten Forſchen auf den jungen Hausherrn.
Der begrüßte ihn mit einem gewiſſen Wohl:
wollen. oo
„Liebe Lila,” ſagte er. „Hier ſiehſt du
Herrn Strom, einen neuen Gaft, nicht nur in
unferm Haufe, fondern auch auf dem Parnaß,
aber ich vente, er wird bier wie bort bald
vertraut und befannt fein.”
Ein flüchtiges Rot.zog über die Stirn
dieſes jeltfamen Zwitterdings von Knabe,
Süngling und Mann. Er verbeugte ſich in
grotesk verfchrobener Art und fchien ein wenig
außer Faſſung zu geraten, als Liſa ihm bie
chlanfe, weiße Hand ganz ungeziwungen ent=
gegenftredte. Ernſt war mit Gerhard zur
Ceite getreten.
„It das der rechtwinklige Menſch, der
und den Einn der Erde künden will?” fragte
er mit faſt höhniſchem ES chmer;.
„Ich fage dir, der Burfche ift nicht lang:
weilig,“ ermwiderte Gerhard. „Er bat einen
zähen, ftrengen Kopf, der mit ernftem Eigen
finn die Dinge jo aufzufafien zwingt, mie er
fie jeben mil.“
„And iſt jo troftarm in feinen Arbeiten,
daß ih mich aufhängen würde an feiner
Stelle,” murmelte Ernſt mit finfterer Stirn.
Die erhellte fih aber, als er einer Dame
anſichtig wurde, die etwas zügernd und lang:
ſam in die Thür trat. Hier blieb fie ftehen
und ſah fih mit einem fragenden Lächeln
um. Emft eilte ihr mit ausgeftredter Hand
entgegen.
„Komme ih jo früh?” fragte fie mit
weicher Stimme und ſah ibn lächelnd an.
„Ss fpät!” ſagte er halb ſcherzend, halb
ernfthaft. „Immer zu fpät. Es giebt eigent:
lich gar feinen Augenblid, der nicht ſchon auf
Sie geivartet hätte.”
Eie bob die Augenbrauen etwas Iäffig
und ging dann mit fchneller, anmutiger Be:
wegung auf Lila zu.
„Guten Abend, Dichtersgattin,” ſagte fie
dabei.
Lila lachte munter.
„Es ift gut, daß Sie gefommen find,”
ſagte fie herzlich. „Schweigenb ober fpredhend
wirken Sie dur Ihr bloßes Dafein belebend
auf ung alle.”
„Ein großes Talent,“ ſagte Strom, ber
daneben Stand.
Irma bob ihr Auge und fah ihn prüfend
und langfam an.
„Herr Strom,” ftellte Lifa feierlich vor.
„Sie find auch Schriftiteller?” ſagte Lila
mit mildem Intereſſe. „Was fchreiben Sie,
wenn man fragen barf?”
„Das Neben,” fagte er, feinen ernjten
Blid mit troßigem Selbftbewußtfein auf ſie
richtend.
Lila hatte nicht länger Zeit, der Unter:
baltung, die ſich fo interejlant anließ, zuzu⸗
bören. Es kamen neue Gäſte, die begrüßt
werden mußten. Da mar ein berühmter
Maler mit feiner Gattin, ein junger Bildhauer
und andre FZunjtbefliine Sünglinge und
äfthetifche Damen, Die ganze Veranda war
gefüllt, von allen Seiten tönten moderne
Cchlagmworte, mit mehr ober minder Nachdruck
gefproden. Liſa verforgte ihre Säfte mit
Thee und Erfrifchungen, überall bereit, zuzu=
hören, mitzufprechen, ſich vol Tebendigen
Eiferd anregen zu laffen.
Etrom hatte eine Gelegenheit wahr:
genommen, fi an Ernft3 Seite zu begeben.
„Iſt es unbefcheiden,“ fragte er befangen,
„bier und heute Abend nah einem Urteil
über meine Arbeit zu fragen?”
„O gewiß nicht,“ ſagte Ernjt mit einem
faft unmerklichen Seufzer. „Es ift eine ſehr
tüchtige Arbeit, die in neue Gedankenwege
zwingt, berb in der Charakteriſtik, oft fchroff,
die Technik noch raub, rückſichtslos, jedoch —
das fchabet nichts. Es giebt ein anderes Aber.”
Er ſchwieg einen Augenblid.
Einſamkeit. 133
„Darf ich Sie darum bitten,“ ſagte Strom,
der den Mund nachdenklich zuſammengepreßt
bielt.
„Es befteht nicht in etwas Außerem,”
fagte Emft langſam, gleihfam Worte fuchend.
„E3 ift der Geift, der über dem Ganzen liegt,
der it ein Geift des Todes. Wie mollen
Sie daraus lebendige Werke ſchaffen? Wenn
Eie alle Lebensformen verneinen, wenn Sie
alles mit nüchternem Mipfallen betrachten,
wollen Sie damit ein Leben füllen, wollen
Sie damit ein Werk befeelen? Loben Sie
die Eonne, Herr, und den Morgen. Und
wenn Sie die Worte ftammeln, jollen Eie
mir lieber fein, als dies alte, reife Werk.”
Strom war blaß geworden und hatte eine
bodhmütige Falte auf der Etirn.
„sch hätte mich folder Worte von Ihnen
nicht verjeben, Herr Stein,” fagte er mit
Faſſung. „Denn Sie, zu dem id) fam, find
ſelbſt der rückſichtsloſeſte Xebensfünder, der in
jedem Merk bewies, wie ehern die Natur ihr
mechanifches Uhrwerk, das wir Menfchen Geift
und Charakter nennen, ablaufen läßt.”
Ernft ſah ihn mit Lebhaftigfeit an.
„Ja,“ erwiberte er. „Und doch fage ich
damit etwas anderes, ale Cie glauben.
Stellen Eie diefe fraftlofen Menfchen in andere
Verhältniffe, auf gefunden, natürlichen Boden,
umd es wird Ihnen gehen tie farblojen Keller:
blumen, die in Eonne und Lit Tommen.
Sie werden ihre Wurzeln tiefer fenfen und ihr
Zeben ganz anders ausbrüden und geſtalten.“
Um Stroms lippenlofen Mund fpielte ein
etwas Tpöttiiches Lächeln.
„Ich muß geftehen, daß mir biejer tiefere
Sinn Ihrer Werke noch nit aufgegangen
war,“ entgegnete er. „Aber wie ſie waren,
waren fie Leben und Kunſt und einfache, er:
Ichütternde Wahrheit. Sch möchte fie mir
nicht durch irgend eine Zuthat entftellen.”
Ernſt war flüchtig errötet.
„Sie befommen vielleiht durch Spätere
Merle eine Ergänzung, die dann erjt meine
Lebensanſchauung ausdrücken wird,” fagie er.
„Aber was fprechen wir von mir? Sie wollen
meinen Nat, und ich gebe Ihnen den ehrlich
nah meinem beften Ermeſſen. Suchen Sie
gefunde Verhältniffe auf, gehen Eie auf
Reifen, fliehen Sie diefe dunftigen, glühenden
Etraßen mit dem verfommenen Menfchen, die
Sie darin treffen.”
Etrom batte feine
etwas geredt.
„Ich danke Shnen,” fagte er. „Sch glaube
aber nicht, daß dies ein Rat ift, den ich be-
folgen werde.“
Inſpektor Baumann wurde gemeldet. Ernit
eilte ihm entgegen.
„Sieb, Lila,” rief er. „Ein alter Freund
meines Vaters, ich habe noch auf feinen Knieen
geritten und ihm bundertmal meine Rümmerniffe
geklagt. Lieber Herr Baumann, meine Frau.”
Liſa fab nicht ohne Wohlgefallen in das
berb gerötete Gefiht des großen, ältlichen
Mannes. Ihr zierlides Händchen verſchwand
völlig in feiner marmen Riefenfauft, und feine
runden Augen fahen drollig eritaunt und
prüfend an ihr herunter.
„Sch freue mich, Sie kennen zu lernen,”
fagte fie in faft warmem Ton. „Sie müffen
mir erzählen, wie Ernft als Kind war.”
Der Inſpektor warf einen mitleidigen Blid
auf den fchlanfen, blaffen Hausherrn.
„Ad, liebe Frau Etein,” fagte er ge-
mütlih. „Das war ein derber, Heiner Burfche
mit diden, ‚roten Waden. Den ganzen Tag
faß er draußen, die Taſchen voll Üpfel, bie
Augen munter und blanf. Bis der jelige
Herr ftarb und das Gut verfauft wurde. Da
war er blaß und verftört, daß ſich mir das
Herz umbdrehte. Er faß in meinem Zimmer
und hat, klein mie er war, ſtramm mit fid
gefämpft, um nicht zu weinen. Aber wie er
geben follte, ift eg über ihn gelommen, da
hat er in meinen Armen gelegen und gemeint
wie ein Kind.“
Der Inſpektor räufperte fi) vor Rührung.
Liſa ſah nachdenklich in fein breites, gut-
mütiges Geſicht, da recht menig zu all den
andern paßte. Ernſt aber legte die Hand auf
feinen Arm:
„Davon erzählen Eie fpäter,“ rief er.
„Exit fommen ie mit, denn zwilchen ung
beiden giebt es noch etwas zu beſprechen.“
Er lächelte feiner rau zu und 309 den
Inſpektor mit fih in fein Arbeitszimmer und
ſchloß die Thür.
„Kun?“ fragte er dann. „Sft alles er:
ledigt? Unterfchrieben, fertig, daß id) mid)
ſchmächtige Geftalt
134
auf den Meg maden fann, wann ich will, in
‚mein Eigentum zu gelangen?“
Der Infpeltor holte bebächtig ein paar
Papiere aus feiner Brufttafche hervor und
breitete fie auf dem Tifh aus.
„Hier ift der Kauffontrafi,” fagte er dabei,
„bier der Plan von dem Wohnhaufe, bier —“
Ernſt ſchob mit einer rafchen Hand:
beivegung die Papiere zufammen.
„Es ift gut,” fagte er. „Sch danke Ihnen,
lieber Baumann. Und was das Gefchäftliche
anbetrifft, Sie wiſſen, ich will dort Ruhe und
Zeit finden, feine neue Arbeit. Das lege ich
alles in Ihre Hand, und Sie müſſen ſchon
fo freundlid fein und die Verantwortung
übernehmen. Und nun thun Sie mir den
Gefallen und fagen Sie meiner Frau nit?
davon. ch mill fie überrafchen.”
Der Inſpektor verfprach das ſchmunzelnd.
Es mar allerdings eine Überrafhung, auf
einmal die Herrin eines behaglichen Landſitzes
zu werden.
Draußen war unterbes bie Unterhaltung
lebhaft im Gange.
„Da kommt Bergen,” fagte Doktor Schwartz
und rungelte die Stirn.
Irma fah mit einem furzen Lächeln in
fein verfinftertes Gefiht und nidte dann dem
Anlömmling, einem derben, jungen Mann,
freundli zu. Der fchüttelte ihr mie einem
guten Kameraden die Hand und fah ihr, ohne
auf die andern zu achten, mit feinen runden
Augen, die unter buſchigen Brauen bervor:
bligten, forjchend ins Geficht.
„Haben Eie heute gearbeitet?” fragte er.
„Deinen Eie, ein Talent verpflichte?”
lagte fie mit leichtem Epott. „Mir ift es ein
Schmud, ein Spielzeug.”
Seine derbe Fauſt preßte fich feit um bie
Stuhllehne. „Wie oft habe ih Cie gebeten,
mir nicht in derjelben Art zu antworten, wie
den andern!” rief er heftig.
„Und warum nicht?” fragte fie mit er:
ftauntem Lächeln.
„Es ift das Wenigfte, was Sie für mid)
thun fünnen, wenn Sie nur einen Gran
Achtung vor mir haben,” fagte er troßig.
Doktor Schwartz ſah ſich gelangweilt um.
Er entdedte Ernſt, der ſoeben wieder eintrat,
und ging ihm entgegen.
Einfamteit.
„Diefer Bergen ift mir ein entfetlicher
Menſch,“ fagte er mifvergnügt. „Ein derb
anfpruchsvoller Bauer durch und durch.“
„Iſt Bergen da?” frug Ernft mit Intereſſe.
„Diefe Antipathie Tann ich nicht begreifen.
Er ift der Tüchtigfte von uns allen. Und
du grade bift doch fonft folh ein AU:
begreifer.“ |
„a, irgendivo findet jeder feine Grenze,”
brummte Doktor Schwartz.
Ernſt ging, dem neuen Gaſt die Hand zu
ſchütteln. Der ſtand über Irma geneigt, auf
die er mit Eifer einſprach.
„Welch eine Zauberin ſie iſt!“ dachte
Ernſt. „Alle fühlen ſich zu ihr gezogen und
bleiben ihr treu durch das ganze Leben, in
allem Schaffen, in allen dankbaren, beiten
Gedanken.“
Sie empfand ſeinen Blick, und ihre Augen,
die ihn erwiderten, vergrößerten und ver:
dunkelten ſich ſeltſam, daß ſie ihm wie ein
abgrundtiefes, ſchwarzes Fragen entgegen⸗
ſahen. Auch ſein Blick wurde dadurch ernſter.
In einer gewiſſen Befangenheit, die er ſich
nicht zu deuten vermochte, zwang er ſich zu
einem Lächeln, das aber erſtarb, da ſie es
nicht erwiderte. Er war der Erſte, der ſein
Auge abkehrte, und als er wieder zu ihr hin—
lab, ſaß fie von ihm fortgewandt und fah
mit abweſendem Blick zu den andern hinüber.
Und der Abend erreichte fein Ende. Schon
war die Dämmerung eingebrochen, und Lifa
hatte für Lampen geforgt. Es kam allmählich
ein etwas fühlerer Hauch geweht, der es
ahnen ließ, daB da draußen irgendwo Wälder
ftehen mochten, die aus der Erbe köſtliche
Kraft und Würze hoben und fie in ver:
Ichiwenderifcher Liebe ber wehenden Luft mit-
teilten. Ernſt war völlig hingenommen. Die
Stimmen um ihn herum fehmwirrten wie ganz
weſenlos an feinem Ohr vorüber, und eine
Ichredliche, bleierne Mattigfeit lag auf feinen
Gliedern. Mit halbgefchloßnen Augen ſaß er
teilnahmlos da.
Irma war die Erfte, die aufbrach.
„Sie arbeiten zu viel,” fagte fie noch mit
einem letzten Blid in fein gefpanntes, mühes
Geſicht.
Bergen folgte ihr auf dem Fuß.
„Ich habe noch zu thun,“ ſagte er kurz.
Und allmählih gingen auch die Lchten,
darunter Baumann, dem Ernſt nachrief: „Alfo
auf morgen!” Dann dehnte er die fchlanten,
ſchlaffen Glieder, feufzte, trat an die Brüftung
und ſah in den Himmel.
„War e3 nicht wieder reizend nett?“ rief
Liſa und ſchob die Teller zufammen. „Künſtler
find doch die einzigen Menfchen, mit denen es
ſich leben läßt. Kaum einer unter ihnen, ber
nicht geiftvoll und anregend wäre.“
„Wie laut die Stadt noch iſt,“ fagte Exnft,
der binauslaufchte. „Nicht ein Moment Raſt.
Dasfelbe gebämpfte Tönen durch bie ganze
Naht. Weißt du, Life, wonach ih mid
manchmal namenlos fehne? Nach einer ganz
tiefen, tiefen Einſamkeit und Stille, nad
dunklen, faufenden Wäldern, in benen unfer
Haus ſtehen müßte, oder es dürfte auch
zwiſchen Feldern fein, auf denen man arbeiten
ſieht. Und da mir beide, du und id, allein,
von allem, allem fern, auf gefundem, ewigem
Boden wurzelnd und lebend. Nicht aus biefen
verzerrten Häßlichleiten unfere Rahrung faugent,
fondern aus aller Einfahheit und Kraft, die
die Natur giebt.”
„Nennft du Irma eine verzerrte Häßlich-
feit?” fragte Lifa, die ſachte an feine Eeite
getreten war. Er zog fie an fi und um—
faßte ihre Hand mit feiner ſchlanken, fühlen.
„Ich weiß dir nicht einen Menfchen von
allen diefen zu nennen, der natürlih wäre.
Eie find alle wie Pflanzen, die in Stubenluft
bei elektriſchem Licht großgezogen find. Du
und id, wir aud, Liſa! Cinmal hinaus aus
dem allem, grabe wachen und Eigenperfönlich-
Teit werben — ich benfe, dir müßte auch das
Herz danad brennen.”
„Ja, was willſt du denn?” fragte fie mit
halbem Lachen, weil fie nicht gleich feiner
Stimmung zu folgen vermochte. „Sollen wir
auswandern?”
Vielleicht,“ gab er ernfthaft zu. „Über
Meere und Berge hinaus. Vieleicht genügt
es aber au, nur wenig Meilen zu gehen
und an irgend einem Ort eine Mauer um
fih zu bauen, die feiner überfteigt, um grellen
Tageslärm zu und zu bringen.”
„Als ob man da grade wüchſe und nicht
erft recht einfeitig würde,“ fagte Lifa. „Grade
bier behält man das wundervolle Verftändnis
“a
Einfamteit.
185
für alles und alles, die Duldung, das Darüber:
ftehen.”
Er feufzte etwas ungebulbig.
„Das Unperfönlihe, wie mein guter
Schwartz es hat. Und doch geben uns nur
die ganz Perfönlichen etwas, nie dieſe Alles-
begreifer, die nur unfer Gefühl verivirren, bie
fein grabes ‚ja‘ oder ‚nein‘ mehr fennen,
fondern nur ein ‚möglicherweife‘, ‚freilich
dann‘ und wie die Worte alle beißen. Diefe
Vielſeitigleit ſchätze ich beim Himmel nicht, die
iſt vom Gotte der Perſönlichkeit verlaſſen.“
Liſa gab keine Antwort, aber ſie dachte
anders. Sie dachte an die große, ernſte
Milde des modernen Menſchen, der nie mehr
einen Stein aufhob gegen andre, weil er alle
Möglichkeiten in ſich fühlte und für jedes
Böſe ein Gut und für jedes Gut ein Böſe fand.
„Gebt du mit?” fragte er auf einmal tie
aus tiefen Gedanten.
„In die Einſamkeit?“ fagte Lifa.
„Bu zweien,“ nidte er und prüfte ihr
Geſicht mit feinen Bliden.
„Gewiß,“ fagte fie einfach, „fotweit ich kann.“
Er lächelte fie zärtlih an. Dann fagte er:
„Wir wollen einen Genieftreih machen,
mas meinft du? Ausrüden, fortfliegen, ohne
etwas zu fagen. Ich Tann hier faum mehr
atmen, leben.”
„D du Nemwenbündel,“ rief fie etwas ver—
zagt. „Mo denkſt du wohl, daß du die Rube
findeft?"
„Da, wo ich zu Haufe bin,” fagte er mit
großem Ernft. „Ich habe das Gut meines
Vaters gekauft, Lifa.”
ie ſchwieg ganz ftill, denn es durchfuhr
fie mit plöglihem Schred eine atembeklemmende
Angft. Ihr Zuhaufe war die große Stadt,
die da unten raufchte und lärmte. Er empfand
es und ftügte den müden Kopf auf.
„Iſt es Dir nicht recht?" fragte er fehr leife.
Sie fuhr mit der Heinen, zarten Hand über
feine Haare.
„Lieber Junge,” flüfterte fie. „Eo lange
du es aushältſt, halte ich es wohl aud
noch aus.“
Das war aber nicht die Antwort, die er
erwartet hatte. Er ſchloß die Augen und
träumte von einer tiefen Stille, in die er laut⸗
und regungslos verfant, den ftummen, ges
Einſamleit.
137
ſprach lebhaft, beivegte die Arme; ganz ſchlanke fuchten, die fatten Farben und Streifen gegen
und jein erfchien er neben dem robuften Lands
mann. Dann brebte cr fih um und fam
zurüdgelaufen; er hielt ein paar Roſen in der
Hand, bie jtedte er ihr durch das Fenſter zu.
„Komm nur heraus, Liſa, in den Garten.
Du ahnſt ja nicht, wie wunderſchön das iſt.“
„Ich komme,” rief fie und nidte ihm
lachend zu, aber im Herzen hatte fie ein ganz
wehes Gefühl, ala wäre fie bier verloren und
einfam und felbft Ernft ihr fern und entfrembet.
Das ift Diana,” rief er ihr entgegen
unb wies auf den Hund, „und ba die Tauben,
ſieh nur, ſieh nur, wie fie bligen und freifen
und bligen.”
Er drängte weiter. „Ich weiß einen Weg,
der dur den Garten aufs Feld führt, den
mollen wir gehen. Sahſt du ſchon jemals
ſchönere Rofen?”
Sie ging ftill neben ihm her und jah nur
mit heimlihem Staunen auf fein leuchtendes,
trunfenes Auge, das von einem Gegenftand
zum andern glitt, als juche es alles auf ein
mal in fih zu faugen und könne vor Haft
und Wonne faum ein Einzelnes fajien, nur
das Ganze als Seligkeit ahnen und empfinden.
Aber auch er wurde ftiller und ging lang⸗
famer, bewußter. Da tönte neben ihnen bas
langgezogene, ſchmelzende „Tü, tü“ einer
Nachtigall, eine andre antivortete mit klang⸗
voller, weicher Klage. Ernſt mar jtchen ge:
blieben.
„Hörft du?“ fragte er halblaut. „Wie
ſchön, wie wunderſchön ift meine Heimat.”
Sie faßte nad feiner Hand und hob ihr
Gefiht zu ihm empor.
„Du gehft jest allein, von mir fort, jühlft
du das?” fragte fie mit flüfternden Lippen.
Er fagte: „Ah, Lifa, Feine Nerven, nicht
heute und nicht hier!” ,
„Ib kann nit mit,” rief fie erregt.
„Denke auch an mid! Du darfjt mich nicht :
ganz allein laſſen.“
Er ſah fhredlih müde aus, ala er jegt |
bilflos zu ihr niederfah und feine Antwort
fand. Sie hob feine Hand empor und brüdte
ihre Augen darauf.
„Es ift doch wahr,“ dachte fie.
Er ſtrich mit leichter Hand über ihr Haar,
während feine Blide das tiefe Abendleuchten
Untergang.
„Das find alles unwahre Empfindungen,”
dachte er, „überreizte, krankhafte Gefühle.
Tas drängt nad) Thränenftrömen und Aus—
ſprachen, die jeden Nerv zittern machen um
nicht? und um nichts. Wir wiſſen doch beide,
daß wir und lieben.”
Dabei zog er fie aber enger an fih und
fragte leiſe:
„Biſt du traurig? Glaubft du wirklich
nicht, du fönnteft dich hier glüdlih fühlen?
Brauchſt du noch all die andern Menſchen
zum Leben, kannſt du dir nicht an einem
genügen laffen?”
„Doch, doch!“ rief fie leidenschaftlich.
„Aber der eine ift ein Träumer und gebt
manchmal fo weit von mir fort, fo fchredlich
weit.“
Das traf ihn. Er hatte immer gefühlt,
daß fie neben ihm herfämpfte, aber er hatte
ihr nie hilfreich die Hände zugeftredt, hatte
ihren Anteil nur als Sclbftverftändlices ge:
nommen,
„Aber hier doch nicht,” rief er eifrig.
„Hier find wir doch aufeinander angewieſen.“
Die ein fhmelzendes, wehvolles Schluchzen
tönte der Ruf der Nachtigall, tonlos, ſchmerz⸗
voll, dann wieder in plötzlichem Wechſel ein
jauchzendes Schlagen. Der Sinn war nun
auch für die andern Laute geweckt, für bad
Kofen, Trillern, Flüftern, das von allen
Zweigen tönte. Auf dem grünen Rafen lief
eilig bie Amfel, blieb ſtehen, blidte mit klugen
Augen, pidte in das Moos und lief weiter.
Ein träger, fetter Fink büpfte auf dem Wege
zutraulid frech zu ihnen ber. Ernft hatte
den Arm von Lifa gelafien und fah mit ver
haltenem Atem, wie ber Heine Geſell in
ſchrägen Sprüngen ihnen näher fam. Nun
warb dem aber die Eadje doch bedenklich, er
fah mit geneigtem Köpfchen auf bie blanken
Stiefel der beiden, jungen Menfchentinder,
dann breitete er feine Schwingen aus und
flog auf den nächſten Baum. Ta plufterte
er fih auf und trillerte, als hätte er eine
Heldenthat begangen.
Nun lachten beide und fingen an zu
laufen, weil es fpät wurde und Herr Baus
mann um act Uhr zum Abendeſſen eingeladen
138
war. Das heißt, eigentlih war er der Gaſt⸗
geber, da er alles angeordnet und beftellt
hatte. Eie kamen aud richtig ein menig zu
ſpät. Er ftand ſchon im ſchwarzen Rod und
vol ehrbarer Würde im Eßzimmer. Natürlich
gab es junge Hühner.
Herr Baumann erfundigte fi) nach den
Wünſchen der gnädigen Frau für den Garten,
ob fie Änderungen zu treffen dächte; bavon
veritand fie nichts, fie fand ihm nett genug,
wie er war. Ob fie nad) dem Abendbrot den
Gemüfegarten anfehen wollte? Danfe, nein,
für heute war fie viel zu müde. Er fiel ihr
auf die Nerven. Sie dachte ſich dieſen
tüchtigen, aber in Eigenart und Eigenfinn
berfchrobenen Menfchen als täglichen Genoffen
und ſchauderte. Solchen Naturen gegenüber
bat man das Empfinden, als fei jeder Menſch
ein Berbrehen am andern. Ad, dagegen
Irma bier haben oder Doktor Schwar; felbft
Etrom ‘mit dem gepreßten Mund fchien ihr
eine wünſchenswerte Gefellfhaf.
Ernſt wäre nad dem Eſſen noch gern
hinausgelaufen, aber er mochte Liſa nicht
allein laſſen. So ſaßen fie denn im Wohn:
zimmer, die Thüren zur breiten Veranda meit
geöffnet. Ein NRauſchen und Wehen fam herein
und fchiwere, ſüße Blütendüfte. Sonft war die
Stille jo tief, daß fie zufammenfuhr, ale
plöglich ein Hund anfchlug.
„a, bier wirft bu gut arbeiten können,“
fagte fie plöglic) aus ihrem Gedanfengang
heraus.
Er nidte nur. Läſſig wiegte er ſich in
- einem Cchaufelftuhl und rauchte eine Zigarette.
„AU das Rauſchen,“ fagte er, „bas
fommt von unfern Wäldern. Hörft du, mie
e8 Spricht und denkt? Ach, dies Zuhaufe,
dies herrliche Zuhaufefein.”
* *
*
Ernit erwachte am nächſten Morgen ſehr
früh, Liſa fchlief noch tief und fell. Er fah
hinaus. Die Eonne war im Aufgehen,
leuchtend gelb; der Horizont, foweit er ihn
überbliden fonnte, am Rande von einer
braunen, raucartigen Wolkenwand bezogen;
Einſamkeit.
In der Wohnſtube räumten die Mädchen
auf, die Verandathüren waren weit geöffnet,
er ging aber über den Flur durch den Vorplatz
auf den Hof hinaus. Er hörte aus den
Ställen das Stampfen der Pferde, Mägde
gingen mit blanken Eimern zum Melken; vor
der Wagenremiſe ſtand der Stallburſche und
wuſch die Räder eines Wagens.
Ernſt blieb ſtehen und ſog die herbe, kühle
Morgenluft ein. Mit lautem Zwitſchern
fuhren die Schwalben an ihm vorbei, nah an
der Erde, in weichem Bogenflug die Luft
burchftoßend. Auch die Tauben ſchwärmten
ſchon, in gemeßnen Kreifen ftiegen fie immer
höher in die Luft, man hörte das eintönige
Schlagen ihrer Flügel. Ein junger Knecht
ichritt an ihm vorbei und rüdte an feiner
Mütze. Ernſt blidte ihn an, und eine flüchtige
Erinnerung ftieg in ihm auf.
„Lorenz,“ rief er ihm halb zögernd nad).
Der drehte fih um und fam, ein ver:
legenes Lachen im Geſicht, zurüd.
„Bit du’3 wirklich?“ rief Ernft und ftredte
ihm die Hand Hin, bie ber mit einiger Be:
ftürzung ergriff, um fie fogleich wieder fahren
zu laſſen. „Befinnft du dich auf mid?
Wieviel Apfel haben wir zufammen gemauft?”
Er wurde wirklich ganz Mei dem
ftämmigen Burfchen gegenüber. Er fühlte
ſich gar nicht als Hausherr.
„Jawoll, gnäd'ger Herr,“ ſagte der und
rieb ſich ſein Bein. Dabei fuhren ſeine Augen
durch die Luft, an den gütigen Blicken ſeines
jungen Gegenübers vorbei. Er war ein
richtiger Tölpel.
„Was machſt du denn jetzt? Wie geht's
dir?“ fragte Ernſt und ſah mit Freude in
ſein braunes, hübſches Geſicht. „Lebt deine
Mutter noch?“
„Nee, gnäd'ger Herr, die iſt all dod.“
Er ließ ſeine Augen raſch einmal über
ihn hinlaufen, als ſei er erſtaunt über dies
Intereſſe.
„Und du? Was machſt du hier?“
„Ich bin hier auf 'm Hof, beim Vieh.“
Ernſt nickte. Die Unterhaltung war etwas
! eintönig. Warum konnte er nicht mit ihm
die Amfel flötete von dem großen Ahornbaum, ı auf und ab fehlendern und alte Erinnerungen
in den Heden jchrieen die Spatzen.
fih leife an und verließ das Zimmer.
Er zog wachrufen?
|
Mas trennte fie? Beide junge
Männer in gleichem Alter mit gemeinschaftlich
Einfamteit.
verlebter Kindheit. Er ſah ihn noch einmal ! weiter,
an und faßte wieder feine riefige Fauit.
„Na, für beute laß es gut fein, alter
Burſche.“
Er ging weiter. Der ſtand wohl noch
und ſah ihm nach, wußte nicht recht, was er
aus dieſem Wiederſehen machen ſollte. Damals
war er ſo munter, ſpitzbübiſch und redegewandt
geweſen, wie Ernſt ſelber. Nun ſchien es,
als fände in den breiten Schädel nichts ein,
noch aus. Einfach eine andre Welt, die kaum
ein Herüberwirken bulbete.
Nachdenklich ſchritt Ernft die Allee hinauf.
Der Himmel war jegt mit Wolfen bezogen, '
die fih durch⸗ und voreinander ſchoben.
Die |
Luft war dadurch etwas ſchwerer, aber ber !
‚nicht. Dann wieder ging der Weg aufwärts,
: tiefer zwiſchen die grauen Stämme.
ganze Frühlingsduft füßer und intenfiver.
Der Waldrand lodte in blauer Ferne. Man
ging faum eine halbe Stunde, dann ftand
man zwiſchen Buchenftämmen, konnte die Wege |
gehen, die man als Junge mit Vogelſchlingen
und Teſching beſchlichen hatte, fih in das
Moos lagern, wo man in Schillers Räubern |
: Blättern, fprang von den Äſten ab, tropfte
! auf die Erde — ein prachtooller, buftender
gelefen hatte, mit geballten Fäuſten und
glühenden Baden over aud) bitterlich ſchluchzend.
Liſa würde faum vor neun Uhr wach fein,
dann war er lange zurüd. Bei dem bebedten
Wetter ging es ſich noch beſſer ald bei heißem
Sonnenſchein.
So ſchritt er kurz entſchloſſen zu. Der
Weg war troden tie nad langer Wärme,
«8 mar aud wenig Tau gefallen. Das
Getreide ringsum ftand hoch in ten Halmen.
Die Lerhen fangen. Er fuchte fie fo lange
body in den Wollen, bis feine Augen förmlich)
geblendet waren. Endlich entdedte er ſolch
einen kleinen, zitternden Punlt, von dem all ;
der Wohllaut auf ihn ftrömte. Am Rain
blühte Mohn, wild, üppig, nicht nur ſolch ein
paar blafje Stengel wie auf den Feldern um
Berlin. Und bort ftand ein Übftbaum in
Blüte, und Bier rann ein Bad mit Vergiß⸗
meinnicht am Rand.
Endlich erreichte er die erften, ſchwarzen
Tannen. Dit verwachſen, daß feiner einen
Pfad hindurch finden mochte, ftanden fie und |
hüteten den Eingang. Bald miſchten ſich
Zaubbäume darunter, und ſchließlich ſchritt er
zwiſchen breiten, glatten Buchenjtämmen hin.
Nur die Vögel fangen. Gr ging immer
188
ohne auf einzelnes zu fchauen,
ohne auf einzelnes zu laujchen, nur von ges
waltigem, ftrengem Zauber umfponnen. Der
Wald atmete, ein gebämpftes, faſt fernes
Saufen zog an den Wipfeln durch bie Luft.
Die Vögel fprangen an den Äſten hin. Ein
‚ fräftiger Blattgeruch von ber feuchten Erbe
fühlte den fügen rühlingsbuft. Hin und
wieder blidte der Himmel durd die Kronen,
er mar nun mit einem fait ſchweren Grau
bezogen, die Sonne fand feinen Durdblid
mehr. An einer feuchten Lichtung, über bie
der Pfad führte, wuchſen Binfen. Seine
Füße fehritten über ſchwarzen, weich nad:
gebenten Grund. Libellen fuhren durch die
glanzloje Luft, ihre hellen Flügel funtelten
Nun begann ein großes Naufchen in ben
Blättern, ohne daß ein Wind die Zmeige
rührte. Ernft ſchaute empor, ein kühler Tropfen
ſchlug in fein Gefiht, einer, mehrere. Es
tlopfte und trommelte auf ben blanfen, jungen
Frühjahrsregen. Die Vögel rafchelten im
Laub und ſuchten Schuß, dazwiſchen erflangen
doch wieder, nur leifer, verftohlener, ihre füßen
Stimmen. Aber auch Krähen ſchrieen, flogen
mit ſchweren, geräufchvollen Flügelſchlägen
dur die Bäume. Ernft ging weiter und
weiter. Er hatte einen leichten, eleganten
Sommeranzug und dünne Stiefel an, die für
das Berliner Pflafter gemacht waren. Cs
war ihm aber zu ungewohnt und Töjtlih, in
diejem einfamen Wetter hinzutvandern, achtlos
ſich aufzugeben, all die unruhigen Gedanken
raften zu laſſen, nur fühlend, mitten in ber
Natur zu fein. Der Guß wurde ftärfer. Der
Weg, das Moos glänzten feucht, an den
Gräfern und Blumen hingen zitternde Tropfen,
immer fräftiger, voller ward der Geruch, der
von den Blättern, aus dem Boden ftieg.
Endlich dachte er doch am den Heimweg,
ging mit rafchen, belebten Schritten zurüd.
Das Schlimmfte aber blieb ihm noch zu über:
ftehen, als er den Waldrand erreicht hatte.
Bisher waren ibm die Bäume noch ein ge=
wiſſer Schuß geweſen, nun aber fam das
lange Stüd Wegs über freies Feld. or
140 Einfamteit.
Übermut lachend, gab er die Hoffnung auf,
mit einem einzigen trodenen Faden nad)
Haufe zu fommen. Er nahm den Hut ab,
bon dem das Waſſer in Etrömen rann und
fämpfte ſich auf dem platten, lehmigen Boden
vorwärts. Noch immer brängten neue, dunfle
Wolkenwände ſchwer und langfam nad).
Als er den Hof erreichte, war der völlig
verödet, fein Menſch war zu ſehen. Ihm war
es recht, denn er kam fich Doch etwas zmeifel-
baft in feinem Aufzug vor. Er ging durch
die Hinterthür in das Haus, um erft in
erneuter Geftalt vor Lifa zu erfcheinen. Nun
war es doch Später geworben, als er gebadıt
hatte, und ſie hatte den erjten Morgen allein
verbradt. Vom Echlafzimmerfenfter aus fah
er fie auf der glasgebedten Veranda fißen.
Sie faß, friſch und lieblih, in einen bequemen
Stuhl gelehnt und lag. Der Tiih mar zum
zweiten Frühſtück gededt, ein Glas mit Rofen
Itand darauf. Es war ein traulider Anblid,
der ihm das Herz warm madte. Nachdem
er fich umgezogen hatte, eilte er hinaus und
fniete vor ihr nieder, ihre beiden Hände
küſſend.
„Ich babe mic verſpätet,“ ſagte er. „Per:
gieb mir.”
„Der Himmel bat hid) ja geſtraft,“ er-
widerte fie lachend. „Biſt du pubelnaß ge:
worden, Armer?”
„Es war köſtlich,“ rief er, „morgen ftehen
wir um fünf Uhr auf und jpazieren wie
Märchenkinder in das Feenreich hinein.”
„Rate, was ich für dich habe,” ſagte Lifa
und legte mit geheimnisvollem Lächeln die
Hand auf den Til.
Cr fann vergeblih nad. Triumphierend
erhob fie einen dicken Brief.
„Bon Direktor Hanfen,” rief fie. „Er
will dein neues Stüd annehmen und, wenn
er es zur Zeit befommt, im Winter auf:
führen.”
Ernft zudte die Achſeln. „Borläufig rühr’
ich feine Feder an und mag gar nicht daran
denen, wieviel an dem Dinge noch zu
machen ift.“
Sie ſah ihn etwas erftaunt an. „Du
willft dir doch dieſe Chance nicht entgehen
laſſen?“ fragte fie in ungläubigem Ton.
„Du willſt doch nicht, daß ich um irgend
eines bummen Vorteil willen Unwahres und
Geſchraubtes zufammenfchmiere, zu dem mir die
Luſt fehlt?” rief er mit flammenben Augen.
„Zu diefem Stüd fehlt dir die Luft? Das
dich fo begeiftert bat, dich bie Nächte über
wach bielt? Und auf einmal aus, langweilig?
Das glaube ich dir nicht.“
„Mich dünkt, das paßt gar nicht hierher,”
lagte er. „Hier wollte ih etwas andres
ichreiben, das beiler und wahrer wäre.”
Liſa's Lippen zitterten. „Paßt du aud
bierher, Ernft?” fragte fte dringlich.
Ein Schatten glitt über fein Geſicht. Er
trat von ihr fort und ſah hinaus auf ben
naffen Nafen, in den eintönigen Himmel.
Konnte er ihr fagen, daß er fih bier, wo er
erit feit gejtern war, heimifch fühlte, ganz
glücklich, ganz ftil, ganz für immer zufrieden
gegeben; nur gewillt, Wahres, Grades, Tiefes
zu fchaffen aus dem, quellenden Schak feines
innern. Reihtums? Er wollte nicht mehr die
ſatiriſche Geißel Schwingen oder pathologifche
Eintagserfcheinungen ihre buiteriichen Krämpfe
auf der Bühne austoben laffen. Gefunde
Leidenschaften und blutwolles Leben, blutvolles
Leben vor allem. Liſa dachte darin fo anders.
Hatte fie das, mas mohl eigentlih nur ein
Sichjelberuntreufein geweſen, für feine wahre
Natur gehalten, das geliebt, darin ihn ge-
funden? Dann rächte fih alfo jede Untreue.
Dann ftellte man damit einen Schulbidein
aus, den man nicht einlöfen fonnte. Dann
giebt e3 nur eins, immer wahr fein, bis zur
Härte wahr fein, fonft fommt man leicht dahin,
ſich felbjt den Etrid zu drehen.
Das Mädchen fam mit einem Tablett mit
Setzeiern. Er wandte fih raſch un und griff
nach dem Brief.
„ir wollen einmal ſehen, vielleicht macht
es ſich,“ fagte er zu Life.
Und das wieder nur, weil fie die Augen
gejenft hielt, und er ſah, wie eine Thräne
zwiſchen den Wimpern zitterte.
(Fortfegung folgt.)
ER
11
Über Kindesmord und Kindesmörderinnen.
Bon
Gefängnisdirektor Rüſtow (Wronke).
Radtrud verboten. .
8 mag vielleicht im erften Nugenblid fonderbar ericheinen, einen ſolchen Stoff
in einer Zeitfhrift zu beſprechen, die ihren Leſerkreis vorzugsweife in der
Frauenwelt Hat. Und doch, glaube ich, läßt es fich rechtfertigen, weil einmal
der Kindesmord, wie ihn das Deutiche Strafrecht auffaßt, das einzige Verbrechen ift,
das nur von einer Perfon weiblichen Gefchlecht3 begangen werden kann, weil ferner
jrade dieſes, leider ſehr häufige Verbrechen in mannigfacher Bezichung zur Frauen:
age überhaupt fteht und weil ſchließlich vorzugsweiſe weibliche Fürforgethätigkeit
berufen ift, diejem Übel vorbeugend entgegenzumirfen.
Welches Interefie übrigens dem Gegenftand jo lange und überall, wo es ein
wirkliches Strafrecht gegeben hat, ſowohl von juriftiicher, wie Arztlicher Seite geſchenkt
worden ift, gebt auch aus der jehr umfangreichen Litteratur ') hervor, die ſich feit nunmehr
über einem Jahrhundert darüber angefammelt hat.
Giebt es doch laum ein zweites Verbrechen, das zu dem verichiedenen Zeiten
und bei den verjchiedenen Völkern eine jo grundverfchiedene Beurteilung erfahren hat,
wie grade ber Kindesmord oder die Kindeötötung, von der Auffaffung als Verwandien⸗
mord, alfo der fchlimmften Art des gemeinen Mordes, beginnend bis zu der Sonder
ftelung, die dem Kindesmorde heute bei jaft allen Völkern unter den Verbrechen gegen
das Leben eingeräumt worden ift und die vielleicht nur noch mit dem Privilegium
verglichen werden fan, dad bie Tötung im Ziveilampfe genießt.
chen wir ab von der noch heute bei Naturvölfern beftehenden Unfitte der
Kindestötung, fo liegt der Zeitpunlt ihrer Duldung bei den Kulturvölfern jeden:
falls ſehr weit zurüd. Die Zuläffigleit der Tötung Früppelbafter oder befonders
ſchwachlicher Kinder, wie fie unter Nomulus gejeglich beftanden haben joll, darf wohl
als der lette Reſt einer Duldung des Kindesmordes bei den Römern angejehen werden.
Jedenfalls hat der Kindesmord im römifchen Recht die Sonderftellung, die ihm die
modernen Rechte einräumen, nicht gehabt, ijt vielmehr ebenfo, wie gemeiner, beziehungs⸗
weile Verwandtenmord geahndet worden.
Dasjelbe gilt vom altgermanifchen Recht. Zwar hatte der Vater vermöge der
fogenannten Mundſchaft ein ähnliches Recht über Leben und Tod des neugeborenen
Kindes, wie ed in ber römijchen patria potestas beftand; eine Tötung des Kindes
durch die Mutter wurde aber auch nad) altdeutichem Rechte lediglich als Veriwandten:
mord betrachtet und zwar ohne Nüdjicht darauf, ob e3 fih um ein eheliches oder
uneheliches handelte. In legterem Umftande wurde jugar, und darin liegt der fchroffite
Gegenfa zu unferer beutigen Auffaſſung, ein Strafichärfungsgrund geſehen. Diejen
Standpunft, der fid) ja allerdings auf beſonders ftrenge Sittengefege ftügt, nahm dann
aud das kanoniſche Recht ein, bei dem übrigens injofern eine gewiſſe Ähnlichkeit mit
1) Xitteratur: Dr. Aarl Grolmann: Grundjäge der Ariminalwijienihaft. Dr. J. C. A. Mitter:
meber (Feuerbadh): Lehrbuch; des peinlidhen Rechtes. &. P. Gans: Yon dem Verbrechen des Rinbes:
morbed. Dr. jur. Carl Gloßmann: Die Kindestötung. Dr. jur. Jul. Wehrli: Der Kindesmord.
Dr. Hans Pörfler: Ter Geifteägujtand der Gebärenden. Dr. X. v. Nrafft:Ebing: Grundzüge
ber Ariminal:Pfochologie. Dr. Moris Freper: Die Dhnmacht bei der Geburt. Dr. €. Bleuler:
Der geborene Verbrecher.
Über Kindeömord und Kindesmörderinnen. ‘ 148
dem Gedanken, die Schande abzufchaffen, als die es ehemals galt, fih mit
Frauenzimmern zu verheiraten, die Mutter waren, ohne verehelicht zu Fin: ich weiß
nicht, ob mir dies nicht gelingen wird”. So ber große König! Schade, daß nicht
auch die Anficht Voltaire bekannt ift, als Vertreter des Landes, das fi, wenn ic)
nicht irre, allein noch bis jegt der milderen Beurteilung des Kindesmordes feitend der
anderen Bölfer nicht angeſchloſſen hat.
Eine weitere gelindere Auffafiung bat dann der Kindesmord in dem Strafr
geſetzbuch für das deutjche Neich erfahren. Der bezügliche Paragraph lautet:
„Eine Mutter, welche ihr unebeliches Kind in oder gleich nach der Geburt
vorjäglich tötet, wird mit Zuchthaus nicht unter drei Jahren beftrajt. Sind mildernde
Umftände vorhanden, fo tritt Gefängnisftrafe nicht unter zwei ‚Jahren ein.”
Dazu fagt Liszt in feiner Darftellung des deutſchen Strafrechts: „Der Iegislative
Grund für bie mildere Beurteilung der Kindestötung liegt einerfeit3 in der Gtärfe
der bie unehelich Gebärende zur Tütung treibenden Motive, andererjeit3 in der durch
den Gebärakt hervorgerufenen Verminderung der Zurechnungsfähigteit.”
Es ift alfo zweierlei, dad auf den Begriff de3 Sindesmordes von Einfluß
geweſen ift, einmal die Beweggründe und dann der Fürperliche und feelifche Zuftand
der Mutter, während und unmittelbar nach der Geburt.
Betrachten wir nun dieſe Gründe etwas näher und zwar zunächft die möglichen
Beweggründe der Mutter. Deren können cd im iwejentlichen wiederum zwei jein: bie
Rüdfiht auf die Wahrung der Ehre und die bedrängte Lage.
Von dem erſten jagt Feuerbach in feinem Lehrbuch des peinlichen Nechts:
„Die Furt vor dem Werlufl der Geſchlechtsehre, dieje gewöhnliche, an fich edle
und gerade in befferen Gemütern vorzüglid gewaltige Triebfeder zur Vegehung des
Kindesmordes ift der Hauptgrund, der dieſes Verbrechen gegen den gemeinen Der:
wandtenmord auf eine geringere Etufe der Strafbarteit herabjegt!" Das klingt ja
im erften Augenblick fehr ſchön und einleuchtend, bat aber doch ernite Bedenken gegen
ſich und wird deshalb auch keineswegs allgemein anerkannt. Wollte man jeden fcheinbar
edlen Beweggrund als ftrafmildernd annehmen, jo würde das Necht ſehr bald auf
fchiefe Bahnen geraten. Der Zwed fann und darf dies Mittel nicht heiligen!
Wie erklärt es fih nun aber, daß felbft ein Feuerbach dem Beweggrunde der
Rettung der Gefchlechtächte eine jo große Bedeutung zuerkannt hat? Ich möchte es
als eine gewiſſermaßen natürliche Rüdwirkung betrachten; man fiel aus einem Extrem
ind andere. Hatte man früher den unfittlichen Lebenswandel der Mutter, die Ber:
heimlichung von Scmwangerfhaft und Geburt als ſchwere Strafihärfungsgründe
betrachtet, fo follte num auf einmal mit dem edlen Motiv, wenn nicht alles, jo doch
vieles entjchuldigt werben. In beiden Fälen ging man entihieden zu weit; denn,
that ein Mädchen nichts, um ihren Zuftand zu verheimlichen, war fie in der ſchweren
Stunde nicht allein und auf ſich felbit angewieien, jo hatte die Tötung de3 Kindes
mit Nüdficht auf die Erhaltung der Ehre feinen Zinn mehr! Empfindet aber andrer:
ſeits ein Mädchen jo jchwere Gewiſſensbiſſe über den Verluft ihrer Ehre, daß fie vor
feinem Mittel zurüdichredt, der Schande zu entgehen, jo liegt jedenfalls Selbftmord
ſeht viel näher, als Kindesmord und iſt ficherlich ſowohl eher zu begreifen, wie zu
entfchuldigen. Im übrigen ift e3 aber, beſonders in den Streifen, aus denen bie
Mehrzahl der Kindesmörderinnen hervorgeht und auch früher hervorging, mit den Ehr—
begriffen gar nicht jo weit her. Gab es doch im guten deutfchen Neiche (und giebt
es vielleicht noch) Gegenden, in denen an eine Heirat überhaupt nicht gedacht wurde,
fo lange nicht ein Sind oder wenigſtens Ausficht auf ein ſolches vorhanden war.
Das Moment der Schande kam erſt dann in Betracht, wenn zu dem Kinde der Vater
fehlte. Nun erft traf dag Mädchen die allgemeine Verachtung, und wenn fie jchließlic)
zum Verbrechen gelangte oder getrieben wurde, jo war es etwa nicht Schamgefühl im
Sinne ftrenger Sittlichleit, was ſie dahin brachte, fondern vielmehr die Angit vor
einer Schande, die ganz erheblich durdy ein anderes Moment bedingt wurde, durch die
ſich aus ihrem Zuftande ergebende Not und Bedrängnis. So und nicht anders iſt's
aber noch Heutigen Tages. Das können gerade wir Gefüngnizbeamten beobachten,
144 Über Kindesmord und Kindesmörderinnen.
wenn wir in den Briefen an die Gefangenen leſen, wie jo häufig Heirat und Kind:
taufe in recht bedenklich kurzen Zeiträumen vor oder nacheinander gefeiert werden,
ohne daß darin etwas bejonder3 Ungehörige® gefunden würde. Je mehr alfo der
Berveggrund der Wahrung der Ehre an Anerkennung verlor, je mehr man fich von
der Unhaltbarkeit der Grolmann:Feuerbadh’fchen Lehre überzeugte, deſto mehr fand
allmählich der andere mögliche Beweggrund Berüdjichtigung, nämlich der: der bedrängten
Lage der Mutter.
Vergegenmwärligen wir ung einmal, mie e3 einer folchen Bedauernswerten geht.
Bon ihren Arbeitsgenoſſinnen mit Tpigen, Tränfenden Redensarten verfolgt, von den
jungen Burfchen gemieden oder vielleicht erft recht mit unfauberen Anträgen beläftigt,
muß fie täglich von Eltern und Verwandten Vorwürfe hören, ja es wird ihr vielleicht
gedroht, daß fie dad Elternhaus verlaffen müßte. Zumeilen mag dabei auch Not und
Armut mitjprechen, die durch einen etwaigen Familienzuwachs natürlich nicht verringert
werden würden, jedenfalld wird der rmften das Elternhaus zu einer Stätte der
Dual, und das umjomehr, je näher die ſchwere Stunde heranrüdt und fich ihre Arbeits:
fähigkeit naturgemäß vermindert.
Iſt fie in einem Dienft, namentlich in einem jogenannten befjeren, jo wird ihr
wohlmweizlich rechtzeitig gekündigt, und in vielen Fällen fragt die Herrichaft nicht danach,
was nun aus ihr werden joll, obgleich man ſich wohl jagen könnte, dap ein Mädchen
in ſolchem Zuftande doch jelbjtverftändlich feinen andern Dienſt mehr findet.
Zieht dann auch der Verführer feine Hand von ihr ab, verläßt fie der Bräutigann,
jo erreicht die Verziveiflung, nun aller Eriftenzmittel beraubt, für zwei ſorgen zu müfjen,
die troftloje Gewißheit, jede Ausſicht auf ein gutes Fortlommen, jei e8 durch Dienit
oder Heirat verloren zu haben, ihren Höhepunkt, und der Schritt zum fcheinbar allein
noch übrigen Ausweg, d. h. zum Verbrechen, wird bedenklich fur. Und doch darf
auch in der Würdigung ſolcher Gründe, die ſchließlich ale mehr oder weniger auf
dasſelbe, die materielle Not, hinauslaufen, nicht zu weit gegangen iverden; denn eine
folche Notlage Tann nicht nur ebenfo gut bei einer ehelichen Mutter eintreten, jondern
fie thut es thatfächlih in unzähligen Fällen.
Kann ſchon in jeder Arbeiterfamilie mit reichem Kinderjegen jeder neue Zuwachs
eine Duelle ſchwerer Sorge werden, wieviel mehr muß das da der Fall fein, mo ber
Ernäbrer vielleicht durch Krankheit und Siechtum in feiner Erwerbsfähigkeit Gefchränft
ift oder wo fchließlich nach feinem Tode die Witwe nicht nur allein die Verforgung
der Familie übernehmen muß, jondern durch die Ausficht auf eine weitere Vermehrung
der Kinderzahl vor noch größere Sorgen geftellt if. Hätte nicht eine jolche Mutter weit
mehr Veranlaffung zur verzweifelten That, als dag Mädchen, das doch ſchließlich nur
- für zwei zu forgen hat?
Es würde alſo geradezu ungerecht fein, wollte man der unehelichen Mutter
einen Entjchuldigungsgrund Sugefteben, ber der ehelichen verſagt if. Schließlich
aber könnte die Notlage mit demjelben Recht bei fo und fo viel andren Ber:
brecben vom einfachen Diebftahl bis zum Raubmord ala Enifchuldigungsgrund heran:
gezogen werden.
| Hat daher eine einfeitige und übertriebene Würdigung auch dieſes rundes „der
bedrängten Lage der Mutter” ihre ſehr erniten Bedenken, fo verdient er doch weit:
gehendſte Berüdjichtigung in Beziehung zu dem förperlichen und namentlich ſeeliſchen
Zuſtande der Gebärenden.
Dieſes Moment der geminderten Zurechnungsfähigfeit konnte fih natürlich erft
mit den Fortfchritten der medizinischen Wiſſenſchaft jo weit entwideln, daß ed jebt
und zivar mit vollem Recht im Vordergrunde der Beurteilung des Kindesmordes ſteht
bezw. auf die Yaflung des 8 217 unferes Strafgefegbuches von weſentlichem Einfluß
ift, von der Krafft-Ehring jagt:
„Diele humane Würdigung des puerperalen Zuftandes entiprang der Er—
fenntnig, daß bier gewaltige körperliche Vorgänge, beftige Affefte und pſychiſche
Aha bis zur tranfitorischen Trübung und Aufhebung de3 Selbſtbewußtſeins im
piele find.”
Über Kindesmord und Kindedmörderinnen. 145
Nun könnte man ja den oben erhobenen Einwand, daß ſolche Zuftände doch bei
jeder Geburt, aljo auch bei ber ehelichen, eintreten können, auch bier machen.
Zweifellos iſt das in gewiſſem Sinne richtig.
Angfi: und Erregungszuſtande fönnen vor jeder Geburt und Ohnmacht: und
Erihöpfungszuftände bei und nach jeder eintreten. Gie werden aber bei ber
unebelichen, heimlichen Geburt begünftigt durch die oben erörterten Verhältniſſe während
der Zeit der Entwidlung des Kindes. Zu der Angft vor dem Geburtsakte felbft tritt
noch die Furcht vor der Schande. Die Sorge um die Zufunft, an ſich fchon geeignet
Gemütsdepreffionen hervorzurufen, wird, wo ohnehin Neigung dazu vorhanden ift,
diefelben noch verfchlimmern, mangelnde Pflege in der Zeit vor der Geburt die bereits
aufs höchfte in Anſpruch genommenen Körperfräfte ſchwachen und dadurch dem Eintreten
von Erihöpfungszuftänden geradezu vorarbeiten, die wiederum, gefteigert durch das
Gefühl der Hilflofigkeit bei dem Geburtsakte felbit, wohl geeignet find, auch Ohnmachten
herbeizuführen.
Alles das, was aljo bei ber ehelichen Geburt mildernd wirkt: liebevolle Pflege,
freundlicher, tröftender Zuſpruch, fachgemäßer Beiſtand und nicht zum weniaften bie
frohe Hoffnung auf dad zu erwartende Sindchen fehlt bei der unehelichen, heimlichen
Geburt, und deshalb ift e3 ſicher nicht zu verwundern, wenn die Störungen, die bei
einem den ganzen Organismus der Frau derart in Mitleidenichaft ziebenden Vorgang
überhaupt eintreten fönnen, bier leichter zu Äußerungen der Verzweiflung, ja zur
völligen Verwirrung der Einne führen.
Aber auch Hier muß, wie fchon bei den vorangeführten Gründen, vor einfeitiger
Würdigung, befonder3 aber vor jeder Verallgemeinerung gewarnt werden. Daß die
geſchilderten Störungen eintreten können, wird von allen ärztlichen Autoritäten an:
erfannt, daß fie bei jeder Geburt eintreten müflen, aber ebenſo beſtimmt verneint.
Wenn daher au auf dad Moment der verminderten Zurechnungsfühigfeit das
Hauptgewicht gelegt werben muß, jo ift dasjelbe doch mit außerſter Vorjicht zu prüfen,
weil gerade hierfür in den meiften Füllen (aljo unbedingt bei allen heimlichen Geburten)
ein fachlicher Beweis nicht zu erbringen ift, vielmehr nur eine rein perjünliche
Behauptung der Angellagten vorliegen kann. Ganz beſonders aber gilt dies von
den zuweilen behaupteten Ohnmachten und dem angeblich durch diefelben veranlaßten
Ableben der Kinder. Zu beweiſen find fie natürlich nur in ben ſehr feltenen Fällen,
in denen etwa die Vetreffende noch in der Ohnmacht gefunden wird.
Würde man aljo folhen Behauptungen allzuviel Glauben beimefjen, fo müßte
ſehr Häufig auf Freifprehung erkannt werden, wenn nit aus der Verheimlichung der
Geburt der Thatbeftand der vorjäglichen oder fahrläffigen Tötung infofern gefolgert
werden könnte, als durch die ſelbſtverſchuldete Hilfslofigkeit der Mutter der Tod des
Kindes veranlaft worden if. Nach unjerem Strafrecht erſcheint das jedenfalls
zuläffig, wenngleich dazfelbe eine unmittelbar darauf hinausgehende Beſtimmung
nicht enthält.
* *
*
Es ift fehr zu bedauern, daß e3 gerade über den Kindesmord eine eingehende
Statiftit_ nicht giebt; eine ſolche wäre ſowohl für Juriften, wie für Arzte, ja ſelbſt
für die Laien, die doch als Geſchworene über dieſes Verbrechen urteilen müjlen, gewiß
von großem Wert, der natürlich den Beobachtungen und Grfahrungen in einer
einzelnen Anftalt nicht beigemefien werden kann. Immerhin dürften aber doch die
bier gefammelten Zahlen, beſonders über die Häufigkeit der verfchiedenen Arten von
Entfhuldigungsgründen, von Intereſſe fein.
Von den bis jest, aljo in einem Zeitraum von 6 Jahren, hier in Haft geweſenen
258 erwachſenen (d. h. über 18 Jahre alten) weiblihen Perſonen waren 90,
d. i. etwa '/, wegen Kindesmordes und verwandter Verbrechen beftraft. Unter
denfelben befanden I 3 Ehefrauen, eine verlaffene Frau und 6 Witwen, die tiber
wiegende Mehrzahl (90 Prozent) waren Mädchen.
10
146 . Über Kindesmorb und Kindbesmörberinnen.
Bon denjelben entjchuldigte fich, bei der Einlieferung nach den Beweggründen
bezw. Urjachen ihrer Verbrechen befragt, etwa der vierte Teil mit Scham über ihre
Schande, vier (dad find etwa 5 Prozent) mit Obnmacht bei der Geburt und die
Hälfte mit bedrängter Lage. Bei den lehteren handelte es fich nur in fehr wenigen
Fällen um wirkliche materielle Not, meift war es Angſt vor den Bortwürfen der Eltern,
Verwandten und Herrichaften, Verbot des Elternhaufes, drohende Dienftentlaffung,
was fie in legter Linie zu dem Verbrechen veranlaßt hatte. Alle ftammten aus der
Provinz Poſen, wenigſtens die Hälfte ftand im Dienftverhältnig, die Mehrzahl gehörte
der Zandbevälferung an.
Hervorheben muß ich noch, daß wir es Bier, im Gefängnis, nur mit ſolchen
Fällen zu thun Haben, in denen mildernde Umftände zugebilligt worden find, wobei
wiederum vorzugsweiſe die Annahme verminderter Zurechnungsfähigfeit den Ausſchlag
gegeben bat. Wir können aljo diefen Milderungsgrund, weil er in faft allen Fällen
mehr oder weniger berüdjichtigt worden ift, bei der Betrachtung’der anderen Beweg⸗
gründe ausſcheiden. Unter den legteren fällt nun vor allem die große Zahl der
Entjchuldigungen mit bebrängter Lage auf, und in der That ſpricht diefe Zahl im
Verein mit der hohen Gejamtziffer des Verbrechens in unferer Provinz überhaupt
eine nur zu beredte Sprache. Sie weift uns bin auf traurige wirtjchaftliche Verhältniſſe,
auf wenig günftige Beziehungen zwifchen Dienftboten und Herrfchaften, aber aud auf
Gefühlöroheit und zügellofen Verkehr der Gefchlechter untereinander. Nicht zum
wenigſten ift daran zweifellos die unglüdjelige Sachſengängerei jchuld, die leider mit
jedem Sahre größere Ausdehnung annimmt.
Prüfen wir die in etwa 25 Prozent der Säle vorgefchügte Scham über ben
Berluft der Ehre auf ihren Wert, jo Fünnen wir ihn ſchon nach dem eben Gefagten
nicht befonder® hoch bemeffen. Auch aus dem fchon oben erwähnten Umftand, daß
man in den Streifen, denen die Mehrzahl der Kindesmörderinnen entitammt, gegen
etwas frühe Geburten nicht eben empfindlich ift, kann auf ein feiner entwideltes
Sittlichleitägefühl nicht gejchloffen werden. Ein folches wäre aber doch die unerläßliche
Bedingung für das Vorhandenſein eines Schamgefühls, das in feiner Bethätigung felbft
vor jchweren Verbrechen nicht zurüdichredt. In Wirklichkeit find aber auch die oben
erwähnten Angaben der Gefangenen bei ihrer Aufnahme in den meiften Fällen gar
nicht ernft zu nehmen. Sie glauben auf die an fie gejtellte Frage etivad antworten zu
müſſen und find ſchlau genug, fich die Entjchuldigung auszufuchen, die, wenn fie
wahr wäre, auf die Beamten den günftigften Eindrud machen müßte. Trotz alledem
befigen aber doch die Kindesmörderinnen unter den Gefangenen noch das meilte
Ehrgefühl. Sie bieten dementjprechend die größte Hoffnung auf Bellerung und
ericheinen deshalb in allererjter Linie der Fürſorge würdig, Eigentümlicher Weile
begegnen wir aber gerade bei ihrer Unterbringung nach der Entlaffung, befonders
von weiblicher Seite einer Scheu und einem Vorurteil, die neben dem begreiflichen
Abjcheu wor der Berührung mit einer fittlich Gefallenen nur durch Unkenntnis der
Verhältniffe erklärt werden fünnen. Beiden entgegenzumirfen war daber einer der
Hauptgründe zur Niederjchrift diefer Zeilen. Wenn der Abſcheu vor dem Unfittlichen
jeine Trägerin gewiß nur ehrt, jo darf dieſes Gefühl doch nie in Phariläertum
ausarten, und nimmermebr darf e3 heißen: „Herr, ich danke dir, daß ich nicht bin
wie jene”, fondern vielmehr „daß du mich vor dem Elend, vor der Verjuchung
bewahrt haft, denen meine unglüdliche Mitfchweiter zum Opfer gefallen ift.“
Sehr richtig jagt da Dr. Bleuler in feiner Beſprechung des Lombrojo'fchen
Werkes über den geborenen Verbrecher: „der Schande zu entgehen, ift für ein gut
fituierte Mädchen, das immer unter dem Schuge der Familie bleibt, Feine befondere
Leiftung, während eine einzeln ftehende Arbeiterin, die mit der Not zu kämpfen Bat,
wenigſtens in ſtädtiſchen Verhältnifien einer übermittelmäßigen Charafterftärke bedarf,
um nicht zu fallen.” Sit diefer Ausſpruch an der betreffenden Stelle auch auf eine
andere Kategorie von Gefallenen zu beziehen, jo läßt er fich doch ebenſo gut auf
die ländlichen Verhältniffe anwenden, aus denen in der Mehrzahl die Unglüdlichen
hervorgehen, mit denen wir und eben bejchäftigt haben. Da liegt nun die Frage
Über Kindesmord und Rindesmörderinnen. 147
nahe, weöhalb denn gerade auf dem Lande der Kindesmord am häufigften vorkommt.
gen falfch wäre es, daraus auf größere Unfittlichfeit der Landbevölferung zu
fchließen. Der Grund dürfte vielmehr darin liegen, daß dad weniger von der Kultur
berührte Lanbmädchen fich des roheren Mittels bedient, während in der Stadt mehr,
wenn ich fo jagen darf, feinere Mittel zur Anwendung fommen. Man wartet da nicht
fo lange, wie dad dumme Bauernmädchen, fondern geht zu einer Mugen Frau, die
dann für Geld und gute Worte das feimende Leben vernichtet. Oder aber, ed bietet
fih in den Städten befiere Gelegenheit zu heimlichen Geburten, und es giebt ebenda
fo viele Frauen, die für ein Billiged die jogenannte Pflege folcher heimlich geborenen
Kinder übernehmen. Und wenn dann das arme Würmchen, — felbfiverftändlich nie
durch Verfchulden der edlen Pflegerin — zum Engel wird, jo bat doch die Mutter feinen
Mori jangen!? Eind aber diefe gewiſſenloſen Mädchen, die ihr Kind bewußt einer
Engelmacperin übergeben, bewußt deshalb, weil fie ſich fehr wohl jagen können, daß
für ein jo erbarmliches Sündengeld fein Kind ernährt werden dann, nicht viel
ſchlimmer al3 die wirklichen Kindesmörberinnen?
Deshalb möchte ich an alle mit mir empfindenden Frauen und Mädchen die Herzliche
Bitte richten: werfen Sie nicht den erften Stein auf jene Unglüdlichen! Als ich vor
Jahren von meiner Probedienflleiftung für den Strafanftaltdienft zurüdkehrte, fragte
mich eine Dame, ob ich denn vor ber Berührung mit dem Auswurf der Menichheit
fein Grauen empfunden hätte. Gewiß mußte ich diefe Frage bejahen, aber ich konnte
gleichzeitig verfihern, daß Schließlich doch herzliches Mitleid, aufrichtiges Mitgefühl
mit jenen Unglüdlichen die Oberhand gewonnen hätten, beſonders wenn ſich mir oft
genug die Frage aufbrängte: Was wäre wohl aus dir getvorden, wenn bu in gleicher
Umgebung, unter foldhen Vorbildern und in dem Elend aufgewachien wäreft, wie jene?
Und fo, meine ih, könnte auch jede Frau denken, ohne ſich eiwas an ihrer Selbſtachtung
zu vergeben.
Es bliebe nun noch zu erörtern, wie dem beiprochenen Verbrechen am wirfjamften
vorgebeugt werben kann? Da möchte ich vor allem auf den oben citierten Ausſpruch
Friebrichd des Großen verweilen! Was der große König dereinft gejagt hat, ift auch
beute noch richtig, und wenn auch feine Herrichaft mehr verpflichtet ift, über derartige
Wahrnehmungen an ihren Dienitboten dem Gericht Anzeige zu machen, fo ift es doch
eine heilige Pflicht der Dienftherrichaft, ihrem Gefinde beizuftehen, den Mädchen die
Wege zur zeäitgeitigen Aufnahme in eine Entbindungsanftalt zu eben und fich, wenn alles
überftanden, um Wohl und Wehe von Mutter und Kind meiter zu befümmern. In
den Städten finden aber gewiß die Damen der frauenvereine Gelegenheit, ihre
Fürforge ganz beſonders ſolchen Unglüdlichen zuzumenden. Wie fehr gerade in
derartigem Falle rechtzeitiger Troft und Zufpruch von Nöten ift, habe ich erft
türzlich aus den Alten einer Kindesmörderin erfehen, deren Ausfage vor Gericht, als
beſonders bezeichnend, ich hier wörtlich anführe: „Ich Hatte ſchon einige Wochen
vorher den Vorjag, das erwartete Kind zu töten, und zwar deöhalb, weil mein Vater
darüber ſchimpfte, daß ich mich hätte verführen laſſen und meil ich Beſorgnis hegte,
daß ich in Ermangelung einer Mutter weder Obdach noch Nahrung haben würde.
Die Mutter (die kurz vorher geftorben war) hat mir keine Vorwürfe gemacht; wenn
fie gelebt Hätte, würde ich es nicht gethan haben.”
Der Dienfiherr, der al3 Zeuge vernommen wurde, verficherte dann noch dem
Gericht, daß er fie trotz des Kinded im Dienft behalten haben würde.
Weshalb Hat er ihr das nicht vorher, d. h. zur rechten Zeit gejagt?
Mir fallt bei folchen Gelegenheiten immer wieder der alte, gute Spruch ein:
Zur rechten Zeit, am rechten rt,
Vermag gar viel ein gutes Wort.
Und mancher hat es ſchon bereut,
Der es zu ſagen ſich geſcheut!
Gen
19*
Hauswirtſchaftliche Unterweifung armer Mädchen in Deutichland. 148
Jedenfalls Tann das Dienen kaum als die befte und barf noch weniger als bie
einzige Vorfchule für den Arbeiterhaushalt angefehen werben.
Zu diefer Erkenntnis kam man hauptfächlic erft in den fechziger Jahren, als
einige wohlmeinende Großinbuftrielle und andere Gebildete ſich für diefen Zweig der
Fürorge für arme Mädchen zu intereffieren begannen. Die ſchon 1797 in Labeck
und 1826 in Königsberg gegründeten Haushaltungsfchulen find hier nicht zu rechnen,
weil fie die Mädchen zum Dienen, nicht zur Führung ded eigenen Haushaltes vor:
bereiten. Es bildeten ſich Vereine zur Errichtung hauswirtſchaftlicher Kurſe für arme
Mädchen, und dad Intereſſe dafür wurde immer allgemeiner, beſonders angeregt auch
durch bie Initiative deuticher Fürftinnen, der Kaiferin Augufta, der Großherzogin
von Baden, die ihre in Schweben gemachten Beobachtungen noch fpeziel verivertete,
und der Großherzogin von Sachſen⸗Weimar.
Was auf dem Gebiet der hauswirtſchaftlichen Unterweiſung armer Mädchen
geleiftet ift, läßt ſich in verfchiedene Gruppen zerlegen, ich folge darin dem Buche
von Kalle und Kamp):
1. Unterweifung im elterlichen Haufe, in fremden Häufern und in ber
BWaifenpflege.
2. n in Schule und fhulmäßigen Vorkehrungen.
3. „ während der Vollsichulgeit in fogenannten Nebenfchulen.
4. n nad der Volksſchulzeit in Tagesiulen.
5. n in Stundenhaushaltungsfchulen.
6. ” in Fabrikſchulen.
T. n in Anftalten mit anderem Hauptzived.
In Waifenhäufern und ähnlichen Erziefungsanftalten ift hauswirtſchaftliche Unter:
weifung fehr allgemein. Die 1821 gegründete Clijabethenanftalt in Niederramftabt
bei Darmftadt hat von Anfang an bauswirtichaftliche Anleitung in ihr Programm
aufgenommen, ebenfo das 1835 in Coburg errichtete Auguftaftift, die 1867 eröffnete
Jazdzewskiſche Waifenanftalt in Zduny, das Waiſenhaus und Gurſelaſche Stift in
Frankfurt a. D. und andere mehr.
Den erften Verfuch, den hauswirtſchaftlichen Unterricht in die Volksſchule hinein:
zuziehen, unternahm Frau Pfarrer M. Michel in Rappoltsweiler im Elſaß. Sie
begann im Jahre 1872 in den Handarbeitsunterricht, den fie den Volksſchülerinnen
erteilte, einige theoretifche Hinmweife in Bezug auf Hausarbeit, Küche, Krankenküche und
Pflege einzufügen und den Handarbeitsunterricht mehr den Bedürfniffen einer Arbeiter:
frau anzupafien.
Bekannt find die zu Oſtern 1889 in Kaſſel eingeführten Haushaltungskurſe.
Durch Wegfall von zwei Zeichen: und zwei Handarbeiteftunden konnte dem Haus:
baltungsunterricht in der oberften Klaſſe ber Volksihule ein Vormittag eingeräumt
werden. Dabei wird jo verfahren, daß, während die eine Hälfte der Schülerinnen
kocht, die andere mit Nähen und Pugen befehäftigt wird. Nach der Verficherung der
Beteiligten hat ſich das ausgezeichnet bewährt.
In ähnlicher Weife wurde der hauswirtſchaftliche Unterricht in die Chemniger
Vollsſchule eingefügt, ebenfo in Altona, Neumünfter in Holftein, Hameln a. d. Weſer,
Marienburg u.f. wm. Etwas weicht Zwidau ab, wo man einen befonderen Nachmittag
für den Kochunterricht angejegt bat.
Um den Lehrplan der Echule nicht zu kürzen, wurde ferner der Verfuch gemacht,
Haushaltungsnebenſchulen einzurichten, die mit der Volksſchule in feinem direkten
Zufammenhang ftehen, daher auch nicht obligatorifch find. Auch bier ift der Beſuch
unentgeltlih. Schon im Jahre 1839 twurde in Darmſtadt eine derartige Kochſchule
gegründet, die mit der dortigen Mäbchenarbeitäanftalt in Verbindung ftand. Alle
%) Die Hauswirtſchaſtliche Unterweiſung armer Mäbdchen in Deutſchland und im Ausland von
Frig Kae und Dr. Otto Kamp. N. Z. Wiesbaden 3. F. Bergmann.
Hauswirtſchaftliche Unterweiſung armer Mädchen in Deutfchland. 181
Auch in Arbeiterinnenhofpizen und -heimen wirb jegt nicht felten Haushaltungs⸗
unterricht erteilt in den Abendftunden ſowohl wie an den Sonntagen. Hierfür ift vor
allem wieder Munchen⸗-Gladbach zu nennen, das Arbeiterinnenhofpiz in Aachen, das
Marienheim in Cöln ꝛc.
Unter ben Fabrikſchulen, deren es auch eine fehr ftattliche Zahl giebt, ermähne ich
die am 1. April 1890 auf dem ftaatlichen Bergwerk Königshütte in Oberfchlefien ein
gerichtete Ganztags-Rochichule für unverheiratete Arbeiterinnen im durchſchnittlichen
Alter von 20—22 Jahren. Nur Töchter von dortigen Bergleuten dürfen an dem
einmonatlichen Kurſus teilnehmen, denen während diefer Zeit der übliche Tagelohn
und freie Belöftigung gewährt wird. In ähnlicher Weiſe verfährt die Haushaltungs-
anftalt der Firma 30. Bülfing und Sohn in Lennep, in der feit Januar 1890
dreimonatliche Kurfe ſoichen Arbeiterinnen erteilt werden, die zugleich Töchter dortiger
Arbeiter find. Die Mädchen werden für jenen Unterricht beurlaubt und fiedeln für
die Zeit ganz in die betreffende Lehranftalt über. Auch bier trägt der Arbeitgeber
die ganzen Unterhaltungskoften. Die Schülerinnen müſſen das 18. Jahr überfchritten
haben, und die vor der Ehe Stehenden werden bevorzugt. Eine ähnliche Anftalt
errichtete die Kafleler Waggonfabrit Wegmann u. Cie. und andere.
Manche Fabritanten begnügen fih damit, ihren Arbeiterinnen die Teilnahme
an Haushaltungskurfen dadurch zu erleichtern, daß fie den Mädchen die Ichte Arbeits:
flunde an den betreffenden Tagen freigeben, ohne etwas vom Tagelohn abzuziehen.
Das allein ift ſchon ein bedeutfames Mittel zur Förderung jener Beftrebungen.
Natürlich fehlt die Kruppſche Stahlfabrit in Efien nicht in der Reihe derer, die in
diefer Hinficht für ihre Arbeiterinnen forgen. Ihre Haushaltungsfchule zeichnet fich
dadurch aus, daß fie die Mädchen auch in allen Gartenarbeiten unterteilt und außer:
dem mit einer MWäfcherei in Verbindung fteht. Der Andrang zu der Schule ift auch
bier ein großer.
Um nun nad) diefem allgemeinen Überblid auch in die intereffanteren Interna
der Haushaltungsfchule einen Einblid zu geben, möchte id) von der Haushaltungsſchule
in Jena, bie ich Gelegenheit hatte aus eigener Anfhauung kennen zu lernen, näheres
berichten.
Sie wurde auf Anregung und mit Unterflügung der Großherzogin von Sachſen⸗
Weimar im Jahre 1891 von dem bortigen Frauenverein ind Leben gerufen.
Frau Dr. Fiſcher-des Arts übernahm mit außerorbentlichem Verftändnis für
die Bebürfnifje eined Arbeiterhaushalts, mit praktiſchem Blid und großer Sachkenntnis
die Einrichtung und oberfte Leitung diefer Kurfe, die unabhängig find von der Schule,
doch unter Aufficht. der Schulbehörbe ftchen. Den Lehrplan und fpeziell für diefen
Zweck zufammengeftellte Kochrezepte veröffentlichte fie, nachdem fie ihre Erfahrungen damit
jemacht hatte, in ihrem Werk „Anleitung zum Erteilen des Unterrichts in der Haus—
Paltın 8 kunde.”
ie Oberfchulbehörbe des Großherzogtums erklärte ſich bereit, den Schülerinnen
der erften Klaſſe ber Volksfchule wöchentlid, einen Vormittag für diefen Haushaltungs:
unterricht frei zu geben. Das erfte Schuljahr wurde in viermonatliche Kurſe geteilt,
an denen je acht Mädchen teilnahmen, doch hat ſich diefer Zeitraum, troß recht guter
Erfolge, ais zu kurz erwieſen, weshalb man zu einjährigen Kurſen überging. Sind in
der eriten Klaſſe nicht 24 Schülerinnen, jo wird die Zahl durch Kinder aus der zweiten
Klaſſe ergänzt.
Später ftellte der Schulvorftand zwei große Räume für Küche und Wafchraum
unentgeltlich zur Verfügung, bewilligte Mittel zur Einrichtung der größeren Räume
und zur Anſchaffung von vier Kochherden und gewährte ferner freie Lieferung des
Waſſers und des Feuerungsmateriald; die übrigen Ausgaben beftreitet der Frauenverein.
Der Arbeitsraum ift mit allem Notivendigen auögeftattet, ohne Hilfsmittel zu
geben, die fich in der Arbeiterküche nicht finden önnen. Je ſechs Mädchen haben einen
Herd und einen daneben flehenden Stüchentifch, auf dem alle Arbeit verrichtet wird.
An der Seite des Tiſches und in dem unterhalb der Tiichplatte angebrachten Fach
find alle Geräte angehängt oder aufgeftellt, die zu dieſer Herdgruppe gehören.
Hauswirtſchaftliche Unterweifung armer Mädchen in Deutfchland. 158
Es werden ihnen einige hygieniſche Vorfchriften gegeben in betreff des Lüften® der
Zimmer und Betten, des Neinigens der Fußböden und dergleichen. Auch auf ordent:
liches Betragen ber Kinder wird geachtet, fie dürfen 3. B. bei Tiſch nicht die Arme
aufflügen. Im ganzen hertſcht aber in dieſer Haushaltungsfchule ein wohlthuend
freier Ton. Die Mädchen werden nur ermahnt, wenn fie ſich ungehörig benehmen,
oder ihre Schuldigkeit verfäumen. Sie arbeiten flink und eifrig, man fieht, fie find
mit Intereffe dabei. Schr reizend ift ihr frifcher, mehrftimmiger Gefang beim Plätten,
Rartoffelihälen, Geſchirrwaſchen, der bei den mufifaliichen Thüringer Kindern wirklid)
erfreulich klingt.
Während des theoretiichen Unterricht3 überwacht die Hilfslehrerin die Speifen,
doch wird er unterbrochen, wenn das Eſſen ein beionderes Eingreifen verlangt.
Während der Haushaltungsarbeit müffen die Kinder felbft ihre Töpfe beobachten.
Iſt der Vortrag beendet, jo wirb der Küchenzettel des Tages in Hejte biftiert,
die die Kinder während des Schuljahres nicht mit nach Haufe nehmen dürfen. Es
wird bei dem Schreiben der Rezepte auch auf richtige Orthographie geachtet. Faſt
jeder Küchenzettel mißt der Perfon !/, Pfund Fleiſch, zu 13 Pig. berechnet, zu, natürlich
die billigften Teile der Tiere, wie Bauch- oder Bruſiſtück, Kammſtück, Kaldaunen und
dergleichen. Zuweilen treten Eier oder Sped an die Stelle des Fleifches. Die Kuh—
butter wird durch Fett oder Dargarinebutter bejter Qualität erjegt. Fiſche, Gemüſe,
Pilze, Obſt den Jahreszeiten angepaßt findet ſich in ausreichender Quantität in jenen
" Küchenzetteln für ein Mittageſſen für 20 Pfg., ias befonders wertvoll erjcheint, weil
unfere ärmeren Volkskreiſe viel zu wenig am den Konſum von Gemüfe, Obſt und der
gleichen gewöhnt find. In Bezug auf den Küchenzettel hat es die Leiterin verftanden,
trog der beichränkten Mittel eine große Mannigfaltigfeit zu erzielen. Um '/, ober
11 Uhr ift das Diktat beendet, und das Mitiageſſen wird fertig zubereitet. Dann
wird der Tifch gededt, d. 5. alles Notwendige darauf zurecht gelegt und nad dem
aifcgebet das Efjen verzehrt. Daß es gut ſchmeckt, davon habe ich mic) felbft
erzeugt.
Eicher ift es von großer Bedeutung, daß die Kinder die zubereiteten Speifen
felbft effen, weil dadurch das Intereſſe am Unterricht ein viel Ichhafteres üt.
Nah Tiſch wird alles abgewaichen, das Geſchirr ſowohl wie die Tiſche, Fuß—
böden zc., in 1—1'/, Stunden muß jedes Stück wieder fauber an feinem Plag ftchen
oder hängen und ber ganze Raum rein und gepugt fein, fo daß die Schule um
Y/1 Uhr gefchloffen werden kann.
Am Schluß jedes Schuljahres findet eine Prüfung der Schülerinnen ftatt, zu
der ihre Eltern und die Freunde der Haushaltungsſchule geladen werden.
Die geiftige und_die äußere Entiwidlung der Kinder in diefem einen Jahr, ganz
abgefehen von den pofitiven Kenntniffen, ift ungemein erfreulich, ihr Beobachtungsſinn,
ihr Blick für Sauberkeit und Ordnung, ihre Gejchidlichfeit und VBebendigfeit werben
durch dieſen Unterricht in auffallender Weife gehoben, ber beite Beweis, daß ber hier
befchrittene Weg der tichtige iſt. Jedenfalls wird in der Zenenjer Haushaltungsſchule
fo viel geleiftet wie nur irgend bei dem jugendlichen Alter der Schülerinnen zu erivarten
ft, und e3 ift damit ein vortrefflicher Grund gelegt, auf dem die Kinder allein weiter
bauen fönnen. Treten fie gleich nad) Verlafien dieſes Unterrichts in Lobnarbeit ein,
jo hofft man ihren Hauswirtfchaftlichen Sinn jo weit gewedt zu haben, daß fie fich
dann noch, falls an ihrem Wohnort ſolche vorhanden find, an Fortbildungsfurfen
beteiligen, in denen fie ſich weiter in hauswirtfchaftliher Beſchäftigung üben fünnen.
Wicderholt ift Frau Dr. Fiſcher in Dankfagungen junger Ehemänner und ver:
witweter Väter der Beweis geliefert, daf die Ausbildung der Schülerinnen eine den
thatſachlichen Bedürfniſſen entiprechende ift.
a Eax
Paul Hehſes Erinnerungen, 156
bereichert fühlen, aber man wird etwas von dem heiteren Lebensgleichmut ahnen, der
an den Abgründen ahnungelos mit Kränzen leichten Fußes dahin fchreitet und mit
dem Löwen fpielt, wie das Kind der Goethifhen Novelle.
* *
*
Berliner Kindertage, Berliner und Vonner Studienzeit, italieniſche Lehr- und
Wanderjahre, Münchner Leben find die Reihen des Buches. Mit dem fünfunddreißigſten
Jahre ſchließt ed. Es wird, das ift auch charakteriftifch, nicht weiter ald bis zu dem
Punkt geführt, der dem Siebzigiährigen abfolute Diftanzhaltung garantiert.
Mit Ahnenkultus beginnt ed, und die Portrait3 dieſer Vorfahren im altmodiſchen
Rahmen, umweht vom Kulturparfum der Vergangenheit, haben ſeltſam aparten Reiz.
Von der mütterlichen Linie gilt dad vor allem, denn in ber väterlichen feheint
bis auf Theodor Heyſe, den Onkel Catull, den fauzigen Eonderling, den wir in
Stalien noch kennen Iernen werden, das bürgerlich Gerade, Stille, Unbeirrte den
Grundton angegeben zu haben.
Aber die Geftalten der mütterlichen Welt find phantaftiich, originell wie aus
Novellen E. Th. A. Hoffmanns und Arnims. Diefe Frauen aus dem Geſchlecht des
„Hofiuden“ Salomon: die Großmutter, wie ein üppiged Bild des achtzehnten Jahr:
hunderts, mit dichtem Haar, „ſtark ausgeſprochen orientalifchen Zügen“, kohlſchwarzen
Augen und blendend weißer Büfte, die Tante Regine, die als alte Frau im halb:
dunklen Zimmer figt, in großer Toilette, mit weißen Glaceehandſchuhen „wie ein
gepugtes Gögenbildchen” und ſich von ihrer diden, blatternarbigen, fteiermärkifchen
Zofe den Thee bereiten läßt. Dazu der „gute Onfel Louis“, im langen, blauen Rod
mit Schößen bis tief über die Nankingbeinkleider, Gamaſchen, grauen Eylinder, das
Kinn in eine handbreite ſchwarze oder buntleinene Kravatte getaucht. Dann die Tante
Marianne, bie eine der Beautes des Wiener Kongrefies war, Könige und Fürften zu
ihren Füßen gefehen, romantiſche Herzenserlebnifje gehabt hatte, fich erft mit einem
portugiefifchen Herzog verlobte, der ftarb, bevor er fie zur Herzogin gemacht, jpäter
nad Rahel Tod Barnhagen zum Bräutigam nahm, ohne daß er ihr Mann wurde,
und die nun als alte Frau noch den Schimmer glänzenden, großen Erlebens um ſich
breitete. Endlich Heyſes Mutter jelbft, eine Coufine der Mutter Felix Mendelsjohn:
Bartholdys, wigig, geiftreich, temperamentvoll.
Zu dieſem lebhaft leidenſchaftlichen Blut das ſchwerflüſſige, ernfte Weſen des
Vaters, der gegen bie andern milde, gegen ſich unerbittlidy fireng war. Er iſt der Haus:
lehrer Felix Mendelsſohns und habilitiert ſich als Philologe vor feiner Heirat. Sein
Lebelang ein Märtyrer ber Pietätspflicht, der aus dem freiwillig übernommenen Zwang,
die großen Pläne feines Vaters, die Wörterbücher auszubauen, nie recht zu einer
freudig aus eigenem übernommenen Aufgabe fid) erheben konnte.
Aus folder Gegenfagmifhung entftand Paul Heyſes „Weftöitlihe Natur“, wie
er fie felbft glüdlich nennt, und in diefem Falle ergiebt ſich wirklich das fonft häufig
nur fonftruierte Zuſammenwirken der geiftig-finnlichen mütterlichen Frohnatur mit dem
ernften Lebensführen des Vaters ganz ungezwwungen.
Berliner Stimmungen beginnen den Reigen. Der maleriſche Winfel am Weiden-
damm, der fpäter in den „Rindern der Welt“ zum Neft des Zaunkönigs die Ecenerie
gab, eröffnet feine Wunder, wie fie die Heißhungrige Phantafie des Knaben fah: den
Stapelplag der Holzfähne mit den hoch aufgefchichteten Holzhaufen, die wie eine
Paul Heyſes Erinnerungen. 157
Stimmungs: und pfychologiſche Ausbeute geben die Blätter aus Jtalien eigentlich
wenig, fie haben eher anefdotifch-genrehaften Inhalt, und ihr Intereſſenwert beftcht
darin, daß fie eine Fülle intereffanter Menfchen in ihrem täglichen Leben uns vorführen.
Bodlins Geftalt fteigt auf und mit ihr die Erinnerung römiſcher Schlendertage,
der Tafelrunde des Tugendbundes in einer Winfelfneipe, des Ausflugs nach dem Thal
der Egeria, wo die beraufchte Luft hochwogt und es nad Heinſe-Ardinghelloſchem
Vorbild „inmer tiefer ins Leben hineinging,” „bis zu jenem Tanz ums Feuer nad)
abgeworfenen Kleidern.”
Bödlin Iebte damals, noch völlig unbekannt, in tieffter Armut aber ſtets auf:
echtem Stolz, der ihm jede Konzeffion an ben Publikumsgeſchmack vermehrte. Den
großen phantaftiihen Zug von fpäter zeigten feine Bilder noch nicht, auch feine
menſchliche Staffage. Das Charakteriftifche der Arbeiten biefer Periode war das
intime ſtille Naturgefühl, das wunderſame Gedächtnis, das feiner ängftlihen Studien
bedurfte, um den ganzen Reichtum aller Formen und Farben in ſich zu bewahren.
Heyſe erzählt von einer unvollendeten zerfnüllten Leinewand, die in einem Winkel
feines dürftigen Atelier in der Via della Purificatione herumlag, einer Landfchaft
aus ben pontinifchen Sümpfen, ein „großartig einfaches Waldmotiv immergrüner
Eichen,” an der Bödlin die Luft verloren hatte und die Heyſe eine mehr und mehr
geichägte koſtliche Gabe wurde.
Ein Schatten der alten Nazarenerzeit, wandelt Dverbed noch durch die Gaſſen
Roms. Paul Heyſe fieht ihn in feiner „hohen etwas vorgebeugten Geftalt, den finnend
geſenkten Augen,” wie er neben ber Staffelei fteht und einer mutwillig ſchönen Dame,
die ihn mit einer aſthetiſch aufgefaßten, einer verfchämten, entkleideten Heiligen gleichenden
Eva nedt, mit leifem Erröten verlegen erwidert.
Auch an Driginalen fehlt e8 nicht.
Martin Wagner, den Bildhauer König Ludwigs, fehen wir in feiner genialen
Verwahrlofung, in der Vila Malta, zu deren Kuftoden ihn der König gemacht und
die er mit dämonifcher Schnelligkeit in eine Wüftenei verwandelte. Hier Fauert er
zwiſchen feinen Katzen, für die er bei den Mahlzeiten Fleiſch und Knochenſtücke, Fifch-
töpfe und Gemüfe in feinen tiefen hängenden Rocktaſchen, chaotiſch durcheinander:
geichättelt, fammelt, feinen fünftlerifchen Entwürfen, die wirr auf Tifchen und Stühlen
herumliegen unter Tellern mit Speifenteften, leeren Weinflafchen, Kleidungsitüden,
alten Schuhen, — mitten darin dann wieder ein wertvolles Gemälde der Külnifchen
Schüle, alles mit einander friedlich bebedt von didem, grauem Staube.
Nicht weniger Sonberling, aber ein faubererer Geift war der Epifuräer und
Lebenskünftler Theodor Heyfe, Paul Heyſes Vaterbruder, der Onkel Catull, der Civis
Romanus. Sein Bild erfcheint und ald das intereffantefle de3 ganzen Buches. Ein
Unabhangigkeitsmenſch von raffinierter Lebendeinteilung, ber fein Leben allein ſich
felbft zu leben wünſcht, ein Leben geiftigen Genuffes, nur ſoweit mit Arbeit belaftet,
als es zur wirtichaftlichen Erhaltung nötig ift.
Seine Brotarbeit find Ebitionen nad italienifhen Handichriften, feine reiche
Muße gilt dem Umgang mit Catull und Goethe. Blumen und Tiere fehlen biefem
forglich eingefponnenen Dafein nicht. Auf einer Luftigen Loggia, mit weiten Blick
über die Nachbarhöfe, tanken fi immergrüne Pflanzen in der Sonne und tummeln
ih das Hündchen Fido und der Kater Micetto, die die anderen feltfameren Haus:
genoffen, den großen Geier und den Affen, fiberlebt hatten. Und in reizvoller Wirkung
yanı HEyIeB eruncrungen. 189
Heyfe kehrte als ein ber Schule „entlaufener“ romaniſcher Philologe, aber mit
dem litterarifchen Spezimen in ber Tafche, aus Italien nach Deutſchland zurüd.
Und nicht aus dem wiffenfchaftlichen, fondern aus dem dichterifchen Beruf kam ihm
nun die wirtfchaftliche Begründung feines Lebens. Durch Geibels Vermittelung erbielt
er 1852 eine Berufung an den Hof des Königs Mar, in die Schar der Kavaliere
des Geiftes, die der bayrifche Herrfcher zu „Sympofien” um fich verfammelte und
denen er einen jährlichen Chrenfold ausſetzte.
Die Münchener Chronik, zu der Heyſes Lebensbild jegt wird, erhebt fi aus
anefootifch-plauberhafter Sphäre zur fulturhiftorifchen Betrachtung einer intereffanten
Epoche. Bor diefen Blättern aber fteht noch ein reizendes Genrebild.
Heyſes Polterabend im Kuglerichen Haufe, bei dem der Bräutigam durch die
unwiderſtehlich komiſche Aufführung des „dankbaren Räuber”, des theatralifchen
Verſuchs feines zwölften Jahres, überrafht wird. Der große Effekt dieſes Edelmuts-
dramas ift nicht der große Ninaldini „Vorſcht“, den Wilhelm Lübke haarbuſchig, in
Ichäbiger Räubertracht fpielte, fondern das arme, unfchuldige Kind der bedrohten Eltern,
das im Kinderfleivchen am Boden kauerte und ſehr ernflhaft mit einem hölzernen
Pferde fpielte — und das Adolf Menzel darftellte.
Aus dieſer Gemütlichkeit geht es aber dann in die Hofluft. Auch der Privat:
verkehr, der neben der offiziellen Gefelligfeit der Sympofienabende herrſcht, ift faſt
ausſchließlich auf die Kolonie der Berufenen beichränft.
Von ihnen vertrat Dönniged bie Hiftorifchen Intereſſen des Königs, Geibel die
poetifchen,. und Juſtus von Liebig war der „verantwortliche Minifter im Gebiet der
exalten Wiffenichaften.” Dazu famen dann noch Riehl und der Graf Schad.
Ein verftehender Kreis ſchloß fih im Haus der Frau von Ledebour und nannte
fih die „Ede“, da man zu der verehrten Wirtin nur um die Ede zu gehen hatte.
Hier laſen die Dichter ihre neueſten Gedichte, Dramen und Novellen; Riehl brachte
feine Hausmufif mit; fcherzhafte poetijche Preisaufgaben wurden geftellt, und bie alte
Freundin, die fie al8 den „Edftein der Ede“ feierten, wußte „mit dem milden Blid
ihrer Maren Augen in dem iwelfen bleichen Gejicht, das bünnes, filbernes Haar um:
rahmte, felbft Geibels Ungeftüm zu zähmen, wenn er mit Fräulein Julie (der
Adoptivtochter), wie einft in Berlin mit Luife Kugler, in einer feiner herriſchen Launen
aneinander geriet.”
Derber als diefe frauenhafte, lampenverfchleierte Hauspoefieftimmung, war die
Luft über der trankfeften Tafelrunde der „Krofodile”. Kerniger und fräftiger als in
dem weiland „Tunnel über der Spree“ ging es in dem „heiligen Teich” zu, der ſich
als irdiſchen Plag die gemütliche Trinkftube am Dultplag erwählt hatte, mit dem
offenen Feuer, über dem der Wirt auf einem Roſt bie faftigen Fleiſchſtücke briet.
Hier verbrachte das „Krokodil“ vier jehr nahrhafte, vergnügliche Winter.
Geibel, das „Urkrokodil“, ftimmte feine Leyer zum Preis des Wappentieres, das,
in Thon modelliert, am Sodel die verſchiedenen Reptile, nach denen die Tafelgenojjen
genannt waren, in hieroglyphiſchen Zügen eingegraben trug. Schad war das „Ehren
krokodil“, das ſich aber nur felten bliden ließ.
Die ernften Ergebnifie diefer heiteren Srokobilität wurden in den zwei Münchner
Dichterbüchern, das eine von Geibel, da3 andere von Heyſe herausgegeben, niedergelegt.
Hier hat ſich viel gegenfeitige Anregung, fruchtbare Reibung ergeben. Nicht fo
probuftiv waren die königlichen Abende.
Paul Hebfed Erinnerungen. 161
das Außere Band einer Verpflichtung. Und Heyſe hat jegt in innerer und Außerer
Freiheit, ein anerkannter, erfolgreicher Autor, die Muße, den eigenen Arbeiten zu leben.
Wahrend die Mitkrokodile ich zerftreuen, bleibt er durch liebe Bande (feine zweite
Frau ift Münchnerin) noch ftärker an die ſympathiſche Stadt gefeflelt. Und nun, an bes
Lebens Mitte angelangt, in Sicherheit geborgen, entläßt er uns mit einem Ausblid.
Der Tod ſchritt mandes Mal noch um fein Haus. Cine Kataftrophe voll
Rarrenden Eumenidenfchauers ift der Kampf um den Tod, den Heyſes Schwager Hans
Kugler, von unheilbarem Leiden gequält, immer und immer wieder fterbenägierig
beginnt, bis er fein Ziel erreicht. Schwere Verlufte lieber Kinder treffen fein Glüd.
Aber fein Herz fcheint gefeit. So verläuft ihm fein Leben, tie er felbft ald Fazit
zieht, ohne ftürmifche Wechielfälle. Immer mehr wird er der Zufchauer, nicht nur bei
den „großen, weltummälzenden Ereigniſſen“. Er bleibt in der Stadt, bie ihm eine
zweite Heimat geworden, ohne jedes Amt, nur feinen eigenen Arbeiten lebend; und in
rubevoller Kontemplation fieht er „gute Freunde und Gleichgefinnte kommen und gehen
und eine neue Zeit anbrechen, in der ein neues Geſchlecht mit neuen Anſchauungen
und Bedürfnifien heranwachſt“.
Jede eigene ſtark aufmühlende Leidenfchaft mit ihrem Gefolge fchmerzlicher
Konflikte, mit Herzblut bezahlter Abrechnung, leugnet er ab und erklärt Modell: und
Erlebniswitterung bei feinen Arbeiten für zwecklos.
Die Leidenſchaft bringt Leiden, und werter als das Glüd ohne Ruhe ericheint
ihm fein Ruheglück des Haufe. Und wenn feine Augen wohl auch oft vor ber
Schönheit entflammten, wir glauben e3 ihm gern, daß er „in der Schule der Frauen
lange geſeſſen, ohne allzu ſchweres Lehrgeld zu zahlen” und daß er vor zerrüttenden
Herzensſtitrmen bewahrt geblieben.
Und wie die Liebe, fo hat ihm auch die Kunft feine Leiden gebracht. Wir
merfen trog der dramatifchen Schmerzenskinder nichts von jenem quälerifchen Albdrüden
empfindlicher fünftlerifcher Temperamente, die über ihre Echöpfungen nicht zur Ruhe
tommen und fi) zerreiben.
Gerade das Gegenteil zeigt jene interefiante Eingeftändnis Heyſes, das eigentlich
offenherziger ift, als er vielleicht fich felber klar gemacht:
Er fpricht von feiner glüdlihen Gabe, „feine novelliſtiſchen Erfindungen faft
alle bis auf die Themata und wenige Details, bald nachdem fie gefchrieben find,
wieder zu vergejien“. Und dann die bygienifch-behagliche Folgerung: „Ohne dieſe
Fähigkeit — wie überladen wäre mein Gehirn mit Bildern und Geſchichten, da die Zahl
meiner Novellen in den langen Jahren fo ungeheuerlich angewachſen ift. Und da e3 mir
widerſtrebt, eine meiner alten Bücher je wieder anzufehen, wird auch der dunkle Abgrund,
in den meine eigene Produktion vor meiner Erinnerung verfinkt, immer bodenloſer.“
Man hat für den Tribut an Heyſe den Olymp bemüht und ihn den Liebling
der Götter genannt. Und wirklich ſcheint — wie leicht ward er bahingetragen —
dies Leben gelafjenen Erfüllungsgenuffes ſolcher Glüdlichpreifung wert, ftellte ſich nicht
rechtzeitig ein Ewigleitswort deſſen ein, der Menſchliches und Göttliche am tiefiten
verftand und ber dem Olymp am nächften war:
Alles geben die Götter, die unendlichen,
Ihren Sieblingen ganz:
Alle Freuden, die unendlichen,
Auc Schmerzen, die unendlichen ganz.
rn u
Der Berliner Krippen: Berein. 163
jener Denkſchrift ftellt dem folcherart in glänzender Weife dokumentierten Wiener Erfolg
mit tiefem Bedauern die ſoviel beicheideneren Verhältniffe des Berliner Krippen-Vereins
gegenüber und geht den Gründen bierfür nad, die nach feiner Anficht „nicht im
Mangel an Verftändnis oder gar in mungelndem Wohlthätigkeitsſinn der Berliner
liege; leßterer fei fprichwörtlich geworden“. Er findet die Erklärung in einem derzeit
noch vorhanden geweſenen Fehler in der Drganifation des Vereins, wodurch dieſe
„nicht dem vollen Inhalt der Krippen-Idee entſprochen habe”.
Und bier begegnen ſich die Ausführungen der Denkſchrift mit meinen einleitenden
Bemerkungen, die allerdings als maheliegend zu betrachten find. „Denn was liegt
näher,“ fagt ber Herr Berichterftatter, „ald der Grundgedanke, daß bei Veftrebungen,
die den Siffofen Kleinen bis zum dritten Lebensjahr zu gute kommen follen, vor allem
Frauenderz und Frauenhand zu edler Werkthätigkeit berufen find, daß Krippenvereine
vorwiegend Frauenvereine fein müſſen, daß das Frauenelement dabei hauptſächlich
handelnd einzutreten hat?”
Und der feltfame Umftand, daß bis zur allerhöciten Genehmigung eines neuen
Statut im Jahr 1888 nur Männer im Vorftand waren, wird auf eine Notlage
zurüdgeführt, in der fi) der Verein 1878 befand. Es ift nötig, hier wieder auf die
Chronik der Krippen zurüdzugreifen. Nachdem in Berlin erft acht Jahre fpäter als
in Parid eine Krippengründung bewirkt wurde, die fi) eines kurzen Aufblübens
erfreute, ging das mit Eifer begonnene Unternehmen twieder ein. Die Gründe find
auch bier nicht weit zu fuchen, trogdem eine Dame Vorfigende des Stomiteed war —
Ihre Ercellenz Adelheid von Mühler. Der Mangel an Beteiligung weiter Nreife
dürfte fih aus dem ungünftigen Zeitverhältnijfen erklären, aus der in breiten Schichten
der Bevölterung herrſchenden Verftimmung, die fich gegen alles richtete, was aus dem
teaktionären Lager kam, aus einem Unmut, der wohl Symptome, wie die Europa—
mübdigfeit erzeugte, aber nicht folche, die eine Gefundung der Zuftände daheim an:
zeigten. Und jo vergingen denn dreizehn Jahre, bis wieder eine Krippe in Berlin
ind Leben trat, und zwar danf der Jreigebigfeit eines edeldenkenden Induſtriellen, des
Fabrikbeſitzers Fonrobert, der dem nadhmaligen Begründer des Berliner Nrippens
vereind, Herrn Dr. Albu, die Einrihtungd: und Erhaltungstoften für eine neue
Krippe zur Verfügung ftellte. Leider folte diefe 1869 geſchaffene Anftalt nach mehreren
Jahren fegensreichen Gedeihens ein twidriges Geſchick ereilen. Sie mußte infolge
ichwerer Erkrankung des Herrn Fonrobert im Juni 1877, und nachdem Dr. Abus
Xerjuch, durch den von ihm im Tftober desjelben Jahres gegründeten Verein die
Weiterführung der Anftalt zu ermöglichen, wegen Mangels an Beteiligung mißglüdt
war, am 30. Juni 1878 geichlojien werden. Daß aber trogdem diefe noch heute,
Anklamerſtraße 39 befindliche Mutterkrippe des Berliner Hrippenvereind am 1. Februar
1879 wieder eröffnet werden konnte, it j. 3. einem Vermächtnis des ald Spender für
mohlthätige Beitrebungen rübmlichit bekannten Jr. Otto Markwald zuzufcdreiben.
- Und zu gleicher Zeit war es die thatkräftige Hilfe einer marmherzigen Frau, der
Gattin des Apothekerd und derzeitigen Befigerd des Haufe Anklameritrape 34, Herrn
Sallbach, die mejentlich zum Fortbeftand und Gedeiben des Unternehmens beitrug.
Frau Anna Sallbadb, die jeit nunmehr dreiundzwanzig Jahren unermübdlich ſowohl
im innerlichen Betrieb, wie nad) außen bin für die Krippen Berlins wirft und felbft
in jener Zeit der ſchweren Kriſis des Vereins den Mut nicht finfen ließ, hatte eine
gleichgefinnte, bewährte Mitarbeiterin an der langjährigen Leiterin, Frau Roeber,
zur Seite, und ohne offiziell im Vorſtand zu figurieren, find fchon die Namen biejer
beiden, mit ungewöhnlicher Kraft begabten Frauen auf das engſte mit der Gedichte
des „Berliner Krippenvereins“ verknüpft.
Um das erwähnte Markwald’iche Legat von 15 000 Mark erheben zu können,
war nun vor allem die Erlangung von Korporationsrechten für den Verein geboten.
Zur Erledigung der nötigen Formalitäten traten Männer zufammen, aus deren Kreis
ſich der Vorſtand Eonftitwierte, wie ſchon erwähnt, aber ohne Sig und Stimme für
Damen. In demſelben Jahr, 1880, wurde dem Werein noch die Summe von
3000 Mark durch Herrn Nomiralitätsrat Abegg aus dem Nachlaß des zu Wies—
11*
167
Londoner Spezialitäten.
Belene Tange.
Nachdrud verboten. . on
I
Der Hundekirhhof.
enn man durch Victoria Gate den Hude Park betritt, fieht man rechts von
dem Wärterhäuschen eine einfache Holzthür. Der Wärter öffnet auf Ber:
langen gern; wir treten ein, und ftehen auf dem Hundelirchhof Londons. !)
Zwar der Ausdruck möchte irre führen. Hier liegen nicht Hunde fchlechtweg,
Sondern die ariftofratijchften Hunde, die oberen Hunderte der Hunde von England.
Ganze Reihen der fauberften, gepflegteften, zum Teil mit ganz frifchen Blumen
bebedten Gräberchen liegen vor und. Am Kopfende erheben fich die Heinen Marmor:
tafeln, die meift unter genauer Bezeichnung des Tobestages, manchmal fogar des
Geburtstages, dem Andenken ber geliebten Jade, Jimmies, Scrapers, Robies und
Scamps gewidmet find. Einer „dear, gentle little Lily“ ift fogar eine foitbare,
halb gebrochene Marmorfäule, von marmornen Lilien umfchlungen, geweiht.
Selbft wer mit einem warmen Herzen für treue Vierfüßler diefen Raum betritt,
wer fich Schließlich auch noch zu einem Verſtändnis dafür aufichtvingen kann, daß man
folgen lebenslangen ftummen Gefährten ein Andenken fihern möchte, wird doch vor
mancher diefer Infchriften wie vor einer Blasphemie ftehen, wie erftarrt vor einer
Herzendarmut, bie folhen Reichtum von Liebe an Hunde verfchiwendet. Nur ein paar
feien Hier erwähnt. „My Towser", beißt «3 auf einem Marmor: „he was my
faithful friend and constant Companion for 11 years, now I am lonely and
heartbroken.“ Noch weiter gehen ein paar andere: „In loving memory of Tuby.
He was my friend, faithful and true to me. Parted, but never forgotten. The
sunshine of the house has gone,“ und: „She brought the sunshine into our
lives, but she took it away with her.“
Viele diefer gebrochenen Herzen tröften ſich aber mit der Hoffnung auf ein Wieder:
fehen. „Only guod night, dear little one‘, wünſcht die eine. „Au revoir, cheri, si
Dieu le veut,‘ eine andere. Mehrfach finden wir die Infchrift: „Not one of them is
forgotten before God.“ Einmal heißt e8: „My dear little cat Chinchilla“ — aud
Kagen, Affen und Papageien finden fich vereinzelt in dieſer erlauchten Geſellſchaft, —
„lovely, loving, and most dearly loved, poisoned July 31th. 1895. God restore
thee to me, so prayeth thy ever loving mistress &A&vy.“ (Das brutale poisoned
bringt eine andere loving mistress nicht übers Herz, es heißt da: „She suffered —
and those who loved her best, helped her to pass on.“) Mehrfach kehrt wieder:
There are men, good and wise, who say,
That dumb creatures, we cherished here below,
Shall give us kindly greeting when we pass the golden gate.
Is it folly if we hope it may be so?
) Selbftverftändlich nicht eine ftäbtiihe Injtitution, fondern cin von der Partverwaltung
ſanktioniertes Privatunternehmen beö fpefulativen Thorwärters.
Blinde
189
Slippen.
Erzählung
von
Minna Canth.
Autoriſierte Überfegung aus
Nadbrud verboten.
VII.
‚wi atmete ſchwer, und fein ganger |
Körper brannte. Er murmelte wunderliche
Worte vor fih hin. Die Augen rollten in
ihren rotgefprengten Höhlen.
Alma war auf einen Schemel zu feinen
Füßen niebergefunfen und faß zufammen-
gefallen da. Mina bot ihr Thee, aber fie
ſchuttelte abweifend den Kopf.
Als John eintrat, neigte fie ihr Geſicht
zu Awis Bett. John ftand eine Weile neben
ihr, fah Arvi an und befühlte deſſen Stirn.
„Vielleicht wird er und noch gefund, wir
bürfen wenigſtens die Hoffnung nicht aufgeben.”
Er blidte auf Alma.
„Du mußt fehr erſchrocen fein.”
Keine Antwort. Alma verhartte in ber=
felben Stellung, fo unbeweglich, daß fie faum |
atmete. John legte bie Hand auf ihre Schulter;
ein Sittern durchlief ihren ganzen Körper,
aber fie hob den Kopf nicht und änderte nicht
die Stellung.
„Richt fo, Alma,” fagte er. „Verſuche,
rubig zu werben.”
Er zögerte noch eine Weile, che er das |
Zimmer verließ. Erſt, ald die Thür ſich
binter ihm ſchloß, erwachte Alma aus
ihrer Erftarrung. Sie erhob ſich nicht,
fondern ſank noch tiefer hinab, vom Schemel
auf den Boden, fie fiel zufammen mie
ein Bündel. Mit
Hammerte fie den Bettfuß, prefte ihn, daß
ihre Finger Inadten und das Holz fnirfchte. |
Der Lörperlihe Schmerz, den fie empfand,
wirkte faft wohlthuend und lindernd auf die
Angft ber Seele.
beiden Händen um: :
dem Finnifchen von E. Stine.
Eglut von Leite 109.)
Niemand war im Zimmer; das mußte fie,
obwohl fie ſich über alles übrige nicht ganz
im Haren war.
Arvi war in einen betäubungsäßnliden
Schlaf gefunfen. Nun erwachte er und Hagte.
Alma kroch auf den Knieen zu ihm hin.
„Mama,” fagte Arbi, „es thut mir weh
im Kopf und im Hals.”
Er feufzte und ſah die Mutter an.
„Mama, fühle meine Stirn, wie fie brennt.”
Alma näherte ihr bleiches Gefiht dem
feinen.
„Ich kann nicht, Arvi,“ kam es flüfternd
von ihren Lippen. „Meine Hände find unrein.
Aber fag’ es niemandem.”
Arvi ſchwieg eine Meile: dann fuhr er fort:
„Mama, idy fürchte mid. — Die Wand
fällt auf mid.”
„Sie fält nicht.
fällt ein Mühlſtein.“
Woher?”
„Bon oben.
es niemandem.‘
„Rein.“
Schritte näherten ſich. Alma zog ſich auf
den Schemel zurüd. Der Arzt und Lohn
traten ein.
„Wir werden morgen fehen,” fagte ber
| Arzt, nachdem er Arvi unterſucht hatte.
I Dann wandte er fih an Alma.
„Aber wie fteht’3 mit Ihnen, Frau Karell ?“
John und er fahen einander an.
„Sie taugen heute nacht nicht zur Kranken—
wärterin,“ fagte er, Almas Puls fühlend.
Alma hatte nur die einzige Hoffnung, daß
fie bald gehen würden. Das thaten fie aud,
Aber auf beine Mutter
Vom Himmel. Aber ſag'
Blinde Klippen.
um den Hals. Wie fie fi) da zurechtfinden
wird, da fie doch fagen, ih darf um feinen
Preis zu ihr hinaufſchauen, ich fönnte bie
Anftedung in den Kleidern mitbringen! —
Bloß darum! Ich glaub’ einmal nicht an
ſolche Sachen. Kein Menfh wird krank,
wenn's nicht Gottes Mille iſt. Aber natürlich
muß ich gehorchen, was kann ich thun!”
Mina räumte im Zimmer auf, während
fie, ohne Anttvort zu erwarten, weiter plauberte.
Nun nahm fie mit ihrem Staubtud den
nächſten Stuhl in Angriff.
„Sie hauen fo merkwürdig aus, Frau
Karel. Wenn Sie nur nicht auch krank
werben. Da wären wir ſchlimm daran.”
„Ich werde nicht krank.“
„Waren Sie geftern den ganzen Tag auf .
tem Eis? Ih dachte mir's gleich, als ich
tie Schlittfchuhe nicht im Vorzimmer hängen
fab, und hörte, wie Frau Xeiftin zum Herrn
Rektor fagte —“
"Bas fagte fie?” fragte Alma haftig und |
fuhr zufammen.
„Daß Cie mit den Magifter auf dem Eis '
vorbeigelaufen find. Cie tar verwundert,
daß Sie noch nicht zurüdgelommen waren,
und wollte, der Reltor fole Eie fuchen.”
„Bann war das?”
„So zwifchen ſechs und fieben — weil es
gerade ſechs flug, ald wir zu Leiftind gingen.”
„Und was fagte der Rektor darauf?”
„Gar nichts fagte er. Aber unruhig muß
er gewvefen fein, das glaub’ ich deshalb, weil
er den ganzen Nachmittag nichts that, als im
Speifezimmer aufs und abgehen.“
„Trage dies ſchmutzige Waſſer hinaus; cs H
riecht übel.”
Mina nahm den Eimer, die Scheuertücher
unb ben Beſen und ging.
Die Hände im Schoße gefreuzt, betrachtete
Alma den fchlafenden Arvi. Aber ihre Ger
danken waren nicht fähig, fih mit ihm zu
beſchäftigen; fie waren alle in ihrem Kopf zu
Eis erſtarrt.
Der Arzt kam mit John, um nach Awi
zu ſehen, fühlte ihm den Puls und fragte
verſchiedenes betreffs feines Zuftande. Alma
antwortete beutlih, wußte alles und ver
mechfelte nichts. Treulich faß fie Tag und
Naht an feinem Bett, gab ihm zur beftimmten
171
Zeit Medizin und frottierte den geſchwollenen
Hals morgens und abends, wie es der Arzt
verordnet hatte. Aber alles, was ſie that,
geſchah ohne Bewußtſein, als befände es ſich
außerhalb ihres Gedankenkreiſes. Es war
eine andere Macht, die ihre Hände und Füße
in Bewegung ſetzte. Sie ſelbſt erſchien ſich
vernichtet ober von ihrem Körper getrennt.
Darum fah fie Menſchen und Dinge um ſich
ber wie in weiter Entfernung, und aud bie
Stimmen Hangen in ihre Chren wie aus der
Ferne. Sie fah alles an wie ein Panorama
ober etwas vollftändig Fremde. Bisweilen
meinte fie zu ſchlafen; dann fniff fie ſich in
| den Arm, um zu erwachen; aber obwohl fie
den Schmerz empfand, blich es beim Alten.
Arvis Zuftand verſchlimmerte fih Tag um
Tag. Der Arzt gab feine Hoffnung mehr
auf feine Wiederherſtellung.
Es war ber fünfte Abend nach feiner Er:
krankung. John faß ftil und ernſt auf einem
Stuhl beim Kopfpolfter, Alma wie zuvor auf
einem niedrigen Schemel zu feinen Füßen.
Ein fchauerlihes Schweigen war in dem
Zimmer. Der Tod hielt feinen Einzug.
Arvis Hände und Füße waren ciöfalt.
‘ Der Atem rafjelte im Halfe, der Körper zudte.
Die Augen hatte er unverwandt zur Dede
gerichtet, ald erwarte er etwas von borther.
John war bleih, und die Falte zwiſchen
: feinen Augenbrauen tourde immer tiefer. Er
fagte nichts, aber von Zeit zu Zeit zudte es
in feinem Gefiht, und die Augen waren
gerötet.
Alma ſah ihn an, während ſie ſich gegen
die Bettlante lehnte. Lohnte es ſich, ſo darüber
zu trauern, daß der Knabe von Sünde und
Elend ſcheiden mußte? Beſſer wäre es, der
Tod nähme auch die anderen Kinder, ehe ſie
in Sünde und Schande verſänken. Noch
waren fie rein und unjhuldig ... .
Wohl hatte Arvi jetzt große Schmerzen.
Aber bald würde er Nuhe haben, ewige Ruhe
im Schoß der Erde. Mißgönnte fein Vater
ihm dies Glück? . . .
Ein letztes Raſſeln, dann verftummte alles.
John verbarg das Antlig in den Händen.
Alma ſaß unbeweglih tie eine Bildſäule.
Warum erlojch nicht auch ihr Leben zu gleicher
Zeit. .?
Blinde Rippen.
„Run, Grau Karel,” fagte der Arzt, als i
er fab, daß Alma die Augen öffnete, „nun |
dürfen Cie viele Tage nicht aus dem Bett
heraus. Cie müflen zuerft al den Schlaf
nachholen, den Sie in den Iehten Tagen ver: |
fäumt haben. Durch Medizin, wenn es nicht !
anders gebt. Und durch Medizin wollen wir |
auch verſuchen, Ihnen Epluft zu machen.“
Alma hörte zu. Cie fagte fein Wort,
weder dafür, noch dagegen. Mochten fie mit
ihr machen, was fie wollten. Tag um Tag
lag fie zu Bett. Sprach nicht, klagte nicht
und münfcpte nichts, aber antivortete doch,
wenn man fie um etwas befragte. Zumeift
lag fie unbeweglih. Hie und da zudte ihr
Körper, ohne daß fie e8 wußte. Die Augen waren
größer ala früher, der Blid müde und matt.
Endlich fragte der Arzt eines Tages, ob
fie nicht Luft habe, aufzuftehen. Sie ver-
neinte. Aber fie ftand dennoch auf, als der
Arzt es fie hieß.
Von nun an faß fie gleich fill im Sofa.
John war bei ihr, fo oft feine vielfachen
Arbeiten es erlaubten.
Er ftellte ihr vor, daß fie ja noch brei
Kinder Hätten, und mie friſch, munter und
liebensmürbig die feien. Im ihnen müßten
fie Troft finden. Derartige Sorgen und
Schichſalsſchläge müfje der Menſch eben durch⸗
maden; das Leben verfehone feinen damit,
und man dürfe ſich davon nicht nieberfhmettern
laſſen. Es nüge ja doch nichts, und das
Unglüd würde dadurch nur noch größer.
Alma erwiderte nichts, und aus ihrem
geiftesabtvefenden Blick war ſchwer zu ent
nehmen, ob fie gehört hatte oder nicht. Sie
preßte nur die verſchlungenen Hände jeiter
zuſammen, aber John merkte e3 nicht.
Indeſſen ſchien es deutlich, daß fie am
liebften allein fei und die Gegenwart anderer
fie gleihfam peinigte. Mina verfuchte daher
aud die Kinder entfernt zu halten und führte
fie nur bie und da herein, um bie Mutter
zu begrüßen.
Sie faß immer auf berjelben Etelle, in
einer Ede des Sofas. Sie ſchien e3 nicht zu
merken, ja wandte nicht einmal den Kopf,
wenn bie Rinder im Zimmer lärmten oder
irgend ein Gefäß in der Küche mit ſtarkem
Gellirr zerfhlagen wurde.
178
Nur einmal ertönte eine Stimme im Salon,
bei deren Klang fie zufammenzudte und aufs
ſprang. Als John dann eintrat, ftand fie da,
beide Hände auf den Tiſch geftügt, den Blick
entfegt auf die Thür gerichtet.
Kommſt du nicht herein? Nymark ift da.
Er fragt nad) dir.”
„Nah mir? Warum?”
Sie zitterte, und die Stimme ftodte in der
Bruft. Aber alle Kräfte anfpannend, fuhr
fie fort:
„Ich Tann nit — muß mic) bald legen.
Ih bin fo ſchwach.“
„Du zitterft ja. Haft du Schwindel? Laß
mid) did zu Bett bringen.”
„Nein, nein, id fann es allein. Geh nur
hinein, daß er nicht kommt.“
„Hierher? In dein Zimmer? Das thut
er nicht.”
„Geh doch jedenfalls, John.”
John ging und ſchloß die Thür hinter
ſich. Nun aber jaßte Alma eine neue Angit.
Eie fürchtete, Nymark könnte es John fagen,
alles erzählen... . Sie verfuchte ihrem Ge:
ſpräch zu lauſchen, konnte aber nur undeutliche
Worte unterfcheiden; fie zitterte heftig, ihre
Gebanten verwirrten fi, und es dunkelte vor
ihren Augen. Jeden Augenblid erwartete fie,
daß Sohn ſich wieder in der Thür zeigen und
mit Strenge Rechenfchaft von ihr fordern würde.
Sie wiederholte ſich, daß das ja unmöglich
ſei. Nymark würde es nicht thun, wenigſtens
nicht mit Abſicht. Es war ja Wahnſinn, das
zu fürchten.
Und dennoch fürchtete ſie. Hätte ſich der
dunfle Schlund der ewigen Verdammnis plötz⸗
lich vor ihr geöffnet, ihre Seele wäre nicht in
ſolchem Grauen zurüdgebebt wie nun.
Ein ſchwacher Gedanke fuchte fi noch in
ihrem Geifte Pla zu ſchaffen.
„Und felbft wenn er es erzählte?” Hang
es in ihr; „ärger fann es nicht werden, als
es jegt ift. Möge alles zugleih an ben Tag
tommen! Dann bin ic von biefer Angit
befreit. Es wäre befier gewefen, ich hätte
felbft gleich alles erzählt. Mein ganzes Herz
geöffnet.”
Aber fie hörte nicht auf dieſe Stimme.
Und bald verftummte fie; — die Angit hatte
fie erftidt.
Blinde Mippen.
zurüd, fo hielt fie die Hand auf bas Herz
gedrüdt und flüfterte: „Gott fei Dant, es
mar nur der und ber!”
Ferner bemerkte die Näherin, dab fie
niemald mit Trauer ober Bedauern von der
bevorftehenden Abreife ihres Mannes ſprach
und fi gar nicht zu Herzen zu nehmen ſchien,
daß fie nun für den ganzen Vorfrühling allein
bleiben ſollte N
„Wird es Ihnen nicht ſchwer werben,
Frau Karell, fo lange von dem Herrn Rektor
getrennt zu fein?” fragte fie einmal.
„Richt im mindejten,” erwiderte Alma.
Wenn es auf mic) anläme, fo würde ih am
liebften ganz allein twohnen, weit draußen im
Wald, fo daß keiner mich finden könnte.“
„Aber da würden ja die Wölfe Eie freſſen.“
„Und wenn aud, meinethalben!”
„Möchten Sie denn gern ſterben?“
„Sehr gern.”
„Gott im Himmel, wahrhaftig?
Beiſpiel jetzt gleich?”
„Gleich im Augenblick.“
„Und Sie hätten nicht die geringſte Furcht?”
„Wovor?“
„Nun, vor dem, was nach dem Tode kommt?“
Alma jah fie an. Sie erwiderte nichts,
verſank aber in Gebanfen.
Dann reifte John ab. Während ber
legten Tage hatte er Alma unabläffig forſchend
betrachtet. Aber fie merkte es und zeigte ſich
ſtets heiterer Stimmung. Auch vor dem Arzt
verficherte fie, daß fie fih gefund fühle und
feine Schmerzen habe.
Aber wenn fie allein war, Hang oft das
Wort der Näherin in ihren Chren: „Nun,
vor dem, was nad dem Tode kommt.“
Eines Nacht? hatte fie einen ſeltſamen
Traum. Sie mar im Neid der Toten.
Finſternis und Grauen umgaben fie von allen
Seiten, und Seufzer und Klagen erfüllten die
Luft. Je länger fie wanderte, deſto größer
ſchien die Angft der Geifter. Die Jammerrufe
wurden immer beutlicher, fie erholen von
allen Richtungen, befonders aus dem euer
ſchlund, dem fie ſich näherte.
Blaue Flammen, Schlangen und Ecelen,
die fi darin manden.
Hölle der Ehebrecherinnen“ ftand mit
Feuerſchrift darüber gefchrieben.
Zum
175
Sie ftürzte nieder, hörte das Weinen um
ſich und ſchrie felbit. Schrie, fo daß fie
erwachte. Schon wachend, fchrie fie noch eine
Weile, ebe fie ſich Mar gemacht hatte, daß es
nur ein Traum gewvefen.
Kalter Schweiß tropfte von ihrer Stirn,
und dennoch fror fie. Es war bunfel und
ſtill um fie her. Noch durchſchüttelte fie das
Entfegen des Traums. Cie nahm die Dede
um fih und ging in die Küche.
„Jeſus Chriftus, was fehlt der Frau?“
„Ich träumte fo häßlich, ih mag nicht
allein fein. Willſt du nicht auf dem Sofa
bei mir liegen, Maja Liſa?“
Ja.“
Maja Liſa nahm Polſter und Decke mit
ſich. Alma zündete die Nachtlampe an und
ſtellte ſie auf den Edtiſch am andern Ende
des Zimmers.
„Was haben Sie geträumt?” fragte Maja
Liſa, als fie auf dem Eofa lag.
„Ich kann es nicht ſagen.“
„Bar es ſo ſchauerlich? Sie haben gewiß
vergeſſen, den Segen zu beten, ehe Sie zu
Bett gingen. Wenn ich es je vergeſſe, ſo
kann ich ſicherlich die Nacht nicht ſchlafen.“
„Ich habe es in der legten Zeit verſäumt.“
„Guter Gott! Beten Sie denn nie mehr?”
Nein.”
„Aber das iſt ſchlecht.“
„Bete du für mich, Maja Liſa.“
„Ja, das will ich thun.“
Beide waren eine Weile ſtill. Maja Liſas
Atemzüge wurden ſchwer und gleichmäßig.
Aber Almas Augen waren immer noch offen.
„Maja Lija, ſchläiſt du ſchon?“
„Was mwünfht die Frau?” klang eine
ſchläfrige Stimme vom Sofa.
„Ich fürchte mich fo.”
„Ja, wenn die Frau fein Gebet fpricht.
Tas kommt daher.”
„Ich wage es nicht. Gott haßt mich.”
„Gott habt niemand, jondern erbarmt ſich
über alle und vergiebt die Zünden, wenn der
Menſch bereut.”
„Ich habe bereut, fo entjeglih bereut,
aber es hilft nichts.”
Maja Xifa konnte hierauf nichts fagen.
Sie hatte beten wollen und die Hände fchon
gefaltet auf die Bruft gelegt. Aber der Schlaf
Blinde Alippen.
„Kerrgott, wer?”
Alma anttwortete nicht; fie begann fich zu !
befinnen.
„Ich friere,” fagte fie ſchließlich.
„Iſt das ein Munder, meine liebe Frau,
wo Eie ganz naß vom Schweiß find. Gehen
Sie nur ſchnell ins Bett zurüd.”
„Nicht ind Bett. Ich will zu Arvis Grab.
Wer fommt und hilft mir?”
„Aber tönnen Eie das au, Frau Karel?”
„I, ih kann; wenn ih nur erſt an:
gefleidet bin.”
„Ich werde Zie ankleiden.
nehmen Sie wohl eine von ung mit.
Und dann
Wir
lafien Eie nicht allein fahren, nahdem Sie !
bei Nacht fo trank waren.”
„Nun bin id ganz gejund.
könnt mitlommen.”
Auf Minas Vorſchlag nahın man einen '
Alma jtieg ein, und Maja Yifa ,
Schlitten.
ſetzte ſich auf den Kutſchbock neben den Kuticher.
Ein Peitſchenknall, und fort ging's, daß ber
Schnee unter den Kufen knirſchte. Eine alte
Frau trat vom Wege beifeite und blidte
ihnen nad).
Der ſcharfe Mind peitfchte Almas Geſicht.
Er erfrifchte fie und befreite ihr Gemüt von
dem Grauen der Nacht. Es war nur ein
Traum geweſen, ein Phantafiebild ihres franten
Hirns. Niemand glaubte mehr an die Hölle
ober den Teufel; gab es nah dem Tode
irgend ein Gericht, irgend cine Strafe, ſo
mußten fie anders befchaffen jein. Keine
Hölle, kein Feuer... . Nah dem Tote?
Woher mußte man, daß «3 überhaupt ein !
Leben danach gab? Vielleicht war alles damit
zu Ende.
Auf der Straße waren viel Leute. An
einigen fuhren fie vorbei, andern begegneten
fie. Alle ſahen friſch und fräftig aus. Sogar
die Heinen, zerfeßten Betteljungen, bie einen
Schlitten binter fih berzogen und in ibre
roten Hände bliefen. Und auch der Bauer,
der cine Fuhre zur Stabt brachte und mit
den Zügeln in der Hand neben dem Pferde
einherging. Wie gern hätte Alına Leib und
Leben mit ihnen taufchen mögen!
Das Pferd hielt bei der Friedhoipfo—
Alma und Maja Lifa gingen hinein. Zi
mußten zuerft ein Stüd geradeaus gehen und
Doch ihr -
177
! dann rechts einbiegen, um zu Arvis Grab zu
fommen. Der Schnee war weich, Almas
| Schuhe und Aleiderfaum wurden naß. Rings⸗
ı umber ſtand Grabkreuz neben Grabkreuz. Sie
blieb ſtehen, um bald dies, bald jenes zu be—
trachten. Las den Namen, das Geburts- und
Todesjahr und blieb noch eine Weile, als
warte ſie auf irgend eine Aufklärung über
das Leben, das zwiſchen dieſen beiden Jahres⸗
zahlen lag. Aber nichts verriet es. Stumm
ſtanden die Kreuze mit ihren kurzen Inſchriften.
Und wie viele es waren! Unter jedem
ruhte mindeſtens einer, unter einigen mehrere
nebeneinander. Alle dieſe waren geboren
worden, herangewachſen, hatten ſich geircut,
hatten geſündigt, gelitten und waren geſtorben.
Ja, geſündigt hatten ſie alle, die Erwachſenen
‚ mehr, die Kinder weniger. Aber war ein
einziger von ihnen fo verbrecheriſch und fo tief
gefunten wie fie? Nürde aud fie bier
ruben fönnen, fo jtill und friedlich? . . .
Würde ihr Grabmal es nicht den Überlebenden
verkünden, wie twertlos und eitel ihr Leben
geweſen und wie elend es geendet? Würde
es nicht verfünden . . .
Sie flüchtete vor ihren eigenen Gedanken
und trat haftig zu Arvig Grab, wo fie ji
in den Schnee feßte.
„Thun Cie das nicht, liebe Frau, Sie
erfälten fi,” fagte Maja Liſa.
Alma hörte nicht. Sie hatte weinen
wollen. Ehedem gaben die Thränen ibr einen
fo fühen Troft, mit ihnen floß alle Dual und
Angit aus dem Herzen. Aber fie hatte feine
Thränen mehr. Und aud die hätten ibr
nicht geboljen. Keine Thränenfluten bätten
das Geſchehene ungeihehen machen fönnen.
Die Kreuze nahmen ein drohendes Aus:
ſehen an. Sie erfhienen ihr wie kalte, hart-
herzige Feinde, die fie von allen Seiten an—
griffe Die ſchwarzen Buchſtaben grinjten
fie an; fie fagten ihr, fie babe bis zum letzten
; Augenblid ihren Mann belogen und betrogen,
babe fih nod in der Abjchiedsftunde von
ibm umarmen lafjen, in tem Glauben, daß
fie ein treues, fittfames und chrbares Weib
ſei. Und fie fagten ibr, ihre Zeit ſei ger
fommen, und das Gericht rufe fir. Gottes
Gnade habe ſich von ihr gewandt, der Tod
i wolle ihr Gebein.
12
Du biſt bei mir.
Eie zogen bie Garbine vor, warfen einen
1
'
Blid auf Alma, die nun wirklich ſchlief, und
ſchlichen auf den Behenfpigen aus dem Zimmer.
Am neunten Tage danach ftand wieder
eine Menſchenmenge um ein geöffnetes Grab.
Der Priefter las den gewohnten Tert, warf
Erde auf den Sarg und fprady noch ein Gebet.
Als er geſchloſſen Hatte, drängten ſich auch
die Fernerftehenden heran, um ben Earg zu
fehen, der Almas Leib umſchloß. Eie warfen
dabei teilnehmende Blide auf John, in deſſen
Antlig und ganzer Haltung ſich tiefe Trauer,
gepaart mit einer männlichen Selbftbeherrihung,
179
ausprägte. Maja Lifa und Mina ftanden
nebeneinander auf der andern Seite bes Grabes.
Sie hatten fo geweint, daß ihre Augen ge=
ſchwollen waren, und fie meinten noch. Die
Heine Lypli auf Maja Liſas Arm meinte
auch, weil alle andern meinten, Papa und
Ella und alle. Und fie meinte und mollte
nicht aufhören, obwohl Tante Leiftin fie kußte
und mit ihr ſprach. Nur Helmi meinte gar
nicht, fondern ſchaute nur verwundert um fi,
legte dann ihren Arm um Minas Hals und
lehnte ihr Köpfchen an deren Wange. Und
Mina drüdte fie feſt an fih und ſchluchzte
noch ‚heftiger.
2
Du bi bei mir.
&ir in der Nacht,
Wenn kein Auge im müden Dorfe wacht,
Saß ich den alten Wanderftab
Und fchreite die dunkle Straße hinab.
Wie's um mich fingt!
Wie's aus allen Tiefen empor fich ringt
Und mit leifem Klang
Wandert die ftille Welt entlang!
Wehmütige Sehnfucht fleigt
Aus dem Dunfel herauf und neigt
Sich leife raunend mir zu
And diefe Sehnfucht bift du.
In der Stille der Nacht,
Auf weichen Sohlen, leife und facht,
Treulich mir zugefellt
Schreiteft du mit mir durchs fchlummernde Seld.
Wilhelm Tobfien.
A
12*
Frauenleben und · Streben.
Tieß fie unbeachtet. Unbegreiflich erſcheint e&, wie |
Frl. Helene Lange bie hiſtoriſche Thatſache ab:
leugnen tann, daß bei der Gründung des Bundes
ein derartiger Audfchluß erfolgt if, denn warum |
hätten ‚rau Pina Worgenftern, rau Cnaud:
Kühne, Frau von Gigndi und ich damals ſofort
mündlich dagegen proteftiert mit ber bringenben
Warnung vor den Folgen eines folhen Fehlers?
Barum, fo fragen wir, ift denn früher nie die '
Thatfache des Protefted dieier bier ‚zrauen von
Yundeövoritand auf Grund eines ficherlih vor:
banbenen Protokoll abgeleugnet worden? Tab
Iri Helene Yange den mündlichen Proteft dieſer
vier rauen mit einer Petition verwechſelt, welche
im Jahre 18%5 von Frau Gerhard, rau von Gi
und mir dem Reichötage eingereicht worden iſt,
Anderung der eingelftaatlihen Bereinögefeße be:
treffend, gehört allerdings zu jenen Ungeheuerlich |
teiten, welche uns jo oft in Erftaunen fegen, wenn |
wir mit ben Anhängern älterer Richtung verkehren.
Jene beiden Sachen haben gar feinen Zufammen: |
hang. Hiſtoriſche Thatfachen richtig zu ftellen ift
Pflicht, die Hiftorifche Wahrheit Duldet keine Beugung,
und Verwechslungen find zurüdzumeifen.“
Ten beiden legten Sägen ftimme ich unbedingt
zu. Zwar rechne ich einen Gedächtnisirrtum, der
in der Distuſſion begangen wird, wo einem
keinerlei Tuellen zu Gebote ftehen, fo wenig zu
ben „Ungeeuerfichteiten“, daß ich bie von Frau
Cauer in Dresden begangene Verwechslung von
Arau Gebauer mit Frau Gnaud:tühne in meinem
Artitel in der Novembernummer ber „rau“ gar
nicht einmal erwähnt habe. Ganz anders liegt bie .
Sache nad den oben angeführten, mit dem Pathos
ſittlicher Entrüftung gegen die „Anhänger älterer
Richtung” (!) vorgebrachten gedrudten Beicul-
digungen. (sehen wir alio an die „Rictigftellung
der hiſtoriſchen Thatiachen“.
Tazu wird und nun vor allem eine Meine un:
ſcheinbare Fußnote verhelfen, die ſich unter den
oben erwähnten Auslaffungen von rau Cauer
befindet und zu interejjant ift, als daß fie verbiente,
nur Fußnote zu bleiben. Tas Schidial ſolcher
Fußnoten ift befanntlich oft, überfeben zu werben.
Ich möchte mich daher ihrer annehmen und fie hier
zu genauerer Betrachtung in den Text einrüden,
Diefe Fußnote lautet:
„grau Gebauer, die Vorfigende des Vereins
von Sebeammen, hatte ihre Zuftimmung zu ber
Yaltung ber vier genannten grauen bei der Gründung
des Bundes nur durch Zwiſchenrufe bekundet, eine
fpäter in den Tageöblättern veröffentlichte Erklärung
behufs Rechtfertigung von Angriffen der liberalen
Brefie wurde von ihr mitunterzeichnet, von Frau
Gnaud:tühne dagegen nicht.”
Tiefe Heine Fußnote ift Beötwegen jo intereiiant,
weil bie darin fo beiläufig erwähnte, „Ipäter“ ver: '
öffentlichte Erlärung gerade bie iſt, von de
Stritt und ich in Dresden behaupteten, daß fie
von Frau Cauer, Frau von Gigpei, Frau Yina
Morgenftern und Frau Gebauer erlaſſen worden
181
fi. (Die nur momentane, und, wie rau Stritt
fofort erlärte, von ihr veranlaßte Verwechslung
der Namen Gerhard und (Hebauer ift aud von ihr
ſelbſt vor der ganzen Verſammlung ſogleich be:
richtigt worden, fo daß Frau Cauer jeder Vorwand
fehlt, jene „ungeheuerliche" Verwechslung mit einer
fpäter erſchienenen Petition auch jetzt noch ihren
Leſern als Thatſache vorzuführen.)
Dieſe Ertlärung erſchien „ipäter” — ja, das
iſt buchſtäblich wahr, fie wurde nämlich genau
einen Tag ſpäter abgefaßt, am 30. März 1894,
als dem Tage, der dem Sipungstag unmittelbar
folgte, und zwar nicht „behufs Rechtfertigung von
Angriffen der liberalen Preſſe,“ (ich neftche zwar,
daf mein Deutſch zum vollen Werftändniß dieſes
Satzes nicht ausreicht), fondern als Beſchwichtigung
des „Vorwärts auf eine ſpottiſche Notiz hin, die
er am 30. März unter dem Titel: „Ein rauen:
tongreß“ gebracht hatte. Ta nun bieie Erflärung
ſelbſt, die am 31. März im „Vorwärts erichien,
der unſcheinbaten Meinen Fußnote nicht beigefügt
iſt, jo geitatte ich mir, fie bier zum Abbrud zu
bringen. Sie dürfte doch zu manden überrafchenden
Folgerungen führen. Sie lautet:
„Die unterzeichneten ‚grauen, welche von ihren
Xereinen zur Konſtituierung bed Bundes beuticher
Frauenvereine delegiert worden find, erklären, daß
der in Nr. 73 des „Vorwärts“ veröffentlichte
Bericht über jene Verfanmlung, überfehrieben „cin
Frauenfongreß”, infolern nicht richtig ift, ald die
in Anführungsitridsen angeführten Worte: „Dan
wolle die Sozialbemofratie u. 1. w..... fernhalten“,
nur Worte der Vorfigenden waren und die Unter
zeichneten aegen den Ausihluß der ſozialdemo.
teatifen Arbeiterinnenvereine Einſpruch erboben
haben.
Frau Schulrat Cauer,
Delegierte des Hilfävereins für weibliche Angeitellte.
Frau Olga Gebauer,
Delegierte des Berliner Hebanmenvereind.
vilp vo. Gizndi,
Delegierte der deutfchen Geſellchaft für ethiſche Kultur.
yina Norgenitern,
Delegierte des Vereins ber Volfstüchen und des
Berliner Hausfrauenvereins.
Es fei hier zunäßt die Meine Unwahrheit be
richtigt, daf nur bie Vorfigende, Auguite Schmidt,
gegen die Aufnahme ſozialdemotratiſcher, d. h. über:
haupt politiiher Vereine, geiprechen habe. Es trat
eine Reihe von Rednerinnen dagegen auf, und ſchon
der Umftand, daß nur vier rauen Proteft erheben,
beweift, daß die Majorität der Verſammlung mit
dem Ausſchluß jogenannter politiicher Vereine aus
dem jungen Bund völlig einveritanden war.
Aus dieſer Erklärung ergeben fih nun nod
nachftebende intereffante Kolgerungen:
1. Am 30. März 1894 wußte Frau Schulrat Cauer
ichr wohl, daß nur von einem Ausſchluß der ſozial
demofratifchen Arbeiterinnenvereine die Rede war.
Frauenleben und Streben.
moſaiſchen Glauben? find allein 53 Ruffinnen.
Bon den Ausländerinnen find 66 aus Rußland,
31 aus Amerika, 4 aus Schottland, 3 aus Eng:
land, je 2 aus Frankreich, Rumänien und Bul:
garien, je l aus Befterreih, Schweden und aus
der Schweiz. Bon den 371 Damen ftudieren 6
Theologie (1 Religionsphilofophie), Zura ftubieren 2,
Medizin 27. Die übrigen 338 pflegen die ver:
Ihiedenartigen Fächer der philofophilchen Fakultät.
Bevorzugt werden von den Frauen Litteratur:
geichichte, Spraden und Kunſtgeſchichte, eine nicht
unerbebliche Zahl betreibt auch Naturwifienfchaften
und Nationalökonomie. Die Zahl der ftudierenden
Frauen ift gegen das vorige Winterbalbjahr zurüd:
gegangen. Die Urſache liegt in ben verfchärften
Beftimmungen für die Aufnahme der Auffinnen.
Numeriſch bat fich dad Frauenſtudium an ber Ber:
liner Univerfität folgendermaßen entwidelt. Seit
dem Sonmerbalbjahr 1896 waren bier zugelaſſen:
40, 98, 116, 193, 169, 241, 186, 431, 301, und
in dieſem Winter find es 371.
* Die Gymnaſialkurſe für Mädchen, deren
Einrichtung die Abteilung Frankfurt des Vereins
„Frauenbildung- Frauenſtudium“ übernommen bat,
werden Dftern 1901 ihre unterfte (fünfte) Klaſſe
eröffnen. Die Schul: und Lebrordnung der
Gymnaſialkurſe, die auch alle näheren Bedingungen
des Eintrittd und Beſuchs enthält, Liegt bereit?
im Drud vor und ift von der Vorfigenden ber
Abteilung Frankfurt des Vereins Frauenbildung:
Frauenſtudium, Frl. Dr. Winterbalter, zu
bezieben.
” Der Pommerſche Brovinzial:Eehrerverband
madte die Lehrerinnenfrage zum Gegenſtand
ber Berbandlungen feiner diesjährigen Generalver:
tammlung. Die Thejen, die in einem 2!/, jtündigen
Vortrag zur Annahme empfohlen wurden, erllärten
die Lehrerin für körperlich und feelifch weniger
geeignet zum Lehrberuf, als der Mann es Sei, für
weniger geeignet aud) wegen „gewiſſer Einfeitigfeiten
und Leiden, für welche die Urſache in der gejell:
Ihaftlihen Stellung des weiblichen Geſchlechts und
in der Chelofigkeit zu juchen iſt,“ außerdem für
entbebrlih, da der Einfluß des Weibes in den
meiften Fällen fchon durch die Familienerziehung
gebührend zur Geltung komme ꝛc. Sie jchaden, fo
lautet Bunft 4 der 1. Thefe, oft der Schule und
ben Lehrern dadurch, a) daß fie hierarchiſchen Ein:
flüſſen leicht zugänglich find, b) daß fie die männ—
lichen Lehrkräfte aus den beffer dotierten Stellen
verdrängen(). Was für die Verwendung ber
Lehrerinnen fchließlich zugeftanden wurde, entiprach
etwa ben oben feitgeftellten Anfichten über ihre
erzieblichen Fähigkeiten.
183
In der Debatte, in ber bie zweite Vorſitzende des
Landesvereind preußiicher Bolt3fchullehrerinnen,
Fräulein Liſchnewska, ald Hauptopponentin gegen
den Referenten auftrat, zeigte ſich bemerkenswerter
Weife, daß unter den auftretenden Rebnern bie
Mehrzahl nicht mit dem Referenten übereinftinimte,
wenn aud die Majorität der Berfammlung fi
in den weſentlichen Punkten auf feine Seite ftellte.
Mer fih wundert, daß ſolche Verhandlungen mit
folhen Refultaten überhaupt noch möglich find,
der ziehe in Betracht, daß man ed eben mit
„Binterpommern” zu thun bat.
* Das zweite philologiihe Staatseramen
beftand Frl. Dargarethe Heine in München mit
der Note I. Sie erhält dadurch die Lehrbefähigung
für alle Klafjen des humaniſtiſchen Gymnaſiums.
Sp ift auch Bayern in der Zulaffung zum Eramen
pro facultate docendi Preußen vorangegangen,
und man fann nur wünjchen, daß das Bei piel wirft.
* Die Organifation der Boarzellanarbeite-
rinnen in Öfterreich ift Gegenftand folgender
intereflanter Notiz der „Sozialen Praxis“
(Nr. 6):
Die Union der Glas- und keramiſchen Arbeiter
und Arbeiterinnen Dfterreich® war eine der erften
Branchenorganifationen, melde die Wichtigkeit der
Arbeiterinnenorganifation erfannt bat und mit vollem
Ernft an die Organifierung der Arbeiterinnen ihrer
Branche geichritten ift. Die Arbeiterinnenjektionen
im Ssiergebirge find ein Beftanbteil der Union,
und nunmehr ſoll aud die DOrganifierung der
PVorzellanarbeiterinnen wieder in Angriff genommen
werden. Es ift eine Thatfache, daß es nun bald
feine Arbeit giebt in der Porzellaninduftrie, in der
nicht Arbeiterinnen mit tbätig find. Bon Jahr zu
Jahr fteigt die Zahl derjelben rapid, und ebenſo
verringert fich die Zahl der männlichen Arbeiter.
In der Malerei find Malerinnen, in der Druderei
find Druderinnen, in der Dreberei find Dreberinnen
in der Gießerei Gießerinnen, in der Packerei,
Schleiferei, Sortiererei bauptfählih Mädchen be:
Thäftigt. Die Union wird in nächſter Zeit ber
Drganifation der Arbeiterinnen die vollite Auf:
merkſamkeit zuwenden und ridıtete an alle Orts—
gruppenleitungen das dringende Erſuchen, fie in
diefer Arbeit zu unteritügen. Sie will trachten,
den Beichluß des Ichten Gewerkſchaftskongreſſes
durchzuführen und, wo es halbwegs möglich tft,
Sektionen für die Arbeiterinnen zu errichten, um
e8 ihnen zu ermöglichen, ihre Angelegenheiten im
eigenen Kreife zu regeln. Im Siergebirge beftehen
bereit3 16 Sektionen von Arbeiterinnen, ebenfo im
Hatida-Steinfchönauer Verband.
* Marie von Ebner⸗Eſchenbach. Ter Rede
des Brofefjord der deutichen Litteratur Dr. Minor
bei Überreihung des Ehrendoktoratsdiploms an
Marie von Ebner-Eſchenbach entnehmen wir noch
fulgende Sätze:
„Sie werden e8 bier in diefem Diplome lejen,
daß wir, wie alle Welt, in Ihnen nicht bloß die
Frauenvereine.
Während feines ganzen Lebens, ob in Deutſchland
oder im Exil, bat mein Vater, wie ich wohl fagen
tann, auf feine Weiſe immerbar, ob auch unbemußt,
das geiltige Band geftärkt zwiſchen Deutſchland
und England, dem Yande, bad er liebte, deſſen
veitifhe und feziale Freiheit ihm Lebensluft war.
Er bat das nicht zum wenit ften gethan durch ſeine
herrlichen Überfegungen aus feiner
englijhen £itteratur. Und von feinen vielen Über:
tragungen ind Deutſche bürfte die erfte Stropl
von Campbell® „England to Germany“ wohl bier
am Blage fein:
„Meerüber ruft Britannia
Der Schwefter Deutfchland zu:
Wach’ auf, o Allemannia,
Brich beine Ketten du!
Beim Blut, das und zu Brüdern macht,
Allemannen, auf, ertracht!
Und dreimal geheilige fei
Unfrer Sergen eilig vand,
Wenn ung jujauczt, endlich frei,
Euer Yand — euer Yanb!”
Mein Vater übericgte das Gedicht |. 3. wahr:
ſcheinlich im Hinblid auf Deutſchlands politiſche
Anechtung. Ich citiere ed mit dem gluhenden
geliebten '
i ganz fo äußerte, wie es auf die heute beregte Frage
: paßt.
185
Zeit wieder aufleben möge.” Und nicht auf ihren
Vater allein beruft ſich ‚rau Kroeker. Sie führt
auch einen noch unveröffentlichten Brief, geichrieben
1854, von Johanna Kintel an, worin dieſe
„tapfere beutiche rau, patriotifh und dennoch nicht
blind für die Schwächen ihrer Landsleute, bie
Mängel, wie die guten Eigenſchaften beuticher- und
engliidperfeits Mar erfennend," fi) ſchon damais
Tie als „ergöglih und zugleich lehrreich“
mitgeteilte Briefſtelle handelt von dem in manden
Flücptlingötreifen herrichenden Widertilfen, bie Lor-
züge des Yandes, im dem fie lebten, anzuertennen
und „in Srieden mit ihrer Umgebung zu (eben.”
" „Nöchten dieſe fhönen poſthumen Worte,“ jo ſchließt
Vateriand gehegt habe, wie ich glei
Wuniche, daß das Gefühl von Brüderlichfeit, das ;
die fhöne Dicptung durajtrömt, in nicht zu ferner :
Frau Freiligratb-Kroeter, „wie Ryigeniens Ich
bringe ſüßes Rauchwert in bie Flamme wirten,
und möge der zwiſchen den beiden Nationen leider
unlängft fo erweiterte Bruch fich almäblih und
fer febließen. Und bieier Hoffnung,“ fegt fie
binzu, „Lebe ich vertrauendvoll mit der ganzen Yiebe,
bie ich von meiner Kindheit an für mein deutſches
tig England
fiebe, bie Zufluchtöftätte meines verbannt geweſenen
Vaters und meine Heimat fürs Yeben.” — Ticie
aus beftem deutſchen Herzen Tommenden Wünſche
werden gewiß in der beutichen Frauenwelt ein
Ehe finden. Vertba Treumann:Koner.
m.
Ffrauenvereine.
Mufitfeltion des Allgemeinen Deutſchen
Xererinnenvereins.
(Borfigende: Frl. Hentel: Frankfurt.)
Über die Entwidlung und die Ziele der Mufitfettion :
des Allgemeinen Deutſchen vehrerinnenvereins giebt
Fel. Anna deffe in Nr. 19 des „Rlavierlehrer“
(Ned. Anna Mori, Berlin W., Pafjauerftr. 3)
einen eingehenden Bericht, auf den wir alle, die ſich
für die Sade der Mufitlehrerin interefjieren, auf.
merffam machen möchten.
ſich die große Aufgabe geftellt, die Forderung einer
Staatöprüfung für die Mufitlehrerinnen ihrer Ver-
wirklichung entgegenführen zu helfen und für bie
Reform des Geiangunterrichts in den Mädchen
ſchulen und die Anftellung von auögebilbeten (Sejang
Icbrerinnen an denfelben zu arbeiten. Es ift fehr
zu wünſchen, daß diefe Beftrebungen in weitere
Kreiſe dringen.
„Bereins-Gentralftelle für Rechtsſchutz.“
Xeiterin: Dr. jur. Marie Raſchke.
Die V. €. St. für Rechtsſchutz bewedt:
Die Nufitfettion hat .
Materials aller durch ben Rechtsſchutz auf gütlichen
Wege vermittelten Schlichtungen von Recht:
ftreitigleiten ſowie aller durch Vermittlung der
einzelnen ¶ Rechtoſchutß Vereine und Kectsichus
ftellen auf gerichtlichen Wege erlangten Nechte:
enticheidungen (Anlegung eines Archivs).
5. Zie will allen Frauen Vereinen Nat und
Hilfe bei Einrichtungen von Nebtöturien geben
und ihnen geeignete Yehrfräite zuweiſen.
Ein jeder Wechtöichug: Verein und eine jede
Rechtsſchutzſtelle iſt berechtigt, gegen Zahlung von
jährlich 2 Mart jih der ®. C. Si
ihug anyugliedern und gegen Ci
1 Mark fchriftlih Austunft in allen Redtäfragen
zu verlangen.
Tie angeglicderten Vereine und Nechtöfhut:
ftellen verpflichten fi:
a) für die Einrichtung von Rechtsſchuhzſtellen
in allen größeren und mittleren Städten Teutſch
* lands Sorge tragen zu wollen,
b) ber Gentralftelle alle 3 ober 6 Vionate ihre
Erfabrungen auf dem (ebiete des Rehtöichuges
1. Die Verbindung aller derjenigen rauen: '
Vereine und Vereins Unternehmungen, welche dazu
dienen, den frauen Rat und Hilie in Rechtsfragen
und Rectöftreitigteiten zu gewähren.
2. Sie will Anregung geben zur Schopfung
neuer Rechtsſchus · Vereine oder Rehtöichugitellen.
3. Sie will Auötunftöftelle in allen beſonderen
Rechtsfragen und Rechtsfällen fein.
4. Sie will als Mittelpunkt dienen zur ſchriit
lichen Niederlegung aller Erfahrungen auf dem
Gebiete des Rechtsſchuhes, zur Sammlung des
den Verlauf ibrer Vermittlung bei Rechts.
ſtreitigkeiten mitzuteilen,
e) für bie Verbreitung ber Nechtöfenntnis unter
den grauen zu fergen, fewohl durd Einrichtung
von Nedtöfurien als durch Sinweis auf bie
„aehicheit für Fepufüre Rectökunde."
Tie v. €. für Nebteihug hat ihren
Zig am Wohnerte der Leiterin derſelben
Tas Burcau der 8. €. >t. für diechtsſchut
befindet fh Berlin SW, Nüniggrägerftraiie 88,
Sof pt. Mint. Zpreditunden: täglid von
12—2 Ubr, am Mittwoch und Sonnabend auch
von 3—9 Uhr abends.
>
Bücerfchau.
dies Buch. Farbenprächtige und allzufarbengrelle *
Bilder, daneben andere von zarterem Schmelz und
biskreterem Timbre. Jeder Gedante, der den Hopf
des Monologiften, der im Wittelpuntt des Yucca
ftebt, durdyudt, wird in ein Gemälde umgejcht,
und das wirkt auf die Tauer mehr ald ermüdend. |
Und das Traumbild tritt gleich berechtigt gleich
folgenſchwer neben bie Wirklichleitövifion. In
bieler Folge der Bilder aber giebt fi) eigenartig
eine ſeeliſche Entwicklung, bie im cigenartigem
Gegenſatz zu dieſer ichfüchtigen Kunft fteht: eine
Überwindung des Egoismus gilt «8, ein Yeben mit
andren und für andre gewinnt lodende Kraft und
ſcheint ſich in der Seele des Einſamen durchzufegen.
„Die Geſchichte der jungen Renate Fuchs.“
Roman von Jacob Waijfermann. (Berlin 1900,
2. Fiſcher, Verlag) „Ein Mann tann fallen,
Frauen nicht,“ das ift dad Thema dieſes Roman:
die Geſchichte der jungen Renate Fuchs ift die
Gefchichte eined Näbchene, die in allem Niedergang
des Lebens der Seele Neufchheit ſich bewahrt
Und zwar tief innerlich bewahrt: wie eine Trauı
wanblerin geht fie durch das Xeben, gewiſſe
Saiten in ihrer Bruſt bleiben unberührt durch die
Außenwelt, die fie umgiebt, durch bie Menichen,
die fie mißkandeln. Es iſt gleihiam ein myſtiſch
Dunſtkreis um ihre Perfönlichkeit, den meniges,
und zwar das Homogene nur durchbricht. Renate
Fuchs iſt die Toter eines reichen Fabritanten,
einem Herzog ift fie verlobt. Aber in ihr it der
Trang nad Selbftbeftimmung, fie giebt ben Herzog
auf, um einem jungen Mann in freier Ehe zu
folgen. Der kirchlichen Sanktion dieje® Bündniſſes
wideritrebt fie felbft. Und ihre erite jelbftänbige
Handlung ift der erfte ſchwere Mißgriff, den fie
begeht. Neine innere Gemeinſchaft ift zwiichen ihr
und diefem Mann, unb, als er verarmt, tritt
vollends die feige Brutalität feiner Natur offen:
tundig hervor. Sie verläßt ihn. Und nun der
tiefe Mbftieg ihres Lebens; fie fommt in bentbar
ſchiechteſte Gejelichaft, fie wird Gouvernante in
einem dentbar fittlich tiefftchenden Haushalt, fie
tritt in einem Variete der eleganten Lebewelt auf.
Und von allevem bleibt ihre Scele unberührt. —
Es ift viel Romanhaftes in der Durchführung des
Lebensfcpidfals diefer Frau, viel unreife Wiltür
und viel häplih) Cuäfendes. Doch tritt in alledem
eine Kraft zu tage, Stimmungen zu verdichten, audı
dem ungejprodenen Wort Geltung zu verihafien,
in dem Vielerfei der Stimmungen die Grundmelodie
durdpffingen zu laiſen, bie nicht alltäglich if. rei:
fi, neben der Hauptgeſtalt bietet der Noman
nur Schemen.
Behler Herr als Knecht“. Roman von
Fedor von Zobeltig (Berlin 1900, 7. Fontane
& €o.). Zobeltig' neuer Roman ift ein ſpannendes
Buch, dad man mit Vergnügen fchmöfert. Mit
einem Galabiner beim alten Kaiſer Wilbelm fett
es ein, und ber junge Kabet, ber ba aufivartend
hinter dem Schah von Perfien fteht, wird jchlichlich
ſelbſt auf einen Fürftentbron geführt. Seltſam
und etwa® ronanbaft inupfen und fchlingen ſich
die Fäden, aber wenn man nicht immer überzeugt
ift, fo ift man doch immer gefefjelt. Anicaulidı
und echt ift die Yeufnantägeit in einem märfiichen
Neft gezeichnet, und man ift Zeuge, wie der junge
Graf, der in den Mittelvunkt der Erzählung gerüdt
187
ift, inmerli wird. Nachher auf dem SKerricher:
thron Jlyriens bewährt er die gewonnene Kraft,
— das wäre am fich gewiß nicht übel; aber bevor
der frübe Tod ibn auf fiegreihem Schlachtfeld
ereitt, beglüdt ibm noch recht romanhaft eine Yiche,
in deren Schilderung das Märden von dem
Prinzeſchen im Schäferinnenkleidve den Grundton
abgiebt. Zobeltig' Roman ift auf breitere Schichten
berechnet und offenbar werden dem Geichmad des
Bubliftums Konzeſſionen gemacht; de ift eine
getwifie Echtheit und Treue in der Charakterzeichnung
gewahrt, jo daß au ein anipruchövoller Yefer das
Buch gern in die Sand nehmen mag.
„Gin frohes Farbenſpiel.“ Humoriſtiſche
Plaubereien von Dito Ernft. (Perlag von
x. Staadmann, Leipzig 1900.) Es ift ſchade, dak
Dtto Ernft fein Buch mit dem Untertitel verfehen
bat. Sp ein Untertitel erzeugt immer ein leijes
Mißtrauen, cs erinnert etwas an die Anpreifung
„großer Yacherfolg” auf Theaterzettein. Ind die
Plaudereien rechtfertigen dies Mißtrauen durchaus
nit. Duo Ernftß Sumor ijt frijcher, Bräftiger
Burſchenhumor, dem man eine gelegentliche (se:
fmadfofigteit nicht übel nimmt, ein Humor, ber
alle guten Yeute in Stimmung bringt, wie ein
Studentenlied, ohne gerade hoben äfthetiichen ober
pinchologiichen An ſpruchen gerecht Ju werden. Und
dann etwas Warmes, Heimatfrohes im ben
Stiggen, viele Heine Züge verraten die Tiefe und
b die dazu gehört, um die Poeſie ber vier
Wände zu erjhöpfen. Um dieſer Kraft willen jei
dem Berfafler die „vertvegene Plauderei” über die
Frauen verzieben und bie thörichte Enquete; die
Frauenbewegung ift ja zum Gfüd in der vage,
dergleichen Ergüsie nicht mehr widerlegen zu müjen,
fie fann nur an ihnen die Thatlache fonftatieren,
daß es nod immer Yeute giebt, die mit ihren
twirtlihen Zielen nicht decht Beicheid wifen.
„Die Zeitihrift für die neuteſtamentliche
Biffenfhaft und die Kunde des Urhriftentums"
bringt in dem erften Seft ihres eriten Jahrgangs
eine intereilante Abhandlung von Prof. I. Abelf
Barnad, „Probabilia über die Adrejie und
den Verfafier des Hebräerbriefes.“ Diele
Abhandlung iei hier aus dem (Srunde erwähnt,
weil darin in außerordentlich fcharffinniger Weije
bie Hopoiheſe durchgeführt it, daß der Hebraer
brief eine Verfaiferin gehabt habe, bezw. daß
eine Frau an der Abfailung itark beteiligt deweſen
fei. Sarnad führt durch eine Neipe von Beweis:
führungen den Hebräerbrief auf das in der Geichichte
bed Paulus oft erwähnte Ehepaar Ayuila und
Briscilla zurüd und ertlärt vie Thatfache, dah
der Name des Autors verloren gegangen, aus der
abfehmenden Saltung, die bie Kirche ſchon im
erften Jabrbundert und bis zum dritten in fteigendem
Dafe gegen die Ichrenden Frauen eingenommen bat.
„VBlumenmärden“. Bilder, Terte und Litho—
graphien von Ernit Kreidolf. Pilot und Boehle,
Münden. Cin Bub, fo reid an lichenswürbigen
Eintällen, an feiner, bumervoller, friiher Belebung
au’ der Weſen in Wald und Flur, daß es wie ein
Eintauchen in ben Heichtum der Naturbeicelung des
Vollsmärchen® erquidt und entzüdt. \ehes
Blümchen und jeder Käfer erhält feinen befonderen
Charakter, jedes Blatt, jede Nante, jeder Yalm
wird zur Geſialtung dieſes Charatteriftiichen anmutig
194 Frauen: yabrilarbeit und Yrauenfrage.
zu können, fandten fie noch vor diejen amtlichen Veröffentlihungen eine Flut von
Büchern und Brofchüren auf den Markt, die mit den befannten Argumenten die puß:
jüchtige, pflichtvergeffene Fabrikarbeiterin für die häuslichen Pflichten des Weibes, für
die Familientugenden zurüderobern wollten.
Diefe zahlreichen Neuerjcheinungen bedürfen feiner Widerlegung. feiner ein:
gehenden Erörterung mehr. Sie haben in den jegt vollzählig vorliegenden Berichten
der Gemwerbeinfpeftoren der deutichen Bundesftaaten die befte Würdigung gefunden;
der Wortlaut der Inſpektionsberichte kann ftellenmweife geradezu als Antwort, als
Entgegnung dienen. Nur diejenigen Veröffentlichungen zu der, Frage des Ausſchluſſes
der Frau aus der Fabrik müſſen in diefen Blättern erwähnt werden, deren Verfaſſer
die gute Gelegenheit, fich mit der Frauenbewegung auseinanderzujegen, nicht unbenugt
vorübergeben ließen. Unter dieſen verjucht das namentlicdy die Brofchüre: „Frauen:
Fabrilarbeit und Frauenfrage Eine prinzipielle Antwort auf die Frage der
Ausfchließung der verheirateten Frauen aus der Fabrif”!) von Dr. Ludwig Pohle
und „Die Frau als Induſtrie-Arbeiterin. Ein Beitrag zur Löfung der Arbeiter:
frage” ?) von Fr. Collet. Beide Brojchüren Haben auch außer den etwas ſchwer⸗
fälligen und anſpruchsvollen Titeln viel Gemeinfames: beide find entichtedene Tendenz:
jchriften gegen die Sozialdemokratie; beide erklären fich mit aller Entfchiedenheit für
den Ausjchluß der Frau aus der Fabrik und kennzeichnen ihre Verfaffer ala Gegner
einer „unbedingten Frauenemanzipation.” Der Verfaffer der erfigenannten Schrift
unterfcheidet fi) aber menigftend von Fr. Collet dadurch vorteilbaft baß er den
Verſuch unternimmt, Bemweismaterial für feine Anfichten zu erbringen, während dieſer
fih im allgemeinen mit Aufftelung von Behauptungen begnügt. Eine Erörterung
der Pohle'ſchen, weit umfangreicheren Schrift wird daher jegliches Eingehen auf die
Collet'ſche Brojchüre überflüffig machen.
* *
*
Pohle Mmüpft mit feinen Ausführungen an den internationalen Arbeiterfchug-
fongreß in Zürich (1897) an, auf dem ein Antrag, für ein Verbot der Frauen:
Fabrikarbeit einzutreten, zu den beftigiten Auseinanderfegungen führte. Die Vertreter
zweier Weltanfchauungen in Bezug auf die gejellichaftliche Stellung der Frau
ftanden fich dort gegenüber. Der Antrag fiel; 165 gegen 98 Stimmen chen ſich
für die Freiheit der Frau auf dem Arbeitsmarkt aus. Pohle ſagt von dieſer Ab—
ſtimmung, daß merkwürdigerweiſe außer den Sozialiſten auch die anweſenden Vertreter
der nationalſozialen Partei (und manche andere! Anmerk. der Verf.) in dieſem Sinne
ftimmten, „die eigentlich fchon aus dem Grunde für ein Verbot der eheweiblichen
Fabrikarbeit Hätten eintreten müfjen, damit ihre Partei eine Arbeiterfchugforderung
erhalte, durch die fie fi von der Sozialdemokratie ‚reinlich‘ ſcheidet.“
Der Berfaffer, der offenbar nicht geneigt ift, fich in einzelnen Fällen mit politifchen
Parteien zu verftändigen, die ihm nicht genehm find, giebt mit dieſen Worten bereits
einen Anhaltspunkt für feine Stellungnahme zur Frauenbewegung. Er kann keine
Sympathie für Beftrebungen haben, die vielfach in Bezug auf die gefellichaftliche
Stellung der Frau diefelben Forderungen wie die Sozialdemokratie aufftellen, und die
ein Verbot der Fabrifarbeit verbeirateter Frauen befämpfen, weil dadurch die völlige
wirtfchaftliche Unabhängigkeit der Yrau vom Manne verhindert würde.
Da Dr. Pohle verſucht, ein reichhaltiges Zahlenmaterial für feine Forderungen
nugbar zu machen und die Durchführbarfeit des Verbot? der Frauenfabrilarbeit zu
beweifen, fo türmen fich, troß feiner gegnerifchen Stellung zur Frauenbewegung, biejelben
Schwierigkeiten vor ihm auf, die auch von den Frauen immer bei Erörterung der
Frage betont worden find. Er giebt zu, daß ein ſolches Verbot nicht jede verheiratete
Frau treffen dürfe, jondern nur die, welche „Mutterpflichten zu erfüllen bat, mas
allerdings bei Ehefrauen der normale Fall jet.”
Y Verlag: Veit u. Comp. Leipzig 1900.
2) Berlag der Arbeiter:Verforgung. U. Trojchel. Berlin 1900.
Frauen: yabritarbeit und Frauenfrage. 195
Pohle erkennt alsdann die Notwendigkeit an „im Intereſſe derjenigen Ehefrauen
eine Einſchränkung des Verbot? vorzunehmen, die durch die Erwerbsunfahigkeit ihres
Gatten in die traurige Notlage verjegt find, durch ihre Arbeit die Koſten des Unterhalts
der ganzen Familie allein aufbringen zu müjlen.” „Das Gleiche,“ fo fagt er, „gilt
jelbftverftändlich auch für verwitwete Frauen, folange unfere Arbeiterverſicherung noch
nicht durch eine hinlangliche Unterftügung gewährende Witwen: und Waifenverfiherung
ergänzt ift. Die Pflicht, durch eigene Erwerbsarbeit für den Unterhalt der Ihrigen zu
jorgen, behauptet bei den Frauen der beiden letztgenannten Kategorien ziveifellos den
Vorrang vor der Pflicht, die feineren, mehr auf hygieiniſchem, intellektuellem und
moralifhem Gebiete liegenden Aufgaben zu erfüllen, die einer Mutter gegen ihre
Kinder obliegen. Erſt muß naturgemäß die Erhaltung des nadten Lebens gelichert
fein, ehe an etwas anderes gedacht werden kann, mag dieſes andere und nod) fo fehr
als das im Grunde Wichtigere und als da3 eigentliche Ziel der Entwidlung der
Menſchheit erſcheinen. Den Witwen und den Frauen erwerbsunfähig gemordener
Männer, fowie den geichiedenen Frauen find eventuell auch noch diejenigen Frauen
nleichzuftellen, deren Männer nicht im ftande find, ausreichenden Unterhalt für ihre
Familie zu beicaffen, die beiſpielsweiſe nicht den ortZüblichen Tagelohn verdienen.“
Nachdem Dr. Pohle felbft eine ſolche Einfchränkung des eventuellen, von ihm
angeftrebten Verbots als notwendig anerkennt, drängt fi unwillkürlich die Frage auf:
Wer bliebe für ein ſolches Verbot eigentlich übrig? Glaubt Dr. Pohle wirklich, daß
die Frauen aus Vergnügungsfucht in die Fabrif gehen? Die von ihm angeführten
Zahlen, nämlich von etiva 130 000 verheirateten Zabrifarbeiterinnen, von denen vielleicht
80 000—90 000 Mutterpflichten zu erfüllen hätten, fönnen deshalb durchaus nicht für
irgendwelche derartige Echlüffe nugbar gemacht werden, weil fie einer Statiſtik ent-
nommen find (ber gewerblichen Betriebszählung vom 14. VI. 1895), die nur nad
dem Stand, nicht nad) den wirtfchaftlichen Verbältniffen fragt. Wenn alſo auch die
verwitweten und gefchiedenen Frauen nicht in dieſe Zahlen mit eingerechnet find, fo
bleibt doch die Frage offen, wie viele won diefen 130 000 reſp. 80 000 Frauen zur
Fabrifarbeit dur die wolle oder teilmeife Erwerbäunfähigfeit ihrer Männer
geswungen waren. Die Geiwerbeinipeltionsberichte geben darauf eine beachtend-
werte Antivort:
In den Hamburgifchen Bericht Heißt e8: „Unter den fämtlihen 2220 in
den Fabriken beihäftigten verheirateten Arbeiterinnen wurden nur 20 oder 0,9 Prozent
ermittelt, die lediglich aus dem Grunde ihre Arbeitskraft in den Fabriken verwerteten,
um bie 2ebenshaltung ihrer Familie beffer und reichlicher zu geftalten. Alle übrigen
Frauen find zur Arbeit in der Fabrik gezwungen, weil fie durch die Ver:
bältniffe zum weſentlichen, bisweilen zum Haupternährer, oft fogar zum
einzigen Ernährer ber ganzen Familie geworden find.”
Der württembergiiche Bericht jagt: „Der Grund der Veichäftigung der Frau
in der Fabrik ift in den allermeiften Fällen, kurz gefagt, die bittere Not des
Augenblicks, und nur vereinzelt kommt die Abjicht, für die Zukunft zu forgen oder
ſich zu befonderen Ausgaben einen Nebenverdienft zu fchaffen, in Frage.“
In den beffifchen Berichten wird übereinjtimmend hervorgehoben, daß ber
Hauptgrund für die Fabrifarbeit der Frauen in dem geringen Verdienſt der Männer
zu fügen ift. Bei 333 Männern, deren Frauen in Fabriken befchäftigt find, ſtellt ſich
der burchfchnittliche Wochenverdienft auf nur 13,10 Mark. Ihre Frauen hatten zum
Teil die gleiche oder fogar eine größere wöchentliche Einnahme. Auch die bavriichen
Berichte ſprechen fich dahin aus, daß Veranlajjung zur Fabrifarbeit bei allen Frauen
mehr oder minder die wirtfchaftliche Notwendigkeit fei, für fi oder die Familie den
zum Lebensunterhalt erforderlichen Verdienſt zu beſchaffen. So berichtet der ober=
bayerifche Aufſichtsbeamte:
„Bon den 1253 befragten Frauen bezeichneten 444 ungenügenden Verdienſt,
45 unbeftinmte Einnahme, 30 Krankheit, 29 Erwerbsunfähigleit des Mannes, 47
größere Ninderzahl, 95 die Erhaltung verdienftunfähiger Stinder, Eltern oder An:
verwandten, 12 Zahlungsverpflichtungen, von der Arbeitslofigfeit des Mannes her:
13*
Frauen: Fabritarbeit und Frauenfrage. 197
oder auch im Handel Beſchaftigung fuchen, oder fie kann Aufmartungen übernehmen,
als Kochfrau oder Pflegerin den x.” Ob fie bei Ausübung diefer leider noch ganz
ungejcügten Gewerbe, bie fie teilmeife noch für mehr ala 11 Stunden täglich von
Haufe fern halten, „die Mutterpflichten gegen ihre neugeborenen Kinder” befjer erfüllen
dürften? Übrigens macht der Verfaſſer an anderer Stelle gar fein Hehl daraus, daß
für ihn das Verbot der Fabrikarbeit nur ein „Anfang“ fein fol, „um dem Unweſen
der regelmäßigen Eriwerböthätigfeit verheirateter Frauen außer dem Haufe energiſch zu
Leibe zu gehen.” „Denn,“ fo fagt er in der Einleitung, „daß man mit einem Verbot
der Frauen-Fabrifarbeit anfängt, bedingt ja nicht, daß man damit auch wieder
aufhören und hierbei in alle Ewigkeit ftehen bleiben muß;“ und weiter: „die Ent:
widlung wird nicht bei bem Verbot der eheweiblichen Arbeit nur auf dem Gebiete der
Fabrifinduftrie Halt machen, fondern das Verbot wird nah und nah aud die
anderen Teile des Wirtichaftslebens ergreifen.“
Wenn die Prognofe des Herrn Pohle fich verwirklichen müßte, dann dürfte es
Aufgabe der Frauenbewegung werden, allen Ehefrauen, die nicht vom Mann erhalten
ober auskommlich ernährt werden fünnen, zu empfehlen, ins Waffer zu gehen. Pohle
laubt allerdings, daß ed der Familienwirtfchaft geradezu einen pefuniären Gewinn
Tingen wird, wenn die Frau durch das betreffende Verbot lediglich auf ihre —
Thaligleit beſchrankt wird; einen Gewinn, der den Verluſtpoſten des fortfallenden
Verdienſtes ausgleicht. „Die Frau wird nunmehr ihre Kräfte ungeteilt dem Haushalt
widmen; fie wird Heine Vorteile, bie fie ehemals nicht fo wahrnehmen konnte, genau
ausnügen, und duch ihre erbaltende und ausbeſſernde Thätigkeit mande
Ausgabe ganz erfparen.”
Die Ausführungen über die Durchführbarkeit eines Verbot? der Fabrikarbeit
fchließt Pohle mit der Behauptung, daß der Gejeßgeber damit bie natürliche Entwidlung
unterftlügen würde. Cr führt dazu Karl Bücher an:
„Denn das muß vor allem feftgehalten werden, durch die ganze Geichichte und
namentlih durch die Gefchichte unjeres Volkes geht ein mächtiger Zug, der darauf
Binführt, die rau mehr und mehr von der fehweren aufreibenden Mühfal des Erwerbs
zu entlaften und dieſe auf die flärferen Schultern des Mannes zu laden, den Manne
die ſchaffende, die werbende Arbeit der Güterzeugung, ber Frau die verwaltende und
erhaltende Thätigkeit in der Hausmwirtfchaft, dem Manne den waglichen Kampf ums
Dafein, der Frau die behagliche Geftaltung desſelben zuzuweiſen. (Mit 13 Dart
Woceneinnahme! Anm. der Verf.) Diefen Zug der Entwidlung nad, Möglichkeit zu
fördern, ift bie Aufgabe einer gefunden, Hiftorifh aufbauenden Sozialpolitil. AL
Gehilfin des Mannes im Rahmen der Familie mag die Frau zum eigenen und
allgemeinen Beften auch in der eigentlichen Erwerbswirtſchaft thätig fein, nimmermehr
jedoch als Konkurrentin des Mannes außerhalb diejes Rahmens.” Dieſe
Worte bedürfen keines Kommentars.
* *
*
Im zweiten Teil, in dem die Notwendigkeit der Ausfchließung der verheirateten
Frau aus der Fabrik behandelt wird, fegt der Verfaffer ſich mit ber Sozialdemokratie
und ber Seauenbervegung audeinander. Beide werden im fchönfter Harmonie mit
einander abgemacht. Pohle erörtert die Frage, wie die Sozialdemokraten ihre ablehnende
Haltung im Hinblid auf die ſchweren Nachteile aufrecht erhalten können, welche die
eheweibliche Fabrikarbeit für das Familienleben und die Kindererziehung unleugbar
hat. Ob ſie mit Blindheit gefhlagen find oder Scheuflappen vor den Augen tragen,
jo daß fie dieſe Schäden nicht wahrnehmen! Cr macht ihnen daraus den Vorwurf,
daß biejenigen, bie diefe Schäden anerkennen, trogdem die Forderung folgendermaßen
ablehnen: „Es ift ein dringendes Kulturbebürfnis, der modernen Entwidlung der
Frauenarbeit nicht ftrangulierende Feſſeln anzulegen. Ein allgemeines Verbot der
Frauenarbeit wäre gleichbedeutend mit der Zurüdverfegung. der Frau in die alte
abfolute mirtichaftliche Abhängigkeit vom Manne und nicht im Imereſſe der für die
An da Reue Jahr. 189
Pohles Ausführungen zu dem, was von ber Frauenbewegung für die Frau ber
befigenden Klaffen gefordert wird, Aehen fo durchaus auf dem Niveau deſſen, was
in biefen Blättern ſchon fo oft widerlegt ift, daß ein näheres Eingehen darauf
überflüffig erſcheint.
Zum Schluß noch ein Wort über die Widmung des Buches, Auch in ber
Litteratur giebt ed Moden; es fcheint jegt an ber Tagedorbnung zu fein, daß Bücher,
die ns en das freie Menfchentum des Weibes wenden, die für eine Verkümmerung
ihrer Menichenrechte, für Unterdrüdung ihres Ringens und Strebens eintreten, von
den Verfaffern ihren Frauen zugeeignet werben. Auch Pohle ift dem Beiſpiel
bedeutender Borgänger darin gefolgt. Den Frauenrechtlerinnen muß dad wie ein
Hohn erfcheinen. Beim Lefen des Pohleſchen Buches werden fie ſich des Gedankens
nicht erwehren können, ob Frauen, die foldhe Widmungen annehmen, oder denen fie
bargebracht werben, fich auch noch mit dem häuslichen Rahmen für ihre Bethätigung
Beideiben würden, wenn fie in ihrer Wirtfchaftsführung, in der Pflege des Hauſes
und der Kinder auf ein Ausgabenbudget angewiefen wären, das nur zur Beftreitung
der unentbehrlichen Lebensbebürfniffe hinreicht. Vielleicht würden auch fie in den
Verhältniffen, die ihre Männer heut der verheirateten Fabrikarbeiterin zumuten und
aufzwingen wollen, den Wunſch empfinden, durch ihre Arbeit die Lebendhaltung
ihrer Familie zu verbeffern, ihren Kindern zu einer befleren, glüdlicheren Zukunft
emporzubelfen. Denn das ift der gewaltigſte Drud, der namentlich von dem intelligenteren
Teil der Arbeiterichaft heut ſchwer empfunden wird, bie Unficherheit ihres Loſes, bie
geringe Möglichkeit, ihren Kindern zu einer beſſeren Lebenäftellung zu verhelfen, als
die Eltern fie einnehmen. Das mag auch die Frau, die Mutter oft zur Erwerböarbeit
treiben, denn ftärker noch als im Mann wurzelt in ber Frau, in der Mutter der
Gedanke: „Nicht nur fort folft du dich pflanzen, fondern hinauf.”
BER
Än das Arne Jahr.
Hauer Jahr! Gieb Eins: gieb frifhen Mut!
Gieb uns Kraft der Chat und des Genuffes!
Um uns fchwillt die dunkle, kalte Shut
Müden, glaubenslofen Ülberdruffes!
Neues Jahr, o mach uns fühn und jung!
Gieb uns ftarfe Cuſt und ftarfen Glauben!
Neues Jahr, o gieb uns neuen Schwung!
Laß die Nebel uns das Ziel nicht rauben,
Daß der Blick das ferne Land gewahrt,
Wo die großen, reinen Kichter blinfen! —
Wie der Sährmann vor der liberfahrt
Slehen wir: „Herr, laß uns nicht verfinten!“
Frida Schanj.
Alygaen
Eine Frau als Militärfcpriftftellerin. 201
Nach Skizzierung ihrer Außeren Lebensumſtände möchte ich einige Worte der
Perſon und dem Lebenswerk dieſer Frau wibmen.
Ihr Bildnis, das das Titelblatt eined Manuffript3 der Pariſer Nationalbibliothel '
Ihmüdt, zeigt ein fchönes, feelenvolles Antlig. Weichheit des Gemuts war trog aller
Tapferkeit und Energie der auch in den meiften Schriften hervortretende Zug biefer
tüchtigen Frau und Mutter. Ihre Schriften atmen den Geift der Renaiſſance. Die
meiflen find moraliſch⸗politiſchen und lehrhaften Inhalts, in Verſen oder in Profa.
Einige möchte ich hervorheben. Zunächft ihr Erſtlingswerk: „Jeux à vendre ou Vente
d’amours® — 100 Balladen. „Le Chemin de longue estude“ — ein umfangreiches
Berl, in Proſa überfegt von Jehan Chaperon und zu Parid 1549 gebrudt, 1883
einer deutſchen Überfegung von Rifchel für würdig befunden. „Les Dits moraux,“
die Belehrungen der Mutter für ihren Sohn enthalten. „Le Livre des faicts et
des bonnes moeurs du sage roi Charles V.“ ober bie „Ilistoire du roi Charles
le Sage“, bie der Abbe Leboeuf mit Anmerkungen in feinen „Dissertations sur
lhistoire de Paris“ im Auszuge herausgegeben dat. Vollſtändig find fie in Petitots
nMemoires“ fowie in Michaubs und Poujoulat3 „Collections“ enthalten. Das 1405
vollendete Buch enthält namentlich in feinem zweiten Teile eine Menge — kriegs⸗
wiffenfchaftlicher Angaben. Noch bedeutender und in einer für eine Frau jener
Zeit geradezu einzig daftehenden Weife methodiſch ift das 1410 entftandene berühmte
Livre des faicts d’armes et de chevalerie“, eine Encpllopädie der Kriegswiſſen⸗
ſchaflen das beſte franzöſiſche Werk auf dieſem Gebiet aus dem 15. Jahrhundert.
E ift fo bedeutend, daß Napoleon III. viele Steüen in feinen „Ftudes sur le passe
et l’avenir de l’artillerie“ wiedergegeben hat. Das erft achtzig Jahre nach feiner
Abfafjung 1488 zu Paris gedrudte Buch wurde ſchon ein Jahr darauf von W. Carton
im Auftrage von Heinrich VILI. ind Englifche überfegt. Chriftine gehört zu denen, die
gerechte Kriege nicht nur für erlaubt, jondern ald notwendige Regulatoren im Bölfer:
leben anfehen. Sie fpricht das in der Vorrede des in vier Teile ſich gliedernden
Werks aus. Obwohl ihre Ausführungen fi) nach damaliger Gewohnheit auf Frontin
und namentlih auf Weges aufbauen, enthält ihr Werk doch zahlreiche durchaus
ſelbſtandige Anfichten, namentlich aus dem Gebiete des Belagerungskrieges. Erſt viel
fpäter war ed wieder eine Frau, die auf diefem fonft ausſchließlich und mit vollſtem
Necht den Männern überlafienen Gebiete eine denkwürdige Arbeit gefchaffen, nämlich
ihre Namensvetterin, die gelehrte Königin Chriftine von Schweden ( 1689) mit ihren
„Reflexions sur la vie et les actions de Cesar“.
Chriſtines Leben ift von 3. Boivin le jeune in dem 2. Band feiner „Memoires
de l’academie des inscriptions“ und vom ſchon genannten Abbe Leboeuf in ber
Einleitung zu ihrer „Histoire de Charles V.“ geſchtieben worden, in neuerer Zeit
(1883) von Nobineau. Die beften Erzeugniffe ihrer Kunft find in dem 2. und
3. Bande der „Collections des meilleurs ouvrages composes par des dames“,
fowie in ber 1886—91 von Roy beforgten zweibändigen Ausgabe ihrer „Oeuvres
poetiques“ enthalten. Auch hat 1838 Thonafiy einen „Essai sur les écrits
politiques de Christine de Pisan“ verfaßt, auf die ich aufmerffam machen möchte.
Das Schöne und Eeltene an der Erfcheinung Chriftined de Piſan aber ift nach
meiner männlichen Auffaffung, daß mir in dieſer bedeutenden Schriftftellerin feinen
jelehrten Blauftrumpf vor uns haben, fondern eine alle Freuden und Leiden einer
ran und Mutter voll und gejund empfindende, edle, anmutige und geiftvolle Vers
treterin echter Weiblichkeit und eine wahre Förderin der Wiffenfhaft. Den Wettbewerb
folder Frauen werden ſich die Männer zu allen Zeiten gern gefallen lafien.
BENAYSN?Z
Re
Das Fahrzeug der Zubunft. 203
Scholle ber Zeit nach wirklich noch nicht gar lange ber, und was ihre Ausbildung
anbetrifft, jo ift es bis vor kurzem damit vollends nicht weit hergeweſen und aud
heute ficherlich noch lange nicht das legte Wort geſprochen. In Amerika macht man
feit einigen Jahren Berfuche mit Riefenlofomotiven, die das Vielfache unferer gewöhn⸗
lichen Schnellyuglofomotiven leiften follen. Die Umwandlung des Dampfbetriebes in
elektrifchen bei Kleinbahnen ift bereit mehrfach „angebahnt”; das Neg von Dampf: wie
eleftriihen Bahnen wird von Jahr zu Jahr dichter; der Pferdebahnbetrieb der Städte
wird allgemach abgeichafft und im eleftrifchen umgeftaltet. Das find die Fortichritte
der nächften Zukunft für die Beförderung von Menfchen und Laften auf Schienen
wegen.
Aber in Preußen allein giebt es ſchon vierzehumal mehr Ortſchaften als Bahn:
flationen, zu mehr als 50000 preußifchen Gemeinden führt noch fein Schienenweg,
und dasfelbe Verhältnis dürfte in den andern deutſchen Ländern fein. ft es denkbar,
daß im Laufe der Zeiten alle dieje kleinen und Eeinften Menfcenfiedelungen an das
große Schienenneg einmal angeſchloſſen werben? Denkbar wohl, aber höchſt unwahr⸗
ſcheinlich. Und auch nicht nötig. Denn fchon ift das mechaniſche Fahrzeug da, das
in allen den Fällen die tierische Zugkraft abzulöfen beflimmt ift, in denen eine Schienen=
anlage nicht praftiich, weil nicht rentabel genug ift, oder fonft das Bedürfnis vorliegt,
den Verkehr nicht an fefte Schienenmwege zu binden. Das ift das Automobil, der
Selöftfahrer, der berufen ſcheint, einmal alle Arten von Zugvieh in den wohlverdienten
Ruheſtand zu verfegen, das ftolge Rappenpaar vor dem Coupe auf Gummi und den
leichtfüßigen Traber wie den fchweren Omnibusfriefen, die Ochfen und Kühe der länd⸗
lichen Gefpanne Wet: und Sübbeutichlands wie die Ejel und Hunde ber großftädtiichen
Straßenhänbler.
* *
*
Die Idee des Automobils iſt, wenn man bon dem alten Römerkaiſer Commodus
(180—192 n. Chr.) abſieht, in deſſen Nachlaß fein Nachfolger in der Regierung, der
Soldatenkaifer Pertinar, laut Bericht eines alten Gefchichtsfchreibers, mehrere kunſtvoll
konſtruierte mechaniiche, ohne irgendwelche Zugtiere fortzubeiwegende und fogar mit
automatifchem Wegemeffer verſehene Wagen gefunden haben foll, ein Vierteljahrtaufend
alt. Eine Nürnberger Chronik aus dem Jahre 1649 berichtet von einem von Hand
Hautſch konſtruierten Kunſtwagen, „welcher in einer Stund 2000 Schritt geht, man
tan fill halten, wann man wil, und ift doch alle von uhrwerd gemacht“. Er blieb
eine Spielerei wie der hundert Jahre fpäter von dem berühmten franzöfifchen Erfinder
Baucanfon dem König Ludwig XV. vorgeführte Uhrfederwagen. Der König hatte
ſich von der Brauchbarkeit der Erfindung bereit3 überzeugen laſſen und trotz des
Bebentens, daB das gewöhnliche Volk fie für ein Werk der Zauberei halten könnte,
für feinen Wagenpark ein ähnliches Gefährt beftellt, aber die Zweifel der zopfigen
Alademiker an der Verwendbarkeit dieſes Vehilels im Straßenverkehr von Paris haben
ihn dann feine Beftellung wieder vergeſſen lajien und damit den Wunderwagen über:
haupt. Erſt die Erfindung der Dampfmafchine hat die Idee des mechanifchen Fort:
beivegens von Perfonen und Laften wieder aufleben lajlen. Und, wie nicht allgemein
befannt fein dürfte, nicht etwa erft in der Form des Schienenwagens, fondern gerade
in der des fchienenlofen. Der erſte felbftfahrende Wagen mit Dampfbetrieb war die
von dem Franzoſen Cugnot 1769 erbaute Dampflaroffe, die freilich noch mit einem
Das Fahrzeug der Zukunft. 205
Paris und St. Germain verkehrte — die 15 Kilometer betragende Strede wurde in
anderthalb Stunden zurüdgelegt — und feitdem bat man dort fetig, wenn auch mit
Außerft langfamem Vorfchreiten an der Vervolllommnung dieſes Vehikels gearbeitet,
trog der Eiſenbahnen. Und fo ift Frankreich dasjenige Land geivorden, dem ber
moderne Automobilismus feine wefentliche Entwidlung verdankt. Aber auch Bier
haben erft die allerlegten Jahre diejenigen DVerbefferungen gebracht, die ihm fo mit
einem Schlage die Bedeutung als Beförberungsmittel der Zukunft zumeifen.
Dabei hat den größten Anteil an diefer überrafchenden Entwidlung nicht etiva
der Wunfch gehabt, einen wirklich brauchbaren Erfag der als überlebt empfundenen
tierifchen Motoren zu erhalten, fondern der bloße Sport. Im Grunde der Zweirad:
fport. Als in den achtziger Jahren der Sport bed Bicyelefahrens in Aufnahme Fam,
ahnte man nicht, daß ſchon ein Jahrzehnt fpäter dieſes ein allgemein gebrauchtes
Beförberungdmittel, das Zweirad in Millionen von Händen fein twürde. Ziemlich
gleichzeitig mit der Ausbildung des neuen Fahrſports gewann das Automobil dabei
die Bebeutung eines Unterflügungsmittels, als Schrittmachermaichine, ſodann aber trat
das Automobilfahren auch als eine befondere Abart und Ergänzung des Fahrradrenn⸗
ports auf. Deshalb Hat der Selbftfahrer feine wichtigften Vervolllommnungsmittel,
wie etwa die elaftifhen Gummireifen, vom Zweirad ber; und in feinem Entwidlungs-
gang hat noch bis vor ganz furzem die Renntüchtigfeit eine größere Rolle gefpielt als
die praltifche Brauchbarkeit. Der franzöjifche Selbſtfahrerklub mit feinen aljährlichen
Wettfahrten hat befonderd viel zur Ausbildung des Automobild beigetragen. Nachdem
Sich ahnliche Klubs in England, Deutſchland, Defterreich, der Schweiz und Schweden
gebilbet hatten, wurde am 30. September 1897 der mitteleuropäiiche Motorwagen⸗
verein gegründet. Die Leiftungsfähigfeit der Motoren in bezug auf Geſchwindigkeit ift
infolge der Thätigkeit diefer Sportvereine in wenigen Jahren derart geftiegen, daß,
während noch die Rennfahrten von 1895 und 96 eine Durchſchnittsgeſchwindigkeit von
nur 24 bis 25 Nilometern pro Stunde erzielten, die von 1899 auf der Rennſtrecke
Paris⸗Bordeaux auf 48 Kilometer flieg, ja ber ſchnellſte Wagen eine Stunde lang
fogar die Geſchwindigleit von 60 Kilometern behielt.
Aber auch ſchon an den Wettfahrten zwiſchen Paris und Vordeaur 1895
nahmen, freilich noch ziemlich nebenſachlich, Gefährte teil, die bereit feinen Sport:
zweden mehr, fondern ausgeſprochen praktiſchen Verkehrszwecken dienen wollten. So
der von Bollde 1880 erbaute Dampfonnibus „La Nouvelle“, der durchaus mit Ehren
aus dem Wettlampf mit den jüngeren Sportmaſchinen hervorging. Und 1896 bereits
fanden im Maasdepartement umfaffende Verfuche mit einem Dampfftraßenwagen nach
dem Syſtem Scotte ftatt, der es einzig und allein auf Verkehrätüchtigfeit abgefehen
hatte. Es war ein fürmlicher Feiner Zug, der fi da auf den verfchiedenften Straßen
des Departements verfuchte, beftehend aus einem 4170 Kilogramm ſchweren Motor:
wagen, der außer ber Mafchine noch Pla für 14 Perfonen hatte, und einem
1500 Kilogramm ſchweren Anhängeivagen für weitere 24 Perfonen. Der Zug fuhr
auf den ebenen Straßen mit einer Geſchwindigkeit von 15—16 Kilometer in der
Stunde, bei Steigungen nur mit einer ſolchen von 5—6 Kilometer, bei ftarfem Gefälle
dafür mit 18—20 Kilometer. Der Durchſchnitt betrug bei 628 Kilometer durch:
laufener Wegfirede 12 Kilometer pro Stunde. Selbft auf fchlecht unterhaltenen,
ſtaubigen Landftraßen, fowie auf neuen, friſch beicotterten und noch nicht gewalzten
erzielte er noch eine Durchfehnittögeichtwindigfeit von 11,4 Kilometer pro Stunde,
Das Fahrzeug der Zukunft. 207
Demnäcft folgt Öfterreih mit der Einrichtung offizieller Selbftfahrerberbindungen:
zwiſchen Meran und Trafoi foll ein Geſellſchaftswagen mit 15—18 Sit: und Steh:
plägen verfehren, und zwiſchen Meran und Landed ift fogar ein Eilverkehr durch
Poſtſelbſtfahret geplant, die zugleich die Briefbeförderung übernehmen follen.
So werben fi vielleicht wieder die feit dem Aufkommen der Eijenbahnen ver:
einfamten Landſtraßen und mit ihnen bie entlegenen Fleden und ihre idylliſchen Gaft-
böfe beleben wie zu Zeiten der guten, alten Poftkutfche. Und wo bdereinft das Horn
des Schwager melodifh ertönte, da wird, weniger melodiſch freilih, in Zukunft das
Signalhorn des Selbſtfahrers erfchallen, und mit ber Romantik wird es in dem mit
12—20 Kilometer Geſchwindigkeit bahineilenden Motoromnibus zwar nicht fo viel
fein wie im traumeriſch ſchunkelnden Poflwagen mit den bebächtig trabenden Gäulen,
aber immerhin noch mehr als im faufenden Schnellzug. Vielleicht erobert diefe neuefte
Technik und doch noch ein Stüdchen jener Reifepoefie zurüd, die und einmal aus
Lenaus „Poſtillon“ wie ein lang verichollenes, fühes Märchen angeweht hat:
„2iebli war die Maiennacht,
Silberwoltlein flogen — "
Weniger idylliſch if das Bild, das man von einer vorjährigen Automobil:
ausftelung in Amerifa haben konnte. Da wurden nämlich Motorwagen vorgeführt,
die mit Marimgefhigen und anderen Schnelfeuerfanonen montiert und mit einmaliger
Benzinfülung im ftande waren, eine Strede von 70 Kilometern in drei Stunden zurüds
zulegen. Und daß auch die deutſche Heeredleitung bie Wichtigkeit des Motorprinzips
für Kriegszwecke zu würdigen weiß, zeigten bie legten großen Manöver, bei denen
BVerfuche mit Motorwagen für den Transport ber Belagerungsartillerie in umfangreichem
und anfcheinend völlig befriedigendem Maße angeflellt wurden. In England ift
neuerdings ein 18pferbiger Benzinfelbfifahrer mit zwei Marimgefchügen und leichter
Banzerung für militärifche Operationen in den Kolonien fonftruiert worden.
* *
*
Bas nun das bewegende Prinzip der Selbftfahrer, den Motor felbft betrifft,
fo werden Benzin, Petroleum, Gas-, Dampf: und eleftrifche Motoren angewendet.
Am Alteften find, wie wir gefehen haben, und älter als felbft die Eifenbahnen, die
Dampfmotoren. Die Dampffelbfifahrer, namentlich die nach Scottefhem, Le Blancſchem
und Serpolletfhem Spftem, kommen befonder3 für das Großfuhrwert und ben
öffentlichen Perfonenverfehr in Betracht. Regelmäßigkeit im Betriebe, Wegfall aller
unliebfamen und unberechenbaren Betriebsftörungen zeichnet fie aus, und daher eignen
fie fih für die Beförderung im Dienft der Poſt und Eifenbahn in erfter Reihe.
Die meiften regelmäßigen Selbfifahrerlinien in Frantreih haben Dampfmotoren nad
Scotteſchem Syſtem. Schon feit Anfang 1897 ift ein folder Scotteſcher Wagen in
der Umgebung von Paris, zwiſchen Courbevoie und Colombes in Betrieb geweſen
und bat in ben erften beiden Betriebsmonaten nicht weniger als 32 715 Reifende
befördert. Die Gadmotoren find noch zu wenig bei fehienenlofem Betriebe in Anwendung
gelommen. Um fo erfolgreicher Hat man fie bei Schienenbetrieb einzuführen begonnen;
fo at die Deffauer Straßenbahn Leuchtgasmotoren, die da8 Gas in fomprimiertem
Zuſtand mit fih führen.
Hondoner Spezialitäten.
Helene Tange.
Nadbrud verboten. nn
u.
Eine Kochſchule für Zungen. "
18 ich noch fo jung und unverftändig war, daß ich mit meinen Diner-Herren
auf die Frauenfrage einging, vielleicht fogar in der ftilen Hoffnung, eine
Belehrung zu vollbringen, erlebte ich einmal bei einem fonft fehr fanften und korrekten
jungen Mann einen ganz unvorfcriftsmäßig heftigen Gefühlsausbrug. Während bie
gewöhnliche Reaktion ber deutſchen Sünglinge von damals in einem gewiſſen Zuden
der Mundwinkel beftand, das die höflicheren durch ein Streichen der Stelle, wo der
Schnurrbart faß oder doch eriwartet werden konnte, zu maskieren fuchten, fuhr biefer
junge Mann wahrhaft entfegt von feinem Stuhl in die Höhe mit dem Ausruf: „Da
wäre es ja die höchſte Zeit, daß unfere Jungen kochen ernten!” Augenfcheinlich
erichien ihm das Kochen als die niedrigfte aller menſchlichen Beichäftigungen; vb er
wohl in dem Augenblid daran dachte, daf fo viele feiner Tiſchgenoſſen faft ihr halbes
Leben diefer Beichäftigung widmeten?
Das Heine Erlebnis kam mir wieder in den Sinn, als ich neulich eine lange
Pilgerfahtt nach dem Außerfien Eaftend von London unternahm, zu der Kleinen board-
school, „wo die Jungen kochen lernen”. Zwar bis zur „Bank von England” kam
ich ſchnell mit Hilfe der neuften Londoner Einrichtung de3 „two penny-tube“, in dem
eine eleftrifche Bahn mit unheimlicher Schnelligkeit und durch jo faubere Wände dahin:
fauft, daß der Kenner der alten rauchigen „Underground“ beim Anblid der bligenden
Radeln zunäcft ungläubig ſtillſteht. Bis zu Blackwall, Buw-Creek, Orchard
Street, hatte der Führer bes Cabs, ein in London feltener Fall, fich vielfach zurecht
zu fragen. In einer der Heinen, engen Straßen des Eastend fperrte eine Vollsmenge
— und was für eine — unter mehrfachen kritiichen Bemerkungen über das Cab, den
Weg. Sie erwarteten die Londoner Eüd-Afrifa:Volunteers, die unter einer Bededung
von über hundert Schugleuten heranfamen. Das legte Stüd Wegs an der Themfe
entlang zwiſchen den hohen Mauern der Dods machten wir in Begleitung einer Schar
vergnüglich brülender Jungen: „A Cab! a Cab!“ Ihr Koftüm war dad der Dods
und der Bow-Creek-Gegend. Bon ber uriprünglichen Hautfarbe fah man wenig,
no weniger von dem urfprünglichen Schnitt und der Farbe der Kleider, die zum
größten Teil Gebrauchsfranzen zeigten.
14
Londoner Spezialitäten. 2311
2 Pfund Hammelnaden . . 7 Bence
2 Pfund Kartoffeln . . . . 1 Penny
Y, Pfund Zwiebeln. . . . Yu
1 Pint fochendes Waller . . 0
im Ganzen . . 81, Pence = ca. 70 Pfennig.
Über Plan und Entftefung des Ganzen erfuhren wir dann noch folgendes: Eine
Dame des School-board, Mı3. Homan, die Gelegenheit gehabt hatte, viel von dem
Elend bes Eaflend zu fehen, war zuerft auf den Gebanten gekommen, daß aud bie
Knaben kochen lernen müßten. Diele von ihnen gehen zur See und finden beſonders
auf Meineren Segelſchiffen Unterkunft, deren Küche fich häufig in jämmerlichem Zuftande
befindet. Andere gehen in bie Kolonien, two fie meift genötigt find, ihre eigenen
Kachenchefs zu fpielen. Aber auch den armen Familienmüttern der Umgegend, bie
gewöhnlich durch Sädenähen zum Unterhalt der Ihrigen beitragen müffen, fommt es
zu gute, wenn nicht nur die Töchter, fondern auch die Söhne die Küche beforgen
können. Und zwar fchon ganz Heine Burfchen. Der Unterricht wird — natürlich
unentgeltlih — vom 12. bis zum 14. Jahr einmal wöchentlich erteilt.
Der Anfang war nicht leicht. Man Hatte Schwierigleiten, Jungen für das
Experiment zu bekommen, und über die ganze Idee wurde zuerft gelacht. Aber in
England lacht man über ſolche Dinge weniger lange als in Deutfchland. Man.
probiert, und wenn man überzeugt ift, bietet man gern Hilfreiche Hand. So kam es
auch hier. Man führte dem zweifelnden Autoritäten einmal ein richtiges sea-cooking
vor, und bie Folge war, daß ber jegt feit anderthalb Jahren beftehende Kochunterricht
der Knaben zu einer dauernden Einrichtung gemacht und die Errichtung weiterer Koch—
ſchulen in an der Themfe gelegenen Diftriften befchloffen twurde. Wie weit fi) dad
Unternehmen noch ausdehnen wird, ift noch gar nicht abzufehen. Ein Gefuch des
School-board bei dem Erziehungstepartement, den Kochunterricht der Knaben in den
Lehrplan der Gemeindefchulen aufzunehmen, wurde freilich abfchlägig beichieden.
Es ift mir nicht befannt, ob es bei uns etwa in den großen Seeftäbten Koch-
ſchulen für angehende Echiffstäche giebt. Eine Einrichtung wie diefe ficherlich nicht. Ob
nicht gerade eine ſolche Kochſchule für Jungen für Küften: und Fabrikviftrikte jehr am
Platz wäre?
Auch die übrige Schule wurde uns dann gezeigt. Sie mußte allen Bebürfnifjen
der zwifchen den Docks eingefprengten Bevölkerung Nechnung tragen und bot daher
ein etwas buntes Bild. Das Äußere der Kinder in der Krippe und den drei aufs
feigenden Klaſſen verriet das hier nicht durch lange Blouſen verhülte Elend dieſes
Eaſtend⸗Winkels, von dem doc die Volksſchulen felbft der verrufenften Viertel unſerer
deutſchen Großftädte nicht einen entfernten Begriff geben. Aber die Kinder fchienen
gut gezogen zu fein; nicht etiva nur, weil die Mädchen jo hübſch nirten, indem fie
zugleich ihre Fingeripigen auf die Schultern Iegten, und die Knaben in Ermangelung
einer Mütze kraftig an ihrem Vorderhaar zogen, jondern fie machten auch einen
freundlichen und zufriedenen Eindrud und folgten ihren Lehrerinnen aufs Wort. Was
mich beſonders frappierte, war, daß die Klaſſen von unten auf fchon zweiftimmig
fangen. Bon fieben- oder achtjährigen Kindern wurde ein englifches Lied nach der
Melodie von Brahms’ „Guten Abend, gute Nacht” vollitändig rein zweiſtimmig
a capella vorgetragen, gewiß ein Zeugnis für eine ſehr mufifalifche Lehrerin. Mrs.
14r
213
Ans Ser Kulturgeſchichte des „Kindes“.
Ernf Beilborn.
Rahbrud verboten. men
Hr
ein Vater fcheint mir,“ fo heißt es
im „Dfterdingen” des Novalis, „bei
aller feiner fühlen und durchaus feſten
Denkungsart, die ihn alle Verhältnifie
wie ein Stüd Metall und eine künftliche
Arbeit anfehen läßt, doch unwillkurlich
und ohne es felbft zu willen, eine ſtille
Ehrfurcht und Gottesfurcht vor allen uns
begreiflichen und höheren Erfcheinungen zu
haben, und daher das Aufblühen eines
Kindes mit demütiger Selbftverleugnung
zu betrachten.” Altdeutſches Empfinden
B dem Kinde gegenüber wollen dieſe Zeilen
apft. eineh feit ca. 1470 thätigen Ronagrammifen. fpiegeln. Ein Gaft aus Himmelshöhen
(Sand Bocfdi, Rinderleben. kommt das Kind zur Erden bernieber,
Aehala 00. Gugen Dina) im Glanz feiner bewußtfeinslofen Augen
iſt noch ein Schimmer früher erfchauter Herrlichkeiten. Die frommen Eltern ahnen
und ehren das Überirdiſche in ihm.
Anders zeichnet fich dies altbeutfche Empfinden dem Romantiker, anders dem
hiſtoriſchen Forſcher, — doch foll damit keineswegs gefagt fein, daß legterer immer
die tiefere Wahrheit auf feiner Seite haben müſſe. Ad! auch das vergilbtefte Do—
tument fann lügen, und öfter als es ſich die glüdlich naive Schulweisheit träumen
läßt, ergeben neunundneunzig Einzelfälle, die man mit Händen greifen Tann, ein
falfches Bild vom Hundert. Es lügt fogar — man darf ed in unferer Zeit der ſozial⸗
„wiſſenſchaftlichen“ Kinderkrankheit nur nicht öffentlich fagen — es lügt vor allem bie
Statiſtik. Aller Eulturgefchichtlichen Forſchung aber haftet der doppelte Fluch des zu:
fähig Zufammengelefenen und des zufällig Erhaltenen an. Und doch hat auch das
Kennenlernen einzelner Züge feinen eigenen Reiz. Ich Hab’ ihn in ber Darftellung des
Kinderlebens in der deutſchen Vergangenheit von Hans Boeſch!), dem Direktor des
Germanifchen Mufeumd zu Nürnberg, reich empfunden. Die Friedensſtimmung,
die die Worte des Romantikers weden, man findet fie nicht felten in Boeſch's „Kinder-
leben” wieber.
m
© DIÄg
%) Hans Boeſch: Kinderleben in der deutſchen Vergangenheit. Mit 149 Abbildungen und Bei:
lagen nach den Driginafen aus dem 15.—18. Jahrhundert. (Monographien zur beutihen Kultur:
geſchichte.) Verlegt bei Eugen Diederichs in Leipzig 1900.
Aus der Kulturgeihichte ded „Rinde“. 217
worden, nebft Bronzefigürchen, die ben prähiftoriichen Kleinen als Spielzeug dienten.
Nürnberg wurde fehr früh der Spielmarenplag. Schon um 1400 ift ein Dockenmacher
Dit in ber lieben, alten Stabt urkundlich bezeugt. Den Mädchen bie Puppen, den Buben bie
Soldaten und das Stedenpferd, — das gleichfalls ein urzaltdeutfches Tier zu fein fich
rühmen darf. Kaifer Marimilian I., der „legte Ritter,“ fpielte bereit3 als Knabe mit
turnierenden Reitersleuten. Nürnberger Patrizier und Fürften ließen für ihre Kinder
ganz naturgetreue Puppenhäufer bauen, die mit jedem Hausrat bis ins Meinfte verſehen
waren und mitunter arg koſtbares Spielzeug (der Preis überftieg zuweilen 1000 Gulden)
darflellten. Daneben vollftändige Jagden und die lieben Archen Noäh. Sogar an
Affen, die gar kunſtreich auf einem Pferde tanzten, Hat e8 nicht gefehlt, wie ein Ulmer
Holzſchnitt aus den Jahren 1470—1480 bezeugt. Kreifel, Reifen und Stelzen find alt»
ehrwürbige Gefellen. Friedrich der Große dann ſcheint das Verdienſt erworben zu haben,
dem „altuellen” Spielzeug auf die Welt verholfen zu haben. Seinerzeit thaten's bie
„Soldaten“ nicht mehr — es mußten Zieten-Huſaren und Seidlitz-Küraſſiere fein.
Und zur Zeit Napoleons gab es Ausfchneidebögen —, Napoleons eigene Hochzeit
wurde von den Kindern „ausgeichnitten“.
Weifer Ben Aliba! Der Lurus auch ift immer ſchon dageweien. Aber trogdem
ich die Kapuzinaden altdeuticher Schriftfteller gegen den Alamodeteufel und andere
Hölifche Gefellen wohl gelefen, Ierne ich doch recht eigentlich erft von Hans Boeſch,
wie verbreitet und wie ſtark der Lurus geweſen. Namentlich die Tauffeierlichfeiten
fcheinen ſchon von früh am Gelegenheit zu weitgehender Verſchwendung geweſen zu
fein. Es war ein foftfpieliges Vergnügen, zum Paten gebeten zu werden. Im
Jahre 1631 wird aus der Grafichaft Wertheim berichtet, „daß fromme Herzen, fo zu
Gevattern erbeten werden, anftatt daß fie fich deffen als eines chriftlichen Ehrenwerfes
billig zu erfreuen Hätten, dagegen zum öfteren entjegen müſſen.“ In ber guten Stadt
Nürnberg datieren die erften, ſcharfen Verordnungen gegen dies Taufunweſen ſchon
aus dem 14. Jahrhundert — ihre ftete Wiederkehr beweiſt, wie wenig fie gefruchtet
haben. Im Anfang des 17. Jahrhunderts waren troß gegenteiliger Verfügungen die
Kirchentaufen zu Gunften der Haustaufen fo abgelommen, daß es Aufichen erregte,
als der erſte Prediger an St. Lorenzen 1698 fein Kind in der Kirche taufen ließ.
Und Wimpfeling ſchrieb: „Ich kenne Bauern, die bei der Hochzeit von Söhnen ober
Töchtern oder bei Kindtaufen foviel Aufwand machen, daß man dafür ein Haus und
ein Adergütchen nebft einigen Heinen Weinbergen kaufen könnte.” Es bürfte wirklich
ſchwer Halten, die „gute, alte Zeit“, die Zeit fchlichter Lebensführung und einfältiger
Frömmigkeit, chronologifch zu beftimmen.
Auch mit der Strenge der Kinderzucht fcheint es nicht gar fo weit hergeweſen
zu fein. Die vielen Mahnungen dazu fprechen dagegen. Man pflegt nicht das zu
predigen, was man bat. Ein alter Vers aus dem 17. Jahrhundert, der die Pflichten
der Kinder aufzählt, fchließt mit der Klage: „Aber adj! verkehrte Zeit, da bey ber jo
großen Jugend, leider anzutreffen ift Heine, ja jchier feine Tugend!” Bekannt find
Lutherd Mahnungen zu firenger Zucht. Der Gedanke, daß die Erbfünde in den
Kleinen mächtig fei, fcheint ihn wor anderem dazu beftimmt zu haben. Dod) fand der
ſchroffe Mann das fchöne Wort, daß der Apfel neben der Rute liegen müjje. Doch
ift ein Brief des fchroffen Mannes an fein vierjähriges Söhnen Hans erhalten, der
rührend von feinem weichen Gemüt und feiner Vaterzärtlichkeit Zeugnis ablegt.
Draftifche Vorftellungen verfehrter Kinderzucht fehlten in der Reformationzzeit natürlich
Aus der ulturgeſchichte des „Rindes“. 219
Zu Heiratszweden oder teftamentarifch wurden ihnen Summen ausgeſetzt. Schroffe
Bandlung ſolcher Zuftände brachte erft die Reformation. Nun wurde den armen
Unehelichen ber Eintritt in die Innungen verfagt. Eine Augsburger Hebammens
orbnung aus dem Jahre 1750 fehreibt den Hebammen vor, den Namen bed Vaters
aus der Mutter herauszupreſſen, widrigenfalls fie nicht Hand anlegen dürften. Doc
gab es im 14. Jahrhundert bereit3 Findelhäufer in Ulm, in Freiburg und Nürnberg.
Diefem Beifpiel folgten dann andere Städte. In Tirol geftattete ein Dechant ben
unehelichen Kindern nur altteftamentarifche Namen; ein andrer taufte fie alle „Daniel“, —
vielleicht in weifer Vorausficht, daß e3 ihnen an der Löwengrube nicht fehlen würde.
Die Findelinder zogen zu Zeiten durch die Straßen ber Stabt, Gaben fih zu
erbitten. Nicht fo ganz fchlecht mögen fie dabei gefahren fein. Es war nod nicht
die Zeit, in ber die foziale Weisheit betete: Lieber Staat, ich bitte dich, füttere mic)
und meinen armen Bruder ſanftiglich. Selbft zu helfen galt höher. So ward 1484
eine Stiftung in Nürnberg errichtet, Fraft deren die Findlinge Unterricht im Lefen und
Schreiben erhielten — erft 1756 kam das Rechnen hinzu. Armenfchulen — deren es
in Danzig in jedem Kitchfpiel eine gab — beftanden gleichfals durch öffentliche Mild-
thätigkeit. Durch Singen bei den Beerbigungen auch erwarben fich die Kleinen Geld.
Aus dem Jahre 1639 ift ein Kupfer erhalten: ein ftattliche® Haus auf ſtädtiſchem
Plage ftellt e8 dar; auf der Straße ein langer Zug von Kindern. Unter dem Bilde
aber ftehen die Worte: „Anno 1639 bat die berühmte Wohlthäterin Frau Elifabetha
Kraußin unter andern gefliftet, daß man die Findeltinder jährlich in ihren Wohnhaufe
auf St. Johanis Tage fpeilen, ihnen Geſottnes und Gebratned und jeden eine
Bratwurft, ein Seidl Meth, Bier und Wein und einen Rofenfranz geben muß“. Das
war zu Zeiten’ des breißigjährigen Krieges. Wie ein Gruß klingt das Lob werkthätiger
Frauengüte aus biefer kriegverrohten Zeit.
Der berühmten Wohlthäterin aber zum Trog ſah man im Mittelalter bis fpät
in bie Neuzeit Hinein, die Geburt von Knaben als etwas Erfreuliches, die von
Mädchen als etwas erheblich weniger Erfreuliches an. In manchen Gemeinden erhielt
die Wöchnerin eine Lieferung Holz und zwar, hatte fie einen Knaben zur Welt gebracht,
doppelt ſoviel ala bei einem Mädchen. Der Aberglaube raunte: ein Mädchen als Erft:
geborenes bedeutet fpäteren Zanf. Und Luftig fehreibt Abraham a Santa Clara: „Herr
Zobocus! Mein lieber Herr Jodocus! neue Zeitung! neue Zeitung! Eypogtaufend!
nur geſchwind den Mantel, um zum Gevattern bitten: Der Herr ift Heut mit einem
hergigen, fchergigen, fchönen, ftarfen, gefunden, anmuthigen Zeibeserben erfreut worden;
es erfreuet fich hierüber und gratulirt das gange Haus, ja die gange Nachbarichaft; nur
geihtwind 30 Gulden auf bad Kindsmahl! He! Juchheh! Der Herr Jodocus hat einen
Sohn überkommen ... Alfo ſchreyen und froloden die eitle Menſchen, wenn ein Knab
zur Welt gebohren wird... wird aber ein Mägdlein gebohren, fo ift alle Freude
verlohren, gleich wäre ſich nicht ſowohl über ihre Geburth zu erfreuen als über die
Geburt eines Knäbleins.“
Für folchen unfreundlihen Empfang zu Beginn des Erdenwallens wurden bie
Heinen Mädchen aber bald entihädigt: Metlinger empfahl, — eine Tochter wärmer
zu baben ala einen Sohn.
Einfamteit.
in die Wolfen und das Blättergewirr. Ohne
ein Bud, nur träumend, vegetierend, bie
Natur einfaugend.
Lifa lad während dem. Sie belam regel:
mäßig bie neueften Bücherfendungen von
ihrem Buchhändler. Sie intereffierte fih für
die Fortſchritte von allen Kollegen Ernfts, die
fie zum größten Teil perſönlich kannte. Und
wenn fie etwas fehr Gutes las, hatte fie zu=
erft feine reine Freude daran, fondern ein
böfes, pridelndes Gefühl, das ihr den Atem
benahm. Sie hatte das früher, ala Ernſt
noch arbeitete, ihr davon erzählte und fertiges
vorlas, nie gefannt. Jetzt ſprach er gar nicht
mehr davon, als fei das mit einemmal ab»
geſchnitten. Sein Schreibtiſch ftand unberührt,
er faß nie daran. Die Briefe von Zeit⸗
ſchriften und Verlegen warf er achſelzucend
zur Seite,
Sie hätte nur gewünſcht, daß er fein
Drama beendete, dies Stüd, das doch wahre
Kraft und Leidenfhaft in fih trug. Es war
bie Tragödie einer reihen Künftlernatur, die
an einem befabenten Weibe zu Grunde ging.
Emft hatte ihr den Inhalt einmal in kurzen
Zügen ffigziert, felbft von der Glut feiner
Erfindung erfaßt. Nun follte es liegen bleiben
und vergefjen werben, während andre Eeicht:
linge Lorbeeren ernteten und durch angeftrengte
Arbeit wirklich etwas erreichten. Daß man
einen Menſchen nicht zu feinem Beften zwingen
tonnte, daß er bartnädig mit verbundenen
Augen den falfchen Weg zu Ende lief! Wäre
Ernft in Berlin geweſen, fein Stüd wäre
Tange beendet geivefen.
Ernft merkte, daß die kleine Hand, bie fo
lange in ber feinen geruht, ihm entglitten
mar, aber er merkte es halb wie im Traum.
Er konnte ja immer noch ftehen bleiben und
rufen, es war ja nicht möglid, daß bie Ent:
fernung ganz trennend wurde. Und jet war
er wirklich fehr in Anfprud genommen, ganz
tiefinnerlih beſchäftigt. Tauſend wogende
Träume gärten in ihm und rangen nad
Geftaltung. Er arbeitete auf feinen Spazier:
gängen mie fonft am Echreibtii und mar
deshalb Fieber mit fih allein. Aber dieſe
Arbeit war fruchtloſer. Er fühlte reichere
Möglichkeiten in fi als je zuvor, aber fie
zerronnen ihm alle, ehe er fie prägen konnte.
Und er ließ fie zerrinnen, teil neues nach⸗
drängte, ihn überftrömte. '
Es mar herrlih, jo mit rhythmifchen
Schritten zu wandern, um fi den Frieden
des Waldes, den Duft der Ferne, um ſich
das immer lebendige Sein und Streben von
taufend tinzigen Wefen. Auch mit den Land»
leuten fam er bei diefen weiten Partieen ein
wenig in Berührung, fehrte hier und da in
ein Bauernhaus ein, fi) erquiden zu lafien.
Er gewann einen Blid für ihre Welt, Ver-
ſtändnis für ihre Art. Er fah viel Gutes,
viel Schlimmes, aber es gab fi) alles natür:
licher, harmlofer, greifbarer. Auch die Guts-
befiger, bei denen fie pflichtſchuldige Beſuche
gemadt hatten, waren einfah, offen. Ein
bißchen lärmend, aber gar nicht ohne ſtarkes
Innenleben, etwas ſchlichter vielleicht, weniger
reflektiert, dafür urfprünglicher, erquidlicher
als Großftabtmenfchen.
Übrigens famen fie nicht viel miteinander
in Berührung. Ernſt brauchte und liebte eine
ihm holde Einförmigfeit des Dafeind. Jeder
Wechſel ftörte ihn, jeder Zwang war ihm
läſtig. In Berlin kannten fie ihn gut, er
hatte kommen und gehen dürfen, wie er
mochte, und feiner hatte e8 ihm übel genommen.
fa Hatte dann den lebendigen, immer
feflelnden Mittelpunft für die Leute gebilbet,
denen fie viel war, ba alles in ihrem
empfänglichen Gemüt Anklang fand. Mit
den Menſchen hier wußte fie nicht viel anzu=
fangen. Es war nun einmal nicht ihre Art.
Selbſt der ehrliche Baumann fiel ihr auf die
Dauer auf die Nerven, und fie zog ſich zurüd,
wenn er fam.
Und ihm jelbft boten fie auch nicht viel.
Beim Himmel, er ſprach lieber mit Lorenz
ober einem von ben andern Knechten, er ruhte
lieber im Wald und fah auf das Spiel der
Fliegen, Libellen und Echmetterlinge. Bor
allem, er träumte lieber und kämpfte an ber
großen Ummandlung, die fih, faft unabhängig
von ihm, in ihm felbft vollzog, an feiner
großen Heimkehr zu fi, zu feiner Gottheit.
Das war ihm wichtig, das war ihm Leben,
nur bad. Er fühlte jetzt erft, wie jung er
war, wie unreif er Mannesworte geſprochen,
die er nicht durchlebt; wie er lebendiges,
unfaßbares, überftrömendes Sein in Schablonen
Einfamteit.
„Ich bin mit ihm groß geworben,” war
ihre Antwort. „Mein Bruder, ber viel älter
war als ich, kannte nichts Höhered. In
allem und allem fam er auf ihn zurüd. Da
lernte ich ihn denn lieben.”
Ernft nidte. „Der war ganz, voll, jet,
Mar. Sie können fein beſſeres Map für alles
Menſchliche haben als ihn.”
„Richt wahr?” rief fie eifrig. „Und fo
viele, bie ihm nicht kennen, laſſen ihn grade
als Menſchen nicht gelten. Was kann uns
denn ein Dichter fein, wenn er nicht auch ein
ganzer Menſch it?”
Sie waren, während fie fprachen, langſam
ins Gehen geraten. Der Hund, von ber
Hige müde gemacht, trottete läffig nebenher.
Jetzt blieb Ernft ftehen. Died alles war ihm
fo ganz Herzensſache.
„Woher wiſſen Cie das, Kind?” fragte
er, ohne daran zu benfen, daß er fie faum
fannte. „Wie feltiam, daß Sie das denken
und ausſprechen, was ich jeßt lebe.“
Cie mußte wieder nicht recht, mas fie
erwidern follte und ſah ihm nur freundlich
und teilnehmend an.
„Mein großes Werk, das id in dieſer
Stille ausarbeiten will,” fagte er mit ernftem
Lächeln, „bin ich felbft. Verftehen Sie das |
wohl?“
Sie nidte leicht und ſah nadbentlih aus. |
„Das vornehmfte Geheimnis in Goethe,” |
fuhr er fort, „war, daß er feine Seile fchrieb,
die er nicht erlebt hatte, im innerlichſten Zinn
genommen. Aber wie zerfplittert find bie
Gefühlen in dem zerrifjenen, modernen Leben.
Ich will hier wieder ganz werben, mid) felbjt
fühlen lernen.
Schidjal Sie bedachte, als es Sie auf dem
Lande groß werben ließ?”
„Woher wiſſen Cie denn, daß das ber
Fall war?” fragte fie mit leifem Lächeln.
Er warf ihr einen prüfenden Blick zu.
„Sole Menſchen habe ih in der Stadt
nie getroffen,” fagte er fur. Es mar eine
Hulbigung.
„Sie haben recht,“ fagte fie nun.
bin glüdlih genug darüber. Mein Vater ift
Dberförfter,” fette fie erläuternd hinzu.
„Herr von Bartels?” fragte er überrafcht.
Ahnen Sie, wie reih das ,
„Ich
lenne kaum etwas andres als den Wald und !
28
„Meine Frau und ich haben vor einigen Tagen
unfern Antrittsbeſuch bei Ihnen gemacht.”
„Ih weiß,” fagte fie, „und wir wollten
ihn in diefen Tagen erwidern.“
„Dann beißt es alfo auf Wieberfehen,”
fagte er herzlich und ftredte ihr die Hand hin.
„Ich freue mich, daß meine Frau Sie kennen
lernen wird. Sie fühlt fi bier einfam und
hat noch nicht recht einen Menfchen gefunden.”
„a, wir Landleute kommen Ctädtern
immer etwas barbariſch vor,” fagte das junge
Mädchen lachend und erwiderte fräftig feinen
Händedrud. „Auf Wiederſehen, Herr Stein.”
Er ſah ihr nad. Sie ging gelaflen, die
Glockenblumen in der Hand mwiegend. Yhre
Träftige, wohlgewachſene Geftalt paßte in ven
Wald. Lila war viel zierliher. Er hätte
nod lange mit ihr reben mögen, ihr vieles
fagen, „vielleicht, weil all dies, das ihm noch
ein Neues, Angeftauntes war, in ihr fo ſelbſt⸗
verftändlic, natürlich gelebt, feinen Ausprud
fand. Ein fhöner, graber Menſch, gut, einfach,
wahr. Eine rechte Herzensfreude gegen bie
Grofftabtmenihen, ein Weſen, das ſich
behaupten konnte, felbft Irma gegenüber.
Denn Irma war immerhin ein Schatz und
eine Köſtlichleit, an die er gern dachte.
Er ſchlenderte langſam zurüd. Etwas
trivial und deutlich war der Schluß nach dem
poetiſchen Anfang geweſen. Und doch, es
nahm dem Zauber nichts. Sie war feine
! mondfüchtige Waldpringeffin, die geheimnie-
volles Tunfel um fih brauchte. Plötzlich
lachte er laut und unwillkürlich. Es mar
eine feltfame Idee, fi einfam in den Wald
zu fegen und dort mit lauter Stimme Goethe
zu leſen. Er fam gerade an dem Platz vorbei.
Da lag nod eine von den Glodenblumen.
; Die hob er auf und nahm fie mit.
Der Vormittag mar weit borgefchritten,
ald er nad Haufe kam. Das Etüd vom
Walde her über das Feld war wie ein Gang
durd Glut. AN die weißen Wolfen blendeten
ihn, daß feine Augen ſchmerzten. Er mar
erſchöpft. Lifa faß mit breittandigem Stroh:
but und in hellem, leihtem Sommertleit, das
die Arme bis zum Ellbogen frei ließ, auf der
Veranda und fernte Echoten aus. Er legte
fi bequem in einen Stuhl und fah auf die
zierlichen, bebenden Finger.
Einfamteit.
den Flur betrat, hörte er aus dem Wohn⸗
zimmer Stimmengeräufc fallen. Raſch trat
er ein, unb das Erfte, was er erblidte, war
fein Waldfräulein, die ihm lächelnd entgegen:
blidte. Die ganze Überförftersfamilie war
verfammelt. Die Eltern hatten fie bei ihrem
Beſuch ſchon kennen gelernt; außer Freda, fo
hieß ſeine junge Freundin, war noch eine
andre Tochter anweſend, die weniger Eigen:
art, weniger Perfönlichkeit hatte, wie es Ernft
fchien.
„Das ift lieb von Ihnen,” fagte er ver
gnugt und drüdte Fredas Hand. Dann fügte
er vorwurjsvoll hinzu: „Aber draußen hält
der Wagen.”
„Oh,“ rief Liſa munter.
einen Eieg erfohten. Die Herrihaften find
fo liebenswürbig und bleiben zum Kaffee.”
„Wer fol auch fold einer lieben Ein-
labung wiederſtehen,“ meinte Frau von Bartels
lãchelnd.
Ernſt eilte hinaus, um den Kutſcher aus⸗
ſpannen zu laſſen. Als er wiederkehrte, nahm
er ſeinen Platz neben Freda. Die ſah ſich
mit bewundernden Augen im Zimmer um,
das durch Liſas Bemühungen ſoviel beſondere
und intime Schönheiten aufwies.
„Ich babe ſchon
„Daran haben Sie keinen Anteil,” jagte '
fie lãchelnd. „Dem allen merkt man Frauen:
band an.”
„In biefem Fall haben Sie recht,” ant:
wortete Ernft, „und doch hätten Sie fih
gründlich irren können. Sie follten nur unſere
Berliner Künftler ſehen, mit welcher Feinbeit
und Berechnung die jebes Fältchen legen, jede
Vaſe abtönen, jeve Blume biegen. Sie würden
niemalö glauben, daß plumpe Männerhänte
das vermögen.”
Sie fab auf feine ſchlanke, überzarte Hand
und lächelte ein wenig.
„Ich liebe viel Licht und viel Blumen,“
Tagte fie.
„Das fieht man Jhnen an,” erwiberte er
einfach.
Die Unterhaltung blieb munter und ans
geregt. Herr une Frau von Bartels maren
früber viel gereift, hatten viel geſeben und
viel verftanden. Ibre Töchter waren mit den
Erzählungen, Bildern und Erinnerungen an
all vie Schönheiten groß geworden. Zie
225
fühlten fid) vertraut mit taufend Dingen, bie
fie nie gefehen und bie nun wirklich fennen zu
lernen fie auch feinen fonberlihen Drang
fpürten. Es diente ihnen nur dazu, in ihrer
Einfamteit ſich einen Begriff von Größe zu
ſchaffen, der ihre jungen Seelen weitete.
Lifa wurde ganz warm bei all den Dingen,
die zur Sprache kamen, fie hatte lange feine
ſolche Gelegenheit gehabt, ſich gehörig auszu⸗
plaudern. Ihr Geift fprühte und bligte, ihr
Verſtändnis mar ſchnell und überraſchend.
Freda, die gar nichts Geiſtreiches hatte, nur
eine ruhige, natürlihe Klugheit, ſah ganz
ehrfürchtig zu ihr auf.
„Sie müfjen fih doch hier recht einfam
fühlen,” fagte fie. „Wer fo viel Intereſſen
Hat.“
Liſa war einen Augenblid überraſcht, dies
ı einfache Berftändnis, das Ernſt fo völlig zu
fehlen fchien, bei dem fremden Mädchen zu
finden.
„Ich helſe mir, fo gut ih kann,“ erwiderte
fie, „lefe viel, fchreibe viel Briefe und hoffe
auf den Winter.”
Ten gebenfen Sie alfo wieder in Berlin
zuzubringen?“
„Ja,“ ſagte Life.
Ernſt, der gerade mit Herrn von Bartels
über Jagd ſprach, hatte doch mit halbem Chr
bingebört.
„Es wird noch ſchreckliche Kämpfe geben,”
fagte er lächeln. „Ich will nämlid Bier:
bleiben.“
Einen Augenblid kreuzten ſich beider Blide
wie Alingen, und Ernjt wurde jtugig über bie
barte Kälte in Lifas Augen. Ein fröjtelndes
Gerühl ihlih ihm am Herzen empor und
machte ihn veritimmt. Cr ſaß ſchweigſam,
abweſend, unfähig, fid in das leichte Geplauder
einzumifchen.
Nachdem ter Kaffee gerrunfen war, ſchlug
Liſa einen Gang durch den Garten vor. Herr
von Bartels, ter ein lebhaites Intereſſe für
Landwirrihait hatte, bat aber eifrig um einen
Rundgang turb ten Hof, und ta auch die
Tamen Verſtändnis für erde und Ztälle
keiaßen und Freude daran hatten, wandte man
ine Schritte ven Zirrihaitsgebäuden zu.
Schon von meitem trang lautes, ſchimpfen⸗
tes Schreien an ihr Ihr. Ernſt jtieg eine
15
Einfamteit.
entlaffe ih natürlih. Schiden Sie ihn aber
zu mir. Ich will fehen, was fih für ibn
thun läßt.
daran.
er herzlicher fort, „will ich bier nicht mehr
als Schmaroger figen.
nehmen Sie mid in Ihre Schulung, damit
ih doch etwas aus und ein weiß. Das
erbitte ih als Freundſchaftsdienſt von
Ihnen.”
Der Inſpeltor ſchnitt im ftillen über dieſe
neue Mühe eine gewaltige Grimaſſe. Es
regiert ſich immer befjer, wenn bie Zügel in
einer Hand liegen. Aber was fonnte er
thun?
Als Ernſt Lifa feinen Plan auseinander:
fette, ftieß er auf fein Entgegenfommen. Cie
bielt ihren blonden Kopf geſenlt und trommelte
mit den fhmalen Fingern an der Etuhllehne
auf und nieder. Als er mit feinem Vorſchlag
tam, daß auch fie an ben wirtſchaftlichen
Sorgen teilnehmen, den Gemüfegarten, bie
Milchtammer als ihr Gebiet betrachten follte,
fab fie nur mit ſchnellem, ſpöttiſchem Lächeln
auf. Dann füttelte fie den Kopf und
fagte:
nGieb dir feine Mühe. Ich bin nicht der
Menſch, für den du mich hältft. Die Zeit, die
ich bier zugebracht habe, ift mir eine tief-
verhaßte geivejen.
gemerkt haft. Ich habe nur in dem Gebanten
Wir haben alle unfern Teil Schuld |
Und dann, lieber Baumann,“ fuhr '
Von morgen an, |
Ich weiß nicht, ob du es |
ziehen magft ober nicht.
gelebt, daß aud wieder einmal meine Zeit ;
lommen würde, daß du mich in Verhältniſſe
zurüdführft, von denen du meißt, daß fie mir
Lebensbedingung find. Du bift der Stärfere.
Ich habe es jaft für deine Pflicht gehalten. ,
Es fcheint, daß ich mich geirrt habe.”
Fragend blidte fie ihn an. Ihr hübſches,
zierliches Geſicht hatte in feinem Ernft einen
wunderlichen Ausbrud, ber ihm ganz fremb
berührte. Er fühlte, daß fie hier in einer
Lebensfrage aneinandergerieten.
„Wir müflen uns verftändigen, Liſa,“
fagte er ernft und ruhig. „Für mich ift das
Zurüdgehen nad Berlin der Tod. Magſt
du es nicht verfuchen, bir die Mühe zu geben,
227
du immer lefen und leſen? Du weißt nicht,
mie verzweifelt mich das oft macht.”
Ihre Augen fahen feft und gelafien zu
ihm hin.
na, wenn zwei Wege jo auseinander
führen,” fagte fie mit herber Stimme; „dann
giebt es wohl nur noch eins: Scheidung.”
Er lächelte faft.
„Ih wußte all die Thorheit im voraus,”
fagte er mil. „Glaubft du wirklich, daß das
genügt, zwei Menfchen auseinander zu reißen,
die ſich lieb haben?”
„Die ſich lieb haben,” wiederholte Lifa.
Sie ftand auf und ging an das Fenfter,
wandte ihm den Rüden zu, um nicht feine
; ftillen Augen auf ſich gerichtet zu fühlen.
Hatte fie ihn noch lieb? Konnte man fo viel
Bitterleit, Empörung gegen bie ſichere
Berfönlichkeit eines Menfchen fühlen, den man
liebte? Fügt man fih da nicht gern? Ceit
Tagen und Wochen fchrie alles in ihr, wie
unter den Fußtritten eines Gehaßten, weil fie
ihre Wunſche, ihre Perfönlichkeit ihm opfern
follte, weil er died Opfer wie etwas Selbſt⸗
verftänbliches erwartete, forberie.
Sie wandte fi um. „Im Grunde bleibt
es doch dasſelbe,“ fagte fie mit rauher Stimme.
„Ich fol nachgeben, nachgeben, nachgeben;
binleben, wie es eben geht, und auf beine
Gnade warten, ob bu mich in dein Leben
Ich bin es dir ja
gar nicht einmal wert, daß du mit mir rebeft.“
Eie fhüttelte haftig den Kopf, die Stimme
verfagte ihr, fie eilte zur Thür hinaus, che
er daran benten konnte, fie zurüdzuhalten.
Müde blidte er nah draußen in all bie
warme Sommerfeir. In früheren Jahren
waren fie um biefe Zeit in irgend einem
Babeort geweſen. Das mar immer fold ein
eiliged Durchtoſten, fold ein haftiges Sichzu⸗
eigenmachen geivefen, dahinter hatten in feiner
Phantafie immer die glühenden Straßen von
Berlin gebroht. Einen ähnlichen Frieden wie
diefen hatte er nie geſpürt. Und ben follte
er nun opfern, um Launen zu bejriebigen?
Ahnte Lija gar nicht, wie raffiniert graufam
mir zu Siebe did bier einzuleben, durch fie mar? Aber in diefem Fall wollte er nicht
Thätigleit ein Intereſſe an diefem Leben zu
finden? Empfindeft du denn gar nicht das
unmittelbare Sein um bid herum?
nachgeben, er konnte und durfte es nicht.
Er nahm feinen Hut und ging hinaus,
Mußt ! um ein wenig ins Gleichgewicht zu kommen.
15*
228
In vielem hatte fie ja recht. Der Wechſel
war für fie, die von Kind auf an ein gejelliges
Leben gewöhnt war, ein zu jäber geweſen.
Sie entbehrte zu ſehr diefe Anregung von
außen. Sie brauchte Menfchen, und er brauchte
feine. Sta, feine Natur verlangte nad) einer
Einfanteit, die einfach Feine Störung vertrug,
ſelbſt nicht von den liebften Menſchen, die doch
immer ein Außen, ein Fremdes bleiben. Oder
war es möglich, daß eine Ceele in Schweigen
und Berftehen neben einem ſchritt, mit einem
duldete, immer zur Seite, wenn man fein
Auge hinwandte, mit urfprünglicher, Findlicher
Meisheit einen fühlend und erratend?
Da war er wieder bei ſich jelbft angelangt,
und er wollte doch an Lila denken und ihr
helfen. Wenn zmei nicht weiter willen, ruft
man den dritten zu Hilfe, und er fannte einen,
ber ein guter Freund und Helfer war: Schwartz.
Warum batte er an ihn nicht fehon früher
gedacht, ihn gebeten zu fommen? Cr ging
noch einmal zurüd und fehrieb ihm in Eile
ein paar herzliche Worte. Ihm mwürbe er ja
jet und bier auch nicht viel fein, aber es gab
ihm ein gutes, ftille8 Gefühl, daß er Liſa
eine Freude machen konnte.
Dann endlich ging er wieder hinaus, um
mit erleichtertem Herzen den berrlichen Abend
zu genießen. Er war mit all feinen Gebanfen
fo in Berlin geweſen, daß ihm nun die
Schönheit und Stille der fanft welligen Land—
Schaft wie ein ganz Neues entgegendrängte.
Der Himmel war unendlih Kar, die Sonne
ftand als ftrahlende, fegnende, unnahbare
Gottheit in ungetrübter Reinheit an der
lichten Bläue. Jeder Naturglaube ward bier
verftänblih.. Um biefer kleinen Erbe willen
ftiegen all die ewigen Geſtirne am Himmel
auf und nieder und dienten ihren Bewohnern
zu Troft und Leuchte.
Auf den fanften Erhöhungen Jah er
Menſchen fchreiten, Frauen aus dem Dorf,
Haufierer mit ihren Bündeln, aber fie erfchienen
in dem langfamen, gelajjenen Borwärtömallen,
wie er fie fo von meiten ſah, edel, dem
Boden angehörig, ihr Reich durchichreitend.
Auch ihre Stimmen flangen melodiſch durch
die reine Abendluft. Hie und da fuhr ein
Haſe auf und jagte pfeilgefchwind einen
Aderftreifen hinauf.
Einfamteit.
Emft ging dem Walde zu. Er wollte zu
den Oberförſters. Liſa Hatte gemeint, er
müſſe fich bei ihnen noch einmal entfchuldigen.
ALS er fich nach ziemlich Tangfamem Schlendern
ihrem Haufe näherte, tünte ihm Klavierfpiel
entgegen. Fenſter und Thüren waren nad
dem Garten geöffnet, eine dunkle, leiden-
Ihaftlid traurige Mufif ftrömte dur die
weiche LZufi. In dem bämmerigen Zimmer
ſah er nur ein paar belle Geftalten, die fich
faum beivegten. Er war aber bemerkt worden,
und Freda fam ihm entgegen. Sie begrüßte
ihn heiter und ging neben ihm in das Zimmer
zurüd. Frau von Bartels nidte ihm aus
ihrem Stuhl lächelnd zu, winkte ihm aber,
nit durh Begrüßung den Zauber vieler
Muſik zu ftören. Es waren noch ein paar
fremde Damen anweſend, die Epielende war
Fredas Schwelter.
Ernft lehnte fich gegen das Fenſter und
batte ein trauliches Gefühl, wie er fo ein-
gefügt ward, wie irgend ein Zangbefannter
und Zugehörige. Freda, im bellen, lichten
Kleid, mar lautlos an das Klavier zurüd-
getreten. Draußen ging der Gärtner mit
einer riefigen Gießkanne und tränfte bie
durftigen Blumenbeete, der Hauch von biefer
feuchten Friſche wehte ind immer.
„Hier werden die aufrichtigen, graben,
unbefümmerten Menfchen,” dachte Ernit ſehn⸗
füchtig.
Als das Spiel beendet war, begrüßte er
die Damen und blieb ein Weilchen zu harm⸗
[ofem Geplauder. Man wollte ihn zum Abenb
da behalten, aber er mochte Liſas wegen nicht
bleiben. Er verjpradh, bald mit ihr wieder—⸗
zufommen. , Dann ging er nad Haufe. 3
war faſt dunkel, die Sterne leucdhteten fchon,
am Waldesrand hufchten die Fledermäuſe
lautlos dur die graue Dämmerluft. Lila
hatte ſchon gegeilen, als er fam. Er ging
mit etwas zaghaften Empfinden zu ihr und
ſah fie an.
„sh habe Schwartz eingeladen,” fagte er
und jtredte ihr feine Hand hin.
Sie ſah auf und verfuchte zu lächeln. Ihre
Augenlider waren gerötet.
„Das ift lieb von dir,” fagte fie, Teile
nidend.
* *
Einfamteit.
Doktor Ehmwark kam ſchon nad einigen :
Tagen und brachte in feiner ganzen Art und
Weile des Seins gleihfam halb Berlin mit ,
fi. Erſtens hatte er endlos zu berichten, und
Liſa konnte nicht genug hören.
Der junge Bergen hatte Berlin verlafjen
und war auf Reifen in Stalien und Gricchen-
land. Schwartz mit feinem äſthetiſchen
Gebahren lächelte eiwas vornehm bei dem
Gedanken, wie der vierfchrötige, derbe Künftler
feine ungefchidte Perfönlichleit an all dem
Schönen vorbeifchieben würde, mit dem
rüdfihtölofen Blick unter den bufchigen
Brauen alles wertend und mejjend. Aber
er konnte ihm, num wo er fern tar, eine
betoundernbe Anerfennung body nicht verfagen.
Irma war, nah feinen Erzählungen zu
fliegen, noch ein wenig gleichgiltiger und
noch ein wenig liebliher geworben, auf ihre h
hatte ein Gefühl, als lebte er viel intenfiver
eigne Art an dem Lebensrätfel herumgrübelnd
und in inbifcher Beſchaulichleit auf jedes
Wirken nah außen in die trügerifche Welt
der Dinge verzichtend.
Aber Strom war der große Mann, ja,
er war ber Held bes Tages, ein Mittelpunkt
jebeö Kreiſes, in dem er mit feiner fonzentrierten,
ſeltſam gefpannten Perfönlichkeit erſchien.
Durch gefhidte Zeitungsrellame war es ſchon
der ganzen Welt kund gethan, daß er an
einem höchſt naturaliſtiſchen Drama arbeitete,
das vorausſichtlich in einem ber erften Theater
zur Aufführung gelangen würde. Und da er,
wie Schwark fih ausbrüdte, den ganzen
Tag mit zufammengebiffenen Zähnen und
gerungelter Stine ſchrieb, erfchienen außerdem
in allen modernen Beitfchriften feine feltfam
einfeitigen und barum frappierenten Arbeiten.
Schwark, der ein gewiſſes Intereſſe für ihn
nicht ableugnen fonnte, fah ihn oft, befonders
da Strom jegt auch zu Irmas Kreis gehörte,
der er eine nahezu wunderliche Huldigung
entgegenbrachte.
Liſa ſah während biefer Erzählungen mit
nachdenklichen Augen auf Ernft, der halb
amüftert, halb gleichgiltig dem Redeſtrom des
Freundes lauſchte. Gin dunkles Empfinden
hatte ihr immer gejagt, daß in Strom etwas
ſtedte, die Steigerung einer gewiſſen Ver—
anlagung, tie fie auch Ernſt hatte. Daneben
nur ein rüdfichtslofes Zichbefchränfen und
229
ein Wiſſen, wie man ſich hinaufarbeitet. Und
das fehlte Emft. Müde und gleichgiltig hatte
er den Rampfplat verlafien.
Ernſt feinerfeits fonnte nicht ohne einen
gewiffen Spott auf Gerharb fehen, wenn der
in feinem mobifchen Anzug mit dem enblojen
Rod, einen Kneifer auf ber Nafe, in ber
Gartenthür ftand, über irgend etwas bocierend,
mit den bleihen Händen bie Luft durchfahrend
und ſich mandmal den Kneifer zurecht rüdend,
um den prädtigen Sonnenuntergang fein
glänzendes Pfauenrab ausbreiten zu fehen.
Er fühlte fih bewußt und gern von Gerharb
und von Lifa geſchieden. AN die ſanften
Gefühle, die ihm durchſtrömten, wenn ein
linder Duft vom Garten hereinwehte oder eine
bleiche, duftige Wolfe fih müde am Himmel
auflöfte und zerrann, waren ihm viel mehr,
als das geiftvolle Geplauder der beiden. Er
als fie, als müßten fie faum, mas
Leben fei.
„Heute kommt Freda,“ fagte er eines
Tages. „Paß auf, Gerhard, wie fie bir
gefällt. Cie ift eine Natur vol kindlicher
Weisheit und innerer Heiligkeit des Lebens.”
„Wogegen ich die perfonifizierte Unweis—
heit bin,” fagte Liſa nicht ohne Schärfe. „Der
ungebulbige Menſch, der das Gegebene nicht
binnimmt.”
Schwarg war in dieſer Zeit ſchon öfter
Zeuge ſolcher Heinen Seitenbiebe geweſen und
hatte im ftillen feine Gedanken darüber. Er
ſah oft mit nachbenflihen Augen auf bie
beiden Menfchen, die ſich in biefem unmittel⸗
baren Zufammenfein fo fremd geworben waren,
daß er manchmal erf—hraf. Und Ernft ging
in tiefer Ruhe dahin, ohne viel danach zu
fragen, während in Lifa alles zitterte und
hinter ſcheinbarer Ruhe einem Entſchluß
entgegenbrängte.
Ernft nahm jeßt feinen breiten Strohhut,
nidte ihnen zu und ging, um Freda auf
balbem Wege zu treffen. In feinem einfachen
Zeinenanzug und mit den hadenlofen Schuhen,
auf denen er weich bahinging, pahte er freilich
beſſer in die Natur ala Schwartz.
Liſa fab ihm nad und wandte fi dann
an den nachdenklichen Freund.
Denken Cie noch an die letzte Unter=
ia,
Einfamteit. 231
Eonne ſchimmernd und glänzend, war ibm
biefes Bild des gefättigten Reichtums innig
and Herz gegangen. Cr batte cin Gefühl
gehabt, als finge auch für ibn bie Erntezeit
an, ald neigten fib tie Halme ſchwer und
demütig unter ihrer Frucht.
Beim Eſſen waren alle ziemlich ſchweigſam.
Nach Tiſch frug Schwarg ihn, ob cr ein paar
Augenblide für ihm übrig babe. Nein, er
hatte fie nicht, er mußte jet allein und un:
geftört fein.
Er war wieber Dichter, er lonnte ſchaffen.
Nun ſaß er ſchon feit Stunden und ſchrieb.
Bon dem geöffneten Fenfter fah er in Baum
fronen und in ben Himmel.
Bolten wuchſen daran empor.
Luft wiegten jih die Schwalben.
Durch bie
irgend eine Meifterarbeit vor, in deren Ent:
deden er immer groß war. Und ibm jtrömte
aus allem eine Fülle von Stimmung, cin
Reichtum an Worten, unter feinen Händen ;
wuchs wie felbftändig eine Dichtung, von ber !
er fih jagen mußte, fie fei gut.
Als er das legte Wort gefchrichen hatte,
faß er noch eine Weile ftill da und fah hin—
aus. Eein Herz ging ruhig, ſtark und voll,
feine Gebanfen jegneten ftumm alles Sein,
feine Seele neigte fih in überftrömenver
Dankbarkeit und Liebe vor einer großen |
Gewalt, die aus und in ihm webte.
Endlich fammelte er die lofen Blätter und '
ging zu den beiden unten. Sein Geſicht
leuchtete. Er las ihnen vor, was er gefchrieben
hatte. Es fam mie aus einer andern Welt.
Es war mie eine Ruhe barin und Frieden
und das ftarfe Fühlen eines in ſich gefeſtigten
Menſchen.
Und Liſa fing an ihn zu begreifen, mit
einem ganz eben, zerreißenden Schmerz in
der Bruft zu verſtehen, daß er gehen durite,
wo er ging, daß er das Recht hatte, fie .
zurüdzulafien, daß er größer war als fie.
Die Thränen brannten in ihren Augen, aber
fie kämpfte fie nieder. Sie wollte ihn mit
ihrem perfönlihen Sein nicht mehr bebelligen.
Eie wollte ſtill und leicht das Band löfen,
das fie wie Kinder gefnüpit hatten, ohne eins
das andere zu fennen.
Das war eine ı
unenbliche, ernfibafte Freude, Die ihm bewegte. |
Große, weiße |
Gebämpite ;
Stimmen Hangen. Unten lag Schwartz Liſa
As cr geendet hatte, ſah er mit fragenden
Biden auf, aber er ſah Gerbarb an. Er
wußte einen Menſchen, auf deſſen Urteil er
ein größeres Gewicht legte. Gerhard ftredte
ihm bie Hand hin.
„Du bift gewachſen, reif geworben, Ernſt,“
fagte er. „Man bat das Gefühl, als möchte
man dir ganz perfönli banten, daß du fo
etwas fehreiben durfteſt.“
„Ja,“ ſagte Yifa mit ſchwachem Lächeln.
„Es ift etwas Ganzes darin.”
Emft ſah mit leuchtenden Augen auf die
beiden. Er war fo froh, fo bewegt, daß er
eine Sehnſucht empfand, allein zu fein.
„Entſchuldigt mich,” fügte er berzlic.
„Run muß ich mich ein bischen fammeln und
träumen.”
Er ging dur den ftillen Abend, ber
Sonnenglanz war rötlich. Die Arbeiter
famen gruppenweiſe nah Haufe, ihre Senfen
auf den Rüden. Hie und ba ertönte Geſang
aus ihrer Mitte, ungefchulte, ſchwermütige
Weiſen. Aus den Dorjhäufern ftieg der Rauch.
Und in feierlicher Große wölbte fih der Himmel.
Ernft ging dur die Wiefen, wo das iriſch
gemähte Gras lag und füßen, berauſchenden
Duft ausftrömte. Er warf fih da hinein und
fab empor in bie weite, unendliche Yuit, in
Die großen, ewigen fernen, in denen tünende
Welten freiften, deren Kräfte niederwirkten bis
zu ihm. Überall ftrömte in gewaltigen Yebens:
hören das Sein, das feltjame, köſtliche Sein,
deſſen furchtbare Thatfächlichkeit wir fo leicht
im Leben bes Tages vergeijen, um nur in
einzelnen Momenten mit Jubel und Grauen
zu empfinden, daß wir ewig und unendlich
find. Dann halten wir uns mit angſwoller Liebe
an das Nächte und Nahe, die Kraft unferer
Erde, die um uns wirft und unjerer Yiebe
mit taujend Gebilben entgegendrängt. Emit
fühlte fih im jtummer Dankbarkeit als ihr
Rind, das nur an ihrem Herzen Nube und
Krast finden fonnte.
In einiger Entiemung tauchte Gerbard
’ auf, der ſich ihm näherte, ihn zu fuchen ſchien.
Am liebjten hätte er fih vor ihm verborgen,
aber Gerhard ſchwenlkte jein zierliches Stödchen
zum Zeichen, daß er ihn entbedt hätte Mit
feinem etwas ftelgenden Gang kam er über
ten unebnen Boden. So war die Dankes-
Einfamteit.
glüdliher Zufall, da fie im allgemeinen fchr '
gefellig lebten. Sie faßen beim Nachmittags:
laffee im Garten. Als er fragte, ob er etwas
Neues von ſich vorlefen dürfe, war der Jubel |
Aber jchon |
groß. Und fo begann er.
während des Leſens empfand er ein unbeftimm=
hares Gefühl des Unbehagens, fo daß es ihm
wahre Mühe foftete, bis zu Ende zu gelangen.
Er legte am Schluß zögernd die Blätter |
zuſammen und fah dann mit einem leicht
Fragenden Blid in Fredas Geficht.
„Aber jehr nett!” rief Frau von Bartels. '
„Eine reizende, Heine Gefchichte.”
„Ja,“ fagte Freda, „an einzelnen Etellen
fo ſtimmungsvoll.“
Er zog die Brauen ein Mein wenig zu:
fammen und fah einen Augenblid recht feit
in das geheimnisvolle Braun ihrer Augen.
Sie errötete etwas und ftredte die Hand nad |
den Blättern aus,
„Ich habe es noch nicht ganz verſtanden,“
ſagte fie leicht entfehuldigend. „Meinen Sic, daß
man fo etwas gleich völlig begreifen Tann?“ |
Er gab ihr das Manuffript.
„Ich münfchte wohl, daß Sie Freude
daran fänben,” fagte er dabei, und dann fing
er an, bon anberm zu reben.
nad) der lauen Aufnahme gequält, noch weitere
Urteile über das Werk zu hören, das ihm
felbft fo lieb war.
Als er nach Haufe ging, dachte er darüber
nad, wie felten unmittelbares Verjtändnis für
Nunftiverfe zu finden fei, wie das ein wenig
jernftehende Publikum die
Künſtlers fo gar nicht zu begreifen vermöchte,
wie erft die Kenner der Menge den Star
ſtechen müßten und wie dann das Urteil fo
feltfam, fo verblüffend, fo mißtrauiſch machend
übereinftimmenb würde. Cr hatte von ben
Barteld mehr erwartet, auf Grund feiner :
Sympathie für diefe guten, frifchen Menfchen;
aber mit welchem Neht? Warum follten
grade fie in einem unmittelbaren Verhältnis
zur Wahrheit und Echönheit fteben?
Nah einigen Tagen aber fam Freda in
einem leichten Ponywagen anlkutſchiert. Zie
brachte die [Novelle zurüd und erzählte mit
geröteten Wangen, wie deren Araft und
Stimmung fie almählih immer mehr gefaßt
hätte, wie fie hinter all der Einfachheit der
Es hätte ihn |
Abfichten des B
233
Worte nach und.nach den vollen Reichtum einer
| reifen Natur hätte auf fie wirken fühlen.
| Selbft Schwartz wunderte ſich über ihr gutes,
verftändiged Urteil, und Ernſt mar völlig
verföhnt. Cie gerieten den Abend in eins
jener ſeſſelnden Gefprädhe, die aus ungeahnten
Tiefen die beften Gebanten Ioden, und Fredas
! Augen ftaunten über al das Neue, das fie
börte.
* ”
.
Im Cpätfommer war Emit allein in
| Steinau. Er wußte, daß cr auch den Winter
über allein bleiben würde und dann wohl
viele Jahre, eins nad) dem andern. Liſa war
| gegangen. Nicht im Sturm nad erbitterten
! Worten — fie wollte eine Freundin befuchen,
! die in Helgoland wohnte, im Herbſt nach
| Berlin zurüdfehren und bableiben und ihn
erwarten, bis er hinkäme. Sie wußten beide,
| daß das nur Worte waren, aber fie ſprachen
ı diefe Morte mit Lächeln und plauberten heiter
über ihre Pläne, wenn fie zufammen waren.
Tas Wiffen, was daraus folgen würde, lag
| nur im Grunde ihrer Seele.
N Er brachte fie zur Bahn. Eie fuhren
| denſelben Weg, wie an jenem erften Abend,
der jchon alles, mas folgte, im Heim geborgen
i hatte. Gr balf ihr in das Coupe, er winkte
ihr zu, als der Zug fid langjam in Bewegung
ſetzte und ſchwenkte grüßend ben Hut. Sie ſaß
dann, als fie durch das Land fuhr, mit
jtarrem, wie verfteintem Geſicht. Sie dachte
nicht daran, was die Leute fagen würden, fie
dachte nur, daß es fo bitterlih ſchwer wäre,
! zu thun, was zu laſſen unmöglid war.
Er fuhr indes nach Haufe und dachte an
' feine neue Arbeit. In all biefer letzten Zeit
batte er ein Wachſen und Schwellen feines
Talentes gefpürt, ein Beziehen jeder innern
Negung auf fein Schaffen, das ihm fehr
glüdlib machte. Die Pferde liefen ſchnell und
‘ froh. Der Inſpektor begegnete ihm und gab
irgend einen Bericht über bie Herbftarbeiten.
Dann fuhr er dur das Dorf, bog in bie
Allee ein und fam zu Haufe an.
' Er ging durch die Zimmer, fie waren weit
und leer. Die Sonne kam bereingeglitten und
ſpielte auf ſchweren, müben Sonnenblumen,
i die in einer großen Vaſe jtanden. Auf dem
Einfamfeit.
Wangen waren gerötet von ber frifchen Herbft:
luft, ihre ſchlanke, kräftige Geftalt ſah vor-
trefflich aus zu Pferbe.
Meine Frau ift noch nicht zurüdgefommen, ”
fagte er und ſchaute mit lächelnder Bewunderung
in ihr ſchönes Geſicht.
„Und Sie haufen hier wie ein Einfiebler
und zeigen ſich feinem Menfchen?“ fragte fie
erftaunt.
Dabei fah fie ipn an und fand ihn blaffer,
vergeiftigter, ein innerliches Leuchten in dem
ruhigen Auge. Er trat näher und Hopfte dem
Pferde den Hals.
„Ich arbeite und leſe viel,” erwiderte er.
„Das fieht man Ihnen an,” fagte fie
nidend. „Es ift aber nicht recht, feine Freunde
fo zu vernadpläffigen.”
Nein,” antwortete er veuig. „Und id)
lomme noch in biefen Tagen.”
„Was fange id num damit an?” fragte
fie und ſah auf ihre Ebereſchen.
Er lächelte ſtill und ftredte feine Hand
danach aus. Sie reichte es ihm mit einem
ruhigen, freundlichen Gruß ber Augen und
ritt wieder davon.
Bon da an war er fehr oft bei den Ober-
förfterd. Und fein Auge gemöhnte fih an
Fredas Geficht, das es ihm lieber ward, als
irgend eins auf der Welt, er gemöhnte ſich
an ihre Stimme, daß er, wenn fie ſprach, es
durch jedes Stimmengewirr hindurch vernahm,
er gewöhnte ſich an ihr ruhiges, ehrliches
Weſen, daß er dachte, den wahren Frieden
könne er nur finden, wo ſie ſei. Das entſtand
ſo unmerklich, daß er meinte, es ſei immer ſo
geweſen und es empfand, als ſeien ihre
Naturen für einander beſtimmt von Urbeginn an.
Und der Winter kam mit Stürmen und
Schneetreiben, mit Rohreif und klaren, froſtigen
Tagen. Die Sonne ging über endloſe Schnee:
felber auf, wanderte ihren einförmigen Weg
fo raſch mie möglich und verfanf twieber, in
leuchtender Glut den Echnee färben. Ernſt
Tief auf den gefrorenen Eeen Schlittſchuh und
freute fih an all der ftummen Größe der ,
i bunte Fähnden. Niefige Gas: und Wafler:
Winterlandſchaft. Er laufchte in feinem ein
famen Arbeitszimmer dem Braufen, Erfterben
und Wicberauffeufzen des Windes und ſchwieg
und wagte nicht an dem Neichtum zu rühren,
den feine Seele hütete: der Liebe zu Freda.
1
| Gefühlen ſah er
285
Als Liſa auch nicht zu Weihnachten zurüds
kehrte und Ernft nicht zu ihr fuhr, ſprach man
allgemein darüber und fam zu ber Anficht,
daß fie in Scheidung lebten. Ernſt aber
ſchrieb an fie und fragte fie, was fie in der
Zeit, in ber fie getrennt gelebt hätten,
beſchloſſen hätte. Sie fehrieb zurüd: Scheidung.
Er las den kurzen, ernften Brief vielmals,
aber er fand feine verfühnende Antwort darauf,
bie irgend wie aus aufrichtigem Herzen gelommen
wäre. Er empfand es einfach, daß dies ein
Ende war. Da begann er, die nötigen
Schritte einzuleiten.
Seine Arbeit, ein Noman, wuchs mittler⸗
weile feinem Ende entgegen. Er fammelte
ſich ganz in diefem Schaffen und beſchloß, bis
zu feiner Fertigftellung und ber enbgiltigen
Scheidung feinen Menſchen mehr zu fehen,
nur für fi zu leben. Er ſchrieb an Frau
von Bartels und bat fie, ihn zu entfchuldigen.
Er wollte auch Freda in biefer Zeit fern
bleiben. Was danach kommen follte oder
fönnte, machte er fi felbft nicht flar, es
bewegte nur feine Gedanken, als erwartete
ihn dann ein großes Glüd.
Mittlertveile erhielt er ausführliche Briefe
von Schwartz, der fi ihm, wie die Trennung
von Lifa vor ſich gegangen war, wieder innig
in ber alten Art ihrer Jugendfreundſchaft ger
nähert hatte. Nur war ber Klang jegt ein
wenig anders, der Mann fprad zum Manne,
nicht mehr tie früher zum Jüngling.
Gegen Ende Mai war Emft auf dem
Wege nad Berlin, um perfönlid bei dem
Scheidungstermin anweſend zu fein. Ein
volles Jahr war er fern gewefen, das ihm
ungeahnte Wandlungen, tiefgreifende Ent:
toidlungen gebraht. Mit wunderlichen
auf die mohlbefannten
Gegenden, durd die der Zug rüttelnd und
wiegend fuhr. Die bürftigen, dünnen Kiefern
des Grunewalds flogen an ihm vorbei, die
ftruppigen Kohlgärtchen, in denen Bretterbuben
ftanden, begannen, Kinder ftredten ihre Arme
nah dem Zug aus und ſchwenkten johlend
türme ftanden wie Koloſſe auf brachem Feld,
auf einem Stückchen Wiefe war eine Ziege
angebunden und ftieß mit ihren Hörnern
ungeduldig in das Gras. Und nun wuchſen
Einfamteit.
fi, ohne ein Wort zu fagen, auf jie zueilte,
ihre Hand ergriff und fie an bie Lippen drückte.
Dabei betrachtete er fie mit liebreichen Bliden
unb rief enblid:
ih Sie entbehren müflen!”
„And wirklich entbehrt?” fragte fie mit
ihrer gebämpften Stimme.
„Namenlos,“ fagte er und fühlte jegt, als
wäre es fo geweſen.
Sie lächelte etwas traurig zu ihm empor
und fagte dann:
„So laſſen Sie es fo fein, tie früher und
berichten Eie. Man hat mir fo manches ge-
fagt, aber id) muß es von Ihnen felbit hören.
Wir find ja beide um ein ganzes Jahr weiler
geworben.”
f&büttelte den Kopf. „Ich ftede zu fehr in
mir drin, fann immer nur eins begreifen, eins
fehen, eins fühlen. Und die Welt ijt fo viel:
fältig.“
Aber er fing doch an zu erzählen, dies
und das, und wie ihm Liſa jo jern geworden
und ein andrer Menſch fo nah, fo innig nah,
daß er ihn immer alö gegenwärtig fühle. Und
wie er zu einem neuen Anfchauen und Bes
trachten des Lebens gelommen, zu einem neuen
Werten ber Dinge.
freie, einfache Hinſchreiten fo ftarf und ruhig
gemacht, daß er nur immer ein ſchauerndes
„Ja“ zu allem Leben fagen könne, zu allem
Iren, zu jedem Schmerz. Und wie Fredas
vornehme, heilige Seele ihn nun völlig zum
graden, wahren, freudigen Menſchen machen
würde.
„Wir werben do alle unglüdlich,” fagte f
fie leiſe und feüttelte den Kopf. „Der im
feinem Erreichen und der in feinem Entbebren.
Und wiſſen Cie, daß ich die Leidenden nicht
bemitleide? Ich babe auch fein Bebauern
gefühlt, daß Sie beide auseinander gingen.
Ich finde nur, es hätte Ihnen mehr nehmen
und geben follen,” und fie ſah ihn mit düſtern,
fremden, leibflagenden Augen an. „Wie fünnen
Eie nur, ein Menſch, der fühlt und erkennt,
an Glück glauben?”
„Ich glaube an Glüd,” jagte er, und fein
geiftwolles Geficht mit den ausgearbeiteten
Zügen neigte ſich ihr zu, feine Augen leuch—
: Irma.
Sie guter, treuer Freund, wie lange habe |
Und wie ihm dies große, ;
\
237
teten in einem warm flutenden Licht, als fühe
er Freda in ihrem kraftvollen Frichen.
„Die Liebe vor allem ift Schmerz,” fagte
„Von Anfang an ein Fürdten und
Verzehren, ein endlos endlofes Sehnen, das
nie völlig Genügen findet. Und doch,“ fagte
fie und fah ihn mit einem trüben Lächeln an,
„wünſche id auch Ihnen, daß Sie das jo
fühlen lernten, und würde enttäuſcht fein,
wenn Sie anders bächten.”
Er jah fie unruhig an.
„Ich fürdte, Ihre Anfchauung vom Leben
ift krank. Sie find mübe und fchlaff. Ahnen
fehlt Freudigfeit und Widerſtandskraft.“
„Ein Glüd tenne ih auch,“ gab fie zur
Antwort. „Das Glüd der Schmerzen. Und
ich glaube faft,“ fuhr fie fort und betrachtete
„Ich werde wohl nie weile,” fagte er und
ihn mit einem warmen, fanften Blid, „ich liebe
die am meiften, bie mir bie meiften Schmerzen
zugefügt haben.”
Sie waren auf und ab gegangen durch
die Säle, und er begleitete fie dann noch bis
nad Haufe. Sie gingen durch bie breiten,
lauten Straßen. Neben ihnen ſchrie und
tämpfte das Leben, mie ein grimmiges Tier.
Ihr Auge ſah nur Leid, wohin e3 blidte.
Er aber ſchaute darüber hinweg, bielt fein
Herz feft und ſprach zu fi:
„Einigen ift es gegeben, glüclich zu fein.
Ich will zu ihnen gehören, den Mutigen, die
es wagen, das Glüd zu halten, dieje Kraft
tes Seins.”
Dann nahm er Abſchied von Irma.
„Wir fehen uns wohl nod einmal in
dieſem Leben?” fragte fie mit ſchwachem Lächeln.
„SH bringe Ihnen Freda,“ fagte er, und
feine Augen glänzten. —
Und fe nahte denn endlich der Scheibungs-
tag, an dem er auch Lija wicderjah. Cie war
ganz ruhig und feſt, aber er hatte ein Gefühl,
als ob fie litte, und ein unrubiger und be:
fümmerter Schmerz ſchnürte fein Herz zu—
fammen. Es war furdtbar, wie das Yeben
die Dinge ineinander fügte und daß alles
fommen durfte und mußte, wie es fam.
iederjehen nach der langen Trennung,
ihirembfühlen und doch Vertrautiein
dur taufend und taufend kleine Tinge, riß
an jvinem Herzen und jeinen Nerven. Er
fühlte ſoviel Weiches und Gutes für fie, und
Einſamleit.
Garten beſchäftigte ihn, fo daß er oft ſtunden⸗
lang mit dem Gärtner ſprach, Pläne zeichnete
und Anteifungen gab.
Und dann fam der Tag, an bem er ſich
Tagte, daß es nun nicht zu überhaftet wäre,
wenn er zu Barteld ginge. Er mollte mit
der Mutter fprechen, ihr von ber Scheidung
erzählen, fie fragen, ob ihm das in ihren
Augen Abbruch thäte, und wenn nicht, ob
er um das ftarke, liebliche Mädchen merben
dürfe.
Es mar fo heiß, daß er fi) den Wagen
anfpannen ließ, auch deshalb, weil feine
Ungebuld zu groß tar, biefen langen Weg
in banger Erwartung zu Fuß zurüdzulegen.
Die ſchönen Pferde ftampften ungebulbig und
mirbelten mit ihrem tängelnden und anmutigen
Lauf diden Staub von dem Landivege auf.
Dunkle Wolfen ſchoben fih gegen Weſten
durcheinander. Der Kutſcher ſchnalzte mit der
Zunge und fnallte mit der Peitiche.
„Das kann ein Wetter geben, gnäb’ger
Herr," fagte er mit Kennermiene.
Dann fam die Fahrt. dur den kühlen
Bald. Als fie in die Nähe der Oberförfterei
kamen, ließ Emft halten, ftieg aus und ſchickte
den Wagen zurüd. In diefer Kühle kam ihm
feine Spannkraft wieder. Mit belebten
Schritten eilte er vorwärts und erreichte bald
den Garten. Das erfte, was ihn überrafchte,
mar, auf dem großen Rafenplag die ganze
Geſellſchaft mit Lawn Tennis befchäftigt zu
finden. Das war eine Neuerung gegen das
vorige Jahr. Ein zweiter raſcher Blick be
lehrte ihn, daß Fremde anmwefend waren. Das
ftörte natürlich feinen Vorſatz, und er zögerte
faft, ob er näher treten follte. Eein Auge
ſuchte Fredas. Cie war mitten im Spiel; ein
paar Damen, die er von früher her fannte,
fahen zu. Ihre biegfame Geftalt nahm ſich
anmutig genug aus in den bligfchnell wechſeln⸗
den Stellungen. Ihr Gegner war ein ſchlanker,
brünetter Herr, ber meifterhaft fpielte und deſſen
ganze Geftalt wie aus Stahl gegofien mar.
Er ſchien der Überlegene zu fein. Freda lachte
und warf das Racket hin. Da fprang er mit
einem leichten Satz über das Ne, eilte auf
fie zu, faßte ihre Hände und fagte ihr etwas
mit einem zärtlich gebieteriſchen, gewinnenden
Lächeln auf den Lippen.
239
Ernſt fah, daß Fredas Schweſter ſich ihm
näherte. Er zwang ſich ein geiſterhaftes
Lächeln ab.
„Ich war recht lange nicht hier,“ ſagte er,
indem er ſie förmlich begrüßte.
„Mir ſcheint, Sie waren viel zu lange
nicht hier,“ ſagte das junge Mädchen mit
freundlichem Ernſt.
Er ſah auf den Tennisplatz hinüber und
ſagte mit tonloſer Stimme:
„Das find recht große Änderungen bier.“
Und dann noch einmal, gleichfam ſich einen
Nud gebend, mit lauterer Stimme, die aber
doch heiſer und erftidt ſich vorrang:
„Das find recht große Änderungen hier.”
Dabei fah er auf, dem jungen Mädchen
ins Geficht, und als das ein weiches Mitleid
! auszubrüden ſchien, wurde er auf einmal ganz
ernft und bleich wie der Tod und fagte in einer
Art, die ihr an da Herz ging: „Ich möchte
die Ihrigen begrüßen, gnädiges Fräulein.”
„Freda!“ rief fie mit einer faſt weinenden
Stimme. „Freda!“
Die wandte fih um, das ſchöne, flille,
glüdglängende Geficht ihm zu. Sie fagte ein
paar Worte zu dem jungen Mann, banı
näherten ſich beide. "
„Guten Tag, Herr Stein,” rief Freda und
ftredte ihre Hand mit gutem, glüdlihem Lachen
aus. „Darf ih Ihnen meinen Bräutigam,
Herrn von Franf, vorftellen?“
Ernſt verneigte fich leicht und höflich.
Nehmen Sie meinen herzlichſten Glüd:
wunſch, gnäbiges Fräulein,” fagte er mit
etwas eintöniger Stimme.
Tann fragte er nach Frau von Bartels.
Sie gingen alle zum Haus zurüd, Ernſt immer
in ber ftilfen, monotonen Art leichte Fragen
ftellend oder auch erwidernd, dabei ganz blaß
und mit einem faft unbeweglichen Ausdruck
der Erftarrung im Geſicht.
Die es am tiefften fühlte, war Fredas
Schweſter, weil fie ihn im Augenblick fafjungs-
Iofen Wehes gefehen. Sie wünſchte, daß die
andern es nicht merken follten, Fteda nicht,
die fo glüdli war, Frank nicht, die Mutter
nit, um Ernſts willen, weil fie eine Scham
für dies grenzenlos tiefe Empfinden hegte,
weil fie begriff, wie jeder Nerv in ihm fi
I fpannte in ber fortgefegten, ftillen Arbeit, feine
Profeſſor Carl Goldbed.
„Weiß Irma um deine Liebe?“ fragte
Ernft.
„Ja. Sie fagte mir, daß fie einen andern
Tiebe, aud gang und für immer, und aud
hoffnungslos.“
Ernſt ſchwieg und ſah nicht, wie des
Freundes Blid auf ihm ruhte.
„Es giebt eine Liebe, die auch das Vor-
übergehen vergiebt,“ fagte der mit nachbenf= |
lihem Niden.
„Heute zum erftenmal frage ich mich,”
fagte Ernft nad einer Paufe aus tiefem
Sinnen. „Hätte es nicht anders fommen
tönnen mit Liſa und mir? ft es nicht un=
verzeihlih, daß wir uns fo trennten?”
A
i „Nein, Ernſt,“ rief Gerhard und legte
| feine Hand auf die ſchlanke, bebende des jungen
Freundes. „Alles mußte diefen Weg nehmen.
Wie follten wir das Leben tragen, wenn uns
immer bie Frage bliebe, hätte es anders
! fommen fünnen? Still, ftill das Geſchehene
auf fih nehmen, als etwas Notwendiges und
darım Kraft und Fügung darin finden. Mit
ruhigem, getroftem Blick vor und zurüd jehen
und dies alles als ein Außen empfinden. Das
ift nicht leicht, aber verſuche es nur.”
Nun war doch noch eine Wolke aufge
zogen, und ein leichter Regen fiel, in ber
Abendfonne fprühend. Die beiden Freunde
jaßen zufammen und fahen ſchweigend hinaus.
ee
PRrofeffor Carl Golobeck.
Rlice Tandsbern.
Nadprud verboten.
Jor wenigen Wochen hat man auf dem Zwöolf-Apoſtelkirchhof in Schöneberg einen
Mann zur legten Ruhe beftattet, der vielen Hunderten von Berliner Frauen
ze und Mädchen ein felten treuer Lehrer und Freund geweſen, einen Mann, der
ein wahrhaft Berufener war für die ernfte und fchiwierige Aufgabe des Lehrers.
Profeſſor Carl Goldbed, der langjährige Direktor der Berliner Charlottenfchule, ift
am 24. September d. I. nach längerem, ſchweren Leiden geftorben, nachdem er Anfang
des Jahres jeine Lehrthätigkeit und feine amtlichen Verpflichtungen niedergelegt hatte.
Er bat fein ganzes Leben mit voller Hingabe feinen Schülerinnen gewidmet, und wenn
ihm heut in diefen Zeilen eine von ihnen im Namen der vielen einige Worte treuen
Gedentens und Erinnernd über das Grab hinaus nachruft, jo möge dad als ein
Heiner Tribut der Dankbarkeit und Verehrung hingenommen werben.
Carl Goldbet war ein Lehrer — und bei ihm ift der Lehrer vom Menfchen
nicht zu trennen — wie man unter Taufenden faum einen tiederfindet. Hier war
nichts von Schablone, von Pedanterie. ine originelle, geiftvolle Natur, gab er fi
eben felbft, er fette jeine ganze Perfünlichfeit ein, Intelleft und Gemüt der jungen
Schülerinnen zu feſſeln. Voll ungewöhnlicher politiver Kenntnifje — er war unter
anderem ein feltener Kenner der franzöfiichen und italienischen Sprade und Litteratur —
wirkte er in jeinem Unterricht doch hauptſächlich durch feine ſprühend lebhafte Vortrags:
meife. Er beſaß die Gabe, durch Erzählen von Anekdoten aus Gedichte und Leben
den oft trodnen Stoff des Schulmeifterd anregend und intereffant zu machen. Durch
fteten Hinweis auf das fcheinbar Unbedeutende, auf die „Kleinigkeiten des Dafeins“, in
denen fich für das fundige Auge das Leben oft am köſtlichſten jpiegelt, wollte er feine
Schülerinnen „Andacht zum Kleinen“ lehren, wie er ihnen Begeifterung für das
Erhabene und Große einzuflößen verftand, Verehrung für die freien, großen Geifter
aller Nationen. Zu felbjtändiger Arbeit und innerer Fortbildung fuchte er feine
Schülerinnen anzuleiten; in jungen Jahren ſchon follten jie lernen, ihre Zeit aus:
zunügen, von feinem Tage follte es auch bei ihnen heißen: „diem perdidi!“
„Du bajt fein Auge für diefe Dinge, weil du feine Liebe dafür haft, und Auge
und Liebe gehören immer zufammen“. Dieſe jchönen Worte Theodor Fontanes
16
Leiden und Rechte des Kindes.
Adele Schreiber.
Raqhdruc verboten.
Mede Gefeggebung entipringt der Notwendigkeit, den Schwachen vor der Vernichtung
durch den Starken zu bewahren, ihre Aufgabe ift e8, regulierend auf den Dafeins:
tampf im Menjchheitähaushalt zu wirken. Je vorgeichrittener ein Staat, umſomehr
läßt er ſich die Eorge für feine ſchwachen Glieder angelegen fein; jo jehen wir bei
reifen Staatengebilden, neben den urfprünglichen Formen der Legislation, eine neue
Ergänzungsgejeggebung ſich aufbauen, die den Schuß der twirtichaftlich Benachteiligten
gegenüber dem mächtigen Drud des neuen Produktionsmechanismus bezwedt.
Diefed Syſtem, zufanmengefaßt unter dem Namen: jozialpolitifche Gefeggebung,
murzelt in feinen erften Anfängen teilweife in der Privatwohlipätigfeit. Einrichtungen,
die urfprüngli dem mitleidsvollen Eingreifen von Einzelperfonen oder Vereinen übers
faflen waren, find ald Pflicht der Gejellihaft anerkannt und in ftaatliche Inftitutionen
umgewandelt worden; jo in verichiedenen Staaten die Kranken-, Jnvaliden- und
Alterdverforgung, Wöchnerinnenunterftügung, die Erziedung von Taubftummen, Blinden,
Waifen und Findeltindern, die ÜUberwachung der Haltekinder ꝛc.
Zahlreih find noch die Gebiete, die in Deutichland einer völlig unzureichenden
Privatforge überlaffen blieben; eins derfelben ift der Echug von Kindern gegen Miß—
handlung und Ausbeutung.
Es ift eine ſchwer verftändliche foziale Erſcheinung, daß der natürlichen Pflicht
der Eltern, die beften Beſchützer ihrer Rinder zu fein, jo Häufig zuwidergehandelt wird
und e3 des Auftretens Fremder gegen die Schädigung durch die eigenen Eltern bedarf.
Diefe Erfcheinung läßt jih nur auf angeborme graujame und gewalttgätige Inſtinkte
zurüdführen, die fih an dem bilflojen Kind, ohne Furt vor Vergeltung, bethätigen.
Kindermißhandlungen find bei Natur: und Kulturvölkern verbreitet, fie waren
ein Übel der alten Zeiten, wie fie eines der Gegenwart find, aber der Kampf dagegen
ift eine Errungenſchaft der legten Jahrzehnte. Mit ihm baben wir aud) erſt begonnen,
genauere Kenntniffe über Häufigkeit und Weſen des Übels zu erlangen.
Während ehedem die Beftrebungen für das Kinderwohl darauf beſchränkt waren,
Waiſen und Findelfinder zu verforgen, entitand zu New-York im Jahre 1875 die erfte
Geſellſchaft zum Schug der Kinder gegen Mißhandlung und Ausbeutung. In 25 jähriger
Thatigkeit ift fie für 382 782 Kinder eingetreten, fie hat 47077 ſchuldige Perfonen
zur Verurteilung geführt und 83 141 Kinder in geeigneter Weife untergebracht.
Nach dem Mufter der New-Yorker Geſellſchaft bildeten ji über 300 Vereine
mit ähnlichen Zielen, von denen die 1884 durd Benjamin Waugh zu London
gegründete „Society for the Prevention uf (ruelty to Children“ die hervor:
tagendfte ift.
Im Jahre 1889 fchloffen ſich ihr die in den andern Städten Englands beftchenden
Kinderfchugvereine an, und von da ab entjtand unter dem Namen „National Society“
eine Inftitution, die in ihrer Art als die bedeutendite der Welt bezeichnet werden darf.
Die Thatigkeit der englifchen Gejelichaft iſt ſchon des öfteren in diefen Blättern
eingebend gewürdigt worden; in zehn Jahren hat fie 411947 Kinder beichügt, fie ift
gegen 209032 Schuldige eingefchritten und bat 17537 Gerichtsverhandlungen eingeleitet.
Ihre Grundidee iſt, ſich nicht damit zu begnügen im engen, philanthroͤpiſchen
Sinne Linderung zu bringen, jondern in erjter Linie dem Rinde eine gejeglich geihüßte
und geficherte Stellung zu erfümpfen.
16“
Leiden und Rechte des Kindes. 245
Mißhandlungen in der Zunahme begriffen wären. Einen Beweis jedoch für die
Wirkfamkeit rechtzeitigen Eingreifens bietet die ftete Abnahme der durch Mibhandlung
herbeigeführten Todeẽ falle.
m Jahre 1893 auf 94 endeten von 37 642 Mißhandlungen 272 tödlich. Im
Jahre 1898 auf 99 von 75 732 Mißhandlungen 199. Es kamen Ietal endende Fälle
auf je 1000 Mißhandlungen
im Jahre 90-91 . . . . 5,60,
"nn AR .. 0. 0. 5,99,
nu RB... . 444,
nn BA .... 720,
nn 4-5... 0. 5,48,
nm Bm... . 440,
nm 9-97... .. 331,
nn MB... . 300,
nn 8-9... . 361.
In dem Wirkungskreife der Gejelichaft find innerhalb neun Jahren 1763 Kinder
an den unmittelbaren Folgen von Mißhandlungen geftorben, eine Zahl, die wohl mehr
als alle Verteidigungsreden beweift, daß die Inſchutznahme von Kindern gegen Eltern
ober deren Stellvertreter feiner Humanitätsbufelei entipringt, fondern bitterfte Not:
wenbigfeit ift.
Die Graufamteit wendet ſich am beftigften gegen die Hilflofeften, die fiher am
allerwenigften durch ihre Unarten oder Bosheiten Anlaß zu Gewaltthätigkeiten geben
tönnen. Das Durchſchnittsalter beträgt 6'/, Jahre, 37 Prozent aller Opfer ftanden
unter dem 10. Lebensjahre, 51 Prozent unter dem 7., 28 Prozent zählten 0—4 Jahre.
Von den Schützlingen des Jahres 1898—99 waren 70197 eheliche Kinder,
3685 uneheliche, 736 Stieffinder, 430 Haltelinder. Das Verhältnis der mißhandelten
legitimen von 5,24 auf 100 Legitime fpricht nicht zu befonderen Ungunften der
Illegitimitat, da die Unehelichleitäquote Englands in den Jahren 1887—91 3. B.
4,50 Prozent betrug.
Die großen finanziellen Laften der Gefellfhaft werden ausſchließlich durch
Mitgliedsbeiträge, Spenden, Legate ꝛc. aufgebracht, die Ausgaben beliefen fih im
Jahre 1898 auf 52773 £ alio 1055460 Mark! Die Thätigfeit der National
Society erfiredt fih auf */, des Areald von Großbritannien.
In den Vereinigten Staaten giebt e8 noch eine Anzahl von Geſellſchaften mit
denfelben Grundzügen; die bedeutendfte davon ift (nach der New: Yorker) die zu Boſton.
Erwähnenswert ift ferner der in Montreal (Kanada) beſtehende Verein, der feinen
Schuß nicht nur Kindern, fondern auch mißhandelten Frauen angedeihen läßt ').
Während die gefchilderten Geſellſchaften ihr Augenmerk darauf richten, Graufuns
feiten audfindig zu machen und zu verhüten, dienen verfchiedene andere Vereine der
Fürforge für verlaſſene, vermahrlofte und verfommene Kinder.
In London find ed die bekannten, von Barnardo begründeten Heime, die etiva
34 000 Kinder dem Untergang entriffen haben. Die Heime nehmen Straßenjungen,
Vagabunden, jugendliche Verbrecher und heimatlofe Kinder auf, um fie zu nüglicher
Arbeit heranzubilden. Vielfach werden dafelbft Knaben für die Landwirtichaft in den
Kolonien erzogen. Die Barnardofche Gründung umfaßt heute 110 Anflalten, wovon
35 in London, 71 im übrigen England und 4 in Kanada.
In ähnlicher Weife wirkt in New-York die „Childrens Aid Society“, mit ber
Heime, Gewerbeihulen und landwirtſchaftliche Schulen in Verbindung ftehen.
Der Schutz von Kindern gegen Mibhandlung ift in Franfreih noch wenig
entwidelt. Die „Societe protectrice des enfants“ befaßt ſich mit Verminderung der
Säuglingäfterblichkeit und Verhütung der Engelmacherei, nicht jedoch mit Überwahung
') Eine Anzafl der hier angeführten Daten verbanfe ih dem Werk: „Der Schu der Frauen
und finder gegen Nippandfungen“ von Dr. Narl Walder (Leipzig, Roßbergice Kojbuchhandlung), auf
da8 ich ganz befonber8 aufmertfam machen möchte,
Leiden und Rechte bed Kindes. ur
nahezu die Sehraft ein und wurde ohne jede Entſchädigung entlaffen. Zahlreiche ihrer
Mitſchulerinnen ſah fie ihren Qualen erliegen, einmal fünf binnen vierzehn Tagen.
Marie Marehal brachte 12 Jahre in demfelben Inſtitut zu, fie verließ das
Haus völlig entkräftet, ohne Entlohnung. Ihr Erihöpfungszuftand war derart, daß
ihr Magen heute noch jede Aufnahme fefter Nahrung verweigert. In ihrer Rlafje
farben innerhalb eines Jahres elf Zöglinge.
Eine Leidensgefährtin von ihr, Melanie Laurent, Waife, arbeitete 22 Jahre
lang in der genannten Anftalt; fie lernte weder leſen noch fchreiben, wurde im Zuftand
Bodgrabigfer Entkräftung, ſchwer herzleidend aus dem Haufe gefandt. Sie war drei
Jahre ganz arbeitunfähig und ift dauernd nahezu invalide geblieben. An einem
Tage ftarben drei ihrer Mitzöglinge. 5
Im Klofter zu Angerd wurden die Kinder ftrafiveife nacht? in die Leichenhalle
eingeihloffen, ober bei Waffer und Brot in Zellen gefperrt, wenn es ihnen nicht gelang
zwei Männerhemden an einem Tage fertigäuftellen. Diefelbe Methode beftand im
Inflitut zu Mans. Dort wurde ihnen auch der Kopf und das Geficht mit naffen
Tüchern umwickelt, bis fie zu_erftiden drohien; einmal wurde ein junges Mädchen,
dad man fo züchtigte, auf der Stelle von einem Blutfturz befallen und ftarb drei Tage
darauf. Die Zöglinge mußten aus den Gruben die Fakalien in Fäffer ſchöpfen und
forttragen, eine Arbeit, die fie, bei ihren völlig entkräfteten Organismen, nur unter
Übelteiten und Obnmachtsanfällen verrichten fonnten. AU dies wird übertroffen vom
Schidjal eines adtjährigen Kindes, das, ſchwach und frank, fein Bett verunreinigte
und dafür gezwungen wurde, Brot mit feinem eigenen Unrat zu eflen.
Siebenjährig farb an den Folgen ſchwerer Verlegungen ein Kind im Stlofter zu
Annonay. Das Leben der dort internierten Ninder war fo fürchterlich, daB die
armen Kleinen fromme Gelübde ablegten, damit der Tod fie bald von ihren Leiden erlöfe.
Fanny Pangot (Waife) arbeitete von ihrem ſechsten bis zwölften Lebensjahr in
einem Parifer Klofter von 5 Uhr morgens bis 9 Uhr abends; fie lernte weder leſen
noch ſchreiben und wurde fchließlich mitten im Winter, nur mit Hemd und Perkalfleid
bededt, fortgefandt.
In einem Klofter des Departement du Nord diente als Schlafraum ein feuchter,
mit feheibenlofen Fenstern verfehener Saal. In der Nacht vom 7. zum 8. Dezember 1890
erfroren zehn Heinen Mädchen die Füße, einem berfelben mußten unverzüglich beide
Füße amputiert werden.
Ins Ungemeffene ließe fich diefe Lifte fortjegen!
Von den genannten Anftalten wird außerdem ein ſchwunghafter Vettel betrieben,
angeblich zu Gunften der armen Waifenfinder, die den Klöftern die Koften ihres elenden
Unterhaltes zehnfach durch Arbeit einbringen. Das Vermögen ber Häufer wächſt
zufehends, die frommen Schweitern bauen Kapellen und Kirchen, ftiften Meßgewänder,
bereichern den Peteröpfennig und kaufen Ländereien von dem Geld, das bad Lebens
mark der unglüdlichen Jugend darftellt. .
Leider befigt die Regierung feine Rechte zur Überwachung der aus Privat
mitteln geichaffenen „Wohlfahrtseinrichtungen”; feit Jahren führt die Assistance
Publique einen fruchtlofen Kampf um die Sanierung diefer Zuftände.
Im Jahre 1896 wurde eine Refolution eingebracht, die die nachitehenden
Forderungen enthält:
1. Die von Privaten oder Affoziationen gegründeten Wohlfahrtseinrichtungen,
die Kinder, Kranke, Sieche oder Greife aufnehmen, oder mit Arbeit befchäftigen,
müffen ihre Eröffnung unter Darlegung ihrer Ziele und Schilderung ihrer Lokalitäten
binnen acht Tagen zur Anzeige bringen.
2. Innerhalb längftens eines Monats erfolgt die Prüfung und die Lofalbefichtigung.
3. Die Überwachung bleibt in Permanenz. .
4. Die Leiter der Inftitutionen find verpflichtet, den Kegierungsdelegierten
Auskunft über die moraliſche und finanzielle Lage der Anftalt zu erteilen, ihnen
Einblid in die Hausordnung und Einfchreibeliften zu gewähren und ihnen die Haus:
bewohner vorzuführen.
Die nene Lehranftalt für
Annft- und Hansweberei in Kiel.
Bon Hildegard Jacobi
Naddrud verboten.
Der Berein zur Förderung der Kunft: und
Hausweberei in Schledwig: Holftein bat eine neue
Webeichule errichtet.
Diefelbe Hat ſich die Aufgabe geftellt, wie in
andern Zändern, namentlich in Norwegen, Schweden,
in England und Finland, auch bei uns alte Zweige
des Haudgewerbefleißes zu neuem Leben zu eriveden,
nachdem fie im Laufe bed legten Jahrhunderts
durch die Maſchinen faft gänzlich verdrängt worden
waren. Selbftverftändlih kann die Hand nicht
eine erfolgreiche Konkurrenz mit der Maſchine
magen, unb etwa biefelbe ganz zurüddrängen
oder den handiwerfömäßigen Betrieb wieder auf-
nehmen. Doch hat bie Handarbeit das unbeftrittene
Übergetwicht auf dem Gebiete ber Kunſtweberei,
indem fie Bünftleriiche Wirkungen berauszubringen
vermag, welche der Mafchine verfagt bleiben. Tie
noch jegt muftergiltigen Stüde aus alter geit
beweiſen genugfam, daß bie Numftiveberei in ihrer |
böchften Blüte Technifen außgebildet hat, bie auch
Heute von den Mafchinen noch nicht völlig wieder·
gegeben werben fünnen. Ebenſo fann nur Sand:
arbeit ſolche Gewebe herftellen, die bejtimmt gegebenen
Verhältniffen in Beziehung auf Form,
Zeichnung, Farbe u. ſ. w. Rechnung tragen follen.
Die Kunftweberei ann fi den anderen bildenden |
Künften, wie Malerei, Bildhauerei, Schnigerei wohl
zur Seite ftellen und den gebildeten Klaſſen
deshalb auch eine vollbefriedigende Beſchäftigung
bieten, im der fi} Aunftfinn, Geihmad, Phantafic
und Geftaltungäfraft voll bethötigen können.
Die herrlichen, preisgekrönten Mebereien von
Frl. Frieda Hanfen auf der Barijer Weltausftellung
Größe, |
!
„ erforderlichen Garne berjuftellen.
beioeifen uns am beften, welch vortreiffich tünftferifche |
Arbeiten bereit in biefem Face geleiftet werden.
Und unfere Zeit bietet eine mannigfache Verwendung
derartiger Lurußarbeiten wie Gobelin: (die eigentliche '
Bildweberei), Anüpf:, Nobben: und Floſſaarbeiten,
die auf den Hochwebſtühlen verfertigt werben.
u
Andrerfeit® will die neue Webefchule die Dauf,
weberei am Flachwebſtuhle als Lohnende Haus:
induſtrie wieder unferer Yanbbevölterung zurüd:
; getoinnen.
Es giebt beſonders auf dem Lande
vielſach brad liegende Kräfte, deshalb fol die
Handfpinnerei ald Füllarbeit in fonft müßig zu:
gebrachter Zeit dienen und weſentlich die Derftellung
von dem eigenen Bedarf bienendem Stoffe im
Auge behalten. Hier gilt es die Herftellung aller
jener Stoffe, die für die Vetleidung, für ben Bedarf
des Haushalies ald Vett:, Tifh: und Möbelzeug,
Drell, Köper und ſonſtige Webercien gebraucht
werden. Die auf dem Flachwebſtuhl bergeftellten
Stoffe find von einer faſt unverwüftbaren Dauer.
Und derartiger haltbarer Stoffe bedürfen Seeleute,
Fiſcher, Jäger, die bei jeder Witterung im freien
beichäftigten Arbeiter; ferner verlangen auch die
verfchiedenen neuerdings fo üblichen Sportbeſchäfti—
gungen, die immer größere Ausdehnung gewinnen,
diefer Schug gewährenden Stoffe, die Wind und
Wetter trogen Fönnen. Diefelben find in England
in alten Geſellſchaftstreiſen fehr beliebt, und die
fogenannten „home-spun:Zeuge“ werden mit grofer
Vorliebe von dem weiblichen Geſchlechte getragen.
Sole Zeuge aber laſſen ſich vorzugsweiſe durch
den Handbetrich herſtellen.
Es iſt natürlich von hoher Bedeutung, daß die
Landbevölterung die zum Weben erforderlichen
Rohſtoffe felbft produzieren ann, alſo felbft den
Flachs baut, Wolle gewinnt und das erforderliche
Baummwollenmaterial aus inländifhen Fabriken
befommen kann. Angeftellte Unterſuchungen haben
dargethan, daß die einheimiſchen Schafraſſen eine
Wolle liefern, die durch ihre beſondere Beſchaffenheit
gerade vorzugsweiſe geeignet ift, daraus die hier
Auch der bier
gewonnene Flachs genügt volfftändig. Tas Spinnen
der Wolle erfordert gewifie Vorbereitungsarbeiten;
gegen einen fehr geringen Yohnfag übernehmen
Fabriten das PVerfpinnen ber Wolle zu fertigem
Garn.
Tas Perfpinnen der fo vorbereiteten Wolle
macht dann feine weiteren Schwierigteiten und
Frauenleben
Aurfus teilnehmen, oder nad) Übereintommen mit der
Vorſieherin zu beftimmten Zeiten bie Schufe befuchen
IV. Die Koften des Webeunterrichtes.
Die Entrichtung an die Webeſchule befteht im !
Honorar für den Unterricht und in ber Miete für
Webeftühle. Das Unterrihtöhonerar beträgt für
den vollftändigen Jahredturfus 90 M., für zwei
Kurfe am Flachftuhl 60 M. und für einen Kurfus :
am Hochſtuhl 40 M.
Der Unterricht im Zeichnen für Hochſtuhlweberei
iſt befonderd zu bezahlen.
und ⸗Streben. 251
Die Biete ift vorläufig feftgelegt: für einen
Flachftuhl auf wöchentlich 1 M., für einen Hoch
ı ftuhl wöchentlich 0,60 M. Die Schule Liefert alle
Materialien und Webegerätfchaften gegen einen
den Selbfttoften entſprechenden Preiß.
Auswärtigen Schülerinnen wird bereitwilligft
N durch ben „Schleswig Holſteiniſchen Verein zur
Förderung der Aunft: und Dausweberei“ Kiel,
Preußenftr. 19, Frau (eheimrat Selig, Bor
figende, bilfige Unterkunft verſchafft, ebenfo find
| von dort Brofpette zu bediehen.
u
Tranenleben
Raberud mit Quellenangabe erlaubt.
* Zum Arbeiterinsenfhung find unter den
ſozialpolitiſchen Anträgen im Reichstag von der
fozialdemotratifhen Partei bie folgenden
eingebradit: In Bezug auf die Gewerbegerichte
wird u. a. gefordert, daß ben Arbeiterinnen das
attive und paffive Wahlrecht gewährt werben fell. '
Im Bezug auf dad Recht der Berfammlung und
Bereinigung und bad Hecht der Noalition wird
gefordert: $. 1. Die Reichdangebörigen ohne
Unterfchied des Geſchlechts haben das Necht, fich
zu verfammeln. 8. 2. Tie Reihsangehörigen ohne
Unterfejied des Geſchlechts Haben das Recht, Vereine
zu bilden. In Bezug auf die Gewerbeinſpektion:
Weibliche Beamte und Beigeordnete find entſprechend
der Zahl der in den Betrieben beichäftigten
weiblichen Silfsperfonen anzuftellen bezw. zu
mählen. — Es ift gewiß bedauerlich, daß viele
Forderungen, bie mit denen ber ‚Frauenbewegung
übereinftimmen, nur von der ſozialdemotratiſchen
Partei erhoben werben, und dic fogenannten
liberalen Parteien, die naturgemäß bie größte
Stüge für die Frauenbewegung jein müßten, nur
in fehr feltenen Fällen ihr gegenüber ihre Yiberalität
bethätigen.
* Auf der Weihnachtsmeſſe des Vereins der
Künftlerinnen, Berlin, hat Geheimrat Mießner
nachſtehende Gegenftände für den Kailer an
getauft: Etagere ven Paula Bonte, einen Blot
von Fr. d. Bibra, eine Vaſe von Hedwig v. d. Groeben,
Bildchen von Marie v. Keudell, Bücheritänder von
Sina Hraufe, Teller von Marie v. Tlier, zwei
Briefmappen von Clara Lobedan, eine Etagere von
S. L. Schlieder.
* Die Abteilung Berlin des Nereins
„srauenbildung — Frauenſtudium“ läßt
Oftern 1901 einen privaten Gymnaſialzirtel für
12 jährige Mädchen mit 7 jährigem Aurfus in den
und -Streben.
{ Räumen der Veogeler ſchen Schule, Burggrafen
ftraße 17 ins Leben treten. Die Leitung des
Ziriels wird Frau MWenfheider: Ziegler,
| Dr. phil, übernehmen.
* Die Agitation für die Reihratöwahlen,
die die öſtreichiſchen Frauen in Ausſicht ftellten,
| Hat mit einer großen öffentlichen Frauenverſammlung
am 23. November in Wien begonnen, in der einige
für den Reichsrat aufgeftellte Kanditaten der frei:
finnigen Parteien ihre Progranıme entwidelten.
Der Umftand, daß die Frauen ihr Intereffe an
der Politit ihres Landes zum Gegenftand einer
öffentliden Temonftratien maden und in
organifiertem Worgehen bethätigen, daß ferner bie
Kandidaten der Parteien durch ihr Erſcheinen zeigen,
daß fie Wert auf dieſes Intereſſe und diefe Arbeit
legen, ift entfchieden in der Geſchichte der öftreichifchen
Frauenbewegung ein erfreulicher Fortſchritt. Eine
andere Frage ift es, ob bie Ausführung der
Temonitration, die Rejolution, die gefaßt wurde,
ein taftiich richtiger Schritt war. Man lich die
betreffenden Partei-Nandibaten ibre Barteiprı
entwideln und faßte den bereits in der Eri
rede der Einberuferin, Fräulein Ficert,
an:
gebeuteten Beſchluß, in der fünften Kurie für die
Zozialdemotraten, in ber Städtecurie für bie
Soialpolititer einzutreten, ohne damit bie eigene
„bofitiihe Criginalität" aufzugeben. Maßgebend
für diefe Entſcheidung war die Thatſache, daß nur
von diefer Zeite für die Frauenſache Unterftütung
zu erwarten fei. Der veitartifel, in dem bie
„Dotumente der Frauen“ die Verſammlung
behandeln, weiſt darauf hin, daß entſchieden eine
untlarheit darin liege, die Kandidaten zur Er
örterung ihrer politiſchen Anſichten aufjufordern
und nachher dieſe politiſchen Anfichten für die
Refolution gar nicht in Betracht zu ziehen, ſondern
„Arbeiterhanshaltungdbüpget3 aus dem deut ·
{chen Buchdruckergewerbe.“ Bon Dr. W. Abels:
dorf. (Tübingen. ©. Laupp, Druderei) Unter:
ſuchungen über Haushaltungsbüdgets von Arbeiter:
familien gehören zu den wichtigften Hilfsmitteln bei der
Erſorſchung und Feftftellung der Xebensbebingungen
der Arbeitertlaffe. Die vorliegende Beine Schrift |
iſt beſonders deshalb intereſſant, weil fie nicht die
Büdgetd von Arbeiterfamilien an einem Orte ver:
öffentficht, fondern Xuffchluß über bie Einnahmen
und Ausgaben einer der beftgeftelltejten Arbeiter.
tategorieen in den verſchiedenen Teilen des Yandeö
giebt, nämlih von Arbeitern bed Buchdruder:
gewerbed in Münden, Stuttgart, Karlsruhe,
Seidelberg, Schwetzingen, Meg, Berlin, Hamburg,
Leipzig, Bromberg. Die zahlreichen forgfältig
gearbeiteten Tabellen zeigen, daß jelbft bei dem
für Arbeiterfamilien verhältnismäßig hohen Ein:
tommen (dad Durchſchnittsverdienſt der befragten
Arbeiter ftellt fih auf 16,77 Mart jährlih) nur
bei fparfamfter Wirtſchaftsführung ein Durchtommen
möglid ift. &o haben die meiften aus 4 Berfonen
beftehenden Familien ein monatlihes Nonte von
ungefähr 60 Mark für Lebensmittel, d. b. von |
50 ®f. pro Perjon und Tag.
Die Ausgaben für Wohnung betragen faft
überall Y/,—'/; des Gefamteinfommeng der Familie;
bemerlensowert ift dabei, daß ein Berliner Druder .
genau den doppelten Betrag für feine Wohnung |
audgiebt tie ein Setzer in Meß, trogbem die Zahl
der bewohnbaren Räume die gleiche ült.
| Wortes der Empfehlung mebr.
Die Heine Brofgüre Tann den Frauenvereinen! die |
ſich mit der Arbeiterfrage beicäftigen wellen, zum !
Studium warm empfohlen werden; fie enthält ein
reichhaltiges Thatſachenmaterial in fnapper Form
und überfichtlicher Darftellung. Sie ift auch geeignet,
die Anregung zur Führung von Haushaltungsbühgets :
zu geben, und es bürfte deshalb für bie Mitglieder
von Frauenvereinen, die Fühlung mit Arbeiter:
familien haben, angebracht fein, die Heine Schrift
zu verteilen und an der Hand derfelben auf bie
Führung eines Ginnahmen: und Ausgabenfontos
hinzuwirken.
Die erziehlihe Witkung einer gewiſſenhaften
Buchführung würde fib in befferer Verteilung ber
Ausgaben auf das ganze Jahr ſchon nah kurzer
Zeit bemerkbar madjen; dadurch würde in vielen
Fällen der Hleine Krebit, der den Preis der Waren
erhöht, entbehrlich. Wie wenig in Arbeitertreifen
auf ſolche kleinen Hilfsmittel einer geordneten
Wirtfhaftsführung Wert gelegt wird, betweift der
Umftand, dab Leine der Arbeiterfamilien, deren
Büdgets in der Arbeit mitgeteilt werben, vor ber
i bes
253
Aufforderung des Berfaflers über Einnahmen und
Ausgaben Bub führte. Je weniger Verftänbnis
aber bie Arbeiterfrauen, die nur allzu oft ſchon
mit Arbeit überlaftet find, für derartige Aufgaben
haben, defto notwendiger ift es, fie mit dem Wert
derſelben befannt zu machen.
„Geſchichte der Bädagogif umd des gelehrten
Unterrichts‘ im Abrijje dargeftellt von Dr. Erwin
Raufd. Leipzig, 1900. A. Deicertihe Verlags:
handlung Nacht. (reis broſch 2,4 Bart, elen.
geb. 2,80 Dart.) Tas Yuch, beitimmt Studierenden
höheren Lehramts das Wictigfte aus der
Gefchichte der Pädagogik zu bieten, zeichnet ſich
vor manden andern ähnlichen durch Burze, Marc
Faflung, durch präzife und überfichtlihe Darſtellung
der Richtungen und Spfteme vorteilhaft aus. Es
| beruht mebenbei auf einem gründlichen Stubium
der neueften vitteratur auf diefem Gebiet und. tft
jebent zu empfehlen, der zu eingehenderen Stubiunt
feine Zeit und Neigung bat und doch über die
Hauptfragen orientiert fein möchte.
„Heinrich Seidels erzähfende Schriften.“
«Eriheinen vollftändig in 53 Lieferungen zu 40 Bf.,
alle 14 Tage einctieferung. Stuttgart. 3. ©. Cottaſche
9.) Die eben
en ben
. Band der „Beimatgeihic :
Shluß. Wer fie tennt, für den bedarf do feines
Wer fie in ber
neuen Ausgabe zum eritenmal_ lieft, den wird
ber eigentümlidhe Zauber Seibelicher Pocfie, der
Zauber liebenswürdiger, friſcher und reiner, ge:
nügiamer Aleinmalerei auch in ihnen wieder ge:
fangen nehmen, und jo werden dieſe neuen
xieferungen dem Unternehmen bed Verlags die
alten Zreunde erhalten und neuc gewinnen.
„Ingenieur Horftmann.“ Roman von Wil
heim Hegeler. (Berlin 1900. 3. Fontane u. Co.)
Hegelers neuer Roman ift cin fehr ſpannendes
Bud, und die Charaktere find mit ſcharfen Pinien
getenngeichnet — damit find aber auch die Vorzuge
des Romans erſchöpft. Heillos oft geht bie an
fih {harfe Charatteriftit in Karitatur über, pinbe:
logifce Motivierungen fehlen gerade da, wo fie
am wenigften fehlen dürften, und fänftiglich gleitet
die Sandlung aus dem Gebiet des Wahrfchein-
lichen in das des Senſationellen üben Rein
litierariſch beurteilt macht Hegeler in feinem
neuen Roman einen etwas „Iteden gebliebenen“
Eindrud.
Volitit und Frauenbewegung. 259
Punkt zu dem entfcheidenden gemacht: Die bürgerliche Frauenbewegung beichließt, in
der fünften Kurie für die Sozialdemokraten, in der Städtelurie für die Sozialpolitifer
zu arbeiten, in erfter Linie, weil fie fi dadurch den größten Erfolg für fich ſelbſt ver-
ſpricht. Diefe Refolution if, ſoviel mir befannt if, von allen folgenden Wahl-
verfammlungen bekräftigt.
Der Außenftehende Tann ſich des Zweifels nicht enthalten, ob die Verquidung
diefer beiden Ziele: Frauenrechte und politifcher Einfluß — eine glückliche und durchführ⸗
bare if. Wie vereinigt die bürgerliche Frau, die nicht Sozialdemofratin ift und
deshalb von der fozialdemokratifchen Politit das Wohl ihres Landes nicht erwartet,
ihre Arbeit für die Kandidaten diefer Partei mit ihrem politiſchen Gewiffen? Und
andrerfeitd — der Klerikalismus ift die ungeheure nationale Gefahr in Oſterreich; daß
fie als ſolche empfunden wird, zeigt die Schärfe, mit der in den „Dokumenten ber
Frauen“ felbft der Kampf gegen die Chriſtlich-Sozialen geführt wird — fie ift eine nicht
eben gewählte, aber jedenfalls gebotene Nutzanwendung ber Wahrheit, daß auf einen
groben Klotz ein grober Keil gehört — ob es angeſichts einer ſolchen nationalen Gefahr
richtig ift, feine Arbeit an Bedingungen zu Inüpfen und durch Bedingungen zu befchränten?
Frauen mit ftarfen politifchen Überzeugungen werden da am leiftungsfähigften fein,
wo fie ganz für diefe Überzeugungen arbeiten dürfen, und es ift unter allen Umftänden
ein bedenklicher Weg zu Gunften der Frauenrechte auf die Gefeggebung einzuwirken,
wenn man feine Arbeit an ben Meiftbietenden verkauft und babei feine „politifche
Driginalität” wahren will.
Der Konflit, in dem die Öfterreichifche bürgerliche Frauenbewegung fi in ihrer
jungen politiihen Arbeit begeben mußte, ift ein notwendiges Stadium der Frauen:
bewegung aller Länder, beſonders derer, die feine feminiftifche Partei in ihrem Parlament
haben. In England ſchwebt die Frage: Women’s Suffrage a test question? heute
noch. Aber man hat fie dort ganz anders, gabe entgegengefegt, behandelt.
Es ift ein harakteriftifcher Zug der englifchen Frauenbewegung, daß fie von dem
Augenblid an, da Anna Jamefon mit ihrem berühmten Brief an Lord Ruſſell den
Heinen beftehenden Anfängen eine ganz beftimmte Richtung wied, die Gemeinſamkeit
der Intereffen und der Arbeit von Mann und Frau vor allem betont, ja die
Anerkennung diefer Gemeinfamteit als ihr Ziel aufftelt. Der Ausdrud „Frauenrechte”
iſt von Anfang an verpönt und wird von ben Führerinnen felbft immer wieder
abgelehnt. In der duch John Stuart Mil geichaffenen Frauenftimmrechtsbewegung
fpielen politifche Überzeugungen noch gar keine Role. Bon dem Moment aber, da
die Frauen in den achtziger Jahren an der großen nationalen Politik teilzunehmen
beginnen, gründen ſich Parteiorganifationen: Die große Women's Primnrose-League
und die Women’s Liberal Association, von ber ſich fpäter, durch die Irland Politik
Gladftone’3 veranlaßt, die Unionist Association abzweigte. Diefe Parteiorganifationen
beftehen volllommen geſondert neben den Stimmrechtävereinen, fie haben mit der Frauen:
bewegung als folder nichts zu thun. Für die Primrose-League gilt das bis heute,
fie ift ein Zweig des fonfervativen Verbandes der Männer und bat feinerlei Sonder:
ziel. In der Women’s Liberal Association liegt die Frage etwas anders. Gie
wurde gegründet zur Vertretung und Verbreitung liberaler Grundfäge. Damit ift die
Bugehörigfeit zu dem Bunde auf eine ziemlich breite Baſis geftelt, denn der Begriff
„liberal“ läßt neben feinem Hauptinhalt: Home Rule, allgemeines Stimmrecht, Reform
des House of Lords noch Raum genug für meitere Forderungen. Eine folde
17°
_
260 Politik und Frauenbewegung.
Forderung konnte und follte — nach Anficht vieler Mitglieder de Bundes — daB
Frauenftimmrecht fein. Es fchien in der Konfequenz einer der Hauptforderungen des
Liberalismus: allgemeines Stimmrecht, zu liegen und konnte um jo eher von ber
liberalen Frauenliga als ein Punkt ihres Liberalen Programms aufgenommen werden,
als man fich nicht verpflichtet hatte, nur das zu vertreten, wofür fich bie liberalen
Männer bereit? als Bartei erklärt batten. So ftellte man ſchon bei der Gründung
der Liga neben den erften, Förderung liberaler Prinzipien, einen zweiten Hauptpunkt
in das Statut: gerechte Gefeßgebung für Frauen und Kinder und Wahrung ihrer
Intereſſen. Bon Anfang an aber und durch alle Jahresverfammlungen der nächſten
Zeit hindurch wird um diefen Punkt geftritten. Es fcheidet fich die fogenannte „fort
jchrittliche” von der „Antiftimmrechtöpartei”. Dan darf fi dieſe Gegenfäte aber
nicht zu fcharf denken. Sie find weniger fachlicher als taktifcher Art. Perjönlich
vertritt jedes einzelne Mitglied der Untiftimmrechtöpartei durchaus die Forderung des
Frauenftimmrechts, nur als Partei, aus taktifchen Gründen, um die Gefchloffenheit der
politiichen Aktion des Bundes nirgends zu gefährden, lehnt man es ab, das Frauen⸗
ftimmrecht zu einem Programmpunkt der Women’s Liberal Association zu machen.
Andrerfeitd will die „Fortichrittliche Partei” das Frauenſtimmrecht nur als einen
Punkt neben den ſchon genannten anderen aufgenommen wiſſen, ohne aber eine „test
question“ daraus zu machen, d. 5. die Zuftimmung zu diefem Punkte zur Bedingung
für die Zugehörigkeit zum Bunde zu machen oder fie im einzelnen Falle ala entjcheidend
dafür anzujehen, ob man für einen liberalen Kandidaten arbeiten wolle.
Mehr als ein Jahrzehnt ift über diefer „Suffrage Controversy'‘ in ber
Women’s Liberal Association dabingegangen, ein Jahrzehnt Fraftwoller, uneigennügiger
Arbeit für Home-Rule, Welsh disestablishment, und General Suffrage. Die
Women’s Liberal Association ift eine Macht geworden in der Zeit. Sie zählt
448 Zweigvereine und 57488 Mitglieder. Sie fonnte nun das Frauenftimmrect
zu einem Punkte ihres Programms erheben, wohl verftanden, zu einem Punkte neben
den andern, der als einzelner ebenfo wenig Gegenftand einer test question werben
fonnte, als eine andere einzelne liberale Reform. Seitdem hat aber die nationale
liberale Federation der Männer zweimal eine Refolution zu Gunften des Frauenjtimm-
recht? gefaßt. Nun erft wird die Frage, ob jeßt nicht der Zeitpunkt gefommen jei, Women’s
Suffrage zur test question zu machen, zur Diskuffion geftellt. Auf den legten Jahres:
verfammlungen 1899 und 1900 wurde eine Refolution eingebracht, „daß nach Anficht
der Generalverfammlung bei Wahlen fein Parlaments-Kandidat irgendwelche Unter:
ftügung von feiten der Frauen erfahren follte, wenn er nicht als Freund bed rauen:
ftimmrechtes befannt fei.” Die Refolution wurde aber abgelehnt, und eine andere an-
genommen, die verlangt: „daß feine einzelne Frage im Programm der Women's
Liberal Federation zur „test question“ dafür gemacht werden folle, ob ein
liberaler Kandidat die offizielle Unterftügung der Federation erhalten folle oder nicht.”
Die Begründung diefes Antrags ift fo charafteriftiih für die Auffaffung des Ver:
bältniffe® von Politif und Frauenrechten bei den liberalen Frauen, daß ein paar
Säße daraus bier im Wortlaut ftehen mögen:
„Diele von uns haben ein ſtarkes Sntereffe für irgend eine bejondere Reform,
aber unfere Hingebung für den Liberalismus follte fo ftarf fein, daß wir und weigern,
einen Kurd einzufchlagen, der den Erfolg unferer liberalen Kandidaten ſchwächen
würde. — — Al treue Anhänger unferer liberalen Prinzipien müflen wir uns gegen alles
Politik und Frauenbewegung. 2861
verwahren, was dazu führen könnte unfere Sache zu ſchwächen, und ich frage die hier
verfammelten Frauen, ob es je eine Zeit in unferer politifchen Gefchichte gegeben hat,
wo es nötiger war, daß mir bad ganze Gewicht unſeres Einfluffes in die Wagichale
werfen zu Gunften der Männer, die wir wahre und eifrige Liberale nennen können,
ſelbſt wenn fie nicht in jedem Punkte mit uns übereinflimmen. — — Laffen Sie
unferen Liberalismus fo ftark fein, daß wir unfern eigenen befonderen Wunfch beifeite
fegen im Intereſſe der allgemeinen Einigkeit der liberalen Partei, denn aus unferer
Uneinigeit würde unfere Unfähigkeit folgen, zufammenzuarbeiten, fie würde und als
einen Bund liberaler Frauen ſchwächen, und ſchwächen würde fie unfere Sache und
die Förderung liberaler Prinzipien.”
Auch in den Reihen der eigentlichen Frauenflimmrechtövereine wird diefe Taktik
durchaus gebilligt. Mir ift wiederholt die Anficht entgegengetreten, daß erft, wenn
einmal zu irgend einer Zeit feine Reformfrage von nationaler Bedeutung durch ben
Ausfall der Wahlen nach der einen oder anderen Seite zu beeinfluffen fein würde,
daß dann erft bie Frauen die Erfüllung ihrer eigenen Forderung zur Bedingung ihrer
Bahlarbeit machen dürften, dab dann erſt Woman Suffrage eine test question
werden dürfe. Dann aber wird das ganze Gewicht ihrer durch Jahrzehnte gereiften
politifchen Thätigkeit, ihres in Jahrzehnte Langer jelbftlofer Mitarbeit bewieſenen
politifchen Ernſtes dieſem Mittel den Erfolg fichern.
Man fcheint in Oſterreich mit dem beginnen zu wollen, womit man in England
aufgören will. Ich glaube, daß die Erfolge der englifchen Frauenbewegung auf
politifchem Gebiet ein ſtarker Beweis dafür find, daß ihr Weg der richtige war. Aber
vieleicht gehört die Erziehung einer Jahrhunderte alten parlamentarifchen Verfaſſung
dazu, um die Frauen eines Volles für diefen Weg fähig zu machen.
Es wird nicht lange mehr dauern, dann wird die deutſche Frauenbewegung in
das Entwidlungsftadium treten, dem fie jegt in Öfterreich zufehen darf. Wie wird fie
darin beftehen? Wir haben ja fo viel Muße, die Sache theoretiich kennen zu lernen,
wird man bie Früchte unferer Muße nachher in unferer Arbeit erkennen? Ich bin
nicht fier, ob bie beutfche Frauenbewegung bie ruhige Zurücdhaltung der engliſchen
Stimmrechtsbewegung in ihrer politifchen Arbeit durchweg innehalten wird. Es giebt
gerade da, wo mit „politiſchen“ Intereſſen etwas Dftentation getrieben wird, jetzt
ſchon allerlei Symptome, die den Zweifel daran rechtfertigen.
Das ftärkfte ift die geringe Veranfchlagung der „gemeinnügigen Arbeit” gegen=
über der Agitation. Ihr liegt diefelbe Einfeitigfeit zu Grunde, wie ber als unreif
verpönten test Politik in England, dasfelbe rüdficht3lofe Beſtehen auf feinem Schein,
was auch darüber ungelhan und ungefchehen bleiben möge; fie ruht wie bie test:
Politik der politischen Frauenvereine auf der begrenzteren Bafis der „Fraueninterefjen”,
während auch die Fortichritte der Frauenbewegung nur auf ber breiten Grundlage
der „Volksintereſſen“ zu erreichen fein werden.
nn
262
Ans der Berliner Koſtümſchneiderei.
Von
Karl Boyridt.
ILL IL ELLI NIS
Nachdruck mit Duellenangabe geitattet.
Zu und Blüten; zwar nicht draußen in ber Natur, aber im bellerleuchteten
* Ballfaal der Haute:volee und Finanz. Die Empireform und Pelzverbrämung
find e8, die, neben reichlihem Gold: und Perlmutterflitter, das Feld der Beutigen
Winters, beffer gejagt Ballmode beberrfchen.
In der Fülle elektrifchen Bogen: und Glühlichts ſchweben fie, die Glüdlichen,
dahin, eingehüllt in eine Woge von Tül und Chiffon, Duft und Glan. Was
fünftlerifches Können nur vermag, ift bier gegeben, um das Gute mit dem Schönen,
das Praktiſche mit dem Zierenden zu verbinden, um jo, in der Harmonie der Farben,
in ben Schwingungen des Körper? und jeinen Linien, ein Bild von unendlichen
Liebreiz zu jchaffen.
Wer arbeitet aber auch nicht alles an diefen feenbaften Werfen! In allem
Anfang die Mutter Erde und ihre Befteller,; ber Schaf: und Seidenraupen- Züchter,
der Deutfche, der Chinefe und fo fort. Und dann weiter der Spinner und Weber
zur Herftellung des Stoffes; der Künftler im Entwerfen der Modelle; Schneider und
Schneiderin in der Verarbeitung des Stoffes zu dem, was die Leute macht; felbft
der Maler fehlt nicht, und auch der Metall-Arbeiter bietet in Schnallen und Gürtel:
ſchlöſſern jein Beſtes. Ein herrlicher Anblid, diefe großen Schlöffer und Schnallen
aus Stahl und anderen orhdierten Metallen im Lichte funkeln und bligen zu fehen!
Und doch bildet dies alles nur erft die eine Hälfte der Koftümfchneiderei, die, wie der
fachliche Ausdrud lautet „franzöfifche Branche”. Neben dem Franzofen der Engländer;
neben Spigen, Tül, Chiffon und Bändchen ber gediegene engliiche Stoff; neben
duftigen Balltoiletten die einfache aber gediegene Arbeit der Konfeltion der Straßen:
bekleidung, furz neben der franzöfifchen die englifche Branche.
Hierzu ein paar Worte! Als um das Jahr 1880 die englifhe Mode bei uns
Eingang fand, das beißt, jene Kleidung, die eng den Körper umſpannt und in ihrer
Art und Verarbeitung der Herrenkleidung nahe fommt, die ohne jeden Fylitter, nur
durch Sig und gediegene Arbeit, die Vornehmheit der Trägerin befundet, eröffneten
fh bier in Berlin die erften Atelier, um den Wünfchen nach diejer Kleidung gerecht
zu werden. Hatte biöher das weibliche Element den Belleidungsmarft für dad eigene
Geſchlecht behauptet, jo hörte dies nunmehr auf. Die englifche Branche machte
ftärfere Hände und exaktere Ausbildung notwendig und beſchränkte die weibliche
Arbeitskraft auf Haus-, Ball-, Hochzeitstoiletten u. |. w., während bie feine Konfeltion
— GStraßenbelleidung — an die männlichen Arbeiter überging.
E3 dürfte intereflant fein, einmal einen Blid in das Leben und Treiben diefer
„Arbeiter-Künſtler“, wie fie fich nennen, zu werfen, um im Anfchluß daran den Ent:
widlung®gang der engliichen Branche zu ſchildern. Wie ſtets bei neu auftauchenden
Moden oder Erwerbszweigen, fehlten, ala Mitte der achtziger Jahre die englifche Mode
immer mebr der Herrichaft zuftrebte, die hierfür qualifizierten Arbeiter, und jo fam es
denn, daß die Geichäfte, um ihre Kundſchaft zufrieden zu ftellen, fich Arbeiter aus aller
Herren Länder verjchreiben ließen und ihre Werkitätten zu einem Sammelpunlt der
verfchiedeniten Sprachen machten. England, bejonderd aber da® Land der „ſchwarz⸗
Aus der Berliner Koftümfchneiberei. 268
gelben Grenzpfahle“, ſchickte feine Söhne, die fih wiederum alle für „echte Wiener“
ausgaben, nach Deutichland. . Wien, wo die englifche Mode etwas früher Fuß gefaßt
hatte, war gewiflermaßen der Lehrmeifter in der Biefigen, ja ich darf wohl jagen
deuiſchen Koſtumſchneiderei“, und noch jet ift die Wiener Herkunft bei Gefellen und
Meiftern ein gutes Aushangeſchild. Neben diefen „echten Wienern“ und all ben
anderen Nationen, find «8 dann noch Hauptfäclih die Böhmen, die ein großes
Kontingent zur Arbeiterfchaft der Koſtümbranche ftellen und bie, ihren Weg über
Bredlau, Dresden, Frankfurt a. M. nehmend, nad Berlin kommen, um bier, nad
Srlernung der deutſchen Sprache, von den „goldenen“ Früchten ihrer künſtleriſchen
Bethätigung zu leben. Aber auch die Zahl der deutſchen Arbeiter ift, beſonders
innerhalb der legten fieben bis acht Jahre, bedeutend gewachien und fteht, was bie
Qualität ihrer Leiſtung betrifft, Hinter den Angehörigen feiner anderen Nation zurüd.
Wie alle Erwerbäzweige, die ihren Mann ernähren, breitete ſich auch die Koflüm-
branche immer mehr aus; zu dem Handwerker - Künftler kam der Kaufmann,
aus befcheidenen Atelier3 wurden große, mit allem Komfort der Zeit außgeftattete
„Modeſalons“, und während, zum Teil durch eine eigenartige Verſchmelzung der
englifhen und franzöfifchen Schneiderei, die Anfprüche an dad Können der Gehilfen
und Meifter beftändig ftiegen, machte fi in den Lohn: und Arbeitöverhältnifien ein
beftändiger Rudgang bemerkbar, der allerdings durch ein Überangebot von Arbeits-
träften weſentlich erleichtert wurde. Man hatte Kapital in dad Unternehmen geftedt
und wollte nun nicht nur verzinfen, fondern auch und möglichſt ſchnell amortifieren,
von dem Gewinn und der möglichft glänzend in Rechnung geftelten Arbeitskraft der
Unternehmer ganz zu ſchweigen.
&o kam es, daß die Löhne, die fi anfänglich auf 40—45 Mark pro Woche
beliefen (die Höhe derſelben ift, angeſichts ber Außerft langen Zeit der Arbeitzlofigkeit
und der an den Koftümfchneider berantretenden Anſprüche — die Koftümfchneider
werden vom Berliner Magiftrat als Kunſthandwerker eingeſchätzt — keineswegs
bedeutend) ftatt mit der Zeit, die Miete und Lebensmittel im Preife bedeutend erhöhte,
zu fteigen, beftändig ſanken. Die Arbeitszeit wurde ausgedehnt, die für den Arbeiter
fat unmögliche Stüdarbeit eingeführt, und das alles, obwohl die Anfertigungspreife
— das Facongeld — mit der Zeit abfolut mitgingen und fih am Steigen wader
beteiligten.
Da kam mit dem Jahr 1896 das gewaltige Drama in ber Lagerfonfeltion, das
den Koftümfchneidern den Weg der Selbfthilfe wies. In der Erkenntnis, daß es fo
wie biöher nicht weiter gehen könne, verlangten fie von der Unternehmerfchaft den
neunftündigen Arbeitötag, den fie durch einmũtiges Zufammenhalten denn auch erhielten.
In den nun folgenden Jahren war es befonder die feiner Vereinbarung oder richtiger,
der freien Vereinbarung zwiſchen „PBrinzipalen und Gehilfen” unterliegende Lohn:
zahlung, die fortwährend Stoff zu Konflikten lieferte. Diefen durch Aushängen eines
Tarif, wie er in anderen Berufen ſchon vorhanden, zu befeitigen, wurde im vorigen Jahre
befchloffen. Da dieſes Verlangen von der Arbeiterjchaft geftellt wurde, ftieß es, obwohl
die im Tarif feftgelegten Löhne — 40 Mark im Höcftfall — keineswegs über bie
bereit3 bezahlten binausgingen, auf den heftigfien Widerftand der Unternehmer. Als
diefe den Tarif und feine Ausbängung fchließlich doch anerkannten, kam es zur Ein-
führung der Hausinduſtrie- und Heimarbeit mit al den Gefahren für bie
Kundſchaft und mit all dem Elend und der Not für die Arbeiter, die dieſe mit fi) bringt.
Zur Charakterifierung diefer Art Produktion ein paar Worte aus den Reichstags:
verhandlungen des Jahres 1896 zur Zeit des großen Konfeltiondarbeiterausftandes.
Damals füßcte der Interpellant der nationalliberalen Partei Freiherr Heyl zu Hernsheim
aus: „Die Arbeiterinnen lehnen fih auf, und wie ich glaube mit einem gemwiflen
Recht, gegen die Ausbeutung diefer „sweater“, welche in ganz Europa als ein Krebs⸗
heben „merkannt find am Leben und an ber Thätigkeit diefer hausinduſtriellen
tbeiter”.
Und wie der Interpellant, fo die Redner aller übrigen Parteien. Selbft die
Antwort der Regierung verhält fih durchaus zuſtimmend. Vom Staatsſekretar des
264 Aus der Berliner Koftümfchneiderei.
Innern Freiheren von Bötticher wird die Beleitigung der heregten Zufände, die er
als eine der „Ichlimmften Wunden” unferes toirtichafttichen Lebens bezeichnet, allen
Baterlandäfreunden zur dringenden Pflicht gemacht.
Aber auch der Kundfchaft ermächft durch Verlegung ber Arbeit aus den Werf-
ftätten der Gejchäfte in die Hausinduftrie und Heimarbeit eine immenfe Gefahr, und
zwar liegt diefelbe in der Übertragung von Krankheiten durch in ber Hausinduftrie
bergeitellte Kleidungsftüde. Auch Hierüber bietet die Debatte reichliches Material').
Sp führte unter anderem der Abgeordnete Filcher aus: „Denn, meine Herren,
diefe Sweaterſtuben find ja nicht bloß Wohn:, Schlaf: und Arbeitsftuben zugleich, fie
aA zugleich auch noch Krankenaſyle, man kann fagen, fie find die Brutftätten typhöſer
pidemieen.“
Auch andere Autoritäten äußern ſich ebenſo. So ſagt der Kaſſenarzt und Kreis⸗
phyſikus Dr. Knopf in Weimar: „Auf Ihre Anfrage, betreffend die Übertragung von
Krankheiten durch Kleider, möchte ich erwidern, daß folche viel häufiger geſchieht, als
gewöhnlich angenommen wird. Insbeſondere möchte ich nicht bezweifeln, daß eine
MWeiterverbreitung von anftedenden Krankheiten, 3. B. Diphtherie, Scharlach, Schwind⸗
ſucht, Mafern u. ſ. mw. leicht aus den Stuben folcher Schneider, deren Räume zugleich
als Arbeitz:, Wohn:, Krankenzimmer und Kochraum dienen müflen, ftattfindet.”
Und ein anderer Arzt jchreibt in Ddiefer Beziehung, wie die Brofchüre des
Fl. Oda Olberg citiert: „ch erachte die Übertragung von Krankheiten durch Stoffe,
die mit erkrankten Perſonen in längeren Kontaft gefommen find, für möglich bei
folgenden Krankheiten: Diphtherie, Rofe, Scharlah, Mafern und allen afuten
Exanthemen, bei Phthiſis, und zwar hier, weil jede hygieniſche Vorfchrift außer acht
gelafien zu werden pflegt, und auch bei Syphilis im Stadium der Eiterung, falls
diefer Eiter die Stoffe berührt.“
Alles dies würde auch in der Koftümbranche die Frucht fein, wenn die Hauß-
induftrie noch weiter zur Einführung gelangen würde. Daß dies in ber Abficht der
Unternehmer liegt, wurde mir von einem Arbeiter, der mit, dem Vorſitzenden des
Arbeitgebervereind über diefe Frage verhandelte, verbürgt. Schon jegt bat die Haus:
induftrie bedeutend zugenommen; Gejchäfte, die bis vor furzem 25 und mehr Arbeiter
beichäftigten, haben deren jett noch 6—7, während alle andere Arbeit in der Haus:
induftrie angefertigt wird. Und wer bat ein Intereſſe an ber Einführung der Haus:
induftrie und Heimarbeit? Eine kleine Gruppe von Unternehmern, während bie
Gefundheit der Kundjchaft und die Wohlfahrt einer großen Arbeiterichaft dringend bie
Befeitigung der Hausinduftrie fordert.
Und darum muß im Intereſſe einer Kundjchaft, die für ihre Garderobe Preife
bezablt, welche die Anfertigung bderjelben in eigenen und gejunden Räumen geftatten,
im Intereſſe eines intelligenten Arbeiterftandes, im Intereſſe und zur Wohlfahrt aller
Beteiligten die Parole aller Kundſchaft: Herftellung der Garderobe in den eigenen
Werkftätten der Gejchäfte fein.
Denn: „Sch möchte mir zu bemerken geitatten, daß der Kampf gegen das
sweating-Cpftem in ganz Europa aufgenommen ift, daß man in allen Kulturftaaten
es al3 eine ernite Aufgabe aufgefaßt Hat, das sweating-Syſtem vollftändig aus:
zurotten.” (Freiherr von Heyl zu Hernsheim im Reichätage.)
Doch weder der Streik der Konfeltiongarbeiterinnen im Sabre 96 noch all bie
Ihönen Reden des Interpellanten und Negierungdvertreter® haben auch nur das
Geringfte genügt. Eine Verordnung des Bundesrats vom Sommer 97, die für die
weiblichen Arbeiter die tägliche Arbeitszeit auf 11 Stunden feitießte, bat die Arbeit
nur noch mehr in dad Heim der Arbeiter und Arbeiterinnen verlegt, wo man aus
der 11 bequem eine 14, ja 18jtündige Arbeitszeit machen kann.
) Es Sei bier auch an die bekannte heftige Erkrankung eines engliſchen Lord-Mayors durch ein in
der Sausinduftrie bergeitellte® Uniformſtück erinnert. Wie erwieſen, tft mit demfelben ein an Scharlady
erkranktes Kind zugededt worden.
Lebensbild. 265
Und wie in der Konfektion, fo in der Koftüm-Brande! Helfen kann Hier allein
eine fih immer mehr außbreitende Erkenntnis von der Schäblichkeit der Haus: und
Heimarbeit, die, weit davon entfernt, die Familie zu erhalten, die Familie untergräbt;
die v das Nolmenbigfte zur Führung eines Heims, eben dad Heim, nimmt, die aus
der ſchon fo Meinen Wohnung des Arbeiters eine vom Arbeiter für den Unternehmer
zu bezahlende Werkftatt macht und der Familie die Ruhe und den Frieden taubt.
Bor mir liegt das Januarheft der „Frau“ vom vorigen Jahr, wo Dr. W. Bode:
Weimar in einem trefflichen Artifel „Sozialpolitifche Kauferinnen-Vereine“ betitelt, den
Weg zeigt, der im Intereſſe von Konfumenten und Produzenten gegangen werden
muß, um den Mißftänden, wie fie ſich jegt mieder in der Roftüm-Branche jo unliebfam
bemerkbar machen, entgegen zu treten.
Es dürfte die — Zeit fein, daß auch bei uns das kaufende Publikum in
einer Konfumenten:Liga vereint darauf achtet, daß an den von ihnen getragenen und
Konfumierten Waren nicht dad Blut armer Arbeiter und Arbeiterinnen haftet.
Dazu wird das näcfte Frühjahr Gelegenheit bieten. Die Arbeiter und
Arbeiterinnen der Koftüm-Branche erbitten zum erftenmal die thatkräftige Hilfe aller
Konfumentinnen ihrer Brande im Kampf gegen die Hausindufltie und Heimarbeit.
Es wird Sade aller Konfumentinnen fein, darauf zu achten, daß die von ihnen
beftellte Garderobe in den eigenen Werkftätten der Gefchäfte angefertigt wird. Zur
Erreichung dieſes Ziels beabfichtigen die Arbeiter, die Geſchafte, die zum Teil oder
durchweg Hausinbuftrie führen, der Kundſchaft zu gei meter Zeit befannt zu geben.
Hoffen wir, daß durch das vereinte Bemühen der Konfumenten und Produzenten die
Hausinduftrie in der Koſtumbranche vollftändig befeitigt werde.
Er
&ebensbilt.
& haben auch Not zu koſten befommen
Als tägliches Brot.
Mit fchwellenden Segeln fam fie gefchwommen
Beim früheften Rot.
Sie hatte den Zwei'n den Mut nicht genommen,
Sie paden fich feft
Die Hände, wenn fie vom hunger beflommen
Die Sicherheit läßt.
Sie find fo durchs Leben leidlich gefommen.
Es nahte der Tod
Und hat nur das Eine mit fich genommen —
Da fam erft die Not.
Maja Watihey.
ae 2 = Se
Ein Hochzeitätag.
„Weißt du, worüber ich eben nachdachte ?"
fragte fie nad einer Paufe. „Wie es dem
Menſchen ergehen mürbe, der fih fo los
machte vom Troß und bahinftürmte vol Mut
und Feuer!”
Er lädelte halb gutmütig, halb traurig.
„Rein liebes Kind, das kommt im ganzen
zu felten vor, als daß es lohnte, darüber
nachzudenken. Wahrſcheinlich würde ſolch ein
Wildling auch manchmal Heimweh haben nach
dem Troß. Das iſt nun ſchon einmal ſo.“
Sie ſah ihn bittend an.
„Und doc,” begann fie langfam und mit
überredendem Ausbrud, „könnte ein folder
Augenblid vollerfaßten Lebens nicht ein langes,
ödes Durchſchnittsdaſein auftwiegen?”
„Nein,“ ſagte er entſchieden. „Das iſt
nimmermehr Wirklichkeit, das iſt deine ge:
fährliche Poefie. Vollerfaßtes Leben ſieht
anders aus.“
Darauf ſchwieg fie und fenkte den Kopf
noch tiefer. Im Weitergehen beobachtete er
fie ab und an mit forfhenden Augen, in
denen fi} eine Beforgnis fpiegelte, die viele
Jahre gefchiviegen hatte. —
Allmahlich begann es unmerllich zu dunfeln.
Über den Himmel floffen die fanften Farben
der Frühlingsdämmerung, lichte blaue und
grüne Töne, ineinander verſchmelzend. Das
Paar näherte fi jegt ber inneren Alıftabt,
und die Frau ſah wieder auf. Ihr Blid
bing an ben altväterlichen Giebeln und Efien,
die ſchwarz und wunberlid in ben abenbhellen
Himmel aufragten.
Unter diefen Giebeln und Efjen mar fie
groß getvorden, in früh geäußertem, viel-
gerügtem Widerſpruch gegen die Drbnung und
den Brauch, die fie hüteten. In Auflehnung
gegen das allgemeine Einverftänbnis in Dingen
eines zügellofen Egoismus und einer heuch⸗
lerifhen Moral. Im Sehnen und Taften
nad) einem Andern, Neuen, Namenlofen, das,
wenn es auch nicht unmögliche Vollfommenheit
mit fi führte, doch von der troftlofen Uns
ſchönheit und Brutalität des menſchlichen
Drängens und Treiben erlöfte. Jetzt mußte
fie, daß der gewaltige Grundlaut der Natur
{don in jenen Tagen in ihr erklungen
war, als fie in Beobachtung und Erfaffung
alles Lebens und feiner Probleme quälende
267
Empfindungen einer ungeheuren Leere und
zehrende Wehmut ihr Herz zerreißen fühlte.
Damals wies fie freilich jede derartige An-
fpielung mit Entrüftung zurüd. Denn gerade
das Hohnlächeln und die mitleidige Überlegen:
beit, die man für das „überfpannte, junge
Mädchen” hatte, fteigerten ihren Widerftand
und ihre Abfage an das Gewöhnliche, ja, an
das Natürlihe. So gedachte fie fih von
ihrer natürlichen Beftimmung aus freiem Ent:
ſchluß zu emanzipieren. Sie entbedte ohnehin
zuviel Komik in dem bewußten und unbewußten
Drängen der Gefährtinnen ringsum zu bem
einen Biel, dem Manne, und wollte über
diefer natürlichen Treibjagd ftehen. Vergeblich
riet ihre Sippe zur Erhörung eines ber ftatt-
lichen Freier, die Mut genug hatten, um fie
zu werben, unb zerbrach ſich den Kopf darüber,
wie ber weibliche Sproß ber ehrbaren Familie
zu dem unholden Funken aus bämonifcher
Heimat gelommen fei. Yanatifer unter ben
Giebeln fahen fie bereit? im Irrenhauſe,
während wohlwollenbere Kenner noch immer
bie Che als geeignetes Inftitut für fie
empfahlen. Und eines Tages fchienen biefe
legteren zu triumphieren. Cie ging wirklich
jubelnd den Richtweg alles Weiblichen. Aber
nur, weil fie einen gleichgefinnten Menſchen
gefunden Hatte, defien Erfdeinung über-
mältigenb auf fie gewirkt hatte. Sein offen
bare Zufunftshelventum, die Weite feines
Horizontes, fein ſcharfer und ſicherer Blid,
der zerfegenb in Irrtümer und Schädlich-
feiten drang, feine überfhäumende Kampf:
bereitſchaft hatten fie mächtig zu ihm gezogen.
Begeiftert fah fie zu ihm auf.
Fortan erfchütterte fie auch Fein Einfluß
mehr aus unbefannter Sphäre. Die geliebte,
ſchützende Geftalt an ihrer Seite leitete alle
rätfelvollen Stimmungen ab. Aber ad, eins
blieb aus. Gerade aus dem Sturm auf bie
alten Giebel und Eſſen wurde nichts. Die
ftrahlende Hochburg, die an ihre Etelle rüden
follte, wurbe nicht gebaut. In der Ehe begann
ihr Held über das große Thema einfilbig zu
werben, bis zum Widerfpruch, bis zu völligen
Verftummen. Und fie litt beinahe phyſiſch
darunter, fih dem ihr nächſten, geliebten
Menfhen in dieſem Drange nicht mehr er=
ließen zu können. Cie faßte es nicht, daß
268 Ein Hochzeitätag.
diefer ſtille Mann, der jebt ganz und nur in
feiner ſchlichten, bürgerliden Stellung und
Arbeit um das Brot zu leben jchien, ver
feine rau mit fanfter, aber fefter Hand in
die Alltäglichkeit niederzwang, ihr Mann fei.
Manchmal beobachtete und umlaufchte fie ihn
mit Hingebung, um auf den eigentlichen Kern
feiner neuerlichen Überzeugung zu kommen.
Aber dann erfchredte er fie immer durch ein
abwehrendes, ernüchterndes Wort, und fie
trodnete heimliche Thränen. —
Er blieb plöglich ftehen und drückte ihren
Arm leife an fih. „Denkſt du auch daran?”
fragte er herzlich.
Eine ſchmale Seitenftraße, aus ver es
etwas ftidig roch, that ſich vor ihnen auf.
Verwitterte Häufer ftanden umflort von ber
Dämmerung mit dumpfer Botfchaft der Ver:
gangenbeit.
„Sa, ich denfe daran,” ermiberte fie ein-
tönig. „Heute vor zwölf Jahren, da zogen
wir bier ein. Wir waren eben getraut. Unb
das Haus war ſchon damals fanitätswibrig.“
Sie machte fih von feinem Arm los und ftand
da, allein und nachdenklich. Zerſtreut lächelnd,
faft ironifch ließ fie ihre Augen an befagtem
Haufe entlang wandern.
Er lächelte auch, aber ein fchönes, marmes
Lächeln.
„Es ift unrecht, daß wir den Tag beinahe
unerwähnt haben verftreichen laſſen,“ fagte er.
„Bir begründeten an ihm unfer Glüd.”
„Unfer Glück?“ erwiderte fie fragend. Sie
fah ihn dabei rafch und durchdringend an.
„Iſt es möglich?“ ſagte er balblaut.
„Du zweifelſt an unſerem Glück?“
„O nein,“ erwiderte ſie, und ihre Stimme
klang heller als gewöhnlich. „Aber ich finde,
daß wir mit jenem Tage unfrei geworden ſind.“
„Unfrei ſind wir immer, ob verheiratet
oder nicht,“ kam es ihm von den Lippen.
Sie war ſehr froh, endlich einmal von
ihm wieder ein lang vermißtes Wort zu hören.
„Gewiß; immer unfrei,“ ſagte ſie eifrig. „Aber
nach der Verbindung mit einem anderen Weſen
doch noch unfreier.“
„Und das, was wir durch die Verbindung
gewinnen, willſt du gar nicht gelten laſſen?“
fragte er, ſofort einlenkend. „Ich meine,
gerade wir beide haben keinen Grund zu
ſolcher Undankbarkeit.“ Da fie etwas hinter
ihm herging, zog er ſie wieder an ſich heran.
„Weshalb verſtehſt du mich nicht?“
erwiderte ſie dagegen unmulig. „Wir gehören
natürlich zu den glücklichſten Eheleuten auf
Erden. Aber — es iſt nicht das Glück, das
wir erſtrebten, damals vor der Ehe.“
Da war es, da hatte ſie es rund heraus
geſagt. Er ging ſchweigend neben ihr weiter
und ſah häufiger noch in ernſtem Sinnen auf
ihre zarte Geſtalt nieder.
Es hatte eine Zeit gegeben, da ihres
Weſens Gründe ihm durchſichtig erſchienen
waren. Später mußte er ſich eingeſtehen,
daß er geirrt habe. Aber um ſo gründlicher
gab er ſich darauf dem Studium ihrer reiz⸗
vollen Pſyche hin, und ſo herb und dunkel ſie
oft reagiert hatte, jetzt meinte er in ihr beinahe
ebenſo gut leſen zu können wie in ſeiner
eigenen. Und nun ſchien ſie willens zu ſein,
laut und entſchieden über all das zu ſprechen,
was er jahrelang umgangen hatte. Mit
einem kleinen Seufzer ſagte er ſich, daß es
eine bittere Aufgabe ſein werde, dieſe dramatiſch
bewegte Seele aufzuhalten und dabei eigene,
überwundene Weltſchmerzen zu wecken. Und
wie würde es weiter gehen? Würde ſie gleich
ihm ſich fügen und ergeben? Sorge erwuchs
ihm aus Sorge.
Sie hatten nun die Stadt durchquert und
gingen eine andere dämmewolle Straße hin⸗
unter, die ſich auf den Fluß öffnete. Mit
mattem Spiegel ruhte unten das Waſſer und
ſandte einen feinen Silberglanz in die Straße.
Ein großes, fremdes Schiff ankerte da. Seine
hohen Maſten ſpannten ſich geſpenſtiſch gegen
den Abendhimmel.
Einen Augenblick hoffte er, daß dieſer
Anblick ſie zerſtreuen werde. Wenn ſie ſonſt
durch dieſe dunkelnde Straße gegangen waren,
das glänzende Waſſer und den weiten Horizont
vor Augen, hatte ſie ſich immer über den
großen Ausblick gefreut und die fremden
Schiffe angelacht wie ein Kind. Heute hob ſie
kaum den Kopf, und eilend ſtrebte fie vor:
wärt3, der Brüde zu.
Hier gerieten die beiden in einen gewaltigen
Menichenitrom. Denn um diefe Zeit warf bie
große Fabrikſtadt einen Teil ihrer Bürger
aus, zumeilt das arbeitende Element. Hin
Ein Hochzeitstag.
und wieder tauchten aus dem Gebränge auch
verivegene Mienen, wilde Augen auf, in ber
matten Beleuchtung doppelt bänglih zu
ſchauen. Unwillkurlich fah fi er nad ihr
um. Unter folden Umftänden drängte fie ſich
immer wie ein ängftlicher Bogel an ihn. Under
erſchrak, als er fremde Gefichter um ſich ſah
und fie dann meit voraus gewahrte. Er war
irgendwie ein Stüd zurüdgeblieben, und fie
batte nicht auf ihn und feinen Schuß gewartet.
Und als er fie eingeholt hatte und ſich ihr
gejellte, nahm fie feinen Arm nit, und eine
Heine Bewegung fagte ihm, daß fie allein
gehen wolle. —
Jenſeits befanden fie fih bald in faſt
länbliher Umgebung und Ruhe. Fern und
grollend verflangen die Geräuſche der Stabt.
Über den Zäunen wehte im Abendwind ganz
junges Laub, und am Horizonte ftand eine
dichte Wipfelreife. Von hier und von bort
tam ein füßer Geruch, fo herb und fo friſch
dabei, wie ihn nur neuentſproſſenes Blattwerk
entfendet. Was fühlte da die Frau im Boden
unter ihren Füßen quellen und fi melben?
— Ein Schauer überflog fie. Sie meinte,
der Mutterarbeit der Natur gelauſcht zu haben,
und fie empfand die laftende Schwere ihres
eigenften Zuſammenhanges mit dem ungeheuren
mütterlihen Urſchoß.
Aber fie gab fi damit nicht zufrieden.
Sie ließ ih von dem verräterifchen Traum:
fpiel der Natur nicht einlullen. Der große
Entſchluß, der feit Jahren langſam in ihr
geleimt hatte, ward plötzlich reif und feft.
Mit haftiger Frage wandte fie fi dem
Mann zu, der ftumm an ihrer Seite fchritt.
Weshalb ſchweigſt du? Haft du Feine Antwort
auf das, was id dir fagtet Iſt es nicht
endlich an der Zeit, uns auszuſprechen?“
„Du willſt ja das nicht hören, was allein
ih dir erwibern kann,“ fagte er mit einem
trüben Lächeln. „Du verlangft zuviel. Laß
dir genügen an unferm Teil Erbenfeligteit.
Wir genießen fie thatfählid. Millionen ift
fie nicht beſchieden.“
Wieder zeigten fih Unmut und Ungebuld
in ihrem Blid, aber fie beſann ſich. In
ihren Worten freilich zitterte die große, ſeeliſche
Erregung nad. „So muß id dir fagen, daß
du bein wahres Empfinden vergeblid vor mir
269
verbirgft in beiner Herzenägüte und Bartheit.
Denn ich bin deſſen gewiß, daß bu meißt,
was ich unter Glüd verſtehe. Nicht Spieß⸗
bürgerzufriedenheit. Ich weiß, daß du haberft
wie ih mit der ungeheuerliden Macht, bie
unverftänblid um ung raunt, die und zufammen=
getrieben, uns betrogen hat. Was hat fie
uns verheißen und was gegeben?”
Er umterbrady fie. „Du denkt an unfer
Tränfelndes Kind?“ fragte er vorfichtig.
Sein Ablenten und abſichtliches Miß—
verftehen reizten fie.
„Ich denke an beibe,” war ihre herbe
Antwort. „Ich fehe fie beide, auch unfer
ftarfes, begabtes Kind, kränkeln an der alten
Kultur, in bie fie hineinwachſen. Unb id
ſehe, daß du ihnen dabei Vorſchub leiſteſt,
unferer Überzeugung entgegen. Du zeigft
ihnen bie Ideale der Menge. Meine Kinder
lernen Befig und Anfehen ſchätzen. Ich denfe
an unfer beiber ftumpfe, paffive Exiftenz unter
Zuftänden, an beren Gefundung wir einft mit
ganzer Kraft arbeiten wollten. Ja — damals!
Und nun, nun tappen wir ſchweigend durch
al die Lüge und Verkehrtheit und Unmöglid-
feit und ziehen ala Gipfel des Leides unfere
Geſchöpfe, unfere armen Kinder mit hinein.
Und daß du es fo haben willſt! — Daß du
mid dazu zwingſt und die Kinder nad; dem
alten Mufter erziehft! Aber ich weiß aud,
daß bein Kampf ums Brot di foweit ges
bracht hat. Willft du mir alfo nod länger
Erdenſeligleit vortäufchen? Unſer egoiftiiches,
Heine Glüd betonen? Ad, laß doch dies
Verftedfpiel, laß uns uns finden wie damals,
in freien Gedanken!”
„Du weißt, gegen wen bu fämpfft, mein
armes, unfluges Kind,” fagte er fanft.
Nun nahm fie ihren legten Anlauf. „Ja,“
rief fie, „ich Tämpfe gegen die Selbſtknechtung
der Menfchheit vor ihren alten Gößenbilbern.
Ih kämpfe für die neue Kultur, die in ber
Luft liegt, die geboren werden will. Und
mir, wir haben fie ſchon fo lange, Harer wohl
noch als andere vor uns, gejehen. Weißt du
es benn gar nicht mehr? Damals, als wir
nod frei und mutig waren. Gerade bu
machteſt dich ja zum Streiche fertig. Doc
dann, ad dann kamen eben die Brotforgen,
die Kinderforgen, du mußteft an den Arbeits:
Ein Hochzeitätag.
Ein ftehender Schmerz durchzudte fie.
Nun gab es feinen Zweifel mehr, ihr Gatte
mar feine auserwählte Edelnatur. Cr dachte
nit daran, den gewaltigen Kampf auf-
zunehmen, in ben fie ihm fanbte, an deſſen
Berechtigung und Erfolg fie feinen Augenblid
gegweifelt hatte. Damit brach die Welt ihrer
Träume, in der er bisher als Held aufgeragt
hatte, zufammen.
Ihr Schweigen beunruhigte ihn. Mit
einem Anflug von Erregung verfuchte er ihr
eingehender Harzulegen, wie leicht es ji von
neuen Grundlagen des Seins und ber Ge-
ſellſchaft reden laſſe, wie undenkbar jedoch
ihre Verwirklichung fei, wenn man bie menſch⸗
lie Natur in Betracht ziehe.
„Dann,“ fagte fie endlich falt, „bleibt mir
nur noch meine Ahnung bon der Erlöfung
des Menſchen durch das Weib, das feinen
Dämon nieberringt. Wenn mein Ahnen von
der Selbfterlöfung ber ſittlich gereiften Menſch⸗
heit nichtig ift. Wenn meine Sehnſucht nad
ſchöner und gefunder Wirllichkeit für jedes
Gefhöpf im Leid des Daſeins untergehn
fol, ohne je Stilung zu finden!”
„Aber mein liebes Kind, wer hat denn
von ſolchem Untergang geſprochen,“ rief er.
„Deine Sehnfucht, deine Ahnungen, ſoweit fie
nit mörderiſch find, will ih bir um feinen
Preis beeinträchtigen. Sie reden ja aud in
meiner Bruft gebieterifh, fie gehören feit
Jahrtaufenden zum beften geiftigen Befig der
Menſchheit. Nur verlange nicht gleich, fie zu
verwirklichen, Ideale an die Straße zu ftellen,
für die die Erde nicht reif ift. Noch lange
nicht. Raum ganz leife verheißende Zeichen
bemerkt der, der ſcharf hinausſpäht und horcht.
Eines freilich habe ich foeben am eignen Leibe
verfpürt,” lachte er dann heiter auf. „Hat
meine vielgeliebte Frau mir nicht heute freitoillig,
ebeliten Motiven folgend, meine Freiheit zurüd:
geben wollen? ft die veritable Überfrau
damit nicht geprägt?”
Ihre Eeele zog fich ſchaudernd zurüd.
Mit ſolchem Scherz konnte er fließen, nad:
dem fie ihres Weſens ftärkiten Drang ihm
geoffenbart Hatte. Das mar alles! Und
immer biefer troftlofe Hinweis auf die Uns
mwirklicleit der höchſten und reinften Impulſe
des Menſchen! Eeit Yabrtaufenden nur
erı
geiftiger, nur toter Befig, nie eine Möglichkeit
denkbar, ihn in wirklich pulfierendes Leben in
Haus und Eirafe umpufegen. Berzweiflung
wollte fie überfommen. Wenn ihr Gatte,
diefer Mann mit dem tiefen Gemüt und bem
groß angelegten Charakter, ſich zu den Trieb:
menſchen und bem Mittelmaß ſchlug — dann
lebten die Evelnaturen wohl nur fchattenhaft
und blutlos in ihren ſehnſüchtigen Träumen.
Uber der Glaube an fie und dabei immer
zugleih an ihren Mann gehörte ja zu ihren
Lebensbedingungen!
Unter laftendem Schweigen gingen fie
weiter. Er empfand ihren ftummen Schmerz
und ihre Empörung, aber ſchließlich befiel ihn
ein gelinder Ärger. Sollte ihr Cheglüd nun
wirklich leiden? War nicht eigentlih ſchon
etwas Pathologiſches in ihren Afpirationen?
— Er betradhtete fie ängftlich, aber er empfand
nur mit ungewöhnlicher Stärke ihren hoben,
geiftigen Reiz, eine fehr große, ſtrenge Schön-
heit, bie fich freilich ihm zu entziehen fuchte.
Sie blieb eben unter allen Umftänden bie
Poeſie feines Daſeins. Und nun warf er fi
vor, daß er fie auf feinen Wegen zu feiner
nur zu getreuen Gehilfin gemacht hatte.
Mußte fie bei ihrem glühenden Intereſſe nicht
unenbli viel mehr und viel tiefer fehen ala
andere Frauen, als viele Männer? War es
ein Wunder, daß fie ſich in ftolger Ohnmacht
binausfehnte und binausredte über die Erde?
Und war e8 nicht andererſeits fein ftilles Ent⸗
züden, daß ihr Herz von armer Liebe und
Selbftvergeffenheit überquoll für alles, was
fonft von verftändigen Leuten nicht eben ge:
liebt und zart behandelt wird! Würde er dieſe
Heine, leichte, gefegnete Hand je miſſen fönnen?
Daraufhin dachte er nur noch daran, ihren
Konflikt zu befeitigen, und da fam ihm ein
Gedanke.
„Übrigens, mein Kind,” fagte er plötzlich
in ganz berändertem Tone, „till ich wenigſtens
nicht hinter dir zurüdfftehen. Sch begreife voll⸗
ftändig, daß du mit einem fo gewöhnlichen
Gefellen, der ih wohl bin, nicht weiterleben
tannft. Deshalb gebe ich dir meinerfeitö deine
Freiheit zurüd. Vielleicht findeft du draußen
die Größe, die mir abgeht.”
Sie hatte aufgehorht, war zufammen-
gefahren und fah ihn jegt mißtrauiſch von der
272
Seite an. „Solde Scherze laß’ doch,” fagte
fie ſchroff.
„Bewahre,” ermwiberte er. „Es ift mir
mit meinem Borfchlag ganz ebenfo ernit wie
dir mit dem deinen. Es wäre ja graufam
bon mir, dich meiter an meine Perfon zu
feſſeln, nachdem id) deine Erwartungen fo ge⸗
täufcht babe. Wie follte beine auf Helden
und Großes gerichtete Natur weiter mit mir
ausfommen! — Ob du draußen das finden
wirft, was du fuchit, bezweifle ich zwar. Für
das, was bein großes, warmes Frauenberz
plant, ift in der wirklichen Welt fein Platz.
Sn ihr behaupten ſich höchſtens die land⸗
läufigen MWeltbeglüder und Träger neuer
Kultur, und auch die mit Mühe und Not.
Und denen würdeſt du auch wahrſcheinlich
anheimfallen. Freilich graut mir bei dem
Gedanken, dich, mein fenfttives Kind, in folchen
Händen zu willen, und was bei beinem
Sceiden aus mir wird, brauche ich dir nicht
zu fagen. Trotzdem — dein flummes Mar-
tyrium neben mir fönnte ih erft recht nicht
ertragen. Deshalb geh’!“
No einmal fah fie ihn zmeifelnd an. Er
war fehr ernft, ein entfchloßner Zug machte
fein Gefiht faft hart. Und fie fpürte jebt
unwillkürlich weiter in feinem Antlitz und ſah
darin wie immer die reichlihen Spuren eines
tieffinnenden, feinen Geiftes. Zahlloſe Äuße⸗
rungen besjelben wurden ihr lebendig, damit
aber auch der ganze intime Reiz, die elementare
Stärke ihres Zuſammenhanges. Und mehr
noch erfpähte fie. Stärker ging der Wind
durch die ſchwankenden, jungen Fichtenzweige,
fühl ftrih er um ihre Schultern. Sie fah
nun alles, wie ed war, matt, filberbläulich,
fühl. Eie ſelbſt war wieder flein und zart
und furdtfam geworden. Und fein klingendes
„Geh'“ Täutete fort.
Zu gleicher Zeit verließen fie das MWälbchen
und kehrten zu einer Fleinen Straße bes
erreichten Borort3 ab. Einige allerbefcheibenfte
Landhäuſer bargen fich hier hinter alten, hoben
Bäumen. Ganz hinten auch ihr kleines,
weißes Haus. Diefes Haus umſpannte bie
Frau jetzt in ihrem bangen Sinnen. Sie fah
im Sommer Roſen wehen und im Herbſt den
Mein. Sie fpürte die reine, friſche Atmofphäre
des kleinen, weißen, roſenlachenden Hauſes,
Ein Hochzeitstag.
den Schimmer von Schönheit, der in ihm
allüberallher leuchtete. Sie fühlte ihr Daſein
getragen und erleichtert durch die rührende
Liebe und zarteſte Aufmerkſamkeit eines guten
Menſchen. Sie meinte den Engelsgruß
mahnend zu hören. Wie ſchmerzlich tief
mußte da die Stimmung ſein, die ſie ihr
Glück nicht ruhig hinnehmen und genießen
ließ, die ſie in ſtetem, leiſem Auflehnen da⸗
gegen hielt und einen leidenſchaftlichen Kampf
gegen Urgeſetze in ihr ſchürte. Dennoch, was
da in ihr brannte, es mußte echt ſein, Feuer
von dem Feuer, das reinigend über die alte
Erde hinfahren ſollte. Wenn ſie nur mit ihm,
der mit wachenden Augen und erſchreckender
Entſchloſſenheit ſie an ſich zwang, obgleich er
ſie mit ſeinen Worten von ſich wies, fertig
werden könnte! Wenigſtens ein Kämpfer
mußte aus ihm geſchaffen werden, wenn denn
kein Held.
Und nun verſuchte ſie ihn zu fangen.
„Alſo wirklich, du willſt mich deinerſeits
freigeben?“ ſagte ſie. „Aber wenn das dein
Ernſt iſt, wenn du das kannſt, ſo wie wir
miteinander ſtehen, dann biſt du doch keiner
aus der Menge. Und ich habe ſonſt noch
tauſendfach Beweiſe dafür, daß du auf Höhen
ſtehſt, die ſo leicht kein anderer erreicht. Wie
kannſt du da mit den unwürdigen Idolen der
Welt paktieren? Unſere Kinder darauf ab⸗
richten? Wie kannſt du mir ſo grauſam ruhig
unterſagen, nach der Verwirklichung meiner
Ideale zu ſtreben?“
Sie ſah ihn beſchwörend an.
Er ſann nach, und wieder klang ſeine
Stimme anders, als er zu ſprechen begann.
„Sieh, mein Kind, über die natürlichen
Grundlagen alles Seins und Weſens find
wir jebt wohl einig. Sie gefallen uns nicht,
aber wir wurden nun einmal in die Welt der
Habgier und Ehrgier geftellt und müſſen
damit rechnen. So lange wir in bürgerlidher
Gemeinfchaft bleiben, die und in ihre ſchweren
Ketten fchließt. Und für diefe Melt müſſen
wir unfere Kinder erziehen. Wir haben nicht
das Recht, Einfiebler und Anachoreten aus
ihnen zu machen, zumal ihre ftarken, welt⸗
freudigen Inbivibualitäten ſchon jetzt bemerkbar
find. Der Gedanke ift bitter, Daß unfere
Kinder und einft in Lebensnöten ihr Dafein
Ein Hodjgeitätag.
vortverfen könnten, wenn auch nur in Ge-
danten, aber noch bitterer wäre es doch, wenn
wir fie fampfunfähig machten, fie über bie
Wirklichkeit im unklaren ließen. Ober ihnen
gar etwas vortäufchten, was es nicht giebt,
auf lange, lange Zeit hinaus nicht geben
Tann. Unfere eigentlihen Anſchauungen und
deren Bethätigung haben fie täglich vor Sinnen.
Iſt der entſprechende Keim im fie gelegt, fo
werben fie fi demgemäß entwideln. Vergiß
nicht, daß wir felbft aus halb mittelalterlich
gefinnten Kreifen heraus relativ freie Menſchen
geworben find. Im übrigen, mein find,
bringe ich der Wirklichkeit, wie fie nun einmal
ift, taufend Opfer meiner Überzeugung, und
id würde habern mit dem Lebenstrieb wie
du, mern eben unfer inniges Glüd nicht
unerfhütterlih wäre. Ya, ja, ih weiß,”
wehrte er ihren haftigen Einwand ab, „id
weiß, du willſt es nicht anerkennen, bein gar
zu zartes Gewiſſen fträubt fih gegen ein
Göttergefhent, das ber großen Überzahl ver-
fagt if. Du verlangft unbedingt für jeden
Mann und für jedes Weib auf Erden das-
felbe. Aber fage, follen wir nun wirklich
wegen biefer Unmöglichkeit unfer eigenes,
ſchönes Glüd verftoßen? Es genießen, ift
nicht einmal fo egoiftifch, wie du es hinftellft.
Ja, fühlft du nicht felbft, wie auf unferm
Glüd ſchon ein Hau deiner neuen Kultur
liegt? Ich möchte fagen, daf wir in unferem
Denken und Handeln einer gewiſſen Voll-
kommenheit auf der Spur find, fo weit Menſchen
das vermögen. Vielleicht arbeiten wir wirklich
in aller Stille an unferm Heinen Teile neuen
Überzeugungen, einer neuen Zeit entgegen.
Und fo mollen wir unferen Hochzeitstag zum
guten Ende doch preifen. Kein Wort mehr
von Trennung, ed waren unmenſchliche Ent:
ſchlüſſe. Wie folten wir ohne einander
leben!” —
Sie fand nicht glei eine Antwort. Sie
konnte nichts, gar nicht? gegen feine ſchönen,
tief innerlih wahren Worte einwenden, und
doch berührten fie fie ein wenig mie eine
glänzende Schlußwendung. Sie fühlte durch,
mie er fie wie immer zu beſchwichtigen und
binzuhalten ſuchte. Es follte beim alten bleiben,
bei den Haffenden Übeln, den furdtbaren |
Miplauten und all der Unfhönheit — das
278
war ber forgfam verhüllte Kern. Und fie
beide, trotz aller „eigentlichen“ Überzeugungen,
in ſolche Gefolgihaft fi fügen! Ah —
und ihre Rinder! Anachoreten gedachte auch
fie niche aus ihnen zu maden, wohl aber
ganze und gefunde Menfchen, die die Schön-
heit des Dafeind und natürliche Schmerzen
vol durchleben follten. Nicht diefe Freude
und biefen Schmerz, die eine fiebernde Menſch⸗
heit fih zu Würgern berangezüchtet hat! Ob
er wirklich an bie leife Pionierarbeit glaubte?
Der war aud das nur eine Vertröftung?
So fann fie und ftieß ſich ſchmerzhaft
überall in ihren Gebanfen, ja felbft in ber
halb unterbrüdten Genugthuung über ihr
eigenes, ehrliches Glüd, das fi nun freilich
nicht wegleugnen ließ. Uber fie hätte es
ſchelten mögen, fie zürnte dem Manne, ſich
felbft, diefes ihres Glüdes wegen. Wie konnte,
wie durfte fie glüdlich fein angeſichts folder
Zweifel und Ängfte? —
Aber dabei entfaltete das Glüdsbetoußtfein
fh nun mit Macht in ihrer Seele, wie eine
wunderbare Blume, aus deren geheimnis-
vollem Kelche eine grenzenlofe Seligkeit ſich
über ihr ganzes Wefen verbreitete. Muhſam
erwehrte fie ſich ihrer.
Näher und näher Tamen fie ihrem Heim.
Sie fahen fein Licht in den Fenftern, die dem
Abendwind geöffnet waren. Nur die Dors
hänge vegten fi) hell dahinter — ob bie
Kleinen ſchon fhliefen? Und dann hörten fie
deren Stimmen und bie gute Großmutter
liebevoll ſchelten.
Vor dem Lattenpförthen im Zaun blieben
fie ftehen und lauſchten. Das eine Kind
weinte, grämlid und unzufrieden, dad andere
fang unbefümmert nad} eigner Melodie. Lang⸗
gehaltene Töne, viele dem Singen der Mutter
abgelaufcht.
Noch immer hielt fie fih von ihm fern
und wandte fi aud von dem Häuschen, um
ihre Augen gleichfam ſuchend zum bunfler
blauenden Himmel zu heben. Tief am Horizont
mar ein fanft ftrahlender Abendfonnenftreif
verblieben, in deſſen Gold die Wälder ftill
ihre Spigen tauchten. Und nun mußte fie
nicht mehr, was fie wollte: Frieden ober
Kampf. Denn von ber fernen Stabt ber
börte fie es tofen. Die heiße, mübe Erde
18
Bismard intime. 275
Sprade, die kraftvoll gefaßten Bilder, das leidenſchaftliche Gefühl, die innere
Künftlerfchaft im Fühlen und Erleben aller Eindrüde, das rüdt hier an erfle Stelle,
und das Staatöniännifche, die Aufgaben des großen, Öffentlichen Berufs, von dem
Bismarck mehr ald er der fchlichten Hausfrau eingeftand, erfaßt, dämonifch bejeflen
war, wirft nur von weitem feinen Schatten herein.
Hiftorie wird man nach diefen Briefen, die von 1847 bis 1892 gehen und zum
Hintergrund die großen Ereigniffe der neueren Gefchichte haben, nicht fchreiben können.
Bismard zeigt fich bier nicht als der geniale Schachfpieler, der auf der Karte
von Europa feine Züge macht, fondern als der arbeitsüberhäufte Beamte, den Gott
und der König auf feinen Platz geftellt Haben. Und auf dieſem Platz hat er aus⸗
zuharren, wenn er auch in der Unftäte feiner diplomatifchen Sendung, verſchlagen nach
Frankfurt, Petersburg, Paris, monatelang getrennt von der Frau und den Kindern,
jaßrelang im ungewiffen, wohin ihn das Schiefal führen wird, oft genug fehnfüchtig
träumt: „Wann wird die Zeit kommen, anhaltend unter einem Dach zu leben; bie
Ruheloſigkeit der Eriftenz ift unerträglich.”
Und dieſe Regungen find zweifellos edit. Sie hatten in ber Vielheit diefer
Seele, neben mancdem Anderen, Widerfprechenden, der Herricherleidenschaft und dem
Willen zu Reich, Macht und Herrlichkeit Raum. Sie entwideln fi in diefen Briefen
freier, rüdhaltlofer, weil in ihnen die andere Bismardfeele, die Herrenfeele, ftiller if.
* *
*
Am reichſten ſind die Briefe der frühen Zeit, die Briefe des Schönhauſener
Deichhauptmanns und „eingefleiſchten Landwirts“ an die Braut in ſiebzig Meilen
Entfernung. Beim alten Putikamer hat er in feierlicher Form geworben und fein
Velenntnis jo abgelegt, wie es die etwas eng und ängftlich gläubige Familie verftehen
tonnte. An die Braut aber jchreibt er ganz Percy Heißfporn: „Reiten mußt Du,
und wenn ich mich felbft in ein Pferd verwandeln follte, um Dich zu tragen.”
Diefer pommerfche Gutsherr wirkt wie das Vorbild eines Liliencronfchen Junkers
in feiner Mifhung. Jäger mit Stiefel und Sporn hinter den Hunden, von ftarken
Erregungen trunfen, voll Gemitter: und Sturmflimmung, immer im Rhythmus: „es
ſchlug mein Herz geſchwind zu Pferd“; macht? an der Elbe im Donnerlärm des Eid:
gangs und ber gligernden Schollen, die ihm „ben Pappenheimer Marſch fpielen”, daß
fein Herz in frifchem Leben aufjauchzt, und dann wieder am fnatternden Kaminfeuer,
Byronverfe erzerpierend und Walter Scott Iefend, zur Seite der Hund, im Knäuel
zuſammengerollt.
Und Liliencronſche und Fontaneſche Stimmungen ſind es, wenn er erzählt, wie
er in Nacht und Nebel, die alte Turmuhr ſchlug gerade 11, in feinem alten Schön—
haufen ankommt, wo alles ſchon fchläft. Hildebrandt beforgt die Pferde, und der
Deihhauptmann ftedt fih an „der fchlafbefoffenen Kahle thraniger Lampe” feinen
Wachsſtock an. Und Liliencronſch, wenn er von feinen Vätern ſpricht, die in „biefen
jelben Zimmern gewohnt haben, geboren und geftorben find, wie die Bilder im Haufe
und in ber Kirche fie zeigen, vom eifenklirrenden Nitter auf den Ianggelodten zwickel⸗
bärtigen Kavalier de3 breißigiährigen Krieges, dann die Träger ber riefenhaften
Alongeperüden, bie mit talons rouges auf biefen Dielen einherftolzierten, der
bezopfte Reiter, der in Friedrichs des Großen Schlachten blieb, bis zu dem ver-
weichlichten Sproffen, der jegt einem ſchwarzhaarigen Mädchen zu Füßen liegt“.
18%
Bismard intime. am
dem König ift das fehr unlieb, wenn er erfahren hat, daß ich nicht wollte; er hält
e für etwas fehr Großes, wenn einer Kammerherr wird.” Und mit ruhevollſter,
philoſophiſcher Betrachtung ſpricht er 1852 von der „ganzen goldbeblechten Schügen=
tönigöherrlichkeit, die vieleicht übermorgen vorbei if“.
Er giebt feiner Frau die weltlichen Ratſchläge, damit ihre Füße auf dem neuen,
glatten Boden ficherer gehen. Ihm felbft aber ift fie gerade fo, wie fie ift, lieb: „Du
bi meine Frau und nicht der Diplomaten ihre, und fie fönnen ebenfo gut Deutſch
lernen, wie Du Franzöfiih. Nur wenn Du Muße baft, oder doch leſen willſt, fo
nimm einen franzöftfchen Roman; haſt Du aber feine Luft, fo fieh dies als nicht
geichrieben an, denn ich babe Dich geheiratet, um Dich in Gott und nad dem
Bedürfnis meines Herzens zu lieben und um in der fremden Welt eine Stelle für
mein Herz zu haben, die alle ihre dürren Winde nicht erfälten und an ber ich die
Bärme des beimatlichen Kaminfeuers finde; nicht aber um eine Geſellſchaftsfrau für
andere zu haben, und ich will Dein Kaminchen begen und pflegen und Holz zulegen
und paden, und fehügen und ſchirmen gegen alles Böſe und Fremde, denn ed giebt
nichts, was nächft Gottes Barmherzigkeit mir teurer, lieber und notwendiger ift als Deine
Liebe und der heimatliche Herd, der überall auch in ber Fremde zwifchen uns fteht,
wenn wir beieinander find“.
Was diefe Frau, die von ihrem Mann im hohen Alter nicht minder liebevolle
Briefe befam, ald in ihrer Jugend, Bismard geweſen ift, das zählen die Briefe nicht
diret in Form von Eigenfchaften oder Charakterinventaren auf. Indirekt geben fie
es zu erfennen.
Er fchreibt einmal: „Allen, außer Dir, erfcheine ich falt“. Und diefes Wort
führt auf den richtigen Weg. Diefe Frau mar ber einzige Menfch, der die Fähigkeit
befaß, aus ihm alle jene Gefühle rein auszulöfen, die feinen oder nur einen ganz
geringen Plag in dem Leben zu beanſpruchen hatten, das ihm das Schidfal zuerteilt
und das er auf fi genommen. Bismard felber aber liebte jened andere Leben, jene
Träume von ber elementaren Eriftenz in der Natur, auf der Scholle, ala Jäger und
Landmann, und feine Sehnfuht „aus dem Winter des politifchen Lebens im Geifte
nad dem bäußlichen Herde zu bliden, wie der Wanderer in böfer Nacht nach dem
Licht der Herberge”.
In diefer Mifhung widerſpruchsvoller Gefühle, daß einer, der fih zum Herrſchen
geboren fühlt, immer und immer wieder in die große Ruheſehnſucht fält, natürlich
ohne fie zu erfüllen, erkennen wir das Geniale diefer Natur. Bei einem Staatsmann
find wir diefe Mifchung nicht gewöhnt, ſogleich aber wird fie Har, wenn wir an den
Künftler denken. Der Dilettant ſchmiedet munter, glüdlich und zufrieden feine Reime,
die Großen aber haben alle an ihrem Werk gelitten, le malheur d’&tre poete. Sie
empfanden ihre Aufgabe jchwer und ſchmerzlich:
Der Dämon nimmt Dein Herz, fliehlt Dir die Seele...
Dünkt Euch) dies Schidfal jo beneidenswert,
Ertrüg es einer, der es wenden Könnte?
O Himmel! wenn ich könnte, ginge mir
Im Alter noch ein neues Leben auf,
Ein Leben voller Ruhe, voller Frieden.
Doc dies Verlangen kann ihnen nie befriedigt werben. Der wahre Künftler
Kann nie ablaffen von dem, was ihm die größten Dualen und die größten Wonnen fchafft.
Bißmard intime. Lu]
Durch den Tiergarten geht er mit Fontaneaugen. Er figt auf ber Bank am
Schwanenteih und fieht den Schwänen zu: Sie ſchwimmen bid, grau und blafiert
zwiſchen den fchmugigen Enten flott umher, und die Alten legen fchläfrig den Kopf
auf den Rüden. Der Ahorn ſteht dunkelrot, der Golbfifchteich ift faſt außgetrodnet.
Linde und Faulbaum beftreuen die Steige mit gelbem rajchelnden Laube, und bie
runden Kuppeln der Kaſtanien fpielen in allen Schattierungen des Herbfted.
Und Fontane Lönnte jene Iyrifche Abendftimmung aus der Großftabt feftgehalten
haben: .
„Mein Liebchen, ich fige hier in meiner Edftube zwei Treppen Hoch und betrachte
den Himmel voll lauter Heiner abendroter Schäfchen, wie er die Taubenftraße entlang
und über den Baumfpigen von Prinz Carls-Garten zu fehen ift, und die Friedrichftraße
entlang if es ganz goldig und wolkenlos .. .“
In die Fontanefche Beſchaulichkeit zudt dann Liliencronfches Jägerblut.
Im Morgennebel einfam über die Herbſtwege ziwifchen den Bäumen, da ift ihm
wie Kniephof, Waldjchnepfenjagd und Dohnenſtrich.
Und dann die Jagdlyrik vol Herzihlag, ftil und wild und leidenfchaftlih: um
Mitternacht im Gebirge auf den Auerhahn, bis drei unaufhaltfam geftiegen, unter
fallendem Regen, den ſchweren Mantel um, über fteile Wände auf Händen und Füßen;
tieffted Dunkel im Tannendidicht, unten in purpurner Tiefe der Waldbach; tobmattes
Umfinfen in triefendes Haidefraut, von Regen überftrömt.
Und dann ber Tag: ber Uhu macht der Droffel Platz, der Vögelchor fingt
betäubend dem Sonnenaufgang zu, die Bergtauben im Baß dabei.
Und wie Liliencrons jubelt Bismarcks Herz in ber Soldatenpoefie: Eifenraffeln,
Trompeterfignale, Attade der Kavallerie.
Dies Skizzenbuch hat viele Blätter und mannigfadhen Stoff. Es führt in
ſtandinaviſche und ruffische Einöden, wo der Elch gejagt wird; es malt die ungarische
Pußta mit Czards, wilden Pferden, drei Noffen vor dem Wagen, gelbbraunen Weibern
mit brennenden, ſchwarzen Augen und Zigeunerweifen in Mol, in Tönen, die an ben
Wind erinnern, wenn er im Schornftein lettiſche Lieder fingt oder an „Krankes Wolfs-
geheul im der Herbſtnacht“. VBismard ftichelt mit zierlicher Kleinkunſt niederländifche
Genrebilder: Rotterdam mit venctianifchen Kanälen, lindenbefegten, ſchmalen Wegen vor
den Häufern, Glodenfpiel, phantaftiih geformten Giebeln, „jonderbar und räuchrig,
fait ſpukhaft, mit Schornfteinen, al3 ob ein Mann auf dem Kopf ftände und bie
Beine breit audeinanderfpreizte” und in biefem Rahmen Bismarcks Selbfiporträt in
bolländifcher Manier: mit der langen Thonpfeife im Mund auf die in der Dämmerung
abenteuerlich vertifchten Giebel und Schornfteine blidend. Und er mifcht die lodernden
Farben füdlicher Paletten zu leuchtenden Aquarellen aus ber Baskenwelt Pierre Lotis:
Pas de Roland, Schluchten mit reigenden Bergitrömen und feltfam gefrümmten
ſchlangenartigen Feigenbäumen, Sonnenuntergang mit Pyrenäenglühen, Halb Spanien
im Feuer jenfeit der See, tiefes Dunkelſchwarzblau über phantaftiichen Gebirgszaden.
* *
*
Dieſer Stimmungsdichter hat aber auch Humor. Und wenn hier die Welten fo
mander Dichter als verwandt angerufen wurden, fo darf man einen nicht vergefien,
Heine. Viele der Bismardchen Reifebriefe haben ganz den Heinefchen Ton, die Freude
Bißmard intime, 288
Soldat war und ſchließlich ein in fi) Gewandter, der auf das Leben zurüdblidt, wie
auf ein verhalltes Gelächter:
An hellen Tagen liebt in Hof und Saal
Ich nicht das Bild des Schmerzes und der Dual;
Doch Dual und Schmerz ift auch ein irdiſch Teil,
Das mußte Chriſt und ſchuf am Kreuz das Heil.
Je länger ich betrachte, wirb die Laft
Mir abgenommen um bie Hälfte faſt;
Denn ftatt des einen leiden unfet zwei,
Mein borngefrönter Bruber fteht mir bei.
Aber nicht die einzige Form Bismardichen Glaubens ift das. Diefer Biel:
* geftaltige ift auch in den religiöfen Stimmungen nicht ohne Wechfel.
Sehr irdiſch vernunftmäßige Erwägungen können dominieren. Dann proteftiert .
er fehr energifch gegen die Puttkamerſche Gläubigfeit, die in Krankheitsfällen die
Hoffnung auf Gottes Hilfe der Arztlichen Ronfultation vorzieht: „Gebet ift freilich beffer
ala Pillen, aber vernachläffige doch nicht die Menfchenhilfe, die Gott bietet, und ſcheue
in dieſem Face feine Koflen“.
Zu anderen Malen wieder behandelt er den primitiven Kinderglauben feiner
Frau mit einer überlegenen Bonhommie und rät ihr gut zu, „Gott zeigt uns bie
Zuchtrute wohl, die er für uns in Bereitfchaft hält“, aber er „Aedt fie wieder hinter
den Spiegel”. .
Viel wefentlicher aber find die Stellen, wo Bismards Künftlertum wieder auch in
der Religiofität zu Tage tritt. Wie alle Afthetifchen Menfchen befennt er eine Schönheits:
neigung zum Katholizismus. Der proteftantifhe Gefang mit den falſchen Tönen und
ber „recht bürgerlichen Berlinfchen” Ausſprache degoutiert ihn, und er fehreibt mit der=
felden großartigen Offenheit, mit der er feine allerevangelifchften Stunden ber Andacht
geichildert, in diefer Stimmung: „Es iſt mir lieber bei guter Kirchenmuſik, von Leuten,
die es verftehn, gemacht, zu beten für mich und dazu eine Kirche zu haben, wie die
Teinfirche inwendig war, und Morlachiſche Meffen, mit weißgefleideten Prieftern im
Dampf von Kerzen und Weihraud, das iſt doch würdiger, nicht wahr, Angela?“
Und derfelbe Aſthet fhreibt das Baterunfer italienifch auf, weil dad „melobifcher” Klingt.
Der Glaube, bei dem Bismard ſchließlich landete, Hatte nicht von der gebeugten
Stubenandacht des Puttlamerfchen Haufe und auch nicht? von jener vorübergehenden
aſthetiſchen Neligiofität. Seine Gottevorftellung war nicht jo frei und weit wie bie
Goetheſche. Sie hatte ein perfönlicheres Geficht. Aber etwas Pantheiftifches war duch,
in ihr. Bismard fühlte das Ewige im Enblichen und nirgends tiefer als in der
umzogenen Enge feiner häuslichen Welt, und fein Belenntnis lautet nun:
„Gott, Du und bie Kinder... Wehmut, Heimweh, Sehnfucht nad Wald, See,
Wieſe, Dir und den Kindern, alles mit Sonnenuntergang und Beethovenfcher Symphonie
vermifcht ...“
Nusfin und bie Frauen. 285
fih aber, weil die Zeit dort reif war, unter den außerwählten Vertretern des ftarfen
Geflecht? Anwälte gefunden, die die Denkweife zu Gunften der höher ftrebenden
Frauen beeinflußt haben. Iſi doch das Werk des englifchen Philofophen John Stuart
Mil, „die Hörigkeit der Frau,“ das unübertrefflihe Tertbuch aller Frauenrechtler ges
worden. Und mehr noch als die Forderungen’ des abfiraften Denkers haben bie
Leben und Liebe atmenden Worte John Ruskins in vielen taufend Männer: und
Frauenherzen die Überzeugung gewedt, daf die beften Früchte der Civilifation nur in
gemeinfamem Streben errungen werden fünnen, daß die fchönere Zukunft nur aus
dem friedlichen Zufammenwirken beider Geichlechter hervorblühen kann.
Er war ein gar gewaltiger Geift, diefer John Ruskin, der zugleich Afthetifer
und Ethiker, Künftler und Kunſikritiker, Univerfitätsprofeflor, praftifcher Reformer und
Wanderprediger geweſen. Eine feline Vereinigung von Güte und Größe fand fi in
ihm; fein FM: erftredte fich auf faft alle Gebiete menfchlicher Tätigkeit, und feine
geiftige Herrihaft umfaßte gleichmäßig Kunft und Leben. Dasfelbe Leben, das
Philoſophen und Schwärmer oft jo armjelig finden, ihm erſchien e8 voll wunder
barfter Möglichkeiten; er hatte den unendlichen Reichtum, die köſtlichen Schäge erkannt,
die dem gehören, der das Schöne und dad Erhabne diefer Welt zu erfaffen gelernt;
fein ganzes Streben ging dahin, die unerjchöpfliche Dafeindfreude, die er für fi
entdedt, den andern mitzuteilen. Sein Geilt war kein jchaffender, fondern ein
erkennender; die Natur, die ihm Schöpferfraft verfagt, hatte ihm dafür die Gabe ver-
liefen, alles Seiende und Werdende, Natur und Menfchenmwerk in einem neuen Licht
zu ſehen; fie batte ihm gleichzeitig einen nimmer taftenden Geift, ein heiß empfindendes
Herz und ein unendlich fein organifiertes Gemiflen gegeben — fo mußte er zum
Erzieher allergrößten Maßftabed werden, und er, der zu Beginn des anbredhenden
Jahrhunderts dahingegangen, hat in feinem Vaterland dem verflofienen Jahrhundert
den Stempel feines Geifte® unverwiſchbar aufgedrüdt. Es geht eine mächtige Anz
iehungstraft von feinem Weſen und feinen Worten aus, die jedem fühlbar wird, der
jeine Schriften mit offenem Herzen aufnimmt, und er meiß alle, die in den Bannkreis
feiner Ideen treten, unmwiderftehlich feſtzuhalten; weil er fich nicht nur der Gedanken
zu bemächtigen, fondern auch die Gewiſſen aufzurütteln weiß; weil er über Thun und
Denten Rechenſchaft verlangt.
Es foll hier weder auf jeine Funftkritifche noch auf feine fozialreformatorifche Thätig:
feit näher eingegangen werden. Er hat auf beiden Gebieten in einer Weile anregend
gewirkt, wie vielleicht noch nie vor ihm ein einzelner. Im Anfchluß an feine äfthetifche
Thätigleit bat fih die Wandlung im engliſchen Kunftgeihmad vollzogen, die unter
anderm zur Auferftehung bes Kunſthandwerks geführt bat. Seine genialen Beiträge
zur fozialen Ethik aber, in denen er den Beweis erbrachte, daß Gerechtigkeit und
Nächitenliebe erhaltend und der Eigennug zerfegend auf den Staatshaushalt und das
Individuum wirken, haben nicht allein den Glauben an das danıald herrſchende
Prinzip des laissez faire zerftören helfen; er bat vielmehr fo gut verftanden, auf
uraltem, unerfchütterlihem Fundament das Neue aufzubauen, daß es ihm fogar ge:
lungen ift, in den Herzen feiner im Materialismus erzogenen Zeitgenoffen die Flamme
der Begeifterung für foziale Ideale zu entfachen.
Diefe flüchtige Andeutung über feine allgemeine Wirkſamkeit muß hier genügen,
wo des weiteren nur feine Ideen über die Million der Frau befprochen werben follen.
Die ruhige Selbftbeherrfhung und opfermutige Liebestraft der Frau, ihr klares Urteil,
das nicht fo leicht durch blinde Leidenfchaft getrübt werden kann, gaben ihr in feinen
Augen, in den Dingen des täglichen Lebens das geiftige Übergewicht, und er ſah
ihre Beflimmung darin, Beraterin und Zührerin der Männer zu fein. Stellte er
doch einft in einem öffentlichen Vortrag die kühne Behauptung auf, daß fein Mann
auf Erden ein rechtmaͤßiges Leben geführt, der nicht durch Frauenliebe geläutert, durch
Frauenmut geftärft und von Frauentakt geleitet worden wäre. Ob er in ber Lage
war, fih in biefer wie in andern Fragen ein Urteil zu bilden und verftanden bat,
feine Anſchauungsweiſe über die Frauen zu begründen, darüber mögen die folgenden
flüchtigen Andeutungen oberflächlich Aufſchluß geben.
Ausfin und bie Frauen. . 287
feiner Männer und bringen fie zu Fal. Dagegen giebt e8 kaum ein Shakeſpeareſches
Stüd, in dem nicht eine vollendete Frau zur Darftellung kame. „Feſt und ftark, in
ernfter Soffnung, unfehlbar ſich ihres Ziels bewußt,“ find fie faft mafellos und bringen
den Typus hochſten Heldentums zum Ausdrud. Auch wird die Kataſtrophe ſtets durch
die Thorheit oder den Sehler eined Mannes herbeigeführt; wo bie Erlöfung kommt,
erfolgt fie durch die isheit und die Tugend einer Frau. Es giebt nur ein
Shaleſpeareſches Stüd, in dem einem ſchwachen Weibe eine wichtige Role zuerteilt
wird, und hier wird ihre Schwäche zum Verhängnis; weil Ophelias Kraft im Fritifchen
Moment verfagt, weil fie Hamlet feine Führerin fein fan, als er ihrer Leitung am
dringendften bebarf, deshalb muß das Schidfal ihn und fie ereilen. Schließlich deutet
Nusfin an biefer Stelle darauf hin, daß die drei weiblichen Böfetwichter Lady Macbeth,
Regan und Goneril, die Shakeſpeare als Hauptcharaktere geſchildert, als fürchterliche
Ausnahmen allen Naturgefegen ind Geficht ſchlagen und in dem gleichen Maße verderblich
wirken, in dem fie ihre weibliche Beſtimmung, das Gute zu wollen, verraten haben.
„So lautet mit vollfter Klarheit Shakeſpeares Zeugenichaft über den Charakter
der Frauen und über ihre Stellung im menſchlichen Leben,” fchreibt Nusfin. „Er
ftelt fie dar als unfehlbar treue und weile Berater — unbeftechlich, gerechte und
reine Vorbilder —, ſieis ftark genug zu läutern, ſelbſt wenn fie nicht retten können.“
UndYer begnügt jich nicht mit Shalefpeares Zeugenfchaft. Unter den Geringeren der
Großen feines eignen Vaterlandes, die in dieſem Punkte feiner Meinung waren, nennt
er Walter Scott; dann führt er Dantes Beifpiel an, der feine unfterbliche Dichtung
zum Preiſe der toten Geliebten geſchrieben, von der er feine Seele behütet glaubte.
Er citiert das Lied eines —— Sängers des dreizehnten Jahrhunderts, der davon
ſingt, wie er im gehorſamen Dienſte der geliebten Frau vom wilden Tier zum reinen
Menſchen ward; er deutet darauf hin, va felbft in Griechenland, wo der unmittelbare
Einfluß der Frauen ein fo befchränfter gewefen, dennoch in den Dichtungen die weib-
lichen Charaktere, wie Andromache, Penelope, Gaffandra, Antigone, Iphigenia und
Alceftis, den Typus ſchönſter Menichlichkeit verkörpern; daß die Hgypter, das weiſeſte
Volt des Altertums, dem Geift der Weisheit weibliche Geftalt verliehen, und daß
diefe Göttin der Weisheit von den Griechen übernommen wurde, die im gehorfamen
Glauben an Athene die größten Geifteswerke fchufen, die die Welt bis auf ben
heutigen Tag befigt.
Die alltägliche Meinung ift nun aber, daß die Frau nicht führen, ja, daß fie
nicht einmal felbftändig denken fol, jagt Ruskin und frägt dann: „Täufchen fih num
alle diefe Großen, oder täufchen wir und? Haben Shafejpeare und Aeſchylus, Dante
und Homer nur Puppen für uns aufgepugt? Oder, ſchlimmer noch, haben fie und
unnatürliche Vifionen vorgeführt, deren Verwirklichung, wenn fie überhaupt möglich
wäre, Anarchie in jeden Haushalt und Verderben allen unfern Gefühlen brächte?
Wenn ihr das felbft glauben könnt, jo müßt ihr dennoch die Zeugenichaft der That:
jachen annehmen, die das menfchliche Herz ablegt.” Und er führt aus, daß es der
natürliche Impuls jedes edlen Zünglings ift, dem Mädchen, das er liebt, blind zu
gehorshen, daß da, wo treuer Glaube, reine Liebe im Herzen des Mannes fehlen,
aunifche Leidenfchaft und finnliche Begierde hertſchen müfjen. Liegt doch in dem bes
lüdenden Gehorfam, den der Jüngling ber reinen Geliebten feiner Jugend leiftet,
Fine befte Kraft und zugleich die fiherfte Gewähr der Beftändigfeit in dem, was er
Beftes erfirebt. Niemand, meint Ruskin, wird das in Frage ftellen; wie aber mit
der weit verbreiteten Anficht, daß die Rollen in der Ehe vertaujcht werden müffen
und die Frau — Gehorſam leiſten fol? „Seht ihr nicht,” antwortet Ruskin,
„wie unedel diefe Auffaffung ift und zugleich wie unvernünftig? Fühlt ihr nicht, daß die
Schließung einer echten Ehe nur den Übergang bedeutet, der den worübergehenden Dienft
zu einem unermüdlichen und die wandelbare Liebe zu einer unvergänglichen ftempelt?”
Jedoch nur die Führerpfliht nimmt Ruskin für die Frau in Anſpruch; das
Beſtimmungsrecht fol und muß in der Hand des thatkräftigeren Mannes bleiben.
Gerade darum aber ift e8 fo unendlich wichtig, daß die Frau zu führen wiſſe, und
fie wird es dann nur willen, wenn Erziehung ihr die Welt großer Gedanken und
Sans, unſer Bohtor.
Max Hoffmann.
Nagbrud verboten.
En ungeheurer Lärm mar in der Rlaffe.
Man erwartete zwar jeden Augenblid die Anz
kunft des Profeſſors Hedemann; aber die
meiften dieſer boffnungsvollen Dbertertianer
hatten ihre Pläge verlafien und ftanden in
Gruppen an ben enftern oder neben ben
Tiſchen. Der Heine Hinze ſchlug in regel⸗
mäßigem Takt mit feinem Cäfar auf ben
Tiſch, daß es jebesmal einen Knall wie ein
Piſtolenſchuß gab, und ber dicke Beiersborff
beluftigte fih damit, Papierrollen vermittelft
einer Gummiſchnur gegen die hinten hängende
Landkarte zu hießen. Die Eifrigeren hatten
die Köpfe zufammengeftedt unb gingen noch
ſchnell und unter Benugung einer Heinen
ſchmutzigen Klatſche“ das heute zur Übers
fegung herankommende Stüd durd, während
der Primus im Bewußtfein guter häuslicher
Präparation im Klaſſenbuch ruhig einige
Linien zog. Außer ihm war noch ein Schüler
da, der ſich nicht an dem lauten Gefpräch und
dem Epettatel beteiligte, ein neu Angefommener,
der erft geftern beim Direltor angemelbet war
und heut zum erftenmal biefe Rlafje betreten
hatte. Der Rod mit den langen Schößen,
die Müte, die er ftatt des allgemein ge=
tragenen Hutes aufgehabt hatte, und feine
friſchen Wangen verrieten, daß er fein Groß:
ftabtfind war, die Schüchternheit in feiner
Haltung ließ durhbliden, daß er aus Heinen
Verhältnifien ftammte. Sein übermäßig großer
Kopf, den er wohl wegen feiner Schwere
etwas nad) vorn geneigt hielt, Hatte ihm von
Seiten des witzigen Löwenberg fofort den Beis
namen „Bouillonfopf” eingetragen, was ein
Gelächter verurfachte, von dem bärbeißigen
Jaſchkat aber mit der Bemerkung „wird wohl
mehr Wafler als Bouillon drin fein” zurüd-
gewieſen wurde.
Plotzlich ſtürzte Beißert, der an ber kaum
merklich geöffneten Thür Wache gehalten hatte,
auf feinen Pla; feinem Beifpiel folgten alle
anderen, und in ber Öffnung erſchien die kurze
Geftalt Profefjor Hedemanns. Seine Blide
glitten befriedigt über bie ruhig daſtehenden
Jünglinge, und nachdem einer die Thür hinter
ihm geſchloſſen und ein anderer ihm Hut und
Mantel abgenommen, trat er würdevoll bis
zum Katheder. Der Primus ſprach mit uns
glaublicher Geſchwindigleit ein Gebet, und mit
dem feftftehenden „Nun!“ — woher der Pros
feffor den Spignamen „Nunne” hatte —
follte die Stunde beginnen. Der Primus
aber war ftehen geblieben und meldete: „Herr
Profeſſor, es ift ein Neuer ba!”
Der Oberlehrer rüdte feine goldene Brille
zurecht, mufterte die Schüler, und feine Blide
blieben an dem aufgeftandenen Neuling
haften.
„Wie heißen Sie?”
\ „Schmidtden.”
Wo waren Sie auf dem Gymnafium?”
Schmidtchen nannte eine Meine Etabt
Oberſchleſiens, und der Profeffor fuhr fort:
„Nun zeigen Cie mal, was Sie können.
ie haben doch Cäfar gelefen?”
„Ja, Herr Profeſſor.“
„Alſo funftes Buch,
Kapitel!”
Er hörte eine Weile zu und fagte dann
mißmutig: „Sie lönnen ja fo gut wie gar
nichts! Sie find gar nicht reif für unfere
Kaffe. Haben Sie Ihr Zeugnis da?”
Schmidtchen fuchte in feiner Mappe und
brachte das Gewünfchte hervor.
„Ja,“ bemerkte der Profeſſor, nachdem er
es durchgelefen, „wir müſſen Sie bier be=
halten, Sie waren ja dort ſchon in Obertertia.
19
ſechsunddreißigſtes
Sand, unfer Doktor.
Haft nad} allen Zeiten, ein Iautes Rufen und
Schreien, ein Donnern mwälzte fih näher und
näher, und inmitten bes mwüften Braufens und
Raſens in wilder Jagd ein Pferd mit einem
mütend fortgerifjenen Bierwagen. Der Kutſcher
war bereit3 in weitem Bogen vom Bod ge:
flogen, und das ſich frei fühlende Tier fprengte
in ſchäumender Luft gerade vorwärts, ben
Kopf mit den weit geöffneten Nüftern hoch—
baltend und das Pflafter mit den Eifen
ſchlagend, daß die Funken fprühten. Ein
Strom Rettung und Hilfe ſuchender Menfchen
mogte ringsum, ſchon mar ein Schugmann,
der nad) den Zügeln greifen wollte, zur Seite
getaumelt, ein Laternenpfahl vom Anprall des
fplitternden Wagens mitten durchgefnidt, und
immer weiter ging das wahnfinnige Rennen.
Nun lenkte das Pferd auf den Bürgerfteig,
gerade auf den Heinen Profefjor Hedemann
zu. Der ftand wie hypnotiſiert, feine Hefte
waren zur Erbe gefallen, bie beiden Arme
hatte er nad) vorn geftredt, als fönne er das
Tier aufhalten, und fo, ein Bild der Schwäche
und des Jammers, mußte er im nächſten
Augenblid überrannt und zerfchmettert fein.
Wer ſchießt da windſchnell mit einem
ſchrillen Schrei über den Etraßendamm, dem
Pferde gerade entgegen? Das ift ja ber ftille
Knabe, der ſchon feit einer Stunde fo betrübt
drüben an der Straßenede geftanden hat!
Seine Mappe bat er von fich gefchleubert,
daß die Bücher hinausgewirbelt find, die
Fäufte feit zufammengeballt, die Beine unglaub:
lich ſchnell Hinter fich werfend, das dide Geficht
dunkelrot, fo ftürmt er mit flatterndem Haar
heran. Dicht vor dem Profefjor wirft er ſich
gegen das Tier und faßt es feſt beim Zügel,
daß es fih hoch aufbäumt und den Mutigen
wie einen Ball mit emporreißt, dann giebt es
einen Stoß, ein Praffeln und Knirfhen, und
Roß, Wagen und Menſch brechen mit einem
furchtbaren Krach zu einem Klumpen zufammen.
Bon allen Seiten eilte man herbei. Der
faft geiftesabmwefende Profefjor fammelte ſich
wieder und trat zu dem dichten Menfchenhaufen,
der ſich gebilbet hatte. Das Pferd hatte beibe
Vorderbeine gebrochen und lag leife ftöhnend
da, unter feinem Kopf zog man ben Körper
Schmidtchens hervor. Er hatte den tödlichen
Schlag des einen Hufe empfangen und war
2493
lautlos niebergefallen. in Polizeileutnant
manbte fih zu dem Profeſſor. „Der junge
Menſch da hat Ihnen das Leben gerettet,“
fagte er ernſt, „leider hat er das feinige da⸗
bei gelafjen!”
Profeſſor Hedemann kam bleich und zitternd
heran und blidte ſchaudernd nieder. Ja, er
hatte doch Gehirn gehabt, der arme, dumme
Junge! Sehr viel fogar! Der alte Mann
fah mit Grauen, daß er zu Unrecht daran ges
zweifelt hatte. Da quoll es aus der Haffen-
den Wunde und färbte die Steine mit feiner
grauen, blutigen Maſſe!
. .
.
Nah drei Tagen war das Begräbnis.
Der Gefangdor, in dem Schmibthen nun
nicht mehr mitbrummen konnte, follte am
Grabe fingen; vorher aber verfammelten fi)
die Oberllafjen und die Obertertia, um im
Beifein des ganzen Lehrerfollegiums eine er-
greifende Rede des Direltors anzuhören. In
ſchönen, Haffifhen Worten wies er auf den
Heldenmut der Alten bin, wie fie das Leben
gering geachtet hätten im Dienft des Vater-
landes und einer Idee. „Die tieffinnigften
Dichter und Philofophen,” ſchloß er feierlich,
„haben es uns verfündet, daß das Leben nicht
der Güter höchftes fei, und es hat immer
Menſchen gegeben, die nad) diefem Ausſpruch
als leuchtende Helden der That handelten.
Zu ihnen gehört auch der, den wir heut zur
Ruhe bringen. Er ift als ein Sieger dahin-
gegangen und wird als ein folder in unferer
Erinnerung bleiben, ung zum Gebädhtnis, euch
zur Naceiferung!”
Ganz im Hintergrunde des Saals wohnte
der Feier ein in dürftiges Schwarz gefleidetes
Ehepaar bei. Der Mann mit einer merk—
würdig vorfpringenden Stim, der feinen Hut
in den harten Arbeithänden hielt, fah mit
glänzenden Augen nad) dem Redner; das Ge-
fiht der von Schluchzen erjhütterten Frau
war beftändig hinter dem meißen Taſchentuch
verborgen. Als aber der Direktor die Philos
fophen erwähnte, beugte fih der Mann zu der
ſtill weinenden Frau, und mährend ihm die
plöglih hervorbrechenden Thränen über bie
Wangen liefen, flüfterte er ſtolz: „Siehft du,
Mutter, ich hab's doch immer gejagt, unfer
Doktor hatte einen philofophifchen Kopf.“
—
Drei Monate Kündigungsfrift.
Die Gelegenheit fand ſich ohne ihr Zuthun.
Am andern Morgen wiederholte das junge
Mädchen feine Kündigung. Sie brauchte fait
biefelben beſcheidenen Worte wie vor einem
Vierteljahr, aber in ihren Augen lag bereits
der Ausdrud eines getifien Gekränktſeins, und
Frau Oberamtmann legte in ihren Ton jene
Geringfehägung, die gerade in Frauenmund
zu einer fo befonbers ſchneidenden Waffe
wird.
„Alſo zum 1. November. Es liegt uns
natürlich fern, Ihnen irgend etwas in ben
Weg legen zu tollen. Ich weiß nur nicht,
wie Eie es fo lange bei uns ertragen haben.
Drei Jahre. Böllig verlorene Zeit!”
Um den blafien Mund der Kindergärtnerin
zudte es. „Das till ich nicht annehmen,
gnäbige Frau. Ich habe den Kindern das
Befte, was ich hatte, gegeben und bafür fo
viel Liebe von ihnen empfangen —“ Die
zurnende Gebieterin unterbrach fie.
„Na, die ſcheint aber auch reichlich in ber
Abnahme begriffen zu fein, feit — feit —“
Sie ſchludte, es fiel ihr im Augenblid
nichts ein, was fie dem jungen Mäbchen hätte
vorhalten können. Aber etwas andre kam
ihr mit großer Deutlickeit in den Einn: wies
viel Ärger fie wieder mit einer „Neuen“ haben
würde. Und bei biefer Erkenntnis preßte fie
bie Lippen zuſammen und verließ das Zimmer.
Die erften Tage nah der Kündigung
gingen in ftiller Einförmigfeit dahin. Fräulein
Magda nahm ihre ganze Kraft zufammen.
Sie erteilte den Unterriht mit peinlichfter
Genauigkeit und erfand zum Amüfement ber
Kinder neue Epiele. Und abends, wenn fie
fchliefen, ftand fie lange an ihren Betten.
Ihr war das Herz fo ſchwer, recht ſchwer.
Sie dachte an das Scheiden, wie an einen
noch nicht zu faſſenden, grenzenlofen Echmerz.
„Wie fol ich's tragen? Wie foll ich's über-
mwinden?” Und fie drüdte das Geſicht in das
weiße Kiffen der Heinen Eli und weinte.
Am vierten Tage hatte Kurt Feine Schul-
arbeiten gemacht, und als Magda ihn deshalb
zur Rebe ftellte, gab er ungezogene Antworten.
Sie tabelte ihn, aber ihre Stimme ſchwankte.
Es war merfwürbig, bei der Heinften Erregung
hatte fie jegt immer ein eigentümlich würgendes
Gefühl im Halfe und ein faft unerträglices
295
Herzllopfen. Sie mochte nicht zeigen, wie
elend ihr zu Mut war und ging auf ein
paar Minuten hinaus. Kurt fühlte fih als
Sieger.
Als die Kindergärtnerin fih wieder dem
Schulzimmer näherte, hörte fie, wie Nora fagte:
„Du follteft dich ſchämen, Kurt, Fräulein
Magda fah aus, als ob fie fterben wollte.“
Und dazu die Antivort: „Unfinn, die verftellt
fh bloß. Mama hat geftern zur Tante
Wilmsdorf gefagt, fie hat ſich die gange Zeit
über verftellt. Und wenn fie fortgeht” — er
ſchnippte mit den Fingern — „id made mir
nit fo viel daraus.”
Das junge Mädchen trat ein. Sie ging
ans Fenfter und fchaute wie geiſtesabweſend
hinaus.
„Nimm bein Lefebuch, Kurt.”
Sie wandte fi Iangfam zurüd. Da hatte
ihr der Heine Burſche die Zunge ausgeftredt.
Und da war es geſchehen, noch ehe fie ſich
deſſen ſelbſt bewußt war.
Kurt ſtieß ein entſetzliches Geheul aus und
geberdete ſich wie wahnſinnig. Eine Ohrfeige
ihm — ihm, dem verwöhnten Einzigen von
Oberamtmanns, der in abſehbarer Zeit ein
Reitpferd und einen Hauslehrer bekommen
ſollte. Es war empörend, es war haarſträubend!
Als Magda ſpäter zu Tiſch kam, hatte
Kurt bereits ſeinen Platz, der ſonſt ihr zur
Linklen war, neben dem Stuhl der Mutter
erhalten. Ihr Gruß blieb allerſeits unerwidert
— man ignorierte fie vollftändig. Nach dem
Eſſen minkte fie der Hausherr in fein
Zimmer. r
„Mein Fräulein, jegt wird die Sache denn
doch aud mir etwas zu ftart. Sch habe viel
von Ihnen gehalten, fehr viel. Aber daß Sie
im ftande find, Ihre Wut an einem un»
ſchuldigen Kinde auszulafien, bringt mir eine
andere Meinung von Ihnen bei. Der Unter-
richt findet von jegt ab im Zimmer meiner
Frau ftatt.”
Magda wollte etwas erwidern, aber fie
fonnte ſich nicht auf den Hergang befinnen.
Ihr mar, als ob alle Gebanfen aus ihrem
Him herausgeriſſen wären. Sie bog ben
Kopf ein wenig hintenüber, ihr fonft fo
fompathifches Geficht hatte einen ftarren Aus—
drud.
Drei Monate Künbigungsfrift.
Naturgefchichte zugeſchidt befommen. Yamos.
Darf ich es Ihnen zur Einfiht fenden?”
Eie wechſelten noch ein paar freundliche
Worte miteinander, reichten fi die Hand und
gingen auseinander.
Eli pflüdte fi die erfehnten Aftern, und
Magda dachte dabei zum hunderiftenmal, daß
es nichts Sußeres, Wonnigeres gebe, als dieſes
Kind, das fie nun bald verlaſſen müßte.
Am andern Tag ſaß Elli ganz ftill in
ihrer Epielede, und als bie andern Kindern
fich ihr näherten, fing fie heftig an zu weinen,
kam zu Magda gelaufen und legte den Kopf
auf ihren Schoß.
„Um Gotteswillen, gnäbige Frau, das
Kind ift krank.“
Die Yrau Oberamtmann war mit brei
Schritten bei der Gruppe. Ya natürlich. Das
Köpfchen glühte, und bie Heinen Hände zudten.
So refolut die Dame fonft erſchien, mas
Krankheiten anbetraf, war fie fehr ängſtlich.
Ein Hüften bei den Kindern war für fie
das Zeichen einer ausgeſprochenen Lungen:
entzündung, und ein heißer Kopf — mas
lonnte fi) da nicht alles entwideln! B
Überdies fchienen die Symptome diesmal
wirllich ernfter Natur zu fein.
„Run möchte ich nur willen, wo das arme
Kind fih das wieder geholt hat? Sie find
doch nicht etwa geftern mit ihr noch draußen
getvefen?”
„Das wohl, gnädige Frau, aber es war
ganz ftil im Garten und recht warm.”
Eli hob für einen Moment das Köpfchen
in bie Höhe. „Und wir trafen aud ben
guten Onfel Stern. Der bat ein Heines,
weißes Hüundchen, das möchte ich haben.“
Die Frau Oberamtmann war außer fid.
Da war die Sache ja erwieſen: die größefte
Fahrläffigkeit, die es je auf Gottes Erdboden
gegeben. Die Perfon trifft fih mit dem
Lehrer, und mein Kind zahlt dafür fein
Leben.
Sie ſprach nicht mehr, fie ſchrie förmlich.
Magda zitterte fo heftig, daß es einen
Stein hätte erbarmen fönnen. Sie fuchte zu
erflären. Es war umfonft. Die Mutter hatte
ihr das Kind bereitd vom Arm geriffen und
mar im Echlafjimmer verſchwunden. —
297
Landarztes von dem Gutshof. Die Frau
Dberamtmann blidte ihm mit fehr gemifchten
Empfindungen nad. Alſo die Mafern! Na,
die mußten ja alle Kinder durchmachen, das
war ſchließlich nicht ſchlimm. Ein Seufzer
unfäglicher Erleichterung hob ihre Bruft.
Aber, daß eine Erfältung durchaus nicht
anzunehmen fei, machte fie ein wenig unruhig.
Schließlich mußte man Fräulein Magda ein
Wort der Erklärung fagen.
Doch da fiel ihr noch zur rechten Zeit
ein, daß ihr Mann einmal für das junge
Mädchen Partei ergriffen — und Kurtchens
Obrfeige — und die teure Zeitungsannonce
wegen der „Neuen” — und ber Lehrer
Stern.
Da machte das nörgelnde Gefühl des
Unbehagen der gewohnten Erbitterung Platz.
Es klopfte.
Die Frau Oberamtmann öffnete ein wenig
und ſah unmutig durch die Spalte.
„Was waunſchen Sie,” fragte fie das
junge Mädchen kurz, das mit ſchlaffherunter⸗
hängenden Armen und verweintem Gefidht vor
ihr ftand.
„IH möchte — ich möchte gern wiſſen,
mas Elli fehlt und ob ich Ihnen nicht bei der
Pflege helfen dürfte!”
Der Dame mochte es in den Einn fommen,
wie Magda vor einem Jahr viele Nächte
bindurh am Kranlenbetichen der Kleinen
gewacht und welches Lob fie von Dr. Holz
geerntet.
Sie bilvet ſich wohl gar ein, fie kann's
beffer als ich, dachte fie, und ihre Stimme
wurde ſchroff und abmeifend.
„Ich danke Ihnen, ich pflege mein Kind
ſelbſt. Eli werde ich Ihnen überhaupt nicht
mehr übergeben.”
Ohne einen Laut der Erwiderung ver-
ſchwand das junge Mädchen im dunkeln
Korridor.
Sie brachte die Nacht angelleivet auf dem
Sofa zu.
Am andern Morgen fah fie aus wie eine
Todkranke. Es hatte fie bis ins Herz ge
troffen. — — — Die legten Wochen gingen
ohne meiteren Zwiſchenfall vorüber. „Sie
lann einen mit ihrem ſtarren Geficht verrüdt
Zwei Stunden fpäter fuhr der Wagen des machen,“ fagte der lebensfrohe Hausherr und
Die Frauen in Birma. 299
Nehmen Sie,” fuhr er, nachdem feine kurze bulldog-pipe angezündet war, fort,
„nehmen Sie beiſpielsweiſe einmal die Frauenfrage. Wir befinden uns auf dem Wege
"dahin, wo ſchon feit Jahrhunderten die Frauen in Birma ganz unangefochten leben!
Im Gebiet des birmanifchen Reiches — ſowohl in der britiſchen wie in ber fran-
zöfifchen Einflußfphäre — befigen die Frauen die unbebingtefte perjönliche Freiheit,
die in Zweifel zu ziehen ben Männern überhaupt gar nicht einfält, Uralte religidfe
Gebräuche und Landeögefege ſichern der Frau volllommene Gleichberechtigung mit dem
Mann, auch in ölonomifcher Beziehung. Jedes unverheiratete Mädchen und jede ver:
heiratete Frau ift felbfländige Verwalterin ihres eigenen Vermögens ober Beſitzes.
Keiner der Ehegatten ‚hat das Recht, den andern zu bevormunden. Die jungen
Mädchen heiraten zwiſchen dem 18. und 22. Jahre, felten fpäter, aber auch nicht
früher. Kinderehen, wie in Indien, giebt es nicht in Birma. In Folge ihrer
Selbfländigteit dürfen fie ganz nach Belieben den Mann ihrer Wahl heiraten. Die
Erziehung der Kinder ift ebenfalls von ganz eigentümlicher Art in Birma: nachdem
die Knaben und Mädchen laufen können, bleiben fie fich felbft überlaflen und können
ſich in allen Lebenslagen früh helfen, ohne dazu ‚erzogen‘ zu werben... .
Vielleicht könnten Sie daraus fchließen, daß die Konſequenz diefer Nichterziehung
eine anmutige Verdummung und Verwilberung wäre. Keineswegs. Wenn die Kinder
heranwachſen, lernen fie arbeiten, und bie nötigen Kenntniffe werden ihnen in ben
Schulen beigebracht. Obwohl manche Gegenden des Landes dicht bevölfert find, hat
der Kampf ums Dafein dort nicht bie fcharfen Formen mie bei und angenommen.
Das beruht zum Teil auf der Freiheit und Gleichberechtigung der Frauen, wodurch
der Verkehr auf eine breitere Grundlage geftellt ift, die die Konkurrenzfurcht zwiſchen
Männern und Frauen nicht auffommen läßt.
Auch in Bezug auf bie Frauenbildung war ich fehr durch die Thatfachen über:
raſcht, denn nicht nur bie Stadtbewohnerinnen, fondern viele Landmädchen und
Bäuerinnen können lefen, ſchreiben und rechnen, außer den häuslichen Arbeiten, in
denen fie fehr geihidt find. Praktiſche Erwerböthätigfeit finden fie vor allem als
Verkauferinnen in den großen öffentlichen Bazaren von Mandalay und Rangoon; fie
zeigen fih in der Warenkunde hervorragend tüchtig. Immer gleichmäßig höflich und
aufmerkfam, felbft wenn man nichts kauft, plaudern und ſcherzen fie mit jedem Vorüber:
jehenden, ohne ihre Intereſſen zu vernadläffigen. Sagt man ihnen 3. 8. irgend eine
ttigteit, jo haben fie gar nichts dagegen einzuwenden — erhöhen aber dafür den
Preis der Waare um einige Rupeeen. Beim Einkaufen von Seidentüchern paffierte
mir das felbft einmal, als ich der Verkäuferin mein „Wohlgefallen“ an ihrem ſchnee⸗
meißen Kleid und den bunten Blumen im Haar, die fie anmutig kleideten, aus:
geiprochen hatte.
Natüstice Anmut ift überhaupt eine hervorragende Eigenfchaft der Birmanerin,
von der ein britifcher Staatsbeamter (Henry Fielding) fhreibt: „fie ift weder eine
Helena, noch eine Afpafia, aber noch weniger eine Amazone.“ Fielding bat recht.
Ich felbft Habe viele Europäer, Chinejen und Japaner bort im Lande kennen gelernt,
die ſich mit einheimifchen Frauen verheiratet haben, fogar Hindus — die fo fehnfüchtig
an ihrer Heimat hängen — verzichten oft auf die Rüdfehr, wenn fie eine Birmanerin
zur Frau haben.
Sehr vernünftig und frei von Prüderie find die Anfchauungen der Birmanerinnen
in Bezug auf die Ehe. Wie ich Ihnen ſchon fagte, Heiraten die jungen Mädchen
wann und wen fie tollen. Dabei find fie durchaus nicht profaifch veranlagt, ſondern
wiffen die Präliminarien zur Verlobung mit einem Schimmer von Romantik zu
umgeben. Eine alte Landesfitte, die „der Zeitpunkt des Hofmachens“ Heißt, bringt
die Liebenden zufammen. Abends, wenn der fühlende Sudwind (der vom Meere
kommt) die Hige des Tages vergeflen macht, während der Mond jeden Zweig und
jebes Blatt mit einem filbernen Schimmer überftrahlt, beginnt das Spiel, indem
reizende Balkonſcenen improvifiert werden! Die Mädchen figen, hinter dichtem Laub
möglichft verfledt, auf ihrer drei biß vier Fuß über dem Boden gebauten Heinen Holz
Die neue kunftleriſche Bewegung. 808
ift, konform fein dürfte — wie daher die ganze materielle Bafis, auf der wir leben,
eine andre geworben ift, fo müffen fchließlich uch alle idealen Lebensfaltoren davon
berüßrt werben, fo muß enblih auch die Kunit, als Gradmeſſer ber jeweiligen
kulturellen Verhältniffe, diefe Ummandlung zum unmittelbaren Ausdrud bringen.
Mit andern Worten: Es ift doch felbfiverftändlih, daß man in der Zeit der
Gothik anders baute, anders malte, dichtete und komponierte als im Rofofozeitalter.
Zur Zeit des eifengepanzerten Nittertumd mußte die Zimmereinrichtung, die Raum-
verteilung im Haufe eine andre fein als etwa zur Zeit der Allongeperüden und ber
feidenen Strümpfe. So jei denn bier der Leidenſchaft mancher Menichen, das öde
Einerlei und Untünftleriiche der Wohnungseinrichtungen ber Iegten fünfzig Jahre mit
Möbeln aus der Renaiffance oder Gothit zu unterbrecyen und zu beleben, als einer
hochſt thörichten gedacht. Es ift ja nicht zu leugnen, daß dieſe Paffion jehr häufig
mit einer Liebe für Kunft und Fünftleriihen Schmud des Haufes zufammenhängt, zu
gleicher Zeit aber bekundet fie auch ein Unverftänbnis dafür und Verfländnislofigfeit
gegendber den fünftlerifchen Forderungen ber eigenen Zeit. Es fei geftattet, Bier einige
utoritäten auf diefem Gebiete zu citieren. Cornelius Gurlitt fchrieb im Jahre 1887
ein lefenswerted Büchlein: „Im Bürgerhaus“. Dort verfucht er gegen die Leidenſchaft
der alten Stileinrichtungen zu fämpfen. „Der Stil“, jo meint er, „Ihmüdt nicht da
Haus, fobald und berielbe fremd ift. Der Künftler kann uns noch fein wohnliches
Haus fehaffen, fondern wir felber müflen das thun. Es gilt nicht eine ideale, fondern
eine eigene Einrichtung zu ſchaffen, nicht Schönheit an fi, jondern Erfüllung des
Zwedes gilt es zu erzeugen. Scaffe dir jelbft ein eigenes, deinem Wefen entiprechendes
Neft, und ed wird dir gefallen — fchaffe es dir in Durchbildung deiner Anfichten
über fhön und Häßlich, und es wird ficher ſchön werden, wenn in dir die edlen Züge
des Menfchenherzend obmalten. Nicht die filiflifchen Formen machen ein Haus zum
Eigenwefen, dad fih von der Mafie der Mittelmäßigkeit wohlthuend unterfcheidet,
fondern der Gedanfeninhalt, der unbemerfbar und doch beflimmend in den Dingen
waltet. Nicht die Raumgeftaltung, nicht die Pracht machen ein Zimmer ſchön, fondern
feine Beziehung zu unferm Leben”.
Sollen wir nun flilvoll fein im Geifte früßerer Jahrhunderte? Sollen wir eine
Kunſt der Selbftentäußerung fortfegen, deren Ziel doch nie ganz von und erreicht
werben ann? Wer bad Alte befigt, wen es in irgend einer Form überfommen ift,
der freue fich feines Neichtums — es bat dann einen Zufammenhang mit ihm —,
wer es ſich aber neu ſchaffen will, der ift wie einer, der ſich nachträglich Ahnenbilder
malen läßt. Nicht geſchichtlich, ſondern fachlich flilvol fol man ſchaffen. Stil ift
gleichbedeutend mit innerer Zwedmäßigkeit, ſtilvoll ift, mas dem Weſen eines Werkes
in feiner ganzen Anlage und Ausbildung kunſileriſch entipricht. Erſte Forderung des
Stils ift innere Wahrheit. Der echte Künftler hat dabei den Blid nad vorwärts
und nicht auf alte Formen zu richten. Alles Alte ift ihm nur Unterlage, Vorarbeit.
Er ift erfült vom Geift feiner Zeit und will diefen durch fein Werk zum Ausdrud
bringen. Immer wieder wandelt fi die Zeit und mit ihr der ihr eigene Ausdruck,
die Kunſt. Nur ftilftehende Zeiten haben eine ſtillſtehende Kunft. So lange die
Herzen der Völker fchlagen, geht der Weg vorwärts. Es giebt fein Verweilen auf
fonnenbeglänzter Höhe, der Künftler muß weiter, fein Wert muß aus dem Rahmen
des Alten hinaus, e8 muß modern werden, muß bie alten Gejege der Äſihetik
durchbrechen.
Und weiter prophezeit Gurlitt: „Mir will ed fcheinen, als werde Hinter dem,
mas fih als neue Kunft im Gewerbe jegt zeigt, bald das kommen, was ich einen
eigenartigen Stil nennen möchte, nämlich, daß man Käufer und Möbel fchaftt, wie
man Bildniffe malt, in Anfehung der Perſon, nach dem Wefen des Beftellers.“
Auch Alfred Lichtwark, der geniale Leiter der Semburger Kunſthalle, urteilt in
diefer Sache genau fo, wenn er fagt, daß man ſich feinen Lehnftuhl anmeſſen laſſen
folle wie einen Rod. —
Zange ſchon Hat man von einer mobernen Kunſt gefprochen und — was zunächft
die Bildermalerei anbelangt — fie fo verflanden, daß von Malern, die gerade in
Die neue kunſtleriſche Bewegung. 805
des litterarifch Geiftreichen forderte, die Gelehrten dem Künftler den Inhalt feiner.
Bilder vorſchrieben — ſah man in ihm nichts weiter ald einen Handwerker, um fo
mehr, als durch Fleiß, bei einigem Geſchich, die Technik, das Handwerkliche der Kunft
zu erlernen war. So ſank die Technik immer mehr und mehr zum Nebenfächlichen
herab. Daß die bildende Kunft auf der Schärfe de finnlichen und feelifchen Erfaſſens
berube, daß das vollendete Werk nur aus fünftlericher Anfchauung geboren werden
tönne, daß die reale künfileriſche Wahrheit über der inhaltlichen ve, begriff man
nicht. Der Wert eines Bildes wurde an der Richtigkeit der Wiedergabe des Stoffes
gemeflen. Goethe, der feine Kenner antiker Kunft, Hatte fein Empfinden für die
Schwächen der zeitgenöffifchen. Die armfeligften Erzeugniffe befriedigten ihn, wenn
fie nur irgend einen erhabenen Gedanken darzuftellen beabfichtigten. —
Ebenſo fonderbar berührt uns jegt die Anſicht Leifings, wenn er fagt, ein
Maler, der nad) irgend einer Beichreibung des englifchen Dichter? Thomfon z. B. eine
Landſchaft darftelle, habe mehr gethan als der, welcher fie vor der Natur felbft male.
Denn dieſer ſehe das Urbild vor fi, während jener feine Phantafie fo anftrengen
müffe, bis er es vor fi zu ſehen glaube.
Die Künftler fonnten der Macht gelehrter Logik nicht widerftehen. Sie fingen
an, dad Heil für ihr Schaffen einzig vom Studium ber Alten zu erwarten und
begannen, fih an der Schöpfung einer wiſſenſchaftlichen Äfthetik zu beteiligen.
Schon Raphael Meng hatte in feinem Buche „Ueber die Schönheit” feinen
Zeitgenofien den rechten Weg zeigen wollen. Und gerade er ift ein Beweis dafür,
daß ein Maler alle Regeln der Logik und Aſthetik innehaben kann, und doch fein
einziged Werk jchaffen, da den nur aus eigenem innerften künſtleriſchen Erfaſſen heraus:
geborenen Werfen eines ungelehrien Meifterd wie Dürer, Holbein, Rembrandt, Franz
Hals u. f. w. ebenbürtig iſt. Der Künftler kann nichts vom Gelehrten lernen. Er
muß unbewußt naiv fchaffen, er muß feine Individualität, feine Art, die Welt zu
ſehen, zur Geltung bringen.
Wenn Raffael in den Bildern feiner legten Schaffensperiode den pyramibalen
Aufbau bevorzugt, fo war das richtig für ihn. Allein es war nicht richtig, den
pyramidalen Aufbau zu einem Gefeß zu machen. Sept ift man wieder zur horizontalen
und vertifalen Linie zurüdgelehrt, und mwir freuen uns diefer Errungenfchaft. Früher
fagte man, eine Landſchaft müfle fo komponiert fein, daß alle Linien in einen Mittel:
punkt zufammenfließen — ein Bild müſſe mindeftens balanciert fein, d. h. dem ſtarken
Effelt auf einer Seite müſſe ein annähernd ſtarker auf der andern entiprechen, fonft
falle das Bild auseinander — heute denkt man nicht daran, fondern malt die Natur
jo, wie man fie ſieht. Gemwiß werden auf diefe Weife manche Abfurditäten auf die
Leinwand gebracht, und mande Bilder, die wir jet auf Kunftausftellungen einen
erften Plag einnehmen fehen, werden ficher fpäter in die Rumpellammer geworfen
oder werden doch nur in Zukunft ein biftorifches Intereſſe haben, wie wir ja auch
beute in den Mufeen manche biftorifch intereffanten Abfurditäten vergangener Zeiten
finden. — Dennoch ift der Weg, den fie einihlagen, die jungen Fraufetöpfe, der
richtige, und das Befunde, Echte wird feinen Platz behaupten.
Jeder Künftler, in feiner Eigenart, wurzelt feft in feiner Zeit; die Kunft ift eng
mit allen Zeiterfcheinungen verwachſen; jo mußte fie auch im zwanzigften Jahrhundert
die alten ererbten Gefege durchbrechen.
Unfere Zeit aber ift die Zeit der Entdedungen auf dem Gebiet der Natur:
wifienfchaften, der Chemie, der Phyſik, und fo ift es auch feine Zufälligkeit, daß die
Umwandlung in der Malerei von den Ericheinungen der Natur, vom Lichte ausging.
Daher der Pleinairismus, bie Freilichtmalerei, der Impreſſionismus. Und da das
Licht Farbe ift, wie ung das Prisma beweift, fo mußte die neue fünftlerifche Bewegung
eine beforativ-farbige fein. Nun haben ängftlihe Gemüter die Befürchtung aus—
geſprochen, daß wir in einigen Jahren überhaupt fein abjolutes reines Kunſtwerk
mehr zu fehen befommen werden, jondern nur noch dekorativ ftilifierte. Der Plakatftil,
meinte man, wird fich breit machen und alles andre verdrängen. Indes, dieſe Be:
fürchtung ift unbegründet: die neue fünftlerische Bewegung ift auch differenzierender
20
806 Die neue Tünftlerifche Bewegung.
‚Art. Sie weilt der reinen Kunft ihren Plag an, und der angewandten, der ftilifierenden
den ihren. Es liegt das in den materiellen Berbältniffen unfrer Seit bearünbet.
Unfre Wohnung bat in der That einen andern Charakter bekommen. Die Thätigfeit
der meilten Menjchen jpielt fich außerhalb des Hauſes ab, das öffentliche Leben ift
vielgeftaltiger geworden, auch die Frau tritt mehr in die Öffentlichkeit als früher.
Die Wohnung ift mehr und mehr zur Erholungsftätte geworden. Dadurch wird fie
ja einerfeit3 zur Aufnahme von Kunſtwerken geeigneter, nur muß auch andrerfeits das
Kunſtwerk, wenn es diejer feiner Beltimmung nachlommen fol, in andrer Form auf:
treten als bisher. Die abjoluten Kunſtwerke früherer Epochen waren zunächſt auch
nicht für die eigentlichen Wohnräume gedacht. Die Kunft ftand zuerft im Dienfte des
‚Rultus. Später, als ſich die profane Kunſt von der kirchlichen löfte, fand die erftere
eine Stätte in den Prunfjälen der Fürften, der Mächtigen und Reichen, von wo aus
fie in neuerer Zeit in die Mufeen, als die Sammelpläge abjoluter Kunſtwerke, über:
gegangen ift.
Diefe Mufeen find in der That der geeignetite Platz, um Kunftwerfe unter den
denkbar günftigften Bedingungen auf fich wirken zu laffen. An ihnen follte ein Staat
mebr und mehr arbeiten; er würde fich dadurch um die Förderung der Kunft größere
Berdienfte erwerben ald Durch das Arrangieren der alljährlichen großen Kunftaußftellungen,
die nur zu einer Verflachung und überaus fchädlichen Überprobuftion führen. Sie
richten in der That mehr Unheil an, als man denken follte. Die Künftler, die meinen,
für jede Sahresausftellung etwas Neues bringen zu müſſen, werfen flüchtige, ober:
flächliche Sachen auf den Markt. Sie ſuchen ſich gegenfeitig zu überbieten im Auf»
fallenwollen, und jo entiteht an allen Eden und Enden viel Lnerfreuliches und
Abftoßende2.
Auch der neuen Kunftbeftrebung bat dad alljährliche Ausſtellungsweſen weit mehr
geſchadet als genügt. Die junge Kunſt hätte, als fie faum erwacht war, noch Sabre
lang ftiller, ernfter Arbeit an fich jelbft bedurft, anftatt zur Unzeit fchon ans Tage:
licht gefördert zu werden. Auch die Preſſe machte, zum Zeil in beiter Abficht, viel zu
früh ein lärmendes Aufjehen von ihr. Dadurch ift viel Unheil angerichtet worden.
Einigen jtrebjamen Künftlern wurde, da man fie in den Himmel erhob, der Kopf
verdreht, fo daß fie fich fchon für fertige Meifter hielten, als fie doch eben erft anfingen
zu werden. Und auch das Publikum wurde verwirrt. Es nahm die Ateliererperimente
und jpielenden Berfuche für ernft. Der eine Teil kaufte Sachen, die eben nur als
Verſuchsobjekte Wert hatten, oder oberflächliche Skizzen und verbarb ſich an den teils
unfertigen, teil® unverftandenen Dingen den Gejchmad. Der andere und zivar bei
weitem größere Teil begriff überhaupt nicht, um was ed ſich handelte, aber er verhöhnte
und verlachte da3 Unbegriffene. Und fo ift e8 denn gefommen, daß man im allgemeinen
von ‚der neuen Kunft ald von einer Thorbeit fpricht, und fie belächelt oder fie als
eine Berirrung beklagt.
Aber wie nun einmal die Saden liegen, das Achjelzuden nüßt der Menge
nicht — es Tann die neue Kunft nicht aus der Welt jchaffen. Sie ift nun einmal
da, und man kann fich ihrem Einfluß auf das Leben jchließlich eben fo wenig entziehen
als dem der Elektrizität, der Dampfmaschine, des Telegraphen und des Telephons.
Das Schöne an der neuen Bewegung aber ift der Standpunft, daß e3 fich nicht
mehr lediglich um die Ausbildung einiger Zurußerjcheinungen wie die Bildermalerei,
die Skulptur es ift, handeln darf, jondern daß e3 in eriter Linie auf die Harmonifierung
des Ganzen ankommt. Wir dürfen nicht alle Fünftlerifchen Bedürfniffe in den reinen
Künften Eonzentrieren und alles Übrige vernachläffigen. E3 kommt darauf an, die
fünftlerifchen Güter, die bisher auf dem Wege der reinen Kunft erworben find, zu
erhalten und zu verwerten. Der fchroffe Gegenjag zwilchen dem hoben Stand ber
legteren und der rohen Geſchmackloſigkeit des ganzen Volkes ſoll ausgeglichen werden.
Um ſich von diefem graffierenden Ungefhmad ein klares Bild zu machen, ver:
gegenwärtige man fich einmal die fogenannte gute Stube der Durchfchnittämenfchen
oder die Schaufenfter unferer „billigen“ Galanteriewarenhandlungen — und dann
werfe man einen Blid in die Nationalmufeen von München, Nürnberg u. |. w, wo
Die höhere Mäpdgenfjule ald Unterbau für die Gymmaſialkurſe. 807
bie Gebrauchögegenftände aller Art aus frügeten, glüdlicheren Kunſtepochen aufbewahrt
find. Ober man gedenke des Standes des heutigen japanifchen Kunftgewerbes. Jeber
Stoff, in den die vornehme Japanerin ſich Heidet, ift ein Kunſtwerk, desgleichen jede
Kleinigleit, mit der fie ſich umgiebt, ihre Kaffetten, ihre Etuis, ihre Fächer und
Schmudgegenftände. Gewiß, wenn eine Japanerin unfere deutſchen Tapifierie:
fchaufenfter’ ſahe, fie würde mitunter erflaunen über die europäifche Unkultur. Gott
fei Dank, daß die neue Kunft auch dies Gebiet neu zu beleben beginnt, auf dem
unfere weibliche Jugend mit herangebildet werden kann zu einem wirklich aſthetiſchen
Empfinden, zu künftlerifchem Denken in allen Dingen, in der Wohnungsausftattung,
der Toilette, dem Schmud und endlich auch der abjoluten Kunft.
Das verfloffene Jahrhundert war ein wiſſenſchaftliches, das jeßt begonnene hat
den Anſchein, als wolle ed ein künftlerifches werden. „Glüd auf“ alſo der neuen
kunſtleriſchen Bewegung! Nicht aber kann diefelbe beſſer fördern, als ein Heranziehen
der gebildeten, tunftfinnigen Frauenwelt.
u .
Die höhere Wäshenfänle als Unterbau für die
Spmnafialhurfe.
Bon
Belene Tange.
Nacdrud verboten.
®- preußifhe Kultusminifterium hat fih in bezug auf die Gymnaſialbildung
der Mädchen für dad Syſtem der Gymnaſialkurſe entfchieden, das fi in
Berlin feit einer Reihe von Jahren gut bewährt hat. In Hannover und Breslau
find bereit3 auf fünf Klaſſen berechnete Gymnaſialkurſe den ftädtiichen höheren Mädchen-
ſchulen angegliedert. Man darf fie wohl als eine Art von Experiment anfehen, bad
die Regierung, nachdem ber rein private Verſuch in Berlin vorangegangen if, nuns
mehr anftellt, um, fo darf man doch wohl annehmen, darauf ein weiteres Vorgehen
zu gründen. Nach einem Erlaß des Kultusminiſters im Dezemberheft des „Central
blatts für die gefamte Unterrichtöverwaltung in Preußen” fcheint dies Experiment
nicht ganz glatt von Statten zu gehen. Der Erlaß lautet folgendermaßen:
Handhabung des Unterrichts in den Gymnaſiglkurſen für Mädchen.
S Berlin, den 6. November 1900.
Aus einem Berichte meines Fachreferenten über feinen Befuch der dortigen ſtädtiſchen Gymnafiat-
turfe für Dlädepen habe ich erfehen, daß es bis jet noch nicht gelungen ift, im Unterricht dieſer
erwachſenen Schülerinnen die auf ber Höheren Madchenſchule gewonnene und In der Aufnahmeprüfung
nachgewieſene Bildung mit ben Anforderungen ghmnaſialen Unterrichts in Einklang zu fegen, und fo
eine innere Verbindung beider Bildungsgänge berzuftellen. Ich muß dies als einen ſchwer wiegenden
Mangel bezeichnen. .
Neu find für die Schülerinnen der Gymnaſialkurſe die alten Sprachen und die Mathematil. In
diefen Disziplinen iſt felbftverftändlih von den Elementen auszugehen, wenn aud die unterridhtliche
Behandlung der geiftigen Entridelungäftufe der Schülerinnen angemeffen fein muß. Die anderen Fächer
find dem Gymnafium und der höheren Mädchenſchule gemeinfam. Hier wird bei Auswahl und Bemeffung
20*
Die höhere Mabdchenſchule ald Unterbau für die Gymnaſialkurſe. 309
das programmmäßig in einer Höheren Mädchenfchule zu erwerbende Wiffen befaßen,
fo barf ich wohl aus den hier gefammelten Erfahrungen allgemeine Schlüffe ziehen.
Von den ganz untauglichen Schülerinnen, wie fie einmal durd jede Schule Laufen,
ſehe ich dabei vollftändig ab.
Als Geſamireſultat ergiebt fig mir da folgendes: Das pofitive Wiffen war, mit
wenigen Ausnahmen, dürftig und zufammenhangslos. Fragte man, etwa in Litteratur,
nad den inneren Beziehungen der Erjcheinungen, jo durfte man, wenn überhaupt eine
Antwort am, ziemlich ficher auf eine Reminiszenz aus Kluge oder Werner Hahn
rechnen. In den neueren Sprachen, bie doch als Spezialität der höheren Mädchen:
ſchule gelten, herrfchte eine unglaubliche Unficherheit felbft in den Elementen. Ich bin
bei der Prüfung, um der Befangenheit der jungen Mädchen Rechnung zu tragen, nie
über das Penfum des achten Schuljahres hinausgegangen; von Ungeheuerlichkeiten,
von Formen wie „cettes“ und „bienne“, „eraigni“, „mouru* will ich gar nicht
eben, trotzdem fie nicht eben zu den feltenen Ausnahmen gehörten; ich will nur an=
führen, daß man bei der Mehrzahl der Schülerinnen den richtigen Gebrauch weder
der verbes pronominaux und der unregelmäßigen Verben, noch die Grundregeln bes
Subjonctif und ber Partizipien als einen ficheren Befig bezeichnen fonnte. Das
Rechenpenfum der Volksſchule, an dem die höhere Mädchenfchule fih neun Jahre lang
quält, figt fo wenig feft, daß nicht felten die einfachften Bruch: und Regeldetri—
rechnungen ungelöft bleiben. Ein wahrhaft fompromittierendes Zeugnis für bie
höhere Madchenſchule find aber die deutſchen Aufäge. Selten waren die Schülerinnen
imftande, ein einfaches Thema felbftändig zu disponieren; was fie zu Papier brachten,
war meift eine Reihe von zufälligen Affociationen, deren Inhalt und Zufammenhang
auf die Vorbilbung der Verfafferin allerlei nicht eben ermutigende Schlüffe zuließen.
Einer „gründlichen und ernften” Aufnahmeprüfung, wie fie der Erlaß den
Gymnafialkurfen zur Pflicht macht, d. h. einer Prüfung auf Grund des Lehrplan
der höheren Mädchenfchule vom 31. Mai 1894, wäre faft die Hälfte der von mir
in Seminar und Gymnafium aufgenommenen Schülerinnen nicht gewachſen geweſen.
Ich habe deshalb Tängft davon abgefehen, die Aufnahme von dem Beftand des Wiſſens
abhängig zu machen, fondern meine Prüfung nur darauf eingerichtet, mir ein Urteil
über die Intelligenz der jungen Mädchen zu bilden,
Die thatfächliche Beſchaffenheit des Unterbaus ftelt nun allerdings bie Lehrer
des erſten Gymnafialfurfus, die die organifche Angliederung bed neuen Penfums
vollziehen follen, vor eine fchwierige Aufgabe. Ich muß geftehen, daß ich bie
Unbefangenheit, mit der ein Gymnafiallehrer an bie geiftige Leiftungsfähigfeit der
Mädchen von vorn herein genau biefelben Anfprüche ftellt wie er fie an die Knaben
zu ſtellen gewohnt war, ſiets als ein fehr wertvolles Rüſtzeug zur Überwindung
diefer Schwierigkeiten angejehen habe. Denn immer fteigen die Leiftungen mit den
Anfprüchen. Der Unterricht der höheren Mädchenfchule trägt nun einmal in feiner
ganzen Haltung und feinen Anforderungen die Spuren der alten Doltrin von ber
geiftigen Inferiorität des Weibes. „Mäcen können nicht rechnen“, pflegte mir ber
Nechenlehrer einer ftäbtifchen höheren Mädchenfchule zu verfihern. Und in der That,
die von ihm unterrichteten „Mächen” konnten nicht rechnen, was fie nicht Hinderte,
nachher Tüchtiges in der Mathematik zu leiften.
„Mädchen Tönnen nicht rechnen!” In diefem Dogma liegt ein Grund für die
geringen Leiftungen der höheren Mädchenfchule. Aus feinen Konfequenzen aber ergiebt
Naqhdruc mit Duelenangabe erlaubt.
* Eine deutſche Geſellſchaft für ſoziale
Reform hat ſich unter ber Führung des Freiherrn
von Berlepfh am 6. Januar in Berlin ge
gründet. Die Geſellſchaft ift eine Landesſektion
der internationalen Bereinigung für gefeglichen
Arbeiterfchug, deren Gründung burd den Barifer
Internationalen Kongreß vom Juli 1900 voll:
zogen wurde. Die neugegrünbete Geſellſchaft will
die deutſchen Sozialreformer der verſchiedenſten
Richtungen und Berufe vereinigen zur Hebung ber
Zage ber Loßmarbeiter durch Gefehgebung des
Staates und Stärkung ber Selbſthilfe. Die Ge:
ſellſchaft wird vor allem für die Auögeftaltung
des Roalitiondrechtes eintreten.
In der Begründung des Statutenentwurfes
führte Profeffor Sombart: Breslau aus, daß der
Berein zweifellos ein politifcher fei, und man da⸗
ber um ber Bereindgefege in Preußen,
Bayern und Sachſen willen auf bie
namentlich auf dem Gebiete des Arbeiter:
ſchutzes fo wichtige Mitarbeit der Frauen
verzichten müffe. Diefer Punkt des Statuts
erregte eine heftige Debatte, in der alljeitig der
Wunſch geäußert wurde, (Frauen zulaflen zu künnen,
die aber doch ſchließlich zu einer Faffung des
Paragraphen führte, nad der die Frage der
Zulaffung von Frauen in ben Berein
offen bleibt. Der Bund beutfcher Frauenvereine
Hatte bereit® feinen Beitritt angemeldet, er hält
felbftverftänblich feine Meldung aufrecht.
Benn man bebenft, daß bie Thätigfeit fo
vieler beftebender Frauenvereine basfelbe Gebiet,
auf dem bie Geſellſchaft für ſoziale Reform arbeiten
wird, Bereit unangefochten lange behauptet,
fo ilfuftriert der Grund des Ausſchluſſes wieder
einmal ſchlagend die Nüdftänbigleit unſerer
Vereindgejeggebung. Wenn nur bie neue Gefell:
ſchaft, die im ihr Programm den Ausbau des
Noalitionsrechts aufgenommen, die formalen Gründe,
die die Aufnahme von Frauen hindern, möglichft
bald befeitigen helfen möchte!
su
* Mäpdengymuafium Karlöruße. Der Berein
„Frauenbildung-Frauenftubium" Bat, veranlaßt
dur den in erfreuficher Weiſe fich forttwähren
fteigernden Befuh des Karlsruher Mädchen:
gymnafiumd, ein eigened Haus für die Zwecke
des Internat .gefauft. So wird in nächfter Zeit
wieder den Gefuchen um Aufnahme in das Internat
entſprochen werben Können, während im Augenblid
feine Pläge mehr zur Verfügung ftehen.
* 18 gleiäberehtigte Armenpflegerinnen
find nunmehr Frauen in Berlin zugelaffen. Der
Ausſchuß zur Borberatung ber Aenderung und
Berbefferung ber Verwaltung ber öffentlichen Armen:
pflege in Berlin hat folgenden Magiftratgantrag
nad} einer ausführlichen Beratung und Begründung
durch den Stadtrat Dr. Münfterberg angenommen:
„1. Wahlbar zu Mitglievern einer Armen:
tonmiffion ſind ohne Unterſchied des Geſchlechts
alle großjährigen Angehörigen eines deutſchen
Yunbedftantes, die ſich im Veſit der burgerlichen
Ebrenrechte befinden und in Berlin wohnhaft find.
Die Witglieber der Armentommiffion werden ald
Armenpfleger und Armenpflegerinnen bezeichnet.
Tie Amtödauer ber Mitglieder ber Armen:
fommiffionen beträgt brei Jahre (bisher ſechs Jahre!).
2. Die Armenbireltion wird ermächtigt, Armenkreiſe
(Degentralifation) einzurichten. Die Kreisvorſteher
werden durch bie Armenbireftion aus bem Kreife
ihrer Mitglieder oder auß Borftehern von Armen:
tommiffionen ernannt.“
* Über „Geuoſſenſchaftliche Erziehung der
herauwachſenden weiblichen Jugend“ ſprach Herr
Profeſſor Zimmer kürzlich im Verein, Jugendſchutz“⸗
Berlin und zeigte an der Entwidlung ber vier ſchon
beftehenden, auf genoſſenſchaftlicher Vaſis ger
gründeten, Arbeiterinnenheime, wie vortrefflich dies
Vorbild für ähnliche Erziehungsheime für gefährdete
Jugendliche nugbar gemacht werben könnte. —
Eine dauernd zugeficerte Arbeit zu feftftehendem
Zohn, Gelegenheit gur Erlernung tüchtiger haus:
Der Schwäbifde Frauenverein
Borfigende: Frau Präfident v. Weizfäder),
veröffentlicht feinen 27. Jahreöbericht. Das Jahr |
1900 hat er zur Bervollftändigung und Weiter:
entwidlung feiner Anftalten benugt. Die Frauen:
arbeitäfpule nimmt jet, durch ihr geiepmäßiges
Weiterfchreiten, durch dad Spftematiihe in allen
Unterrichtefächern, durch die anerfannt vortreffliche
Xchrmethobe bed Heichenunterrichts, unter den
Frauenarbeitöfdjulen Deutihland® eine der aller: .
erften Stellen ein. Sie erhielt ein Diplom für !
hervorragende Leiſtungen durch die fünigliche
Regierung zuerkannt infolge ihrer Teilnahme an '
ber —e— ——— im Auguſt 1899; und
auf Beranlafjung der königlichen Komiſſion für die |
gewerblichen Foribildungsſchulen traten zwei Lehre⸗
rinnen anderer Schulen in die Frauenarbeitsſchule
ein, um die bort geübte, eigenartige Methode der
organiſchen Verbindung von Zeichnen und Stiden |
zu erlernen. Die rauenarbeitßfchule murde in
biefem SBereindjahre, dad von Juli IRHM bie
Jufi 1900 geht, voh 343 Schülerinnen befucht.
Durch Anfertigung beftellter Arbeiten baben die .
vorgerüdteren Schülerinnen 1460 Mark verdient.
Nachdem im Auguft 1899 vom Staate die
Gefamtftellung, die Alterdzulagen, die Alters: und
Krantenverforgung der Yehrerinnen an Frauen:
arbeitäfehulen in gleicher Weile wie bei ben
xehrerinnen anderer Schulen gefeglich jeftgeftellt
wurden, reichte ber Ausichuß an die königliche
Kommilfion für bie gewerblichen Fortbildungsſchulen
das Gefuh ein: Die Frauenarbeitsichule des
Schwäbifchen Frauenvereins möge der genannten
Behörde in einer den geieplichen Beftimmungen
entſprechenden Weife unterjtellt werben, damit die
Yehrerinnen ihrer Anftalten die gleichen Redıte
genießen vie biejenigen der ftäbtifhfen Cdyulen. !
Diefem Gefuch ift von der Föniglihen Regierung ı
entiproden worden und aud die Bitte der
Arbeitälehrerinnen um ftaatlihe Beftätigung ihrer
Anftellung wurde in böchft dankenswerter Weile
zuftimmend beantwortet.
Der Kindergarten, die Froebelſchen Unterrichts:
turfe erfreuen fich guten Befuch8; ebenfo bie Koch
ſchule und Haushaltungsſchule. Cs haben auf
Veranlafjung des Vereins 71 Wanderkochturſe in
21 mürttembergifhen Oberämtern ftattgefunden,
darunter viele Abendkurfe für Fabrikmädchen Tie '
Wandertoclehrerinnen, 14 an der Zahl, jieben mit
ihrem NRochgeräte von Gemeinde zu Gemeinde und
haben überall gute Aufnahme gefunden. Auch
die Töchter dandelsſchuie wurde gut befucht,
111 Schülerinnen wurden nad ihrer Entlaflung '
‚Stellen vermittelt. Die vom Verein herauögegebene
313
Woch engeitſchrift „Frauenberuf” ift feit dem I. April
1900 vom Verein in Selbftverlag genommen. Ein
Neubau, ben ber Berein für feine Anftalten unter:
nimmt, tird in einiger Zeit vollendet fein und
für eine weitere Entwidlung Raum ſchaffen.
Nener Boltsfhullchrerinnen-Berein zu Berlin.
Tie Tarlehnötafje bed Neuen Boltsihul:
lehrerinnen: Verein ift, nachdem der Berein
in bad Vereinsregifter eingetragen worden
ift, in Kraft getreten. Die Rafle hat den Zwech
den Lereinsmitgliedern in Arankheitsfällen und
befonderen Notlagen, fowie zu Fortbilbungsjweden
Darlehn zu gewähren. (Bejuche find an die Vor:
figende der Haffe, Fri. 9. Jaftrow, N., £inien:
ftraße 110, zu richten.
Heim des Allgemeinen deutfhen Lehreriunen-
jereins zu Berlin
Worfigende: Frau Elly von Siemend)
veröffentlicht feinen Jahreöberidht für 1899/1900.
: Die Frequens des deims mar im verfloffenen
Vereinsjabr eine jehr zufriebenftellenbe, der Zudrang
ein fo großer, daß vielfach Intereſſenten abgewieſen
erden mußten. Tas Yebürfni® nad; abermaliger
Vergrößerung des Heims ftet fi heraus, die
Mittel erlauben aber noch teine Erweiterung der
Räume. Ter Borftand hat den Tod eines feiner
Mitglieder zu bellagen, der Frau Kathi Warſchauer,
die ihm feit Begründung des Berein® angehörte.
Herr Robert Warſchauer hat nach dem Ableben
feiner rau, um ihren jährlihen Beitrag zu
italifieren, dem Verein 3000 Mark zugehen
lafien. Unter dem Namen „Kathi Warichauer:
Stiftung” fol diefe Summe, bie in Papieren
angelegt worden ift, den Grundſtock zu einem ‚Fonds
bilden, ber, wenn er ſich nad und nach vergrößert,
den Werein befähigt, halbe und auch ganze Frei:
ftellen zu Tcaffen.
Der Berliner Zranen! von 1900
(Lorfigende: Frl. Dr. Franzista Tiburtius,
Bülowftr. 14) veröffentlicht feinen eriten Jahred:
bericht. Tas außerordentlich raſche Aufblühen des
Klubs iſt dem Umftande zu danken, daß er den
Bedürfniſſen der erwerbenden Frauen, denen er
dienen wollte, in jeber Beziehung ausgezeichnet
entiprodhen hat. Der Alub bat im Laufe feines
eriten Jahres durch Eintragung in da8 Pereine:
tegiiter Hectäfäbigleit erlangt. Die Nerwaltung
wird geleitet durch cine Wirtfhaftstommiffion, eine
Aufnahme: und eine Unterhaltungstommiffion. Die
vacherſchau
bie vornehmſte Weiblichkeit alle Schritte in dieſem
Kampf und jeden Federzug in dieſer Darftellung
beftimmte.
„The Junior Temple Reader.“ Edited
by Clara Linklater Thomson and E. E. Speight,
with many original illustrations. London,
Horace Marshall & Son 1900. (1 sh. 6 d.)
Die Serauögeberinnen find in ber Auswahl und
Bearbeitung der Geſchichten von der Abficht aus:
gegangen, den Kindern Volksmärchen aller Länder
fo zu vermitteln, baß fie ihnen verftändlid find
und doch möglichft die Eigenart, den Reiz und den
fünftlerifchen Wert de8 Original behalten. Tie
Sammlung enthält neben einigen AÄnderſenſchen
und Grimmfden Märchen, bie in einer muiter:
gültigen Überfegung ganz wie Originale“ wirten,
inbifche, japanifche, neufeelänbifche, norbifche volts
märden und -fagen, und man muß fagen, daß
bie Serausgeberinnen den felbftgejegten Zweck
taum befier hätten erreichen fönnen. In doppelter
Beziehung Tann dieſe Sammlung für unfere veutiche
Jugenblitteratur wertvoll werden. Jede Mutter
wird ihren Märchenvorrat durch bei und unbelannte
Gedichten, wie das reizende Märchen von „Sampo
Lappelil”, vom „Schiff, das auf dem Lande fegelte”
und mande anderen bereichert finden. Bor allem
aber könnte die Sammlung, der aud eine Reihe
leichter und wirklich wertvoller Gedichte beigefügt
ift, für den Anfangsunterricht im Englifchen an
unferen Mädcjenichulen Verwendung finden. Die
außerordentlich einfache Sprache, bie immer in
gewifſem Sinne internationalen Wenbungen ber
Märchenerzählung, die zum Teil in ähnlicher Form
{hen belannten Stoffe machen das vuch dazu in
ganz bejonderem Maße geeignet.
Die dem Buche beigegebenen Illuſtrationen
— Heine bunten — find 3. T. von fünftleriichem
Bert und entfpredien dem Bived der Sammlung.
enden zur Orientierung über bie
Wefaltöverhäftnifie der preufifcen Boltafhul.
Teßreriunen‘‘. Auf Grund eigener ftatiftiicher
Aufnahmen herausgegeben vom Borftande des
Yandeövereins preufifher voltsſchuiiebrerinnen
Berlin 1900. Im Selbftverlage de Xereins.
(Preis 0,75 Marl), Mit der Gerausgabe feines
bandbuches hat der Preußifche Voltsfepuffchrerinnen:
verein den Intereſſen feines Standes einen wichtigen
Dienft geleiftet unb zugleich einen Beweis für die
Leiftungsfähigteit feiner Lrganifation in einer
weitläufigen gemeinfamen Arbeit geliefert. Turch
die große Bollftändigteit, die überfichtliche Anordnung
und bejonnene Berwertung ber ftatiftifchen Reiultate
giebt das Buch einen ausgezeichneten Überblid über
die Lage der Boltöfchullehrerinnen unter dem
Lehrerbefoldungägejeg vom 3. März 1897.
Stoatöminifter D. Dr. Bofle äußerte fih dem
Torftande des Bereins gegenüber wie folgt:
„Dem Borftande des Landesvereins fage ich für
die freundliche Überfendung des Sanbbuche zur
Orientierung über die Gehaltsverhältniſſe der
preufifchen Voiloſchuliebrerinnen herzlichen Tant.
Tas Handbud) macht mir befonbere Freude. Einmal
weil es auf dem geiunden Gebanten beruht, dab
bie Beteiligten felbft dandreichung thun müflen,
um das Ergebnis der Durchführung des Geſetzes
in® Sicht zu ftellen und die billige Ausgleihung
örtlicher Härten anzubahnen. Sodann wegen ber
315
sähen Thatkraft und bed einbringenden Berftänbnified,
mit der bie Schwierigkeiten einer fo umfangreichen
und verwidelten ftatiftifhen Arbeit überwunden
worden find. Endlich wegen des nüglihen und
überfichtlichen Ergebniffed. Ich ameifle nicht, daß
diefe rühmliche Arbeit aud für die Zukunft ihren
Segen haben wird.“
Veftellungen auf das Handbuch find unter Ein:
fendung des Betrages von 0,75 Mart inkl. Borto
an bie Schriftführerin ber Hauptzentrale Frl. Fitt:
bogen — Berlin SW., Reuenburgerftr. 34 zu richten.
„Braun Märe“. Märchen und Schwänte für
Jung und Alt. Seinen indern erzählt von
Rudolf Vogel. Freiburg und Seipyig, Berlag
von Paul Naegel (Preis 2,50 M). Unfere geit
lönne feine Märchen mehr erzäblen, bat man ge:
meint. ubolf Bogel zeigt, dab fie ed noch fann.
Zwar find es die alten Motive vom Königsfohn
und der Müllerin, vom armen Holzbauer, dem die
gZwerglein helfen, vom verfuntenen Schloß, vom
luftigen Schneiderlein, dem ber Teufel nichts an⸗
haben darf. Aber eine Dichterphantafie hat fie
neu ausgeftaltet und verwendet. Dazu fommt, daß,
der friſche Luftige, mandmal derbe Bollton ber
Frau Märe fehr gut getroffen ift. Cin Bebenten:
die Märchen find ein wenig zu lang und enthalten
zu vielerlei, fie dürften in bezug auf bie Zabel
einfacher fein. Alles in allem find fie ein wert-
voller Beitrag zu unferer Jugendlitteratur, die
endlich die erfehnte gründliche Regeneration erleben
zu wollen fdeint.
„Stimmungsbilder, von Malvida von
Neyfenbug. Dritte und vermehrte Auflage.
1900. Scufter & Löffler. Berlin und Leipzig.
In Dalvida von Meyfenbug, der „Fbcaliftin” redet
eine vergangene Zeit, eine Generation zu und, die
und fremd zu werben beginnt. Wohl harren viele
der Gedanken, bie einft bie beneifterte Achtund:
vierzigerin ausgeſprochen und vertreten, noch der
Berwirtlihung, und das foziale Programm ber
„Idealiſtin“ ift noch heute „modern“. Aber cben
das tritt in den Stimmungsbildern, wie in dem
Lebensabend“ zurüd hinter ein feines (Seniefen,
ein Huges Aeftbetifieren und Gthifieren über das
2eben und feine Beziehungen. Und gegen dies
betrachtenbe, abftrahierende Heniehen, das Hinein:
diehen einer doch immer bilettantifch getriebenen
Wiſſenſchaft in den Ausdrud der Freude am
Schönen oder des Ergriffenfeins von dem Großen
find wir Modernen empfindlich. Es wirkt auf uns
erfältend und verftimmend. Cs rüdt uns bie
Tinge ferner, ftatt fie und nahe zu bringen,
febendig zu machen. Tie Stimmungsbilder find
ein Buch, dad nian fid in „unfern Kreiſen“ beö
Abends vorlefen wird, wegen feiner außerordentlich
intereffanten Bezichungen, feiner „[dönen Gebanten“,
feiner feinen Urteile, feiner ariftoratijchen Daltung.
Die „Jbealiftin“ ohne eigentlich ſich felbft
untreu zu werben, bie geiftreiche Süterin einer
erlufiven Salontultur geworden, in der die Ein:
drücke von Jtalien und Bayreuth, von großem Welt:
Gefchehen und tiffenfchaftlichen Errungenicaften,
von Menfgenfeelen und Neniyenfidialen zu einem
fanften, matten, aber barmonifhen Farbenſpiel
verblaffen.
Und eins ann man in folhem Dafein
ftubieren und beneiden — Lebenskunſt.
vacherſchau.
in auf Driginafität, aber es läge doch im
Intereffe ber Lefer, die fich weiter zu orientieren
wunſchen, daß Entlehnungen als ſolche gekenn
zeichnet werden.
FEudlich Känſtleriſches für die Kinder!“
mit "Beiträgen von Heinrih Wolgaft und
Wilhelm Spohr. Dad Heine Schriften will
Eltern und Ninderfreunden eine Anleitung bieten
für die Wahl fünftferifd und nerariſch wertvoller
Geſchenie ¶ Durg eine Notiz auf dem Umichlag
erfahren wir, daß verſchiedene Artikel von W. Spohr
in ber geitfchrift „Ernfte® Wollen“ über „Kunft
und Schule‘, „Das Kind und die Aunft“ Anlaß
zu einer Bewegung gegeben haben, der namhafte
Künftler, Schrütfteller, Lehrer zc. angehören. —
Das Schriften ift im Verlag des „Ernften
Wollen“, Berlin W., Adenbadftr. 2, erfhienen
und zum Preife von 1U Pig. zu beziehen, partien:
weifer Bezug billiger. —
„Der Wäfhefhrant”. Waſche· Album der
„Wiener Mode”. Über 600 Wäfheftüde und
Ronogramme. 40 Tafeln Nluftrationen. Bon
Regine Ulmann, Tirectrice ber Fachſchulen des
Mädchen:Unterftügungs: Vereins in Wien Nerlag
der „Wiener Mode“, Wien, Yeipzig, Berlin, Stutt:
gart. Das vorliegende Werk will denen als Rat:
geber dienen, die nicht wiſſen, wie der Gebrauch
ber Wäfche zu regeln ift, damit nicht einiges vor:
zeitig abgenugt, anderes bem Dergilben ausgeſetht
werde, bei Radanfhaffungen Wibgriffe verhüten
helfen und für die Belorgung von Ausſtattungen
ein praktifdjer Führer fein. Es find in gefonderten
Abſchnitten bie Haus: und Leibwäſche bebandelt.
Der Rinderwa ſche ift befondere Aufmerlfamteit ge:
ſchenkt, und auch die Kapitel: Bade, Diener: und
Küchenwäiche haben eniſprechende Beachtung ge:
Funden. Bei den einzelnen Abf—nitten find die
zu den Wäfcheftüden verwendeten Stoffe, die Art
der Anfertigung und Berzierung beiproden und in
den Beilagen illuftriert. Ein Anhang bringt mit
vorzüglichen Yluftrationen den Xehrgang des
Nähen® und ymar ded Hand: und Mafchinennähens
Fr der verfehiedenen Stopfarten. Es find ferner
* angefügt 10 Bons für Gratisfhnitte zu Wäfche:
ftüden. Auch erhält jede Näuferin des Werkes
Schnitte nad Maß für Wäfche zu denfelben Be:
dingungen tie bie Abonnentinnen der „Wiener
Hode'. Schöne Ymitialen und fünftlih ver:
fhlungene Nonogramme find in reicher Auswahl
beigegeben.
In demjelben Werlage erfhien „Kreuzſiich ⸗
mufter im nenen Stil“. Herausgegeben von
Pauline und Xohanna Nabilta. (freie
2 Bart) Die Bappe enthält 25 Blätter mit
65 Wuftern zur Verzierung aller Arten von
Deden, Borhängen, Kiffen, Behängen x. Wir
tönnen beide Werte aufs befte empfehlen.
Der Zeihenunterricht für Mädchen‘. Ein
Lehrbuch für Voltkoſchulen, höhere Schulen und
Familien von Johanna Hipp, Zeichenichrerin in
Wüplpaufen i. €. Hit 10 Tafeln in Lithographie,
317
20 vichtorud: und 2 Barbentafetn. Verlag von
Friedrich Bull, Straßburg i. Ein vor:
treffliches Wert, das ber fallen alle Ehre
macht, da es einen wahrhaft kunſtleriſchen Geſchmack
offenbart und eine große metbodifche Umficht und
Sicherheit. Es bietet einen vollftänbigen Lehrgang
bes Zeidjenunterricht® in der fiebentlaffigen Boltd:
fhule. Die Verfafferin geht bei bem Aufbau ihres
Wertes von der fehr richtigen Anfiht aud, daß
„ein Lünftlerifcher Zeihenunterricht in ber Boltd-
{Qule" oder eine „volfötümliche Erziedung des
Schönheitöfinned” eine Übung in der Kunft bes
Verzierend fei. Diefe Übung ift daher die aus
fhlieplihe Aufgabe des Zeihenunterrichtd in ber
Voltsſchule. Wir können dem nur zuftimmen,
denn gany gewiß hat die grünbfihe Durchführung
einer einzigen Aufgabe mehr erziehlihen Wert als
die flüchtige Behandlung mehrerer Tinge zugleich,
Nachdem Auge und Geift durch die elementarjten
Grundformen (die geometriichen Figuren: Duabrat,
Rechted, Dreied, Kreis u. |. w.) für das Verftänbnid
freierer Gebilde vorbereitet find, werden die Motive
der Drnamentit in der Natur gefudt unb zwar
find fie — zu unferer Freude — fämtlih der
heimiſchen Flora entnommen.
Die Verzierungsaufgaben, welde die Berfaflerin
für den ganzen Berlauf de Jeichenunterrichts
zufammengeftelt hat, find außerorbentlich reich:
haltig, für die Cberftufe finden wir deren 270.
Siebzig mehr oder weniger ausgeführte Katechefen,
welche für Alaffenunterricht gedacht find, behandeln
das Zeichnen der einzelnen Naturformen und —
mas mir beſonders werwoll eridheint -- auch die
ornantentale Verwendung berfelben.
Wir wünfchen der gedlegenen Arbeit, bie wirklich
allen modernen ‚Forderungen angepaßt ift, von
ganzem Herzen die weitefte Terbreitung.
„Deutſche Heimat‘, Blätter für Litteratur und
Voltdtum. Wöchentlich ein veft für 10 Bf., viertel:
jäprlid 1 WM. erlag von Georg Yeinrih Mever,
Berlin 3.®. Die „Deutiche Heimat” eriheint ald
neue Folge der Halbmonatfehrift „Deimat” vom
1. Cftober bes Jahres an. Cie beabfightigt, in:
mitten der überall in Extreme, Künfteleien aus:
laufenden modernen Richtungen einen Wittelpuntt
zu ſchaffen für echte, warme, einfache deutſche Volks:
art; zugleich will fie die Runft der Gegenwart und
Vergangenheit, die ein fraftvoller Ausbrud biefed
Ureignen des deutſchen Voikes ift, au dem Ver
ftändni® des Woltes zugänglich machen Ban
muß anertennen, daß bie bis jest erſchienenen
‚Hefte diefe Tendenz des Blattes ſehr glüdlich zum
Ausdrud bringen. Das gilt vor allem für bie
Veiprehung der befannten fulturgefchichtlichen
Monographien des TDieberihöigen Merlags von
Adolf Bartels im Heft I, wie für den Leitartifel
des 3. Hefted „Die Kunft dem Volle“ von Bruno
Wille, das gilt aber auch für den belfetriftiihen
und feitiihen Teil der Hefte, obne dab damit
geiagt fein fol, daß wir und mit ben Refultaten
dieſer Kritit durchaus einverftanden ertlären. Dem
Unternehmen ift auf® mwärmfte eine kräftige Ent:
widlung zu wünfchen.
BR
828
Königin Viktoria von England.
Gertrud Bäumer.
Rachdrud verboten.
lizabeth Cady Stanton, die energiſche Führerin der amerikanifchen Frauenbewegung,
erzählt in ihren Erinnerungen an einen Beſuch in England, daß die englifchen
Frauen in al ihren Verfammlungen und öffentlichen Reden der Königin dankbar
und liebevoll gebächten. Die felbitbewußte Republifanerin zudt darüber die Achſeln
als über eine loyale Schwäche. Der Königin hat die englifche Frauenbewegung ihrer
Anſicht nach wahrhaftig wenig genug zu danken.
Die englifhen Frauen denken anders darüber. Es ift wahr, daß die englifche -
Frauenbewegung niemals unter der Flagge des „Allerhöcften Proteltorats“ gefämpft
und gefiegt hat. So wenig wie irgend eine andere einzelne politiſch-ſoziale oder
wirtfchaftliche Bewegung. der „Victorian Era“. Wer das bedauern, wer es gar als
einen Mangel in der Regierung der königlichen Frau bezeichnen wollte, würde bie
Bedingungen eines Eonftitutionellen Staates verfennen, würde aber auch den Wert
eines Königlichen Proteftorat3 für die Frauenbewegung überfhägen. Die englifche
Frauenbewegung würde fih in Widerſpruch mit dem Grundgedanken aller fozial:
politifhen Entwidlung ihres Landes geſetzt haben, Hätte fie für ihre Arbeit eine
befondere Förderung vom Thron ber erwartet. Als ein Kampf um freie Entfaltung
gebundener Kräfte im Volfsleben vollzog fie fi auf einem Gebiet, auf dem königliche
Bevormundung in feiner Weife und nad) feiner Richtung Hin frommen konnte. Seit
fie ſich Ende der fechziger Jahre in dem Kampf um das Stimmrecht konzentriert hat,
ift fie in jene große Reformbewegung eingemündet, die den engliſchen Staat im Lauf
der legten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts in eine Demokratie gewandelt hat.
Und es hätte doch geheißen, die Frauenbewegung unter unpolitiſche Wohlfahrts⸗
beftrebungen rangieren, wenn ihre Führerinnen an dieſen königlichen Schuß gedacht hätten.
Hat die englifche Frauenbewegung deshalb der Regierung der Königin Viktoria
nichts zu danken?
Es ließen fih ja natürlich einzelne Fälle aufzählen, in denen die Königin Einzel
beftrebungen der Frauenbewegung unterftügt hat, Veftrebungen vorwiegend „gemein
nügigen“ Charakter. Man könnte da auf die Ausbildung von Arztinnen für die
indifche Zenana-Miffion hinweiſen, oder etwa auf die befannte Victoria Women’s
Printing Press, bei deren Gründung die Königin ber Leiterin des Unternehmens
verfichern ließ, „daß alle ſolche neuen und praftifhen Schritte, gebildeten Frauen neue
Berufszweige zu eröffnen, Ihrer Majeftät volle Zuftimmung fänden.” Für den Fort
gang ber ganzen Bewegung ift das doch nur von untergeordneter Bedeutung geweſen.
Höher wird man den Wert der Thatfache veranfchlagen, daß eine Frau den höchſten
Poſten im Königreich inne Hatte, eine Frau, die zugleich bewies, daß fie ihm gewachſen
21*
Königin Viktoria von England. 825
um bie breißiger Jahre, das Arbeiterelend, den Pauperismus, die furchtbare Ver:
nachlaſſigung des Volles in jeder Beziehung auch nur einigermaßen fennt, ber weiß,
daß England in den legten fechzig Jahren eine Regeneration bed fozialen Lebens, des
fozialen Empfindens erfahren, wie fie fih in feinem europäifchen Staat jo rafch und
durchgehend vollgogen bat. Bon einer unmittelbaren Initiative in Bezug auf biefe
Entwidlung ſchloß die englifche Verfaffung die Königin aus. Wie vorurteilslos fie
ihr aber gegenüber ftand, wie lebendig fie fie mitlebte, davon zeugt jo mande That
fache, von ber ihre Minifter berichten. Ganz beſonders charakteriftifch ſcheint mir in
dieſer Beziehung das Urteil der Königin über Charles Didens. Männer, die wie er
die Mifftände in dem Verwaltungswefen des Reiches mit fo fchonungslofer Wahr:
haftigkeit, mit fo fcharfer Satire bloßlegen, pflegen feine königlichen Anerfennungen
zu erhalten. Bekanntlich fcidte die Königin dem Schriftfteller ihre „Leaves from
our Journal in the Highlands“ mit der Widmung „From one of the humblest
of writers to one of the greatest“.
In dem Zeichen der Regeneration der Victorian Era errang die engliſche
Frauenbewegung ihre Erfolge. In dem Zeichen einer Entwidlung, beren Grund:
gedanke die vollwertige Repräfentation des Volkes in ber gefeggebenden Körperichaft
war, befchritten auch bie englifchen Frauen den Weg zu politifchen Rechten. Und
foweit jene Regeneration von ber Perfönlichkeit ber Königin ihre Impulfe empfing,
foweit der freie Gang biefer Entwidlung ihrer weifen Zurüdhaltung zu danken, ift
die engliſche Frauenbewegung der Königin Viktoria verpflichtet. In der Anerkennung
diefer Verpflichtung, nicht in einer fonventionellen Loyalität ift die dankbare Verehrung
für die Königin begründet, der bie englifchen Frauen immer wieder Ausbrud gegeben
haben. Sie wiſſen — was dem naiven Urteil der radikalen Amerikanerin zu tief lag —
was fie der Vietorian Era verdanken, wenn auch ihre Königin nicht den Ehrenvorfig
in der Frauenſtimmrechtsliga führte. Sie wiſſen, daß es andere Wege giebt, foziale
Umgeftaltungen herbeizuführen, als bie fogenannten „radikalen“.
So miſcht fi in die Trauer der englifchen Frauen um den Tod der Herricherin
nicht die Sorge um bie eigene Zukunft. Ihr eigenes Werk, feine Treibhauspflanze
föniglicyer Gunft, fondern emporgewachſen aus dem Leben der Nation, getragen von
ihren beſten Kräften, geht ſicherem Gelingen entgegen. Der Kranz, den bie engliichen
Frauen am Grabe der Königin niederlegten, ift der Ausbrud reiner Verehrung für
die Frau auf dem Throne, deren Wirken ein Ausbrud jenes Verantwortlichkeitsgefühls
gegenüber der Allgemeinheit war, das auch ber Frauenbewegung Richtung und Ziele
beftimmt.
326
Bodenreform.
Bor
Fr. Wolff- Berlin,
Schatzmeiſter des Bundes Deutfcher Bodenreformer.
Nachbrud verboten. α
n einer mittelgroßen hannoverſchen Stadt befürwortete vor einigen Jahrzehnten
der damalige Oberbürgermeijter die Einführung einer erhöhten Grunbdfteuer.
Bei diefer Gelegenheit Hielt er feinen Stadtvätern eine Rebe, in ber auch ungefähr
folgende Säge vorlfamen: „Gehen Sie alle, die Sie Belißer von Häufern find, aus
biefer Sigung heim. Schreiben Sie den jetigen Wert Ihrer Grundftüde und ber
darauf ftehenden Gebäude in Ziffern an die Hausmauern und kehren Sie wieder
aufs Rathaus zurüd. Und nun verfallen Sie in einen langen, jagen wir breißig-
jährigen, Schlaf. Draußen geht das Leben feinen Gang. Die Menſchen arbeiten
mit Kopf und Hand. Die Bevölferung fteigt. Der Wohlftand nimmt zu: Sie figen
bier und Schlafen. Nad dreißig Jahren endlich wachen Sie auf. Was meinen Sie
wohl, ob jene Ziffern dann noch den richtigen Wert Ihrer Häufer angeben werben?
Sicherlich nicht! Ausnahmslos wird der Wert gewachſen fein, bier und da vielleicht
gar auf das Doppelte oder Dreifache.”
Der Herr Oberbürgermeifter war ein äußerit Eluger Mann. Wir haben, um
dies zu erhärten, gar nicht mehr nötig, zu berichten, daß er jpäter in eine hohe
preußifche Staatzftelle einrüdte. Schon jene kleine Redeprobe kann und genügen.
Sie beweift, daß der Mann, feiner Zeit voraußeilend, früher als fat alle anderen,
das Weſen des höchſt wichtigen Bodenproblems erfaßt hatte.
Gehen wir einmal den Weg, den der Herr Oberbürgermeifter feine Hörer führte,
in der entgegengejebten Nichtung.
Inm Jahre 1899 wurde ein 4 qm große® Stüd Bauland an den Königs:
folonnaden in Berlin mit dem ungeheuren Preife von 50 000 Mark bezahlt. Der
Morgen beften Aderbodens Eoftet in der Mark höchſtens 600 Marl. Würde man
gezivungen jein, in der Umgegend der Königsfolonnaden einen Morgen Baugrund zu
demjelben Preife zu faufen, der für die erwähnten 4qm gezahlt wurde, jo hätte man
die Kleinigkeit von 31 Millionen nötig, Man vergleiche: dort guter Aderboden:
600 Mark, bier unfruchtbarer Sandboden: 31 Millionen! Und nun die Frage: Wenn
e3 möglich wäre, daß die Bewohner Berlin die Stadt alle an einem Tage verließen,
würde fi dann noch jemand finden, der auch nur halb jo hohe Preiſe für Berliner
Grund und Boden zahlte?
Mer Ichafft alfo die hoben Grundwerte? Etwa der Grundbeltger? Bor dem
Hallefchen Thore in Berlin wurde im Jahre 1842 das Rotherſtift eingeweiht. Alte
Damen haben breiundfünfzig Sabre lang in dem Haufe gelebt. Wertichaffende Arbeit
wurde in ihm nicht betrieben. Und doc ftieg fein Wert von 34000 Mark auf
1975 000 Dark, für welchen Preis es im Jahre 1895 in den Belig der Firma
Jandorf überging.
Bobenreform. 837
Der Landmann, ber dur Düngung, Entwäfferung ober ähnliche Arbeiten
feinen Ader verbeffert, fchafft ben Wertzumachs feined Bodens felbft. Dasfelbe gilt
von dem Bauherrn, ber ein Stüd Land etwa durch Einrammen von Pfählen bebauungs⸗
fähig macht. Ale die Wertvergrößerungen aber, mit denen der Spelulant, ber Meine
oder der große, rechnet, die bedingt find durch die Lage eined Grundftüds, durch
das Wachstum eines Gemeinweſens oder Staates und endlich durch jeden Aufſchwung
des wirtfchaftlichen Lebens, fie lönnen nie und nimmer durch bie Arbeit eines einzelnen
Menfcen erzeugt werden. Ihr Erzeuger ift bie Arbeit ber Gefamtheit. Alle die
Menfchen, die dazu beitragen, daß ein Ort oder ein Land mwirtfchaftlich höher kommt,
die Arbeiter, die Leiter der Induftrie, die Kaufleute, die Gelehrten, auch die Beamten
und Soldaten, die das Ganze verwalten und beifügen, fie alle bringen den Wert:
zuwachs hervor, von dem wir vorher fprachen. Darum nennen ihn die Engländer
auch: unearned increment, „unverdienten” Wertzumachs.
Die Sache wird noch Marer, wenn es fi um ein ganz beftimmtes, großes
Werk handelt, das die Gefamtheit unterninmt. Wenn der Staat eine Eiſenbahn baut,
fo ift die allererfie Folge ein Steigen der Grunbftüdpreife in der Nähe der Haltepunfte.
Kürzlich erzählte mir ein Tegeler Arbeiter, daß in feinem Wohnorte die Mieten genau
zur ſelben Zeit gefliegen feien, ald die Straßenbahn den elektriſchen Betrieb einrichtete.
Leute, die auf das Zuftandelommen des Mittellandfanald rechnen, betreiben ſchon
heute eine wüfte Grundftüdipefulation in den Gegenden, die der Kanal berühren fol.
Aberall diefelbe Erſcheinung: Die Arbeit der Gefamtheit bewirkt zunächft ein Steigen
der Grundwerte.
Bei dem heute giltigen Recht des Privatbefiges an Grund und Boden hat der
Grunbbefiger den Hauptvorteil von jedem Fortichritt des mwirtfchaftlichen Lebens, und
zwar hat er diefen Vorteil ohne Arbeit. Er kann ſchlafen, wie wir eingangs gehört
haben, — fein Grundftüd fteigt doch im Werte. Und ber, der die Werte mit geichaffen
bat — bat nur geringen oder gar feinen Vorteil, fofern er nicht etiva felbft Grund»
befiger ifl. Der Arbeiter freut fi nur kurze Zeit über den höheren Lohn, den er fich
ertämpft hat, der Beamte hat noch nicht lange die legte Aufbeflerung im Gehalt Hinter
fih, der Kaufmann ift froh darüber, daß fein Gefchäft endlich geht! — da kommt
der Kündigungstag, und ber Hauswirt zieht in Geftalt einer Mietsfteigerung bei
Heller und Pfennig wieder ein, was die drei mehr zu haben glaubten. Nachher aber
wundert fi) ber Fabrikbefiger über die Ungenügfamkeit der Arbeiter, die nach der
legten Lohnerhöhung ſchon wieder behaupten, fie fünnten mit dem, maß fie erhalten,
nicht auskommen. Da tadelt mar auf der Regierung die „ewig unzufriedenen Beamten“.
Ja, ja, Zufriedenheit giebt es ſchon lange nicht mehr in ber Welt, und Schuld daran
iſt — nun je nachdem, entweder die Gottlofigkeit oder die Sozialdemokratie.
Manchmal tritt dad Widerfinnige der augenblidlichen Rechtöverhältnifie fo recht
unverhüllt. zu tage. Cin Beifpiel davon:
Der Dortmund:Emdlanal war gebaut worden. Die Stadt Dortmund hatte
auf eigene Koften einen Hafen hergeftellt. Leider hatte man fich die zum Bau von
Verwaltungsgebäuben nötigen Grundflüde nicht vor dem Hafenbau gefichert. Erſt
nad ber Fertigftellung des Hafens trat man mit den Eigentümern des umliegenden
Landes in Unterhandlungen. Sie forderten für die gewünfchten Parzellen bedeutend
mehr, als die Stadt für den Grund und Boden gegeben Hatte, ben fie früher zum
Zweck des Hafenbaues kaufte.
Frieden. 329
gekauft und darauf ein Haus für 30000 Mark errichtet, fo ift ba Grundſtück nad
Vollendung des Baues 45 000 Mark wert. Die 30000 Mark Mehrwert hat ber
Befiger felbft erzeugt; fie find alfo nicht „unverdient“. Verkauft der Eigentümer das
Haus aber nach einiger Zeit für 51.000 Marl, fo ift ein Wertzuwachs von 6 000 Mark
feftzuftelen, der allein das Ergebnis der Entwidlung des Ganzen, der Kolonie, if.
Von diefen 6 000 Mark nimmt der Staat ein Drittel als Zuwachsſteuer.
Andere Steuern außer den genannten giebt es in Kiautſchou nicht. Man beftraft
nicht unfinnigerweife, wie im Mutterlande, einen Menfchen dafür, daß er fleißig ift;
eine Geiwerbefteuer giebt es nicht. Jede ehrliche Arbeit ift frei von Abgaben. Jeder⸗
mann kann feine Kräfte voll entfalten, ohne ſich dafür noch befondere Erlaubnis ers
taufen zu müſſen. Auch Zölle erhebt man nicht. In Kiautſchou herrſcht Freihandel
und Gewerbefreiheit in vollſten Umfang. Der Staat nimmt an Steuern, was er
feibft erzeugt.
Dies Syſtem hat ſich in Kiautſchou durchaus bewährt. Die Denkichriften des
Gouvernements ſowohl wie die Berichte der Reifenden, die die Stadt fahen, erzählen
von einem überrafchenden Aufblühen der Kolonie. Daß dies auf die Landorbnung
zurüdgeführt wirb, die den Verzicht auf jede Zolleinnahme möglich macht, beweift der
Umftand, daß die englifchen Großlaufleute in Hongkong ihren Gouverneur um Eins
führung einer ahnlichen Einrichtung, wie die der deutſchen Pachtung, gebeten haben.
Wir Bodenreformer hoflen, daß das, was in Kiautſchou fo fegensreich wirkt,
auch im deutichen Vaterlande nicht ohne Nutzen fein würde. Wir haben die feite
Zuverficht, daß mit der Beichräntung und endlichen Befeitigung bed Bodenmonopols
eine der wichtigften Seiten ber fozialen Frage erledigt fein wird.
a
Frieden.
En Selfen blühten im Mondenfchein,
Als wir auf heimlihem Pfad zu Zwei'n
Durchs blaue Zwielicht fchritten.
Was hab ich damals weinen gemußt,
Und doch ftand meine Jugend in voller Bluft,
Und mein Haar glänzte wie Bold.
Der Mond glitt hinab von Glanze fchwer,
Und es wurde ftiller um mich her,
Mein Sweiter war fortgezogen.
Keine Chräne hat mein Aug betaut,
Nur bangend hab ich mich umgefhaut ....... .
Mein Haar war dunfel geworden.
Wie fonderbar! Wie fonderbar!
Jeßt fteh ich und lach’ in die Welt,
Und filbern glänzt mein Haar.
Maria Janitfchek.
— — —
Der Gemüfebau im Hausgarten. 381
Das dritte Mittel zur Verbefferung der phyſiſchen Eigenfchaften des Bodens ift
in der Bearbeitung zu fuchen. Daß hierbei in Privatgärten am meiften gefündigt
wird, bebarf feine Wortes. Geht die Loderung bed Erdreichs nur bis etwa 25 cm,
und die Wurzel der Gemüfepflanze wie bei den meiften Kohlarten bis 60 cm hinab,
fo kann von genügender Ernährung der Pflanzen keine Rede fein.
Die Bearbeitung bezwedt Durdlüftung des Bodens und Hierdurch neben ber
Befriedigung des Atembebürfniffe der Wurzeln die Auffchließung der an oder in den
Erdkornchen vorhandenen löglichen Nährfloffe. Beides muß felbftverftändlich fo weit
wirkſam fein, wie die Wurzeln in den Boden eindringen.
Sehr wertvoll ift Hierbei die Mitwirkung des Froftes, deshalb ift die Haupt
bearbeitung vor Winter (Schollern) anzuempfehlen. Wo dies verjäumt wurde, wird
fie fo früh wie möglich vorgenommen, fobald fi die Winterfeuchtigfeit verzogen hat.
Dem Rigolen folgt dann bei der Befamung oder Bepflanzung ber einzelnen Beete
nochmals eine oberflächliche Loderung und biefer die Ebenung der Beete mittels der
Harle. Es kann dad Gemüfeland nicht forgfältig genug vorbereitet werden.
Ich brauche meinen Leferinnen die Verrichtungen felbft nicht zu beſchreiben, da
wohl wenige fie perſonlich ausführen; doc) müjjen die Arbeiter dabei ftet3 beauffichtigt
werben, Ordnung und Regelmäßigleit muß auch bei diefer einfachen Thätigfeit zur
rRichtſchnur genommen werden. Gerade dieſe beiden Eigenfchaften fehlen in Privat:
gärten am allerhäufigften. Es kann auch der Gemüfegarten zum Luftwandeln ein
laden, und wenn er auch durch feine fommetrifche Anordnung den Schönbeitsfinn nicht
immer befriedigt, fo bietet doch feine Beobachtung fo viel des Yntereffanten, daß man
ftundenlang in ihm ftudieren kann. Der Gemüfegarten ift die befte Speifefammer des
Haufed, und man weiß, wie viel in einer ſolchen durch Unordnung perberben und
verloren gehen kann.
Ich komme nun zum eigentlichen Erſatz der Nührfloffe im Boden, zur Düngung.
Hierbei werden in ben Gemüfegärten die meiften Fehler gemacht, und zwar wird
in dem Glauben, daß alle Gewächle die gleichen Vedürfniffe haben, auf der einen
Seite ded Guten zu viel, auf der anderen zu wenig gethan, indem alljährlich dem
ganzen Garten eine durchgängige, gleiämäbige Düngung zugeführt wird.
Das Wort Fruchtfolge ift auch Laien befannt. Es ift dies eine Einrichtung im
landwirtſchaftlichen Betriebe, bei der die Beftellung bed Landes in der Weife geregelt
wird, daß die nädhftjährige Kultur die Bodennährftuffe verwertet, welche die diesjährige
unbenugt ließ. Sie befommt alſo eventuell gar feine Düngung oder nur die Stoffe,
die neben den ebengenannten’ gebraucht werden. Es ift die nicht nur eine weſentliche
Erfparnis, man vermeidet dabei auch, den Gewachſen die Stoffe gleichlam aufzudrängen,
die fie nicht beaueen und bie ihnen eher Schaden ald Nugen bringen. Wie bei Menden
und Tieren, fo iſt auch bei Pflanzen ein Überfüttern geſundheitſchädigend.
Es ift alfo auch im Garten eine Fruchtfolge einzuführen, modurd ſich nahezu
zwei Drittel des Dungs erfparen läßt, der bei allgemeiner Düngung aufgewendet
werden muß. Das Refultat aber ift ein bedeutend befjeres.
Die Einteilung der Gemüfearten zu diefer Reihenfolge richtet ſich faſt ganz nah
den Pflanzenorganen, die wir als Speifen genießen. Es find dies Blätter, Wurzeln
und Früchte.
Der meiften Nahrung bedürfen die Blattgemüfe, von denen namentlich die
Kopftohlarten eine enorme Blättermaffe produzieren, die faum noch an das
natürlihe Wachstum der Brassica oleracea erinnert. Diefen folgt der Wirfing,
dann der Roſenkohl und endlich der Blätterkohl, defien Blätter ſich normal entwideln.
Zu den Blattgemüfen gehören ferner die Spinatarten und die Salate. Letztere
werben meiftend als Zwifchenfultur gebaut, verlangen aber gut gebüngten Boden.
Endlich ftehen den Blattgemüfen im Verlangen nach reichliher Düngung bie
Gemüfe gleih, von denen wir die fleifchig gewordenen Stengel genießen. Alles
fleifchige Gemüfe muß fchnell wachen, follen die betreffenden Teile zart fein; bier
fteht der Blumenkohl obenan, dann folgt der Kohlrabi, dann die Gemüfe, deren
Blattrippen und Speije liefern. Diefe (Cardy, Meerkohl, Bleichiellerie) werden
Der Gemüfebau im Hausgarten. 381
Das dritte Mittel zur Verbefferung der phyſiſchen Eigenfchaften des Vodens ift
in der Bearbeitung zu fuchen. Daß hierbei in Privatgärten am meiften gefündigt
wird, bedarf feines Wortes. Geht die Loderung des Erdreichs nur bis etwa 25 cm,
und die Wurzel der Gemüfepflanze wie bei den meiften Kohlarten bis 60 cm hinab,
fo kann von genügender Ernährung der Pflanzen keine Rede fein.
Die Bearbeitung bezwedt Duͤrchlüftung des Bodens und Hierdurch neben der
Befriedigung des Atembebürfniffes der Wurzeln die Auffchliegung der an oder in ben
Erdkornchen vorhandenen löglichen Nährſtoffe. Beides muß felbitverftändlich fo weit
wirkſam fein, wie die Wurzeln in den Boden eindringen.
Sehr wertvoll ift hierbei die Mitwirkung des Froſtes, deshalb iſt die Haupt
bearbeitung vor Winter (Schollern) anzuempfehlen. Wo dies verjäumt wurde, wird
fie fo früh wie möglich vorgenommen, fobald ſich die Winterfeuchtigfeit verzogen bat.
Dem Nigolen folgt dann bei der Beſamung oder Bepflanzung ber einzelnen Beete
nochmals eine oberflächliche Loderung und diefer die Ebenung der Beete mitteld ber
Harke. Es kann das Gemitfeland nicht forgfältig genug vorbereitet werden.
Ich brauche meinen Lejerinnen die Verrichtungen felbft nicht zu befchreiben, ba
wohl wenige fie perfünlich ausführen; doch müſſen die Arbeiter dabei ſtets beauffichtigt
werden, Ordnung und Regelmäßigkeit muß aud bei biefer einfachen Thätigteit zur
rRichtſchnur genommen werden. Gerade dieſe beiden Eigenfaften fehlen in Privats
gärten am allerhäufigften. Es kann aud ber Gemüfegarten zum Luftwandeln ein
laden, und wenn er auch durch feine ſymmetriſche Anordnung den Schönheitsfinn nicht
immer befriedigt, jo bietet doch feine Beobachtung fo viel des Jnterelfanten, daß man
ftundenlang in ihm ftudieren Tann. Der Gemüfegarten ift die beſte Speiſekammer des
Haufes, und man weiß, wie viel in einer folden durch Unordnung perderben und
verloren gehen Tann.
Ich komme nun zum eigentlichen Erfaß der Nährfloffe im Boden, zur Düngung.
Hierbei werden in den Gemüfegärten die meiften ‘Fehler gemacht, und zwar wird
in dem Glauben, daß alle Gewächſe die gleichen Bebürfniffe haben, auf der einen
Eeite des Guten zu viel, auf der anderen zu wenig gethan, indem alljährlich dem
ganzen Garten eine durchgängige, gleichmäßige Düngung zugeführt wird.
Das Wort Fruchtfolge ift auch Laien bekannt. Es iſt dies eine Einrichtung im
landwirtſchaftlichen Vetriebe, bei der die Beſtellung des Landes in der Weife geregelt
wird, daß die nachſtjahrige Kultur die Bodennährftoffe verwertet, welche die diesjährige
unbenugt ließ. Cie befommt aljo eventuell gar feine Düngung oder nur die Stoffe,
die neben den ebengenannten gebraucht werben. Es ift dies nicht nur eine weſentliche
Erfparnis, man vermeidet dabei auch, den Gewächſen die Etoffe gleichſam aufzubrängen,
die fie nicht brauchen und die ihnen eher Schaden als Nugen bringen. Wie bei Menſchen
und Tieren, jo iſt auch bei Pflanzen ein Überfüttern gejunbheitichädigend.
Es ift alfo auch im Garten eine Fruchtfolge einzuführen, wodurch ſich nahezu
zwei Drittel des Dungs eriparen läßt, der bei allgemeiner Düngung aufgemwendet
werden muß. Das Rejultat aber ift ein bedeutend beijeres.
Die Einteilung der Gemüſearten zu diefer Reihenfolge richtet fich fait ganz nad
Zpeijen genießen. Es find dies Blätter, Wurzeln
: die Blattgemüfe, von denen namentlich bie
ttermaffe produzieren, die faum noch an das
oleracea erinnert. Diefen folgt der Wirjing,
Blätterkohl, deſſen Blätter fih normal entwideln.
ferner die Spinatarten und die Salate. Leßtere
gebaut, verlangen aber gut gedüngten Boden.
aſen im Verlangen nad zeihlider Düngung, bie
iſchig gewordenen Stengel genießen. Alles
inflen bie betreffenden Teile zart fein; hier
der Kohlrabi, dann die Gemüfe, deren
(Caroy, Meerkohl, Bleichjelerie) werden
Der Gemüfebau im Hausgarten. 333
Schafft Luft und Licht in euren Gärten! Pflanzt und fäet weitläufig, lichtet
eure Dbftbäume! Der Kohlenftoff der Luft bildet den Bauftoff für ale Gewächfe, das
Waſſer gleichfam den Mörtel und der Sauerftoff der Luft ift der Baumeifter. Die
ausführenden Arbeiter aber find die Lichtftrahlen. Gebt ihnen Gelegenheit, zu jedem
Blatt Hinzugelangen. Nur dann kann von freudigem Gebeihen die Sede fein.
Die Düngung beginnt auf dem Quartier, auf dem Blattgemüfe kultiviert werben
follen, und wird im Gemüfegarten hauptjächlih duch Stalldung ausgeführt, dem
Univerfalmittel, das alle Bedürfniffe der Pflanzen enthält und nebenbei den Boden
durchlüftet, erwärmt und duch Humusbildung verbeflert. Haben mir es nicht mit
fehr ſchwerem Boden zu thun, fo ift Kuhdung allen anderen Erfrementen borzu=
ziehen. Reiner Pferdedung ift zuweilen für Kohlarten durch Beförderung der Kohl:
krankheit berhängritvoll
Um das Blattwachstum zu fördern ift eine Kalidüngung nebenbei von Erfolg.
Diefe wird durch Holzaſche oder geringe Überfireuung des Dungs mit Kainit gegeben.
Bei der ftarfen Düngung und dem Tiefgehen der Wurzeln ber Kohlpflanzen ift
Nigolen auf ca. 60 Zentimeter Tiefe unerläßlih; Hierbei wird der Dünger moͤglichſt
innig mit der umgegrabenen Erde gemifcht.
Das im vorigen Jahr ebenjo bearbeitete vorjährige Vlattgemüfequartier bes
kommt in biefem Jahr für die Wurzelgemüfe gar feinen Dung. Gerade die Düngung
mit frifchem Dung erzeugt die fo oft beflagten madigen Rüben und Zwiebeln. Sobald
die Pflanzen zu wachſen beginnen, ift eine dünne Überftreuung mit Chilifalpeter, der
als Stidjtoffpüngung auf die Ausbildung fleifchiger Pflanzenteile einwirkt, von Erfolg.
Fe fi igen Stengel und Wurzelorgane, die zart fein follen, müſſen ſchnell
‚anwadhlen.
Nun kommen die Hülfenfrüchte, die als Nachfolger der Wurzelgemüfe feiner be
fonderen Stalldunggabe bebürfen, wenn wir ihnen zur Stengelbildung im Herbft
dor ber Ausfaat etwas Kali (Rainit) geben und den Fruchtanfag durch Einbringen
irgend eines Phosphorbungmittel® fördern; hier find Sinochenmehl oder Thomasichladen
langfam, Superphosphate ſchnell wirfend. Ale derartigen Dungmittel werben in ver-
Hältnismäßig geringer Doſis verwendet.
Eid bedürfen die Hülfenfrüchte nicht, da fie ihn von den Meinen, ſich
Tolonienweife an ihre Wurzeln fchmiegenden Pilzchen (Bodenbafterien) empfangen,
denen fie dafür wieder andere Lebensmittel abgeben. Ja, e3 giebt auch „gute Geifter”
unter den fo gefürchteten Spaltpilzen: Diefe Symbioſe ift ein eigentümliches Freund»
ſchaftsverhaltnis im Pflanzenreich, wie e8 unter Menjchen felten vortommen mag.
Haben wir fo die Bebürfnifje der Gemüfepflanzen im allgemeinen befprochen, fo
wollen wir in einem zweiten Auffag die Hauptarten in ihren Eigenheiten vorführen
und die Anzucht der Pflanzen betrachten. Wer das Leben der Gewächſe mit Intereſſe
zu beobachten verfteht, für den ift die Arbeit im Gemüfegarten ein ebenjo hoher Genuß,
wie die unter Blumen. Vielleicht intereffiert e8 dann auch noch, einen Blid in den
Obftgarten, der ja meiftend mit dem Gemüfegarten verbunden ift, zu mwerfen.
Der Februar bringt das langſame Hinfcheiden des Winters, die Märzfonne
erwedt Millionen von Keimen und Trieben. Wir aber find berufen, das fich ent:
faltende Leben zu überwachen und die heranwachienden Pflanzen zu erziehen, daß
fie zur Erhaltung der Menſchen beitragen. In einer gut geführten Gemüfegärtnerei
find es vielleicht 5 Prozent der Pflanzen, die ald wertlos entfernt werden, in Privat:
Ben 50—60 Prozent. Deshalb an die Arbeit; forgen wir, daß es bei uns nicht
jo ausſehe.
Stella'3 Wankelmut.
„Jetzt bift du eben ſchon fo ein bißchen
auf dem Abmarfh. Da vermindern fi
natürlich bie Geiftesfräfte.”
„Spotte du noch. So ein Grünfchnabel
wie bul“ .
„Nun, wenn ich fo ein Gudinbiewelt bin,
was nüßt bir mein Rat?”
„Da haft du recht.“ — Eie ſaß mieder
neben feinem Ruhebett auf der Erbe, hatte
die Arme um ihre beiden Kniee gefchlungen,
die Hände in einander verſchränkt und blidte
nachdenklich gradeaus vor fih hin. „Ja, im
Grunde nüßt er mir gar nichts. Nicht das
mindefte. — Und doch ...“
„Sieb, Eugen,” begann fie nad einer
Pauſe ganz leife, „ich will ja auch nicht grade
Rat von bir haben. Und gewiß nicht dich
mit Verantwortung belaften für das, was id)
thue. Ich werd’ dir nie fagen: Du rietft
mir, es ift deine Schuld. — Nur reden möcht"
id, mir felbft Mar werben. Nachher .
nachher thu’ ich dann dies oder was anderes, —
ober auch gar nichts.”
„Alſo, leg’ 108.”
„Ja, wenn du's nur begreifen Tönnteft.
Damals war eben alles fo anders. Ich fo
jung. Under fo, fo... Was ihrjeßt alle Stella's
Wankelmut nennt, das hat's überhaupt noch
nicht gegeben. Es war im Garten, er ſchaukelte
mid. Dann hielt er plöglih an, mitten im
Schwunge: Du, willft du mi? Und er hob
mid) hinunter zu fi auf die Erde. — Ich
gab ihm Feine Antwort. Auch nicht ein
Vor! — — Wir find dann zu ben
Eltern gegangen. Unb ihr Brüder fchriet:
Hurrah! und die Dienftleute kamen und
gratulierten. Mama fagte: wir müfjen ihr
ein Kleid beftellen für die Brautvifiten, bie
Kleine hat gar nichts! — Was war denn
damals zu überlegen? Ob das Kleid blau
ober rofa fein ſollte. Weiter doch nichts.
Es gab Heine Tontraftierenden Pflichten, es
ging alles fo glatt und fo einfah. Und war
fo ſchön! Ich, Etella, die heute bedenkt und
verwirft und zögert und fi zu nichts ent
ſchließen Tann, id} glaube, ich eriftierte noch
gar nicht. Und dann — — — als id) dann
zwanzig war und er jtarb und der Kleine gleich
darauf, — ich dachte, ich wär’ mit dem Leben
fertig. Ja fertig! Da hat's erft angefangen.”
„Arme Stella! Kein Menfh kann dir's
verbenfen, wenn bu bir wieder ein eigenes
Glüd ſuchſt, fie haben e8 bir ſchwer genug
gemacht.“
„Sie? wen meinſt du, feine Schweſtern?
Ad, das doch nicht! Sie raiſonnieren, rümpfen
die Nafe über mid. Und dann zahl ich ihren
Söhnen die Schulden, und dann müffen fie
ſchweigen.“
„Hm, in dem Fall müßte ich alfo auch ...“
„Aber nein, das ift doch mas anderes:
Du gehörft zu mir. Und dann verleumbeft
du mid) aud nicht hinterm Rüden, fondern
bift mir grob ins Gefiht. Das mag ich
grade.“
„So? werd' mir's merlen.“
„Eugen,“ bat fie und drüdte die Wange
an feine Schulter, „Lannft bu dir's nicht denlen,
wie einem ift, ber ganz allein ift, immerfort,
und fi vor allen, allen Leuten höflich, in
Gefelichaftstoilette zeigen muß und nie im
Schlafrock?“
„Nun, den da, von heute, könnteſt du vor
den fremdeſten Leuten ſehen laſſen.“
„Willſt du mid) wieder nicht verſtehen ?
Ich meine ein innerliches laisser aller. Mit
dir bin ich natürlich, weil du's auch biſt.
Wie's mich freut, wenn du ſo herausgähnſt!
Das weißt du ja gar nicht.“
Er lachte: „Am Zuhausfühlen bei dir
fehlt's mir wahrhaftig nicht. Wenn du die
Schwäger und Schwägerinnen auch ſo hier
aufs Gut einladen würdeſt, daß ſie ſich von
dir geſund pflegen ließen, — ich glaube, ſie
fühlten ſich bald genug heimiſch. Nämlich, du
haſt wirklich Talent zur Krankenſchweſter.
Wenn der Profeſſor erſt einmal dein Mann
wird ....“
„Ja, wird er das denn?“
„Das mußt du wiſſen“.
Eie fprang auf und ging zur Thür, ftieß
fie weit auf, ſah hinaus in den Garten, kam
zurüd und warf fi) wieder auf beide Kniee
neben dem Kranken.
„Ich weiß es nicht,” flüfterte fie, „ich
weiß nicht!”
Und dann lag fie eine Weile, das Geſicht
in bie Lehne feines Ruhebettes vergraben, und
an dem Zuden ihrer Schultern ſah er, daß
fie meinte,
Stella's Wankelmut.
Inſpeltor ließe fragen, mann gnädige Frau !
zu ſprechen wäre. Ob der Herr Leutnant es
fagen fönne?
„Seht nicht. Überhaupt Heute...” Eugen
mollte fagen: heut’ gar nicht. Aber dann
befann er ſich, daß ein Inſpeltor doch manchmal
Geſchaͤfte habe, die vieleicht auch wichtig fein
fönnten. „Nachher,“ fagte er. „Um brei ober
vier. Ich erwarte den Arzt. Jedenfalls erſt,
wenn der Herr Profefjor fort ift. Eagen Eie
das.“
Er hatte fein Buch wieder aufgenommen,
aud bie richtige Eeite darin gefunden. Aber
obwohl’3 eines von Ompteda war, das alfo
feinen Stand ſchilderte und das er lieber las
als jedes andere, er fonnte nicht folgen. Gr
horchte hinaus.
Und dann fuhr ein Wagen am Haus vor.
Man hörte es bier, obwohl dies Gartens
zimmer nad) binten hinaus lag, fo raſch fuhr
er vor, jo ſcharf vor der Rampe wurden bie
beiden Pferde gezügelt. Profeſſor Salzer hatte
immer prächtige Tiere. Merkwürdig doch, daß
fo ein Gelehrter auf Pferde was gab. Über:
haupt auf Außerlichteiten. Und daß biefer
Mann, fo ernft, jo gehalten, fo ganz anders,
fh grade in Etella.... Aber natürlich,
darum grade. Eie zog ihn an durch ihren
Weltton, ihre Grazie, durch all das, was er
nicht befaß. —
Da kam der Profeffor ſchon herein. Ein
raſcher, ſuchender Blid durch das Zimmer.
Dann tar er ganz bei feinem Patienten.
„Sehr gut getwidelt,” fagte er nur halb»
laut ein paarmal, als er den Verband von
dem Knie nahm, „wirklich, fehr gut, ganz
mufterhaft.” Aber dann hielt er's nicht aus:
Ihre Frau Schweſter heut’ nicht zu Haufe?”
— fragte er.
Indem trat fie von der Terrafie ein. Sie
Icgte raſch ihre Gartenhandfhuhe und den
großen, runden Schutzhut auf den erften beften
Stuhl. Augenſcheinlich war fie gelaufen, als
fie den Wagen vernommen hatte, um recht= |
! feinem ſchon ein wenig angegrauten, großen
zeitig da zu fein. Nun fniete fie und ftügte
das Bein. Sie fah erhigt aus, das Haar ein
wenig vom Wind zerzauft, jo mädchenhaft
jung. Er war nicht grade jung und nicht
ſchön. Aber er war ein ganzer Mann. Eugen,
der am mindeften von ben dreien bei der |
887
Sache war, obwohl fie ihn eigentlich doch am
meiften anging, denn die Unterfuchung feines
kranken Knies that ihm recht weh — beobachtete
feine beiden einiger. Wie fie zufammen
arbeiteten, als erriete jeder von ihnen des
andern Gedanken und fuchte ihnen zuvor:
zukommen!
Aber nun ſollte der arme Patient wieder
Gehverſuche machen, einen Arm um Profeſſor
Salzers Nacken, einen um ſeine Schweſter
geſchlungen. Dabei konnten die zwei ſich nicht
ſo recht ſehen. Oder ob ſie hinter ſeinem
Kopf dennoch ſich verſtändigen würden? Er
wollt' es ihnen nicht verwehren. Tragiſch
war's doch, ſich zum Krüppel fallen zu müſſen,
damit zwei ſich kriegen können! Denn wenn
er nicht damals mit der Stute, ... der gute
Salzer hätte auch noch meitere fünf Jahre
wie bisher die ſchöne Frau fo von fern ans
ſchwärmen können.
„Aber, mas machen Sie denn, Herr
Leutnant,” rief der Profeſſor, „Sie geben ſich
ja gar feine Mühe. Ihre Frau Schweſter
muß Sie fürmlid tragen.”
„Ach fo,” Eugen lachte, „aber das ſchadet
nichts. Sie ijt mir nur dankbar, daß ich ihr
etwas Übung ſchaffe. Sie behauptet ja immer,
für das Krankenpflegen zu ſchwärmen. Na
alſo — iſt's fo recht?“
Und der Profeſſor: „Ja, gnädige Frau,
wie Sie dafür begabt ſind! Hätten wir in
der Klinik lauter ſolche Pflegeſchweſtern!“
„Nun,“ ſagte fie „vielleicht werde ich noch
Schweſter. Ich hab' manchmal Luft dazu.
In Ihrer Klinik oder wo anders. Darüber
bin ich nur noch nicht recht ſchluſſig.“ —
Der ärztliche Teil der Viſite war beendet.
Der Profeſſor ſah ſich nach ſeinem Hut um.
Aber auf den hatte grade Frau Stella Hut
und Handſchuhe geworfen. Er mußte ſie
aufheben. Das that er mit zögernd vor⸗
fihtigen Fingern, als gelte es jeßt erft eine
wirklich ſchwierige Operation auszuführen.
Sie griff gleichzeitig nach ihren Sachen. Unter
Bart konnte man ein Erröten erfennen. Cr
verbeugte fih und reichte ihr ihr Eigentum
hin. Dabei berührten fi) wohl die Finger.
Nun errötete fie auch.
„Wollen Sie denn ſchon fort, Brofefjor?”
22
Stella's Wanfelmut.
er blieb ruhig figen, ſprach in feinem dozierenden
NRatheberton weiter und erkundigte fih nad
ihrem legten Aufenthalt in Ztalien. Er venfe
aud) einmal hinzureifen. Später, mit jemandem,
der das Land, die Sprache dort, die Kunft
tennen würde... .
Eugen wetterte innerlih. So ein trodener
Stubengelehrter kann eben Frauen nicht vers
fiehen! Wenn er fie will, fo muß er fie
zwingen. Meint er wohl, daß fie fich felber
ihm anbieten fol? Na, da kennt er fie
ſchlecht. —
Aber ganz fo ſchlecht, wie der Bruber es
meinte, verftand der Gelehrte ſich doch wohl
nit darauf, feinen Vorteil wahrzunehmen.
Sie waren in Iebhafter Unterhaltung vom
Tiſch aufgeftanden, und er führte fie wieder
in das Terraffenzimmer. Als Eugen ihnen
nachgerollt worden, fand er bie zwei an dem
feuerlofen Kamin, auf dem die großen Bronze⸗
abgüffe von Micyelangelos Florentiner Grab:
mälern ftanden. Stella ftügte ben einen
Ellbogen auf die Platte und hatte die Stim
in die Hand gebrüdt. Er Iehnte ihr gegenüber.
Von der Wand fah das Lenbachſche Porträt
des verftorbenen Hausherrn auf fie herab.
An das dachten fie wohl nicht in dieſer
Minute. Sie ſchwiegen beide.
Dann büdte er ſich und nahm ihre Rechte,
die ihr in den alten des Kleides herabhing.
Er hielt fie fo leife, zaghaft, fragend ..... .
„Auf morgen alſo?“
„Ja, auf morgen,” ſagte fie.
Er ging aus dem Zimmer, den Blid rüd-
wärts, zu ihr gewendet, ohne feinem Patienten
Eugen nur Adieu zu fagen. Und Stella
ftand und fah ihm nad. Dann drehte fie
langfam fi zu ihrem Bruder: „Nun, was
fagft du? ift dir's fo recht?”
Und fie kam zu ihm und nahm feine
Hand und brüdte fie ſich an bie heiße
Bade:
„Du, er ift nett, nein, toirflich nett. Und er
iſt fo... fo verliebt. Das thut mir wohl.
Es ift doch ſchön, daß es fo was noch giebt!
Ich glaube, .... ihm konnt' id es nicht
gleih fagen. Aber, — ja — ich hab’ ihn
auch gern! — wir werben noch ganz glüdlich
werben... . .”
Inder wurde der Inſpektor gemeldet.
389
„Nein!“ rief fie, „mein, ich will nicht,
jegt nit! Sagen Sie, ih bin nit an-
gezogen.”
Aber er war dem Diener auf dem Fuß
gefolgt und ftand in feinen Reitftiefeln, be
ftaubt, erhißt, fo, wie er vom Felde am, die
lurze Peitfche mit feiner Müte in ber Hand,
ſchon mitten im Zimmer und vor ihr... .
„Gnäbige Frau!" —
„Ach, Herr von Thielendorff, Eie ver-
zeihen, ich habe nicht Beit jetzt.“
n®itte, es bebarf feiner Beit.
nur erfuchen wollen, nur...
Abſchied —“
„Sie!“ — Frau Stella trat einen Schritt
zurück
„Ja, gnädige Frau, ich muß um meine
Entlaſſung bitten.“
„Herr von Thielendorff, nein, das thun
Sie mir nicht. Sie wiſſen doch, ich verſtehe
gar nichts. Und überhaupt.. Sprich du
mit ihm, Eugen!“
„Der Herr Leutnant wird Ihnen nicht
helfen. Er wünfcht, daß ich gehe.”
nAber ih wünſche es nicht, ih will's
nit! Sie haben mir ja auch verfprochen,
zu bleiben, damals, ala Ihr Onfel ftarb und
Ihnen fein Gut... Sie hätten längft dort
ſchon Ihr eigener Herr fein können. Aber
Sie fagten mir, diefen Winter... .”
„3a,“ murmelte er, „da haben Sie mic
glauben machen . . .”
„Daß Sie mein Freund find, das glaubte
ich!“
„Daß ich nicht nur Ihr bezahlter An—
geſtellter, ſondern ein Menſch in Ihren
Augen, ein Mann ſei, dem Sie's erlaubten,
Sie zu ... zu bewundern. Erſt ſeit Ihr
Bruder herlam... Und dann der Profeſſor ...
Seitdem natürlich . . .”
„Herr von Thielendorff,“ rief Eugen und
richtete fi auf, fo weit er konnte, „Cie
fagen ſchon zum zweitenmal etwas, als ob
ih Eie bier verleumbet hätte... . Sch bielt
es für meine Pflicht, meiner Schwefter . . .”
„Was weißt du von ihm!“ rief Stella
dagegen. „Was man eben beim Regiment
hört. Ich weiß mehr. Bon ihm felbft.”
„Gnädige Frau,” fagte der Infpektor leiſe,
„ich tenne Sie, Cie würden nie eine An—
22*
36 Hatte
nur meinen
Stella's Wanlelmut.
„Barum verſuchen Sie, mich zu täuſchen?
— Ich ritt an feinem Wagen vorüber, als
er zur Stadt fuhr. Ich ſah fein Geſicht. —
Da las ich die Wahrheit.“
Welche Wahrheit? daß er um mich ans
gehalten hat? mill ih denn das leugnen?
Dbgleih Sie's nichts angeht, ich will Ihnen
auch noch mehr erzählen. Er erbat fi meine
Entſcheidung für morgen. Ich veriprad fie
ihm. Und morgen alfo... . ja, da ſchreibe
ich ihm ab!“
„Stella!“
Wer hatte es gerufen? Thielenborff ober
Eugen, oder beide? Sie baten feiner an
den andern. Der Inſpeltor hatte ihre Hände
ergriffen und hielt fie und ftammelte irgend
etwas. Sie verftand’3 nicht, er wußte nicht
mas. Das war auch gleichgiltig. Eugen
hatte ſich aufgerichtet, er griff nad feiner
Krüde, er tappte fi von feinem Ruhebett in
die Höhe, zum nächſten Stuhl bin, zum Tiſch,
zu ihr... es ging nur nicht fo ſchnell, wie
er wollte.
Frau Stella hatte inzwiſchen ihre Hände
aus denen bed Herrn Inſpeltor gelöft. —
„Alfo, darüber find Sie nun beruhigt. Mas
Ihnen auch einfiel! Wenn id mich wieder:
verheiratet hätte, fo wollten Eie fort? Nun,
da's damit nichts ift, bleiben Eie alfo? gewiß?
Ihr Wort?"
„Mein Wort, Frau Stella!” fagte der
Mann mit leifer Stimme.
„Ich danke Ihnen. Ich danke Ihnen! Was
auch fommen, was ich thun mag, — bis ich mich
einmal verheiraten werde, bleiben Sie alfo hier
ala Infpeltor. — So, das wär’ in Drbnung.
So, gehen Sie jet. — Ich muß nad) meinem
Patienten fehen. . . . Adieu für heut! —“
„Du, Eugen,” fagte fie und wandte fih
zu dem Bruder und kehrte jenem jo entſchieden
den Rüden, daß er nicht anders fonnte als
fortgehen, — „mas machſt denn du ba für
Experimente? Du ſollſt doch nicht aufftehen,
ohne den Doktor! Komm, ich ftüß dich, fomm . .”
Sie wollte ihn zu feiner Chaifelogue zurüd⸗
bringen.
Er aber, halb atemlo8 vor Erregung,
ftand, zwiſchen Stuhl und Krüde fih haltend:
„Nein ih will nicht, laß mich! Nein! Ich
will wiſſen, was das heißt. Wann haft du
341
gelogen, jeßt oder erft? Und welchen von ben
zwei Männern betrügft du, den Profeſſor,
den edlen, guten, berühmten, großen Mann?
Oder biefen, diefen da!” —
Sie nahm ihm einfach die Hand von ber
Stuhllehne fort, an die er fih angeflammert
hatte, unb legte feinen Arm um ihre
Schulter. Um nicht zu fallen, mußte er fi
nun an ihr halten, fi) von ihr führen laſſen.
So brachte fie ihn zum Sofa zurüd, half ihm
fi) Iegen, lagerte ihm das Bein.
„Stred di aus. Thut es noch meh?
Was du aud für Gedichten anfängft. Und
die großen Worte: lügen, betrügen! Du bift
ein Kind. Und id) bin eine rau, weiter gar
nichts.”
„Was willſt du denn nun eigentlich?" rief
der junge Mentor heftig. „Auch Frauen, meine
ich, müßten ſchließlich wiſſen, was fie wollen.”
„DH ja,” fagte fie. Sie richtete fi in
die Höhe, nachdem fie ihn forgfam gebettet
hatte, „ob ja, zuletzt!“ —
Und fie ging von ihm fort zu dem Heinen
Schreibtiſch an der andern Seite der Terraſſen⸗
thür, feßte fich, fchrieb.
„Was ſchreibſt du,” rief er, „eine Abfage
an den Profefjor? Stella, du thuft ein großes
Unrecht. Du ließeft ihn durch deine Art ein
Ja erwarten. Und diefen Thielendorff heiraten,
deinen eignen Inſpeltor, der wegen Schulden
und Schwindeleien vom Regiment fort mußte,
nein, das fannft du doch nit, ganz un-
möglih!" ...
Sie ſchrieb noch, ohne ſich ftören zu laſſen.
Dann fam fie zu ihm, mit dem fertigen Brief
in der Hand.
„Auch Frauen müfjen wiſſen, was fie
tollen, fagteft du? Nicht immer, Eugen. Ich
menigftens, vorhin, — du haft recht, ich ließ
ihn glauben, es würde ein Ja fein. Ich meint’
es felbft jo. Fünf Minuten drauf den In—
ſpeltor ... den ließ ich's auch glauben. Ober
vielleicht nicht heut. Diefen Winter aber, ſchon
oft... Und andere auch früher. Aber nie
lang. Weil es eben nichts war. Cingerebet,
gewollt, nicht gefühlt. Ich fagt’ es dir vorher.
Ih made mir zu viel Ideale und will zu
viel. Darum kann ich nichts Ganzes mehr
fühlen. Und überhaupt... Da nimm und
lieg —"
342
„Stella,” rief er, da er auf dem Brief,
ben fie ihm bingab, nur die Adreſſe gefehen
hatte, „warum an die jeßt? das bedeutet . . 2”
„Sa eben dad. Daß ich mich bei der
Oberfchweiter ala Pflegerin melde. Dazu palfe
ih, mie du meißt. Dann brauche ich mid
nicht mehr zu fragen, was ich will, Tann ganz
einfach nur thun, was ich muß. Ach, wird
das bequem fein!” Sie ftredte fich in dem
Strohlehnituhl aus, die Hände hinter bem
Kopf gefaltet. „Ihielendorff bleibt hier auf
dem Gut, ih babe fein Wort. Dann mirb
e3 gut bemwirtichaftet, daß mir Leos Verwandte
nicht nach meinem Tod noch Vorwürfe machen.
Und er, der arme Kerl, er ift hier geborgen,
gefhübt vor feinem Leichtſinn. Das freut
mih für ihn. — Na, und der andere —
ein großer Gelehrter, wie du felbit jagft, ber
hat feinen Ruhm, feine Kranken, feine Arbeit. —
Er wird ſich fchon tröften.”
„Aber bu, Stella, du — in dem weißen
Kleid da, in deinem Salon, mit ber offenen
Thür zum Park und dann nahher ..... Das
ift ja nicht möglich!” |
„Ach,“ fagte fie, „fo ſchlimm ift das nicht.
Die modernen Kranfenbaraden find gut gelüftet.
Und die Tracht ift gar nicht unfleibfam.
Dad Buch der Weisheit.
| Überhaupt —” fie war ſchon wieder auf:
gefprungen, ftand nahe über ihn gebeugt und
ihre Augen blisten ihn an — „meinft du, es
wär’ nicht fchön, mas Schweres, jo was recht
berzbeengend Großes, Schweres zu thun?
Menn man fühlt, daß man’ fann? Sch
hab's mir fhon oft früher gewünfht. Und
dann wünſcht id) mir das Seiraten mehr.
Aber nun heute... . menn bad Heiraten fein
Glück ift, kein zwingendes, blaues, fraglos
helles, warum benn dann? Und warum muß
ich glücklich werden, grade ih? Go viele ſind's
nit... — Weiß ich des Morgens, warum ich
aufiteh’, daß ih am Plab fein muß, die eine
zu waſchen, die zu beiten, den zu verbinden,
fo ift das genug. Sch babe einen Zweck dann
im Leben. Meinft bu, dad wär' mir nicht
wert aller Mühe? —“
„Stella,“ fagte er leife, „ihr rauen! Und
ich dachte, ich fenne dich. Ob viele fo find?“
„Mandje. Und manche find wieder andere.
Und ich bin fo. Du fragteft vorhin, ob ich
denn nicht weiß, mas ich will® Sch meiß es
ja, jet. Man kann Überhaupt fi fo was
nicht lange überlegen. Es fommt, und man
muß. Dann ift man nicht mehr unentichloffen.
Dann bleibt e8 dabei. —“
— 8—
Das Buch der Weisheit.
Prometheus erderfchaffenem Gefchlecht
aht’ auch Athene fih im Götterglanze
Geſchenke bringend:
„Teilet recht”,
So fprechend reichte fie dem Menfchenpaar,
Dem erften, ihre Gaben dar;
Ein Spinnrad war’s, ein Buch und eine Kane.
Rafch nach der fchweren Waffe ariff der Mann,
Die trefflich feiner grimmen Stärfe paßte,
Und maßte auch das Buch fich
an;
Derweil des Weibes zarte Hand
Das eben nahm, was fie noch fand,
Und froh das zierlich fchöne Spinnrad faßte.
So blieb es auch, bis einmal Streit fich fand,
(Athene felber mag den Swift entfcheiden)
Das Buch der Weisheit war der Gegenftand.
Die Göttin ſprach:
„So war's nach meinem Sinn;
Wohl ift für zwei genug darin
Un Weisheit; es gehöre allen beiden!”
Arthur Thielert.
— —— —
Aesculapia Victrix.
Belene Tange.
Racbrud verboten.
Er Jahre 1886 erfchien in der „Fortnightly Review“ ein Artikel von Robert
Wilfon, betitelt: „Aesculapia Victrix“. Er ſchildert darin die Kämpfe, die
auch in Großbritannien durchgefochten werden mußten, ehe die Frauen zum Stubium
der Medizin zugelaffen wurden, Kämpfe bis zum bandgreiflichften Sinne des Worts.
Denn in Edinburg mußten die Studentinnen vor den Steinwürfen ihrer männlichen
Kollegen flüchten. Aber „Aesculapia“ ging als Siegerin aus diefen Kämpfen hervor,
und fleinerne Monumente, Hofpitäler, in denen Frauen von Frauen behandelt werben,
geben heute davon Kunde.
Mit den fleinernen Monumenten hat's bei ung noch gute Weile. Aber auch
wir dürfen zufrieden fein, auch wir dürfen fagen „Aesculapia Vietrix“, wobei wir
allerdings noch eine Heine Anweifung auf die Zukunft mit in den Kauf nehmen müffen.
Und wenn wir zurüdbliden auf bie fehweren Jahre, die hinter uns liegen, fo haben
wir alle Urfache, dankbar derer zu gedenken, die die erfte Brefche fchlugen.
Es war zu ber Zeit, da ber Jubel über das neu erftandene Reich aller Herzen
und Gedanken erfüllte, da alltäglich jeder eifrig zur Zeitung griff, um die Welt:
ereigniffe zu verfolgen. Da kann möglicherweiſe mancher Leſer mit einem unwillkürlichen
Zuden der Mundwinkel eine Heine beſcheidene Notiz überflogen haben, daß die erſten
deutfchen Studentinnen in Zürich ihren Einzug gehalten hatten, vorausgefegt, daß die
beutfchen Zeitungen dieſe Thatfache überhaupt des Berichtens wert erachteten. Heute
dürfen die beiden Studentinnen, die damals die mebizinifchen Hörfäle befuchten, auf
25 Jahre einer fegensreichen, von Jahr zu Jahr wachfenden Praxis zurüdbliden.
Aesculapia Victrix!
Emilie Lehmus, die Tochter eines Prediger aus Fürth, die, wie jo manche,
dur den Lehrberuf zum Studium kam, war ſchon feit etwa einem Jahr in Zürich
immatrifuliert, ala Franziska Tiburtius (geb. in Bisdamig auf Rügen) ſich als
die zweite Deutſche in der mebdizinifchen Fakultät einfchreiben ließ. Auch fie war
Lehrerin geweſen; wie Fräulein Lehmus in Paris, fo hatte fie in England fid die freiere
Anfhauung erworben, die ihr half, die in Deutfchland- noch eng verbundenen
Begriffe „ungewöhnlich“ und „unweiblich“ von einander zu trennen. Nicht wenig hatte zu
ihrem Entſchluß, Medizin zu ftudieren, ihr Bruder beigetragen, der als Arzt den Krieg
mitmachte und mit dem fie in eifriger Korrefpondenz ihre Pläne erörterte.
Von der Züriher Studentin war bis dahin nicht viel die Rede geweſen. Es
batten nur eine geringe Zahl Schweizerinnen die neu erfchloffene Gelegenheit benugt.
Gerade um dieſe Zeit aber, in den Jahren 1871 und 72 fand jene Invafion von
ruſſiſchen Studenten und Studentinnen ftatt, die zu fo fchiefen Darftellungen des
344 Aesculapia Victrix.
Züricher Studentinnenweſens in der Prefle geführt hat. Franziska Tiburtius hat in
ihrem Artikel „Frauenuniverfitäten oder gemeinfames Stubium“ im fünften Jahrgang
der Frau über ihre ruffifchen Kolleginnen ein Urteil abgegeben, das doch weſentlich
anders lautet. Wohl verleugneten all diefe, zum Teil blutjungen „Umftürzlerinnen
mit den kurz gefchnittenen Haaren, großen runden Brillengläfern, die Cigarette im
Dr. med. Emilie Zchmus.
Munde, in den engen, fuizen, völlig ſchmuckloſen und nicht immer ganz einwands⸗
freien ſchwarzen Kleidchen“, im Umgang mit den Studenten und untereinander ab⸗
fihtlich jede hergebrachte Convention, aber durchaus nicht aus fittlicher Laxheit, fondern
als begeifterte Jünger und Märtyrer ihrer politifchen Überzeugungen. Daß e8 ihnen
heiliger Ernft damit war, haben viele nachher gezeigt, als das Martyrium Wirklichkeit
346 Aesculapia Victrix.
Medizinerinnen damals noch weit ſchwerer zu erlangen war als jegt, Fräulein Lehmus
ging zu diefem Zweck nach Prag, wo fie in der Univerfitäts-Entbindungsanftalt unter
Profefjor Weber praftizierte. Fräulein Tiburtius hatte Schon längere Zeit in Zürich unter
Profeflor Huguenin auf der inneren Abteilung für Frauen gemrbeitet. 1876 ging fie
nach Dresden, um dort in der kgl. Entbindungsanftalt der Frauenklinik unter Geheim-
rat von Windel zu arbeiten. Hier traf fie wieder mit Fräulein Lehmus zufammen.
Es ift befannt, daß Geheimrat von Windel einer der märmften und verftänbnig-
vollften Förderer der Ürztinnenfache in Deutfchland geweſen ift. In Kirchhoffs Buch
„die alademifche Frau“ fält er felbft über die bei ihm beichäftigten Volontärärztinnen
folgendes Urteil: „Pflichtgetreu, fleißig, gemwillenhaft und aufs eifrigfte beitrebt, al
ihre Zeit beiten? auszunügen, babe ich die Leiftungen der meiften dieſer Schülerinnen
mit Freuden als mindeftens gleichwertig mit denjenigen ihrer Mitvolontärärzte an-
erkennen müſſen.“
Die Beziehung dieſes Ausfpruch® zu meinem Thema liegt nahe genug. Und
in der Praris follten beide Ärztinnen bald genug das Vertrauen glänzend rechtfertigen,
bad ihnen von allen Seiten entgegengebracdht wurde, ala fie im Jahre 1876 ihre
Thätigleit in Berlin begannen. In der Neichshauptftadt fielen manche von den
Schwierigkeiten fort, die Fleinere Städte damals boten und wohl jest noch bieten.
Der Gefichtäfreid der Frauen war doch jchon genügend erweitert, daß fie ohne Bor:
urteil und Mißtrauen dem Ungewöhnlichen gegenüberzutreten vermochten. Überdies
war der Salon von Frau Dr. Tiburtius — Fräulein Dr. Tiburtiuß war in den
Haushalt ihres Bruderd übergefiedelt — fchon lange der Sammelplag aller im ärzt⸗
lichen oder in anderen Berufen arbeitenden Frauen, die befonder8 von Amerifa und
England aus Berlin “auffuchten. Die ftile Propaganda, die von diefem Haufe aus:
ing, bat unendlich viel mehr und viel wertvollere Projelyten für die Frauenjache
gewonnen, als jo mancher Trompetenftoß auf offenem Marlt.
Dem feinen, im ebdeliten Sinne weiblichen Auftreten unferer beiden eriten
Ärztinnen ift e8 wohl auch zu danken, daß ſehr wenig Neibungen mit den Kollegen
entitanden, und das Bewußtſein, gerade von den Belten unter ihnen anerfannt und
geſchätzt zu fein, konnte fie gelegentliche Chikanen mit Humor ertragen lafjen.
Neben ihrer PBrivatpraris jchufen ſich die beiden Frauen ein ausgedehntes
Arbeitsfeld durch die Errichtung einer Poliklinik für unbemittelte Frauen. Die nötigen
Räumlichkeiten dazu in der Alten Schönhauferftraße gaben auf die Bitte von Frau
Dr. Tiburtius, die dieſer Angelegenheit das größte Intereſſe bewies, Herr und Frau Bötzow
ber. Dieſe Vergünftigung wurde — eine unendliche Wohlthat für die armen Patienten
— aud weiter gewährt, als das Haus in andere Hände überging. Von 1878-1896
leifteten die beiden Ärztinnen, erft feit 1890 durch Fräulein Dr. Agnes Bluhm unterftügt,
die große damit verbundene Arbeit. Was das bedeuten will, beweilt die Zahl der in
diefer Zeit behandelten Patientinnen, fie belief fich auf über 20 000. Bis heute bat
die Poliklinik, die 1896 an die jüngeren Kolleginnen überging, die fich feitdem in
Berlin niedergelaffen hatten, nahezu 25 000 franfen Frauen ärztlichen Rat gewährt.
Immer lebhafter hatten die beiden Ärztinnen das Bedürfnis empfunden, ihren
armen Patientinnen auch in Fällen, wo eine längere Elinifche Behandlung nötig war,
Aufnahme gewähren zu fünnen. Zuerſt wurde eine folche Pflegeftation in befcheibenften
Dimenfionen im Tiburtiuß’fchen Haufe eingerichtet, wieder unter thätigfter Beihilfe von
Frau Dr. Tiburtius. Vom Jahre 1894 an wurde die Station nach der Bülomfir. 14
Ein Kapitel zur Kindererziehung. 347
verlegt und der Verwaltung bed Berliner Frauenvereind unterftellt. Ein beſonderes
Komitee, deſſen Vorfigende Frau Dr. Tiburtius if, beforgt diefe Verwaltung, während
die ärztliche Behandlung nach wie vor in den Händen von Fräulein Dr. Tiburtius und
Fräulein Dr. Lehmus blieb, denen fpäter die jüngeren Arztinnen Berlins affiftierten.
Das Jahr 1900 brachte für Fräulein Dr. Lehmus eine ſchwere Erkrankung, die
fie nötigte, ihre Praxis aufzugeben, um im Süden Erholung und im Kreiſe ber
Ihren die mohlverbiente Ruhe zu fuchen. Der warme Dank eine großen Patientinnen=
kreiſes gilt ihr nicht minder als Fräulein Tiburtius, der er inmitten ihrer Berufsthatigkeit
perfönlich außgefprochen und betätigt werben konnte in einer Form, die ihr unzweifelhaft
die Tiebfte ift: einer Frauziska Tibnrtins-Stiftung, durch welche die Zahl der Frauen,
denen bie Pflegeftation unentgeltliche Hilfe gewährt, erhöht werben kann.
Ich weiß, wie wenig es dem Sinne unferer beiden erften Ärztinnen entfpräche,
wenn ich diefe furze Skizze ihres Wirkens mit einem Panegyritus abſchlöſſe. Sie mag
für fich felbft fprechen.
Er
Lin Kapitel zur Kindererziehung.
m
Helene Chriſtaller.
Ragprud verboten. —J
8 giebt wohl kaum eine Kinderfrage, die von Müttern und Erziehern fo oft
ungeſchickt und thöricht beantwortet wird, als die Frage nad dem Urfprung
der Kinder. Durch die Leichtigkeit verführt, mit der die Kleinen alles als
Wahrheit hinnehmen, kommen die Eltern ſchon frühzeitig dazu, bei diefer Frage von
vornherein ſich Schwierigkeiten aufzubauen, die fie fpäter vergeblich zu überwinden
ſuchen. Dan muß fi wirklich wundern, daß eine fo verfehlte Praris nicht ſchon
längft aufgegeben worden ift. Haben denn die Eltern ihre eigene Jugend vergeffen?
Biffen fie nicht mehr, daß alles Angftlich Verhehlte, forgfältig Verfchleierte unfehlbar
von andrer und meift Höchft ungeeigneter Seite offenbart wird — und wie offenbart!
Es ift wahrhaftig, als ob fie ein fectes Gewiſſen hätten, daß fie Eltern fein —
fo faßt es wenigſtens das num von ber Wahrheit unterrichtete Kind auf und blickt
mit mißtrauifchen Augen auf die, die es vielleicht zum erftenmal auf Unwahrhaftigfeit
ertappt bat. Zum Unglüd verhehlen die Kinder meift ihre hinter dem Rüden ber
Eltern erworbene Lebenskenntnis und verraten fie ihnen erſt gelegentlich durch ein
unreines Lächeln, oder durch ein peinliches Erröten, wenn von irgend etwas bie Rede
iſt, was mit ihrem Geheimnis zufammenhängt. Im Prinzip geben die meiflen ver-
nünftigen Eltern dem, der auf diefe Schäden hinweiſt, recht — und bei ihren eignen
Kindern befolgen fie die alte Praris.
Wenn man Stabtlinder und Landkinder vergleicht, fo fällt fofort ein großer
Unterfchieb auf: die legteren find miflender, auch derber, aber natürlicher, offener und
darum fittlicher.
Wer kann einen Frühling auf dem Lande erleben, ohne Blid für die unendliche
Fruchtbarkeit der Natur zu gewinnen? Kinder, bie für nicht fo vol Intereſſe find
als für Tiere, Pflanzen, Blumen werben ganz fortgeriffen und begeiftert von dieſem
überflutenden Leben. Sie fehen den Vogel Nefter bauen, fie freuen fih mit der
Ein Kapitel zur Kindererziehung. 349
alle Papas.“ „Gelt, unjrer!” riefen alle vier einftimmig. „Sa, unfrer,” fagte ich
lachend, „ben bringen wir drum auch nicht um, fondern . .. .?” „Wir lieben ihn!“
Und da er gerade den Gartenweg herunter kam, mußten fie ihm gleich zeigen, daß fie
feine Fürforge im Gegenfag zu den fchlechten Vienenvätern zu fhägen mußten.
Eine Tages fragte mein neunjähriges Töchterchen beim Anblid der Krippe mit
dem Jefuskind mich nachdenklich: „Mama, du haft und gezeigt, wie die Früchte wachfen,
aber von den Menfchen weiß ich es nicht recht.” Ich hatte die Frage fchon längere
Zeit erwartet und befchlofien, Wahrheit zu geben, wenn auch noch nicht die volle.
„Nun,” antwortete ich, „tie bei den Pflanzen verſchiedene Bedingungen zufammentreffen
müffen, bis es Früchte giebt, nämlich: fie müfjen blühn, die Sonne muß fcheinen, der
Regen fie befruchten, jo auch bei den Menſchen. Bor allen Dingen müjfen Mann
und Frau ſchon große Leute geworden fein, die felber einen Haushalt führen und eine
Familie ernähren können. Dazu gehört auch, daß fie fi fo lieb haben, daß fie ihr
ganzes Leben zufammen fein möchten, daß, wenn das eine traurig ift, das andre
mitweint, und wenn eins froh ift, das andre ſich mitfreut, und wenn fie fich nichts
Lieberes mwünfchen, ald bei einander zu fein bei Tag und Nacht, im Wachen und
Schlajen .. .” „Gelt, dann heiraten fie?” „Sa, jo nennt man's, und jet be-
tommen fie auch eine Kinder, die wachſen dann in der Mutter, wie die Äpfel auf
dem Baum.”
Mit diefer Erklarung gaben ſich die Kinder zufrieden und werben es auch noch
lange fein. Etwaige Fragen nad. unglüdlichen Ehen, unehelichen Kindern, kinderloſen
Ehen wird jede Mutter leicht den Kindern ſelbſt beantworten können, indem fie ihnen
das als etwas Unnormaled darftellt, was in der Schwäche der menſchlichen Natur
feinen Urfprung hat.
Ich glaube, je früher wir die Kinder über die grundlegenden Fragen aufs
Mlären, deito beſſer wird es fein, damit nicht ein Unberufner zuvorfommt und
die Mutter ſchon ein giftige Unkraut findet, wo fie noch unberührten Boden
vermutet hat. Mit wadendem Verftändnis kann man dann die Erfenntnis der Kinder
erweitern. Man lehre fie, welche ernfte Pflicht für Knaben und Mädchen es ift, den
Körper rein und heilig zu halten, und welches Elend eine Vernachlaſſigung dieſer
Pflicht für fie und einft für ihre Kinder nach ſich ziehen wird. Auch ein für die
Geſchlechter getrennter Kurfus in Anatomie und Geſundheitslehre wird für 14 jährige
ober ältere Kinder von Nugen fein. Es ift unwürdig und gefährlich, wenn der Menſch
über etwas, das ihn fo nah angeht, im Dunkel bleibt, während er vieleicht über die
Lebensbedingungen der Krofodile genau unterrichtet wird. Mancher leichtfinnige Frevel
an ber Gejundheit junger Mädchen würde unterbleiben, den fie begehen, weil fie
feine Tragweite nicht genau fennen, und die allgemeine Warnung, die man ihnen
zukommen läßt, wegen ihrer Unbeftimmtheit feinen Eindrud macht.
Es kann Fälle geben, wo die Eltern früher deutlicher werben follten, als erft
im Alter der beginnenden Reife; nämlich überall da, wo fie ihre Kinder aus Erziehungs-
oder andern Gründen jung aus dem Haufe geben und da, wo fie Verführung fürchten
müffen oder erbliche Veranlagung vermuten. Man kann die zu Belehrenden darauf
binmweifen, wie die zarten Blumenknoſpen auch feine derbe Berührung vertragen, und
wie bei einem Berfehlen dagegen die Blüten ſich gar nicht oder nur fümmerlich ent»
wideln und dann fchlechte — geben. Daß man aber ein Kind, das ſich ſchon
verfehlt hat, nicht zu fehr fchredt, jo daß es alle Hoffnung für die Zufunft verliert,
iſt felbftverftändlich.
Ich glaube, daß wir manche Klippe meiden fünnen, an ber ſchon viel junges
Leben geftrandet if, wenn wir fo die Kinder mit der Natur aufwachſen laffen, voller
Unfhuld, wenn aud nicht in Unwiſſenheit. Letztere ift eine feltene Zufallsgabe, erſtere
aber die Folge einer vernünftigen Erziehung, die feine Mutter in thörichter Vor—
eingenommenheit fcheuen follte.
Die Veftimmungen über bad Univerfitätäftubium ber Frauen in Deutichland ꝛc. 861
Freiburg durch einen Beichluß des Senats im Sommer 1895 den einzelnen Dozenten
die Zulafjung von Frauen zu einzelnen Vorlefungen freigeftellt; in Heidelberg hatten
die theologifche, philofophifche und naturwiffenihaftliche, nicht alfo die juriſtiſche und
die mebizinifche Fakultät im jeweiligen Einverftändnis mit ben betreffenden Lehrern
folge Frauen, deren Vorbildung und Studienzwed genügend Gewähr zu bieten
ichienen, zu den Vorleſungen zugelafien. Am 28. Februar 1900 hat dann aber ein
Erlaß des badiſchen Kultusminifteriums, der auf Grund ber Äußerungen der Senate
und der Fakultäten der beiden Landesuniverfitäten erging, beftimmt, daß „Frauen,
welche das Reifezeugnis eines deutfchen, ftantlich anerfannten Gymnaſiums bejiehungs-
weiſe in den Kane beftimmten befonderen Fällen (Studium der Mathematik, der
Naturwiſſenſchaften oder ber neueren Sprachen) eined derartigen Realgymnafiums oder
einer derartigen Oberrealſchule vorlegen und im übrigen bie erforderlichen Nach—
weifungen für die Immatrikulation erbringen, zur Immatrikulation an den beiden
Zandeduniverfitäten, vorerft nur verfuchd: und probeweiſe, zugelaffen werden.” Im
Fall des Zweifels darüber, ob eine Lehranftalt der fraglichen Art als eine ftaatlich
anerlannte und damit den flaatlichen Lehranftalten teicteend zu erachten fei, haben
die Immatrikulationskommiſſionen das Geſuch nebit den betreffenden Nachweiſungen
unter Beifügung ihrer Anfichtäußerung durch ben Senat an das Kultusminifterium
zur Entſcheidung vorzulegen. Daneben ift die Einrichtung, daß Damen als Hofpis
tantinnen zugelaffen werden, unverändert beibehalten. In Heidelberg Haben ſich die
betreffenden Damen unter Vorlegung der Zeugniffe Über ihre Vorbildung an bie
Dekane der oben genannten drei Fakultäten zu wenden. Die Zulafiung erfolgt dann
im Einverftändnis mit den in Frage kommenden afademifchen Lehrern, nur vergünſtigungs⸗
weiſe und jeder Zeit wiberruflih; aud erhalten die „Hörerinnen“ nicht den für
männliche Hofpitanten vorgefehenen „Hofpitantenfchein“, der zum ftändigen Befuch der
Vorleſungen berechtigt, fondern immer nur einen befonderen Erlaubnißfchein für das
laufende Semefter. Ebenſo wird ihnen auch in Freiburg, wo nad mie vor bie
einzelnen Dozenten direkt die Erlaubnis erteilen, der erwähnte allgemeine Hofpitanten-
ſchein nicht ausgeſtellt.
In Roftod iſt die Zulaſſung der Frauen als Hoſpitantinnen auf die philoſophiſche
Fakultät befchränkt. Das medlenburgiiche Minifterium hat in einem Erlaß vom
9. Dftober 1896 erklärt, obwohl die Univerfität eine ausichließlih für Männer
beſtimmte wiflenfchaftliche Anftalt fei, fo wolle es doch bis auf weiteres fein Bedenken
gegen die Teilnahme von Zuhörerinnen an den Vorlefungen im Bereich der philofophifchen
Fakultät erheben, fo lange diefe Teilnahme überhaupt der Zahl nad fowie für die
einzelnen Vorlefungen im Verhältnis zur Menge der immatrikulierten Hörer gering
bleibe und ſich auf ſolche Mädchen und Frauen beſchränke, die ein außerorbentliches
Intereſſe, insbefondere ein Berufsintereffe an dem Hören der betreffenden Vorlefungen
nachweiſen und ihren Aufenthalt in einer Familie zu Roftod haben. Die Zulaffung
iſt bebingt durch die Genehmigung bed Rektors. Auch ift jeder Dozent verpflichtet,
don einer folchen Zulafjung unter Angabe ber perjönlichen Verhältniffe der Zuhörerinnen
aeg anler Mitteilung zu machen, dem gegen die Zulaflung ein Einſpruchsrecht
zuſteht.
An den übrigen 17 Univerfitäten des deutſchen Reiches iſt den Frauen ohne
weitere grundfägliche Einfchränfung hinfichtlich der Fakultäten die Möglichkeit gewährt,
an den Borlefungen und Übungen als Hofpitantinnen teilzunehmen. Gemeinfam ift
allen der Grundjag, daß überall in legter Linie immer der einzelne Dozent endgiltig
über die Zulafjung oder Ablehnung beichließen kann, daß alfo kein Univerfitätslehrer
gezwungen wird, wider feinen Willen Frauen in feinen Vorlefungen fehen zu müſſen.
Im einzelnen find die Bedingungen wiederum fehr verfchiebene.
In Preußen ift bis zum Ende der 80er Jahre fireng an dem Ausichluß der
Frauen vom Univerfitätzftudium feftgehalten worden. Im Jahre 1886 hat ſich der
urator einer preußifchen Univerfität mit einer darauf bezüglichen Anfrage an ben
Kultusminifter gewandt, tworauf von leßterem die im „Zentralblatt der preußifchen
Unterrichtsverwaitung“ veröffentlichte Antwort ergangen ift, „daß auf preußifchen
Die Beftimmungen über bad Univerfitätöftubium der Frauen in Deutſchland 2c. 353
Breslau getroffen worden. An beiden Univerfitäten laſſen die Mitglieder der
medizinifhen Fakultät grundfäglih nur ſolche Frauen zu den Vorlefungen zu, die das
Zeugnis der Reife von einem humaniftiihen Gymnafium befigen. Die philofophiiche
Fakultät in Breslau aber verlangt entweder da Zeugnis der Reife von einem ftaatlich
anerkannten Gymnafium ober einer gleichftehenden Anftalt, oder einen an einer
Univerfität erworbenen akademiſchen Grad oder endlich die Ablegung des Lehrerinnen-
eramend für höhere Töchterfchulen oder einer gleichwertigen Brufang; Damen, die
nicht eined dieſer Zeugnifle vorlegen können, werben nur ausnahmsweiſe zugelaffen,
wenn fie in irgend welcher anderen Form nachweifen, daß fie die zur Vorbereitung
auf einen wiſſenſchaftlichen Beruf erforderlichen Kenntniſſe befigen. Auf einem
ähnlichen firengen Standpunkt fteht die Univerfität Göttingen; in einem beitimmten
Fall ift einer Dame, die bei dem dortigen Rektorat angefragt hatte, der Beſcheid
zugegangen, es werde eine Schulbildung vorausgefegt, die ber der übrigen
Studierenden entfpreche; zu deren Nachweis würde fi) die Dame eventuell einer
Prüfung durch den Profeffor des in Frage ftehenden Faches zu unterziehen haben.
Von ähnlichen befonderen Vereinbarungen an den übrigen preußifchen Univerfitäten
ift uns nichts befannt geworden.
Nicht unerwähnt bleiben darf, daß an einigen preußifchen Hochſchulen von
dortigen Univerfitätslehrern befondere Kurje für Frauen abgehalten werden. So findet
in Greifswald aljährlih im Auguft ein drei biß vierwöchentlicer Ferienkurs für
Lehrer und Lehrerinnen flatt. Dann find eigentliche Vorbereitungsfurfe für das
Oberlehrerinneneramen mit zweijähriger Dauer eingerichtet in Bonn und Göttingen.
Bei diefen Kuren wird ber größere Teil der Vorlefungen von Univerſitätslehrern
ſpeziell für die Teilnehmerinnen an dem Kurfe gehalten, zum Teil aber find aud) bie
betreffenden allgemeinen Vorleſungen der Univerfität in den Kurs bineingezogen.
An der Univerfität Leipzig werden den Frauen auf Grund von Ausweiſen
über genügende Vorbildung von der Jmmatrikulationstommiffion Erlaubnisfcheine zum
— der Vorleſungen erteilt, die immer nur für das laufende Semeſter gelten.
Dabei bleibt es den einzelnen Dozenten überlaffen, ob fie Frauen, bie mit ſolchem
Erlaubnisichein verfehen find, den Zutritt zu ihren Vorlefungen gewähren vollen oder
nit. Solchen Frauen, die dem Deutfchen Reich nicht angehören, kann der Erlaubnis-
ſchein nur mit Genehmigung de3 Minifteriums des Kultus und öffentlichen Unterrichts
erteilt werben. Für diefe Erlaubnisfcheine it eine Gebühr von 3 Mark zu entrichten.
Als genügend vorgebildet gelten Frauen, die in einem deutſchen Bundesftaat die
Reifeprtfun eine® Gymnafiums oder Realgymnafiums beftanden oder die Befähigung
zur bernahme eines felbftändigen Lehramis als Lehrerinnen erworben oder eine
gleichwertige Vorbildung genofjen haben; fojern es fih um das Studium der Zahn:
beiltunde handelt, ift der Nachweis der dafür gefeglich geforderten Vorbildung, Reife
für Prima, zu erbringen. Bis vor einem Jahr ungefähr waren die Geſüche um
Zulaffung zu den Vorlefungen unmittelbar an das genannte Minifterium einzureichen,
von dem fie nad) entfpredender Äußerung der Univerjität bejchieden wurden. Diefe
Einrichtung ift heute noch in Bayern (für die Univerfitäten Münden, Erlangen
und Würzburg) und in Württemberg (für Tübingen) beibehalten. Auch hier
handelt es fich durchweg um die Zulafjung als Hörerinnen. In Tübingen wird diefe
Erlaubnis des Kultusmirifteriums vom alademijchen Senat beantragt. In Würzburg
fcheint in jedem einzelnen Fall die betreffende Fakultät ein Gutachten abzugeben und
daraufhin der Senat befürmortend oder ablehnend Stellung zu nehmen. Auch hier
iſt überall die Zuftimmung des betreffenden Dozenten felbft die erfte Vorausfegung.
An der Univerfität Gießen mar bis zu Dftern 1900 den Frauen der Zutritt
zu den Vorlefungen nicht geftattet. Unter dem erften März de3 genannten Jahres
bat aber daS heifiiche Minifterium de3 Innern die Beftimmung getroffen, daB vom
1. April 1900 ab an der Landesuniverfität Gießen auch Frauen als Hofpitantinnen
aufgenommen werden können. Sie haben ein fchriftlihes Geſuch an den Rektor zu
tihten und darin anzugeben, weldem Fach fie fi) hauptſächlich widmen wollen.
23
Vebermeiſter Votter.
Erna Viereck.
NRagbrud verboten. -
er Lehrer trat aus dem Haufe des
Webermeifters. Cr hielt fi das Taſchentuch
dor Mund und Nafe und fämpfte ſichtlich mit
einer Übelleit. Ein ftrammer, militäriſch aus-
febender Mann in Hembärmeln begleitete ihn
durch das Vorgärtchen.
„Wie Eie den Geruch da drinnen aushalten
lonnen — es ift fürchterlich!” preßte der Lehrer
heraus und ſchnappte dann gierig die frifche,
eine Herbftluft ein. Der Hemdärmlige zudte
die Edulten. „Man gewöhnt's fchon.
Schlafen aber thu' ich Tängft drüben in ber
Werfftätten. Dort iſt's zivar falt, aber gefund.”
„Und der große Bub'?“ „Der ſchlaft am
Boden.” ie gingen einige Schritte. Danach
zu fragen, wie's das Weib tagaus, tagein in
mder Luft” außhielt, fiel dem Lehrer nicht ein.
Er fpudte aus, ala wolle er damit den Ekel
los werben, der ihn noch fchüttelte und reichte
dem Webermeifter die Hand. „Auf Wieder
fehn, Rotter. Sie kommen doch heut’ zu :
einem Tarot ins Kreuz?“ „Werd' nicht |
fehlen, Herr Lehrer. Danke für den freund»
lichen Beſuch.“
Die Lehrerin erwartete ihren Mann fchon
mit der bampfenden Suppe. Sie war eine
Bauerstochter, mit derbem, knochigem Außeren
unb einem guten, meiden Herzen. Solche
Herzen findet man broben im Gebirge gar oft,
ohne daß man groß darauf achtet, oder Auf-
hebens davon macht. Es giebt fo viel Not
und Elend dort, daß das Wohlthun, Helfen
ober doch wenigſtens Mitfühlen fi ganz von
felbft lernt und ſchickt. Die Frau war's auch
geweſen, die den Gatten zu dem Befuch bei
Rotters beftimmt hatte. „Wie geht's heut’
dem Tonerl?” fragte fie den Heimfehrenden,
der fofort zum Wandſchrank trat, und haftig
ein „Stamperl Ungebleichten“ hinunter ftürzte. |
Wie ſoll's gehn? Schlecht, elend! Der
Rotter fagte mir, der Doktor hab’ ihm gefagt,
zu helfen wär’ nichts mehr. Die einzige
Rettung wär’ vielleicht, den Fuß abzunehmen.
Aber auch das hielt der Bub’ nimmer aus.
Dazu ift er ſchon viel zu ſehr berunten.“ -
„Und warum hat er’3 nicht cher than?”
Die Frage überhörte der Lehrer; vielleicht fand
er auch nur feine Antivort darauf. Er löffelte
an feiner Suppe, ſchob aber den noch halb
gefüllten Teller plöglich zurüd. Schier ärgerlich
fing er an, in ber Stube auf und ab zu
ſchreiten. „Was haft denn, Ferdl?“ „Was
werd' ich haben?! Eſſen fann ich nicht. 's
ift auch fein Wunder, nad ber Kranfenvifiten,
zu ber mich g’habt haft. Mich beutelt's noch,
wenn ich dran denk.” „Aber Ferdl, der Toni
war doch bein bravſter Schüler und ift ſoviel
fehr an dir g’hangen! Weißt nod, mie er
ung vorig's Jahr, fo fleißig im Schulgartl
g'holfen hat? Schier verfpürt hat man’
heuer, daß der Tonerl fehlte. Nit halb fo
nett und al'rat ſchaut er brein.” „Na ja,
Ratti, ift ja ſchon recht. Ich bin ja auch
hin’gangen, dir zu G’fallen, denn dem Buben
liegt zehnmal mehr an deinen Vifiten, ala an
mir. Aber nicht wieder, Alte, nicht für's
allerfhönfte Wunder!” „Mas meinft denn,
jegt, nachdem ihn g'ſehn haft? Wird fih der
arme Kerl noch lang’ ſchleppen? Man muß
ja g’rad nein wünſchen, daß ihn unfer Herrgott
bald zu fi nehmet, wegen feiner und wegen
der Mutter.” „Na, 's wird ſchon noch bis
in den Winter ’nein dauern! Die Weberin
futtert den Buben gut, ba zieht ſich's länger.
Aber das Bein fhaut aus... .!! Ich hätt
mir's nicht anſchau'n fol’n, jet werd’ ich's
nimmer 108.”
Die Lehrerin nidte nur. Wie oft fah fie
23*
Webermeifter Rotter.
Für die Arbeitäfräfte hatte er zu forgen.
Wöchentlich oder alle vierzehn Tage ging er
„liefern“. Die Arbeit feiner Gehilfen — Ge-
fellen, Lehrbuben und Epulmeiber — warf
auch ihm Prozente ab, und ba er felbft fleißig
und gefchidt mitarbeitete, fam fein Verdienſt
auf 12—15 fl. per Woche.
Hinterbörfer Geld genug, um in einem ges
wiſſen Wohlitand Ieben zu können. Rotter
verftand’3 befjer, als manch einer. Er zählte
zu ben „Honoratioren“ des Dorfes, ſaß im
Gafthaufe mit Pfarrer, Lehrer und Kaufmann
beim Glafe Bier und Tarof, und fein Weib
ging Eonntags mit einem Hut — ber ihr zwar
fürdterlih ftand, aber do ein Hut war —
zur Kirche. Er war ausgedienter Feldwebel
und Veteranen-Hauptmann=-Stellvertreter. Am
Sonntagsrocke hing die filberne Tapferleitss
mebaille. Auch hatte er die „Welt“ gefehen.
Was er nicht wußte, oder ſchon vergeſſen
hatte, erfand er einfah dazu. Seine Zuhörer
merften es nicht, ober doch nur felten, und
unterhielten ſich ebenfogut dabei, tie er, deſſen
höchſte Wonne es war, fih reden zu hören.
Er galt allgemein für einen „Eugen Kopf.“
Zu der Krankenpflege aber war der „kluge
Kopf“ nicht zu brauchen. Er prebigte zwar viel
und gab gute Lehren bie ſchwere Menge.
Aber einmal eine Nacht fein zum Tode er-
ſchöpftes Weib abzulöfen, daran dachte er nicht.
Da war die Lehreröfrau die einzige Stüße der
armen Mutter. Die fragte nicht lange, erbot
fich nicht erft zehnmal dazu. Wenn der Abend
am, war fie einfach da, padte ihren groben,
grauen Stridtrumpf und ein abgegriffenes
„wunderſchön's“ Büchel aus der Schulbibliothet
aus und fegte ſich ruhig an Tonerls Bett.
Der erwartete fie ſchon mit glühenden Wangen
unb ſehnſüchtigen Augen. Das langſame,
ſtockende Vorlefen war ihm das Liebfte, Schönſte
des ganzen Tages. Darnach, wenn fie ihn
friſch gebettet hatte und mit leife klappernden
Nadeln bei ihm faß, fchlief er am beften ein.
Es ging eine Ruhe und Zuberfiht von der
gefunden, Träftigen Frau zu dem Kinde über,
die die ſchwache, abgehärmte, wenn auch ab:
göttifch geliebte Mutter nicht geben konnte.
Die litt mehr faft unter feinen Schmerzen,
als er felbft, fonnte nur mit ihm lagen, beten
und teinen.
Für unfere |
857
Anfangs fträubte fih die Webermeifterin
und machte Redensarten. Dann aber, als fie
ſah, daß es ver Lehrerin mit dem Helfen ernft
war, und fie regelmäßig fam, jeden Abend
Schlag acht Uhr, nüßte fie lieber die Zeit zum
Schlafen aus. Und fie fchlief oft fo feft, daß
die Lehrerin fie erft weden mußte, wenn fie
nad Mitternadht in ihr Heim zurüdfehrte.
So ertrug die Frau doch länger die Strapazen
der Krankenpflege. Auf die Dauer aber war
ihr ſchwacher Körper ihnen doch nicht ges
wachſen, gar als noch ein „freudiges Ereignis”
in Sicht kam. Sie wurde täglich matter und
elender, und es fragte ſich nur, wer's länger
machen würde, der Kranke oder die Pflegerin,
Mutter oder Sohn. „Es fragte ſich,“ das iſt
ſo eine Redensart. In Wahrheit fragte gar
niemand danach, bemerkte es nicht einmal.
Daß ein ſchwangeres Weib ſchlecht ausſieht,
iſt ja nichts Abſonderliches. Ihr ſelbſt, freilich,
war's klar genug, wie es um fie ftand.
Am Abend desſelben Tages, da der Lehrer
den Beſuch bei feinem ehemaligen Schüler ge—
macht hatte, kam's aber body nicht zu ber
beſprochenen Tarofpartie. Die Lehrerin befam
ihr Kopfweh — Migräne, nennen es bie
feinen Leute — und mußte fi Iegen, fo
hart es ihr anlam, diefe Nacht die Weber:
meifterin nicht ablöfen zu Zönnen. Als ber
Lehrer gegen elf aus dem Gaithaufe kam,
fragte fie fofort, ob Notter nicht gejagt habe,
wie es daheim ſtünde. „Er mar gar nicht
dort,“ berichtete der Gatte. Die rau atmete
erleichtert auf. So hatte er doch ein Einfehen
gehabt und dies eine mal, ftatt ihrer, das
Weib entlaftet. Beruhigt Lehrte fie ſich zur
Wand und fohlief ein.
Gegen vier Uhr wedten polternde Schläge
an bie Thür das Ehepaar. In Rod und
Jade, mit bloßen Füßen lief die Frau hinaus,
ſehn, was es gäbe. Heulend und frierend
ſtand Webermeiſters, Großer“ draußen. „Mit
dem Tonerl iſt's aus. Goit fhen® der armen
unſchuld'gen Eee die ewige Ruh'“, fuhr's
durch den Kopf der Lehrerin, während ſie den
ſchweren Balten fortzog und öffnete. Sie
fragte aud gar nicht, fondern zog nur den
Heinen „Großen“ in das imarme Zimmer,
mährend fie ſich in fliegender Haft zurecht machte.
| „3 foll erſt no ſchnell zum Pfarrheren laufen,”
Webermeiſter Rotter.
nah Sch. ins Epital. Der Dorfvorfteher
hatte das verlangte Armutszeugnis anſtands⸗
108 auögeftellt. Mein Gott! Arm mar ber
Bub doc gewiß, und auch der Vater hatte
nichts Überflüffiges. Seine Gemeinde wurde
ja bamit nicht belaftet, und die Stäbter, die
mochten nur ruhig zahlen. in Bauern
gewiſſen ift fein al’zu empfindliches Ding,
und bier fprad ein groß” Teil Mitleid und
Gutmütigfeit auch mit.
Nun war Weihnacht, Neujahr, heilige drei
König vorbei, und Toni Rotter Iebte noch
immer. Die Lehrerin war vor bem Feſt
einmal in der Stabt gemefen, ihn zu beſuchen,
und hatte ihm unverändert gefunden, doch
fühlte fih das Kind zufrieden und wohl ge: |
borgen. Zu Lichtmeß kam an den Vater bie
Anfrage, ob er fi) einverftanden erfläre, daß
dem Knaben das Bein amputiert würde.
„Z'was den arm Kerl noh a fo plagen“
brummte Rotter, mwilligte aber ein. Er nahm
fih auch feit vor, den Buben „noch amal”
zu beſuchen. Aber im Winter iſt's beſchwerlich
und unbequem. Es gab auch viel Arbeit,
und fo verfhob er e3 von Woche zu Woche. :
Die Lehrerin ſah er jet felten. Sie hatte
nichts mehr im Weberhaufe zu thun und zu
helfen und ging dort hin, wo fie nötiger |
war. Als ihr Mann ihr die Kunde von ber
Amputation brachte, weinte fie bitterlich. „Das
arme Haſcherl, das! Was die Doftorn erft
noch an ihm ’rum ſchnatzeln. Ich hab's ja
g'wußt, daß fie ihm noch was anthun wer'n“,
lautete auch ihre Klage. Der Tonerl war
rettungslos bem Tode verfallen, das ftand
allen fo feft, wie das Amen im Gebet.
Um fo maßlofer war das Erftaunen, als
es anberd kam. Nah Oſtern erhielt ber
Webermeifter abermal® einen Bericht von der '
ES pitalsleitung. Er wurde fur; aufgefordert,
ſich Sonntag Vormittag den fo und fo vielten
dortfelbft einzufinden. Es paßte ihm gar
nit. Er ging auf Freierfüßen und wollte
es juft an dem Tage „g'wiß“ (feft) machen.
Als alter Soldat aber war er das Folgen
gewöhnt, und fo that er's auch diesmal.
Überdies nahm er feft an, es gelte, „Abſchied
ynehmen“ vom Tonerl. Cr verſprach dem
Lehrer, ihm abends im Gafthaufe das
Refultat feiner Wanderung mitzuteilen.
Später als gewöhnlich fam ber Lehrer an
dem Abend heim. Die Frau erwartete ihn,
aufrecht im Bett figend, mit weit offenen Augen,
voll Iebhafter Teilnahme. „Na, was hat's
mit dem Tonerl? #’geht wohl zu End, mit
dem armen Schaferl ? So reb’ doch nur ſchon!“
drängte fie den Gatten. Der zog fih um:
ſtändlich mit dem Stiefelknecht die Schuhe aus.
„Ja, Schneden! G’fund wird er. In vierzehn
Tagen, drei Wochen fol ihn der Vater holen.”
Die Lehrerin wurde ganz rot im Geficht vor
Freude; die guten Blauaugen füllten fi
mit Thränen. „Jeſſas na, Jeſſas na, die
Gnaden, die Gnaden! Wenn das fei Mutterl
d'erlebt hätt. O, du mein lieb's brav's
Tonerl du, mie ih mi auf did freu!”
ftammelte fie, ganz verwirrt und felig.
„Was ſagt denn der Bater dazu?“ —
„Schimpfen thut er wie g’drudt, und ein
Rauſch hat er fi ang’hängt. Achtzig Gulden
fol er geben auf ein künftlih’3 Bein, und
zu einem Schneiber in d'Lehr foll der Tonerl.
Das ift aud nicht umafunft. Das fehlt ihm
jetzt g’rab, wo er die Iſidor Theke heiraten
will, die feinen lumpigen Kreuger hat, und
er für alles felbft auffommen muß, von der
Hochzeit ang’fangen. Nur reiche Leut' konnten
ſich's erlauben einen Krüppel in der Familie
groß zu ziehen. Ruhig fterben hätten's den
Buben laſſen follen, dann wär' allen Teilen
beſſer g'ſchehn, — fagt der Webermeifter”,
und fo ſprechend warf fih ber Lehrer ins
Bett, daß es krachte. Ein bißl vom Rotter
feinen Rauſch hatte auch er abbefommen.
Frauenfrage in Indien. 361
Bildung eines Charakters, der Seiftetrichtung if weit größer ald der aller Lehrer und
des Vaters felbft. Die legen ſich erft ins Mittel, wenn das in ber erften Kindheit fo
eindrudsfähige Gehirn bereits fein Gepräge erhalten hat. Der Menſch wird zwiefach
vom Stempel der Mutter geaeihnet: im mütterlihen Schoß, an ber Mutter Bruft
und die darauf folgenden Lebensjahre hindurch. Das ift enticheidend. Man beobachtet
an dem Charakter bedeutender Männer, daß fie alle mehr oder meniger nach der
Mutter arten. Wenn die Römer im Beſitz des ausgeſprochenſten Rechtsfinnes das
größte Volt der Erde geweſen find, fo verdanken fie dad mit an erfter Stelle ber in
ihren Gefegen gemwahrten Bee und Würde des Weibes: wie das Weib, fo die
Familie, wie die Familie, jo das Volt.
Man müßte, um die Eriftenz einer Frauenfrage in Indien zu leugnen, gleichfalls
die Beſtimmung de3 indifchen Volkes, früher oder fpäter der Segnungen ſittlicher
Bildung, zu der das Chriftentum die Nachkommen des erfien Menſchen berufen hat,
teilhaftig zu werden, verneinen. Dieſe Verneinung wäre fühn; fie widerſpräche den
göttlichen Verheißungen; fie widerſpräche der einfachen Beobachtung von Thatſachen.
Das indifche Volk iſt bilbungsfähig wie faum ein anderes. Von großer körperlicher
Schönheit, ift es in fittlicher Hinficht bewunderungsmürdig begabt. Sein einziger
Fehler ift ein Übermag an Sanftmut und Indolenz. Aber darin fteht es noch immer
wie einft eher unter einem biftorifchen als einem natürlichen Verhängnis. Wohl kommt
das Klima in Betracht, allein Indien umfaßt ſehr verfchiedene Regionen; die Haupt:
urfache dieſes Mangels am Energie Liegt im Buddhismus. Das Kaftenfyftem Hatte
bereits feinen Einfluß geübt; es hatte bis zu einem gewiſſen Grade dad Streben des
Einzelnen nach Verbefferung feiner individuellen Stellung und damit das foziale Streben
gelähmt. Die Philojophie des lebensmüden Schwärmerd aber, der den gegenwärtigen
Buddhismus begründet hat, hat das nationale Temperament noch weit mehr beeinflußt.
Man impft nicht ungeftraft ganzen Völkern den Geift ber Paflivität und ber Ent:
fagung ein. Indien hat mehrere philofophiiche Syfteme gekannt; die einen waren
atheiftifch, andere materialiftifch; die pantheiſtiſchen und idealiftiihen aber haben allein
wahrhaft zum Geifte der Maſſen geſprochen und weite Verbreitung gefunden. Aller:
dings erfaſſen, wie anderwärts, fo auch in Indien nur wenige dieſe Syſteme gründlich
und werben ihnen in vollem Umfang gerecht, aber alle haben ſich einiges davon
angeeignet. Sie haben daraus die Terminologie, den wenig praftifchen Geift, die
verſchwommene, träumerifche Poefie übernommen. Der Verfaſſer einer in der „Duarterly
Review” (Nr. 276) veröffentlichten Studie über die chriſtliche Miffion in Indien jagt,
daß „jegliche Duelle, an der die Phantafie des Volkes ihren Durft ftillt, vergiftet iſt.“
Die Sehnfucht nach dem Nirwana ergreift von den Höhen der befchaulichen Philofophie
eines Safjamuni herab den legten der Paria. Je mehr der Menfch leidet, um jo
eher erfaßt ihn diefe Sehnjucht. Es ift der feeliiche Selbftmord des Verzweifelnden:
ein langfamer, aber unabläffiger Selbftinord des Individuums, der Familie, der ganzen
Geſellſchaft, ein Selbftmord, der ein defto ficherered Ende herbeiführt, ala dad allgemeine
Elend zunimmt — eine fpitematifche Überantwortung des Menfchen an den Tod, die
ganzen Völkern die Fähigkeit nimmt, fih dagegen aufzulehnen,
Almählih den Einfluß des Buddhismus und des Islam hemmen, ift alfo die
erfle Bedingung zum Forticritt für diefen durch feine ungeheure Ausdehnung —
Indien umfaßt ein Territorium, beinah ebenfo ausgedehnt wie dad Europas — fein
ehrwürbdiged Alter und den angebornen Adel feiner Bewohner in jeder Hinſicht fo
intereffanten Teil der Erde. Nun will aber ein Geſetz der Moral, das zugleich ein
hiſtoriſches Gefeg ift, daß eine Religion nur einer höher flehenden Religion weiche.
Ungeachtet der feheinbar geringen Erfolge der chriftlichen Miffion in Indien wird das
Chriſtentum auch dieſes Land geivinnen. Wenn es die ungeheuren Maflen, bie der
Buddhismus ihm entgegenftellt, bisher nicht ftärker gepadt Hat, fo liegt das zum
großen Teil an einem von feiner Kraft und feinem Einfluß unabhängigen Umftand.
Das ift die römische Politit Englands. Die Engländer haben für ihre Handels:
politit das von den Römern in deren Eroberungapolitit gehandhabte Suftem adoptiert:
Schonung der fremden Götter und Freiheit de Kultus der Befiegten. Sie find einft
Frauenftage in Indien. 363
die Unabhängigkeit der Jungfrauen. Auf der Wanderfchaft begegnet ihr Satiavan,
der Sohn eineß geftürzten, blinden Könige, der tief verſtedt in einer Waldhütte lebt
und fi dank der Sorgfalt feines frommen Sohnes von wilden Früchten nährt. In
Satiavan erfennt Savitri mit höherem Scharffinn — ein Beweis für die Achtung,
in der die Frau ſtand — troß des Köhlergewandes ben Adelsmenſchen und erflärt
in zu ihrem Gemahl, mit der heitern Sicherheit einer Königin, die einen ihrer Unter:
janen zu fich erhebt. Beweis genug, dab unter dem Gejeg de3 Manu bie Frau
ihren Gatten vieleicht mit größerer Freiheit wählte, als es heutzutage in ben Ver—
einigten Staaten Amerikas gefcieht. Der Savitri geleitende göttliche Bote verkündet
ihr, daß Satiavan am Ende des Jahres fterben werde, ihre Mahl daher eine
verhängnisvolle fei. Mit echt weiblicher Hingebung und der feelifchen Kraft ihres
Geſchlechts erklärt ſich Sapitri bereit, nad einem Jahr des Glücks, des Glücks und
der Hingebung, zu fterben.
Es bebürfte feines weitern Beweiſes, als diejer Legende zur Klarlegung, daß zu
Beginn der hiſtoriſchen Zeiten der Frau in Indien eine befondere Verehrung gezollt
worden ift. ur
Auf welche Weife hatte ſich ihre Knechtſchaft noch vor der Unterjochung durch die
Mufelmänner entwidelt? Die Gefchichte weift in diefer Hinficht eine Lüde auf. Warum
haben die Brahmanen lange vor ber Lehre des Säfjamuni die Frau von dem Piedeftal,
auf bad die Veda fie ftellten, geftürzt, warum fie für untein, folglich zur Erfüllung
der Begräbnisceremonieen unfähig erflärt und ihr das Leſen des vom heiligen Manu,
dem Mofes der Inder, verfaßten Geſetzbuchs unterfagt? Vielleicht hatten fie in ihrem
fteten Grübeln in der Frau das geahnt, was das Chriflentum voll erkannt hat, die
Befreierin des gefnechteten Menfchen, die „Königin der Propheten und Apoftel”, die
„Thür des Himmels” und den „Morgenftern“, von denen die Schrift ſpricht — und
hatten, als Priefterfafte eiferfüchtig auf abfolute Herrſchaft und Unterbrüdung der
übrigen Kaften bedacht, die Politik verfolgt, die Frau als ihre Feindin zu betrachten.
Im Chriftentum, der eigentlichen Befreiungsreligion, ift der Frau eine aftive Rolle
zuerteilt; im Brahmanentum, dem in religiöfer wie politifcher Hinficht außgefprochenften
Unterbrüdungsfgften der Welt, ift ihr Einfluß mit Bebacht unterbunden. Gin ganzes
Netz von Hinderniffen umftridt fie. Die Brahmanen haben dem Volk die auch den
Griechen eigene Anfchauung eingeimpft, daß die Erfüllung der Funeralien für die
Ruhe der Seele unerläßlih fei, daß fie um fo ehrenvoller Ha und um fo
bebeutfamer fürd Jenſeits, wenn dieſe Pflicht von einem Sohne des Verftorbenen
erfüllt würde. Da die Frau alfo Hierzu für unfähig gilt, wird die Geburt eined Mädchens
bei ben Indern als ein Unglüd betrachtet. Der bis vor wenigen Jahren im weiteften
Umfang geübte Kindermord hat ſich von jeher nur auf die Kinder weiblichen Geſchlechts
erftredt. In entlegenen Diftrikten, in denen das religiöfe Vorurteil fi in feiner
ganzen Macht erhalten hat, fegte man fie außerhalb der Dörfer den wilden Tieren
zum Fraße aus. Ein Mann, der nur Töchter und feinen Sohn hatte, war befhämt
darüber, denn in Indien ift auch noch die andere Anfchauung verbreitet, wohl
dazu geeignet, die Leiden des armen Menſchengeſchlechts zu verfchlimmern: daß
jegliches Unglüd verdient fei. Da nad der Lehre von ber Seelenwanderung bie
Seelen nie aufhören in Leibern zu mohnen, fondern ewig aus einem in ben andern
übergehen, nimmt man an, baß fie auf Erden ihr Purgatorium und ihre Hölle durch⸗
machen. Jegliche von Menſchen und Tieren erduldete Leiden find eine Sühne; giebt
es in einer Familie keine Söhne, jo haben Vater oder Mutter in irgend einer früheren
Exiſtenz diefe Schmach verdient. — Freilich zieht man ed meift vor, die Schuld der
Mutter zuzufchreiben, und das arme Geihöpf wird zum Gegenftande der Verachtung
feiner Umgebung. Das gleiche Los wird ihr zu teil, wenn der Gatte frühzeitig
firbt, beſonders, wenn er einen geachteten Namen Binterläßt. Eine von foldem
Unglüd ereilte Frau muß es verdient haben, d. 5. ihre Seele ift in einer andern
Eriftenz von einer Miſſethat befledt worden. So verhält es ſich deſto ficherer, je
malellofer das gegenwärtige Leben der Frau ift. Da fie für die Gegenwart nichts
Frauenfrage in Indien. 365
j III.
Dieſe Verheißung ſcheint ſich zu erfüllen. Die indiſchen Frauen richten ſich auf,
nit mit Stolz — fie find insgeſamt demütig und beſcheiden — wohl aber mit Mut
und Vertrauen. Eine nach der andern heben fie in den höhern Ständen die Köpfe,
wie von dem Regen niedergebeugte Ähren unter den Strahlen der Sonne. Es ift in
der That ein feſſelndes Schaufpiel, wie diefe wenigen, zarten und tapfern Gejchöpfe
— ohne ſich der ihrem Geſchlecht gebührenden Beſcheidenheit zu entichlagen — unter
dem wohlwollenden Auge ber englifchen Frauen für die Befreiung ihrer Schweflern
tämpfen. Vor etwa zehn Jahren brachte die „Duarterly Review“ eine Anzahl intimer,
von Frauen der höheren Kalten an Engländerinnen gerichteter Briefe. Sie find durch⸗
aus charakteriftiich für die indiiche Sanftmut und jenes Verftändnis für fittliche Fragen,
das die Frauengeftalten der alten Legenden des Landes hebt und abelt.
„Liebe Schwefter in England,“ fehreibt eine von ihnen, „ich twerde nie bie Ihrerſeits mir in
meiner Verlaſſenheit ertviefene (Güte vergeffen. Als ich Ihren ſchönen Brief in die Hand nahm, habe
ich von neuem meine Unkenntnis der engliſchen Sprache beflagt. Sie find in allen Dingen unterrichtet,
und Ihr Wiffen erfhließt Ihnen die Schönheiten Ihrer Religion. Wir fehen fie nur unvolltommen,
weil wir im Dunkel der Unmiffenheit feben. Der Vabu (ihr Mann) muß fie beffer verftchen ala ich.
Ich danke Ihnen für die meinen Kindern erwiejene Teilnahme. Die inaben beſuchen bie Schule, meine
Töchter lernen zu Haufe leſen Was joll id) von mir jagen? Meine geiftige Armut ift groß. Ach
ieſe einige Bücher in bengalifcher Spradie, aber ohne Zufammenhang und Methode, weil id nicht gelernt
Habe, zu fernen. Mein Yeben wird ein fruchtlofes geweſen fein, ich werde fein einziges nüßlidhes Wert
dolibracht haben, denn man vermag nichts, iwenn man nicht8 gelernt hat.“
Ein PHilofoph würde faum richtiger denken.
„Teure Schwefter in England,” fehrieb eine andere, „wie gern möchte ich Ihnen engliſch ſchreiben
können, was ich benfe! Vielleicht werde ich das nie können, denn ich habe niemand, ber es mich lehrt.
Ich verſuche allein zu lernen, wohl wiffend, daß der beharrlichen Arbeit nichts unmöglid ift. Sie, Sie
fhreiben vorzüglich dengaliſch. IA tann Ihnen nicht jagen, wie fehr mich die wahrhaftige Derzendgüte
unb der Geiftesreichtum, die aus Ihrem Briefe fprechen, entzüdt haben. Sie fagen mit Recht: ‚Ein
demütiged Gerz, das in Gott feinen Frieden jucht, ift allenthalben glüdtich. Nichts gleicht dem Glaa
einer Seele, bie ſich rüdhaltlo® dem Herrn ergiebt.‘ 3 ift mir unbegreiflih, wie man in biefer Welt
glüdtich fein tann ohne Gott, weil ich mein Vertrauen in unfern barmberzigen Vater gefeht habe, weil
ich mich unter feinem Schuge fühle und mein Herz (Frieden hat. Kennen Sie die Worte einer unferer
Symnen: ‚Du bift die Tuelle des Guten, und du breiteft e8 aus über bie Erbe. Wie follte mich die
Buhunft ſchreaen·
Eine Chriſtin könnte ſich nicht Höher erheben. Aber vielleicht war die Frau, die
fo ſchrieb, Chriflin. Wir laſſen nadyfolgend eine andere reden, die ed offenbar nicht
ift, deren Gefühle und Gedanken deswegen feinen geringern Aufſchwung nehinen.
„Sie fragen mich, welches mein Leben fei? ch ftche um ſechs Uhr auf und verrichte meine
Andacht; darauf wede ich meinen älteften, jehsjährigen Sohn und laſſe ihn ein von feinem Jater vor:
gelchriebene® Gebet berfagen; «3 lautet: ‚Du Beichüger ber Schwachen, ich fühle deine Gegenwart.
Bater der Menfchen, erhöre mein Gebet. Wenn alles, das da Icbet, in Schlaf gefunten, behütelt du es
und bereiteft fein Erwachen. Du bift die Drüde der Yarmberzigteit, großer Gott! Tu haft mich biefe
Nacht hindurch bewacht: alled, mas mein ift, will ich heute in deinem Dienft gebrauchen. Hilf mir, der
ich Hein und ſchwach bin! Mad) joldem Gebet reitet mein ältefter Sohn aus und der jüngere, vier:
ige, geht oder fährt in Begleitung eines Dienftboten. Unterded beforge ih die Küche und Leifte
meiner Schwiegermutter Dienfte. Wenn die Bereitung der Mahlzeiten mir etwas Zeit übrig läßt, ſuche
ih mic) aus den Büchern, bie mein Mann mir giebt, zu belehren. Sobald die Kinder Heimtehren, Iaffe
id fie effen, worauf fie mit dem Bater in die Schule gehn. Dann beginne ih in einem Gemache
unferes Hauſes den Unterricht ber Heinen Mädchen unferer Schule; ich darf zu biefem Zmed bad Haus
nicht verlajfen, denn wir find Gefangene und bürfen weber auf bie Straße gehen, nod mit einem
Wanne reden. Danach bereite ich die Abendmahlzeit. Erſt fpeifen meine Kinder, nad ihnen mein
Mann, darauf feine Brüder, meine Schwiegermutter, meine Schwägerin und endlich ich jelbft.”
Ein folder Brief it ein Cittengemälde, Wir fehen Hier den frommen Sinn
ber Buddhiſten, die mufelmännifche Gefangenfhaft der grauen, die brahmanifchen
Vorurteile und den Zwang, die Mahlzeiten jelbft zu bereiten, damit die Speiſen nicht
von Perfonen geringerer Kaften berührt werden, und endlich bie Dienftbarkeit der
Gattin gegenüber der Familie, in die fie hineingeheiratet hat. Obgleich diefe Briefe
aus Diöfretion anonym mitgeteilt und veröffentlicht worden find, errät man, daß es
ſich in dieſer Lebenzfgilderung um die Familie eines Gliedes des Brahmo:Somai
handelt, eines angeſehnen Mannes, der zugleich ein Freund der Bildung des Jahr:
Frauenfrage in Indien. 867
ein fehr junges Mädchen geheiratet, das aber geftorben war; nun fchidte er fich zu
einem neuen Erziehungserperiment mit dem Meinen Mädchen an, dad er an den Ufern
des Godavery gefunden hatte.
Der Widerftand feitens feiner Umgebung, der Frauen feiner Familie und haupt:
fächlich feiner Mutter war aber fo groß, daß Ananta Shaftri, des vielen Widerſpruchs
müde, endlich das Haus verließ. Kleine häusliche Widerwärtigfeiten machen großen
Geiſtern das Leben unerträglich; der edle Mann ertrug fie nicht. Mit dem unpraftifchen
Sinn des Gelehrten verließ er leider den Ort mit feiner jungen Frau, ohne fich felbft,
noch ihr die Eriftenzmittel zu ſichern. Sie irrten im Lande umher und nährten ſich
von wilden Früchten. An den Abhängen der Weftghat fchnitt Ananta, nahe ber
Duelle eines heiligen Stromes, die Aſte eines Baumes ab, fchlug eine Laubhütte auf
und begann in ber nur vom Lachen ber Hyane und der Stimme des Tigers belebten
Einſamkeit das Kind feinem Plane gemäß zu unterrichten.
Bon den zwei Töchtern, die ihm in ber Folge geboren wurden, verheiratete
Ananta Shaftri die ältere im zarten Kindesalter mit einem wenig Altern Knaben,
feinem Syftem getreu unter der Bedingung, daß ber Findliche Ehemann bei ihm
wohnen und von ihm erzogen werben follte. Doc Menfchen feines Schlages jehen
nicht weit voraus. Ananta hatte außer Acht gelafien, daß nach den Geſetzen des
Landes die Frau in dad Haus des Mannes übergehen muß. Die Bedingung wurde
nicht innegehalten; die Familie des Ehemanns ftrengte einen Prozeß an und gewann
ihn. Des Gelehrten Pläne wurden nady diefer Richtung hin vereitelt.
Es blieb ihm feine zweite, im Jahre 1858 geborne Tochter Ramabai. Yon
einer gebildeten Mutter und einem Vater, der feine ganze Hoffnung auf fie fegte,
erzogen, zeigte fie eine bewunderungsmwürbige Begabung. Nie find Zuverficht und
Streben in würdigerer Weife belohnt worden. Mit neun Jahren Fannte fie das
Sanskrit, wie die lebende indifche, außerdem die englifche Sprache, die Gefchichte des
Drient3 und Decidents, bie religidfen Dichtungen und vieled andre. Dabei war ihr
Charakter ihrem Geifte benbürtig,
Indeſſen kehrte mit dem Erfolg auch dad Elend in die Laubhütte ein. Seit
Ananta jein Heim verlaffen Hatte, war er zwar arm geweſen, hatte aber durch Urbar=
madung unbebauten Lande im Gebirge von feiner Hände Arbeit gelebt. ALS fein
Ruf zahlreiche Pilger herbeilodte, denen er Gaftfreundfchaft zu ſchulden glaubte, kehrte
der Mangel bei ihm ein. Außerdem erblindete er. Cr mar gezwungen, feinen
Bufluchtsort aufzugeben und zog als wandernder Prediger und Katechet von Tempel
zu Tempel, von Walfahrtsort zu Walfahrtsort. Unter ſolchen Bedingungen kann
man, ohne fich deffen zu fchämen, von Almofen leben. Das liegt übrigens in den
Sitten des Landes. So lebte Ananta in ehrbarem und frommem Wandel fieben
daeg Ing, dann ftarb er unterwegs, und feine Frau folgte ipm wenige Tage nachher
ins Grab.
Zu diefer Zeit war Ramabai 16 Jahre alt, als Inderin im vollen Alter der
Reife. Sie hatte mit ihrem Vater die Liebe zur Wiſſenſchaft und die Neigung zum
Lehren und Predigen gemein und trat in feine Fußſtapfen. Zum Unterrichten in den
teligiöjen Wiſſenſchaften nicht berechtigt, lehrte fie die_profanen. Mit der Kenntnis
ſamilicher, 30 Dialekte und Nebendialekte umfajenden Sprachen Indiens ausgeftattet,
in der Geſchichte, Philoſophie und Soziologie bewandert, war fie für ihren Xehrberuf
wohl vorbereitet. Durch Vorträge, die fie fpäterhin bis am ihr Lebensende fortfegte,
ſchlug fie fich bis and Ziel ihrer Reife durd.
Diefes Ziel war Calcutta. Hier war ihr der Ruf einer außergemöhnlichen Frau
vorangegangen. Die Panditen, die gelehrten Männer der Stadt, trauten ihr nicht
und forderten fie auf, vor ihnen zu erfcheinen. Freudig unterwarf fie ſich einem
Eramen, das ihr den Ehrentitel Saraswati eintrug.
In Calcutta lernte fie einen rechtichaffnen Mann fennen, den das Renommee
einer unabhängigen Frau nicht abſchredte. Vihari Mebhavi war als gebildeter
Bengalefe einer jener in Indien gegenwärtig zahlreichen Männer, die, ohne zum
Chriftentum übergetreten zu fein, teilweife die Sitten desſelben angenommen haben
Frauenfrage in Indien. 368
Lehrerinnen aufnehmen und übertrug die beim Anjhauungsunterricht gebräuchlichen
Bücher ind Indifche. Im Jahre 1889 kehrte fie in die Heimat zurüd.
Von nun an benügte Ramabai ihre Fähigfeiten, ihre Thatkraft, den Einfluß ber
Freunde, die fie allenthalben gewonnen hatte, das durch Vorträge erivorbene Geld
zur Gründung von Schulen für arme und verwaiſte Mädchen. Eine ihr befonderd
ans Herz gewachſene Stiftung ift das Aſyl für junge Witwen der höheren Kaflen.
Ähnliche Anftalten exiftierten bereits in Indien dank dem Eifer der Miſſionare und der
engliſchen Mildthätigkeit, allein die Macht des religiöfen Vorurteils ift noch fo groß,
va nur die Verlajlenften darin Aufnahme fuchen. Gehört ein Kind einer. Familie
an, jo befürchtet man für dasfelbe den Religiongeifer der Miffionare und bauptächlich
den Verluſt der Kaſte. So mande junge Witwe, von der Familie des Mannes bis
zum Lebensüberdruß gepeinigt, zieht der Zuflucht in einem Haufe, das fie zur Paria
macht, den Selbftmord vor. Ramabai überfah die Lage der Dinge beffer als fonft
irgend jemand und wußte Rat. In dem von ihr gegründeten Heim widerfährt allen
nationalen Sitten Gerechtigkeit; bei den Mahlzeiten find die Penfionärinnen nad)
Kaſten geordnet, jede darf ſich felbft das Efjen bereiten, die Witwentrauer ift bei—
behalten, und die Religion kommt gar nicht in Frage. Im Fluge hatte die Gründerin
fih zu der religiöfen Toleranz der Neuzeit emporgefchtwungen. Auf einen Vorwurf
feitend der Glaubengeiferer Hat fie durch den New-NYork Evangelift die kluge und weile
Antwort gegeben:
„Ih bewundere das Werk der Miſſionare; diefe Bewunderung trübt mir jedoch
nicht den Blick für die wahre Lage meiner Schweftern und die Ohnmacht der Miffionare,
fie daraus zu befreien... . Allerdings legen wir in unferen Anftalten den Mädchen
und Witwen, denen wir Aufnahme gewähren, nicht die Pflicht auf, den Glauben ihrer
Väter abzuſchwören. Das wäre unferer Anficht nach weder techtichaffen noch politifch.
Dagegen bieten wir ihnen die Möglichkeit, die chriftliche Religion kennen zu lernen
und ermutigen fie dazu, wenn fie den Wunjch Außern, fie anzunehmen. Die chriftliche
Litteratur findet in umferer Bibliothek ihren Plag neben der indifchen, und wir
beabfigtigen, jeder unferer Schülerinnen ein Eremplar der Bibel zu fchenten.”
Die Frau, die jo ſprach, wollte, obgleich Ehriftin, felbft in allem eine Hindu
bleiben. Sogar während ihres Aufenthalt3 in Europa hat fie den weißen Witwen:
ſhawl beibehalten, fih jeden Morgen das Abzeichen ihres Standes auf die Stim
gemalt, ſich felbft die Nahrung bereitet. Das hat zu ihrem großen Erfolg in ihrem
Zande beigetragen. Sie wußte, daß eine einzige Hindu hier mehr wirken kann als
taufend Fremde.
Die Pandita Ramabai Saraswati iſt nicht die einzige außergewöhnliche Frau
Indiens der Gegenwart. Jene Anandibai Zofhee, die der Ramabai eine jo groß:
mütige Gaftfreundichaft angeboten hatte, war eine Mahrattin von bewunderuͤngs⸗
würdigem Charakter. Die Mahratten find die einftigen Eroberer, der mächtigfte Volks:
ftamm Indiens, die Jofhee, zur Zeit der Eroberung unter der Zahl der Häuptlinge,
maren mächtige Befiger ungeheurer Ländereien geworden und bewohnten in Poona
einen feenhaften Palaft.
In Indien kann man Dörfer und Paläfte bejigen, ohne deswegen befonders
reich zu fein. Das war mit den Joſhee der Fall; mand einer von ihnen hatte bei
der englifchen Regierung um irgend ein geringes Amt nachſuchen müſſen. Anandibai
hatte in ihrer Kindheit einen Traum gehabt, in dem der Stammvater ihr verkündet
hatte, fie allein würde den Glanz der Familie wieder herſtellen. In den Vereinigten
Staaten bat fie ihren Stüßpunft gefucht, aber bauptfählih in der „National
Association for supplying female medical aid to the women of India“ ihn
gefunden. Leider war diefe Laufbahn ebenjo kurz mie verdienftvoll. Sie ftarb im
Jahre 1887 im Alter von 22 Jahren, nachdem fie ſchon durch ihr Beifpiel viel für
ihre Mitfchweftern gethan hatte.
Die Sorabji, Mutter und Töchter, find jo glücklich geweſen, noch mehr gethan
zu haben. Nicht nur bildeten fie eine zahlreiche Familie, fie lebten und wirkten auch
in der Präfidentfchaft Bombay, dem civilifierteften Teil Indiens, in dem von jeher
2
871
Line Berliner „Unterkunft für hilfsbedürftige
Wochnerinnen und deren Sänglinge“.
Kon
€. Pely.
Rachdruc verboten.
N die „glüdlichen Mütter” in ausfömmlichen Verhältniffen, wenn fie ſich an
BR, dem Gedeihen ihrer rofigen Kinder freuen, ob die „geitrengen Hausfrauen“,
BA tvenn fie ein Dienftmädchen fortichiden, das der Mutterfchaft entgegen fieht,
fih wohl einmal fragen, was aus den armen Frauen und ihren Säuglingen wird,
die neun Tage nach der Entbindung die Charit& oder die Univerfitäts-Frauen-Klinit
verlafien müflen? Da fiehen zahllofe arme Gefchöpfe mit ihrem Kinde auf dem Arm
buchftäblih auf der Straße, die Frage: Wohin? auf den Lippen.
Faſt nicht eine ift bis zulegt imftande gewefen zu arbeiten oder hat ein Obdach
gefunden, für das fie nicht ihre Heinen Eriparniffe angreifen mußte. Körperlich ent
fräftet durch alles, was vorangegangen, bedrüdt von der qualvollen Sorge, wo das
Kind laffen, wenn die Friſt um ift, wo eine Stelle, eine Pflegefrau finden, was
Wunder, wenn mand eine bad Unmilltonmene mit gehäfligen Bliden anfieht. Nur
vereinzelte Fälle find es, in denen im Getriebe der Großftabt ein Vater ſich um die
tümmert, deren Fehltritt ihr, nicht ihm angerechnet wird. Siechtum, Verlorengehn
für’3 ganze Leben, wenn nicht gar „Mord“ bilden die Refultate diefer grengenlofen, Bei
erbarmenden Verlaſſenheit. Eine Pilegefrau will Geld fehen, oder fihere Garantie
haben, daß die Mutter eine Stellung antritt und abzahlen kann; felbft um im Afyl
Obdach zu erhalten, find Formalitäten zu erfüllen, muß man fi) nad) den Sprech:
ftunden de3 Armenlommifjar richten. Und da fteht mandes im Strudel und in ber
Gemeinheit der Großftadt geftrauchelte Geihöpf mit ſchwachem Kopf und matten
Körper — für ſich felber hat es kaum den Lebensfampf führen können, num ift da
ein neucd Leben, das mit wimmernden Tönen um fein Recht am Dafein fchreit.
Dies alles ſich Mar machen, beißt der Menfchheit größten Jammer verftehen.
Und eine Vereinigung thatkräftiger Männer und Frauen bat das gethan, und fo
entftand in der Vlumenſiraße eine „Unterkunft für hilfsbedürftige Wöchnerinnen und
deren Säuglinge“, ein Verein, dem ſich fchon zahlreiche Mitglieder angeſchloſſen haben.
Zwölf Vorftandsmitglieder, Herren und Damen, vertreten feine Intereffen. Vorſitzende ift
Frau Bianca Israel, eine junge Mutter mit blühenden Kindern.
Die Fürforge gefchieht den Statuten entfprechend in der Weile, daß die bebürftigen
Wöchnerinnen nebft ihren neugeborenen Kindern in die Unterkunftsftelle aufgenommen
und dort während eines Zeitraums, der gewöhnlich zwei Wochen nicht überjteigen foll,
verpflegt werden. Daß ferner während diefer Zeit alles gefchieht, was erforderlich ift,
um den Wöchnerinnen ein fpätere® Fortkommen und die Sorge für ihre Neugeborenen
zu erleichtern, insbeſondere Arbeitsvermittlung und Verhandlung mit etwa unter:
ftügungspflichtigen Perfonen oder Kajjen, fowie mit Gerichten oder andern Behörden.
Natürlich Hat der Verein bejcheiden begonnen — er befteht jeit Oftober 1899. —
Erft konnte nur fünf Perfonen mit ihren Kindern Unterkunft gegeben werden, dann
ftieg die Zahl auf zwölf, und binnen Jahrezfrift fanden 145 junge Wöchnerinnen Aufnahme.
Helle, Iuftige Räume mit je ein paar Betten, zu deren Füßen die Kinderivagen
ſtehn; prattiiche Möbel und Waſchtiſche, alles von Sauberkeit bligend; die „Couveuſen“
Pa at nicht und werden oft gebraucht. Sämtliche Unterünftlerinnen tragen die
austrachi.
21 *
Chemikerinnen in der Zuderinduitric.
Von Hildegard Jacobi.
Raydrud verboten.
Wie viele Frauenberufe ihre Eröffnung dem
873
’ geräuicvollen (Vetriebe, ſondern in der Stille des
Umſtande danten, daß ſich feine männlichen Arbeitd- ,
teäfte mehr aur Verfügung ftellten, fo liegen auch
der Befcäftigung von Frauen in der Zuderinduftrie
ähnliche Verhältniſſe zu Grunde.
fhtwierig, „Chemiter zu erhalten.
an der Thatjache, daß biefe Stellungen nur für
die einige Monate währende, fogenannte Zuder:
campagne dauern, und das Gehalt infolgebeifen nur
12—1500 Dart beträgt, dann aber auch daran, daß
die Ausficht, von diejem Poften aufwärts zu einer
Diretionäftelle zu rüden, äußerft gering ift. So
waren bie meiften Zabriten in der üblen Lage, von
einer Campagne zur anderen mit neuen Chemifern
arbeiten zu müffen. Und jo beſchloſſen viele
Direktoren, diejen Mißftänden abzuhelien und den
Verſuch zu machen, weibliche Chemiterinnen an:
zuſtellen. Sie folgten darin dem Beijpiele anderer
großer Zuderfabriten bei Halle und Jena, bie ſchon
feit Jahren ihre eigenen weiblichen Chemiterinnen aus⸗
‚gebildet und dabei gute Erfahrungen gemacht hatten.
Tie Arbeiten
würden folgende fein: Tas für die Fabritation des
Zuders erforderliche Rohmaterial, Chemitalien, das
Waſſer :c. müffen im Yaboratorium genau auf ihre |
BVeftandteile unterfucht werden. Tann finden in
der Gampage täglich mehrere Proben des Zuder:
ſaftes in feinen einzelnen Stabien während des
Preſſens ftatt, un ben Budergehalt genau feit:
zuftellen. Da all dieſe Arbeiten im Paboratorium
meift unter Aufſicht des Direttors ausgeführt |
werben, fo kommt bie Chemiterin kaum mit dem
übrigen Fabritperfonal in Berüh: Der Dienft
in einer derartigen Stellung |
Son feit einer :
Reibe von Jahren ift es für die Zuderfabritation |
Teils liegt das ;
beginnt in einer Zuderfabrit früh 7 Uhr ums
dauert mit Mittagspauſe dis Abends 7 Uhr.
bald der Direktor fieht, daß die Unterfuchungen
peinfih und exatt ausgeführt werden, ift die
Stellung eine durchaus jelbftändige und hochſi
angenehme, da alle Arbeiten nicht mitten im
So: -
Laboratoriums ausgeführt werden.
Mann die ausgebildete Chemiterin noch über
taufmänniſche Renntniffe verfügen, fo kann fie um
fo eber eine dauernde und gut bezahlte Stellung
erhoffen. Größere Fabriten pilegen auch nur für
die Zeit der Campagne Chemiterinnen anzuftellen; die
felben beziehen ein Nonatögehalt von 100-150 Wart
bei meift freier Wohnung, Licht und Heizung, haben
alſo nur das veben zu beftreiten; dazu kommt nach
erfolgter Gampagne noch eine Sratifitation von ca.
100-150 Mart. Was nun die Ausbildungdgelegen:
heiten zu biejent Beruf betrifft, jo iſt im biefer
geitfrift ſchon einmal erwähnt, daß im Yabora:
toriun ber Berliner landwirtſchaftlichen Hochſchule
bereits jeit einem Jahr ſechswöchentliche Kurfe für
Frauen eröffnet worden find. Neuerdings ift die
Hauptleitung diefer Kurfe in die Hand einer rau
gelegt worden, welche ihre praftiichen Erfahrungen
und theoretiſchen Kenntniffe in langjähriger Tpätig-
teit al Chemiterin in einer Zuderfabrif erworben
hat. Zugelaffen zu ben Kurſen werben rauen
und Mädchen vom 19.—30. Lebensjahre. Als
Eintrittöbebingung wird weiter ber erfolgreiche Beſuch
einer höheren Maͤdchenſchulanſtalt oder fonft ber
Nachweis einer guten Allgemeinbildung verlangt.
Jedenfalls find tüchtige Vortenntniſſe im Rechnen
und ſcharfe gefunde Augen zu dieſem Berufe er:
forderlih. Die furze Dauer des Berliner Kurſus
bat allerbingd in Bezug auf die Gründlichteit der
Ausbildung und die an fo geringe Kenntniſſe
gefnüpften Auöfichten ihre Bedenken. Um fo freubiger
ift es zu begrüßen, daß jept der Verfud einer
grünblicheren Borbilbung gemacht ift. In Dalle a./S.
hat fih nun bie erjte Fachſchule für Chemiterinnen
in der Zuderinduftrie unter der Leitung von Seren
Dr. Georg Schneider auigethan, und zwar
bildet fie ihre Schülerinnen in einem dreimonat-
lichen Kurſus aus. Cs ift aud die Anficht der
Sachverſtändigen, daß trog der Beſchränkung des
(Gebiets mindeiten® cin viermonatlicher Kurfus dazu
nebört, um ſich eimerieits die tbeoretifchen Fach:
tenntnifje auf einem den meiften Frauen noch
374 Frauenleben
ziemlich fremden Gebiete zu verſchaffen, um andrer:
wandten Handhabungen beim Experimentieren im
Laboratorium zu eriwerben.
Durch die vielfachen Beziehungen, die der Leiter
der halliſchen Kurfe mit Zuderfabrikvirettoren bat,
ift zu erhoffen, daß nach erfolgter Ausbildung
jofort Anftellung in Ausſicht ftcht.
Der Lehrplan der Fachſchule ift folgender: Der
und Streben.
erfte Kurfud datiert vom 15. Januar bis zum '
15. Mai, der zweite foll Anfang April beginnen,
— ſich eine genügende Anzahl von Schülerinnen
ndet
Das Honorar ift im voraus zu entrichten und
beträgt für den Kurfus 300 Mark (incl. Ntenfilien).
Der Unterricht umfaßt:
1.
Allgemeine Chemie.
II.
Analytiſche Chemie.
Zuckerrübenbau, Gewinnung des Zuckers und Er—
läuterung der chemiſchen Eigenſchaften desſelben.
IV.
Phyg Einführung in die Grundlehren derſelben,
Mechanik.
— — —— u u
-
feit3 die nötige Übung, die fichere Hand, die ge Maſchinenkunde und Kefjelanlagen.
VI.
Buchführung, Kontorwiſſenſchaften und Verſicherungs
geſetze (Fakultativ).
VII.
Praktiſche Arbeiten im Laboratorium.
Die für bie einzelnen Gegenftände angeſetzten
Stunden verteilen ſich mie folgt:
1. Allgemeine Chemie . . . 45
2. Analytifche Chemie . 2
3. Zuderrübenbau, Gewinnung
des Zuderd und Erläuterung
der chemifchen Eigenjyaften
des ſelben
4. Phyſik und Mechanik .
5. Maſchinenkunde und Keſſel⸗
Anlagen . . 2
6. Buchführung, Kontorwiffen:
fchaften und Berficherung®:
Gelege (Hakultativ). . . 4 „ „
7. Praktiſche Arbeiten im
Zaboratoriun . .. 18 „ „
36 Std. wöchentlich.
Anmeldungen und Bitten um nähere Audfunft
find zu richten an Herrn Dr. G. Schneider, Halle
(S.), Gr. Ulrichſtr. 51.
td. wöchentlich
” ”
— -
Irauenleben und -Streben,
Nachdruck mit Duclienangabe erlaubt.
* Die befannte Auflage gegen Frl. Dr. med.
Frauziska Tiburtind wegen Führung faljchen
Titels, die ein Anonyınus bei der Staatsanwaltſchaft
eingereicht hatte, bat, wie zu erwarten war, durd)
ein freifprechendes Urteil ihre Erledigung gefunden.
An die Blätter zur Bekämpfung bes Kurpfufcer:
tumö, in denen |. 3. Herr Dr. med. Koßmann
die weiblihen Arzte als Nurpfufcher bezeichnet
hatte, fandte Frl. Dr. med. Tiburtius folgenden
Brief, der am 1. März dort erfcheinen ſoll:
Berlin, 7. 11. 1901.
Sehr geehrter Herr!
Am 28. Novenber vorigen Jahres batte ich
mich auf eine anonyme Tenunziation bin vor dem
Schöffengericht in Moabit zu verantworten, da, wie
cs in der Anklageichrift Heißt „Durch die Bezeichnung
Dr. med., bezw. Dr. med. der Univerſität Zürich“
— fo ftcht auf meinem Straßenſchild — „ber
Glaube erweckt werten fönnte, ich fei eine geprüfte
Medizinalperfon!” — E83 erfolgte Freiſprechung.
In dem mir vor einigen Tagen zugegangenen Urteil
heißt es:
|
|
|
|
|
geführt. Ein anonymer Denunziant bat daran
Anftoß genommen, und ift auf feine Anregung bin
diefe Anklage erhoben.”
„Ferner befindet ih an dem Haufe der An-
geklagten ein Straßenſchild mit der Aufſchrift:
Franziska Tiburtius, Dr. med. der Univerſität
Zuürich.“
„Die Angeklagte iſt nun aber, wie ſie durch
Vorlegung des betreffenden Diploms der Univerſität
Zürich nachgewieſen bat, von dieſer zum Doktor
der Medizin ernannt worden und daher auch
zweifellos zur Führung dieſes Doktortitels berechtigt.
„Die Angeklagte iſt im Adreßbuch für Berlin |
im Bande 1 als ‚Dr. med., für frauen und
Kinder‘, und
‚Krztinnen, in Deutfchland nicht approbiert‘ auf:
im Bande Il unter der Rubrik
Wan kann ihr daher nicht den Vorwurf machen,
das fie ſich einen ihr nicht gebübrenden Titel
‚beigelegt‘ babe.“
„Ferner ift Sewicht darauf zu Icgen, daß fir
unter dieſem Titel ca. 25 Jahre lang die ärztliche
Praxis bierielbft unbeanftandet feiten® Polizei und
(sericht ausgeübt bat.”
„Endlich ſagt auch das Adreßbuch, deſſen beibe
Teile als cin organiſches Ganzes aufzufaffen ift,
und deren einichlägige Angaben ftets nur auf Grund
eigener Erklärungen der dort Aufgeführten gemacht
werden, nichts anderes, ala mad wahre Thatſache
ift. Und aus der Schild Aufichrift geht mit aller
Deutlichteit bervor, daß die Angellagte wicht bie
Frauenleben
Abficht gehabt hat, das Publitum über ihre Nicht
approbation in Deutichland zu täufchen. Im Adreh.
tatender jteht ausbrüdli in Band IT über ihrem
Namen, daß ſie in Teutichland nicht approbiert iit, |
und berußt, wie erwähnt, dieſe Mitteilung auf
eigener Angabe der Angellagten.”
„Dieje bat nach alledem nicht abſichtlich verſucht,
das Publifum über ihre ärztliche Stellung in
Deutichland zu täuſchen. Man fann aud nicht
behaupten, daß fie hierbei etwa jahrläffig gehandelt
habe, denn fie mußte mit den Normalmenicen,
d. $. dem Durchſchnittsmenſchen aus dem Publiftun |
| erbenttich
rechnen, und folche willen ſehr wohl einen Unter:
icbieb zwiſchen bier ftaatlich geprüften einerjeits, und
im Auslande geprüften und hier nicht approbierten
Medizinalperjonen zu machen, ferner zwifchen bloßen
Doktoren und ſtaatlich geprüften Arzten.”
Bezugnehmend auf einen in Ihrer geitſchrift
am 1. Juli vorigen Jahres erſchienenen Aufſatz
des Herrn Profeifor Dr. Koßmann, der die aleichen
Antlagen gegen die weiblichen Ärzte enthält und
fpegiel auch meine Angaben im Adreßbuch einer
abfälligen Kritit unterzieht, erlaube ib mir, Ihnen
diefe Mitteilungen zu machen, mit der Bitte, den
Brief in extenso in Ihrer Zeitichrift zu ver:
öffentlichen.
Hochachtungevoll
Franzista Tiburtius,
Dr. med. d. Univ. Zürich
* Die Koftämfchneiderei nnd bie Gefahren
der Hand: und Heimarbeit für Konfumenten
und YWrbeiter behandelte ein Vortrag, den Herr
Erich Stoboy am 14. Februar in einer Ver—
ſammlung des Berliner Frauenvereins bielt.
In ſachtundiger und ergreifenker Weiſe ſchildert er
die Beſtrebungen der Koſtũmſchneider und -Schneide
rinnen, den Verſuchen der Arbeitgeber entgegen
quarbeiten, die auch für dieſe Branche die daus
induftrie und Seimarbeit mehr und mehr einführen
wollen. Die verhältnismäßig günitigen Yohn:
bedingungen, die die Arbeiter dieſes früher |
ſehr Hochftehenden Gewerbes ſich unter ſchweren
Nämpfen zu wahren gefucht haben, jollen nun im
Intereſſe des Arbeitgeberverbandes,
Zpibe der Inhaber der detannten Firma V. Mann
heimer, Herr Ferdinand Mannheimer, ſteht, dadurch
vertürzt werden, daß bie Betriebswerkſtätten cin:
geſchrantt und der Heimarbeit ein breiterer Raum
gegeben werben foll. Die Folge dieſer Maßregel be
deutet für die Arbeiterin neben dem geringeren
Lohn unbegrenzte Arbeitszeit, ſchlechtere Arbeits
unb «Streben.
an deſſen
bedingungen und bie völige Unmöglichfeit, von den ;
Organifationdverfucien erreicht zu werben.
Für!
die Käuferinnen bedeutet aber die Herftellung der
Roftüme in der Wohnung der Arbeiterin eine ;
375
ichwere geſundheitliche Gefahr, werben doch zahl
reiche Nranfheiten aus dem Heim ber
Arbeiterin, das zugleich ihre Arbeireftätte,
Schlaf und Kodhraum und der Aufenthalt ihrer
inder ift, durch die dort angefertigten Aleibungs.
ftüde auf deren Näuferinnen und ihre Familien
übertragen! Der Aufforderung des Redners, die
er im Namen der Koftümſchneider und »Schneide.
rinnen Berlins, deren Gewerkichaft cr angebört, an
die Verſammlung richtete, nicht bei den Firmen zu
kaufen, die ſich an der Bewegung zur Einführung
der Hausinduſirie beteiligen, folgte eine außer:
Iebbafte Tistuffien. Zu ftarten
Meinungsverſchiedenheiten führte die Frage, was
die Regierung zur Befeitigung der Hausinduſtrie
und Heimarbeit thun fönne, und in wieweit die
Arbeiterinnen diefer Betriebsarten organifations
fäig feien. Zr. Mellien, Dr. Wilbrandt,
Frau Gnaud-Kübne, rl. Helene Lange, Frl.
Vehm, Herr Möbius, Fr. Plothow, Frl.
Salomon vrörterten die bisherigen ausländifchen
Verſuche auf dieſem Gebiet, Gejehe zur Ein
igräntung der Sausinduitrie, obligatoriſche
Einigungsänter und dergl. Einige Rednerinnen
ſprachen fich gegen die Einfhräntung der Sein:
arbeit aus, um den Kindern bie Pflege der Mutter
nicht zu entziehen. Bor andern wurbe dieſer
Standpunft energiih befämpft, weil bei den
traurigen Verhältnifſen in ber Hausinduſtrie von
mütterlicher Pflege und Erziehung überhaupt
nicht die Rede fein fann. Much der Heferent hob
in ieinem Schlußwort hervor, wie für ihn die Er:
zichung im Wailenhaus geradezu ein Segen ge
wefen fei, im Vergleich zu den Verhältniffen, die
er vorber im Haus jeiner Mutter, die ſich ale
Heimarbeiterin durchzubringen verſuchte, lennen
gelernt hatte. Dieſe ergreifenden Worte des
Redners dürften auch ben Anhängern ber Heim—
arbeit, die der Verſammlung beimohnten, mandes
zu benfen geben. Cs wurde denn auch ein—
ftinmmig von ber Verſammlung folgende Reiofution
angenommen:
„Die am 14. Februar 1901 tagende Ver
fammlung des Berliner Frauenvereino
verpflichtet fi, nah Kräften dafür ein
zutreten, daß innerhalb der Berliner
Roftümfchneiderei Betriebswerkſtätten
eingerichtet werden.“
Zur Ausführung des Beſchluſſes wurde eine
Kommiifion gewählt, bie in Gemeinſchaft mit den
Vertreter der Koſtümſchneider und -Schneiderinnen
über Maßnahmen beraten fol, um nad) Art der
ameritaniihen Ronjumentenvereine weiße
viften ber empiehlenswerten Firmen in
Verlin zu verbreiten. Auf diefe Weiſe wird
Frauenleben
der Wochenpflegerinnen mehr geichehen fol und
den Ärzten empfohlen, darauf hinzumirten, daß die
Hilfsthätigfeit der Hebammen in der Geburtäpilfe
nicht eingeengt werde. Hebammen und Wachen:
pilegerinnen follen nebeneinander wirken;
Art untergeordneter Hebammen aus ihnen zu
machen, die Verpflichtung zu einer ſtaatlichen
Brüfung auferlegt werden. In der Winifterial
verfügung heißt es:
„Die Hebamme ift vermöge ihrer Vorbildung
und" prattifgen Crfahrung im Stande, ſaus der
Arzt die Kreißende anderer Berufspflichten wegen
vorübergehend verlaffen muß, gefabrbrohende Cr-
eigniffe rechtzeitig zu erfennen und die oft erforder:
lichen fojortigen Maßnahmen anzuordnen. Ihr
Erjag dur die fogen. Erftwärterinnen tann als
ein volgiltiger nad feiner Richtung gelten und
birgt unter Amftänden eine Gefährdung ber
‚Kreißenden in ſich felbft wenn bie Pflegerin nebenbei |
auch etwas vom Geburtöverlaufe, wie der Entwurf
vorfeplägt, gelernt haben folte. Die Arzte baben
hiernach alle Veranlaffung, auf die Zuziebung von
Hebammen bei den von ihnen geleiteten Geburten
zu dringen unb das unberechtigte Vorurteil gegen
die Hebammen in den Nreiien der Bevölkerung,
welche nad; Angabe des ärztlichen Leſevereins zur
Zeit von der Zugichung der Hebamme neben dem
Arpte nichts wiſſen wollen, zu befämpfen. Eine
BVeſſerung in biefer Beziehung ift neben der Auf;
flärung des Rublitumd aud dann zu erhoffen,
wenn ber ärztliche Yejeverein nad dem Borgange
mehrerer ärztlichen Vereine im Regierungsbezirt
Tüffeldorf feine Mitglieder verpflichten würde, die
£eitung von Geburtöfällen ohne Zuziehung einer
Hebamme fernerhin nicht mehr zu übernehmen.
Der beklagenswerten Berdrängung der Hebammen
aus den wohlhabenden Familien dürfte alddann
bald ein Ziel gefegt fein und die Gebamme auch
in jenen reifen wieder als bie fachtundige, be:
rufene Helferin angeſehen werden, wie fie es fonit |
überall und anfcdeinend biöher unbeftritten aud
dort in ber minder wohlhabenden Bevöfterung ift.“
Die Hebung der fachlichen Ausbildung der Wochen
pflegerinnen will der Minijter zur Sade der
‚Frauenvereine gemacht willen. Tie Ausbildung
oli in geburtöhilflichen Anftalten und Wöchnerinnen:
aſhlen erfolgen und zwei bis drei Monate dauern.
* Zür die größere Konfolidierung nnferer
Gymnafialturfe iſt es ein gutes Zeichen, daß
ſowohl in Berlin als in Stuttgart Penſionate ein
gerichtet werden, in denen die Schülerinnen der
Kurfe Unterkunft finden. An Berlin wird Fräu
fein Lucie Hermann, die lange Jahre als vehrerin
an den Kurfen thätig war, ein Penfionat errichten,
das in erfter Linie für die Schülerinnen der Kurje
beftimmt ift, aber auch andere ftubierende Tamen
aufnimmt. Das Benfionat wird zu Oſtern d. J.
in Berlin S.W., Großbeerenitr. Y, eröffnet werben.
Um nähere Auskunft wolle man jih noch an bie
den :
Wochenpflegerinnen ſoll aber nicht, um nicht eine |
und «Streben.
'
377
Empfehlungen durch befannte Berfönlichteiten inner
halb und außerhalb des Kuratoriums ftehen dem
Unternehmen zur Seite.
Zum gleichen Termin wird unter der Voraus
fegung einer binreichenden Zahl von Anmeldungen
Frau Anna von Gottberg in Stuttgart,
Foltertftr. 39 11 (Spredhftunde von 0—I1 br
Zorm.), ein Internat für die Schülerinnen bes
dortigen Madchengymnaſiums eröffnen. Es find
zu dieſem Ziel im Haufe des Gymnaſiums,
Urbanjtr. 42, freundliche Räume in Ausficht geſtellt
worden. Ter Plan dazu wurde noch mit der leider
io früß verftorbenen bisherigen Leiterin der Kurfe,
Frau Schwend:lrfüll, eingehend beſprochen. Ter
Penſionopreis beträgt 900 Mark jährlich, doch ift
ev. eine Ermäßigung nicht ausgeſchloſſen.
Betreffend die Zulaflung von Frauen an
der Univerfität Strafburg iſt durch Erlaß bed
Statthalterd vom 28. Januar genehmigt worden,
daß folgende, vom Zenat der Univerfität unter
| dem 31. Nuli vorigen Jahres befchloffenen Be:
ſtimmungen in Kraft treten:
„Unbefjabet des Rechtes jedes einzelnen
Dozenten, rauen zu feinen Vorleſungen zuzulaſſen
oder abzuweiſen, können rauen, die entweder an
einem beutffen Oymmafium oder Realgymnafium
oder einer deutfchen Oberrealſchule bie Reifeprüfung
beftanden oder, foweit «8 ſich um Borlefungen
innerhalb der philoſophiſchen und der matkemmatifhen
und naturwijſenſchaftlichen Fakultät handelt, bie
vehrbefäbigung für eine beutiche höhere Mädchen:
ſchule erwerben haben, durch den Reftor Hofpitanten:
büder zum An: und Mbmelden ber Vorlefungen,
fotwie beim Abgang amtliche veſcheinigungen über
die gehörten Porlefungen erhalt Durch diefe
neuen Veſtimmungen bleibt das bißher ſchon geübte
erfahren in der Hauptſache unverändert: Jeder
einzelne Togent kann nad völlig freiem Ermefien
Frauen zu feinen Porlefungen zulaſſen oder es
ihnen allgemein oder im einzelnen falle vermehren.
Dagegen find jetzt thatſächlich zwei verfchiedene
Kategorien von Holpitantinnen geſchaffen, je nachdem
die zugelaijenen ‚rauen den männlichen Stubenten
gegenüber gleichtvertige orbildung befigen ober
nicht; für die erfteren bedeutet die Erteilung von
Hofpitantenbühern und von beionderen Be:
ſcheinigungen über die gehörten Borlefungen eine
ben immatritulierten Studenten ähnliche Stellung.
Daß ihnen damit gleichzeitig auch für fpäterhin,
wenn fie fih um Zulailung zu ben betreffenden
itaatlihen oder alabemiichen Prüfungen bewerben
wollen, der Nachtweis über die bier zugebrachte
| Ztubiengeit jehr weientlich erleichtert und vereinfacht
iehige Adreſſe von Fräulein Hermann, Berlin W., ,
Blumenthalftr. 18 III, wenden. --
beiten .
wird, wird zweifellos von den beteiligten Tamen
ſehr dantbar empfunden werden.
+ Die Abteilung Frankfurt a. M. des Bereins
Frrauenbildung — Frauenftudium veranftaltete in
(emeinfhaft mit der Trtögruppe ded Allgemeinen
Teutihen Frauenvereind und dem Verein der
Yehrerinnen und Erzieherinnen am 14. Januar einen
Bucherſchau.
Vorſtellungen und verlangten volftändigen Erjag
für ihre Auslagen und Verfäumniffe, wogegen fie
von allem anderen Abftand nehmen wollten.
die Verdingerin ſich weigerte, irgendwelche Ent:
ſchadigung zu bezahlen, wenbeten fi die Ge:
Ichädigten an einen hiefigen Rechtsanwalt, um die
Entſchadigungsklagen gegen bie Berbingerin an-
zuſtrengen. Zu gleicher Zeit bat bie königliche
Staatdanwaltipaft die Unterfuchungäverpandlungen
gegen die Berdingerin anfgenommen, da begründeter
Verdacht befteht, daß dieſe Frau von der Art ber
Stellenvermittelung in Belgien Nenntnis gchabt
und bereit8 früher bortbin Mädchen verbungen hat.
* Helen Zimmern, die durch ihre gründlichen
Arbeiten auf dem Gebiet der Kunftlitteratur be:
dannte Schriftftellerin, wirft auch durch Vorträge
über die Ergebnifte ihrer Forſchungen an ben be:
rüßmten Aunftftätten Ztaliend. NIS fie im derbft
1887 querft in Floren,, ihrem langjährigen Wohn:
ort, mit ihren im englijcher Sprace gehaltenen
und vermittelft Laterna Magica erläuterten
„Lectures“ Bervortrat, fiherten ihre gebiegenen,
birelt aus italieniihen Duellen gefammelten Kennt:
niffe und ihre lebhafte, geiftvolle Vortragsweiſe
ihr von vornherein den Grfolg. "Nach diefem er:
genden Anfang erhielt fie aus funftfinnigen
Kreifen Englands mehrfach bie Aufforderung, auch
Ta
379
dort über altflorentinifdhe Nunft zu ſprechen, —
ein Ruf, dent fie fhon einige Mal folge leiftete.
So hielt fie erft jüngft in London am Ning's
College einen Cytlus von ſechs Vorlefungen, der
zur Zeit in Florenz unter dem Protektorat bes
britifhen Gejandten Yord Currie und fine hai
mablin von ihr wiederholt wird. R. T.
Totenſchau. In Stuttgart ftarb die jugend-
liche Yeiterin des dortigen Mädchenghmnaſiums,
Frau Gertrud Schwend, geb. Baroneſſe Urkül:
Gpllenband, lic. &s lettres. Die Begründung der
jungen Anftalt ift ihr zu banten, und in ihren
Handen lag feit den zwei Jahren des Beſtehens
die Leitung ſowohl als eine große Anzahl von
Stunden. Seit dem Herbſt 1900 leitete fie außer:
dem die Abteilung Stuttgart bes Bereind Frauen.
Bildung: Frauenflubium, bie fie ins Yeben gerufen
hatte. Die Frauenſache verliert in ihr eine be.
gabte und begeifterte Vertreterin, die in der kurzen
zeit ihre Schaffens fo zahlreiche Beweife ihrer
Nraft und ihres Wollend gegeben, daß wir mit
ihrem Tode die Jerftörung fo mancher froben
Hoffnung für die Zufunft beilagen.
— ⸗
Bücherſchau.
„Zwiſchen zwei Welten“ von ©. Breltwig. '
Eine Weltanihauung im dramatiſchen Bilde. Fünf
Akte. Freiburg i.Br. Friedrich Ernft Fehfenfeld 1401.
Wie in Gertrub Breliwig erftem Drama „Übipus“,
fo tämpfen auch Bier nicht eigentlich vien ſchen von
Fleiſch und Blut, fondern die Geiſier in der Luft
Sie tämpfen aud) nicht eigentlich über dem Schlacht:
felbe, das die Dichterin zum Schauplag ber Handlung
macht: Byzanz zur Zeit des untergehenben
Griedentumd und ber werdenden Sirde, fie
tämpfen ben Kampf bes neungebuten, deö zwanzigſten
Jahrhunderts. Un der Schwelle des neuen Jahr:
Bunberts, dem die Dichtung ais Frühlingeweigegruß |
dargebradht ift, Barrt eine Frage der Yöfung: Ob
Menfchentvefen fi) heiligt und vollendet in ftolgem,
reinem, frohem (enieen, oder im Entſagen und
Bergichten, in Selbftzucht unb Selbftbeihräntung
und Selbftverneinung. Kann der unſer eigeniter
Sott fein, den wir nur erreichen können, wenn
wir uns felbft ertöten? Sollen wir Schönbeit
fuchen, ober giebt es etwas Höheres, dem alles,
auch fie felbft, geopfert werden muß? In vornehmem
Glanz fteht an der Schwelle des neuen Jahrhunderts,
mas am Anfang des vergangenen als verächtlich
icht
empfunden wurde, das Hecht ber Sinne. Rerii
leiften, two man nehmen koͤnnte, ift es feige?
cs groß?
Tiefe Fragen projiziert die Digpterin auf einen
biftorifchen Hintergrund. Sie findet zu ihrer Ver:
Törperung die Geftalt des Apoftata. Diele Geitalt
hehe *8 als eine hiſtoriſche in zu ſcharfen
da, ais dak man an ihr das Problem und
hıng durchführen könnte. So wird fie ftilifiert zu
Heliodor, „dem legten Jüngling, den die müben
Götter ſchufen, um an ichmerzlich jhönem Unter:
"ber Kirche
gang ſich zu meiden.” Heliodor hat auß ber reinen
Schönheit der Antite feines eigenen reinen Weſens
Deutung gelefen, und entrüftet wendet er fi von
„deren matter Blid vor des natürlichen
Menſchendafeins glanzvoller Reinheit mißtrauiſch
erfohridt.” Zur heiligen Freude win er fein Wolt
führen. Doch muß er einfchen, daß er auf feinem
Wege, im der verborbenen Welt, die ihn umgiebt,
feine guten, heiligen Nräfte zu weden vermag.
Ten wahren Weg zeigt ihm Janthe, die Propbetin,
die ihn im moftifhen Erlebnis gefunden: (ort
wohni in der Welt! „Nur ſich hineinleben, hinein:
lieben, tiefer, tiefer, mit ernfter Arbeit! Das Ich
dahinien laffen! Denn dad Ich, das triecht burdı
die lichten Räume und fpäht nach Nahrung und
Nugen, und fieht nur, was nah vor Augen und
feufzt des Jammerthald.” Und noch tiefere Wahrheit
fündet fie ihm, eine Wahrheit, die nicht in Worte
zu fallen, fondern nur im Erleben ergriffen werden
tann: „im Blühen, Welten und Auferfteben
feiert der fchaffende Gott der Melt felig das Fei
des ewigen Lebens.” Zu dieſem Erleben führt ihn
fein Geihid. Der Fanatismus der an ohnmächtige
Worte gefejlelten Briefter, die Stumpfheit und
Kobeit des Voltes läßt ihm nur einen Weg, fein
„Heiligtum heilig zu bewahren,“ den Tod. nd
fo lernt er das (Scheimnis des Kreuzes verftehen,
fo wird er ein Chrift, ein Jünger des Finſteren
von Nazareth, den er gehaht hat.
Ta® Theoretiiche in dem „dramatifhen Bilde“
bleibt wie im Edipus wieder auf halbem Wehe in
die Wirklichkeit fteden. Und das ift verhängnis-
voller ald dort, denn nun beſteht ein fortbauernder
ftörender Wideriprudh wiichen deutlichen hüiteriicpen
Angaben und einem Milieu, das im übrigen unter
880
die Bedingungen ded: „In alten Zeiten lebte einft
ein König u. |. w.” geftellt ift. Ind wie im Odipus,
nody mehr ala im Odipus, fehlt jebe indivibuelle
Charalteriftif, ein Mangel, über den man allerdings
zeitweife hinwegkommt durch die fehr Lebendige
Führung des Dialogs.
„Freigeboren.“ Roman von Friedrich Spiel:
bagen. (Leipzig 1901, Verlag von 2. Staadmann).
Spielbagend neuer Roman iſt in einer Beziehung
dag befte Buch, das er je gefchrieben: es ift inner:
licher als Die lange Reihe feiner früheren Schöpfungen
auf dem Gebiet der Erzählungstunft. Alles Roman—
hafte, alles derb Handlungsmäßige ift abgeftreift.
Schlicht und dabei folgerichtig giebt fich die Ent:
widlung eined® Menfchen, einer Frau. ALS junges
Mädchen ſchon ift fie ein ganz felbftändiger Charakter.
Alles Phraſenhafte, Angelernte, UÜbernommene ift
ihr zumider. Sie denkt ſelbſt; mit eigenen Augen
jiebt fie die Welt an; fie ſcheut ſich nicht, Dinge
zu thun, die nach der Leute Meinung für Mädchen
unftatthaft find. Früh verwaift, ift fie fich felber
Richterin. Sie bewahrt das Bemwußtiein, richtig
gehandelt zu haben, auch als einer ihrer Lehrer,
in deſſen Haus ſie Iebte, fich das Leben nimmt,
da fie feine Yiebe nicht erwidert. Sie nimmt eine
Stellung ald Gefellichafterin in einem jüdilchen
Haufe an, Sie, die zzreigeborene, die Adlige. Und
dann will es ihr Schidfal, daß fie einem Mann
der Phrafe als Gattin in fein Haus folgt. Die
Ehe wird unglüdlich, ift e8 im Grunde. von Anfang
an, und es iſt nur ein unbedeutend Mehr an Leiden,
als fie erfährt, dag ihr Mann mit ihrer Schwägerin
fie hintergeht. Auch fie jelbft bat ihren Herzens—
roman inzwifchen erlebt. Cine Zeit lang täujcht
fie fih über die Leere ihres Daſeins dadurch hinweg,
daß fie eine glänzende, tonangebende Rolle in ber
Berliner Geſellſchaft ſpielt. Doc hält das nicht
vor. Wieder geftaltet fich ihr Leben ganz innerlich,
und zu Feſtigkeit und Selbſttreue ringt fie fich
durd. Wenn fie ſich nachher trotzdem das Leben
nimmt, fo ift das fein Widerſpruch; dieſer Selbft:
mord bedeutet nicht Flucht, jondern ein freiwilliges
Sceiden aus Berbältnifien, die unerträglich ge:
worden find. In Form eines Tagebuches ift ber
Roman geichrieben. Vorzüglich tft auch die Zeichnung
einiger Nebenperjonen, vor allem das alte
Kommerzienratäpaar, bei dem fie ald Sefellfchafterin
Stellung findet: jelten hat Spielhagen fo tief
innerlich liebenswerte Geſtalten geſchaffen.
„Das Weiberdorf”. Roman von C. Viebig.
7. zontane u. Co. Berlin 1900. „Das Weiber:
dorf” wird unter den fozialen Romanen der neueren
Litteratur einen hervorragenden Rlag beanspruchen
fönnen. Die Berfafferin führt in ein Eifeldorf,
das feine Männer in die Snduftriebezirfe Rheinlands
und Weftfalend entjendet, da der heimiſche Boden
nicht Brot für alle bietet. Nur zweimal im Jahre
kehren fie auf wenige Tage in die Heimat zu Frau
und Kind zurüd. Und nun entwideln ſich auf
dem ungejunden Boden dieſer Verbältniffe, einem
Boden, der die Heiligung des Geſchlechtslebens zur
Familiengemeinſchaft unmöglich macht, die niebrigften
Inſtinkte zu alles beherrjchenten Mächten. Fraglos
ift die Behandlung des Motive frag, an einzelnen
Stellen mehr noch als dag, zweifellos tft fie auch
einfeitig, die Menfchen des Romans find eben nichts
als Gejchlechtöweien. Aber die Gejtaltungsfraft
Bücherfchau.
der Künftlerin giebt ben Geſchilderten das Giepräge
erfchütternder Mahrbeit, und bie in dem Bud er-
bobene Anklage gegen bie Gefellichaft, die ſolche
Zuftände gezeitigt bat, rechtfertigt auch das von
künſtleriſchem Standpunkt Anfechtbare bis zu einen
gewiſſen Grade. Bis zu einen gewiffen Grade —
denn ftellt man dies Buch in bie Heihe der littera:
rifchen Frauenproduktion unferer Tage, bedenkt man
die Zahl von modernen Frauenbüchern, bie dies
Broblem behandeln, jo Tann man fi des Eindruds
nicht erwehren, daß man es hier mit einer gewiſſen
Abfichtlichteit zu thun hat, bie vielleicht zu erklären,
faum aber zu rechtfertigen und auf jeden Fall zu
bedauern ift.
„Bergauf“. Gedichte von Eliſabeth Gnade.
Dresden und Leipzig. Verlag von Karl Reißner,
1900. „Wurzeltief und mwurzelecht” find Clifabeth
Gnades Gedichte, aber ihre Farben find matt, faft
verfchwimmend, ihre Töne leife, faft einfürmig;
ihre Schönheit zart und anſpruchslos. „Siegbaften
Wiederhall zu erzwingen” find fte nicht gemacht,
ed fehlt ihnen dad Clemtare, Starke, es fehlt
ihnen an Intenſität und Lebensfülle. Der Ausdrud
auch für tief und Iebendig Empfundened iſt ge:
dämpft, die Gedichte erzählen vom Yeben, fie find
nicht das Leben jelbft. Gedichte, deren Eigenart
ſich fo wenig kräftig giebt, an jo feinen, leiſen
Zügen nur faßbar iſt, follten nicht in fo umfang:
reihen Sammlungen erjcheinen, fie wirken dann
notwendig einförmig; es hätte eine Fritifchere Aus:
wahl überhaupt dem wirklich Wertuollen in der
Sammlung einen ftärferen Eindruck gefichert. Die
Dichterin beherrſcht ſpielend die Form. Auch bier
liegt die Schönheit mehr in Wohlklang, Weichheit.
Biegfamkeit ald in Kraft und Eigenart. Aber eben
in dieſer ihrer ftillen, faft müben Art find die
Lieder perfönlihd wahr. Es gebt cine Sehnſucht
hindurch, für deren Weſen eins der Lieder be
ſonders charakterijtiich ift:
Mein Flüfchen, das vom Bergeshang
Friſch und beberzt binunterfprang —
Wie fchleihft du elend jegt und träg’ .
Landeinwärts deinen ſand'gen Zen.
Man ſieht's dir an! Die Müp ift fchwer,
Dein Daſein freut dich felbft nicht mehr.
Tod börft du nicht den tiefen Ton
Tes großen Stromd von ferne ſchon?
Nur kurze Friſt, und deinen Lauf,
Dein Leben ſaugt der Etarte auf,
„Gedichte von Frieda Jung. Königsberg.
Verlag von Gräfe und Unzer. Es gcht ein er:
friichender Hauch durch dieſe einfachen Lieder, ein
Hauch wie von Wiefenblumen und tauigem Gras,
Sie find die Melodie eines ſchlicht, Har und warın
gelebten und erfaßten Lebens, eined Lebens, bas
neben allem Leid, das feinen Grundton giebt, doch
noch Raum bat für tiefes beicheidencd Glücklichſein
und herzliches Genießen An Johanna Aınbrofius
erinnern die Gedichte durch die Verwandtſchaft bes
Lebenskreiſes, des Schidfald, dem fie angehören,
durch die Schlichtheit de8 Empfindens und Tenfen?,
die fie ausjprechen. Aber fie find — das gilt be-
ſonders von denen unter der Aufichrift „Liebe“ —
frifcher und Fraftvoller, es ift doch nicht alles ftille
Reſignation, fondern man fühlt durch das Verzichten
hierdurch das ungelebte Yeben ftarf und warm
pulfieren, und da wo es noch ungebrochen zum
Ausdruck fommt, ift der Ausdrud voll unb un:
mittelbar.
Gouvernantenbriefe. 887
„Ex iſt für euch wohlwollend bis zur Zärtlichkeit. Voll des Lobes der techniſchen
Künfte der modernen Austoren und -törinnen.“
„Ah pah — das Techniſche!“ ſprach fie wegwerfend.
„Mir aber war,“ fuhr ich fort, „als läfe ich ein Referat über die Vorgänge in
einem Spital bufterifcher Meerkatzen. Iſt denn noch etwas Menſchliches an all den
Vopanzen, Falfüchtigen, Neurafthenifchen, die mir da vorgeführt werben in ihren
ignoblen Gelüften? Ich bin eine alte Frau, wenn id) aber eine großartige Leidenschaft
in ihrer vollen Kraft und Glorie dargeftellt ſehe, beuge ich mich und muß fie bewundern.
Und ware fie für einen unheiligen Gegenftand entflammt — in ihrem Feuer ift
etwas Heiliged. Aus dem erbärmlichen Gloften, in den ihr euren Zundſtoff verfegt,
quillt nur brenzliher Rauch und entwidelt tödliche Gafe, nicht Wärme und Licht.”
„Er entwidelt Piychologie”, entgegnete fie mit Überlegenheit. „Wir erweitern
ihre Grenzen, indem wir alles barftellen, was da iſt.“
„In einer Richtung befonder8 — der nieberften.”
„Was ift hoch, was ift nieder? Wir laffen gar feinen Rangunterſchied gelten,
wiſſen beshalb nicht? mehr von Prüderie. So find wir, rufen wir ber Welt zu,
nehmt und wie wir find oder laßt uns flehen.“
„Der Welt rufen Sie das zu — der Männerwelt?”
„Meinetiwegen, der Männerwelt.“
„Die hat es jegt leicht. Diefe Herren werden beides thun: euch nehmen und
ſtehen laſſen.“
„Auch recht. Ich bin für die freie Liebe.“
Da mußt ich auflachen. Sie ſaß vor mir, anmutig und jung, und aus ihren
großen graublauen Augen ſah noch die im Innerſten von all dem ſchmutzigen Wiſſen,
das über fie hingeflogen war, unberührte Seele.
Mein Lachen hatte fie beleidigt; fie ſprudelte ihren Unwillen Fräftig heraus.
& wurde ein ernfter Kampf, den wir führten, wenn ich auch nicht den geringften
Anlaß fand, perfönlich zu werden. Einem in die Stromfchnelle geratenen Weißfiſchchen
nimmt man nicht übel, daß es von ihr mitgeriffen wird. Der Strömung aber bin
ih von Herzen feind. Daß fie eine Naturerfheinung ift — tie alles was ift —
verfößnt mich nicht mit ihr. Die Veit ift aud) eine Naturerſcheinung, und ic) kenne
teinen, der fie in Schuß gegen ihre Belämpfer nimmt. Ich bin gewiß nicht die ein:
zige, bie fie eben fo verderblich, troftlos und häßlich findet, wie die ſchwere Erkrankung
des Schamgefühls in der Frau.
Als die Neophytin der neuen Richtung feinen andern Ausweg mehr fand, nahm
fie fogar die Peft in Schug und behauptete, fie hätte ihr Guted. An meinen Ans
ſchauungen Hingegen ließ fie feinen guten Faden, erklärte mir zulegt ihren unauß-
Töfchlichen Haß und verließ mich mit einem Lebewohl für immer.
Ich aber rief ihr voll heiterer Zuverficht nad: „Auf Wiederfehen!”
Marie von Ebner-Eſchenbach.
— ISRLELNT Aa
a
25*
Ellen Key. 889
neueren, religiöß vergeiftigten Individualismus iſt. Darum mußte ih mit ihm bie
Schilderung einer fchriftftellerifchen Perjönlichkeit, wie Ellen Key beginnen, die Kierlegaard
fo fern wie möglich fteht. Ausgenommen in einem Punkt! In dem Glauben an die
große Bedeutung und den unendlichen Wert des Einzelnen. Alles kann in dieſer
Welt erfegt werben, nur bie wirkliche Perfönlichkeit nicht, eine Seele, in der daß
Bild Gottes in unbefledter Reinheit und unüberwindlicher Kraft ftrahlt. Nur die allein
hat dad Recht, Individuum genannt zu werden, d. h. ein Individuum, dad niemals
vorher eriftiert hat und niemals wiederkehrt. Diefer Glaube an das Individuum ift
Ellen Keys Religion, Philofophie und Politik.
u.
Ellen Karolina Sofie Key it den 11. Dezember 1849 auf Sundöholm in
Smaaland geboren. Ihr Water ift der bekannte, freifinnige Politiler und Gelehrte
E. A. U. Key, Rektor des Karolinſchen Ynftituts in Stodholm. Bis Ellen Key im
Jahre 1895 den polemifchen Vortrag „Mißbrauchte Frauenkraft“ und bie Schrift
Raturgemäßes Arbeitsgebiet der Frau“ herausgab, war fie hauptfächlid als mutige
und emergifche Vorkampferin der radikalen Frauenemancipation bekannt. Diele
Nichtung wurde ja vornehmlich durch den politifchen Intereſſenkampf hervorgerufen
und zielte zuerft und vor allem darauf bin, der Frau Macht im Staate zu fichern.
Außerdem ift fie unlöslich mit der Politit verknüpft, die wir jegt Alt:Liberaliamus
nennen, das will fagen, fie frankte an einer beichränften und kleinlichen Auffafung
des täglichen Lebens, dem mir alle unteriworfen find, und einem einfeitigen, pedantiſchen
Streben nah bloßem formalen Recht. Wie übrigens die Reaktion der abftraften
Sreipeiteichmärmere gegenüber die Naturfeite des Menfchen und die unveränderlichen
eſetze für alles Lebende betont hat, that fie es auch binfichtlich der Frauenfrage.
Mit unmiderlegbarem Recht wurde hervorgehoben, daß die Wutterfchaft, für die
Frau und das ganze menjchliche Gefellichaftsichen das Entfcheidenfte, die erfte und oft
einzige Aufgabe fein müfle und darum heiliger fei, als alle Freiheitsbeftrebungen, die
Neformatoren und Moraliften als Ideale aufftellen können. Im Grunde war es
aud eine ſolche rein menfchliche Emancipation oder befier religiöfe Befreiung vom
Weiblichen, die den Kern in Camilla Collet3 Frauenrechtäfampf bildete.
Nach diefer Richtung Hin hat auch Ellen Key in den legten Jahren die mannig⸗
faltigen Fragen in Betreff der Etellung der Frau in ber Geſellſchaft, ſowie der
Frauenpſychologie behandelt.
Bezeichnend für Ellen Keys befondere, individuelle Auffaflung if, daß fie ihre
Anfihten in Iebensvollen Bildern, — als biographiiche Charaktericilderungen
eigenartige, hervorragender Frauen dargelegt hat. Eine ihrer erften Arbeiten biejer
Art war der feine, verfländnisvole Eſſay über E. Ahlgren!), dem das Buch über
Anne Charlotte Leftler, mit den darin enthaltenen intereffanten Mitteilungen über
Sonja Kowalewsky folgte. Diefe Charalteriftiten find Lebensbilder im wahrften
Sinn des Worted. Was Ellen Key ins volle Licht zu rüden fucht, ift das Menſchliche;
die fitterarifche und Lünftlerifche Eigenart des Gegenftandes interejfiert fie nur als Mittel
zum Verftändnis des Menichen. Für fie hat die Kunft vor allem als vornehmfter
Anlaß zum Seelenftudium Wert.
Erſt in den legten biographiſchen Eſſayhs ift es ihr ganz geglüdt, die Inappe,
prägnante, der Seelenmalerei allein angemefjene Form zu finden. Ich erwähne unter
diefen die enthufiaftiiche Charakteriftit von C. 3. L. Almquift, den Ellen Key für
Schwebens mobernften Dichter hält, wie das meifterhafte Kapitel in den „Gedanken⸗
bildern” Evolution der Seele, (Deutiche Ausgabe: Eſſays von Ellen Key. Berlin,
©. Fiſcher, Verlag) mit den tiefen, innerlihen Schilderungen von Vauvenargues, Amiel,
Maeterlind und Richard Jefferies und in ihrem legten Werk die befeelten, hoch
pathetifchen Stimmungsbilder aus dem Leben des Dichterpaars Browning und des
Olympiers Goethe.
’) Zn deutſcher Überfegung erſchienen in der „grau“, 7. Jahrgang Heft 11 und 12.
Ellen Keh. 391
errungen haben, darf man hoffen, daß fie bie Welt ein wenig befjer und weiter machen
werben, als fie es jegt ift.
Erft dur die im Jahre 1898 herausgegebenen „Gedankenbilder“ war Ellen
Keys Ruf als Schriftitellerin durchgedrungen. Sie offenbart fih darin ganz als bie
kluge, bochgebilbete, feurige Perfönlichfeit, die fie it, — als die glaubenäfreudige,
tiefe, innerlich begeifterte Kulturmiflionarin des Nordens. Diefe Gedantenbilder
tönnen nur mit gewiffen feltenen Büchern der neueren europäifchen Litteratur ver:
glichen werden, — ich denke an fo unzünftige, unmethodifche, aphoriftifche Bücher wie
Rembrandt als Erzieher, Vernon Lee's Dialoge, Paul de Lagardes Deutſche Schriften
oder einzelne von Ruskins myſtiſch betitelten moralifchen Phantafien. Es find leicht
bingemworfene, freie, ftimmungbefeelte Reflexionen, über denen noch die ganze Friſche
des erſten Augenblids Liegt, aber immer fünftlerifh ausgeftaltet. Da ift nicht feierlich
die Rebe von Philofophie, — diefe ehriwürdige Weisheitöquelle fpendet uns heutzutage
nicht allzu viel Geift, — fondern von einfachem, natürlich menſchlichem Denken, defjen
einzig. ſicheres Beweismitiel individuelles Fühlen und perfönliches Erfaſſen iſt. Das
Anziehendfte diefer Aphorismen ift eine eigne Anmut, eine echt weibliche Anmut. Jede
Seite, jedes Wort offenbart die reine Naivetät, die tiefe, rüdhaltloje Einfachheit, die
man nur bei Menfchen findet, die fich ihr ganzes Leben hindurch ben reinen, uns
berührten, empfänglichen Jugendfinn bewahrt haben. Nur die allein haben den Mut,
fih unbeirrt von Spott und Zweifel den fehwierigften Fragen hinzugeben, und feiner
vermag wie fie andern von ihrem Mute mitzuteilen. Diele werden darin einig
mit mir fein, daß Ellen Key dieſe Kunſt bis zur Volllommenheit befigt. Mutgeberin
wäre die rechte Bezeichnung für fie.
Wer Ellen Key kennen lernen will, follte fich ausfchließlih mit den beiden
Bänden „Gedankenbilder“ befchäftigen. Sie enthalten alles, was fie über Menfchen
und menſchliche Ideale der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gedacht, empfunden
und geträumt hat. Und — keins ihrer übrigen Werke zeigt einen Behr, geiſtvollen
Stil. Obwohl die verſchiedenen Effays, die den Inhalt des Buches bilden, als eine
hohe, aber ganz unmethobifche Reflexionskunſt charafterijiert werden fönnten, haben fie
dennoch etwas ſyſtematiſch Abgeſchloſſenes. Es finden fi darin ſowohl Grundfteine
zur Aftgetit, wie zur Geſellſchaftslehre und Moral. Und im Zufammengang geiehen,
offenbaren fie eine Weltanfhauung von vagem, religidfem Charakter. Vage, weil fie
abftraft und nur in einzelnen Grundlinien angedeutet find, — ber Glaube, de: dem
Ganzen zu Grunde liegt, ift fe und Har.
V.
Religion iſt nach Ellen Keys Definition „alles was unſer Herz weiten und er—
heben kann“. Es will jagen, daß ſie überall die pofitiven Werte zu finden und den
Menfchen zugänglich zu machen fucht. Die Lehre von göttlichen Dingen, von einem
ewigen, feligen, überirdiſchen Dafein wird zur bildlichen Umschreibung für die Sehn:
fuht und den Willen zu einem reineren, höheren, reicheren Leben. Sie führt oft
Spinozas Gedanken an, daß Freude und Luft Vollkommenheit bedeuten; fie verleihen
unferm Geift ftärfere Macht und Kraft und vermehren unfere Glücksmöglichkeiten.
Und Glüd ift, wieder nad) Spinoza, Volltommenheit. Der freie Menich fol ftark fein
und Hug, damit er feine Beftimmung erfüllen kann: im Lebenskampf immer zu fiegen.
Der freie Menfch beichäftigt ſich mit nichts weniger, als mit dem Tode, feine Weisheit
befteht darin, an das Leben zu denken und den Tod zu vergeſſen.
Diefer Gedanfe Spinozas ift der Kern des tiefften Weltbegriffs der neueren
Zeit, der Goetheichen Dichtung. Goethe war ja der große Heide. Aber wiewohl
Spinozas Philofophie einen entſchieden naturaliſtiſchen Charakter trägt und infofern
eine Erneuerung der idealen Werte antiker Kultur bedeutet, enthält fie ebenfo aus:
jeprägte chriftliche Elemente. Der große Denker felbft lebte wie ein Asket, und feiner
da tiefere und ſchönere Ausdrüde für die Hoheit und Herrlichkeit des frommen, nad)
innen gefehrten Lebens, jene® amor dei intellectualis gefunden, deſſen treibende
Mitjta — ber Ausreißer. 883
VI.
Sp ungefähr kann Ellen Keys Religion mit ihren eigenen Worten ausgedrückt
werben. Ihr Himmel ift das kommende Reich der Gerechtigkeit. Deren einziges
Myſterium die Heilige Frage: Wie ſollen wir neue Menfchen werden? Wo entipringen
die neuen Lebenäquellen zu dem Babe der Wiedergeburt für den, der nod von einer
Empörung des Menfcengeiftes träumt?
len Key hat viele Antivorten auf diefe Fragen gefunden. Das ganze, große
Kapitel „Evolution der Seele” im zweiten Teil der Gedanfenbilder ift Betrachtungen
und Phantafieen über diefe dunfelften Rätfel der Zukunft gewidmet. Ich weife haupt:
ſachlich auf die ſchönen, geiftreichen Dialoge „Auf dem Jagdſchloß“ Hin, — fie laſſen
fih nicht wiedergeben, und kaum in umjere nüchterne Sprache überſetzen. Sie find
fo gefchrieben „wie fpricht ein Geift zum andern Geifl”, und verwandte Seelen ein
zelner inuſſen fie frei in fich aufnehmen.
Aber die befte Antwort auf alle Fragen über die neuen Menſchen und bie
Zebendquellen der Zukunft hat Ellen Key gegeben, wo fie bie ihr feelenverwanbte,
Heine Gemeinde im Norden fchildert. Ihre tieffte Eigentümlichkeit it, daß fie ſtets
jung ift und imftande, Augenblide der Infpiration zu erleben, wo eine große Wahrheit,
eine große Schönheit oder ein großes Glüd fie ganz erfüllen, wo Thränen ftrömen
und Arme fi emporfireden, um dad Weltall zu umfaffen. In ſolchen Augenbliden
haben wir das intenfiofte Gefühl unferer eigenen Perfönlichkeit und empfinden zugleich
die volllommenfte Vereinigung mit all denen, die in der Welt um uns her leben
und leiden.
Und wahrhaft groß ift nur ein Menfchenleben, das in tagtäglicher Arbeit die
Stunden der Begeifterung zu einer leuchtenden Kette kräftiger Thaten fnüpfen kann.
Edler Sinn blüht in guten Thaten. Und ein edler Sinn allein vermag das kommende
Reich der Gerechtigkeit zu gründen.
Me
Hitika — der Husreißer.
Aus dem Ruſſiſchen des FJalkowsky.
Nacbrud verboten.
‚nna Petrovna war mit ihrer Tochter
auf dem Heimweg begriffen. Sie fam von
einem Befuch beim „Batjufchla” (Pfarrer) zu⸗
-rüd, wo fie biß zehn Uhr gefefien hatte, da
noch der junge Sandwirt Anbreev bazus
gelommen war.
Es war dunkel und ſchmutzig. Der ein
fpännige Wagen planfchte durch die tiefen
Löcher des abfcheulichen Weges. Anna Petrovna
kutſchierte felbft und blidte, fi weit hinab⸗
beugend, auf den Echmuß, der fi einförmig
unter den Füßen des Pferdes hinzog, wobei
fie haftig an den Zügeln riß, wenn eines ber
Näder über einen von ihr unbemerkten Stein
hinwegging oder bis zur Achſe in einer Pfüge
verfant. Und ungeachtet des gräßlichen Weges,
mM. Swerd.
der Feuchtigkeit, des Dunkels und der Möglich:
feit, jeden Augenblid aus dem hohen, engen
Einfpänner in den Graben zu fliegen, gaben
fi beide Frauen, an all dieſes gewöhnt,
| völlig ihren abgerifjenen, bunten Gebanfen
bin, die ihnen bie zehn Werft Iange Fahrt
bis zu ihrem Haufe mefentli verkürzten.
Alles war ftil. Die Umriffe des Pierdes
verſchwanden in der Finfternis; es ſchien, als
ob ein Etwas ſich leblos, mechaniſch, einförmig
vorwärts bewegte und die dunkle Nacht mit
ſichtbarer Anſtrengung zerteilte, wie ein Dampfer
das trübe Herbſtwaſſer durchſchneidet.
Man empfand den gemähten Klee im Felde,
den ſchläfrigen Atem des reifenden Kornes
oder den träumenden Fichtenwald, in dem die
Mitjla — der Außreifer.
„Natürlich war er das!” unterbrach fie
Anna Petrovna. „Und mie konnte ih auch
nur feine dämliche Muſik verfennen?”
Die barfüßige Alte führte das Pferd mit
Geãchze und Geftöhn fort und brachte es
irgendwie zuſtande, feinen fchweißtriefenden
Hals aus dem Geſchirr zu befreien.
Die Frauen traten in das Haus. Maſcha
ging fogleih nach oben auf ihr Bimmer, ent
Hleidete ſich haftig und halb im Schlaf und
warf fi) aufs Bett, die Luft in vollen Zügen
in ihre junge, lebensburftige Bruft einziehend;
nad ein paar Minuten fchlief fie ſchon; um
ihre halbgeöffneten, friſchen Lippen fpielte cin
glüdlihes Läheln: fie träumte von einer
bunten Kravatte, einem ſich Träufelnden Schnurr⸗
bart, dem fchmugigen Weg, dem Ausreißer
Mitjka.
Anna Petrovna begab ſich ins Schlaf⸗
zimmer. Ihr Mann war ſchon zu Bett und
ſchnarchte; auf feiner entblößten, haarigen
Bruft lief ein Heiner ſchwarzer Kreis herum,
wie eine Maus; es war der Schatten, den bie
in der Ede jladernde Ampel warf; Anna
Petrovna zog bie verſchobene Dede zurecht,
entlleidete ſich, entfernte ſich aber mit einem
Eeufzer vom Bett und feßte ſich auf das Sofa;
fie hatte feine Luft zu fchlafen, fie war über:
reizt, und trübe Gebanfen bemädtigten ſich
ihrer. Seit dreißig Jahren trat fie jeden
Abend in dieſe Schlafftube ein, fah fie diefe
behaarte Bruft, hörte fie dieſes Schnarchen.
Seit dreißig Jahren hatte fie beftändig diefen
unleivlihen Abdrud eines galoppierenden
General im Papprahmen vor Augen; der
General galoppiert, galoppiert in einemfort
und kann doch nicht einen halben Zollbreit
vom Slede fommen.
Auch im Leben fommt man nie vom
Flech! .. denkt Anna Petropna, voller Haß
auf den General blidend.
Morgen früb, genau um vier Uhr, wird
ihr Mann aufitehen; er wirt huften und fi
ſchneuzen, danach wird er anfangen die Zünd⸗
bhölger zu ſuchen, er wird fchreien, daß man |
ihm ganze Schachteln voll unter der Naie
wegſtiehlt: bie Zündhölzer werben fi jedoch
unbedingt in feiner rechten Hofentafche vorfinden;
dann wird er fein jtoppeliges, ſpitzes Kinn
rafieren, ſich dabei ſchneiden und brüllen, daß
305
man ihm kaltes Waſſer gebracht habe, anftatt
des heißen; darauf wird er über das Eſſen,
über die Tochter, über ben Arbeiter, über ben
Hund, über die Katzen und namentlich über fic,
feine treue, duldende Gattin räfonnieren; und
fie, die duldende Gattin, twird den ganzen Tag
umberlaufen, hinter dem Mann ber, um ihm
das ewig offene Hembe zuzufnöpfen, hinter ber
Vichmagb, deren Haare ſtets in der Milch
bherumfahren, hinter den Hühnern, bie die Eier
verlegen, hinter Trefor, der die Entlein zu
würgen liebt, hinter dem Vich, hinter ber halb»
blöbfinnigen Alten, der Säuferin und Diebin,
inter... .. ja, es ift nicht iveniges, mohinter
fie den ganzen Tag berrennen, worüber fie
ſchelten, ſich aufregen wird in Küche und Keller,
in Garten und Viehhof .... Nachher,
phyſiſch und moralifh am Ende ihrer Kräfte
angelangt, wird fie in diefe Schlafftube zurüd:
fehren, um wieder dieſe behaarte Bruft, dieſen
galoppierenden General und biefen offenen
Mund "zu fehen, der, wie aus einem Rohr,
beifere Töne ausftößt. Und um das Maß
ganz vol zu maden, war Mitjla davonge⸗
laufen. Oh, es war fürchterlich!
Vor fünf Wochen hatte Mitjlas Vater,
ein großer, hagerer Mann mit gelbem Geficht,
den Burſchen zu ihnen gebracht. Cie hatte
fofort gefehen, daß dieſer dummlächelnde
Bengel mit der Ziehharmonifa unter dem
Arm zu nichts taugte. Aber es blieb ihr
feine Wahl übrig, ein Hirte war dem Vieh fo
notwendig wie das Futter, und Mitjta bürgerte
ſich ein. Seit dem Augenblid fannte fie feine
Nuhe mehr; bei Sonnenaufgang tedten fie
die dünnen, Hlagenden Töne ber Harmonila,
den ganzen Tag über war fie in Angit, daß
Mitjta das Vieh im Walde verlieren ober die
Wölfe mit Kalbfleiſch regalieren werde, und
nachts, wenn fie troß ber Muſik des Hirten-
jungen eingeſchlafen war, erwachte fie mit
Entjegen, da fie geträumt hatte, daß Mitjla
wieder bavongelaufen fei.
Treimal war dieſer Unband ausgeriſſen!
Treimal hatte ihn jein Vater zurüdgebradht
und, ſich tief verbeugend, um Verzeihung ges
beten. Mitjla dagegen drehte, mit feiner
Harmonifa unter dem Arm, die Müße in ben
Händen und ſchaute allen ins Gefiht mit
feinen hellen, Haren Augen, als ob ihm,
Mitjka — ber Ausreißer.
Mit fuchtelndem Stod ging er im Stall
auf und ab und trieb bie apathiichen Tiere
hinaus; dabei ſchrie er und that fehr wichtig
und fah nicht, daß er bei jedem Edhritte in
den bünnen Mift einfank, wie in einen Moraft.
Und an biefem benfwürbigen Tage er=
blidten die Fichten, die auf dem Hügel Wache
hielten, und das reifende Kom und biefe
ganze lebende, aber ſtumme Welt, — ein bis⸗
ber nie gejehenes Schaufpiel: der Gutsbeſitzer
Iwan Semyönitfc trieb fein Vieh eigenhändig
auf bie Weide!
Seine Frau, feine Tochter, die barfüßige
Alte, die barfüßige Milchmagd, der barfüßige
Arbeiter, alle ftarrten fie, faum ihrer Sinne
mädtig, die Hand vor den Augen zum Schutz
gegen die Sonne, der Geftalt des Gutsbeſitzers
nad, der inmitten der Herde auf und nieder
tauchte mit feinen hochgefrämpelten Beins
Heidern und feiner Jade aus Bauernleinwand,
die ungelen? an feinem alternden Körper
berabhing.
* *
*
Diefer erfte Berfuch des Iman Semyönitſch
mißglüdte volftändig. Höchſt erftaunlichers
und unbegreiflihermeife geriet Die ganze Herbe
in den Hafer, in eben benfelben Hafer, der
den Neid aller Nachbarn erregte, und verblich
dort über eine Stunde, da weder das Geſchrei
noch die Prügel des Iwan Eemyönitich
irgendwelchen Eindruck auf die eigenfinnigen
Tiere ‘machten. Und, du lieber Gott, was
war aus dem wundervollen Hafer geworben!
ALS die arme Anna Petrovna die Riefenglagen
und bie unzähligen Irrgänge darin erblidte,
verfagten ihr bie Aniee, und mit weit offenen
Augen fank fie nieder und blieb lange in
dieſer Stellung, che fie nur hervorbringen
Tonnte:
„Oh, Herrgott! Herrgott!“
Außerdem verlor fi der prächtige junge
tier, der Liebling der ganzen Familie, und
trieb fih jetzt wahrſcheinlich im gräflichen
Walde umher. Und um alle Übel voll zu
maden lag Iwan Semyönitſch im Bett, mit
Senfpflaftern bebedt, ftöhnte und fehrie, daß
fein Herz zu ſchlagen aufhöre. Der arme
Iman Semyönitſch hatte fi überanftrengt !
Das ganze Haus war auf den Beinen. Plan |
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ſprach davon, nad dem Arzte zu fchiden.
Die barfüßige Alte kramte Ameifenfpiritus aus
ihrem Koffer aus, die Wirtichafterin Fochte
Lindenblütenthee, der Arbeiter heizte ben Babe:
ofen, Maſcha ſah nach den Wärmeflafchen, Anna
Petrovna ſaß am Bett ihres franfen Mannes,
hielt feine Hand, hörte feine bittern Klagen an
und blidte hoffnungslos auf den galoppierenden
General.
Auch im Leben fommt man nicht vom
Flech dachte fie verzweiflungsvoll.
Und vor dem fenfter heulte der Trefor
Häglich; es war ihm ſchon langweilig geworben,
an ber Kette zu liegen.
Plöglih hörte man vom Hof ber bünne,
wohlbelannte Töne, die allen mit freubigem
Schreden durch die Glieder fuhren, und gleich
darauf Fam die barfüßige Alte ins Zimmer
geftürzt mit der Nachricht: „Der Mitjka ift
wiedergelommen!“
Kalte und heiße Umſchläge, Deden, Kiffen
flogen zuerft in die Höhe und dann auf den
Boden. Iwan Semyönitſch fprang aus dem
Bett und ftürzte in die Küche, fo vie er war.
Anna Petrovna ergriff den Schlafrod und
warf ihn im Lauf dem Mann über die Schultern.
Bei der Küchenthür ftand ein hoher Mann,
hager, mit gelbem Gefiht, Mitjka's Vater.
Als er den Herrn erblidte, verbeugte er fich tief.
„Verzeihen Sie ſchon, Iwan Semyönitſch,
der Bengel iſt rein von Sinnen. Verbeuge
dich doch vor dem Herrn, du Schafskopf!“
Mitjla mit feiner Ziehharmonika unter dem
Arm, drehte die Müte in den Händen. Dumm:
lãchelnd nidte er mit bem Kopf und ſtarrte
mit feinen hellen, glüdjeligen Augen den
Herm an.
„AG, du ..!“ fing Iwan Semyönitſch
ſchäumend vor Wut an und hielt plötzlich inne,
durch diefe gutmütigen, Haren Augen aus ber
Faſſung gebradt. „Er ift ja wahrhaftig der
reinfte Schafskopf“, — enbigte er lahm, fih
fefter in feinen Echlafrod hüllend.
Anna Petrovna begann von den Erlebniſſen
‚ des Tages zu erzählen. Als fie von ben
Mifgefhiden des Herm ſprach, ftöhnte und
feufzte der hagere Bauer, aber hinter feinem
dünnen Schnurtbart barg ſich ein höhnifches
Lächeln. Mitjka blidte mie zuvor glüdfelig
| drein; als er des Fräuleins anfichtig wurde,
Mitjta — der Außreißer.
blaue Himmel, unten erftredt ſich das bunt⸗
farbige, trodene Moos. Wenn man da jeßt
ein Zundhölzchen hineintoürfe, wie prächtig
würde das euer auflobern und ſich ver=
breiten... Da — läuft ein rotlöpfiger
Specht den Stamm entlang und klopft mit
dem Echnabel an den Baum, wie mit einem
Hammer. — Mitjka drehte ſich auf bie linke
Eeite und erblidte den roten Sonnenſchirm
des Fraͤuleins; er ſetzte fih auf und fing an
zu lächeln. Der junge Stier betradtete den
näherfommenben roten Gegenftand ſehr aufs
merkfam.
Maſcha blieb ftehen; fie hatte einen Korb
mit Pilzen in der Hand.
„Guten Tag, Mitjla, was treibft du
denn?“
„Ich Liege.“
Das Fräulein lächelte.
Weißt du, Mitjla, deine Augen, find
gerabe fo blau und Har, wie der Himmel.”
„J was nicht gar!”
„Und du bift überhaupt fehr niedlich . .
Wenn du millft, werde ich dich Leſen und
Schreiben lehren“.
„Gut, lehre mich, ich werbe dir eine Pfeife
ſchneiden.“
Das Fräulein lachte und ging weiter.
Nitjla und der junge Stier blidten ihr beide
mit der gleichen Neugierde nad, und als fie
verſchwand, ftieß der junge Stier nadläffig
die Schnauze ins Gras, während Mitjfa feine
Harmonifa nahm und dem Fräulein ein paar
wilde Töne nachſandte.
Aber zu diefer Tageszeit liebte Mitja die
Stille über alles; er ließ feine Muſik im
Stich und begann wieder mit den Augen zu
blinzeln, um „bie Seelen ber Gerechten” zu
ſehen.
Und wahrſcheinlich ſah er fie auch ...
Sein Geſicht war ruhig und klar, wie die ganze
ihn umgebende Natur: fein Wöllchen, kein
aut....
oo.
Als die Sonne errötete, größer wurde und
wie eine feurige Kugel hinter dem Walde unter:
ging, trieb Mitjta feine Herde heim. Woran
ſchritt, langſam und gewichtig, mit vollem
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fallen Anna Petrobnas, da eine ſchwarze Kuh
als erfte der Herde — Regen bebeutet, und
man brauchte grade feinen Regen; hinter ihr
kamen die übrigen müben Tiere, ganze Wollen
Staubes aufwirbelnd. Den Schluß bildete
Mitjka, friſch, ftrahlend, vom Abenbrot be=
leuchtet, vermittels feiner Bichharmonifa laut
bie glüdfiche Heimkehr verlündend.
Nachdem die Tiere in den Stall getrieben
waren, begab ſich Mitjfa ind Leutezimmer,
wo ihm die Alte ein Abenbbrot zubereitete;
bald fam er wieder von dort heraus mit der
Harmonifa unterm Arm, um in ber Echeune
ſchlafen zu gehen.
Im alten Herrenhaus wurbe bald Feier⸗
abend gemadt. Die flahbrüftige Viehmagd
und bie Alte trugen einen mächtigen Eimer
voll frifchgemoltener Milch an einer Stange
vorüber. Jeffim, mit einem Etrid über ber
Schulter, ſchloß das Getreibehaus und ging
in die Küche, mit den Schlüffeln klirrend. Der
barfüßige Arbeiter kam aus dem Stall heraus
und goß das bon den Arbeitöpferden übrig«
gelafjene Trinkwaſſer mit weitem Schwunge
aus. Iwan Semyönitſch erhob fich hüftelnd
vom Ballon und trat mit den Worten „ed
fängt an feucht zu werben” ins Haus. Anna
Petrovna verließ den Geflügelhof mit aufs
gefrempelten Ärmeln. Das Fräulein klapperte
oben auf ihrem Zimmer mit dem enter.
Der Treſor ftredte fich fchläfrig, gähnte laut
und rollte ſich neben feiner Hundehutte zu einem
Ball zufammen.
Alles Leben erloſch allmählich. Der
Himmel färbte ſich dunkler, und aus ſeiner
nebelhaften Tieſe tauchten, eines nach dem
andern, blinfende Flämmchen auf... . Grünes
verwandelte fih in Schwarz, Durchſichtiges in
Undurchdringliches. Der ferne Wald nahm
die Geftalt einer langen Scheune an, während
die Scheune einem formlofen Walde ähnlich
wurde. Mitjfa lag unbeweglih im Heu.
Irgendwo im Nebengebäude wirtfhafteten Kälber
herum, grunzten Schweine, knirſchte ein Pferd
mit den Zähnen.
Wie ſtets um dieſe Stunde, wurde es
Mitjka traurig zu Mut. Schlafen wollte er
nicht, zu thun gab es nichts. Mitjfa ſetzte
ſich auf und fing an, monotone Laute aus
Euter, die ſchwarze Kuh, zum großen Mik: ı feiner Biehharmonifa hervorzuloden . . .
Nitjla — der Ausreißer.
Die dräuende Art und Weife, dad dräuende
Verhör übten jedoch nicht die geringfte Wirkung
aus. Mitjla blidte von einem zum anbern
und lädelte ruhig, freubig weiter. Der
Beamte verlor endgiltig die Geduld.
„Weißt du auch“, — fuhr er ihn an, fi
über den Tiſch Iehnend: — „daß du für jeden
Tag beiner freiwilligen Entfernung vom Dienfte
einen Rubel Strafe zahlen mußt? Demnach
werben bir, wenn bu fortfährft, fo auszureißen,
für den Sommer über hundert Rubel Etrafe
zuerlannt werben! ..“
„J was bu nicht ſagſt!“ ſtrahlte Mitjka.
Der Beamte ſpie wütend auf ben Boden,
tauchte die Feder ein und fing an zu fchreiben,
ſich felbft Taut biktierend:
Der Bauernfohn Mitjka wird wegen frei«
williger Entfernung aus dem Dienfte für
ſchuldig befunden ... fürfchulbig befunden. ... 1”
Kaum hatte der Beamte, Bruft und Ell-
bogen gegen ben Tiſch geftemmt, angefangen,
ſchwarze Leitern aufs Papier zu malen, als |
ſich Mitjlas Gefiht plötzlich veränderte, gerabe
ala ob die Tinte einen ſchwarzen Schatten
darauf geworfen hätte; bie Haren Augen bes
Jungen verfolgten mißtrauiſch und furchtſam
die Spige der Feder, die, wie ihn dünkte,
allerband Unheil auf fein Haupt herab»
beſchwor. ... Jeder neue Buchſtabe gab
Mitjla einen Stich ins Herz und erftand vor
ihm als ein geheimnisvolles, aber entjegliches
Gefpenft. Endlich hielt der Junge es nicht
länger aus; mit fchriller, völlig veränderter
Stimme rief er:
„So ſchreib doch nicht!
denn?! ..“
Bei dem unverhofften Schrei ſchreckten alle
zuerſt zuſammen, dann lächelten fie. Der
Beamte blidte Anna Petrovna vielbedeutend
an und fuhr enblid fort: „Schuldig befunden
und geht... . aller Rechte verluftig, jogar
der Harmonifa. . . .”
„So ſchreib doch nicht! . . . Ich fage bir,
ſchreib doch nicht!” und Mitjka ftürzte vor,
wurde aber noch rechtzeitig vom Vater er:
griffen und flog zum Zimmer hinaus.
Was fchreibft du
401
n Das bat geholfen!” — verkündete bie
Obrigkeit.
Alles lachte. Iwan Semyönitſch kredenzte
dem langen Bauern ein Glas Branntwein und
ſagte dabei:
„Der Vertrag zwiſchen dir und mir iſt
eine Sündenbuße für mic) geworben.”
Abends fpät trat die abgehetzte Anna
Petrovna ins Schlafjimmer ein und begann
fih zu entlleiven, hoffnungslos dabei den
galoppierenden General, den offenen Mund
und bie behaarte Bruft ihres Gatten be—
trachtend, — aber plögli fing fie an, ges
fpannt zu horchen.
„Wie kommt denn das, man hört ihn ja
nit? ... Er wird bod etwa nicht ſchon
wieder fortgelaufen fein?”
Ohne Mitjlas Muſil einfchlafen, hieß mit
dem Bewußtſein einfdlafen, daß morgen
niemand ba fein twürde, um das Vieh auf
die Weide zu treiben.
Anna Petrovna warf ein Tuch über die
Schultern und ging mit Hopfendem Herzen in
die Scheune.
Statt der wohl befannten Töne hörte fie
ein dumpfes, erftidtes Schluchzen.
Der Mitjla meinte? Das war ja etwas
ganz Unwahrſcheinliches.
Unmöglich flofien jet fiber biefes ewig
lächelnde, ewig glüdliche Geficht Thränen?
Ganz betroffen fragte Anna Petropna mit
zitternder Stimme:
„Mitjka, was fehlt bir denn? ... So
antworte bo. Tu Dummchen, was haft du?”
Und erft nad langem Fragen hörte fie
dur das Schluchzen hindurch:
„Tantchen, ich fürchte mih ... . ich fürchte
mich fo fehr . . .”
” *
*
| Der Bolizeibeamte erwies ſich als erfahrener
I Piochologe: Mitjka lief nie wieder davon.
|
j
i
Aber jedesmal, wenn fein Blid mit dem ihm
bisher fremden Ausdrud der Furcht und Trauer
auf Anna Petropna fiel, wurde ihr meh ums
Herz.
26
Die Frauen und ber Getreibezoll. 408
fondern nur Kartoffeln, den zugehörigen Kartoffelichnaps und Kaffeeſurrogat, die
werben von ber Brotfteuer nicht getroffen. Ja, es ift doch eine gerechte Steuer!
Man kann wirklich nicht behaupten, daß durch fie die Armften zu Gunften
ber Reichften befteuert iwerden. Denn dieſes Ideal von Steuergerechtigkeit würde erft
erreicht, wenn alle Rartoffeleffer eine Steuer zu Gunften des notleidenden Krupp bezahlen
müßten, ber ein jährliches Einkommen von 16 Millionen Mark verfteuert. Aber die
Brotfteuer kommt diefem Ideal fo nahe wie möglich. Ihr Prinzip lautet: je größer
der Latifundienbefig des Getreideproduzenten, um fo mehr befommt er, und je ärmer
und je finberreicher die brotefiende Familie, um fo mehr muß fie Brotfteuer bezahlen.
Das ift die gerechte Strafe dafür, ihr Mütter, daß ihr fo viel Kinder geboren habt!
Mleinftehende und alternde Arbeiterinnen, wie die Konfeltionsnäherinnen in
Berlin, deren Jahreslohn von 3—400 Mark zum Leben unmöglich ausreicht, die
daher geztoungen find, ihren verblühten Leib ab und zu einmal billig, für ein
Abendefien, zu verkaufen, müflen da ein paar mal öfter thun, wenn fie für Brot
6 Mark mehr jährlich ausgeben muſſen. Aber fie ftehn allein — die Familien
möütter dagegen, die die hungrigen Kinder mit bünner gefchnittenem Brot nicht
betrügen tönnen, fie leiden am ſchwerſten unter der Verteuerung des Brotd. Sie
muſſen noch mehr als bisher außer Haus auf Arbeit gehen, noch mehr als bisher
wird die Familie aufgelöft, durch die chriftlihe und familienerhaltende Politik der
Brotverteuerung, noch mehr als bisher fterben und verderben, verrohen und ver-
mildern die Kinder, die der Mutter beraubt find — oder die Mutter arbeitet noch
länger zu Haus an ber Nähmaschine, noch länger als die 12—18 Stunden, bie
Tinderreiche Witwen in der Konfeltionsheimarbeit zu arbeiten pflegen.
Aber find die Löhne in der Induftrie nicht fo bedeutend geftiegen, daß eine
Heine Mebrbelaftung durch teureres Brot wenig ausmacht? Gewiß, im großen und
ganzen find fie geftiegen. Uber noch mehr geftiegen find in berfelben Zeit die
Wohnungsmieten, die ein Drittel des Arbeitslohnes verfchlingen, die Zleifchpreife und
befonder3 die Kohlenpreife, kurz alles, was die Hausfrau für den Haushalt am
nötigften braucht — abgejehen von Brot und Mehl, das jest an die Reihe kommt.
Und wie hoch find denn nun im Durchſchnitt die fo fehr hoch geftiegenen Löhne?
Nah der letzten Berufszählung (1895) giebt es in Preußen 13'/, Millionen Boll:
erwerböthätige; von diefen haben nad) der Statiſtik der preußifchen Einkommenſteuer
wenig über 2'/, Millionen ein Einfommen von mehr als 900 Marl. Alfo faft
11 Millionen, unter biefen die ungeheure Mehrzahl der Familienväter, haben ein
Jahreseintommen von weniger als 900 Marl. Und die Statiftit der Invaliditäts-
und Altersverſicherung ergiebt, daß (im Jahr 1896) 2,3 Millionen einen Jahreslohn
von durchſchnittlich 1000 Marl, 2,5 Millionen einen folgen von durchſchnittlich
720 Marl, 4,3 Millionen einen Durchſchnittslohn von 500 Mark und endlich
2,5 Millionen einen folden von 300 Mark erhielten. Selbitverftändlih gilt das
ungefähr auch für Heute: 603 Mark ift danach der Durdfchnittsjahreslohn in
Deutihland. Daß er in der Großftadt, 3. B. Hamburg, auf 864 Mark fteigt, wird
durch die teureren Mieten wieder ausgeglichen. Und wenn man felbft annimmt, daß die
Löhne etwas Höher find, als fie angegeben werben, wenn wir daher 700 Mark (aljo
100 Mark mehr) als den Durchichnitt anfehen, fo find 42 Mark mehr für teureres
Brot doch eine Befteuerung von 6 Prozent, während die preußifche Eintommenfteuer
die Einkommen von mehr al3 900 Mark mit %/,, Prozent befteuert.
26*
Die Frauen und ber Getreidezoll 405
gewefen, dann wird man ben Zoll wieber zu befeitigen ſuchen, dann kommt das
wirkliche Leiden der deutſchen Landwirtſchaft. Ihr Grunbübel, der zu hohe Bodens
preis, ift dann maßlos gefteigert, die Konkurrenz mit dem Ausland ift ihr noch mehr
erſchwert. Die Erhöhung des Getreidezolls ift daher ein Schaden für die Land:
wirtſchaft und nur ein Geſchenk an bie jegigen Befiger, bei Erhöhung des Zolls auf
8 Mark ein jährliches Gefchent von ungefähr 6 x 56, das ift 336 Millionen, eine
beträchtliche Steigerung der arbeitslofen Rente und eine um fo beträchtlichere des
Kapitals, auf Koften der probuktiven Arbeit des übrigen Volkes.
Ja, wenn unſer ganzer grundbefigender Adel oder gar die Landwirtſchaft zu
Grunde ginge und nur durch ein ſolches Mittel erhalten werden könnte, fo könnte ich
in Zweifel geraten, denn ich Liebe die Kraft, die in unferem Adel ſteckt und möchte
fie nicht aus Deutfchland verſchwinden fehen; aber davon ift ja gar feine Rede. Und
ein großer Teil, ein Drittel oder die Hälfte, des Großgrundbefiged wird allerdings
Bauern weichen müflen, eher ift auch an eine Vefeitigung der „Leutenot” nicht zu
denken. Ein Grund mehr, nicht den großgrundbefigerifchen Getreidebau gegenüber
der bäuerlichen Viehzucht zu begünftigen.
Bas für die Landwirtichaft geſchehen müffe, Habe ich Hier nicht auseinanderzufegen.
Es genügt, daß die Erhöhung des Getreidezold das Mittel nicht ift. Friedrich Lift,
der erſte große Schugzöllner in Deutichland, erklärte ausdrücklich: „Die innere Agris
kultur durch Schugzölle heben zu wollen, ift ein thörichtes Beginnen.” Diefe Erkenntnis
genügt und, und es ift nur ein Zeichen für den Tiefftand nationalöfonomifchen
Wiffens in unfern Barlamenten, daß immer noch barüber Hin und her geftritten wird,
ob das Inland oder das Ausland den Zol zu tragen habe. So weit das Inland
ihn trägt, verteuert er dem Arbeiter das Brot, foweit dad Ausland ihn trägt, verkürzt
er ihm den Lohn: denn das aderbauende Ausland, das durch den Zoll gefchädigt wird,
iſt dann ein fchlechterer Abnehmer für die Waren unferer Erportinduftrie, diefe kann
daher weniger produzieren, muß Arbeiter entlaffen oder den Lohn herabfegen. Und
das wirft weiter auch auf die wirklich Notleidenden auf dem Lande, bie Landarbeiter:
wenn die Induftrie Arbeiter entlaffen oder die Löhne verkürzen muß, fo können auch
die Gutöbefiger ihren Arbeitern wieder geringere Löhne zahlen, ohne fürchten zu
müffen, baß die Arbeiter ihnen weglaufen, gelodt von den höheren Löhnen der Induſtrie.
Nebenbei müffen die vielen Landarbeiter, die nicht mehr in Getreide, fondern nur
nod in Geld gelohnt werben, auch ihr Brot teurer kaufen — von ihren getreide—
verfaufenden Herren.
Doch man Hat den Arbeitern, beſonders auch den Frauen und Kindern, auch
etwas geboten mit ben Getreidezol. Daß die Hunberttaufende von Müttern, die
außer Haus arbeiten, und die Million Kinder, die erwerbsthätig find, dies noch mehr
müffen al3 bisher, ift zwar nicht verlodend — aber die Arbeiterverficherung, vielleicht
die langſt erfehnte Witwen und Waifenverficherung, fol durch die Mehreinnahmen des
Reichs aus dem höheren Getreidezoll gefördert werben: ein Plan, der um fo fomifcher
wirft, wenn man fi das Verſprechen der Agrarier, bei höherem Zoll Deutichland
ganz mit Getreide verforgen zu fönnen, verwirklicht denkt: dann kommt natürlich aus
dem Auslande überhaupt fein Getreide mehr Herein, und die Neichdeinnahmen aus
dem Getreidezoll verſchwinden völig! Und je höher der Zoll, um jo weniger Getreide
Kann noch eingeführt werden, um fo geringer alfo die Zolleinnafmen. Überhaupt
wird auch jegt nur ungefähr ein Fünftel eingeführt, im beften Fall alfo fließt von der
Niethſche und feine Freunde.
Felix Poppenberg.
NRadbrud verboten. W
etzſches Leben iſt eine Freundſchaftstragödie. Cr, ber feine weiche Seele zur
unerbittlich ftählernen Lehre zwang, zu einfam hartem Wandel auf dem
„Iharfen und gefährlichen Felögraten des Gehirns“, beſaß im Grunde feines
Beiens die tieffte Hingebungsfehnfucht, die leidenſchaftlichſte Luft am Verehren, das
probuftivfte Genie zur Freundfchaft. „Meine freundfchaftliche Empfindung für jemanden
hängt fi ein wie ein Dorn, man twirb fie nicht 108,” fagt er felbft von fi, und
einem Neugewonnenen fehreibt er in überftrömendem Glüdägefühl: „Ich fehe die ſchöne
Gewißheit vor mir, einen wahren Freund mehr zu gewinnen. Und wenn Sie wüßten,
was dies für mich bedeutet. Bin ich doc immer auf Menfcenraub aus, wie nur
irgend ein Korſar.“ \
Und bderfelbe muß in der firengen und eifrigen Frohn feines Werkes, das ihm
feine Raft an ftillen Herden und fein Verweilen verftattete, jondern im bämonifchen
Bann zu immer höherem Steigen in gletſcherkalte Einfamfeit trieb, ein liebes Band
nad dem andern löfen. Die unerbittliche Wahrhaftigkeit feiner Natur forderte von
ihm Opfer über Opfer. Und das ſchwerſte Opfer, das er brachte und das ihn faft
brach, war die Abfage an Richard Wagner. Als Zarathuftras Höhenpfad von Parfifals
Bußweg fih für immer ſchied, da mußte Niegfche ein Heiligtum feiner Jugend, für
das er gelämpft, geblutet und gejauchzt hatte, brennenden Auges einreißen.
Das Leben wird ihm von nun an ein dauerndes Loslöſen. Er gleicht dem
Abenteurer auf Bödlind Bilde. Am Horizont verſchwindet ber Nachen mit den legten
Gefährten, und ber Ritter ftarrt auf felfiger Neulanblüfte, auf ber die Gebeine bleichen,
in die Unendlichkeit: „Ich bin, faft ohne den Willen dazu, aber gemäß einer unerbitt-
lichen Notwendigkeit, gerade mitten darin, mit Menſch und Ding bei mir abzurechnen
und mein ganzes ‚Bisher‘ ad acta zu legen. Faſt alles, mas ich jegt thue, if
einen Strich drunter ziehn. Die Vehemenz der inneren Schwingungen war erfchredlich
die legten Jahre hindurch; nunmehr, wo ich zu einer höheren Form übergehen muß,
brauche ich zu allererft eine neue Entfremdung, eine noch höhere Entperfönlichung.”
Und er felbft leidet qualvoll auf diefem „furchibaren Weg” mit feinen „Viamala⸗
KRonfequenzen”. Er jhämt fi zu verraten, wie fehr er leidet, er verkriecht fih —
„la böte philosophe — wie ein krankes Tier in feine Höhle Und er Hagt:
„Jahre lang kein Labfal, fein Tropfen Menfchlichkeit, nicht ein Hauch von Liebe, ich
bin jegt allein, abfurd allein; und in meinem unerbittlichen und unterirbifchen Kampfe
gegen alles, was bisher von den Menjchen verehrt und geliebt worden ift (— bie
Formel dafür iſt Ummwertung aller Werte) ift unvermerft aus mir felber etwas wie
eine Höhle geworden — etwas Verborgnes, das man nicht mehr findet, felbft, wenn
man außginge, es zu fuchen. Aber man gebt nit darauf aus”... Sein
Denen büßt er beftändig „durch eine immer wachjende, immer eifigere, immer
fchneidendere Abfonderung.”
Riegfche und feine Freunde. 409
Hohe Zeiten, die Krifis mit ſchweren Törperlichen Leiden, Erkenntnis feines Zwieſpaltes
mit Wagner, Entdedung feines Ichs, Abbrechung aller Zelte, Philoſophenleben in Stille
und Einfamteit find die Stationen, die in wechfelnder Beleuchtung als ein Wandel
panorama fi hier immer wieder um una drehn.
Und haben wir's mit einem Freunde durchlebt, fo fangen wir's mit dem nächften
wieder von neuem an. Troßdem ift durch die Variationen der Säge dieſe Lebens:
fymphonie nicht monoton.
In den Briefen an den Freiherrn von Gersdorff, den Jugendfreund von Schul:
pforta, die Nechenfchaft geben von der Zeit der „philologifchen Lumpenſammelei“ in
Leipzig bis zur Zarathuftramelt in Stille, Höhe und Einfamkeit zu Sils-Maria, über
wiegt alles Männlich-Wehrhafte. Die Gersborff find eine Soldatenfamilie, ber junge
Freiherr macht dem Krieg mit, fein Bruder fält als Offizier. Nietzſche verehrt in
diefem Freund, mit dem ihn natürlich auch ftarke geiftige Lebensinterefien, Schopen:
bauer: und Wagnergefühle vereinten, die energiich ftraffe Form des Lebens. Niegiches
Hellenentum betonte ja fo nachdrücklich die Vereinigung Lörperlicher und geifliger
Tüchtigfeit: „Die Griechen waren feine Gelehrten, fie waren aber auch nicht geiftlofe
Turner“. Nichts war Niegiche verhaßter ald der Begriff des Philologen als ver:
fümmerten, früppeligen Lebeweſens: „Sollte nicht das Bild eines Sopholles jeden
Gelehrten beihämen, der fo elegant zu tanzen und Ball zu fchlagen verftand und
babei doch auch einige Geifteffertigfeiten aufzeigte.” So ſchätzte er an dem Freund,
daß der „mit fühnem Griff das allerbefte Loos erwählt, den wirffamen Kontraft, bie
umgebrehte Anfchauungsweife, die entgegengefegte Stellung zum Leben, zum Menichen,
zur Arbeit, zur Pflicht”.
Aufrecht, feft, warm und ftetig durch alle Zeiten und Wechſel Hindurch Hat fich
diefer Freund erprobt, die beiden haben fefte Überzeugung für einander, und mas für
Niegiche das Bewundernswerteſte an der Menfchlichleit des Freundes fcheint, das ift
deſſen „herrliche Fähigkeit zur Mitfreude”, fie bünft ihm „feltener und ebeler als die
des Mitleidens“.
Anders der Ton in den Briefen an zwei andere Yugendfreunde.
Bei Ger&borff Mingt immer die Stimme ganz felbftverftändlichen Sich-Verſtehens
und menſchlichen Einander-Wohlgefalens: „Wir willen, daß mir und von Herzen
freuen, auch nur bei einander zu fiten, ich glaube, twir brauchen und nichts zu vers
fprecden und geloben, weil wir einen recht guten Glauben zu einander haben.”
Eine dichtere Luftſchicht hängt zwiſchen Niegiche und den beiden Studiengefährten
Deufien und Krug. Es herrſcht in den Briefen an fie mehr die Erinnerungsneigung
vergangner Gemeinfamteiten, als das fichere Bewußtſein innerer Zufammengehörigfeit.
Zu Deuffen, dem fpäteren Philofophieprofeffor, fpricht er fih, von jeder
Überlegenheit fern, mit Achtung vor deſſen „vernunftvollen Lebensplänen” aus.
Hier ſehen wir bie Vorurteildlofigkeit Nietzſches in richtigem Licht, diefe Integrität,
die nicht Profelyten machen will („Niemand hat jo wie ich vor dem Gefährlichen des
freien Geiſtes gewarnt und zurüdgeichredt“), diejen felbftverftändlichen Refpelt vor
jedem, der einen felbitgewählten Weg entichlofien geht. Mit fachlichen Augen fieht er
die Bemühungen der Menfchen an, und er jchreibt: „es macht mir großes Vergnügen,
einmal den klaſſiſchen Ausdrud der mir fremdeften Denfweife kennen zu lernen.” Und
ex felbft, der Feinfchmeder des Geiftes, zaudert nicht mit gern geipendeter Anerkennung
rechtſchaffen ernten Fleißes: „Der Himmel weiß es: ohne rechtichaffenen Fleiß wächſt
Riegibe und feine Freunde. E11
Nietzſche bat ein überaus feines Gefühl fir Neizbarkeiten und für bie Wer
fimmungen anderer und weiß fie mit einer unfagbar rüdjichtswollen Hergensdiplomatie
zu heilen. Ein „Übelnehmen” kennt er nicht. Wenn er aus fehwerften, inneren
Gründen feine Hand aus der eine Vergangenbeitsgeführten Löfen mußte, dann that
er es mit umerbittliher Härte gegen ſich ſelbſt, — „in feinen Hauptfachen muß ſich
der Menſch rein halten,“ das ift feine flille Forderung an jedermann und an fi, --
aber in den Rleinigleiten war er von größter Duldfamkeit, er wußte in feiner weits
überfchauenden Erkenntnis alles Menſchlichen, daß er fich nichts vergab und vergeben
fonnte, wenn er fo oft zuerft die Hand wieder bot. So ift er immer bemilbt,
Mißverftändniffe aufzuklären: „Schonung bedürfen wir alle, jeder hat feine Ausdruds-,
jeder feine Berfländnisweife, daher. jo viel Mißverſtehen. Jedenfalls aber habe ich
mi nicht gut ausgedrüdt”. „Man muß feine Empfindung für einen DMenfchen
immer von Zeit zu Zeit angeſichts dieſes Menfchen Fontrollieren fünnen. Sonft giebt
fie Phantafiebilder: und man bringt Züge Hinein aus günftigen oder ungünftigen
Erzählungen anderer”.
Aus ſolchem Verftehen und folder größeren Auffaſſung ſchrieb er auch von
Richard Wagner, nachdem er ihm abgefagt hatte: „Über Wagner empfinde id) ganz
frei. Diefer ganze Vorgang mußte fo fommen, er ift wohlthätig und ich verwende
meine Emanzipation von ihm reichlich zu geiftiger Förderung. Jemand fagte mir ‚der
Karilaturenzeichner von Bayreuth ift ein Undankbarer und ein Narr‘ und ich
antwortete: Menfchen von fo hoher Beftimmung muß man in Bezug auf die bürgerliche
Tugend der Dankbarkeit nach dem Maß ihrer Beftimmung meffen.”
Das fchrieb Niegihe dem Mann, dem er fi von biefen Adreffaten am
rüdhaltlofeften erichließt, dem Freiherrn von Seyblig. Ihm gegenüber iſt jene
Genialität der Freundfchaft, von ber eingangs gefprochen wurde, am reichften entwidelt.
Diefe Freundichaft und Hingebung ift aber nicht weichlich, wenn auch Niepfche dieſem
Freund rüdhaltlofer als anderen anvertraut, wie ſchwer ihm das Werk ift, das er
auf fih genommen, wie fehr er fih nach Licht und Lachen fehnt, wie weit er ſich
entfernt glaubt, von jenem „vollkommenen und hochgearteten Eremitenfinn“; biefe
Freundſchaft wird vielmehr zu einer herben Reife gefteigert, deren höchfte Forderung
iſt: „Thun Sie mir die Ehre an, mich nie zu verteidigen. Meine Pofition ift bafür
zu Rolz, Verzeifung! — Ich denke, meine Freunde follen mit mir zufammen aud)
ſtolz fein.“
* *
*
Unter dieſen Brieffteunden ſind auch zwei Frauen. Was und wie er an ſie
ſchreibt, beſtätigt, wie Nietzſche wirklich von den Frauen dachte. Allzu einſeitig werden
immer nur die paar Stadheljäge aus dem dichteriſchen Zuſammenhang feiner Bücher
geriffen. Daß Niegiche in Wahrheit gerade Frauen gegenüber, die etwas bebeuteten,
ein Verehrender war, das erfuhren wir aus den Mitteilungen feiner Schweiter, und
das erfennen wir hier wieder.
Mit welcher Bewunderung und Verehrung ſpricht er immer wieder von Malwida
von Meyſenbug, die in Sorrent in den Tagen des Symphiloſophierens die „Abtiſſin
de Kloſters der freien Geiſter“ war. Im ähnlicher Verehrung blidt er zur Frau
Marie Baumgarten auf. Durch ihre Überjegung der „Unzeitgemäßen Betrachtungen”
in das Franzöfifche tritt fie ihm nahe, und er kann nicht genug fein Glüd rühmen,
Nie iſche und feine Freunde. aus
Palaſte, wie ſie uns zu Sinnen reden, nicht Renaiſſanceburgen. Und daß man mitten
in der Stadt die Schneealpen ſieht. Daß die Straßen ſchnurgrade in ſie hinein zu
laufen feinen! Die Luft troden, ſublim-klar. Ich glaubte nie, daß eine Stadt durch
Licht fo ſchön werden könnte.”
Und die Steigerung des Lebens zur fröhlichen Wiffenfchaft in Nizza: „es wimmelt
von Nichtsthuern, Grecd und anderen Philofophen, es wimmelt von ‚Deinesgleichen‘,
und dieſe Farben, alle mit einem leuchtenden Cilbergrau durchfiebt; geiftige, geiftteiche
Farben, nicht ein Reſt mehr von der Banalität der Grundtöne.” Und immer neue
Scenen und „feltner erprobte Reize des Daſeins“, wie jene Erbbebenpanil, während
der Nietzſche „Comme gaillard“, nachts die Runde durch die Strafen macht, nach
Furcht zu fpähen, der „einzig heitere Menſch unter lauter Larven”.
In Venedig fucht er träumerifche Gondelftimmung und für die vom vielen Licht
trunfenen, müden Augen das fchlafende Dunkel der Gäßchen.
Die wahre Höhenmwelt Zarathuſtras des Bergſteigers aber ift Sils- Maria, das
Dberengabin, „meine Landſchaft, fo fern vom Leben, fo metaphyfiſch; Hier wohnen meine
Mufen, ſchon im ‚Wandrer und fein Schatten‘ Habe ich gefagt, diefe Gegend fei mir
blutsverwandt, ja noch mehr.”
Wenn der Himmel bel ift, dann breitet Sils feinen alten Pfauenfchweif
verführerifch fühlicher Farben aus. Doch kommen auch Lawinen, Winter und Sommer
in unfeligem Wechfel, dicht verhängter Himmel, die Stimmung der Verfe:
Hier faß ich wachend, wachend — body auf nichts
Jenſeits von Gut und Böfe, bald des Lichts
Genießend, bald des Schattend, ganz nur Spiel,
Ganz Ser, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel.
Und jener anderen:
Kein Pfad mehr! Abgrund rings und Totenftille
So woltteft du'3! Vom Pfade wid dein Wie!
Run Wanbrer, gilt's! Nun blide talt und Mar! .
Hier reift, wie unbewußt, in feltfamften Infpirationen, in dammernder Konzeption
das große Zerſtörungswerk der „Entwertung aller Werte”: „ich fland (oder fprang)
Öfterd nachts um zwei auf, um ‚von Geift getrieben‘ etwas hinzuwerfen. Dann
hörte ich wohl die Hausthür gehen: Mein Wirt fchlih auf die Gemfenjagd. Wer
von und beiden war mehr auf der Gemjenjagd?”
Die „Gemfenjagd“, das ift ein Zarathuftrabild.
Doch nicht im Zarathuftra dürfte jene andere Stelle ftehen, die Stelle voll
Depreffion und Müdigkeit von 1888:
„Wie alles davon läuft. Wie alles auseinander läuft! Wie fill dad Leben
wird! Kein Menſch, der mich fennte, weit und breit. Meine Schweſter in Südamerika,
Briefe immer feltener. Und man ift noch nicht einmal alt! Nur Philofoph! Nur
abfeit3! Nur kompromittierend abſeits!“
Hier fpricht nicht der Bergiteiger, bier erſchließt ſich Nietzſches Menſchlich⸗
Alzumenfchliches.
Und das unverhüllt einmal ſchauen zu dürfen, aus ihm ben zeriiörenden
Widerſpruch dieſes Lebens erkennen zu fönnen, das verdanken wir bdiefen Briefen.
ua
Der Mönd von Heifterbadh. 416
anftaltungen und Unternehmungen, die den Zived haben, das Weib für ſolche Berufe
vorzubereiten.” — Es ift nur gut, daß man nicht weiß, auf weflen Haupt dies
Anathema sit! Herniederfauft, da wohl feiner „waſchechten Frauenrechtlerin“ Vers
anftaltungen und Unternehmungen befannt fein werben, bie fi damit abgeben,
Frauen für ein „marktfchreierifches und agitatoriſches“ Auftreten in der Offentlichkeit
auszubilden.
„Ja“, wird weiterhin Tonftatiert, „die meiften Frauen und Mädchen find den
Berufen, die fie ſich gewählt haben, auch gar nicht gewachſen; mehr oder weniger
leiden fie alle Schaden darunter, und zwar meift an ber Seele noch mehr als an
ihrem Körper.” Das gilt vom Lehrerinnenberuf. „Für Volksſchulen ift bad Weib
prinzipiell nicht geſchaffen. Beweis: bie zahlreichen Ruinen auf biefem Gebiet.” Und
gar der ärztliche Beruf! „Es ift ein faft rührendes Zeichen für die Naivetät, für
den Idealismus eines weiblichen Herzens, daß fie beſonders für den Beruf eines
Arztes gefchaffen zu fein glaubt.“ Und nun erft die niederen Berufe. „Die Frauen
wiſſen gar nicht, was fie thun, wenn fie danach begehrten!” — Merkwürdig, wie viel
Ruinen es in Mölln geben muß!
Ja, aber nun giebt es doch Fälle, — fo argumentiert der Mönd ſelbſt — wo
bie Eltern fein Vermögen und viele Töchter haben, von denen fie nicht wiffen, ob fie
heiraten werben; was dann?
Was dann? Aber, meint er, habt ihr denn den lieben Gott ganz vergeflen?
Der wird dann ſchon forgen. Wenn nur die Eltern ein Mein wenig mehr Gott:
vertrauen befäßen! „Sie follten fi die Mädchen naturgemäß entwideln, follten fie
harmlos ihre Jugend genießen laffen, follten fie zugleich aber auch in allen häuslichen
Tugenden unterweifen, fie an Einfachheit und Anfpruchslofigkeit gewöhnen, zu Frömmig-
keit und Gottvertrauen erziehen.“ Dann werden fie ſchon durch die Welt kommen. —
So ein Gottvertrauen, wie jene Frau hatte. Die fragte ihr Pfarrer: „Na, was
meinen Sie, Mutter Müller, wird's eine gute Kirfchenernte geben?” „Der liebe Gott
wird's fchon geben, Herr Paftor, — geblüht Haben fie ja nich!”
* *
*
Es giebt Dinge, über die lacht man, weil man nicht über ſie weinen will, oder
weil man über ſie nicht in Zorn geraten will. Und ſo könnte man ja auch über den
Beitrag zur prinzipiellen Loſung der Frauenfrage) des Herrn Pfarrer Küßner zu
Mölln lachen. Aber als Symptom hat dieſer Beitrag auch eine fehr ernſte Eeite.
Zu Stößen häufen fih die geichmadfofeften Abhandlungen von beutfchen Männern
über die Natur und Beflimmung des „Weibes” und die Sphäre, bie der Frau auf
Grund diefer Beftimmung „anzuweiſen“ fei. Zu Stößen häufen ſich die Abhandlungen,
in denen die deutfche Frauenbewegung, über deren Ziele eine auch nur oberflächliche
Kenntnis der Litteratur Klarheit geben könnte, mißdeutet und farikiert wird. Und
das alles angefichts der nadten Thatſache, daß e3 in Deutichland ca. 6'/, Million haupt
beruflich erwerböthätiger Frauen giebt, eine Zahl, von der man nur willen möchte,
wie die Herren fie ſich erflären, die behaupten, eine berufliche Thätigfeit entipräche
der Natur der Frau nicht und fei auch feine Notwendigfeit.
’) Berlag von Lipſius und Tifcher, Kiel und Leipzig, 1901.
Das Töchterheim „Comeninshaut”, 47
halt für ihr Leben zu gewähren vermag. (Bewährte Schitlerinnen erbalten auf Wunſch
durch die Anjtaltsleitung Stellen vermittelt; bei der Arbeit in der Diakonie innerbalb
des Evangeliichen Diatonievereind erhalten fie durch diefen eine nach innen und aufen
geſicherte Anjtellung mit Penfionsberechtigung.)
Dies find die allgemeinen Grundfige für alle Töchterbeime; ſie haben auch
ſonſt gewiſſe wichtige Fächer gemeinfam.
In allen Töchterheimen ziemlich gleichmäßig wird Unterricht gegeben in der
Religion (Gefchichte des chriftlichen Lebens, bejonders der Licbesthätigkeit; Lebens: und
Tagesfragen im Lichte des Evangeliums), Gedichte, Litteraturgefchichte unter gemeinz
famer Lejung klaſſiſcher Schriften, Kunftgefchichte unter Führung in die öffentlichen
Kunſtſammlungen, allgemeine Etziehungoͤlehre, deutſche Sprache (fchriftliche Aus
arbeitungen und mündliher Vortrag), englifhe und franzöfifche Nonverfation und
Lektüre, hauswirtichaftliche Naturkunde, Nechnen und Buchführung, Bürgerkunde, Ge:
yenbheitchee, Samariterfurfus, Turnen, Tanzen und Anftandslchre, Zeichnen, Chor:
gefang.
In der bejonderen Berufs:Ausbildung find die einzelnen Töchterheime unter
ſchieden. Es dienen der Ausbildung:
1. in der Hauswirtſchaft das Luifenhaus,
2. für den Erzicherinnenberuf das Comeniushaus.
Das Comeniushaus bietet alfo außer der wiſſenſchaftlichen Weiterbildung als
Berufsbildung dad, was als Grundlage einer gebiegenen Bildung überhaupt erſtrebt
werden follte, die Padagogik de3 Kindergartens und durch diefe die Gewöhnung an
den Grundfag ber Selbftthätigfeit in der Erziehung. Durch einjährigen Veſuch wird die
Ausbildung für die Erzichungsthätigkeit in eigner oder fremder Familie erzielt. Das
Jahr jchließt mit der Kindergärtnerinnenprüfung ab. Nach Ablegung derfelben werden
die Schlilerinnen, wenn fie nicht den Beruf einer Kindergärtnerin ergreifen wollen,
auf Wunfh entweder in einem britten Semefter zu Nindergartenvorfieherinnen
(Leiterinnen von Kindergärten oder Kinderhorten) vorbereitet, oder fie flellen fich zur
Aufnahmeprüfung für die zweite Klaſſe eines im Lehrplan fih an das Comeniushaus
anfchließenden Lehrerinnenfeminard. Für junge Mädchen, die Lehrerin werden wollen,
kommt deshalb das Comeniushaus beſonders in Betracht.
Die Anftalt ift alfo eine Vereinigung von breierlei verſchiedenen Veranftaltungen.
Eie ift erftend ein Mädchenpenſionat zum Zived der Erziehung und Allgemeinbildung,
fie if ferner ein Kindergärtnerinnenfeminar, umd fie ift endlich die Unterklaſſe eines
Lehrerinnenſeminars.
Solche Verbindungen können ſehr feſte ſein und die Geſamtheit aller einzelnen
Teile tragen, nicht nur, wie verſchiedene Stride zuſammengeſchlungen erſt ein jeſtes
Seil geben, fondern auch mie ein und dasjelbe organiidie Leben die einzelnen Aſte
durchdringt. Das wird der Fall fein, wenn ein gemeinjamer Grundgedante ſich nad)
den verfchiedenen Richtungen bin organiſch gliedert. Im andern Fall werden die ver:
fchiedenen Zwede ſich nur einander widerſprechen.
Nun aber glaube ih, dar die Vereinigung dieſer Zwede hier eine durchaus
glüctiche it, und fie bat fich zum größten Teil bereits als eine ſolche eriwieien.
Unſere Familien, die ihre Töchter au& allerlei Grünten auf ein Jahr in Peniion
zu jenden pflegen, abnen großenteils nod nicht, welche erziebliche Bedeutung ein ſolches
Jahr für die jungen Mädchen notwentigerweije bat. Tas Penñonsjahr erzieht, aber in
vielen Fällen verzicht e3 auch. Es fommt deshalb darauf an, hier einen wertvollen erzieh:
lien Grundgedanken zu geben, damit Das Jahr wirklich einen wertvellen Ertrag für
das Leben abwerie. Nun verteben es die Eltern meiit leicht, daß es wunſchenswert ilt,
daß das junge Mädchen ſich gejellihaftlib weiterbilde — darum ſind bie Lurus: und
die Sprachen⸗ Penñonate noch immer ſebr beliebt —, aber fie lernen es aub in
fteigendem Maße veriichen, dab Das Leben an die jungen Wädchen wirticäftlide
Anforderungen jtellt, und namentlib den Müttern it es recht erwunicht, wenn tie
Töchter gut die Hauswirtſchaft lernen und darin die Mutter unterrägen fennen.
wi
419
— Harie Htritt. >
Ika Frendenberg.
Radbrud verboten.
B ift für einen jeden, der ein fehwieriges und verantwortungsvolles Amt antritt,
eine bedenkliche Situation, einen Vorgänger zu haben, der in befonder3 hohem
Grade Anfehen, Vertrauen und Verehrung genoffen hat; doppelt bedenklich, wenn
diefe jo ganz ausnahmsweiſe verehrte Perfünlichkeit den betreffenden Poften geichaffen,
zum erftenmale bekleidet und dadurch fo fehr mit fich identifiziert hat, daß es vielen
ſchwer wird, ſich überhaupt an den Gedanken einer Veränderung zu gewöhnen.
Alle Beforgniffe diefer Situation mag Frau Marie Stritt durchgekoftet haben,
als die Aufforderung an fie herantrat, zuerft proviſoriſch, dann definitiv die Stelle
einzunehmen, von der aus feither Augufte Schmidt den Bund deutſcher Frauenvereine
mit der ihr eignen, unvergleichlichen Würde geleitet. Und es mag bed Zuredens
genug bedurft Haben, biß fie ſich entichloffen hat, zu ihrer ohnehin außgebehnten, viel-
feitigen Thätigfeit noch die Arbeitslaft, die enorme Verantwortung auf fih zu nehmen,
die Augufte Schmidt, bei ihren großen Aufgaben als Vorfigende des Allgemeinen
Deutfchen Frauenvereind, nicht länger tragen konnte. Denn es liegt auf der Hand,
daß die Anfprüche, die der Bund an die Geifted: und Nervenkraft feiner Vorfigenden
flelt, von Jahr zu Jahr größer werden. Mit dem Wachfen der Frauenbewegung
wachſt auch das zu überfehende und zu beherrichende Arbeitögebiet des Bundes in
außerorbentlichem Maße. Innerhalb diefes Arbeitsgebiete prägen ſich die einzelnen
Intereffen immer fchärfer aus; Gruppen fchließen fi) zufammen und verlangen Ber:
fändnis für ihre fpeziellen Bedürfniſſe. Nachdem die Fundamente der Bundeseinheit
ihre Seftigfeit und Dauerhaftigfeit bewährt haben und ein Gefühl der Sicherheit
Plag gegriffen hat, wollen die einen den inneren Ausbau der Organifation befchleunigen,
die andern ziehen ein langjameres und bebächtigeres Fortfchreiten an der Hand ber
Erfahrung vor. AN diefes In: und Aufeinander-Wirken der mannigfachen Tendenzen
und Parteiftrömungen ift natürlich und erfreulih — wenn es auch mitunter zu über-
füffigen und unerquidlichen Komplikationen führt — denn auf ihm beruht ja das innere
Leben de3 Bundes; aber melche Aufgabe für die eine, die über allem ftehn, alles
erfennen und begreifen und jedem gerecht werben fol! — Marie Stritt hat zwei
Jahre lang, vom Hamburger (1898) bis zum Dresdener Bundestage (1900) die
Geichäfte interimiftiich geleitet und ſich in diefer Zeit die gründliche Erfahrung und
Sachkenntnis erworben, die fie befähigte, als Vorfigende der Dresdener Verſammlung
dem großen Ganzen ber vielgeftaltigen Bundesthätigfeit in jeder Weile gerecht zu
werden. Die freudige Anerkennung der Delegierten fam denn auch in der einmütigen
Wahl durch Acclamation zum Ausdrud,
a7*
Marie Stritt. 421
Einfluß weitreichender Arbeit dahin gewirkt wird, die große Maſſe der Frauen aus
ihrer Unſelbſtandigkeit, Unfreiheit und Wehrloſigkeit aufzurichten.
Daß der Dresdener Rechtsſchutzverein, in dem mehrere ungewöhnlich tüchtige
Kräfte der Vorſitzenden zur Seite ſtehn, auch in einem weiteren Sinne für Frauen—
rechte eintritt und eine vielſeitige allgemeine Propaganda entfaltet, verficht fih von
%- =
Marie tritt.
ſelbſt. Die freieren fächfiihen Vereinzgefege geben ihm ja in mancher Hinficht eine
etwas günftigere Stellung, als fie die Vereine der andern deutſchen Staaten zur Zeit
noch befigen.
63 hieße die Wirkjamfeit Marie Etritts nur unvolitändig charakterifieren, wenn
man nicht erwähnte, daß fie jeit dem Tode von Jeannette Schwerin Herausgeberin
des Bundesorgans, des „Centralblattes“ ift. Hiermit war ein wichtiger Teil Bundes:
uw
Die Beſtimmungen über das Univerfitätstusium
der Frauen in Dentſchland, SMerreih- Ungarn und in
der HSchweiz.
Dr. 5. Hausmann.
Naqhdrua verboten. (Eihluf von Zeite anen
F- Öfterreich war durch eine Verorbnung des Minifteriums fir Kultus und
z Unterricht vom 6. Mai 1878 feftgefegt worden, daß von allgemeiner Zulaſſung
der Frauen zum Univerfitätäftudiun. feine Rebe fein Zünne, daß aber nad) zwei
Richtungen Ausnahmen ftatthaft feien: einmal könnten mit jebesmaliger, befonderer
Ermächtigung des Minifters beftimmte Vorlefungen ausſchließlich für Frauen eingerichtet
werden, fobann bürften ausnahmsweiſe Frauen zu einzelnen Worlefungen augelaffen
werden buch Genehmigung der Fakultät im Einverftändnis mit dem betreffenden
Lehrer. , Die auf letztere Weife zugelaffenen Frauen, heißt es dann ausdrüdlich in
ber Verorbnung, gelten weder als ordentliche, noch als außerordentliche Hörerinnen,
es wird ihnen nur ber faktifche Beſuch einzelner Vorlefungen geftattet, fie erhalten
darüber keine amtlichen Dokumente und feine amtliche Beſuchsbeſiatigung, birfen alfo
auch zu feinen Prüfungen zugelaffen werben.
Diefe Beftimmungen haben erft durch einen Minifterialerlaf vom 23. März 1847
eine Abänderung und Fortbildung erfahren. Im allgemeinen werben fie in biefem
Erlaß aufrecht erhalten; für die philofophifchen Fakultäten aber wird nunmehr die
Zulaffung der Frauen al3 ordentliche und als außerordentliche Hörerinnen feſtgeſebt.
Gemeinfame Vorausſetzung für beides ift die öfterreichifche Staatsbürgerfchaft und die
Zurüdlegung bed 18. Lebensjahrs in dem Kalenderjahr, in dem die Einfchreibung
beantragt wird. Ausländerinnen find alfo nad mwie vor von biefer Vergünſtigung
ausgeſchloſſen. Die Einfchreibung als ordentliche Hörerinnen fegt dann weiter bie
erfolgreiche Ablegung einer Neifeprüfung voraus, bei der genau bie Anforderungen
wie bei denen der jungen Männer geftellt werben. Tiber die Zulaffung entfcjeidet der
Dekan der Fakultät, bei Nichtzulafiung ift Rekurs an das Aultusminifterium zuläffig.
Bei dem Verlaſſen der Univerjität wird dieſen ordentlichen Hörerinnen von dem
Delan ein Abgangszeugnis außgefertigt, ohne das fie an einer anderen Univerfität
nicht angenommen werden bürfen. Nach vierjähriger Studienzeit fünnen fie unter den
gleichen Bedingungen wie die Männer zum Doltorat der Philoſophie zugelaffen
werben. ALS außerordentliche Hörerin wird eingejchrieben, wer zwar nicht eine Reife⸗
prüfung, wohl aber die Prüfung einer Lehrerinnenbildungsanftalt oder beitimmter
böherer Mädchenfortbildungsichulen, die von dem Minifter von Fall zu Fall ala
gleichwertig anerfannt werden, beitanden hat. Dieje außerorbentlihen Hörerinnen
müjjen mindeftens zebn Vorlefungsitunden per Woche belegen. Die Erlaubnis zum
Beſuch einzelner BVorlefungen fann ‚rauen nur ausnahmsweile auf Antrag eines
Dozenten von dent Profeiiorenfollegium geftattet werben.
Einen merfwürbigen Begentng zu dieſer Behandlung der Frauen bei der
philoſophiſchen Fakultät bildet die Thatjache, daß bei den mediziniſchen Fakultäten in
Üfterreich die Frauen das Doftorat bis vor furzem überhaupt nicht unmittelbar
erwerben fonnten. Nah dem Minijterialerlag vom 19. März 164% fonnte das
Die Beftimmungen über dad Univerfitätäftubium ber Frauen in Deutichland :c. 425
Beftimmungen, als bier auch Ausländerinnen in der philofophifchen Fakultät als
ordentliche ober außerordentliche Hörerinnen eingejchrieben werden können; dabei ift
aber in jedem einzelnen Fal von dem Profeforentolegium die Genehmigung des
Minifteriums einzuholen.
* *
*
Am früheſten iſt die Zulaſſung der Frauen zur vollgiltigen Immatrikulation an
ſchweizeriſchen Univerfitäten erfolgt: in Zürich im Jahre 1867, in Genf 1872, in
Bern 1874. Un allen dreien find die Frauen grundfäglid) in den Pilichten wie in
den Rechten mit ben Männern auf gleiche Linie geftellt worden. In Zürich haben
die Angehörigen des Kantons ein Maturitätszeugnis, die übrigen aber Zeugniſſe vor-
zuweiſen, bie nicht wefentlich geringeren Wertes find. Außerdem müſſen die legteren
das 18. Lebensjahr zurüdgelegt haben und, wenn ihre Mutterſprache nicht die deutiche
ift, fi über ein genügendes Verftändnis berfelben ausweifen, fei es durch Zeugnifje
in: oder auslandiſcher höherer Bildungsanftalten oder durch cine befondere Prüfung.
Natürlich genügen auch Abgangazeugniffe von ſolchen Univerjitäten, die ungefähr die
gleichen Anforderungen an Vorbildung ftellen wie Zürich ſelbſt. Ebenfo find in Genf
die Aufnabmebedingungen für Männer und Frauen völlig gleich. Auch bier wird in
wejentlichen die Gymnaſialteife oder bei auswärtigen eine entfprecyende Vorbildung
verlangt. Bei der Univerſitat Bern müffen Frauen, außer den Zeugniffen über ihre
Ausbildung, noch den Nachweis über Vollendung des 18. Lebensjahres erbringen,
fowie entweder durch eine beglaubigte Beſcheinigung ſich über den Zuftand eigenen
Rechtes ausweiſen oder aber eine beglaubigte Einwilligung ihres Rechisvertreters bei—
bringen, daß ihnen das Studium an einer Hocjichule geftattet it. An allen drei Hoch—
Schulen werden auch jolche Frauen, deren Studienzeugnifje den für die Jmmatrifulation
geltenden Beſtimmuͤngen nicht entiprechen, die ſich aber ſonſt über eine folde Vor—
bildung ausweifen, daß fie den Vorleſungen folgen können, als „Hörerinnen”
zugelaffen. In Laufanne wurden ſchon in ber Zeit, da es noch eine Akademie war,
in vereinzelten Fällen Frauen geduldet. Seit ter Ummandlung in eine Univerfität,
1890, werden bie nicht dem Kanton Waadt angehörenden Frauen als immatrikulierte
Studentinnen zugelaſſen, wenn fie den Nachweis über den vollſtändigen und erfolge
reichen Beſuch einer höheren Mädchenfchule erbringen; wenn fie ſich aber dem Staatẽ—
eramen unterziehen wollen, müſſen fie entweder Gymnaſialmaturiiät nachweiſen oder
falls fie letztere nicht volftändig befigen, fih einer Ergänzungsprüfung unteriverfen;
bei den einheimifchen wird der erfolgreiche Beſuch der höheren Mädchenichule im
Lauſanne felbft, die gleichzeitig ein Mädchengumnafium ift, und insbejondere Kenntnis
der lateinischen Sprache vorausgefegt. Im gleichen Jahr, da Laufanne ih zu einer
vollen Univerfität umgeftaltete, am 8. März 1890, wurde auch am der Univerfitit
Bafel durch Beichluß des Negierungsrates den Frauen die Zulaffung zu der vollen
Immatrikulation gewährt. Es wurde „verſuchsweiſe bis auf weiteres“ bejtimmt, daß
Schweizerinnen und jolche Ausländerinnen, die ihre Ausbildung im Stanton Bafel
erhalten haben, immatrikuliert werden können, wenn fie das 18. Lebensjahr zurüd-
gelegt haben und ein Zeugnis der Neife befigen, „im Fall der noch nicht erlangten
Mehrjährigkeit ift die Zuſtimmung des gefeglichen Vertreters erforderlich.” Die
Erlaubnis, als Hörerinnen einzelne Borlefungen zu beſuchen, wird ſolchen Frauen erteilt,
die „im Belig eines Fähigkeitẽnachweiſes find, der fie zur Bewerbung um Lehreritellen
an den Primar: und Mittelfchulen des Kantons berechtigt” ; folche nicht immatrikulierten
Hörerinnen werden aber nur bei der philofophifchen Fakultät zugelafien. Vei der
Univerfität Freiburg endlich wird den Tamen nad) einem Beſchluß des Senats die
Immatrikulation nicht gewährt, wohl aber werden fie bei allen Fakultäten als
Hörerinnen zugelafien.
Stärfer ald ber Tod.
Lieber Freund“, hatte fie ihm erwidert,
„bei dem liebenden Weib hört eben alle
Theorie auf, da giebt's nur noch Praris, und
die muß jebe felber finden”.
Zivei Kinder wurden ihnen geboren und
ftarben; zufammen hatten fie weinend vor den
Särgen geftanden.
„Ich danke Gott, daß er mir dich ließ, bu
bift mir mehr als alles auf ber Welt“,
ſchluchzte fie. Wortlos hielten fie fi um:
ſchlungen, und fie wußte, fie waren verbunden
in alle Ewigkeit; es gab nichts, mas fie
ſcheiden konnte.
Und dann waren ſchwere Jahre gelommen;
langſam nahmen ſeine Geiſteskräfte ab, zu
früh für fein Alter; fein Körper blieb rüftig.
Was die Angft feines Lebens ausgemacht hatte
in gefunden Tagen, es tar eingetroffen —
er ward langfam zum Kind, und das
Schredlichte war, er fühlte e8 Fommen. Sein
Gedächtnis verließ ihm zuerft; da ward fie
ihm feine rechte Hand bei feinen Arbeiten und
verbarg ihm, fo gut es ging, daß fie es tar.
Sie mußten fi einſchränken, feine Manuftripte
wurden ihm zurüdgeichidt; fie mußte, daß fie
wiederlommen würden. Da fchrieb fie um
fo eifriger, um das fehlende zu erſetzen.
Man fragte den Arzt, er beruhigte ben
Kranken.
„Was iſt das Ende?“ fragte Eliſabeth
vor ber Thür den bewährten Freund.
„Seniler Schwachſinn“.
Eie ward blaß bis an die Lippen, aber
mit einem Scherzwort trat fie raſch wieder
ins Zimmer; er ſollte nichts ahnen.
Die Freunde des Mannes famen immer
noch, Eliſabeths friſche Unterhaltung zog fie
an. Da bemerkte fie, daß es ihrem Mann
ſchwer wurde, dem Gefpräch zu folgen; fie
ſchraubte es auf ein niebreres Niveau herab,
und nad) und nach famen die Freunde feltner.
Es mar aud) fo traurig, biefen Verfall mit
anzufehn. So vereinfamten fie immer mehr;
der Doktor ließ feine Frau faum aus dem
Haus; mit dem Egoismus des Kindes
Hammerte er ſich an fie an und fühlte ſich ver:
laſſen und einfam ohne fie. Schließlich wurde
er vollftänbig ftunpf.
Bei alledem war fie nicht ganz unglüdlic.
Nah wie vor fühlte fie ſich ihm in tieffter ;
427
Seele verbunden, nur manbelte fie jetzt im
Glauben und nit im Schauen. Was fie vor
fi$ fah, war nur feine Hülle, bie fie mit
Kiebe pflegte, wie man Gegenftände, die ges
liebten Toten gehörten, behanbelt.
„Wo ift feine Perfönlichfeit, diefer große,
edle Geift geblieben?“ fragte fie ſich oft.
„Hat er fi in das tieffte Innere zurüds
gezogen, und fann fein Feuer die alt und
untüchtig getvordene Hülle nicht mehr durch⸗
ftrahlen?”
Dit fah fie ibn an, fchaute ihm in bie
blöben, erloſchnen Augen mit einer Liebe, die
dur Mauern brechen zu fönnen meint. Er
verftand fie nicht und blinzelte ſcheu nach ihr
bin. Trotzdem teilte fie ihr ganzes geiftiges
Leben mit ihm, nur fonnte fie, was fie bes
wegte, nicht mehr in Worte fallen. Eie
mußte, mir find untrennbar, wenn auch jeßt
feine Mitteilungskraft erlahmt ift.
Leidet er, daß es fo it? Vielleicht —
ja gewiß; mie muß ihm grauen vor feinem
häßlichen Kleid. Aber fie kann es ihm leichter
machen durch Glauben, fie fehaut nicht auf
die Zumpen, mit denen der blöde Körper den
unfterblichen Geiſt bebedt; fie liebt ihn, fein
innerftes Wefen, fein wahres Ich; nicht das
Bettlerfleid, das jegt alle von ihm abftößt.
Schredlich iſt's ihr, wenn andere in feiner
Gegentvart über ihm reden. Vielleicht bäumt
ſich jegt ingrimmig der arme, gefangene Geift
auf, er nimmt alle Kraft zufammen, und ein
blöbes Lächeln ift das Refultat — ein Künftler,
der einem verborbenen Inſtrumente ſchrille
Miptöne entlodt.
* *
—
Der Greis im Seſſel regt ſich, ſeine Augen
blicken nach Eliſabeth; dieſe erloſchnen, thränenden
Augen thun ihr weh.
Er will ſich erheben, die Dede rutſcht auf
die Erde. Liebevoll fpringt fie hin, Hilft ihm
auf und lächelt ihn an:
„But geſchlafen, Lieber?” und freundlich
ftreicht fie ihm über das Haar.
„Jetzt trinfft du deine Milh, und dann
gehn wir in den Garten“.
Der Alte nidt und lat: „Ja — ja —
Milch — — tr... trinfen — —“ er lallt
mie ein Kind.
428
Elifabetb eilt in die Küche und Tommt
bald mit dem Eſſen wieder. Sie muß. ihn
füttern, wie ein Meines Kind; er fchmast,
und die Milch rinnt in feinen Bart. Gebuldig
trodnet fie die Tropfen ab und ermuntert
ihn zum Weitertrinten: „Gute Mil, ſüße
Milch!“
„Gute Milch“, ahmt er nach und trinkt.
Er iſt fertig! Eliſabeth ſchließt einen Augen⸗
blick die Augen vor dem traurigen Anblick
und jagt leife:.
„Dein Friedrich, mein Lieber, mein Lieber
— ich bin bei bir, ich verlaſſe dich nicht“.
Die Thränen drängen fih ihr in bie
Augen, der Greiz ftarrt fie verftändnislos an.
Dann rafft fie ihre Korrefturbogen zufammen,
fie müflen beute noch erledigt werben, und
liebevoll den Arm um ibn legend und ihn
ftügend, verläßt fie das Zimmer, um ihn in
den Garten zu führen.
* % *
Monate find vergangen, und Friedrich
Weidner liegt auf dem Sterbebett. Durch die
offnen Fenſter weht ein lauer Frühlingswind,
bläbt die weißen Vorhänge auf und führt den
Duft der blühenden Akazienbäume ing Kranken⸗
zimmer.
Elifabeth figt im Lehnſtuhl, ihr Geficht ift
noch blafjer geworden, und tiefe Ringe liegen
um ihre Augen; es ijt lange ber, daß fie ge-
fchlafen bat.
Der Kranke ift unruhig; leis und ober⸗
flächlich geht der Atem. Haar und Bart find
ganz weiß geworben, die Züge fcheinen hagerer,
und ſtark tritt die edel gebogene Nafe hervor.
Die Augen find halb von den Lidern bebedt,
und die abgezehrten, blaſſen Hände mit den
Inochigen Gelenken fcharren raftlo8 auf der
Dede, zupfen am Leintuch oder greifen ängjtlich
in die Luft.
Eliſabeth ift „ehr gefaßt”, fo jagen bie
teilnehmenden Beſucher und wundern fich ein
wenig; man mar fo gewohnt, fie ala Ehe.
heilige zu verehren; — nun, es ift ja fein
Wunder, nad drei fo fchredlichen Sahren,
— die Erleichterung ift ihr zu gönnen, und
fie ift noch fo jung.
Verſtändnislos hatte fie zuerſt die An-
deutungen der Belannten entgegengenommen,
Stärker ald der Top.
enblich begriff fie. Ein feines Lächeln ohne
Bitterfeit hatte um ihre Lippen gefpielt, aber
fie fagte nichts, nur die dunfeln Augen
ſchauten mit einem klaren Blid, aus dem bie
ganze Freiheit ihrer Seele leuchtete, den
Beſucher an, ſodaß der das unbehaglicdhe
Gefühl nicht los warb, foeben etwas fehr
Unpaffendes gefagt zu Haben; er empfahl
ſich eilig.
Es iſt fehr ftil im Kranfenzimmer; ein
Bienchen Tommt durchs offne Fenſter und fucht
ängftlid) brummend einen Ausweg.
Eliſabeth jißt regungslos neben dem Kranken⸗
bett; ihr ganzes inneres Tongentriert fi auf
einen Gedanken: wird er fie vor feinem Tod
noch einmal grüßen, wird er ihr ein Zeichen
geben, daß er ihr feelifch nahe ift, daß er ihre
Liebe fühlt und erwibert? In den le&ten
Wochen bat fie fein einziges Erkennungs⸗
zeihen mehr von ibm gehabt; mie eine
Mafchine, die langfam ihr lebte Feuer aus:
atmet, erſchien ihr der Körper des geliebten
Manns. Nun war die Stunde gefonmen, in
der der gefeflelte Geift endlich frei werben
folte von der langen, ſchweren, Gott allein
weiß, mie ſchweren Laſt.
Die Atemzüge des Sterbenden werden be:
Hommener, unruhig wirft er fein Haupt hin
und ber. Eliſabeth erhebt ſich und ergreift
feine zudenden Hände, ihre Lippen bewegen
ſich tonlos, ihre Seele fpricht zu feiner Seele:
„Mein Geliebter, fühlſt du, wie ich bir
nabe bin in biefer fchredensvollen Stunde;
ach, wenn Liebe diefen Weg erleichtern kann,
fo ift er dir erleichtert. Ob, könnt ich mit
bir gehn, meine Hand in deiner Hand. Ach,
nur einmal noch deine Stimme hören, einmal
dir ind Auge bliden. Hörſt du mih? Ich
weiß, daß du mich hörft, und wenn bu mich
nicht börft, mich jeßt nicht hörft, jo weiß ich,
daß es Täufchung war, nichts könne uns
ſcheiden. — Friedrich, Lieber, Guter, anttvorte
mir, deiner Elifabeth!”
Sie ſah ihn flebend an. Er war ganz
ftill geworben, als ob er den unbörbaren
Worten gelaufcht habe. Nun flog ein Bittern
durch den Körper, angſtvoll und feuchend ging
der Atem, er öffnete den Mund und ſchloß ihn
wieder, Schmeißtropfen ftanden auf feiner
Stirn. eine Augen ivaren meit offen, eine
Ankunft des Morgens.
fürchterliche Angft glomm in dem ftarren
Blid, mit dem er fi) in Eliſabeths Augen
einzubohren fuchte. Seine Hände zudten, der
ganze Körper ſchien einem inneren Gebot ger
horchen zu tollen; mehrmals öffneten und
ſchloſſen fi die Lippen, enblid ein Laut:
"2... . liebe”.
Elifabeth liefen die Thränen über die
Wangen, „ichdanfedirriebrich, mein Friedrich”.
Der Eterbende war zurüdgefunfen, Friede
breitete ſich über fein Gefiht, die Augen
ſchloſſen fi wieder. Cie beugte fi über
ihn und Füßte ihn, dann nahm fie ftill
ihren Platz ein, ihre Hände hielten bie
feinen, ber Blid kehrte fi) nach innen. Ihre
ganze Seele, ihre ganze Kraft war nun bei
dem Geliebten; fie fpürte nicht® mehr vom
eigenen Leben, all ihr Denken und Fühlen
mar bei ihm, half ihm die Feſſeln abftreifen.
Der Atem wurde röchelnd und ſetzte aus;
"Elifabeth rührte fih nicht; er begann von
neuem unb blieb immer öfter aus, immer
ſchwaͤcher hob und fenkte ſich bie Bruft, einige
Tropfen ſchwarzroten Bluts rannen in ben
weißen Bart, und fcließlih war's ftill,
ganz ftil.
49
Auch in Eliſabeths Eeele ift es ſtill.
Wohl kann fie den Thränen nicht wehren, da
nun das letzte fihtbare Band, das fie mit
dem Freund verbunden hatte, geriſſen ift, aber
im Grund ihre Herzens rubt ſchweigend ein
tiefes Danfgefühl, daß ber Geliebte durch
dieſes Thor durch ift, und ihr noch ein Zeichen
feiner Liebe gegeben hat.
Ihr ift feierlich .zu Mut, wie einft an
ihrem Hochzeitstage. — Wie vernadläffigt
diefe Kleidung ift, denkt fie, da® mürde ihm
nicht gefallen, gern fah er fie ſchön.
Von der Etraße tönt ber Jubel der
fpielenden Kinder; fie löft ihre Haare auf, die
fie wie ein Mantel umgeben; wie hatte er es
geliebt, damit zu fpielen. Träumend betrachtet
fie ihr Spiegelbild; plötzlich weiß fie, er fteht
neben ihr, ſchaut mit ihr in das Glas, mie fo
oft in glüdlichen Tagen; faft meint fie, feinen
Atem zu fpüren. Tünen nicht Worte an ihr
Ohr? Sagt er nicht „mein Liebling, mein
Liefel?” Nein, mit dem Ohr hat fie es nicht
gehört; mit dem Herzen hat ſie's vernommen.
ie lächelt in den Spiegel, ald grüße fie den
Geliebten, und leiſe flüftert fie vor ſich hin:
„Ja, Liebe ift ftärker ald der Tod“.
——
Ankunft des Forgens.
Wenn und Wipfel erwachen.
Kräufelnd wiegt jich die Flut.
Rofenbeladener
Nahen,
Silbernes, fel’ges Lachen —
Schaut, wie der Morgen auf Rofen ruht!
Sanftes, beruhigtes Bleiten,
Cocken, perlend von
Tau.
Purpume Schleier breiten,
Segnend die Einfamteiten,
Liebende Eaften aufs Dämmergrau.
öitternde Klänge erhuben
Schwingen fchwebend zum Ficht.
Nadte und rofige Buben
Blafen auf goldenen Tuben:
Erde, wie fchön ift dein Angeficht!
Erde, wie fchön ift dein Angeficht!
Maurire von Stern.
VAN
Der Gemüfebau im Hausgarten 431
Bliden wir die Gemüfenrten einzeln genauer an, fo finden wir als die begehr-
lichften die Weiß: und Rotkrautarten und ben Blumenkohl. Ale brei produzieren
im Verhältnis zur wildwachſenden Braffica-Pflanze enorme Blätter refp. fleifchige
Organe, die nur bei ftarfer Nahrungs: und Waſſetzufuhr fich zart, ſchnell und groß
entwideln. Alle drei wollen in ihren Früh: und Spätjorten forgfältig gepflanzt
werben; fie können, wie auch die Wirfingarten, falls zur Frühkultur feine warmen
Miftbeete zur Verfügung ftehen, ſchon im Oktober außgefäet, in kalte Fenfterbeete
pifiert und darin durchwintert werden. Sie liefern dann, im Mai ausgepflanzt, im
Juli fertige Köpfe.
Der Beirfing iſt ja etwas genügfamer, dankt aber auch die forgiame Pflege
durch ſchön entwidelte Köpfe. Die verichiedenen Sorten biefer Kohlarten find in
jedem Samenverzeichnis angegeben; man hält fih am beften an bie altbewährten an
ben betreffenden Orten eingebürgerten. Die mit viel Reklame angepriefenen „Neuheiten“
wollen mit der größten Vorficht geprüft werben.
Dem Wirfing folgt der Roſenkohl, der fi ſchon mehr dem fehr genügfamen
Grünkopl nähert. Wer feite Röschen wünfcht, giebt aber auch bier genügend Dung
und Wafler, vor allem aber freien Standort, fo daß das Licht den Stengel mit den
Nöschen beicheinen ann. Man fegt am beften nur je eine Reihe mitten auf ein Beet
niebriger Gemüfe. Zum Herbft Hin werden bie großen Blätter bis auf den fiehen-
bleibenden Blattftiel abgefchnitten. Die Kronenblätter bleiben figen.
Der nun folgende Grüntohl wird ala Nachfrucht gebaut, da er meiftens nur
Wintergemüfe ift. (Im Süden auch im Sommer). Der niebrige ift in Schneewintern
am ficherften vor Hafenfraß, oder es müßte der Grün und der Roſenkohl im Winter
in der Näbe des Haufe eingeichlagen werben. Zu ben Koblarten zählt dann noch
der Kohlrabi, der in feinen Frühſorten, je nachdem man nur die Stengel-Stnollen
oder auch dad Grün benugt, Hle ober weniger eng gepflanzt werben kann; bie großen
Spätforten müſſen weitläufig ftehen.
A Die Rohlrübe kann mie Grünkohl behandelt werden; fie wird Ende Mai
gepflanzt.
Unter den ‚Dlattgemüfen folgen nun die Spinate. Hier ift für Herbft und
Winter der gewöhnliche Spinat maßgebend. Er wird breitwürfig im Auguft ausgefäet.
Bewirkt im Frühling die fteigende Sonnenwärme ſchnelle Blütenbildung, fo bietet der
Neufeeländer Spinat den beiten Erjag. Diefer wird in Blumentöpfen außgefäet und
Mitte Mai auf 5 cm Abftand ausgepflanät, Die Blätter werden einzeln abgepflüdt.
An einigen Orten wird der grünblättrige Mangold, an anderen die großblättrige
Melde als Spinat genoffen. Die übrigen hier und da als Spinat benugten Kräuter
bedürfen feiner befonderen Beete, jondern werden, wo fie befannt find, gelegentlich in
Heinen Quantitäten audgefäet. ö
Es find nun noch die Salatfräuter übrig. Hier fteht der Kopfſalat obenan.
Es giebt unzählige Abarten desfelben, von benen die für den befonderen Gefchmad
gewünfchten ausprobiert werden müflen. Sie werden im Sommer meiftens als
Zwiſchenfrucht zwifchen Sellerie zc. außgepflanzt und lieben reichlicheg Gießen. Früh:
falate laffen ficy leicht im Miftbeet treiben. Diefe Sorten wie die Treibgurfen find
in den Samenverzeichniffen beſonders angeführt, fie taugen, mie jene, meiftens nur
für die Treiberei. Dann find die Winterfalate bei Dftober:Ausfaat leicht zu durch
wintern. Sie geben im Mai gute, aber nicht ganz zarte Köpfe. Das zu fchnelle
Auffchiegen verhindert man durch Halbdurchſchneiden der Stengel. Abarten des Kopf:
ſalats (Lactuca) find der Pflüdjalat und der Spargelfalat, beides aufſchießende
Pflanzen; von erfterer genießt man die abgepflüdten Blätter, von letzterer die Stengel
ſelbſt, folange fie noch zart find. Das kann übrigens bei jedem aufgeſchoſſenen
Salatkopf geichehen; die Stengel haben aber durchaus nicht den Nährwert der Spargel,
wenn fie auch jo zubereitet werben.
Der Schnittſalat ift ein ſchnell wachſender, aber nicht Topfbildender Salat,
der fi im Zimmer, in Käften ausgejäet, gewinnen läßt. Salatausfaaten müſſen wie
3. B. NRadiesausfaaten während des Sommers wiederholt werden.
Der Gemüfebau im Haudgarten. 438
Eine noch viel zu wenig verbreitete ARübenart ift bie Kerbelrübe. Sie wird
im September breitwürfig gefäet und im nächſten Sommer derart geerntet, baß man
nach Abfterben der Triebe die obere Erde durchfiebt und die Heinen Rübchen auslieft.
Die Heinften runden können noch einmal gepflanzt werden.
Die Kohlrübe (Stedrübe) habe ich ſchon unter den Koblarten erwähnt. Sie
wird wie die Kohlarten außgefäet und auf ca. 40 cm Abftand gepflanzt. Sie leidet
wie alle Kohle jehr am Raupenfraß.
Den Beſchluß der rübenartigen Wurzelgemüfe machen bie Rettige mit ihrer
Heinen reizenden Abart, den Radieschen. Die Rettige werden in den großen fpäten
Sorten im Juni als Zwiſchenfrucht oder in Reihen mit 30 cm gegenfeitigem Abftand
ausgefäet, die Heineren Sommerrettige fönnen enger ftehen, und die Radieschen werben
dünn in Breitfaat den ganzen Sommer hindurch wiederholt auegeſäet, während ber
heißeften Zeit nicht an zu fonniger Stelle. Beim Säen der Rettige werden in Heine
mit dem Finger gemachte Löcher je 3—4 Korn eingelegt und von ben entleimenden
Pflanzen nur je eine belaffen.
Rettige müffen wie auch Radieschen ſchnell wachien, alfo genügend gegoffen werben.
Letztere —8 ſich im Miſtbeet ſchon vom Januar ab treiben.
Unter den knollenartigen Wurzelgemüfen fleht der Sellerie obenan.
Er verlangt, wie ſchon erwähnt, ftarte Düngung, wird im März im Miftbeet aus:
jefäet, pikiert und dann auf 50—60 cm Abftand ausgepflanzt. Das Hauptbebürfnis
jeiner Pflege ift Wafler. Dies kann ihm kaum genug gegeben werden. Die Zwiſchen⸗
tulturen von Salat und Rettigen habe ich fchon erwähnt. Reinhalten von Unkraut
und wiederholte Behaden find bei allen gepflanzten Gemüfen felbftverftändliche
Verrichtungen.
Der in England beliebte Bleichſellerie bringt Feine Knollen. Seine Behandlung iſt
diefelbe, wie bie des Knollſelleries, nur muß er ohne Zwifchenkultur weitläufiger gepflanzt
werden, da man ihn im Herbft durch Anhäufeln bleicht. Vorher werden die Blätter
leicht mit Stroh umbunden, damit fie nicht ſchmutzig werden. Eine befiere Bleichmethode
ift das Einfteden der Pflanzen in weite Drainröhren; die Spigen der Blätter dürfen
hervorſehen. Die vielerort3 Fultivierten Erbbirnen (Topinambour) haben für die
Küche geringen Wert, da fie zu weichlich find, um ald Erſatz der Kartoffel zu dienen.
Die Knollen werden wie Kartoffeln gepflanzt, die hochgehenden Triebe im Herbft nad
dem Gelbwerden abgeſchnitten; die nicht erfrierenden Knollen können nad Bedarf
geerntet werden.
Bierliche, Heine Knöllchen geben auch die Oralis, die ald Glüdsklee häufig in
Töpfen verkauft werden; fie gedeihen im freien Lande fehr gut, die Knöllchen muͤſſen
aber, in Sand eingeichlagen, —8 durchwintert werden.
Der Meerrettig wird in Privatgärten faſt nur als Unkraut gefunden, und doch
iſt es leicht, fehöne, lange Stangen zu erziehen. Man kauft von einer Erfurter
Gärtnerei Sepftangen, legt fie möglichft wagereht in ca. 25 cm Tiefe in die Erbe,
daß das bdidere Ende etwas hervorblidt und hält fie feucht. Im Auguft wird die
Stange entblößt und durch Abreiben von den etwaigen Faſerwurzelchen gereinigt.
Die am dünneren Ende fteil in die Erde gehende Wurzel bleibt erhalten und dient
im näcjften Jahr als Setzſtange. Die wieder mit Erde bededte Hauptftange bildet
fih bis zum Herbft zur ftarten Verbrauchäftange aus. Meerrettig verlangt tief:
gelodertes Land; Zwiſchenkulturen find nicht ziwedmäßig.
Der vor längerer Zeit mit vieler Reklame empfohlene Knollen=Zieft ift fehr
bald aus ben Küchengärten wieder verſchwunden, da die Knöllchen zu Mein und zu
meichfich find; aud wird die Pflanze zu leicht zum Unkraut, das man nicht wieder
108 wird.
Bataten, Ignamen und Erbmandeln, die in unfern Rolonieen vielfach als
Gemüſe gebaut werden, gedeihen hier nur in warmen Miftbeeten und bringen nur
wenig Knollen. Es folgen die zwiebeltragenden Gemüfe. Streng genommen
find dies ja feine Wurzelgemüfe, da man die Zwiebelfchuppen, alfo die Blätter,
genießt. Sie find aber wie die Wurzelftöde (Rhizome) der Knollengemüfe, Nährſtoffe
28
Der Gemüfchau im Hausgarten. B 435
Reinhalten von Unkraut und Behaden macht bei Erbien und Bohnen bie
Sommerpflege aus. Es ift aber durchaus faljch, wenn man fagt, fie dürften nicht
gegoffen werden. Bei anhaltender Dürre wird eben alles gegoflen, fei es was e&
wolle! Nur vermeidet man, die Blüten zu benegen; man täflert nur den Erdboden,
diefen aber energifch! Die verichiedenen Sorten find in jedem Samenverzeichnid ge:
nügend erflärt. Es find Cchneidebohnen, Brehbobnen und die ganz kleinen
Perlbohnen. Es giebt faft von jeder Sorte Stangen: und Bufchformen, doch find
die erfleren meiften® größer und ergiebiger. Bei den Bohnen dürfen nicht die fchönen,
zu den Widen zählenden Ruffbohnen übergangen werden. Diefe werden zeitig im
Frühjahr zu je 3—4 in 30 cm Abftänden mitteltief gelegt und entwideln ca. 1'/, m
hohen Stengel. Daran erfcheinen die wohlriechenden Boten, denen breite, wollige
Hülfen mit je 4—5 Bohnen folgen. Die fih ſtets an den Stengelfpigen einftellenden
Blattläufe werden durch Abſchneiden der Spigen, fobald die eriten Früchte anfegen,
vertilgt. Die Bohnen find folange brauchbar, als der Meine Nabel an der Spige
noch grün ift.
Die oft empfohlene Sojabohne ift für das norddeutſche Alima nicht brauchbar.
Gehen wir zu_ den Fruchtfleifhgemüfen über, die namentlich durd Gurken
und Kürbis repräfentiert werden. Die Kultur der Freilandgurken bedarf ſtark,
aber mit altem abgelagerten Dung gebüngter Beete. Es werden Mitte Mai auf
jedes Beet nur je eine Reihe Gurkenkerne gelegt, und die daraus entftehenden Pflanzen
werben auf ca. 25 cm Abftand verzogen. Dann werden fie bis an die Samenlappen
angehäufelt. Ehe fich die Triebe ausbreiten, können nebenbei noch Kopfſalat, Radieschen,
Früßlartoffeln 2c. geerntet werben.
Breiten fi die Triebe aus, fo bedeckt man das Beet mit altem Dung und
pflegt nun die Gurken mit genügendem Gießen, wozu aber nur weiches oder mindeſtens
einen Tag an der Sonne geftandenes Waſſer benugt werden darf. Zu Salat werden
Schlangengurfen, zum Einfäuern mittellange Gurfen gezogen; Eſſiggurken
werben von den fog. Traubengurfen bereitet, oder man nimmt die Heineren Früchtchen
der beiden ebengenannten Arten. Azia und Zudergurlen werden aus dem Fieiſche
völlig außgereifter Früchte bereitet. Hiernach kann fi jeder bezüglich der
anzubauenden Sorten richten. .
Den Schluß meiner Betrachtung möge ber Kürbis bilden, da die Melone fi
bei und nur in Miftbeeten erziehen läßt und bie Epargelfultur einer befonderen
Beſprechung bebürfte.
Der Kürbis laßt fih am beſten auf Kompofl oder Dunghaufen in fonniger
Lage erziehen, auf dem die Kerne in ca. Im Nbftand gelegt iverden. Muß man
Beete benugen, fo gleicht die Pflanzung der der Gurken bei größerem Abſtande. Bet
der Pflege Heißt das Hauptbebürfnis Waller. Davon kann man kaum zu_ viel
verabreihen. Die Früchte müſſen, da fie nur vollteif benugt werben, durd Unter:
legen von Brettftücdchen vor Fäulnis befchügt werden; der hohle Ton beim Anklopfen
zeigt die Reife an. “
iermit hoffe ich in der Kürze, die durch den Raum dieſer Zeitfehrift geboten ift,
einen Überblid über die Produkte gegeben zu haben, die man dem Gemüjebau abgewinnen
ann. Immer wieder heißt es tie bei jeder menfchlichen Thätigfeit, danach fireben,
nur befte, volfommene Nefultate zu erzielen. Minderwertige Produkte verlangen
denjelben Aufwand an Kraft und Zeit.
Iſt e8 doch mit ben Obftgärten ebenfo. Wir laffen lieber Millionen nah
Amerika wandern, ald daß wir una Mühe gäben, in unferen Gärten gleiche Erfolge
zu erzielen, wo bdiefelben Grundlagen dafür gegeben find tie in Amerifa.. Warum
geht’ in Süddeutſchland befier? Nicht etwa des Klimas wegen — dad Völkchen ift
dort regſamer, und — ſich regen bringt Eegen.
ae
28*
Ertverbötkätigteit,
der Breite, Stärke und Mufterung der Ware abs
hängt, fo ift doch bie Bewältigung von 240 Zuch
in ber Minute eine Leiftung, bie und ftaunen
macht, und dies um fo mehr, ald ein einfaches
Rechenexempel und ben ftünblih vom Schügen
zurüdgelegten Weg auf 25200 Meter angiebt.
Biermal in der Sekunde fliegt der Schügen auf
feiner Bahn hin und her; dem Auge nicht fichtbar,
mit bligartiger Geſchwindigkeit, und ebenfo oft
ſchlagt der Schlagbaum ben Schuß zu feinem Bor:
gänger. Wie gering ift Biergegen bie Kraft ber
Hand, bie es bei angeftrengteftem Fleiß auf höchſtens
35—40 Schuß in ber Minute bringt. Gebenten
wir nun noch der Maſchinen, bie fih beim Reißen
aud nur eined einzigen Fadens felbftthätig aud-
ſchalten und den ganzen Koloß im Augenblid zum
Stilftand bringen, jo glauben wir bad Wiſſens⸗
wertefte gezeichnet zu haben. Im Handwebeſaal
finden wir in entfprechend vereinfachter Art und
geringerer Farbenpracht biefelben Stoffe wie auf
den mechaniſchen Webftühlen. Auch Krimmer wird
bier angefertigt. Doch wie mühfam ift dies alles,
mie langfam geht der Schügen durch die Kette,
und wie ſchwer Kommt ber Krimmermeber, ber
jeden Stab zur Hervorbringung des Zuchs einzeln
zwiſchen Kette und Schuß fticht, vorwärts!
Aus der Weberei zur Wirkerei: und Pofamentier:
Abteilung. In der Ausſtellung der Abteilung für
die Wirkerei finden wir alles, was mit ber Be:
zeichnung Untertleidung“ umfaßt werden Tann.
Außerdem wird Trikot zu Turmanzügen hergeftellt
und werben Felle imitiert, die dad teure Fell,
wenigftend dem Auge, erfegen.
In der Bofamentier-Abteilung finden wir eben:
falls alle Erzeugnifie diefer Branche auögeftellt.
Hälelarbeiten in reizenden Muftern, Schnüre, Be
hänge und Duaften für Gardinen und Bortieren,
Bandgürtel ıc. in reicher Auswahl. Hierzu die
nötigen Nöppel, Hälek, Plattier-, Chenille-
Maſchinen u. f. f. Ein den beiden legten Gruppen
Gemeinfames ſcheint eine geringere Verwendbarkeit
motorifcher Kraft zu fein; wird doch in ber
Vofamentier-Abteilung fo mander Schügen noch
mit der Hand durch die ja nur ſchmal aufgebäumte
Kette gezogen.
Roch drei Abteilungen, und nicht bie uninter-
effanteften, giebt es in biefer, das Handwerk mit
wiffenfchaftlicher Tiefe Ichrenden Schule und zwar,
die Stiderei, Mufterzeichnung und das chemifche
Laboratorium. Bevor wir jeboch auf diefe legten
drei Abteilungen eingehen, wollen wir bie Zu:
fammenfegung ber Schule, d. h. ihren Lehrförper,
die Unterrichtöfächer und die zum Beſuch der Schule
notwendigen Borbebingungen, Fury durchgehen.
Die Schule zerfällt in Taged:, Abend: und
487
Sonntagskurſe und unterrichtet außer in den ſchon
angeführten Abteilungen noch in ber Buchführung,
Taufmännifchem Rechnen, Materiallehre und Gefehed:
kunde (Gewerbe und Sozial:Gefeggebung). Die
Schüler werben in Vollſchuler, Tagesſchüler und
Halbſchüler, Sonntags: und Abendſchüler eingeteilt.
Bon ben Bolfhirlern wird in ber Regel, mit
Ausnahme der Stider: und Muſterzeichner, die
Abfolvierung ber erften Alaſſe einer Realſchule
verlangt. Es kommen bier in erfter Linie
Fabritanten, Fabrildirektoren und folde, bie es
werben wollen, in Betracht. Die anderen Kurfe
find einem jeden gegen Hinterlegung des Schul:
gelbes zugänglih. Zu dem Unterricht gehört
Bindungslehre, Materiallehre, Muſterausnehmen,
Montieren und Demontieren der Mafchinen und
Webftühle und prattiſche Übung.
Die Kurfe für Mufterzeichnen und Stiden find
aud weiblichen Schülern zugänglich; das Schul:
geld beträgt in den Kurfen für Mufterzeichnen für
Preußen und Deutfche 60 Mark, für Ausländer
800 Marl, für Stiden vierteljährlih 50 Mark.
Diefe Angaben gelten für Tagesfhüler. Die Kurfe
beginnen zu Oſtern und Michaelis ) und erftreden
ſich beim Wufterzeichnen auf 2 Jahr, beim Stiden
auf % Jahr. Außerdem wirb in beiden Fächern
auch Abends und Sonntags unterrichtet, wobei bie
Unterrichtöftunden nad ben Verhältniffen der
Teilnehmer feftgelegt werben. Die Schule erteilt
Zeugniffe über Betragen, Fleiß und Leiftung;
den Teilnehmern der höheren Kurſe fteht es frei,
fih einer Prüfung zu unterziehen ober nit. Der
Lehrlörper befteht aus zwei Direktoren, Chemitern,
Mufterzeichnern und Fachleuten. Das Unterrichtd:
geld wird von Preußen, Deutfhen und Aus:
ländern in ungleicher Höhe erhoben, Preußen
zahlen am wenigſten. Doch nun zurüd und
zur Stidere. Ein weißes Alastiffen mit Gold:
ftiderei, ein volles Schilfbouquet mit goldgelben
Bafierrofen darftellend, weiße Tifchgebede mit
einem Blumengewinde in ber Mitte und herrlich
ftififierter Randzeichnung, in allen Farben beftidte
Vorhänge, Portieren und Lambrequind find aus:
geftellt und nehmen dad Auge gefangen. Auch
Soutache und Perlarbeiten auf Caped und Damen:
jadetS find vorfanden. Auf einem Langen Flur
find die verſchiedenen Spfteme ber Kurbelſtick-
maſchinen aufgeftellt. Es werden fämtlihe Stid:
arten (Tambour:, Mevos-, Einlagen und Zierftic)
gelehrt. In der Abteilung für Muſterzeichnen finden
mir geradezu Meifterwerte der Zeichen: und Mal:
tunft. Unterrichtet wird in brei Semeftern und
zwar im erften nad Vorlage; im zweiten nad)
d In diefem Jahr am 15. April Proſpetie find in der
Säule Loftenfrei erhältlich.
Frauenleben und »Streben,
daß es nicht mehr als hauptſächliches Nahrungs:
mittel von den arbeitenden Klafien gefauft werden
tann, fo werden dieſe zu einer bie Gefunb:
heit gefährdenden Verſchlechterung ber
Lebenshaltung gezwungen. Was können alle
Gefege zum Schuß ber arbeitenden Klaſſe nügen,
alle Berfuche, die Arbeiterin ihrem Haus, ihrer
Familie, ihren Kindern zurüdzugeiinnen, wenn
man ihr die Möglichkeit erſchwert, gefunde Träftige
Kinder heranzuziehen; wenn man ihr mit ber
einen Hand giebt, um mit ber andern zu nehmen?
Eine Teuerung, bie ald unabwendbares Schidfal
gebuldet und getragen werben müßte, wenn fie
durch Mißernten oder Krieg verurfacht wäre, will
man fünftli dur Zölle und Steuern herbei: |
führen. Aus ſolchen Maßregeln würde aber nur
einer Meinen Minderheit des ganzen Volles ein
vorübergebender Vorteil erwachſen; weite Kreiſe
ber Bevölterung würden ſchwer geſchadigt werben:
auf bie Frauen aber wird bie Hauptlaft ber
Verteuerung fallen!
An alle deutſchen Frauen richten wir deshalb
die Bitte, alles zu thun, was in ihren Kräften
fteht, um die Sorgen und Mühen abzuwenden, die
ihren Geſchlechtsgenoſſinnen durch eine Erhöhung
der Getreibezölle auferlegt würden, der Not ent:
gegenzutreten, mit ber biefe Maßregel unabweisbar
die arbeitenden Volksklaſſen bedroht, ber Ber.
tümmernng ber Broternährung, ber Berteuerung
des täglicden Broted!
Helene Lange-Berlin. Alice Salomen-Berlin.
Auguſte Schmibdt:Leipzig. Anna Simfon-Breslau.
Marie Stritt-Dreöben.
* Der prenfifche Qultubminiſter hat in Sagen
des Mäbdengyinnafiums unter dem 14. Januar
folgenden Erlaß auögehen Laffen:
Die Eingabe vom 5. Ottober v. Is. betreffs Er:
richtung eined neunflaffigen humaniftifchen Mädchen:
gummafiums in R., habe ich nach allen Seiten einer
erneuten und forgfältigen Prüfung unterzogen. Ich
erlenne die felbftlofe Abficht des Vereins, denjenigen
Mädchen, welche fih afademifchen Studien widmen
wollen, die Gelegenheit zu guter und grünblicher
Vorbildung zu gewähren, gern an, vermag mid
aber davon, daß ber gecignetfte Weg hierzu bie
Gründung eines humaniftifhen Sollgomnafiums
fe, um fo weniger zu überzeugen, als gerabe
jegt in Berfolg des Allerhöchſten Erlaſſes von
26. November v. Is. auf dem Gebiete bed höheren
Schulweſens Wandlungen fi vorbereiten, welche
die Vorausfegungen, von denen die Eingabe des
Vereins ausgeht, in weſentlichen Punkten als bin
fällig erſcheinen Laffen. Auch beruht es auf einer
Pertennung des Wefend und ber Beftimmung der
befteenden Gumnafialkurfe für Mädchen, wenn der
Verein ihnen bie Aufgabe zumweifen will, mit ihren
üferinnen in vier ober fünf Jahren den neun:
jährigen Lehrgang des Gymnafiums zu durgeifen.
439
Ihre Aufgabe werden fie vielmehr darin zu erfennen
haben, die beiden Bildungdgänge in organifcen
Bufammenhang zu fegen und auf Grund der all:
gemeinen Bildung, wie bie höhere Mädchenfchule
fie zu gewähren vermag, in einer Lehrform, bie
dem Berftändniffe erwachſener Mädchen entſpricht,
ihre Schülerinnen zu den Sielen des Gymnafiums
zu führen, nicht in ber Art einer Preſſe für die
Reifeprüfung, fondern in georbnetem, imethodiſch
fortfchreitendem Lehrgange, der naturgemäß auf
diejenigen Gebiete fich Tonzentrieren wird, welche
neu an die Schülerinnen herantreten.
Ic vermag daher bie Genehmigung zur Er⸗
Öffnung einer Gymnaftalferta und einer Gymnafial-
tertia für Mädchen in R. zu Oftern d. Is. nicht
zu erteilen.
Dabei vertenne ich keineswegs, daß bem
höheren Unterrichte der Mädchen im Laufe ber
Jahre neue Aufgaben erwachien find, und baf bie
gegenwärtige Lehrorbnung der höheren HMäbchen:
fulen, zunächft wenigftenß bie der höchftentwidelten
Anftalten, einer zeitgemäßen Fortbildung fähig und
bedürftig ift. Ih bin aber überzeugt, daß bie
höhere Nädchenichufe, bie, den Bebürfniffen folgend,
im weſentlichen ohne behördlichen Zwang und obne
Prüfungsdrud, ald freie Bildung ſich entwidelt hat,
allgemein als Einheitsſchule und al® Grundlage
für weitere Bildungsgänge, welcher Art fie auch
feien, erhalten bleiben muß, und daß ed ein ver:
hängnisvoller Jrrtum märe, fie ihrem eigentlichen
Berufe zu entfremmden, und von dem Bebürfniffe
und ben Neigungen einer beichräntten Minderzahl
die Bildungdeinritungen für die große Mehrheit
der Mäbchen abhängig machen zu wollen.“
* Die Reform der höheren Mädcgenfchuie
tam im Abgeordnetenhaus bei Gelegenheit der Be:
ratung bed Aultusetats am 11. März zur Bes
ſprechung. Die üblichen Warnungen ber Herren
Dittrich, Shall und ihrer Gefinnungsgenofien
vor weiteren Konzeffionen an die ſchon zu weit
getriebene Frauenbewegung lonnen fuͤglich über:
gangen werden. Von Intereſſe iſt die Ertlärung
de Regierungstommiſſars Geheimrat Wae doldt.
daß für die höheren Mädchenſchulen „eine Prüfung
der Frage unumgänglich wird, ob ihr ganzer
Bildungsgang und bie Art, wie fie lehren, noch
den Forderungen ber Zeit entſpricht · Wir fönnen
nur hoffen, baf durch bie geplante Mäbchenfhul:
reform wirtlich die Möglichkeit geſchaffen wird, die
niederen und höheren Lehrgänge zu verſchmelzen,
geſchaffen nämlich durch eine gründliche Umgeftaltung
des Unterbaued, auf den die Gpmnafialbilbung fid)
zu gründen hat.
I * Über den Ansfdhinf der Frauen von der
Mitgliedfchaft der Geſellſchaft für foziale Re-
form äußert fih die „Soziale Praris · (Spalte
534 f. in Rr. 22) wie folgt:
Bu ihrem lebhaften Bedauern hat die „Gefell:
ı haft für Soziale Reform" zur Zeit auf bie Mit:
; gliebfehaft der Frauen verzichten müffen. Nachdem
! bie fonftituierende Verſammlung am 6. Januar
Brauenleben und «Streben. 4l
beichäftigt, find bereits weitere Kreiſe gewonnen
worben. (frauen, die ben erften Berliner Geſellſchafts⸗
reifen angehören, Künftlerinnen und Borfigende
don Frauenvereinen haben eine Anfrage an bie
Inhaber der Berliner Koftüm:Detailgefchäfte ge⸗
richtet, um beren Stellungnahme zu ber Frage der
Heimarbeit zu erfahren. Außer dem Berein ber
Berliner Damenmäntel: und Roftüm:Detailgefchäfte
haben 82 Gefchäftsinhaber die Anfrage beanttvortet.
Die Mitteilungen ber Herren, bie allerdings ſehr
twiberfprechend lauten, beftätigen bie Befürdhtung, da
von vielen Geſchäften die Einführung reſp. Aus:
dehnung ber Heimarbeit ind Auge gefaßt wird, um
die Lohnforberungen der Arbeiter umgehen zu
Tonnen. Die Kommiffion beſchäftigt fi nun damit,
die Sache durch Herbeiſchaffung weiteren Materials
zu fördern. Es wird über ben Verlauf der Be:
wegung weiter berichtet werben.
* Die Anftellung von Frauen in ber öffent
lichen Armerpflege hat jegt auch der Charlotten:
burger Magiſtrat beſchloſſen, nachdem fi früher
bie Armenbireltion nahezu einftimmig dagegen aus:
geiprochen hatte. Da die Charlottenburger Armen:
bireltion heute einen ber Sache freundlichen Stanb-
punft einnimmt, hat der Magiftrat bei der Stadt:
verorbnetenverfammlung einen Antrag eingebracht,
in dem er um Zuftimmung zu ber von ihm be:
ſchlofſenen Zuziehung von Frauen zur öffentlichen
Armenpflege erfucht. — Die Heranziehung von
Frauen zur Armen: und Waifenpflege wird auch in
Rirborf bei Berlin angeftrebt. Cine Berfammlung
der Gemeindewaifenräte von Rixdorf und Brig
faßte den Beſchluß, unter Hinweis auf die an
anderen Orten, befonder® in Berlin, gemachten
guten Erfahrungen den Rirdorfer Magijtrat auf:
zufordern, Frauen zu ben unbefolbeten Gemeinde:
ämtern heranzuziehen und mit der Anftellung von
BWaifenpflegerinnen den Anfang zu machen.
* Das Deutidhe Laud · Erziehungsheim für
Mädchen (Leiterin: Frau von Peterjenn) am Stolper
See bei Potsdam, das in ber Mainummer bed
vorigen Jahrgangs ausführlich beiprochen worden ift,
beginnt am 1. April fein neues GSommerfemefter.
Bir entnehmen dem Bericht über dad vergangene
BWinterhalbjahr zu unferer Freude, baf das Unter:
nehmen ſich in den neuen, ihm beffer entfpredenden
Räumligpteiten Träftig enttwidelt Hat, und empfehlen
an diefer Stelle die Anftalt allen Eltern, die ge:
nötigt find, ihre Kinder fortzugeben, aufs wärmſie.
Um die Ziele des Deutſchen Land:Erziehungheims
unfern £efern noch einmal in Grinnerung zu
bringen, entnehmen wir ben kürzlich erfchienenen
Mitteilungen ber Leiterin folgendes: „Wir wollen
die Lörperliche Ausbildung der Mädchen in weit:
gehendem Mafıe pflegen; denn das umfangreichite
Säulwifien fann fie nicht entfcäbigen, wenn fie
es im geringften mit irgend welchen förperlichen
Nachteilen erfauft Haben. Wir fuchen dies zu ver:
meiden durch: 1) größtmögliche Einfchräntung ber
wiffenfchaftlicgen Arbeitägeit; wirb angefpannt ge:
arbeitet und mit Aufmerffamteit, fo tann man da
weſentlich abweichen von bem gewöhnlichen Maß;
2) burd viel Bewegung im ifreien; dem dient
unfere Garten: und Feldarbeit, die Pflege ber Tiere,
Turnen, Rudern, Saufen, Radfahren, 8) durch Ab:
Härtung, tägliches Baden, falt Abreiben, nicht zu
warme Kleidung, gefunbe Betten (mollene Teen
anftatt Federn), gefunde Ernährung (viel Wild,
Eier, Mehlipeifen, Obſt, Fleiſch, fein Altopol, teine
ftar! gewürgten Speifen).
Gleich wichtig, wie die Pflege des Körpers muß
und bie des Charakters fein, und wir haben und
gefreut die Erfahrung zu maden, daß eine Ein:
wirkung in biefer Richtung viel beffer möglich ift
durch unfer inniges Zufammenleben mit den Kindern,
al3 etwa in einer Tagedihule, wo außerhalb der
Schulzeit unberechenbare Einflüffe auf fie einwirken.
Die_fleipige Arbeit, die jede Stunde des Tages
ausfüllt, läßt ohnehin ſchon nicht viel Rebenger
danten auflommen und wenn man ben Kindern ge:
nügend Freiheit läßt, felbft Teil nimmt an ihren
Bergnügungen, Liebe und Aufmerkfamteit zeigt für
alles, was fie angeht, nicht durch Strafen, ſondern
durch Einfehenfernen zu wirten fuct, fo it faft
alled damit zu erreichen. Mächtig fördert ferner
ein der Eigenart entfprechender Unterricht und dad
Betonen der ibealen Ziele bei demſelben. Doch
nicht nur diefem idealen Biele fol Rechnung ger
tragen werden. Die Frage: „Was willft Tu
werben?“ ift bei und an der Tagesordnung. Wir
wiffen, daß eine jede von und das Ziel ber
Selbftändigkeit erreichen muß, je nachdem es ihren
Fähigkeiten entfprit. Darin [lichen wir uns
den berechtigten Beftrebungen einer befonnenen
modernen Frauenbewegung an unb wenn eins ber
Kinder fo lernen möchte, daß einem etwaigen
Abiturienteneramen nicht im Wege ftände, jo
fände «8 bie hierzu nötigen Hilfämittel fo gut vor:
handen, wie zu irgend welchem anderen Berufe.“
* Die Wirtfchaftlihe Fraueuſchule auf
dem Lande zu Nieder Ofleiden, in ber
ſchönen Gegend bei Marburg a. db. 2, wird
manchem unferer 2efer ſchon befannt fein, aud in
der „grau“ ift ihrer bereits gedacht worden. Mas
biefer Schule und den von ihr verfolgten Zielen
einen eigemartigen Charakter verleiht, ift, daß fie
toeber eine „Daußhaltungafejule“ im gewöhnlichen
Ianbläufigen Sinne ift, — noch eine Erziehungs:
anftalt, wie bie meiften Penfionate, die der Schule
entwachfenen jungen Mädchen eine weitere Aus:
bildung, auch in den häuslichen Rubrifen, geben
follen. Sie bejwedt vor allem, Damen aus
den höheren Ständen durch twiflenfchaftliche und
theoretifche, ſowie prattiſche Unterweifung all die
Kenntniffe zu vermitteln, die eine wirklich tüchtige
Reiterin eines Oaudwejend, — in der Stadt oder
auf dem Lande, — fei es als Hausfrau felbft, als
Nepräfentantin ober Borfteherin, fei es als hauss
wirtfgaftliche Zehrerin, (der Schule ift eine Haus:
haltungsſchule für Bauernmäbchen mit Abteilung für
weibliches Dienftperfonal angegliedert, und fo fann
fih an dieſen Schulen die Seminarklaſſe im Unter:
richten üben) ähnlicher, noc) zu errichtender Anftalten
befigen muß, um den heutigen Anfprüchen zu genügen.
Deshalb gehört zum Eintritt auch ſchon eine
gewiſſe Reife und ift als nicdrigfte Alterögrenze
442
die Vollendung des 17. Lebensjahres angefeht.
Außer dem alle Gruppen des nötigen Wiſſens um:
faffenden und von bewährten Kräften geleiteten
Unterricht bietet gerade die Schule von Nieder:
Dfleiden durch Lage und klimatiſche Berhältnifie,
Wafferleitung, materielle Verpflegung u. |. w. auch
in fanitärer Hinficht die größten Borteile. — Wir
Frauenvereine.
können dem Unternehmen nur immer weitere Un:
erfennung und die notmenbige Tnterftügung ber
betreffenden Kreiſe wünſchen. Wer fich näher dafür
intereffiert, möge fih um Brofpelte ober genauere
Nachrichten an den Borftand wenden, — zu Händen ber
Freifrau Dorette Schent gu Schweinsberg in
Nieder:Ofleiden bei Homberg a. d. Ohm, Oberheffen.
BIS
Frauenvereine.
Der Berein Berliner Dienſtherrſchaften und
Dienftangeftellter
bat während feines bald einjährigen Beſtehens
durch häufige Zufammenfünfte und Beiprechungen
feiner Mitglieder an der Klärung ber Dienftboten:
frage gearbeitet. Referate wurden gehalten von
befannten Rebnern, von Hausfrauen und auch von
Dienftangeftellten über die Lage der Dienjtboten
im Ins und Auslande, über Stellennadhmeis u. ſ. w.
Im Monat Februar fanden 3 Berfanmlungen ftatt:
eine Bereinsverfammlung für Herrichaften und
Dienftangeftellte, eine öffentliche Verfammlung für
die lehteren nicht vom Verein felbit, fondern von
einigen Mitgliedern einberufen und eine Vereins:
verfammlung für die Herrichaften. In der erſten
fprad Frau Sophie Suſsmann überdas, Intereſſe
der Herrichaften an einer Beſſerung ber Lage der
Dienftangejtellten”. Sie warnte vor einfeitiger
Bertretung ber Intereffen der Herrichaften wie ber
Angeftellten, die den häuslichen Frieden gefährden
würden und empfahl den Hausfrauen die Wünfche
der Dienjtboten, die fich auf gemeinnüßigen Stellen:
nachweis, Befeitigung der Geſindeordnung, Anſchluß
an die Reichs-, Kranken- und Unfallverſicherung,
geſunde Schlafräume, zeitgemäße Regelung von
Arbeit und Muße und beſſere Geſelligkeit richten,
nach Kräften zu fördern. Nicht nur um der Ge—
rechtigkeit willen, ſondern auch weil, wie fie bar:
legte, die Herrſchaften nicht nur meiſt keinen Schaden,
ſondern in vielen Fällen Vorteil haben, wenn ſie
für dieſe Wünſche eintreten. Beide Gruppen
ſtimmten lebhaft zu.
In der öffentlichen Verſammlung ſprach H.
v. Gerlach über „die Dienſtbotenfrage im Reichs—
tag“. Er befürwortete lebhaft die Unterſtellnng
der Dienſtangeſtellten unter das Gewerbegericht.
Die Verſammlung nahm im Anſchluß an ſeine
Ausführungen nachſtehende Reſolution an: „Die
von Angehörigen aller Stände, insbeſondere von
Hausfrauen und Hausangeſtellten zahlreich beſuchte
öffentliche Berfammlung erwartet vom Reichstage,
daß er die Streitigkeiten aus dem Gefindevertrag
ben Gewerbegerichten unterftellt und zwar Gewerbe:
gerichten, bei denen Hausfrauen und Hausangeftellte
Beifiger find.” — Sn der Nereindverfammlung
für Herrfchaften entwarf Herr Schriftiteller Went
in feinem Vortrag „Zeitgemäße Betrachtungen zur
Dienftbotenfrage” dag Spealbild eines Hauſes, in
welchem die Dienftboten gerecht und zeitgemäß be-
handelt werden und regte dadurch eine ſehr lebhafte
Diskuſſion an. — Der Berein, deifen Gründung
von den Dienftangeitellten angefangen wurde, zählt
heute unter feinen Mitgliedern mehr Hausfrauen
als Dienende. Doch zeigen bie letzteren ein viel
ſtärkeres Intereſſe für die Aufgaben des Bereing,
während fich dieſes bei den erfteren leider vielfach
nur auf die Stelfenvermittelung beſchränkt, die, noch
in den eriten Anfängen befindlich, fich Hoffentlich
immer mehr entwideln wird. E8 wäre aber bringend
wünſchenswert, daß die Hausfrauen fich ernithafter
ala bisher mit der Dienftbotenfrage befchäftigten.
Bureau des Vereins Potöbamerftr. Bde, 3—7 Uhr.
Der Münchener Kunftgewerbe:Berein hielt
am 5. Februar cinen Bereindabend ab, der ben
Frauen gewidmet war. „Die Frau in der Kunſt“
lautete das Thema von Dr. Helms Bortrag,
der bauptfächlich die Darftellung der weiblichen
Eriheinung in Plaſtik und Malerei behandelte,
und in feiner Weife den Syortfchritt nachwieg, der
fih von den fchlichten, reinen Brofilbildern ber
italienischen Renaiffance an 5i8 zum vollen freien
Nachſchaffen der Schönheit, des ſeeliſchen Ausdrucks
der Frau bis auf unfere Zeit vollzogen Bat.
Die aktive Thätigkeit der Frau in künſtleriſchen
Dingen würde nicht ſehr hoch angefchlagen, doch
ftebe ihr das weite Gebiet der beforativen Künfte
und der Nadelfunft offen. — Died leitete zum
zweiten Teil bed Abends über, der Heinen, aber
gut gewählten Austellung von Frauenarbeit auf
funftgewerblihem und illuftrativen Gebiet, die,
in wenigen Tagen zufammengebeten, fein vol-
ftändiges, aber doch ein recht charakteriftiiches Bild
der heutigen weiblichen ALeiftungen bot. srl.
Srene Braun bielt einen kurzen Bortrag zur
Erläuterung und betonte, daß fih in den letzten
schn Jahren das Niveau der Zunftgemerblichen
Frauenarbeit bedeutend gehoben babe, obwohl die
Mädchen in mander Beziehung babei mehr
Schwierigkeiten zu überwinden haben als bie jungen
Leute. Die ganze Ausbildung der Mädchen gefchicht
nur auf den Bapier, während man jett überall
zur Einficht kommt, wie nötig dafür die MWerkftatt
ift, die die jungen Leute vor oder nad ber
theoretifchen Lehrzeit befuchen können; dad Ent:
werfen für die verfchiedenen Zweige ber Anduftrie
müßte immer folchen praftifchen Untergrund haben.
Immerhin betbätigen fich eine Reihe von rauen
als Zeichnerinnen für gewerbliche Betriebe. Ganz
jelbftändig hat Frau Schmidt-Puſt in Konftanz
ihre Kunſttöpferei eingerichtet. Margarete
v. Brauchitſch erhielt Schon vielfach Auszeichnungen
für ihre phantafievollen Entwürfe und für bie
danach ausgeführten Tapeten, Kunftverglafungen
und Malereien. Einige Lcdertapeten von vor:
Frauenbereine.
gügfigger Wirkung waren im Saal aufgehängt,
ebenfo mehrere befannte Plakate von Frauenhand,
(3. Ströver, Ehrhardt, Kaltenbach). Mehr:
fach haben Frauen in den Blafattonkurrenzen gute
Preiſe errungen. — Ganz neu finb ferner bie
Driginallithographien von Frauen — einige feine
Blätter von J. Fikentſcher, B. Welte (Mit:
glieder des Karlöruher Künftierbunbe8) bann von
J. Ströver, 2. Ehrmann und andere waren
außgeftellt. Doris Raab dagegen ſteht ſchon
länger unter ben erften in ihrem dad; fie
hatte zwei ihrer beften Blätter — große Radierungen
nad Holbein und Rembrandt — gegeben. Unter
den zahlreichen guten Rabierungen war ‚befonderd
eine Arbeit von Linda Kögel bemerkenswert.
Das Kunftgeiverbe war gut vertreten burch feine
Holzintarfien von Fr. dv. Debfcig, Leberplaftit
von M. Winterwerber, einen geftidten Wand»
ſchirm von Lester, ein geſchnitzies Schränfchen
und Proben einer indiſchen Färbetechnit (Battid),
von der Bortragenben feldft, Tiefbranbarbeiten von
M. Gleck und eine Reihe von Kunftftidereien nad
Entwürfen von M. v. Brauditfch, Gertrub
Rommel und anderen.
„Es wird viel von Frauen-Rechten geredet, die
noch zu erringen find”, — fo etwa jchloß Frl.
Braun, „eine aber haben wir uns ſchon erworben
und erwerben es und täglich neu: das Recht ernit-
haft genommen zu werben, wirklich und wahrhaftig
zu arbeiten, wie die Tüchtigen unter unfern
Kollegen.“
Lebhafter Beifall bezeugte das Intereffe, womit
die zahlreiche Verſammlung den Ausführungen ge
folgt war. Es iſt fehr erfreulich, daß ber Verein,
der früger von feinen weiblichen Mitgliedern feine
Notiz nahm, nun unter der Leituug des bekannten
Argitetten $. v. Thierfdh, beginnt, fich für Frauen:
arbeit zu intereffieren. Schon im vorigen Jahr
wurde eine Ausftellung fünftleriicher Handarbeit
veranftaltet, und Frl. Irene Braun zu einem
Vortrag darüber aufgefordert. ie erläuterte in
Harer, überfichtliher Weife nach Entftehung und
Weſen die verfciedenen Technilen, faßte fie in
wenigen Sauptgruppen zufammen und ging auf
bi hen Gefege und delorativen Mögligjteiten
ein, die durch gute Beifpiele belegt werben fonnten.
Auch damals war das Antereffe an dem reichen
Thema außerordentlih rege, und ber Vortrag
erihien mit vielen Abbilbungen ber beften Aus:
ftelungsftüde im Geptemberheft ber Vereinszeit⸗
frift: „Runft und Handwerk”,
Am 23. Februar wurde in Köln der bereits in
einer Gerbftoerfammtung vorberatene „rheiniſch ·
weſtphaͤliſche Frauenverbaud“ — als Teil bes
Yunded beutfger Frauenvereine — lonfſutuiern
Dem auf 2 Jahr gemählten Borftand gehören an:
Frl. Günther:Bonn, Frau Hoeſch⸗ Dortmund,
Frau Aramer: Bodum, Frau Arutenberg-
43
Bonn, Frau von Langsdorff: Köln, Frl. Webers
Gobeßberg, Frau Widkott: Dortmund. Die Leitung
der Propaganda übernahm Frl. Günther:Bonn,
biejenige der Sentral-Auökunftäftelle die 8. Bor:
figende, Frau Rrufenderg: Bonn. Abweciclnd
in beiden Provinzen wird in jedem Frühling eine
Verfammlung ftattfinden. Dem Verband Tönnen
torporative Mitglieder und Cingelmitglieder bei:
treten. Publikationsorgan ift das Zentralblatt
des Bundes.
Der Frankfurter Franenbildungdverein
(Borfigende Frau Rofalie Teblee) hielt am
20. Februar feine Yauptverfammlung ab. Dem
Jahresbericht, der dieſes Jahr nit im Drud
erfcheint, entnehmen wir Nachſiehendes:
Die Zahl der Schülerinnen betrug 450 gegen
310 im Borjahre. TDiefelben belegten 1073 Kurje.
Diefe verteilen fi wie folgt: Buchführung 76,
Rechnen 69, Schönfgjreiben 61, Hanbelsforrefpondenz
und Warenkunde 51, Hanbelögeographie 44, Steno:
graphie 48, Gchreibmafchine 22, Deutf 5B, (Fran:
söfff 76, Enoliſch 82, Zeichnen 26, Vorbereitung
zur Prüfuug der Hanbarbeitölehrerinnen 7; Kunft»
ftiden 63, Schneibern 88, Weihnähen 68, Mafchinen:
nähen 83, Wäfchezufeneiden 71, Pugmacen 42,
Bügeln 37 und Aunftwafcen 2. — Bon den oben
angeführten Schülerinnen hatten 50 die fämtlihen
‚Kurfe der Kaufmännifchen Fortbildungsſchule befucht.
Soweit zu unferer Kenntnis gelangt ift, haben
90 Schülerinnen in ben veridiedenen Berufen
Anftelung und lohnenden Grwerb burd_felb:
ftändige Thätigfeit gefunden. Die Prüfung als Hand:
arbeitö: Lehrerin beftanden 4 Schülerinnen. Eine
namhafte Breiermäßigung wurde 8 Schülerinnen
zu Teil. Die Zahl der Benfionärinnen betrug 10.
Die Kochſchule zeigte gleichfalls einen erfreulihen
Auffhmwung. Am Unterricht beteiligten ſich 86 Schüle-
rinnen gegen 88 im ®orjahre. Die Qubereitung
von Aranfentoft ift in dem Unterricht mit auf
genommen. Die Zahl ber verabreichten Mittags:
portienen — 40 durchfepnittlich täglich — betrug
14,673 gegen 12,772. Nicht mitgerechnet find
Hierbei die Penfionärinnen und die Perfonen des
Haushalts. Ter Kindergarten wurde pro Monat
durdichnittli don 7U Kindern beſucht. In ber
Fröbel’igen Bildungsanftalt für Hindergärtnerinnen
ft durch bie verſchiedene Alteröftufe und or:
bildung eine Teilung in verfäjiedenen Fächern noi⸗
wendig geworden. Im Sommerhalbjahr befughten
24, im Winterhalbjahr 22 Schülerinnen die Anftalt.
Der Vorftand beriet eingehend bie ihm durch bie
Borfigende vorgelegten Cingaben bed Bundes
beutfcher Frauenvereine und gab allen feine Zu:
ftimmung. Bei der Generalverfammlung bed Bundes
beutſcher ‚Frauenvereine twar er durch eine Delegierte
vertreten. Die Polytechniſche Geſellſchaft, fowie die
| Stabtbehörben gewährten bem Berein nicht un-
! Bedeutende Zufchüffe.
Bücerfhau.
nBrauenbilder and ber meneren bentichen
itteraturgefchiäjte‘ von Ott o Berdrow. Mit
11 Bildniffen in Cichtorud. Siveite veränderte und
vermehrte Auflage. Stuttgart. Greiner und Pfeiffer.
Das Buch, befien erfte Auflage wir feiner Seit
beiprochen haben, erſcheint in tenig veränderter
Geftalt. An Stelle von Karoline von Günderode
und Ulrike von Kleiſt find Charatteriftifen von
Charlotte von Schiller und Erneftine Boie getreten.
Um die Sfiggen über Gufanna von iettenberg
unb Henriette von Paalzom if die Sammlung
vermehrt Berdrow bat es auch in der meuen
Auflage wieder gut verftanden, den Anſprüchen an
wiſſen chaftlichen Wert und anregende, leicht ver:
fändfiche, populäre Dasftellung in gleicher Weife
zu genügen.
nDie Zranen in der ſozialen Bewegung”
von Laura Marholm Mainz 1900. Berlag von
Franz Kirchheim. An Laura Marholms Schriften
hat man immer bie Yeiftungen hoher geiftiger Be:
gabung bei einem bevaueriichen Mangel an miffen-
Thaftlicher Schulung, überhaupt an geiftiger Diszipfin
tonftatieren Fönnen. Wenn fie in dem borliegenben
Bud) einmal fagt, Frauen fehle der biftoriiche Blid,
fo trifft das auf ihre eigenen Geſchichtsbetrachtungen
allerdingd durchaus zu. Und da fich auf dieſen
Gefhichtöbetradhtungen die Theorieen — oder, da
foviel Syſtematik in dem Buche faum vorhanden, ift,
daß man von „Theorie” fprechen kann — Be
Hauptungen ober Ideen in Bezug auf Augenstiätihe
Lage und künftige Entwidlung der Frau aufbauen,
fo ift nicht viel_damit anzufangen. Cin näheres
Eingehen barauf erübrigt fi auch badurdh, baf
die Grundanfhauungen von ber Berfaflerin ſchon
oft und zwar beffer ausge ſprochen find. An dem
Buch ift nicht genug gearbeitet, um ben Gebanfen,
der ihm zu Grunde zu liegen fcheint, zu bewältigen.
It falls short“ fi die befte Charateriftit, bie
leider deutſch nicht fo treffend wiederzugeben iſt.
Und das kommt einem doppelt ftart zum Bewußt-
fein durch bie tategorifche Art mit der bie Der:
fafferin ihre Urteile fält. Die Frauen haben
feinen Grund zu irgendwelchen Shmpathieen für
Laura Marholm, aber fie können es bedauern, daß
ihre Kraft feine glüdlichere Entwidlung genommen.
„Was hat eine Mutter ihrer erwachſenen
Tochter gu fagen?" Bon Klara Muche. Leipzig,
Th. Grieben s Berlag & Fernau) 190. Daß in
der Unwiſſenhe
um Eintritt in die Ehe über bie Beziehungen des
Geſchlechtslebens gehalten werben, kein Segen liegt,
ift vielfach anerfannt. Durch bie Schwierigteit, bie
Form für ſolche Aufllärungen zu finden, hat ſich
aber mandjer hindern Laffen, feiner Erkenntnis ent:
ſprechend zu handeln. Eine joiche Form zu geben hat
die Verfafferin bes vorliegenden Schriftchen® verfucht,
und das ift entihieben päbagogifh wertvoll. Die
Beurteilung und Wertung einer folden Form ift
allerbingd nicht leicht, da Hier indivibuelle
Empfindungen ftärfer und entſchiebener mitſprechen,
ald im vielen anderen ragen. Die Berfafjerin
giebt ba feldft zu und ftellt ihre Schrift in biefer
Hinfit zur Diehuffion. Cine unmittelbare An:
wendbarkeit wird man natürlid von derartigen
Verſuchen überhaupt nicht erwarten dürfen; fie
find dazu da, Anregungen zu geben, eine Richtung
anzumeifen. Und in biefer Beziehung Tann das
der Mädepen womöglich biB |
: und, bier eine empfehlen zu lönnen.
445
Buch, trog mancher Geichmadiofigleiten, zu denen
ir befonder8 die etwas geichrauhte Einleitung
rechnen, durchaus empfohlen werden.
„Univerfal-Ronverfationd-Leriton‘‘, heraus:
gegeben von Jofeph Kürfgner. Dritte Auflage.
Berlin, Eiſenach, Leipzig. Hermann Hillger, Preis
5 Marl.) Was der befannte Herausgeber mit
feinem Konverfations:2erifon bat erreichen wollen,
liegt auf der Hand. CB ift Heutzutage felbft in ben
Kreifen, die große und teure Nachſchlagewerke be:
figen, ein Bedürfnis, ein Buch bei der Hand zu
haben, dad dem Ratfuchenden bequeme, fchnelle und
inappe Antwort erteilt, befonder wenn es auch
noch, wie wir bad bei ben großen Leiten Längft
getoögnt find, die Jluftration zur Verdeutlichung
zu Hülfe nimmt. Daß das Kürfhnerihe Leriton
diefe Aufgabe in vollem Maße erfüllt hat, beweiſt
bie große Verbreitung der erften Auflagen, bie nad
Yunderttaufenden zählt. Die neue Auflage bringt
eine bedeutende Grweiterung, 4—500 Bilder kamen
zu ben vorhandenen, für die neue Auflage mehrfach
umgezeichneten hinzu. Die Bilder wurden nun in
der Vehrzahl unmittelbar in den Tert geftellt,
ſodaß ein Auffhlagen Artitel und Jluftration zu:
gleich vor da® Auge führt. Neu find ferner die
Nartographiihen Beigaben: TDoppeltarten von
Deutfchland, Ofterreich-Ungarn, Solonialbefig und
Weltvertehr, verbeflert und verfhönert Papier und
Einband. Zrog biefer Berbefferungen ift der billige
Preis von 5 Mark unverändert geblieben.
nDa8 Mufenm“. Cine Anleitung zum Genuffe
der Werke bildender Kunft von Wilhelm Spemann.
Berlin und Stuttgart. Preis 1 Marl pro Lieferung.)
Bon den zahlreichen Verſuchen, die Kunft dem
Genießen bed Laien zugänglih zu machen, bem
Intereſſe des tunitverftändigen Publikums an ihren
biftorifchen Grfcheinungen entgegen zu fommen, ift
das Muſeum einer der glüdlichften und gelungenften.
Das ift fowohl der Auswahl des Dargebotenen,
als auch der Feinheit ber Reproduktion und der Bor:
züglichteit des Terted zu banken. Die 6. Lieferung
% laufenden Jahrgangs bringt einen Artifel mit
jeprobuftionen über Vittore Pifano, Blätter von
Bildern des Gabriel Metfu, Piero di Cofimo,
Paulus Potter ıc. Wir machen unjere Lefer, wie
ſchon öfter an dieſer Stelle, von neuem auf das
ausgezeichnete Werk aufmerkjam.
Tiny und Tinys Geſpielen.“ Cine Gefchichte
für die Meinen und ihre Freunde von Bernharbine
Schulze-Smidt. (Berlag von velhagen und Klafing,
Bielefeld und Leipzig 1900). SKinbergefcichten
fhreiben ift durdaus nicht leicht, wenn e8 aud)
meift leicht genommen wird. Um Kinder richtig
heraußzubelommen, bazu gehört ebenfo ein ver
tiefendes Künftlerauge als zu ben Geſchichten für
die Großen. Und da ein foldes Auge fich felten
den Kleinen zuwendet, fo haben wir jo wenig
gute Kindergeſchichten. Um fo mehr freuen mir
Es ift bie
Geſchichte eines jener phantafievollen Kinder, bie
ihre eigene (Freuden: und Leidenswelt haben, und
die fortwährend in Patſchen geraten, von denen
die normalen Heinen Vernunftmenfchen ihres Alters
nicht ahnen, wenn wir nicht irren, die Geſchichte
der Berfafferin felbft, da e8 zu augenſcheintich auf
eigener lebendiger Erfahrung beruht.
448
Driginaltezept. Gefüllter
Sellerie: Kochdauer 1/, Stun:
den. 6 Perfonen. 250 g fette
Schweinefleifh und 250 g Rind:
fleifch werben durch eine Fleiſch-
hackniaſchine getrieben, mit 1 Eß—
löffel faurer Sahne, 2 Eiern und
etwas geſtoßenen Zwiebackskrumen,
Salz und Muslat zu einem
lockeren Teige verarbeitet.
Unterbeffen [hält man 10—12
große Sellerietöpfe, ſchneidet von
jebem eine Scheibe als Deckel
ab, und böhlt die Köpfe fo vor⸗
fihtig aus, daß ein tiefes und
breites Loch entfteht, ohne daß
Wände und Boden berfelben
befchäbigt erden. In diefe
Höhlung drüdt man nun bie
Fleifchfüllung hinein, bindet mit
weichem Baummollfaden den Dedel
feft auf den Kopf und ſetzt alles
mit 80 g zerlaffener Butter in
einer großen Pfanne auf. Man
gießt Y, Liter Fleifchbrühe unter
bie Köpfe, beit 2 Dedel darüber
und ſchmort die Speife eine
Stunde gar. Dann werben bie
Sellerielöpfe beraußgenommen,
die Fäben vorfichtig abgemwidelt,
und die Sauce mit etwas Mehl
fämig gerührt. Diefer fügt man
noh da8 nötige Salz und
17, Theelöffel Maggitvürze zu
und giebt fie durd) ein Haarfieb
über den Sellerie. M. v. 8.
Das Plarisrungebursen
von Fran Joh. Simmel,
geprüfte Lehrerin,
Berlin W., 2inkftr. 16
vermittelt die Befepung don Stellen
für geprüfte Zeprerinnen, Eryiegerinnen,
Rindergäctnerinnen, Rinderpflegerinnen
und Haußperfonal.
werben mar Gtellenfudenbe mit
mehejäheigem, tabeiofem Zeugnis. em“
— bie ſeta ablreic vordandenen
Balanıen mecben Io Dil —
Srtundigung,
Gonorar 2"), ven erften Japrgehalth,
Keine Einfreibegebühr. [9
— Bezugsdeöingungen.
Anzeigen.
Pariser Weltausstellung 1900
Bon der Internationalen Jury wurden ben
Singer Nähmaschinen
ver
GRAND PRIX
ber höchste Preis ber Auöflellung, zuerfannt.
Die Näfmafhinen ber Ginger Co, für ben Familien,
gebraud, Runftfiderei_forote tndul ee jeder
berbanten ihren ZWeltruf der muftergiltigen —
vorzüglichen Dualität und großen — wriche
von jeper alle deren Fabritate auszeichnen.
Koftenfreier Unterricht In D, modernen Runftftiderel.
Singer @o. Nähmafhinen dct.Gef., Hamburg.
Berlin, Kronenstr. II = Leipzigerstr. 86.
Kaiser Wilhelms-Spende,
Ageneine Yentfge Stiftung für Alters-Benten- und Kapitel-Yerügeruug,
erfichert foftenfrei Iebenälänglice Renten ober das entfpredende Kapital, yahlbaz
Fade Beim Beptun be$ 50. Sehengjaßres aber Ipler, gegen Zulagen von
[ Slae, die joe Bit In brichiger Anjaht gerad border I
Auskunft erteift und Prudfacgen verfendet
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Potsdamerstr. taac., Gartenhaus IL. | aftor @eifler, Berunabt M., Tel,
Sprechstunde 2-4. == au fenden.
„Die Fran‘ Tann duch jede Buchhandlung im In- und Anslande oder burd)
die Poſt (Poftzeitungslifte Nr. 2586) bezogen werden. Preis pro Buarlal 2 TMR.,
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Berantmortlih für die Rebaftion: Helene Zange, Berlin — Berg:
B. Roefer Bughandlung, Berlin &,
di DB. Moefer Budbruderei, Berlin 8.
Gouvernantenbriefe. 451
Wenn von Goethe, zum Beifpiel, werden fie gleih an Fauft denken und an bie
bübjche Scene mit Gretchen, die id) ihnen, ein wenig arrangiert, vorgeleſen habe.”
„Arrangiert?“ wiederholte ich. „Diefes Arrangenıent Tann Ihnen nicht Leicht
geworben fein.“
„Im Gegenteil, ganz leicht. Ich laſſe Fauft fagen: ‚Mein fchönes Fräulein
darf ich wagen, Ihnen meine Hand anzutragen?‘ Gretchen antwortet: ‚Bin weder
Fräulein, weder ſchön, kann unverheiratet nachhaufe gehen,‘ und alles ifL in Ordnung.“
„Merkiwürdig. So etwas wäre mir nie eingefallen.“
Beil Sie feine Kinder haben. Wer Kinder bat, dem kommen ſolche Eingebungen
von felbft. Meine Freundin, die von der Dreftie, verwirft den Bildungsihwindel für
Mädchen per Baufh und Bogen. Frauen brauchen feine Gelehrfamteit, jagt fie, das
viele Lefen verdirbt ihnen nur die Augen, und gefcheiter werden fie davon doc) nicht.
Ich gebe das nicht zu, ich fage: meine Töchter follen Bildung haben umd ihre
Dichter kennen. Aber“ —
„Aber Führerin auf dem Parnaß find Sie,” fiel ich ihr nicht ſehr artig ind Wort.
„Bin ich!“ beftätigte fie unbefangen. „Sch forge dafür, daß fie Notion von
allem haben und daß ihre Phantafie doch nicht Schaden leidet. Ich made das fo.”
Sie holte ein Buch herbei, eine Anthologie und ließ mich darin blättern, und ich
konnte mich einer gewiſſen Bewunderung nicht erwehren. Mütterliche Sorgfalt und
mötterliche Geduld Hatten da eine Klofterarbeit verrichtet. In biefer Sammlung
deutſcher Lieber waren die Worte: Geliebter, Liebchen, und die: Liebe, Leidenfchaft,
Verlangen, und fo weiter! mit Zettelchen überklebt, auf denen ein anderes Wort ftand.
Es bezeichnete eine preiswürdige Empfindung: Frömmigkeit, Freundſchaft, Pflichtgefühl,
oder einen Verwandtſchaftsgrad.
Der Väter, Mütter, Brüder, Schweſtern, beſonders aber der Onkel und Tanten,
die auf den früheren Plägen der Liebchen und Geliebten jaßen, waren unzählige.
Zum Beifpiel hieß es — ich glaubte Heine in feinem Grabe ftöhnen zu hören:
„Lieb Tantchen, leg's Händchen aufs Herze mein“ ... Für den Oheim pflüdte
Lenau in fremder Ferne eine Roſe umd bedauerte, ſich zu weit ins Land gewagt zu
haben, um fie dem Teuren noch blühend überreichen zu können ... Nicht einmal
der Toggenburger blieb von diefer Sippen-Epidemie verſchont. Ich las: „Ritter,
treue Schwefterliebe widmet Euch dies Herz, fordert feine Mutterliebe, denn es macht
mir Schmerz.”
„Hören Sie,” fagte ich, „das finde ich begreiflich; mit feiner Mutterliebe rüdt er
fie in Jahren doch gar zu weit vor. Aber, Scherz bei Seite, wozu alle dieſe
Falſchungen? Warum wird das hohe Lied des Lebens, fein Troft, fein Glüd, die
Liebe zwiſchen Mann und Frau aus der Welt der Vorftellungen eine jungen
Mädchens mweggeihaftt? Geſchieht das, um dieſes junge Mädchen zu einer Vernunft:
ehe zu präparieren? Sol ihm verheimlicht werden, daß man auch aus einem andern
Grund Heiraten kann als au Naifon? ... Sie werden noch bie Bibel ‚arrangieren‘,
um Ihrer Tochter weiß zu machen, daß Jakob die Rahel aus Raifon geheiratet hat.”
Da kam ihr ein nmedifcher Einfall: „Ich bin vom Gegenteil nicht überzeugt,
wenn ih an Labans große Herden denke!”
Wir gerieten in eifrigen, ganz fruchtloſen Streit. Jede von uns ftand unver:
rüdbar auf der breiten Bafis ihrer Überzeugung, und nach jedem Schlag, den die
eine aufs Haupt der andern geführt hatte, fühlte ſich die nur befeftigt in ihrer Pofition.
29*
Sansinsuftrielle Franenarbeit.
Bon
Dr. Robert Wilbrandt.
Nachdruch verboten.
B L
a3 ift denn Hausinduftrie? Iſt es fo viel wie Handwerk oder fo viel wie
Fabrifarbeit? Es ift eine Zwifchenftufe zwifchen beidem. Die Hausinduftrie
hat von der Fabrik die Eigenfhaft der Abhängigkeit des Arbeiters vom Unternehmer,
der die Probuftion leitet und den Abſatz vermittelt, vom Handwerk hat fie nur noch
die Eigenfchaft des Arbeitens in einem Raum, der nicht vom Unternehmer, fondern
vom Arbeiter felbft geliefert wird, fei ed nun eine Werkftatt oder Das eigne Heim,
die Wohnung.
Der Handwerker arbeitet für ben einzelnen Kunden, an den er felbft verkauft,
und er ift oft, als ber viel Begehrte, geradezu der Mächtigere; man kann lange
warten, bis er fi) endlich herbeiläßt, die verſprochene Arbeit zu liefern. Ganz anders
die Hausinduftrie: fie entftand, ald mit zunehmendem Verkehr nicht mehr nur für den
Kunden in der Stadt oder in der Nähe auf dem Lande, fondern mehr und mehr für
den Weltmarkt gearbeitet wurde. Da bedurfte ber Handwerler, der felten zugleich
aud ein ben Weltmarkt überblidender Kaufmann war, der Vermittlung eines gewandien
Händlers, der ihm den Abſatz feiner Ware ficherte.e So entitand, befonderd im
18. Jahrhundert, ein Verhältnis, in dem vielfach beide Teile, Handwerker und Händler,
zu ihrem Vorteil kamen. Aber als die allmählich überall durchdringende Gewerbe:
freiheit mit den alten Zunftmißbräuchen mehr und mehr überhaupt alle Schranfen
befeitigte, die der freien Entfaltung des Erwerbsfinnes im Wege geflanden hatten,
traten an die Stelle des behäbigen Handwerkers nun Arbeitskräfte in Stadt und
Land, die für den Händler, den Verleger, arbeiteten und von ihm, dem Unentbehr⸗
lichen und durch feine Geldmacht Unabhängigen, in gänzliche Abhängigkeit gerieten.
Das ift Hausinduſtrie.
Wo die Mafchinenkraft noch billiger arbeitet als die billigften Hände, wurde
meift die Fabrik daraus. Wo aber die Leitung durch den Unternehmer und eine
gewiffe Arbeitsteilung genügte oder wo der Übergang zum Fabrikbetrieb zu viel
Schwierigkeiten machte, blieb es Hausinduſtrie. So ift es Heute noch, ſowohl auf
dem Lande wie auch in der legten Zeit befonder3 in der Großftadt. Und von jeher
war es die Frauenarbeit, die zum Entſtehen der Hausinduſtrie beitrug: von ben
Zünften ausgefchloffen, arbeiteten die Frauen außerhalb der Werkftatt des Handwerks-
meifter3 in der eignen Wohnung für den Verleger, und auch heute ift es das Angebot
der vielen Taufende von arbeitfuchenden Frauen, das in den großen Städten die
Hausinduftrie entftehen läßt. AU die Frauen und Töchter der Arbeitermaffen, die fich
454 Haußinduftrielle Yrauenarbeit.
um die Fabrifen der Großftäbte ſammeln, dazu noch die vielen Dienſtmädchen, Die
vom Land in die Stadt bereinfommen, aber fpäter, um ber „Freiheit“ willen, in Die
Sklaverei der Konfeltionghausinduftrie übergehen, al dieſe vermehren täglih das
Angebot weiblicher Arbeitskräfte: unternehmende Kaufleute haben diefe Maſſen billiger
und gewandter Hände ergriffen und Baben fie angelernt, manchmal auch in Fabrif-
betrieben, die in Hauginduftrie aufgelöft wurden, jobald ein Stamm von gelernten
Arbeiterinnen vorhanden war, und fo Haben wir nun die berüchtigte Hausinduftrie
mit ihrem sweating-system, ihrem Auspreffen und Ausfaugen der wehrloſen Arbeits
fraft, in Berlin wie in London, in jeder Großftabt wie auf den abgelegenen Höhen
der Gebirge.
Frauen und Kinder find die gebornen Opfer dieſes Vampyrs. Meiſt geht der
Mann einem Beruf nach, der ihn außer dem Haufe befchäftigt; die rau aber fucht,
da der Lohn des Mannes zur Ernährung der Familie oft nicht außreicht, nad) einem
Nebenerwerb: entiweder fie gebt auf Arbeit wie der Dann, in die Fabrik oder in
andre Arbeitägelegenheit außer dem Haufe, die Kinder können inzwilchen zu Haufe
fterben und verderben; oder fie ergreift irgend eine Arbeit, die fie zu Haufe betreiben
fann, ohne die Kinder und die Wirtichaft zu verlaffen, und es iſt begreiflich, daß eine
Mutter dies meiſtens vorzieht. Leicht ergiebt fich dann, daß die Kinder ihr helfen —
ein fehr liebliches Familienbild, aber nicht ganz fo ſchön in der Wirklichkeit.
Wil man dieſe Heimarbeit von Frauen und Kindern bejeitigt oder wenigſtens
auf ein erträgliches Maß eingefchräntt jehen, jo muß man jelbitverftändlich vor allem
die Lohnbewegungen unterftügen, durch die die Arbeiter, die Familienväter, fich
einen Lohn zu erringen fuchen, der zur Ernährung der Familie ausreicht. Der
durchſchnittliche Jahreslohn unferer Arbeiter ift 6—700, in der Großftabt
8—900 Mark; davon kann die Familie nicht leben. Wollen wir aljo die Mütter
und Kinder (eine Million Kinder, vom vierten Sahre an, find erwerbsthätig in
Deutichland) von der Erwerbsarbeit befreien, wollen wir ein gejundes Familienleben,
gefunde Mütter und Kinder haben, fo kann die Grundlage dafür, der ausfömmliche
Lohn des Familienvaters, nur durch die gemwerkichaftlichen Organifationen der Arbeiter
erziwungen werden. Aber ebenjo, wie die Frauen bei Krankheit oder Invalidität des
Mannes troß aller Arbeiterverficherung zur Ermwerbsarbeit gezwungen find, werden
e3 die zwei Millionen Witwen auch dann noch fein, wenn die dringend notwendige
Witwen: und WWaijenverficherung ihnen einen gewiſſen wirtſchaftlichen Rückhalt
gewähren wird. Man hat berechnet, daß eine Witwen: und Waijenverficherung für
den Arbeiterjtand, mern jede Witive 80 und jede Waife 40 Marf jährlich erhält, zur
Zeit ihrer volljtändigen Durchführung jährlih 111 Millionen Mark koſten wird.
Diefer Betrag jollte meiner Anficht mindeftens verdreifacht werden; aber jelbit dann,
beit einem jährlichen Aufwand von 333 Millionen Mark, können die Witwen von
ihren 240 Mark und die Waifen von ihren 120 Mark langfam verhungern, aber
nicht leben. Die Mütter müfjen daher erwerben, und wenn fie nicht die Kinder
gänzlich fremder Pflege und Erziehung überlaffen wollen, jo kann ihr Erwerb nur
Heimarbeit fein, wenigſtens in der Induſtrie. Nur fozialdemofratifche Unnatur, Die
Mutter und Kind zu trennen leichthin bereit ift, Tann von der Abfchaffung der Heim:
arbeit phantafieren. Nicht Abichaffung, aber Reform thut bier not, ftarfe ftaatliche
Reform, denn die Heimarbeit, wie fie jegt ift, fteht allerdings an Scheußlichfeit noch
tief unter der gebrüdteften und ausgebeutetſten Fabrikarbeit.
Haudinbuftrielle Frauenarbeit. 455
Um diefe beftehenden und täglich weiter freffenden Zuftände an der Hand
unanfechtbarer amtlicher Erhebungen fchildern zu können, greife ich zunächfi nach den
Berichten der k. k. Gewerbeinfpektoren über die Heimarbeit in Öfterreich, herausgegeben
vom k. k. Handelsminifterium (Wien 1900). Aus dem erften Band, der bie Heim-
arbeit in Böhmen behandelt, hebe ich nur das Wichtigfte von dem heraus, was über
hausinduſtrielle Frauenarbeit darin mitgeteilt wird.
Beginnen wir, der Einteilung des Buches folgend, mit der Edelfteinjchleiferei.
Sie ift Hier noch Handarbeit, während die auslandiſche Konkurrenz ſchon Maſchinen
anwendet, und kann daher nur durch ihre niedrigen Löhne mit der Mafchine in
Wettbewerb treten; die Schmutzkonkurrenz kapitalſchwacher Geſchafte, die nur durch
Lohndrud neben den großen Unternehmungen auffommen können, hat die Löhne noch
weiter zum Sinken gebracht: der Tageöverdienft ift jegt höchſtens 30 Kreuzer
(= 50 Pfennig) täglih, ja in der Granatichleiferei verdient der Mann jährlich
100—120, die Frau jährlich 60 fl., alfo durchſchnittlich für den Tag 15 Kreuzer
(= 25 Pfennig). Um das zu verdienen, wird von früh bis fpät, vor dem Liefertag
die Nacht durch gearbeitet; die Frauen unterbrechen die Arbeit nur für die dringendſten
häuslichen Pflichten. Wo ein Heiner Landbefig vorhanden ift, beforgt die Frau bie
Landwirtſchaft, und der Mann fchleift allein; in der Nähe der Stadt gehen bie
Frauen in die Fabrit und helfen abends nad Schluß der Fabrifarbeit dem Mann
zu Haufe beim Polieren der Steine.
Gewiß ift es der Gipfel des Widerfinns, daß der Mann zu Haufe arbeitet und
die Frau in der Fabrik, und ftaatlicher Zwang, zum Fabrikbetrieb überzugehen, muß
diefe Heimarbeit der Männer, die durch und durch nur ſchädlich ift, befeitigen. Aber
noch ärger ift e8 in der Glasfchleiferei und Glasmalerei: die Frauen beforgen
hier die Reinigung, dad Verpaden und den Transport des Glafed, faft den ganzen
Tag über fchleppen fie Körbe von 30—50 kg Gewicht weite und befchtverliche Wege,
„ohne Rüdfiht auf die Witterung und auf ihren phyſiſchen Zuftand. Jedermann
muß ſich die Frage vorlegen: wie fteht es da mit der Familie, wie kann da ein
Haushalt ökonomisch und gedeihlich geführt werden, wie fann bie von ſolchen zer:
marterten Frauen ftammende Generation befchaffen fein, wie geftaltet fich die Erziehung
der Kinder?” Go fragt der Gewerbeinfpektor, und er fügt Binzu, daß wenig Kinder,
aber Erkrankungen der mannigfachſten Art die „probuftive Thätigfeit” diefer Frauen
begleiten. Die Frau als Laftträgerin, der Mann zu Haufe bei einer Arbeit, die ber
Gewerbeaufficht bebürfte, damit nicht mehr durch anſteckende Lungenleiden das 30. Lebens⸗
jahr die normale Alterägrenze bilde — dazu das fortwährende Hin- und Herichleppen
der zerbrechlichen Glaswaren: nicht die paar Bänke zum Abjegen der Nüdenkörbe,
durch die man den Frauen die weiten Wege zu erleichtern gefucht Hat, fondern die
Errichtung von Fabriken allein kann bier Helfen. Für die Arbeiter würden fie ver
doppelte Löhne, verkürzte und geregelte Arbeitszeit, gleichmäßige Beichäftigung, Unfall»
und Krankenverfiherung, Schonung der Frauen und Kinder, gefunde Werfftätten und
Wohnungen bedeuten.
Bei den Perlenarbeitern fteht dagegen ber Lohn im Vordergrund, ber durch
die Konkurrenz der Erporteure von Stufe zu Stufe herabgebrüdt worden iſt. Außer
den Frauen arbeiten hier auch Kinder mit, die „vor und nad dem Schulunterricht
täglich bis 9 und 10 Uhr abends, bei größeren Beftelungen auch länger arbeiten,
in vereinzelten Fällen fogar bis 3 Uhr früh.” (Allerdings ift dies noch wenig im
Hausinduſtrielle Frauenarbeit. . 457
abwechfelnd, „je 12 Stunden, fo daß ſich der Webſtuhl ohne Unterbrehung im Gange
befindet. Es wurde Eonftatiert, daß in einem Falle der Mann von 6 Uhr früh bis
6 Uhr abends und die Frau von 6 Uhr abends bis 6 Uhr früh den Webſtuhl
bediente. In einem andern Fall fing der Weber die Arbeit um 2 Uhr nach Mitter:
nacht an und übergab den Webftuhl um 6 Uhr abends feiner Ehefrau, welche bis
1 Uhr nachts weiter an dem Webftoffe arbeitete.” Dazu kommt das Kohlenoxydgas,
das den ſchadhaften Rauchichloten entftrömt, und der Qualm der Lampe: in folder
Luft verbringen bie Familien ihr ganzes Leben, die Kinder fiechen dahin von der
Geburt bis zum Tode, die dumpfe, warme Stubenluft wird ihnen Bebürfnis, fie
entarten und find „infolge jahrelanger fchlechter Ernährung“ zu andern Berufen meift
zu entkräftet. „Wenn 21 mal Wailerfuppe und 21mal Kartoffeln gegefien find, fo ift
die Woche weg“, ift ihr Sprichwort. „Der widerwärtige Eindruck, berichtet der
Gewerbeinfpeftor, welchen man beim Betreten einer derartigen Wohnftube gewinnt,
wird ein förmlich efeferregender, wenn auch Unteinlichfeit angetroffen wird, welche ſich
in manden Weberfamilien gewöhnlih auf die Dauer der Winterfaifon, während
welcher fieberhaft gearbeitet werden muß, eingeniftet hat. Während dieſer Zeit wird
die Stube nur felten gelehrt, gereinigt und gewafchen, und auch bie Bett: und Leib:
waſche der Familie wird der nötigen Reinigung feltener unterzogen, weil die Ehefrau
des Webers fleißig fpulen muß, um bem Weber die nötigen Schußgarne
ſtets rechtzeitig in verwebbarem Zuftande zur Verfügung halten zu Können.“
Die Männer wandern vielfach nach deutfchen Webefabrifen, und wenn's gelingt,
unterftügen fie die Daheimgebliebenen; aber oft find fie zu entkräftet für bie intenfive
Arbeit in der Fabrik und ehren frank zurüd. Daher find Cigarrenfabriten für
ſolche Webergegenden ein Segen: fie bieten den Männern, Mädchen und Frauen
— ben legten beſonders ald Cigarrenhausinduftrie — einen nicht zu anſtrengenden
und bedeutend beſſeren Verdienſt.
Über die Zwirn- und Leinen-Knopfherſtellung, die nur Kinder und
Frauen zu Haufe betreiben, wird und aus dem Budweiſer Auffichtsbezirt von
800 Arbeiterinnen berichtet, die bei elfflündiger fleißiger Arbeit höchſtens 16 Kreuzer
täglich verdienen; ſolche Knöpfe haben wir an unferer Waſche.
Sind es die Händler oder Verleger, die die Löhne fo tief gedrüdt haben oder
wenigſtens, der Konkurrenz nachgebend, fo tief haben ſinken laffen, und ftedt.auch der
Faltor oft einen großen Teil des Arbeitslohns in feine Vermittlertafchen, fo thut auch der
Staat das Seinige, um den Ärmſten und Ausgebeutetften zum Bewußtſein zu bringen,
daß bie Gerechtigkeit über ihnen waltet. So berichtet und der Geiwerbeinfpeftor von
einem Mann, der täglich 30 Kreuzer, alfo im Jahr 90 fl. verdient; davon zahlt er
9 fl, alfo 10 Prozent, Erwerbsſteuer. Außerdem befigt er ein Haus, das er zur
Hälfte felbft bewohnt und zur Hälfte für 36 fl. jährlich vermietet, von dieſen 72 fl.,
die das Haus ihm trägt, zahlt er 17,55 fl. Steuer und 2,10 fl. Gemeinbeumlagen;
er zahlt fomit 19,65 fl. oder 27 Prozent Hausfteuer. Bon feinem Gefamteintommen
von 126 fl. nehmen ihm alſo die Steuern 28,65 fl., das ift faft den vierten Teil
feines Einkommens, ganz abgefehn von der indireften Befteuerung, die allerdings bei
der außfchließlichen Kartoffelnahrung wenig ausmacht. Seine Frau, die mit Haushalt
und Kind viel zu thun hat, verdient mit der Ausfertigung von Stridereimaren täglich
höchſtens 6—7 Kreuzer, aljo im Jahr 21 fl. Diefe 21 fl. find anfcheinend nicht
befteuert, was einen eigentlich wundern muß.
458 Hausinduftrielle Frauenarbeit.
Im allgemeinen günftig ift die Sandmafchinenftriderei, die geradezu wie
geichaffen ift zur weiblichen Heimarbeit. Hier verdient die Frau fogar oft mehr als
der Mann: 3. B. der Mann als Taglühner jährlich 120 fl.; die Frau ald Striderin
jährlich 121 fl. Allerdings find auch hier, infolge der Konkurrenz unter der zunehinenden
Zahl von Striderinnen, die Löhne in den legten zwanzig Jahren auf bie Hälfte
geſunken. Trotzdem fann ein Striderin wöchentlich 3 fl. verdienen, während ihr Mann,
als Heimarbeiter einer Schuhtwarenfabrif, nur 2,50 fl. einnimmt.
Kommen wir nun endlih ins Erzgebirge und auf den Böhmerwald zu ben
15 000 Spißenflöpplerinnen, die troß der erbrüdenden Konkurrenz der Mafchinen=
Ipige bei der altgetwohnten, von Kindheit an geübten Spigenflöppelei geblieben find,
jo finden wir bier zwar Klöppelfchulen, aus Staatzmitteln oder von gemeinnügigen
Vereinen gegründet, die die Technik verfeinert und damit auch die Preife gehoben
haben, da dieſe funftuolleren Mufter der Konkurrenz der Mafchine entzogen find; aber
im allgemeinen berichtet ung ber Gemwerbeinjpeftor: „nach Abrechnung ber ca. ein
Sechſtel des DVerdienftes betragenden Auslagen für Zivirn oder Seide fann der Durch:
Ichnitt8verdienft einer ganzjährig arbeitenden Perfon mit 30 fl. pro Jahr taxiert
werden.” Die Wohnungsmiete verfchlingt vielfach den ganzen Jahresverdienſt einer
Perfon. Da die Frauen mit der Wirtfchaft viel zu thun haben, klöppeln vor allem
die Mädchen, die aber auch meift uneheliche Kinder haben, To daß bie Familien im
Durchſchnitt 10, oft 12—15 Köpfe zählen. Der Kinderſegen fteigt mit den finfenden
Löhnen. Die Bevölkerung entartet, durch die fchlechte Ernährung, das enge Wohnen,
die Kinderarbeit und durch das Klöppeln ſelbſt, bei dem die Mädchen oft 15 Stunden
lang vorgebeugt und faft unbeweglich ſitzen müffen. Bei der Gorlnäherei (Bola-
mentenherftellung), die von den Stlöpplerinnen vielfach betrieben wird, ſobald die
Marktlage dafür günftiger ift, wird der Lohn gedrüdt durch die vielen, neben
erwerbenden Birrgersfrauen, denen e3 auf die Höhe des Lohnes fo genau nicht anfommt ;
dennoch ift er beſſer als beim Spitenflöppeln.
Im Bergleich mit den übrigen Erzgebirglöhnen verhältnismäßig günftig geftellt find
die Heimarbeiterinnen der Handichuhinduftrie, jedenfall3, weil diefe Induftrie noch nicht
jo eingebürgert ift und daher noch Fein fo unbefchränftes Arbeitdangebot zur Ver:
fügung bat. Denn nicht die Leiftung und-nicht dag Maß deflen, was zum Xeben
nötig ift, jondern nur Nachfrage und Angebot beſtimmt die Höhe oder vielmehr
Niedrigkeit des Lohnes. Wie in der Politik, fo entjcheidet auch im Wirtjchaftsleben
nur die Macht, aber nicht eine Macht, die der Gerechtigkeit ihren Arm leiht oder
doch wenigſtens dem Sklaven das zur Lebenzfriftung Nötigfte zumeift, ſondern ber
Herr ift der wirtichaftlich Stärfere, das ift der Neichere und Gefchäftsgeiwandtere.
Er kann in Ruhe berrjchen, denn daß der wahrhaſt Stärkere, die auggebeutete Maffe,
einmal die Fäuſte ballt und ihn niederichlägt, das verhütet der Staat. Der Staat
ihügt gegen die Gewalt der Körperkraft, aber nicht gegen die Geivalt des Geldes
und der gewiſſenloſen Echlaubeit.
Am klarſten offenbart das der Bericht des Gewerbeinſpektors über die Stiderei.
Nur ein Drittel oder ein Viertel dr3 Lohns wird vom Unternehmer in bar aus:
gezahlt, der Neft muß in Waren bezogen werden, von den Unternehmern (Verlegern)
oder von ihnen befreundeten Firmen, wo bereitwilligit Kredit gegeben wird: „Blieb
die Stiderin einmal ſchuldig, jo muß fie fich mit jedem ihr gebotenen Arbeitslohn
begnügen, jonft wird in rüdfichtzlofefter Weife auf Bezahlung der Schuld gedrungen.”
Hausinduftrielle Frauenarbeit. 459
„Überall wurde die Klage laut, daß den Stiderinnen Waren von Außerft ſchlechter
Qualität um einen weit höheren Preis verabfolgt werden als dies in jedem anderen
Kaufladen der Fall iſt.“ „Die Stiderinnen find gegenüber einer derartigen ſchranken—
und gewiffenlofen Ausbeutung gänzlich machtlos und müſſen fich diefe deshalb ger
fallen laſſen, weil bei dem in der dortigen Gegend bejtehenden Überfluß an Stiderinnen
nur ſolche Perfonen dauernd beichäftigt werben, welche auf Entlohnung in barem
Gelde Verzicht leiften.“ Diefes „Trudiyftem“, die Bezahlung in Waren flatt in
Geld, wird und von den Gewerbeinipeltoren aus Böhmen vielfach gemeldet; bei
und feheint es durch das gefeßliche Verbot mehr und mehr verbrängt worden zu fein.
Aber typiſch auch für unfere Verhältnifje ift der Lohnraub, den und der Gewerbe:
infpeltor ſchildert: troß der mangelnden Ausbildung (eine Fachfchule fehlt dort)
werden von den Stiderinnen oft vorzügliche Leiftungen, Prachtwerke in Stidereien,
geliefert, fo daß den Unternehmern für das Stiden von Damenausftattungen nicht
felten 1000—1500 fl. gezahlt werden — aber nur den Unternehmern! Denn es
werben „für die reiche Stiderei an Bruftbefägen bei Damenhemden den Arbeiterinnen
18—60 Kreuzer Arbeitslohn gezahlt, während dem Konfumenten hierfür 3 fl. bis 5 fl.
pro Std aufgerechnet werben.” Für das Stiden funftvoler Monogramme bekommt
der Arbeitgeber 3.8. 1 fl. und zahlt dafür der Stiderin bloß 30 Kreuzer. Über das
Stiden felbft berichtet der Gewerbeinfpeltor: „Das Stiden ift eine ſehr mühevolle
Arbeit, die, wenn fie 12—16 Stunden täglich ununterbrochen bei gebüdter Stellung
des Oberkorpers und eingebrüdter Bruft ausgeübt wird, von außerſt ungünftigem Einfluß
ſelbſt auf gefunde Naturen ift. Insbeſondere ftrengt das Stiden zumal bei ungenügender
Beleuchtung die Augen in hohem Grade an. Mit dumpfiger Luft erfüllte, räumlich
ſehr befchränfte, nie ventilierte Arbeitölofale, mangelhafte Beleuchtung, insbeſondere
während der Wintermonate, wo die Hälfte der Tageszeit hindurch bei der qualmenden
PVetroleumlampe gearbeitet wird, unzureichende Kartoffelfoft abwechſelnd mit ſchlechtem
Kaffee, das ift in großen Zügen das getreue Bild de Dafeins diefer Heimarbeiterinnen,
die ſich im beften Fall einen Tageloen von 3U—50 Kreuzern verdienen. — Es wurde
anläßlich der Erhebungen die Wahrnehmung gemacht, daß diefe Arbeiterinnen binnen
wenigen Jahren nicht nur fehr kurzfichtig werden, jondern auch fi Verknöcherungen
der Halsmuskeln zuziehen, fo daß fie den Kopf nicht mehr aufrecht zu halten ver:
mögen. Hinzu gefellen fich fehr bald au Magen: und Bruſtbeſchwerden, welche bie
Gefundheit der Stiderinnen vorzeitig untergraben.” So wird und aus den Bezirken
Chrudim und Parbubig berichtet, im Erzgebirge ift e3 noch ärger, denn die Hand»
ftiderinnen verdienen Hier täglih nur 18—30 Kreuzer. „Die Ernährung entipricht
diefen geringen Verdienften und befteht nur aus Erbäpfeln, Brot und SKaffeefurrogat
abſud.“ Wir können uns nicht damit tröften, daß der Lohn der Dafchinenflider
bedeutend höher ift, daß eben die Handfliderei durch die Mafchine verdrängt wird;
fondern es find vielfach wertvolle Runftftidereien — nur der Lohn fließt in die
Tafche des Händlers.
Damit möchte ich fchließen. Die Prager Lederhandſchuhinduſtrie, bie viele
Taufende von Heimarbeiterinnen und Heimarbeitern beichäftigt, die Prager Kleider
und Wäfchelonfeltion, die Kunftblumeninduftrie und die Bildermalerei, bei der das
Grundieren den malenden Frauen zu allem übrigen Bleitveipvergiftungen zuzieht —
alles das übergehe ich, denn es ift in verſchiedenem Nahmen überall dasſelbe Bild.
Das Topifche der Hausinduftrie fennen wir ja nun: wehrlofe Abhängigkeit vom Der:
460 Ein Gymnaſium für Bauernmäbchen in Rußland.
leger, Zabrifanten, Händler, oder wie der Unternehmer gerade heißen mag, und
gänzliches Fehlen aller Schußgejege, wie fie für die Fabriken vorbanden find. Geſetz⸗
liche Beichränfung der Arbeitszeit ift felbftverftändlich hier unanmwendbar, die Kontrolle
it unmöglich; auch hygieiniſche Beitimmungen wären nur eine Plage für die Leute,
wenn man ihnen nicht das Geld in die Hand giebt, fie befolgen zu können. Die
Verleger allerdings könnte man für die Arbeitsräume verantwortlich machen. In
eriter Linie aber ftebt der Lohn und die VBorbildung: wie der Staat da eingreifen
fann und ſoll, darüber möchte ich in einem zweiten Aufſatz fprechen, der die haus⸗
induftrielle Frauenarbeit innerhalb der ſchwarz-weiß-roten Grenzen behandeln joll. Ich
hoffe, man zieht aus dem, was ich heute nach den amtlichen Berichten aus Böhmen
mitgeteilt habe, nicht den Schluß: wir Deutjchen find doch befjere Menſchen. Es ift
bei ung nicht anderd. Aber e8 muß anders werden.
Lin Gymnaſtum für Vauernmädchen in Rußland.
Von
Mm. Behmerfny.
Nachdruck verboten. | Burner
Ayo verfchrt es wäre, „höhere Töchter” Fünftlich zu züchten, jo ungerecht fcheint
es, den begabten Kindern des Volks den Bildungsiveg zu verjperren. Amerika,
Skandinavien und Finland haben bereit? bedeutungsvolle Schritte gethan zur
Förderung der höheren Schulbildung unter dein Volke. In Frankreich und bei und
in Deutichland forgen die Fortbildungzichulen in gemwiffen Maße für die fortgejehte
unterrichtlicye Einwirkung auf die heranreifenden und der Elementarjchule entwachjenen
Schülerinnen. In Rußland jedoch, wo die Volksſchulbildung noch nicht obligatoriſch
ift, giebt e8 nur wenig Bildungsmöglichkeit in den entlegenen Fleden und Dörfern.
Wie ein Märchen muß uns daher ein ruſſiſches Gymnafium für Bauernmädchen
vorfommen! Und doch ift es unlängft Thatjache geworden. Sin der Kreizftadt Orlow
des Gouvernements Wijatka follte vor ca. 6 Sahren eine Bolksfchule für die Mädchen
der umliegenden Dörfer eröffnet werden. Da die Etadt, die zum großen Teil von
Handwerkern und Gemwerbetreibenden bewohnt ijt, fein ſtädtiſches Mädchengymnaſium,
jondern nur ein Privatpenfionat beſaß, To faßten die Vertreter der „Semſtwo“ oder
der landichaftlichen Ortsabininiftration den Beichluß, ein Mädchengymnafium ins Leben
zu rufen. Der Vorfchlag fchien einem tief im Herzen der Bevölkerung Ichlummernden
Bedürfnis zu begegnen. Bon Nah und Fern gingen der „Semſtwo“ Geldjpenden
mit dem Geſuch zu, die höhere Mädchenjchule von Gemeinde wegen jchleunigft zu
Ichaffen und fie nicht erft als ein Geſchenk von der Regierung zu erbitten.
Beflügelt von den Wünfchen der Bildungsdurftigen kam das achtklaſſige Mädchen:
gymnaſium?) bald zu ftande, und von den 200 Schülerinnen find 190 wahre Kinder
1) Unter ruffiiden Mädchengymnaſien find unſere höhern Mädchenjchulen zu verftehen, denen
neuerdings eine Lateinklafle, wie in dem Stajunia-Öymmafiun zu St. Petersburg, beiarfügt wird. Alle
entlaffenen Gpmnaftaftinnen find zum Eintritt in die „büberen weiblichen Kurje“ und auch in die
„medizinischen Kurſe“ berechtigt und künnen das Gramen für Yatein ſpäter ablegen, fofern es noch nicht
zu ihrem fchulplanmäßigen Lehrſtoff gehörte.
Berföhmung. 461
des Volles, Bauernmäbdchen, die den Namen der Anflalt „Bauerngymnafium“ voll:
tommen rechtfertigen. Mehrere Werft weit kommen die Lerneifrigen durch Wind und
Wetter, durch Schnee und Eis merktäglich nach dem Gymnaſium, das ein ganz anderes
Bild als jede andere höhere Tüchterfchule bietet. Hier find keine bleichfüchtigen Stadtlinder
mit feinen Kleidern und hohen Abfägen zu ſehen, fondern frifhe Bauerntinder, die
ohne Korſet, mit einfachen Bauernſchuhen und dem bunten Kopfiuch auf dem Flachs—
haar in aller Herrgottäfrühe mit ihrem Bücherbündel zur Stadt wandern. Um auch
den Unbemittelten den Beſuch bed Gymnafiumd zu ermöglichen, ift das Schulgeld
auf nur 3 Rubel = 6 Mark das Jahr feftgefegt. Im Anſchluß an das Gymnafium
ift neuerdings auch ein Penſionat gegründet, damit den weiter von ber Etadt
mwohnenben Soglingen ein dauerndes Aſhl geboten werde. Die Bauern können alle
Viktualien für ihre Kinder fchiden und brauchen für die Aufficht nur 60 Kopeken
— 1,20 Mart — monatlih als Penfion zu zahlen. Es ift bemerfenswert für die
Begabung und den Fleiß der ruffiihen Bauernmäbchen, daß alle Schülerinnen des
Progymnafiums auch den Schulbefuch in den höhern Klaſſen fortfegten. Und ebenfo
fennzeichnend für das geiftige Etwachen der Bauern zum gefunden Verfländnis ift
der Umftand, daß die ganze „Semſtwo“ von Drlow, die aus Bauern befteht, einmütig
den Plan des Mädchengymnafiums unverzüglich in die That umfegte und dem Antrag
um die obrigfeitliche Veftätigung ein. fehr wichtiges Moment zu Grunde legte. Die
„Semftwo“ wies nämlich nad, daß dem Mangel an Bolksfchullebrerinnen und
gebildeten Landwirtinnen gar nicht beſſer und glüdlicher abgeholfen werben könne, als
dur die zwedmäßige Erziehung begabter Bauernmädchen, die eng mit der Scholle
verwachſen, das Bauernleben und die ländlichen Vebürfniffe von Grund aus kennen
und von der Liebe für den Boden und das Volt durchdrungen find. Diefe Behauptung
bat fih auch wirklich bewahrheitet. Die Gymnafiaflinnen, die nicht grade auf eine
frühe Heirat ausgeben, find faft alle geneigt, fich dem Lehrfach oder der Landwiriſchaft
ober dem neuen fombinierten Berufe der landwirtſchaftlichen Voltsfchullehrerin zu
widmen.
So ſcheint das weibliche Bauerngymnaſium eine gute Bildungsftätte werden zu
—X von der Kultur und auch die Erſchließung neuer praktiſcher Frauenberufe aus:
gehen wird.
ER
Ferfoͤhnung.
d £iebe macht uns reich und weit,
Erhebt uns über niedere Gewöhnung.
Die Sreien find zum Handſchlag ftets bereit,
Erwarten nicht für alles Löhnung.
Sie ſchieben auch den Groll beifeit,
Stets ringend nach des Menfchen Krönung,
Die Welt birgt foviel Bitterfeit —
Derfchließe nie dich der Derföhnung!
1.3.
— 2 N E00
Früßlingsgefchichte.
Und dann fam der Frühling, plötzlich,
faft ohne Übergang. Es war auf einmal ein
Stöhnen in ber Luft umd ein laues Wehen.
Das Eis auf den Flüffen hob fi und barft,
von ben Bergen rannen ſchmelzende Fluten,
überall tauchte die ſchwarze Erbe hervor und
überall hin füßten warme, brennende Sonnen⸗
ftrahlen. Und dann gefchah alles, wie es
jedes Jahr geſchieht. Mit prachtvoller, er:
habner Werbefreube fprengte bie Natur den
ftarren Todesbann und begann ihr Felt des
Lebens, unbefümmert darum, ob die Menſchen
gewillt waren, es mitzufeiern.
Und viele ſchauten gar nicht einmal danad)
bin und fpürten es nicht, daß ber Frühling
begann. Sie mußten vielleicht nur, daß der
Weg frei wurde zu den Gräbern, daß bie
Thränen, die fie die langen Monde hindurch
zu Haufe geweint, nun an ben ftillen Hügeln
fließen durften. Aber die Hügel umleimte
junges Grün. Und in den Kirchhofsbäumen
pfiffen die Amfeln. Und bie Tage maren
lang und arm, und die Zitronenfalter
gaufelten Durch bie Luft, und manchmal breitete
ein Trauermantel feine geheimnisvollen,
ſchwarzſamtnen Flügel aus. Und die klugen
Meifen zirpten und pidten mit ben ſpitzen
Schnäbeln an den aufbredhenden Baumfnofpen,
daß es ausfah, als wollten fie dem Frühling
helfen, die braunen Hülfen zu fprengen. Und
in der Luft war ein Duft von warm würziger
Erde und jungen Blüten.
Das ſchmeichelte ſich in die Einne, fo daß
mand) trauriges Auge fröhlich erftaunt Teuchtete, |
wenn unter wellen Blättern ein erftes Veilchen
mit feiner dunklen Blüte ftand. Ein Lachen
ſchwirrte durch die Luft, hie und da an ben
frieblichen Feierabenden, von Lippen, die lange
nicht gelächelt.
Herz und laufchte dem feltfamen Ton. Aber
wenn die Kinder durch die Straßen jauchzten
und die Loden ſchüttelten, die Kinder, die vom
Tod nichts mehr mußten, dann zog durch alte,
büftere Augen ein leifer Glücksſchimmer, und
jãh und verftohlen rührte fich in ſchmerzzerriſſenen
Herzen ein heimliches Entzüden, noch teil zu
haben am fonnigen Leben.
Und als der Mai fam, als der Frühling
al feine Fahnen ausgehängt hatte, als Iuftige
und warme Winde tofend durch die Blüten—
463
bäume fuhren, murde auf der Dorfwieſe
eine kleinen Fledens, den die Peſt am
ſchwerſten beimgefucht hatte, wie alljährlich
alles mit Bänten und Guirlanden zum Maien-
fefte vorbereitet.
Um diefe Zeit ſchritt ein junges Mädchen
einen hügeligen Pfad entlang dem Torfe zu.
Sie war groß und fräftig und atmete troß
des raſchen Echreitens gemach und langſam
Die Stirn hatte fie leicht gejenkt, ihr Mund
war ftreng und traurig geſchloſſen. Mandmal
bob fie gleihgiltig den Blid, mehr um des
Weges zu achten, ald um ben friedlichen
Nundblid zu genießen. Hie und da war ein
Bauer im Felde befchäftigt, der Waldrand
leuchtete im jungen Grün. Vor ihr lag, nun
der Pfad fi neigte, das Dorf mit feinen
Heinen, breiten Häufern und den Kronen ber
alten Linden. Auf der Wiefe ftanden ein
paar Leute, die auf und abſchritten, Pilöde
einfhlugen und miteinander fprachen.
ALS Urfel, das Mädchen, fie im Heran—
ſchreiten bemerkte, lam ihr erft flüchtig, wie
eine matte Erinnerung der Gedanke, es fein
im vorigen Jahre ihrer mehr geweſen, bie
alles zugerichtet; dann verbunfelte ſich ihr
Auge, denn ihr fiel num ein, es fei dies Jahr
kaum an ber Zeit, ein Maifeft zu feiern. Eie
ging aber gelaffen weiter und hatte andres zu
denfen, denn ſie mußte einiges beim Krämer
ausrichten und Flachs für die Bafe holen.
Indefien hörte fic bald ihren Namen rufen
und fah von der Wiefe eilig ein Mädchen
berantommen. Das war Dörte, ihre Spiel-
lameradin, bie, wie fie felbft, ihren Bräutigam
an der Peſt verloren hatte. Da blieb fie
ftehen, und Mitleid war in ihren Augen. Wir
; fennen am beften das Leid, das wir jelbft
Dann erſchrak wohl mandes "
gelitten. Dörtes Gefiht war heiß, und ihre
Augen hatten einen ftilen Glanz. Cie faßte
Urfels Hand.
„Man ficht dich felten im Dorf, Urfel,”
fagte fie freundlich, obgleich fie vor ber tiefen
Traurigfeit, die in dem Geficht der andern lag,
faft ein wenig zurückſchreckte.
„Und die Leute wollen tanzen?“ fragte
Urfel und fhaute zur Wiefe hinüber.
„Ja, wir werben tanzen,” erwiderte Dörte.
Urfel Tieß ihre Hand los und blidte fie an,
mit tiefem Staunen in den Augen.
464
„Du nicht, Dörte?” fragte fie langfam.
„Bir alle,” fagte Dörte. „Und bu follteft
auch fommen, Urſel. Du lebſt fo einfam mit
der Bafe, da wird das Herz immer ſchwerer
und trauriger. Sieh, das Leben ift doch noch
ſchön.“ |
„Ja, das Leben, aber der Tod” — fagte
Urfel flüftend, und ihre Augen fchauten
dunfel und entfegt in Dörtes frifches Geficht.
Eie fah in diefem Augenblid ein andres, das
war ftarr, bleib und verzerrt. Dörte er:
widerte ruhig ihren Blid. Über ihnen fchrieen
die Schwalben.
„Sb tanze mit dem Tilchlerfrit,” fagte
fie. „Wir heiraten im. Sommer.”
Jetzt Tachte Urfel, und dann ging fie, ohne
ein Wort zu jagen, die Dorfftraße meiter bin-
auf. Aber Dörte blieb an ihrer. Seite.
„Er bat mich inimer lieb gehabt, der
Tiſchlerfritz,“ erzählte fie, während ihr Atem
haftig kam und ging. „Und ich mag ihn jet
auch gern,” und dann, ald habe fie zu menig
gefagt, fügte fie nach kurzem Zögern binzu,
„ja, recht von Herzen.”
„Dann ift es ja gut,” fagte Urſel gelafien.
Aber Dörte faßte haftig nach ihrer Hand.
„Den Michel hab ich nicht vergeſſen, denk
dag nicht,“ murmelte fie. „Aber es iſt traurig,
einfam zu fein, wenn das Leben noch lang ift
und das Blut jung.“
Urfel erwiberte jetzt ihren Händedruck.
„Laß es nur gut fein,” fagte fie leiſe.
„Wenn bu ihn lieb haft und er dich, fo tanzt
nur und heiratet euch, das ift das Beſte.“
Ihre Lippen zitterten. Cie eilte rajch
voran und trat in den Laden des Strämers.
Hier forderte und zahlte fie und holte den
Flache für die Baſe. Dann nahm fie für
die Heimkehr einen Umweg um das Dorf
herum.
Es funkelte alles im erjten Keimen und
Blühben, ganze Stoßwellen warmen Blüten-
duftes ſchwellten durch die Luft. Über dem
flachen, fonnbejchienenen Feld tünte ein un-
aufhörliches Xerchengejubel. Urſel ging wieder
mit geneigtem Kopf und in tiefes Sinnen
verſenkt. Ihre rubevolle Traurigkeit mar
einem qualerfüllten Nachdenken gewichen.
Mer dem Tode fo nahe geitanden, wer
immer das Totenglödchen gehört hat, wer
Erde ruhen die Toten,
Frühlingsgeſchichte.
jeden Morgen mit der bangen Frage erwacht
iſt: wen trifft es heute?, wem endlich ein
liebes Leben um das andre entriſſen iſt
und ſchließlich das Liebſte, Einzige — der
findet das Leben ſchön, der fühlt, daß er jung
iſt, der wagt auf dieſem ſchwanken Boden
frevelnd nach neuem Glück zu haſchen! Und
kann glücklich ſein! Und tief in der dunklen
Tief, tief. Kein
Frühling, kein Licht, kein Hoffen für ſie. Sie
hören vielleicht nur, wie das Weinen ſich in
Lachen verwandelt, in lautes Freudengelächter.
Urſel erbebte. Ein Schauer überriefelte ſie,
als ginge fie nicht in wärmender Frühlings⸗
jonne. Sie ſpürte auch nichts von dem linden
Flüftern der Bäume, von dem verftohlenen,
koſenden Bogelgetriller. Ihr Mund war berb,
ihr Auge verbültert.
Der Weg ging jeßt ein wenig bergan und
führte in ein lichte® Buchengebölz voll hober,
junger Etämme Died Gehölz mußte fie
durchfchreiten, um zu dem Gehöft der Bafe zu
gelangen. Das lag weitab vom Dorf. Die
Peſt war nicht dorthin gefommen, aber nun
kam auch feine Freude, fein Leben, nun brütete
dort nur derfelbe Schmerz. Urſel blieb, als
fie in das Wäldchen voll würziger Düfte trat,
einen Augenblid ftehen und atmete die reine
Luft mit Erquiden. Dabei ſah fie gleichfam
mit Erftaunen, meil fte es vorher nicht bemerkt
hatte, den Himmel im farbigen Feuer ber
untergehenden Sonne. Auch ftanden an der
andern Himmelsſeite bleiche, leuchtende Wolfen:
züge, deren Schimmer einen Abglanz auf bie
Felder warf. Sie ftand eine kurze Zeit in
Anftaunen verfunfen. Über ihr flötete von
der Spitze eined® Baumes eine Amfel mit
ganzer inbrünftiger, Tehnfüchtiger Wehmut, in
ben Zweigen rajchelte es leife Wie von
hufchendem Leben.
Die Baſe faß vor ihrem Häuschen und
ſchaute friedlich in die Abendfonne Die
welfen, alten Hände hatte fie im Schoß ge-
faltet, an ihren Knieen rieb fih ein großer,
gelber Kater und fchnurrte behaglich. Als fie
Urfel von ferne erblidte, hob fie die Sand an
die Augen und fchaute nach ihr aus. Der
Kater aber fchlängelte feinen ſchönen Schwanz
und ging ihr langfam und vomehm ent:
gegen.
Frühfingögefchichte.
Das Mädchen trat mit furzem Gruß heran
und legte den Flachs und die Rrämerwaren
auf die Bank.
„Welch ein Frühlingstag das iſt,“ fagte die
Bafe, die ihr freundlich zunidte. „Der liebe Gott
meint e3 gut mit ung Alten. Im Ofen fteht
dein Süppchen. Geb, ib, du wirft müde fein.”
„Im Dorf richten fie das Maifeft,” fagte
Urfel.
„Das ift recht. Mit Freude loben wir
den Herm,” erwiberte die Alte,
Ein dunkles Zuden erſchien auf der Stimm
des Mädchens, als meine fie faft, hier fei
nichts zu Toben; dann fügte fie aber falt hinzu:
„Unb Dörte heiratet den Tiſchlerfritz“
„Gott ift gnäbig. Er tröftet die zerbrochnen
Herzen,” fagte die Bafe und fah mit fanften
Augen auf Urfel, während fie lind den Frühlings⸗
duft einatmete.
Die ſah fie mit brennenden Augen an,
dann wandte fie ſich ftumm ab und ſchritt in
das Häuschen. Hier ftand fie einen Augen:
blick reglos und preßte die Hände ineinander.
Wie ein Stöhnen fam es von ihren Lippen:
„Weshalb bift du gegangen, Franz? Ic
bin fo allein, — fo allein.”
* *
*
Es mar ein paar Tage fpäter, da fehritt
Urfel duch das Wäldchen. Auf der Hälfte
des Weges zwiſchen dem Dorf und dem
Häuschen der Bafe hatte ein Bäuerlein fein
Befigtum mit ein paar Kühen und Pferden.
Dorthin ging Urfel ab und an, um Milch zu
bolen. Auch heute war fie früh hinaus, zugleich
mit der Sonne, die milde und far aufging.
Ein ganz fanfter Morgenwind regte die jung:
begrünten Buchen, der Tau hing fatt und
ſchwer im Gras, ein Häglein fprang durch
das Unterholz und machte Männden. Vor
allem aber regten ſich die Vögel und zwitſcherten
und fangen.
Urſel ſchritt raſch und munter aus, ihr
Traftvoller Körper war nad der Nachtruhe
befonders friſch, die fhnelle Bewegung, bie jaft
noch etwas herbe Luft belchten ihn. Es war
wohl ſchwer, an biefem fonnigen Frühlings-
morgen nicht unwillkürlich auch vol ruhiger
Lebensfreude zu fein. Wie unbewußt drängte
fih ein Summen auf ihre Lippen, eins von
465
jenen Volfsliedern, die fie früher mit Franz
und Dörte und Michel gefungen. Sie wurde
es felbft nicht gewahr. Faſt gedankenlos
wanderten ihre Blide in den Sonnenjubel,
und plöglich ftiegen wirbelnd, Har und macht⸗
voll Ieuchtende, lodende Töne aus ihrer Bruft
in ben fonnigen Morgen, um bie Wette mit
den Bogeljtimmen, nur lieblicher, kraftvoller.
Die Welt war fo ftill ringsum, ihr Lied war
allein zu hören; wie Glodenllänge ſchwebten
die Töne über dem taugligernden Gefilb.
Aber mitten darin brach Urjel ab und
horchte faft erfhroden, ob fie es wirklich felbft
gewefen, deren Stimme fo jubelnd erſchallt
mar. Und dann ftieg eine Nöte in ihr Geficht,
obwohl - fie ganz allein war. Sie hörte nur
noch das gebämpfte, nedende Gezwitſcher der
Vögel. Untoillig z0g fie die Etim zufammen
und fchritt rafcher vorwärts und babei trieb
fie ihre Gedanken unbarmherzig in bie dunklen
Wintertage zurüd, in die Etunden atemlofen
Grauens, wenn der Nordwind um ihr Häuschen
feufgte und fie gemeint hatte, die Stimme von
Franz zu hören, als Hage er um Einlaß, als
fei es ihm zu fehauerlid im einfamen Grab.
Hatte fie nicht oft feinen Schritt gehört, den
rafchen, feften Schritt? Aber er tar verhallt,
ehe er die Thür erreichte, er ging immer vor:
über.
Nun hatte der Frühling feine Macht mehr
über ihre junge Seele. Sie ſchritt durch den
blühenden Wald und merkte es nicht.
Erft als fie fih nad kurzer Zeit dem
offenen Feld näherte, machte fie aus ihrem
dunklen Brüten auf. Sie ſah durch bie
Stämme hindurch zwei Pferde auf dem Ader
ftehen, und an einen der Bäume lehnte ein
Mann, die Arme gereizt, und unter düftrer
Stirn blidten zwei fremde, todftille Augen nad
ihr hin. Einen Augenblid durchrann fie ein
Schred, daß ihr Fuß ftodte. Der Mann aber
wandte den Kopf und fah reglos wie vorher
in das flimmernde Feld hinaus.
Nun erfannte fie ihn aud. Es war der
Toni vom Steingehöft. Und ihr mar, ale
müfje ihr Fuß leifer auftreten, um den in feinem
Schmerz nicht zu ftören. Die Bafe, die gern
mit den Alten ſchwatzte, wenn fie nad) dem
Dorf kam, hatte ihr über den Toni erzählt. Er
war tie finnlos geweſen in feinem Schmerz,
3
Srüßlingögefciäte.
und goffen mit ihren Tönen Seftftimmung
über den Tag. Der Echall wiegte fich heiter
durch bie Mare, reine Luft, und Urſel hörte
ihn, während fie ihre Morgenarbeit im Felbe
verrichtete. Sie richtete fih mandmal auf,
um zu laufchen und munderte fi dann, mie
warm ſchon bie Sonne war, daß fie es an
dem Epatengriff fpürte, wie lange er bereits
in ihrem Strahl gelegen hatte.
Als fie etwas früher als gewöhnlich heim
am, Tag in dem Stübchen ihr Feftpug aus:
gebreitet, und bie Bafe rief aus dem Neben-
raum, fie folle nur eſſen und ihr ein wenig
verwahren; Urſel betrachtete erftaunt das feſt⸗
liche Kleid. Cie hatte gar nicht daran gedacht,
daß fie fih auch ſchmüden müfje Dann
aber eilte fie, es raſch zu thun, um mit ber
Bafe zufammen zu eſſen.
Als fie nun ihre Böpfe aufgebunden hatte
und das Kleid feft und zierlich faß, betrachtete
fie ſich mit nachdenllichem Blick in dem Spiegel.
Ihre volle, braune Wange war nicht ſchmaler
getvorden, der Fräftige Mund nicht bleicher,
ihr Auge nicht matter. So hatte fie auch
voriges Jahr ausgeſchaut, ald fie noch ein
wenig zärtliher in ben Spiegel blidte und
rechte Freude daran hatte, daß ihr Antlig
ſchön mar. Denn dazwiſchen warf fie ver-
ftohlene Blide zum Fenſter hinaus auf den
Franz, der ungebuldig pfeifenb auf und ab⸗
ſchritt und einen Strauß mit Pfingftrofen
verftedt zu halten fuchte. Cie aber lachte,
denn fie hatte den Strauß auf den erften
Blick gefehen.
In diefen Gedanken murbe fie bon ber
Bafe unterbrochen, die auch zierlich gepußt
ihre Kammer verlieh.
„Ei, Urfel, fertig,” fagte fie erfreut und
warf einen wohlgefälligen Blick auf das ſchlanke
Mädchen.
Urfel holte den Napf mit Eſſen und legte
fih und der Bafe vor. Ihr war wunderlich
zu Mut, wie fie das gepußte alte Weibchen
fah, und ein gerührtes Mitleid erwachte
in ihr.
„Sie wollen fi ja alle täuſchen,“ dachte
fie traurig, „täufchen und denken, daß fie
glüdlich find. Und find uns nicht allen ſolche
Stunden zu gönnen? Soll id an einen
Schmerz mahnen, den fie vergeffen wollen?”
487
Aber troß dieſer guten Vorfäge brannten
ihr heiße Thränen in den Augen, bie fie nur
mit Mühe zurüdbrängte.
Die Bafe aß vorfichtig mit vorgeneigtem
Dberlörper und marf unruhige Blide zum
Fenſter hinaus, um nad) dem Stand ber
Sonne zu fehen, ob es nicht Zeit zum Aufbruch
fei. Dann trippelte fie, während Urfel die Teller
wuſch und fortftellte, ſchon vor die Thür und
ſchaute bort recht ehrbarlich unter ihrem breiten,
geftidten Kopftuh den Weg hinauf. Endlich
mar auch Urfel fertig und trat zu ihr.
„Schau, Urfel, weld ein Tag”, fagte bie
Bafe. „Diefer Glanz und Flimmer und ſolch
eine weiche, linde Luft, daß ſich kaum ein
Blütenbaum rührt. Voriges Jahr war es
doch auch ſchön, aber einen ſolchen Tag hat
es nicht gegeben, feit ich jung war.”
Urfel lächelte bebächtig. Ja, der Tag war
ſchön und in feiner ftilen Pracht beinah
rührend. Bon fernher am Hähnegefchrei, das
dur die ftille Luft ganz klar herüberdrang.
Am Himmel zerfloß ein zartes Duftwöllchen.
Neben ihnen ftieg eine Lerche auf, und über
dem Wald zog ein Habicht feine ruhigen Kreife.
Eine Eidechfe lag auf dem fonnigen Weg und
huſchte erſt fort, als fie nahe heran kamen.
Die Bafe ftüßte fih auf Ullas kräftigen
Arm, und ihre junggebliebenen Augen fonnten
ſich an allem Schauen nad rechts und links
nit genug erquiden. Dft blieb fie ftehen,
teils um fih zu ruhen, teild um andächtig
den tmürzigen Feldgeruch einzuatmen. Hier
freute fie fih an der zarten Saat, dort an
einem überhängenden Blütenbuſch. Es mar
Urfel faft, als ginge aud ihr erft jegt der
Reichtum und die Fülle diefer gefegneten Tage
auf. Und fein Arbeitflang tönte herüber,
felbft die Mühle ftand mit reglofen Flügeln.
Im Buchenwäldchen fagte die Bafe: „Und
ſchau, Urfel, nicht? vergißt der liebe Herrgott.
Mein Lebtag hab’ ich nichts fo geliebt, mie
Leberblümchen und Anemonen, und fieh, mie
alles weiß und blau ift. Geh, Kind, und
pflüd mir ein Sträußchen.“
Nah wenigen Minuten tvaren Urſels
Hände gefüllt, und fie feßte fich zu der Baſe
auf den bemooften Stamm und ordnete die
heilen Blumen. Die nahm fie mit etwas
zitternden Händen und lehnte einen Augen⸗
30*
Fruhlingegeſchichte.
Antworilos nahm fie bie Hand, die er bot |
und trat in die Reihen. Er legte den Arm
um fie und balb glitten fie in der linden Luft
nad den fröhlichen Taften auf dem platt:
getangten Rafen dahin. Mit keinem andern
hätte Urfel getanzt, fie begriff es felbft faum,
daß fie nun im Reihen war und im Vorüber-
ſchweben flüchtig bie Geſichter der Bafe und
des Frangenvaterd unb der andern ſah. Sie
wußte nur, daß dies Wiegen und Drehen ı
köſtlich war, daß ein fefter Arm fie führte, daß
die Eonne glänzte und daß manchmal ein
Schwalbenſchrei ihr Ohr traf. Und dies alles :
mar ſchön.
AS dann die Mufit eine kurze Paufe
machte, ftanden fie nebeneinander und prüften '
ſich gegenfeitig mit verftohlenen Augen. Cie
ſah wohl, daß fein Geficht heute nicht düfter
mar, wenn auch ernft, und fein graues Auge
mar fanft, wenn er fo gelaffen vor fi hin⸗
ſchaute. Nun fah er fie mit einem furzen
Lächeln an, einem Lächeln, bei dem fchneeige
Zähne unter dem ſchwarzen Bärtchen ſichtbar
wurden und bas deshalb feltfam fröhlich ſchien,
und fagte mit einer ruhigen, etwas leifen
Stimme:
„Wie prädtig haft du neulich gefungen,
Urſel.“
Sie erſchrak ein wenig, er aber fuhr fort:
„Schau, fol eine Menfchenftimme am
ſchönen Tag im einfamen Feld, die fährt durch
das Her.”
„Und ich meinte, ich hätt’ dich geſtört,“
ſagte Urfel.
„Beim Eggen?“ fragte er und lachte.
Und dann begann bie Muſik wieder und
wie felbftverfländlidh führte er fie aurüd, und |
fie tanzten rubig, ohne zu reden, langfam und
jeden Schritt im Takt genießend, den ganzen,
langen Tanz zufammen.
Paare geftellt hatten, fo blieben fie bei ein—
ander, und tie fie mit feinem andern getanzt
hätte, fo dachte auch der Toni nicht daran,
von ihrer Seite zu meichen.
Immer wieder erhoben bie Fiebler nad)
kurzem Raſten die Geigen, immer wieder
Schritten fie dann Hand in Hand in ben Kreis.
Sie fah nicht die andern, fie fah nur ein
buntes Gewimmel. Sie hörte nicht, was ges
Es fam kein andrer,
der fie zu einer Runde holte. Wie fi die ,
469
rebet ward, nur Stimmen, bie ihr fern ſchienen
| und bie, je tiefer der Abend fanf, je mehr von
einer müben, füßen Wehmut erfüllt fchienen.
| &ie tonnte des Tanzens nicht genug finden,
aber gut waren auch die Zeiten ber Raft im
meiden Grafe, wenn die heiße Stirn von
einem ganz fanften Hauch gefühlt ward und
das unſchuldige Gezwiticher der Vögel hörbar
ward nach dem Verftummen der Muſik. Ein-
mal brachte der Toni ihr etwas zu trinfen, und
ı bon fern fchien es ihr, als fähe fie das lächelnde
Geficht der Bafe, das ihr zunickte.
Und die Sonne fanf, feurig und mild.
Ihr rotes Licht erloſch an den Häufern, Fadeln
ı brannten auf, ehe noch die Sterne berbortraten,
und von den Wiefen fam ein tiefer, fühler Hauch.
' Da begann ſchon hie und da ein übermütiges
Gejauchze und trogiges Gelächter, das fo klang,
als fordere das Leben den Tod heraus. Und
konnte es das nit? War es nicht unbefchreib-
lich fieghaft und ſchön? Konnte das mahre
Xeben, das Frühlingsleben des Herzens, durch
irgend einen Tobesfchatten getrübt werben?
Urfel und Toni faßen Hand in Hand. Cie
plauderten nicht viel, nur hie und da ein Wort
über den Tanz, den Duft der Wiefen und bie
glanzvollen Frühlingstage. Aber nie vorher
hatte Urfel fo den Frühling empfunden, nie
vorher hatte ein füßes, herzzerreißendes Glück
fo ihre Seele erfüllt. Sie wünſchte nichts, als
noch lange, lange fo zu bleiben, mie ein
Genefender, den plößlich peinigender Schmerz
verlajien und ber in tiefer Danfesftille das
bloße Atmen und Sein genießt. Und manchmal
ſchaute fie dann auf den Toni, und ihre Augen
rubten voll ftrahlender Liebe auf feinem ernften
Geſicht.
„Noch einen Tanz, Urſel,“ bat er, und fie
drehten fi in dem Wirbel, der jegt rafcher
und toller ward, nun Luft und Freude wuchs.
Man merkte es dem raſenden Gejubel der
Fiedeln an, daß bei dem Geiger das Feſtbier
Eieger über den Schmerz geivorden, und bie
| übermütigften Tänzer ftampften die Erde,
| jauchzten und ſchwangen ihre Tänzerinnen, daß
deren Füße faum den Erdboden berührten.
| An Tonis ftarfem Arm glitt Urfel aus
dem Wirbel hinaus und merkte es faum. Nun
ward es auf einmal ftiller um fie, die Mufit
Hang gebämpjter, und ber Flammenſchein ber
470
Fackeln reichte nicht mehr bis zu ihnen hin.
Aufatmend blieb der Toni ftehen, zog Urfels
Arm durch den feinen und fagte:
„Sieh, wie filbrig der Mond ſchon glänzt.
Magſt du es, dann bring ich dich heim, und
wir gehen das Stüd noch zufammen.”
„Aber die Bafe?” fragte Urfel und erſchrak,
denn fie hatte des alten Weibleins den ganzen
Abend nicht gedadıt.
„Ad, Urſel,“ lachte der Toni, „fie bat dir
ja zum Adieu genidt und ift früher mit bem
Franzenvater heimgegangen. Weißt bu nicht
mehr?”
„Ich weiß ſchon,“ fagte die Urfel und
ftügte ſich feiter auf feinen Arm, denn der Weg
war dunkel, und der Mond gab nur ein
unficheres Licht.
Nun fie von weitem das Echreien hörte,
dag wüſter aus der Ferne Hang, war fie froh,
nit mehr im Reigen zu fein. Der Toni
war jest ftill, fie hörte nur feinen langfamen,
fraftuollen Atem. In dem grauen Dämmern
huſchten und überhufchten fich die Fledermäuſe,
fhlugen oft nah an ihnen mit lautlofen
Flügeln vorbei. Sie waren auf dem Meg,
der zum Wäldchen hinaufführte. Das fühle
Wehen des Abende war einer reglofen, Iauen
Wärme gewichen. Hin unb wieder ftolperte
fie über einen Stein oder ein Zoch im Wege,
dann hielt fie der Toni, und endlich legte er
feinen Arm um fie, und fie ließ es gefcheben.
Es war fo feierlich, dies ftille Dabinfchreiten.
Mas gingen fie die Menfchen an, die da
ferne lärmten, was ging fie auch das Ge:
weſene an?
An dem Waldrand blieb der Toni ftehen
und lehnte fie ein wenig zurüd, baß er in
dem matten Schein ihr Gefidht fah.
„Hier bab ich dich fingen hören, Urſel,“
jagte er leife. „Sch war jo wunb und ieh,
daß ich gegangen bin und geweint hab’. Zum
erftenmal Thränen. Das hat mir das Herz
freigebadet. Dann hab ih nur gemwünfcht,
dich noch einmal zu fehen, um bir zu danken.
Und jetzt könnt' ich did) nimmer, nimmer
lafjen.“
Er ftieß es faſt zwiſchen den Zähnen hervor,
als bereite es ihm Dual, das zu fagen. Aber
über ihr Gefiht, das im Mondlicht blaß
erichien, ging nur ein leifes, inniges Lächeln.
Frühlingsgefchichte.
Da neigte er fih zu ibr und küßte fie wie
rajend auf Mund und Augen.
„Urſel, Urfel, Gott fei gelobt. Ich hätte
ohne dich das Leben nicht mehr ertragen.”
„Und ich, Toni?” fragte fie dagegen, un
wieder blieben fie ftehen und blickten fich mit
ftaunenden Augen an und lähelten und
füßten fich.
Nie hatte Urfel fo Tange Zeit gebraudt,
das Gehölz zu burdfchreiten, und nie war
ihr der Meg fo kurz erfdienen. Durch bie
jungbelaubten Bäume riefelte der Mondfchein,
wie Silber lag er auf dem weißen Pfab.
Ein weſenloſes Raufchen bie und da war um
fie das einzig Lebendige. Und kein Schatten,
feine Erinnerung mar zwilhen ihnen. An
biefem einen Tage vollgemefjienen Glüdes war
niht Raum für einen trüben Gebanfen.
Bor dem Häuschen der Bafe blieben fie
ftehben und fchauten ſich noch einmal an.
„IH Tomme morgen wieder,” fagte er und
faßte ihre beiden Hände, mit ben beichatteten,
grauen Augen fie innig betrachtend.
„Richt zu ſpät,“ war ihre Antivort.
Noh einmal neigten fie fih einander zu
in einem legten, fcheuen Ruß, bei dem fie jäh
errötete. Dann wandte er ſich um und ging.
Eie blieb an die Bank gelehnt und fchaute
ihm nad. Von dem Felde Fang ber Huf
der Kornwachtel. Der Mond war glängender
geworden und umwob alles mit feinem ftilfen,
märchenhaften Echein. Die blanfen Fenfter
an dem Häuschen der Bafe glänzten mie
Silber. Und die Luft war fo würzig und
fühl, daß fie Urfel fürmlich beraufcte.
Borfichtig tappte fie fich endlich, als ber
Toni im Gehölz verfhmwunden war, in ihre
Heine Kammer. Hier ftieß fie das Fenſter
auf, um noch mehr Monbfchimmer und
Frühlingsluft zu atmen, dann entfleibete fie
fih und fchlief, ermattet von den ungewohnten
Anftrengungen und Aufregungen des Tages,
bald tief und ſchwer. —
Plöglih, fie mußte nicht, wie lange fie
gefchlummert hatte, fuhr fie empor und faß
mit bämmerndem Herzen aufredht im Bett.
Ihr Kopf war fchwer und ihr Atem flog;
vorgeneigt laufchte fie angeftrengt in die Nacht.
Dort war ihr Name gerufen, einmal, ziveimal,
weit, Hagend. Davon war fie wach geworben.
— — —
— 4
Srüßfingsgefgjtchte.
Der Ruf Hang ihr noch immer im Ohr nad,
es lonnte feine Täuſchung fein: Wer aber
mochte fie rufen?
No immer lag draußen die Nacht, und
ihr ruhvoller Frühlingsatem ging leife. Der
Mond war höher geftiegen, nur ein ſchmaler,
heller Streif lag noch am Boben ber Kammer.
Urfel lauſchte, aber es lam kein Laut aus ber
tiefen, nächtlichen Stille.
Und doch Batte ber Auf fie aus dem
Schlummer geivedt, und fie hatte gemeint, es
müffe ber Toni fein, der aus Todesnot und
Angft zu ihr riefe. Der Toni, defien Ruß
fie noch fühlte, der Toni, deſſen Auge fie
noch fah, der fie im Reigen geführt und fie
heimgebracht hatte.
Wer anders follte fie denn auch rufen?
Doch nicht der Franz, der im Fühlen Grabe
lag, der ſchon fo lange, lange tot war!
Aber jeßt erſt wurde fie ganz wach aus
ihren irren Gebanfen und preßte mit einem
jammernben Etöhnen das Geficht in die Hände.
Sie mußte, fie fühlte, es fei der Franz ge:
weſen, der Franz, den fie treulos verraten.
Seine ganze, junge, ernfte Liebe hatte er ihr
geſchenlt, und jeßt fehon konnte fie ihn vers
geilen, nah wenig Monden ganz vergefien,
wenn auch nur auf kurze, wirrſüße Stunden.
Wer hatte fie fo verzaubert? Wer hatte
fie gezwungen, zum Maienfeſt zu gehen? Wer
hatte fie dulden laſſen, daß ein Fremder fie
umfchlang und füßte? Ja, wer ließ auch jegt
noch das Geſicht diefes Fremden fo nah, fo
gütig ernft vor ihren Augen ftehen, wer den
tiefen, weichen Klang feiner Stimme in ihrem
Ohr zittern?
„Franz,“ ftöhnte fie, „Franz,“ und ihre
Gedanken jagten und fuchten nad feinem
rofigen, lebensvollen Gefiht, nach dem hellen,
hoben Lachen, das fie noch fo oft zu hören
gemeint hatte, daß ihr gegen biefe Lebens-
freude fein Tod noch entfegensvoller fchien.
Zurüd in die dunklen Eterbeftunden! Fort
aus der weichen, lind tönenden, felig bebenden
Frühlingsnacht in graue, häßliche Herbftftürme,
die mit ihrem dumpfen, eintönigen Klagen
Schmerzen und Thränen nicht zur Ruhe
fommen ließen.
Und wirklich ftieg ein zuckendes Schluchzen
ftoßtveife aus ber jungen Bruft, wirklich kam
471
ein heißes, überquellendes Mitleid warm
ftrömend in ihre Seele. Wirklich erwachte
eine ftille, drohende Abwehr gegen den Räuber
ihres Schmerzed in ihr. Das hatte er nicht
gedurft, fie füffen, weil fie einmal ihren
Nummer zurüdgebrängt hatte, er, von bem
man fagte, er wiſſe, was Tod fei. Ja, Tod!
Sollte fie noch einmal ihr Leben an ein
anderes binden? Niemals, niemals mehr. Ein
folder Schmerz ift genug für ein Leben.
Als ihr Schluchzen fachter wurde, wuſch
fie fi die Augen im fühlen Waffer und fah
dann, binausfhauend, daß ſchon überall cin
leifes, laum merkliches Dämmern die ſchweren
Schatten der Nacht erhellte. Auch fing ihr
Hahn fröhlich und durchdringend an zu krähen,
und ein berber Lufthauch ftric in die Kammer.
Urfel begann, ſich raſch und heimlid an=
zulleiden. Ihre veuige Sehnſucht drängte fie
zu Franzens Grab. Sie mußte dazu bem
Morgen eine Stunde abgewinnen, um mit
ihrer Arbeit nicht im Nüdftand zu bleiben.
As fie fertig war, hatte ſich an den Aſten
und Bäumen fhon das Dunkel gelöft, und
bie Sterne waren verblichen, ber Himmel war
von mattem, farblofem Blau. Aus den
Sträuhen kam ein erftes, verſchlafenes
Spatzengezwitſcher. Behutfam öffnete fie die
Thür und trat hinaus. In dem Stall grunzten
und quietfhten die Schweine durcheinander.
Das Alltagsleben hatte fich feit geftern nicht
geändert, nur fie far eine andere geworben.
Lautlos ging fie durch das frühe Dämmern,
denfelben Weg, den fie geftern gelommen war,
aber fie dachte nicht an geftern. Je weiter
der Morgen fortſchritt und alle Schatten
ſcheuchte, defto mehr Tag es wie ein Schlimmer
Traum, der feine Wahrheit hatte, hinter ihr,
defto mehr Iebte fie ſich in ihr Leben zurüd,
wie es vor dieſem Geftern geivefen. Als fie
das Wälbchen erreichte, ging fie zwiſchen bie
Stämme und pflüdte, was fie an friſch er
wachten Blumen fand. Die follten das Grab
des Jünglings fchmüden, ber fein Leben fo
wenig hatte genießen dürfen.
Als fie ihre Schürze damit gefüllt hatte
und nun aus den Stämmen herbortrat, war
der ganze Himmel von rofigem Schein
getränkt, und golbbligende Wöltchen badeten
fih in den Strahlen der Eonne, die noch
472
nicht am SHorizont aufgeltiegen war. Urfel
fchritt rajcher vorwärts, dem Kirchhof zu, von
deflen boben Bäumen melodifches Amfel:
geflöte erſchallte. Sie befreuzte fich ſtill und
ernft, ala fie durch die Pforte trat, ging dann
den Ichmalen Pfad zu dem Grabe des Liebften
hinauf und betete dort, nachdem fie die Blumen
verſchwenderiſch darüber hingefchüttet hatte, fo
trauervoll, jo inbrünftig, jo tief erjchüttert,
wie nie zubor. Ihm gelobte fie fih von
neuem, ihn flebte fie an, ihr leßtes Gut, ihren
Lebenstroft, den Schmerz, nicht von ihr zu
nehmen, und je inniger ihre Thränen rannen,
deſto fanfter und leichter ward ihre Eeele.
Als fie binauffchaute, ſah fie, nicht weit
bon ſich, an Hanni Grab den Toni Stehen.
Der erſte aufzudende Morgenftrahl beleuchtete
ihn und den großen Strauß von Moosrofen,
den er in der Hand bielt, wohl um Hannis
Grab damit zu fchmüden; aber das hatte er
vergeſſen; er ſah nur zu ihr hinüber mit
itarren, leibverbüfterten Augen. Da, als ihre
Blicke fich trafen, zudte etwas in feinem Geficht,
er machte eine Bewegung, wie um ihr entgegen-
zuftürzen, über die Gräber hinweg, mit aus-
gebreiteten Armen. Ä
Uber die Urfel lag nur ganz regungslos
auf den Knieen und ſchaute ihn an. Sie fah
nur fein berbes, junges Gefiht; den Franz
batte fie vergefien. Ihr erftes Gefühl mar
wie ein Jauchzen geweſen, und num war e3
wie ein Schall von großen Gloden in ihren
Obren, der alles übertönte.
Schweigend, reglos fchauten fie ſich an.
Allmählich verbüfterten fich ihre Blicke, die erft
jo trunfen einander gejucht hatten, fein Mund
zudte herb und falt, und die Stirn zog ſich
zujammen. Denn Urfel hatte bie zitternbe
Hand erhoben und mwie-zur Abwehr ein Kreuz
auf Stimm und Bruft gefchlagen, den Blick
immer auf ihn gerichtet. Jetzt fenkte fie den
Kopf und murmelte mit haftigen Lippen Gebete
vor fih Hin. ALS fie wieder auffchaute, war
der Toni verſchwunden.
Schwerfällig erhob fie fich, ftrich über ihre
Stim, ging ganz gedanfenlos beim. Nur
einmal auf dem Weg blieb fie ftehen. Mit
den kraftvollen, braunen Armen padte fie eine
junge Birke, die am Feld ftand, daß bie
frühlingsgrüne Krone fi) rauſchend in der
Frühlingsgeſchichte.
Luft bog. Die vollen Lippen preßte fie auf:
einander, aber doch rang es fich los:
„Die Hanni, Gott, wie hat er die Hanni
geliebt.”
Dann ging fie ftil, bleih und in fi
gekehrt weiter.
Aber zu Hauſe wartete die Baſe, und
tauſend Schelme lachten aus ihren milden,
braunen Augen.
„Schau, Urſel, du haft doch Freude gebabt
am Felt. Wie bift du aber fo früh daher
geflommen, Mädchen?”
Urjel blieb ftehen. In ihren Augen bligte
e3 drobend und fdharf.
„sh Tomme vom Grabe, Baſe,“ fagte fie
mit bebender Stimme. „Vom Franz, in
ijt mein Platz. Immer, ewig.“
Da mar die Baſe betrübt und ſchüttelte
ihren greifen Kopf, denn fie hatte andre Dinge
für ihren Liebling erträumt. —
Frühling, Frühling, fangen die Nachtigallen.
Frühling, verfündeten die taufenb jungen
Blüten, die täglich erwachten, Frühling atmete
die braune, buftende Erbe, die den Samen
empfing und ihn grün und lebensfrifch glänzend
wieder aus ihrem Schoß erftehen ließ.
Am nächſten Tage fam Dörte mit lachenben
Munde und erzählte, daß es nun Hochzeit
gäbe, Hochzeit mit Meßgeläute, mit wehenden
ahnen und fröhlihem Trunk. Dabei fchaute
fie auf Urfel, und Iofe, ſchelmiſche Worte
tanzten auf ihren ſchwellenden Lippen. Aber
Urfel fchaute fie nicht an. Mit dem gleich:
mütigen, ftillen Geficht blidte fie vor ſich hin,
verbarg ihre brennende Scham, verbarg ihre
Angſt, den Namen von Toni zu bören.
„Und Schau, ich habe gebacht, der Toni
müffe bier fein,” fagte die Dörte treuherzia.
„Da wollt’ ih euch gleich zufammen laden.”
„sh habe auch gedacht, er follte kommen,“
meinte die Bafe und nidte. „Eie haben ſo
viel getanzt, die Kinder, daß er wohl fragen
fünnte, was ſie macht.”
Urfel war bis an die Lippen erbleicht.
„Der Toni fommt nicht,“ fagte fie mit
kalter, verlöfchender Stimme. „Zwiſchen uns
jtehen zmei, die tot find. Gott belfe ung,
wenn hir fie vergeſſen können.“
Und als die Dörte ſchwieg, und entfcht,
mit Augen, die naß wurden im Scred, in
Frühlinggefchichte.
473
ihr Geficht ftarrte, fuhr fie fort, ettvas näher | Gloden, die Progeffionen, die langen ge:
tretenb:
„Bu deiner Hochzeit komme ich nicht, Dörte.
Tanzt, lacht, mic) laßt gehen. Daß einer im
Grab liegt, der mir lieb war und hat feinen
Frühling, feine Freude, fein Leben, fein Glüd,
das vergeß ich nicht, und wenn's alle vergeſſen.
Wer mi von dem reißt, ift mein Feind, cin
Feind, den ih haſſe. Und nun laßt mic.
Wenn's gebt, für immer.
andres tie eures.”
Sie batte ruhig, jaft mit leifer Stimme
geſprochen, dabei fuhren ihre Hände aber
unabläffig an der Schürze auf und nieber,
und jegt wandte fie fi) und ging.
Dörte ſchluchzte auf und verſicherte, daß
fie ihren Michel ja auch nicht vergefien habe.
Die Baſe aber ſprach ihr milde zu und wieder⸗
holte nur immer:
„Gott fügt die Herzen.
feiner Hand.” —
Und dann ging die Arbeit fort, das Leben
drängte weiter, jeder Tag ward von dem
milden Glanz der Eonne gefegnet. Abend
für Abend nad} vollbrachtem Tagwerk wanderte
Urfel zum Kirchhof.
und fehaute mit verfchleierten Augen vor ſich
bin. Oft blidte fie zu Hannis Grab hinüber und
ſuchte fih ihrer zu entfinnen, wie blond und
froh fie gemwefen, wie der Toni am DMaienfeft
fie nicht aus feinen Armen gelafjen und wie
ibr Lachen filberner geflungen hatte, als das
der andern. Und dann ftüßte fie den Kopf
auf und fann, daß wohl fein Herz wie das
ihre fih auf einen Augenblid verirrt habe,
aber doch treu und voll Liebe nur an Hanni
bängen fünne. Unb wenn dann ihre Thränen
heiß hervorbrachen, ſchluchzte fie dumpf:
„Wärſt bu nur nicht geſtorben, Franz,
wie glücklich könnten wir ſein.“
Dann erſtarrte wohl wieder ihr Herz, wenn
ſie an die Stunden der Angſt dachte, als ſie
das Totenglödchen hörte, das jeden Tag ein:
tönig, jämmerlid durch die Herbftluft Hagte.
Wie fie die Dorfftraße hinauflief, als irgend
jemand fagte: „Der arme, alte Mann, nun
ift auch fein Franz tot.” Mie fie gleich einer
Verzweifelten mit dem greifen Vater rang,
um nod einmal, ein einzigesmal den Toten
zu fehen. Und dazu das Wimmern der
Sie liegen in
Mein Leben ift ein |
murmelten Gebete des Priefters.
Manchmal zwar fuhr fie aus dem Zinnen
auf und dachte: „Aber das ift ja alles vor:
über, das ift ja vorbei und vergefjen.”
Und eines Morgens, als fic erwachte,
ſcholl ein beller, fröhlicher Klang vom Dörfchen
berüber, ber ganze, windige Morgen: war von
dem luſtigen Kling⸗Klang der Gloden erfüllt;
das mar Dörtes Hochzeitstag. Bei aller
Arbeit verfolgte fie der beitere Schall und
wiegte ſich durch die Blütenbäume, fchmeichelte
ſich in die Fliederlaube und felbft durch die
offnen Fenfter zur Mittagszeit in das Stübchen,
wo fie mit der Bafe af. Die Bafe kränkelte,
fie batte Reißen in den Glievern und mar
ein wenig niebergedrüdt. Nah dem Schall
aber laufchte fie hinaus, und ein freundliches
Lächeln glitt über ihr runzliges Geſichtchen.
Nach beendeter Mahlzeit mußte Urfel in
das Dürfen, um Einkäufe zu machen. Es
war ihr lieb, heute zu gehen, da fie ale Be:
Tannten beim Feftfhmaus mußte, der wohl
bis in die Nacht währen würde. ie börte
| aud das Schreien und Jauchzen der Feiernden
Dort faß fie am Grabe
im Wirtshaus. Der Krämer aber lehnte be=
baglid an feinem Ladentiſch, rauchte fein
Pfeifhen und gab ihr, mas fie begehrte.
Mäbrenddem begann das Fiedeln, und er
nidte und wies mit dem Daumen binaus.
„Die find heut luſtig,“ fagte er ſchmunzelnd,
„ieder vergißt nicht fo leicht wie die Dörte,
Haft du vom Toni gehört?"
„Mein“, fagte Urfel gelafjen und ſah ihn
mit Haren, rubigen Augen an.
„Den hält's nicht”, fagte der Krämer und
zählte ihr das Geld. „Da hat er den Hannes in
fein Haus gefegt und gebt felber in den Krieg.
Eine Schande iſt's mit ihm. Solch ein Burfche,
der eigenes Vich bat und Ader dazu. Aber
's ift um die Hanne. Die vergißt der nicht.
Hat fo ftarre, traurige Augen, wie am erften
| Tag.”
„Iſt er fort?“ fragte die Urfel.
Ihre Stimme fam von weit, weit ber.
Der Krämer merkte es nicht.
„Fort über alle Berge. Schad' um den
Burfchen. Kommt er heim, ift er ein Lotter⸗
bub’ ober ein Krüppel.”
„Freilich wohl,“ fagte die Urfel tonlos.
474
Dann nahm fie ihr Päckchen und fehritt
hinaus. Im Wirtshaus wurde gegeigt, und
das Stampfen der Tanzfüße Hang. An ber
Linde das Muttergottcsbild fah fie ſich an
und ſah das milde Gefiht zu den fieben
Schwertern im Herzen. Die Luft war voller
Schwalben, die flogen und riefen und riefen.
Der Flieder duftete fchon fo füß, daß die Luft
fommerli davon warb.
Mit leichtem Fuß ging die Urfel den Pfab,
ſchlank, bochaufgerichtet.
„But, gut,” fagte fie fih. „Gut, gut.”
Darüber hinaus gingen ihre Gedanken
niht. Uber ein andre zerrte und riß an
ihrem Herzen. Sie mußte nit mas. Go
fam fie heim.
Bor der Thür faß die Bafe, die Füße
bebedt, und ſah mit trübem Geſicht nad ihr
aus. Sie fchritt fo ruhig und fchön heran.
„Schau, in die Sonne hab’ ich mich geſetzt.
Das mwärmt,” fagte die Bafe. „Solang man
den Frühling und Sommer hat, muß man e3
nüßen.“
Nach einem Weilchen feste fie zu:
„Aud der Toni war bier.”
Urfeld Hände eritarrten, ſanken fchlaff
herab. Sie laufchte.
„Sinen Gruß an dich, hat er gelagt. Er
gebt fort, in den Krieg. Mich hat’ gar ge:
jammert.“
Als Urſel nichts ſagte, ſah die Baſe auf,
in ein eiſig verſchloßnes Geſicht. Da ſeufzte
fie, blickte trüb und müde und murmelte dann
berivorren:
„Keine Kraft hat die Sonne. Mid däudht,
die Strahlen find nicht recht warm.”
Urfel ging. Nein, die Sonne hatte feine
Kraft. Sie fror, fror. Ob er noch da war?
Ein Gott behüt’ hätt’ fie ihn gern gejagt für
die weite Sabre. Aber er fehritt wohl fchon
zu, durh all den Frühling hin in den Tod.
Auch in den Tod. Dann batte fie zwei zu
bemeinen. Einen, deſſen Grab fie nicht mußte,
um den durfte fie überall klagen, im Selb,
im Wald, den ganzen Tag. Für den Franz
blieb der Abend am Hügel.
Ach nein, es war fehlimmer. Den einen
hatte fie ganz verloren, mußte nicht, ob er
lebte oder nit. Den Franz hatte fie, war
ihm nab, der konnte nit von ihr fort. Um
Frühlingsgeſchichte
den durfte ſie weinen. Ja weinen, das mußte
fie jetzt. Sie ſpürte, wie die Thränen an
den Augen brannten. Ihr ſchien nur, ſie
bürfe erft an Franzens Grab meinen, erſt
da, nur da, aber dort auch die Seele hinaus,
die thränenbrechende Seele.
Sie eilte, fie lief faft, das bleiche, ftarre
Geſicht oft leiſe zudend vor Schmerz. Co
trat fie ein durch das Thor, das bie Sonne
rötlih vergoldete. Wie der Flieder duftete,
fo fatt, fo mübe, ala fei er am Wellen.
lieder lag auf Franzens Grab, weißer
und roter, lieder lag auf dem Grab der
Hanni.
Am Kreuz ſtand der Toni, emft, ruhig,
jtiles Licht in den Augen. Und Urſel
empfand einen Schmerz, daß fie nicht weinen
durfte, fo lange er da war, daß fie nod
warten mußte mit den Thränen.
Er löſte fih von dem Kreuz und trat
zu ihr:
„eb wohl denn, Urfel.”
„eb wohl, Toni.”
„Und daß ich dich gekränkt hab’, vergieb,“
fagte der Toni, und fein Atem ging rajcher.
„Sieh, ich geb’ es büßen. Hier kann ich nicht
bleiben. Es drüdt zu vieles auf mich, Tote3.
Nicht die Hanni, mein ih. Aber was ic
gedacht hab — fpäter —“
Er ftodte und ſchwieg. Sie blidten fich
beide an, fie hatten ſich Iangfam genäbert.
„a, Toni,” fagte Urfel.
„Und mweil id) nun geh,” fagte der Tont,
„\o freut’3 mich, daß ich dich noch einmal feb,
Urfel. Und meil ich doch nicht wiederkomme,
mein ic), du follteft vergeifen —“
Sie ſchluchzte plößlih auf, fo ſehr fie auch
kämpfte, und wie er ein wenig die Arıne bob,
lag fie ſchon an feinem Herzen und umfchlang
ihn in inniger Liebe, Er ſprach nicht weiter.
Er küßte nur immer und immer wieder ihr
Haar und ihre Stirn und ſtrich mit der Hand
an ihr bin. Bon den Gräbern duftete ber
Flieder, die Amfeln fangen. Enblich richtete
fie ihr Geſicht auf und fchaute ihn an.
„Das iſt ſtärker als Tod,” fagte fie
leife.
Er erſtickte das Jauchzen in feiner Bruft.
„ur did, dich Lieb ich,” murmelte er
gedämpft.
„Mutterſchaft und geiftige Arbeit.“ 475
„Franz, Hanni,” fagte fie twieber, „wir |, überwunden. Er wußte faum mehr, daß er
tönnen nicht anders,” und bann, tie im | hatte gehen wollen. Arm in Arm mandelten
Traum, die Worte der Bafe: „Gott fügt bie | fie auf und ab durch die Gräber, bis es fpät
Herzen.” ward. Dann gingen fie heim, und Urfel
Um alle Gräber grünte das Leben, fieg- | wußte, zwei alte Augen, die noch das Leben
reicher hatten biefe beiden Herzen den Tod | liebten, würden heut leuchten in Glüd und Dank.
ARE
„Wntterfhaft und geiftige Arbeit.“
Belene Tange.
Nahdrud verboten. — —
®- „Loſung der Frauenfrage* if augenblicklich Gegenftand litterariſchen Ehr-
geizes geworden. Faſt täglich finden fi auf den Redaktionstiſchen Schriften
zur Frauenfrage ein. Titel wie: „Das Weib in feiner Geſchlechtsindividualität“,
„Das Weib in ferueller Beziehung”, „Der phyfiologifche Schwachſinn des Weibes“,
„Das neue Weib” u. ſ. w. u. ſ. w. fchreien einem von den farbenprächtigen, häufig
mit entfeglihem „Buchſchmuck“ verfehenen Umfchlägen dünnleibiger Broſchüren entgegen.
Gewöhnlich Löfen diefe Brofchüren die Frauenfrage gleich prinzipiell, und zwar häufig
genug auf Grund von Erfahrungen, die ihre Verfaffer in der Behandlung kranker
Frauen oder in ihren „Beziehungen“ zum „Ichönen“ Geichlecht gemacht haben. Daß
ihnen jede tiefere Kenntnis der wirklichen Frauenbewegung und ihrer inneren und
äußeren Motive abgeht, braucht kaum erwähnt zu werben.
In wohlthuendem Gegenfag zu ſolchem temdenziöfen Dilettantismus fteht das
Bud von Adele Gerhard und Helene Simon: „Mutterihaft und geiflige Arbeit”
(Berlin, Georg Reimer). Es zeigt den einzigen Weg, auf dem — nicht etwa bie
Frauenfrage zu löfen ift, denn das gefchieht nur auf dem Wege praktifcher Arbeit —
fondern auf dem einzig und allein die wünſchenswerten Hilfstheorieen zu gewinnen
find. Das ift der Weg erafter Unterfuhungen auf Grund eines durchaus objeltiv,
ohne tenbenziöfe Abfichten beigebrachten Beobachtungsmaterials.
Eine Buchbeſprechung fol nicht die Lektüre des Buches erſparen. Am mwenigflen
fol das bei dem vorliegenden Buch verfucht werden, da es dringend wünſchenswert
erſcheint, daß alle, die ſich mit ber Frauenbewegung befcäftigen, eingehend davon
Kenntnis nehmen und womöglich das reichhaltige gefammelte Material und die darauf
von ben Verfafferinnen begründeten Schlüffe im: einzelnen nachprüfen. Es genüge
hier, Weg und Gefamtergebnis der Unterfuchung anzudeuten.
Das Bud will feftftellen, ob und inwieweit die Mutterfchaft ein Hemmnis
für die geiftige Berufsarbeit der Frau bildet. In Bezug auf die Vergangenheit konnte
ſelbſtverſtandlich nur -der Weg Hiftorischer Darftelung und Kritik eingefchlagen werden.
Durch eine außerordentlih umfaffende und forgfältige Benugung des vorhandenen
litterarifchen Materials find die Verfafferinnen auf diefem Wege fat durchweg zu
„Wutterichaft und geiftige Arbeit.” a7
Sophie Junghans meint:
„Jim ganzen ift meine Überzeugung, daß zur Zeit in Deutſchland wenigſtens der ſchriftſtelleriſche
Beruf ſich ſchwer mit den Pflichten der Hausfrau und Mutter, mit denen ber Gattin überhaupt kaum
vereinigen läßt.“
Und Magdalene Thorefen:
„Ich glaube nicht, daß man mit demfelben Seelenträften fich zugleich in beide Lebenspflichten
verteilen Tann; ift man Mutter, daß man, fo lange die Kinder minderjährig find, fi dem tiefen Seelen:
ftubium Hingeben Tann, welches das Schriftftellerleben erfordert. Cine andere Sache ift ed, wenn die
Kinder das Alter erreicht haben, wo bie Erziehung zum Schulleben beginnt. Bon der Zeit an kann
ſich die Frau ihrem Künftlerberuf hingeben, denn ba ift ihre Liebe zum Kinde mehr mit äußeren Rüd:
fichten gemifcht. Ich Hätte nicht ſchreiben oder litterarifch arbeiten können, während ich meine Kinder
näbrte. Erſt ba biefe ald heranwachſende Menfchen an meiner Seite gingen, Tonnte ich diefelbe Wärme,
mit der ich fie liebte, in die Menſchenſchilderung, in meine ſchriftſtelleriſchen Werke hineinfegen.“
Es ift danach offenbar, daß phyſiſche Anlage, Temperament, Konzentrationd-
und Dispofitionsfähigkeit ebenfo verfcieden find bei den in einem geiftigen Beruf
ftehenden Müttern als bei ben nicht beruflich thätigen auch. Jedenfalls müßte man,
um zu unbeftreitbar algemeingiltigen Ergebniffen zu fommen, in der Lage fein, bie
Erhebungen in weit größerem Umfange anzuftellen, als das zur Zeit möglich ift.
Bei einer verhältnismäßig fo geringen Zahl von Experten, wie fie heute zur
Verfügung fteht, wirken die einzelnen doch noch mehr als Inbividualitäten, denn als
Ratiftifche Nummern, aus denen man prozentuale Berechnungen ableiten ann.
Aber auch ausgedehntere Unterfuchungen würden ficherlih zu demfelben
Endergebnis führen, zu dem die Verfaſſerinnen fommen: daß, von Ausnahme-
naturen abgefehen, die gleichzeitige Erfüllung der Mutterjhaft und eines die ganze
Seele binnehmenden geiftigen Berufs zu einem unlöglichen Konflitt führen muß.
Es hieße wahrlich die foziale Bedeutung der Mutterfchaft gering anfchlagen, wenn
man glauben wollte, daß fie bei einem Beruf, der den Mann voll ausfüllt, noch fo
nebenbei abzumaden fei. Das aber mögen ſich auch die Frauen gefagt fein laſſen,
die ſich den Berufsarbeiterinnen gegenüber als eremplarifhe Mütter vorkommen,
obwohl fie ihren Beruf weit mehr in der Gefellfchaft als in ihren Kindern finden.
Wenn die geiftige Arbeit den Kindern Häufig die Mutter entzieht, fo vermittelt fie
ihnen doch wieder geiftige Werte, die die Geſellſchaftsdame niemals zu bieten vermag.
Doch wird nicht mit diefem Endergebnis zugleich über die Forderung ber
Frauenbewegung, die Frau und Mutter tie die unverheiratete Frau in die vollen
Bürgerrechte und =pflichten einzufegen, ihr freien Spielraum für foziale Bethätigung
zu geben, der Stab gebrochen?
Die Erfahrungen der Verfafferinnen führen zu einem ganz entgegengefegten
Refultat. Die in der Agitation für foziale Reformen thätigen Frauen betonen faſt
ausnahmslos, daß ein Konflikt zwiſchen ihren doppelten Pflichten ihnen nicht zum
Bewußtſein gelommen ſei. Dffenbar deshalb nicht, weil Bier beide Pflichten aus
derfelben Quelle fließen und feinerlei Verſchiedenheit der Sphären fie Hier: und borthin
sieht. Der Ausgangspunkt ihres Thuns ift der gleiche: ihre Mütterlichkeit, und es
handelt fih nur darum, mie viel Arbeit die einzelne Frau zu leiften imftande ift.
Und gerade „die Unübertragbarkeit mütterlicher Erfahrung weift darauf hin, welchen
Wert der Eintritt der Frau in die gefeggebenden Körperfchaften Haben könnte. Zugleich
Scheint die Möglichkeit der Verwertung jener Erfahrung in fpäteren Jahren zu zeigen,
478 Aus Marie Ebners Spätherbfttagen.
daß die inneren und äußeren Bedingungen des Mutterberuf3 fein Hindernis für eine
wirffame öffentliche Thätigfeit bilden.” Zu dieſem Ergebnid führt die Unterfuchung,
bie, dem Titel entiprechend, als Hauptaufgabe des ganzen Buches angejeben
werden muß. |
Aber fie iſt nicht feine einzige Aufgabe. Wertvolle Unterfuchungen über die
geiftige Thätigkeit der Frau überhaupt führen zur Befeitigung der neuerdingd immer
zuverfichtlicher wieder auftretenden Vorurteile, als ob die Frau ſchon durch ihr
Geſchlecht zu geiftiger Arbeit untauglih fei. Und auch in dieſer Hinficht darf die
Arbeit, bejonder® den im Eingang genannten, auf vorgefaßter Meinung beruhenden,
pjeudowiflenfchaftlichen Tendenzichriften gegenüber, in ihrer ruhigen Sachlichkeit als ein
bedeutfamer Beitrag zur Klärung der einjchlägigen Sragen betrachtet werden. Es würde
für den Fortichritt der Frauenbewegung von unberechenbarem Wert fein, wenn der
Geift ſtiller, geſammelter, jahrelanger Arbeit, der dies Buch Tennzeichnet, einer Arbeit,
die alle Bebingtbeiten jorgfältig berüdfichtigt, auch für das praftiiche Wirken ber
„Frauenrechtlerinnen“ audjchlaggebend würde.
Ans Marie Ehners Hpätherbſttagen.
Ernfi Beilborn.
Nahdrud verboten. om nn
„Sa, mein Guter,” fagte Goethe, „hierauf
tommt alle® an. Man muß etwas fein,
um etwad zu machen.“ Gefpräcdhe mit
Edermann. 1828. .
ies Buch „Aus Spätherbittagen”’) von Marie von Ebner-Eſchenbach gehört zu
B den wenigen Büchern, die man miterlebt. Dean lieft es und fühlt fich bereichert,
AD) und es läßt feine Spur in deinem Innern. Dieje Gedanken muß man weiter
denten: diefe Menſchen, die Marie Ebner aus dem Nichts gerufen, heiſchen ſeeliſche
Anteilnahme und man wird ihres Seins fich bewußt werden, öfters vielleicht und
beffer, als der perfünlichen Belanntichaften, die ein gleichgiltiger Zufall vermittelt Hat,
und die, gleichgiltige Schatten, in der Erinnerung wohnen; man wird etwas wie
Heimweh empfinden nach ber tiefen, feiertäglichen Stille, die fih in der Beilegung
dieſer feelifchen Kämpfe giebt. Denn das Befreiende, das Friedenſpendende aller
echten Kunft, es ift in diefem Buche. Und doc ift e8 ein andrer Eindrud, der ftärler
fih bervordrängt und fih dem Leſer vor anderen geltend macht: das Gefühl
der Kraft.
„Aus Spätberbfttagen.” Soll diefer Name des Buches mehr als rein perjönliche
Geltung haben, jo darf man dabei nicht an das Fallen der Blätter und das Raufchen
1) Berlin 1901. Verlag von Gebrüder Paetel. 2 Bände.
Aus Marie Ebner Spätherbfttagen. 479
des Windes um entlaubte Stämme denfen und nicht an ein twehmütiges letztes
Gligern der Sonnenſcheins. Nichts ift in diefem Buch von müder Refignation und
krankem Rubefüchteln. Statt deifen immer wieder das fiegreiche, befreiende Gefühl
der Kraft. Wil man des Herbftes dabei gedenken, fo gilt es nur ben Herbft, in
dem die Früchte reif geworden find.
Geftalten werben Iebendig, mit eindrudsvollen Zügen und anteilheifchendem
Sein, und dieſe Geftalten atmen Kraft. Nicht zum twenigften bie Frauen! Da ift
die Mutter des „Vorzugsſchulers“, eine vergrämte, kleine Beamtenfrau, unter dem
Joch einer feiertagslofen Ehe verfümmert. Was noch von urfprünglicher Liebeskraft
in ihr if, das gehört ihrem Sohn. Seinetwillen, um ihm beffere Nahrung zu ver=
ichaffen, begeht fie Heimlichkeiten vor ihrem Mann, trägt fie ererbte Schmudftüde
ins Leihhaus; feinetwwillen Iehnt fie ſich auf gegen biefen Mann trog ihrer Zagheit.
Und dann nimmt fi) ihr Sohn das Leben, weil er dem Ehrgeiz des harten Vaters
nicht genügen kann, weil die Laft, die der in verftänbnißlofer Liebe ihm auferlegt,
für feine ſchmächtigen Schultern zu ſchwer if. Alles hat die Frau mit feinem Tode
verloren, alles. Und fie geht Hin und tröftet ihren Mann. — Eine andere, mit
gleicher Kraft befeelte, tritt neben fie, „Maslans Frau“. Sie hat ihren Mann geliebt,
und er ift ihr untreu geworden, und fie bat ihm vergeben. Sie hat ihm oftmals
verziehen, immer wieder. Bis ihre Verzeihenskraft erſchöpft war und fie ihn von ihrer
Schwelle gewieſen bat. Und ba bat fie geſchworen, ihn niemals ungerufen wieder
aufzufuchen. Sie Hält ben Schwur, da ihr Mann auf dem Totenbett banieberliegt,
obwohl der Priefter fie immer wieder mahnt zu ihm zu gehen; fie hält den Schwur
dem eignen Liebefehnen zum Trotz. — Und ich denke des guten, alten Fräuleins
Sufanne, deren ganze Freude es ift, anderen wohlzuthun und bie darin bie Kraft zum
Glüdlihwerben findet; ich denke nicht zulegt Michaela’s, die klaglos die Graufam:
teiten ihres Vaters erduldet und in feiner Pflege fich aufreibt und doch fo gar nicht
die blaffe Heilige ift, fondern ein lebensfrohes, warmherziges Mädchen, zugänglich jeder
Freude. — AU diefe Frauen haben ihre Kraft mehr oder weniger im Dulden zu
bewähren. Aber das Dulben fordert ja wohl auch bie größte Kraft. .
An der Liebe und Liebesfähigkeit gemeflen, treten die Männer neben dieſen
Frauen in den Schatten. Doch erfcheinen fie nicht ſchwächer, nur unbigciplinierter iſt
ihre Kraft, äußerlicher ihr Wollen. Der Meine Beamte, der in feiner Unverftändigfeit
und Härte den Sohn, den er liebt, in den Tod treibt; der ſchneidige Maslan, der
feiner Frau die Treue nicht zu halten vermag, ein Trogkopf, der nicht nachgiebt und bei
al feinem Übermut doch ein ganz naives Naturkind ift; Graf Lothar in „Uneröffnet zu
verbrennen“, der feine Frau fo lang fie lebte niemals recht geliebt Hat, auch gar nicht
daran dachte, ihr treu zu fein, und dem dann nad ihrem Tode Eiferfuchtöqualen
erftehen, — freilich eine kalte Eiferfucht aus kaltem Ehrbegriff geboren; ein ſehr
zweifelhafter Charakter, und doch ein Mann, kraftvoll in feinem Thun und kraftvoll
aud in feinem Seren.
Man hat Frau Ebner unzähligemal eine Erzieherin genannt: es trifft das fo
ſehr ihr Weſen, daß ich das Wort gern wiederhole. Eine Erzieherin ift fie auch in ihren
Spätherbfttagen. Deshalb eine fo große, weil fie die Naturkraft in dem Kinde voll
empfindet. An ihr „Gemeindefind“ erinnert der Provi, von dem fie in ber Meinen
Erzählung „Die Spigin” erzäßlt. Zigeuner haben den Buben einmal zurüdgelaflen,
und dann ift er im Dorf aufgewachſen, von allen herumgeftoßen und verachtet, und
Aus Marie Ebners Spätherbfttagen. "481
Mädchen geheiratet, die er als Kind im fein Haus aufgenommen und erzogen hatte.
Nach Jahren glüdlicher Ehe verliebt fie fih in feinen Schüler, und an ihren Totenbett
if der im flande, ihr die legte Stunde mit feiner Liebe und feinem Verftändnis zu
verflären. Der alte Mann aber befiegt das Haßgefühl, den Schmerz im eignen
Herzen: „Steh auf! Ich beneide di, du Haft der DVielgeliebten das Sterben füß
gemacht.” — Die ſchwere Stunde feines Lebens fam und fand ihn gerüftet.
In den Prüfungen des Lebens wachen Charaktere ſcheinbar fiber fich felbft
hinaus. Der Fernerflehende fünnte von einer Charakterivandlung fprechen; die giebt
es nicht; aber es giebt ſehr verſchiedene Lebenzgeftaltungen — zum Guten oder zum
Böfen — bie innerlich im Bereich desſelben Menfchen ftehen. Auch folgen Charakters
problemen geht Frau Ebner nad). Der Provi, der „Abſchaum“, wird ein anderes
Leben führen, nachdem einmal fein Herz ſich erweicht hat, nachdem er einmal fich
felbft bezwungen. Die Mutter des „Vorzugsſchülers“, die vergrämte und verängftete
Frau, tritt ihrem Mann mit einem Mal ganz ander gegenüber. Einen beinah
mütterlihen Ton ſchlaägt fie gegen ihn an, wie er in Eelbftqual um ben Tod des
Sohnes ſich ganz verliert; die Überlegene ift fie getvorden, aus der ängftlichen eine
ganz jelbftfichere Frau. Auch in der Heinen Skizze „Ein Original” geht Marie Ebner
ſolcher ſcheinbaren Charakterwandlung mit pſychologiſchem Forfchereifer nad. Bon
einem Mann erzählt fie, einem Sonderling, der an nicht? Anteil nimmt, ftumpf vor
fih Hin lebt und ſich ganz an technifche Spielereien verliert. Da wird ihm eine Tochter
geboren, in der er fein Selbft, aber veredelt, gefteigert, gekräftigt, wiederfindet. Und
er liebt diefe Tochter, und durch fie geht das Herz ihm auf, und er lernt mitempfinden.
Aber iwie diefe Tochter dann firbt, ift er plöglich wieder der Alte, der teilnahmlofe
Sonderling. —
Sp gehen diefe faft ausnahmlos ftarfen Menschen durchs Leben, und beinahe
immer fieht man fie in den Kämpfen, die fie zu beftehen haben, erftarten. In all
diefen Erzählungen beſteht ein tiefer, organifcher Zufammenhang zwiſchen Perfönlichkeit
und Schidjal, und aus dem Zuſammenwirken beider löſt fih auf den Lefer ein
Eindrud ab, in dem das Herz fich weitet. Man empfindet tief das Ausgeglichene
diefer künftlerifchen Weltanſchauung. Auch das ein Beweis der Kraft.
In einer Zeit, da vieler Hände müde getvorden find und die Refignation ihr
Xodlied anftimmt, geht ſolche frohe, ermutigende Botſchaft der Kraft aus — von einer
Frau in ihren Spätherbfitagen.
3
482
Der Franentag in Mürnberg.
BRlire Salonıon.
. UWE NN
Nachdruck verboten.
ie Stadt der großen Vergangenheit, Nürnberg, bot in ben Tagen vom
| %, 9. bis 13. April zum zweiten mal den ftinmungsvollen Rahmen für
ein Bild, ‚zu dem nur Die Gegenwart die Farben abgeben Tonnte, und dag für
fommende Zeiten den Ausblick auf eine Aufwärts: und Vorwärtöbewegung gewährt:
für einen Frauentag.
Al im Jahre 1893 die Generalverfammlung des Allgemeinen Deutichen Frauen:
vereind in Nürnberg tagte und Frauen aus allen Teilen des deutjchen Landes ein
. noch nicht erlebtes Neues in die Mauern der alten Stadt trugen, da galt e8 nod
anzuregen, den bayriſchen Frauen die Wege zu teilen, die man in anderen Zeilen
Deutichlands jchon befchritten hatte. Diesmal — bei dem zweiten in Nürnberg ftatt:
findenden Frauentag — galt es, eine bayrifche Parade’ abzuhalten, einen Überblid
zu geben über das, was die Frauen Bayerns bisher, was die Frauen Nürnberg
in diefen acht Jahren erftrebt und erreicht Haben, über ihr Wollen, Schaffen und
Können.
Der Gedanke, neben den großen VBerfammlungen des Bundes Deutjcher Frauen—
vereine und des Allgemeinen Deutjchen Frauenvereins, die in den verfchiedenen Teilen
Deutſchlands abwechjelnd ftattfinden, bejondere bayrifche Frauentage zu veranitalten,
ift vom Münchener Verein für Frauenintereffen ausgegangen. Nicht partitulariftifche
Intereſſen follten dabei gepflegt, nicht ein Staat im Staate gefchaffen werden; nut
den Sonderbedürfnijfen der kleinen und Eleinften Städte, in denen eine organijierte
Frauenbewegung noch nicht beftand, deren Frauen erſt allmählich zu einem Verftändnis
der Frauenforderungen gefchult werden mußten, wollte man gerecht werben. Daß die
Frauen der bayrifchen Landeshauptitadt bei den Vorarbeiten für den erften bayrifchen
Frauentag, der im Sabre 1899 in München ftattfand, Erfolg hatten, daß fie durd
das Anbahnen von Beziehungen und das Anknüpfen von Verbindungen mit Vereinen
und Einzelperfonen auch für alle ſpäteren bayrijchen Frauentage wertvolle Vorarbeiten
geleiftet, nicht nur ein Nugenblidzinterefje zu entfalten gewußt haben, bewies bie
ſtarke Beteiligung am zweiten bayrischen Frauentag, der von 53 auswärtigen Delegierten
aus 15 bayrifchen Städten beſucht war.
Die ſehr lebhafte Beteiligung aus allen Kreifen der Stadt Nürnberg, die mit
jedem Tage zunahm und am legten Abend den etwa 1500 Perfonen fallenden Rathaus:
faal ganz füllte, die Teilnahme der Königlichen Regierung und der ftädtiichen Behörden,
die Vertreter delegiert hatten, die paffive und aktive Teilnahme von zahlreichen Männern
aller Berufsfreife — deren ſich in ſolchem Umfange noch nicht oft ein Frauentag bat
484 , Der Frauentag in Nürnberg.
Frauenvereins ihr Entfiehen. Was diefe Vereine felbit geworden, was fie im Leben
der Stadt Nürnberg bedeuten, ift in erjter Linie auf ihre Begründerin und Vorſitzende,
Helene von Forfter, zurüdzuführen. Eine Verjönlichkeit, in der Warmberzigfeit und
Humor und alie liebenswürdigen Züge ſuddeutſcher Eigenart fich mit einer jeltenen
Thatkraft, mit feltenen organifatoriichen Gaben vereinigen, ift fie wie wenig andere
dazu geichaffen, der Sache, für die fie eintritt, Boden zu gewinnen, Sleichgiltige zu
erwärmen, Skeptiker zu überzeugen, Gegner zu entivaffnen. Für die Frauen bewegung
war eben ihre Perfönlichkeit um jo wertvoller, als fie das feltene Glück bat, Für ibre
Arbeit das volle Verftändniß und die thatkräftige überzeugte Mitbilfe ihres Gatten
zu finden, dem fie ibrerjeitS in einer ausgedehnten augenärztlichen Praris AL erſier
Aſſiſtent am Operationstifch und in der Klinik zur Seite fteht.
Wer es mit erlebt bat, wie viel wirfjame Anregungen Helene von Forfter in
öffentlichen Vorträgen, felbjt in dem fühlen Norddeutichland, gegeben bat, der wirb Sid
nicht darüber wundern, wie fchnell es ihr gelungen ift, in ihrer Baterfiadt
Nürnberg eine Schar von tüchtigen und jchaffensfrohen Menfchen um ſich zu ſcharen,
die ihren Ideen folgen und durch ihr Brganifationstalent zu jelbftändigem
Thun gedrängt werden. Auf ihren Einfluß, auf das freundliche und liebevolle
Berftändnig, das fie jeder Mitarbeiterin entgegenzubringen weiß, ift es zurücd—
zuführen, daß die Nürnberger Frauenbewegung, die nicht nur eine große Anhänger:
zahl Hat, jondern auch reich an ftarken Individualitäten ift, bisher vor jeder Diſſonanz
bewahrt geblieben ift.
Auf ein harmonische Zuſammenwirken waren denn auch die Verhandlungen des
ganzen Frauentages geſtimmt, troß aller verjchiedenartigen Anfchauungen, die dabei zu
Tage traten. Ohne jede Schärfe und Bitterkeit, ohne daß auch nur ein einziges Dial
ein perjönlicheg Moment in die Augeinanderjegungen getragen wurde, ftrebten die
Debatten nach einem Ausgleich der Meinungen, rangen alle Beteiligten, Frauen
und Männer, Anhänger und auch Gegner der Bewegung — an denen es keineswegs
fehlte — voll Ernft und Eifer nach der rechten Einficht, nach Klarheit und nach
Wahrheit. .
Im einzelnen auf die Verhandlungen einzugehen, verbietet da3 reichhaltige
Programm, das fich einesteild an die Nürnberger Einrichtungen anlehnte, andernteils
durch Behandlung der Fragen, die in Nürnberg bisher noch nicht Boden gewonnen,
neue Anregungen geben wollte. So wurde die Frage des Frauenftudiums durch
einen Vortrag von Brof. Nehm: Erlangen erörtert; die Arbeiterfrage war durch einen
Vortrag über Heimarbeit und durch Referate über die Dienftbotenfrage im
Programm vertreten. Im Zufammenhang damit müſſen die Verhandlungen über
Drganifation der Handelsgehilfinnen genannt werden, die Zeugnis von dem
wachſenden fozialpolitifchen Intereffe innerhalb der Frauenbewegung ablegten.
Den Verhandlungen, die an die Nürnberger Einrichtungen anfnüpften, wird
am beften durch einen kurzen Überblid über die Veranftaltungen des Vereins Frauen:
wohl Rechnung getragen, die auch in einem einleitenden Bortrag von Fräulein
Mathilde König, der Schriftführerin de3 Vereins, behandelt wurden. Der Verein
Frauenwohl, der auf die Anregung bin, die die Generalverſammlung des Allgemeinen
Deutjchen Frauenvereind in Nürnberg gab, gegründet wurde, zählt im fiebenten
Sabre feines Beſtehens 2647 Mitglieder; bald nad) Gründung des Vereind
Der Frauentag in Nürnberg. 485
wurden Abendkurſe eingerichtet, die fich durchichnittlich im Jahre eines Beſuches von
etwa 1000 Schülerinnen erfreuen. Der Unterricht im Nähen, Scneidern, Fliden,
Bügeln, Wäfchezufchneiden und in fremden Sprachen wird von bewährten Lehrerinnen
erteilt. Da der Andrang von Cchülerinnen fo groß ift, daß alljährlich viele
abgewiefen werben mußten, hat der Verein im legten Jahr noch eine Frauenarbeit
ſchule übernommen und ben Beduürfniſſen entiprechend umgeftaltet und ausgebaut.
Außer den in den Kurfen gelehrten Disziplinen wird Hier noch Unterricht im Stiden,
Putzmachen, Blumenmaden, Buchführung, Stenographie, Malen gegeben, auch wird
der Vorbereitungsunterriht zur Lehrerinnenprüfung für Handarbeiten in der
Anftalt erteilt.
Neben der praktiſchen und beruflichen Vorbildung ftrebt der Verein bie geiftige
Förderung der Frauen durch Veranftaltung von Kurfen über mebizinifche Gegenftände,
Bildungsfragen, Rechts: und Gefegesfunde an.
Eine der wertvollſten Schöpfungen des Vereins ift das Wöchnerinnenheim, das
von den Teilnehmern des Frauentages befichtigt wurde und Veranlaffung zu
Vorträgen über Wöchnerinnenhygiene und über die foziale Bedeutung ber
Wöchnerinnenheime gab. Mit warmen Empfinden und der Sachkenntnis, die
nur langjährige Erfahrung zu geben vermag, erörterte Frau Elife Hopf in dieſem
legten Vortrag unter anderem die Frage, ob ſolche Heime auch unverehelicgten Müttern
zugänglich fein follen. Im Nürnberger Heim ift — ähnlich wie aud) in Berlin —
die Frage dadurch gelöft worden, daß eine befondere Abteilung für ſolche Mütter
vorbehalten ift. Dem Heim ift eine Pflegerinnenfchule angegliedert, in der Wochen:
pflegerinnen ausgebildet werben; eine Einrichtung, die um fo dankenswerter ift, als
in Nürmberg — wie auch vielfah anderwärts — das vorhandene brauchbare
Pflegerinnenmaterial nicht annähernd dem Bedarf entfpricht.
Seit längerer Zeit ift der Bau eines Arbeiterinnenheimd vom Verein in Aus:
fiht genommen; ferner Hat er ſich ſchon vor Jahren damit befchäftigt, eine Reform
des Biehlinderweiend herbeizuführen; er hat erfolgreich gegen das Sitzverbot für
Ladnerinnen angelämpft; er befigt eine Stellenvermittlung für Hausbeamtinnen, die
als Abteilung dem großen deutichen „Hausbeamtinnenverein” angegliedert ift und
ſteht augenbliclich in Unterhandlung mit den fläbtifchen Behörden, um die Zulafjung
der Frauen zur öffentlichen Armenpflege zu erlangen.
Bon der Ortsgruppe des Allgemeinen Deutfchen Frauenvereind, bie in engiter
Fühlung mit dem Verein Frauenwohl arbeitet, ift ein Ausfunftsbuch über die Nürnz
berger Wohlfahrt3einrichtungen herausgegeben worden.
Daß neben der Propaganda der That auch die Propaganda des Wortes nicht
vernachläffigt wird, daß der Verein fi nicht damit begnügt Hat, auswärtige
Nebnerinnen für gelegentliche Vorträge und Veranftaltungen zu gewinnen, fondern
auch beftrebt war, die Nürnberger Frauen für diefe Aufgabe zu ſchulen, haben die
Verhandlungen des Frauentages beiviefen. Neun Nürnberger Frauen waren mit Vor:
trägen und Referaten im Programm vertreten, die in Inhalt und Form zum Teil
Vorzügliches boten. Auch die Beteiligung an ber Diskuffion war für fo große
Verfammlungen eine ungewöhnlich lebhafte, namentlich nad den Vorträgen von Frau
Roeper:Houffelle über Mädchenbildung und Prof. Dr. Rehm über Frauen:
Rudium.
486 Der Frauentag in Nürnberg.
Unter einer Reihe von Vereindberichten aus andern bayriſchen Städten mur
audy der Bortrag über die Frau in der Armenpflege von Fräulein Emilie von
Wallmenich (Bamberg) und der Vortrag über Landkrankenpflege von Dr. med.
Gräfin von Geldern:Egmond (Münden) erwähnt werden, die ebenfo mie dic
Vorträge von Ita Freudenberg (München) über die Frau als Arbeitgeberin,
von Elementine von Braunmühl über die Frau im Gewerbe und Helene
Sumper über Fortbildungsjchulen in Stadt und Land mannigfache praftiiche
Anregungen boten.
Bejondere Erwähnung verdient endlich noch der Vortrag von Herm Dr. Siegmund
von Forfter über dad Thema: Die Frau und die Volksbildungsbewegung.
Er führte aus, wie die Frau von ber Natur zur Mitarbeit an diefer Bewegung aan;
beſonders befähigt jei, wie man diefe ihre Kraft in anderen Ländern bereit3 in weitem
Umfange verwertet babe, während bei uns felbit das Wirken einer Seannette Schwerin
verhältnismäßig wenig Verftändnis und Nachfolge gefunden habe.
Die Saftfreundfchaft, die zu einer Begleiterfcheinung von Kongreffen und Frauen:
tagen gemworden ift, wurde den Nürnberger Gäften in einer bejonderd anziebenden
Form geboten. Durch Aufführung eine® von Helene von Forfter gedichteten
Feltfpield nad) Schluß des Frauentages bewiejen die mitwirkfenden Anbängerinnen der
Frauenbewegung, daß fie ſich
„auch im holden Reich des Schönen
in den Formen, Farben, Tönen“
zurechtfinden, und den Sinn dafür bei der Arbeit nicht verloren haben. In den
Häufern mehrerer Borftandsmitglieder, die fich gaftlich den Fremden öffneten, fanden
ih nah Schluß der täglichen Verhandlungen die Delegierten zuſammen, um bei
zwanglofer Gejelligfeit den Meinungsaustaufh über das Gehörte fortzufegen und
gemeinfam Pläne zur Ausführung der gewonnenen Anregungen zu beraten.
So haben die Nürnberger Frauen fein Mittel unverjucht gelaffen, um dem
ziweiten bayrifchen Frauentag einen erfolgreichen Berlauf zu fichern; fie haben verfucht
zu beweilen, daß fie von dem Willen bejeelt find, zur Erwerbung bober, fittlicher
Güter für das deutfche Land beizutragen, der großen Kulturbewegung unſerer Zeit
neue Süngerinnen zuzuführen. Und wohl mancher, der mit Zweifeln zum Frauentag
kam, mag durch die Kraft und das Können, das die bayriſchen Frauen offenbarten, bei
den Verhandlungen zum Glauben an das Dichterwort befehrt worden fein, mit dem
Helene von Foriter die Tagung einleitete:
„Die Frauen werden die Menjchheitsfragen löſen; als Mütter müſſen
ſie es thun.“
487
Htaatliche Wohnungsfärforge in Freußen.
Ir. wrig· Beil,
I Naqhdrua verboten. 2*
Da Jahren fteht in Deutihland die Wohnungefrage im Mittelpunkt des öffent—
“ lichen Intereffes. Überall, wo ſich unfer wirtfchaftliches Leben in auffleigender
Linie bewegt, erhebt fie ihr Haupt, und faft an allen Orten ift fie infolge arger
Vernahläffigung zur Wohnungsnot ausgewachfen.
Die Mieter, befonder8 die Meinen Leute, fehen jedem Kündigungstermin mit
Beſorgnis entgegen. Wird er ihnen wieder, wie fehon fo oft, eine neue Steigerung
bringen, die ihre wirtfchaftliche Lage verichlechtert oder bie etwa eingetretene Der:
befjerung berfelben wieder illuforifch macht? Wohin jollen fie gehen, wenn es ihnen
nicht gelingt, eine neue Wohnung zu mieten, ind Afyl für Obdachlofe, zu Verwandten,
in die Bretterbuden der Laubenvorftädte? Wie wird die Wohnung ausfehen, die fie
vieleicht noch im legten Augenblid für ſchweres Geld bekommen? Wird fie nicht,
wie fo viele andere, ein ungefundes Loc) fein, ungeeignet für den dauernden Aufents
halt von Menfchen, von der Polizei aber umbeanftandet, weil man nicht weiß, wo
die Leute fonft bleiben follen?
Das ift in wenigen Strichen ein Bild de3 modernen großftäbtiichen Wohnungs:
elends. Einfihtige Leute Haben fon lange eine nachdrüdliche Bekämpfung dieſes
freffenden Übels an unferm Volkskörper gefordert. Allen voran haben die deutſchen
Bodenreformer auf feine Urſachen aufmerkſam gemacht, die in ber gemiflenlofen Aus—
beutung des privaten Eigentumsrechte® an Grund und Boden, beſonders durch bie
Bodenfpefulation, zu fuchen find. Private Hilfe ift hier völlig unmöglich; das liegt
in der Natur der Sache. Darum verlangte man von den Gemeinden kräftige Maß—
regeln zur Abhilfe der Wohnungsnot.
Damit kam man aber bei den Mancyefterleuten, die in unfern Großftädten am
Nuder ftehen, fchön an. Sie leugneten das Vorhandenſein einer Wohnungenot
entiweder überhaupt, wie der Stadtverorbnete Wallach in Berlin, ober fie priefen,
wie die Freifinnige Zeitung in diefen Tagen, als einziges Mittel zur Bekämpfung
der Wohnungsnot die Thätigfeit der Privatipefulation, alfo den Bobenwucher.
Difficile est, satiram non scribere! Andachtig rutfchte man auf den Knieen vor
dem Idol des „freien Epiel3 der Kräfte”: wer aber an biefen alten Götzen nicht
mehr glaubt, den fuchte man zu fchreden, indem man das blutrote Bild des ſozial⸗
demokratiſchen Zufunftöftantes als notwendige Konfequenz einer vernünftigen Wohnungs⸗
fürforge der Gemeinden an die Wand malte. Einige ivenige Ausnahmen, Düffeldorf,
Frankfurt a. M. und Halle, abgerechnet, verfagte die Selbftverwaltung unfrer Städte
in diefer wichtigen Frage leider vollftändig.
Nunmehr verfucht die preußiiche Regierung, einen fanften Drud auf bie
Gemeinden auszuüben. Am 4. April d. 3. veröffentlichte der Neichdanzeiger zwei
gemeinfame Erlaffe der Minifter des Handels, der Medizinalangelegenheiten, des
488 Sprüde.
Innern und der Landwirtichaft an die Ober: und Regierungspräfidenten, in Denen
Mapregeln zur Linderung der Wohnungsnot angeregt werden. Die Erlaffe bezeichnen
die Bodenfpefulation ala Haupturfache des berrfchenden Wohnungselendd, machen es
den Gemeinden zur Aufgabe, dem Übel abzubelfen und ftellen eine geſetzliche Regelung
der Wohnungsfrage in Ausfiht. Als Mittel gegen die Wohnungenot werben den
Gemeinden empfohlen: Herftelung von Wohnungen für Arbeiter und Beamte ber
Gemeindeverwaltungen, finanzielle Unterftügung der gemeinnügigen Baugefellfchaften,
Ausbau der Verkehrsmittel und vor allem eine gejunde Bodenpolitif der Gemeinden.
Gemeindebefit an Grund und Boden ſoll grundfäglich nicht veräußert werben. Die
Gemeinde jol im Gegenteil möglichit viele Grundftüde jelbft erwerben und fie den
Baugejellichaften zur Herftellung von Häufern in der Rechtsform des Erbbaurechte:
überlaffen. Die Privatipetulation in Grund und Boden fol auf jede mögliche Weiſe
erichwert und verhindert werden.
Das Wichtigfte an diefen Erlaffen ift die klare Erkenntnis des Grundübels und
die Aufftellung des Grundjages, daß die Regelung der Wohnungsangelegenheit eine
Aufgabe der Gemeinde if. Was die Bodenreform feit Jahren vertreten bat, wird
bier zum erftenmale von der preußischen Regierung angenommen. Über die Einzel:
forderungen läßt fich ftreiten. Ob es 3. B. gut und richtig iſt, die Arbeiter und
Beamten der Gemeindebetriebe zu kajernieren, das beftreiten vor allem die Beteiligten
jelbft, die von dieſer Maßregel eine Beeinträchtigung ihrer perjönlichen Yreibeit
befürchten. Aber das find fchließlich Kleinigkeiten. AS Ganzes genommen muß man
die Erlafje durchaus freudig begrüßen. Man kann nur eins wünſchen: Möchten fie
nicht wie jo vieles andre auf dem Papier ftehen bleiben, jondern Fräftig durchgeführt
‘werden! Glüdauf zu diefen „neuen Schritte in den fozialdemofratiichen Zufunftsitaat”,
wie unjere Stadtväter Jagen werden.
prüche. —
Miriam Eck.
Die größte Liebe aber kann ſich nur in der Entſagung bethätigen. — Die feinſte und vornehmſte
Kunſt des Weibes iſt die Entſagung.
%*
Entjagende Menſchen baben bie fruchtbringendften Thaten gethan — alſo foll die Frau ibr
Entfagen in Bethätigung umjeken.
x
Wir baben auf der einen Seite eine barte, liebloſe Sunafräufichkeit und auf der andern eine
eigennüßige und befledte Liebe! Wo finden wir die reine Yiebe, die Yicbe, die glübend und Frpftallrein
zugleich ift? Schließen diefe Eigenichaften einander aus?
Man findet fie in der Yicbe der Märtyrer, der himmliſchen und der irdifchen.
%
Es giebt in der Liebe ſowohl Geſetze als eine böbere Inftanz. In Sonderfüllen, wo das Geſetz
richtet und richten muß, ift es der böchiten Inſtanz vorbehalten zu begnadigen.
Der Klein
Paula
Rahdrud verboten.
inter dem nörblihen Friedhof laufen
die Straßen Mündens in eine ungeheure,
dürre, häßliche Wiefe aus, die Schwabing von
diefem Viertel der Stadt fcheidet. In dem
legten Haufe einer folden Straße faß hinter
einem Fenſter des erften Stodwerls ein Knabe
und brüdte fein ſchmales, gelbes Geficht platt
an die Scheibe. Die Straße mar wenig
belebt. Den Einblid auf das Kirchhofsfeld
verwehrten ihm die teilweife noch belaubten
Bäume, aber einen Teil der Wiefe, auf dem
gerade eine Kinderſchar fpielte, konnte er gut
überbliden.
„Andreas“, fagte die Mutter, „zieh mir
die Heftfäden aus!” Der Heine Knabe glitt
fogleih vom Fenſterbreit herunter und nahm
das Höschen in Empfang, das die Mutter
ihm aus einem abgethanen Bureaurock des Vaters
zurechtgefchneibert hatte. Er fegte fih auf
einen Schemel zu ihren Füßen nieder und zog
eifrig Fäden aus. Die Frau, von ber ber
Junge die hohe, ſchmale Kopfform, den gelben
Teint und die enge Bruft geerbt hatte, breitete
inzwifchen eine Anzahl von Stoffreften auf
ihrem Nähtiſchchen aus, paßte einen alten
vergilbten Papierſchnitt darauf und ſchob bie
Flicken und das Papier unermüblid um. Sie
hob vom Boden ein winziges Stoffreſtchen
auf, ftedte es mit Nadeln feſt und ergänzte fo
eine fehlende Ede.
„Nun reicht es auch noch zu einer Bloufe
für dich!“ ſagte fie zu dem Knaben.
Andreas hatte feine Arbeit gethan, gab
ihr das Kleidungsftüd zurüd und widelte die |
Heftfadenendchen forglih auf eine Epule.
Diefe Fadenendchen — einjt weiß — waren
ſchon gelbgrau vom häufigen Gebraud.
*
e Andreas.
Winkler.
Als Frau Magdalene fih mit dem
Minifterialfefretär Wolf verheiratet hatte, war
fie Mitte der Zwanzig geivefen, ein hageres,
einfilbiges, reizlofes Geſchöpf. Sie hatte ein
Heines Vermögen in die Ehe gebracht, deſſen
Zinfen aljährlich zum Kapital gefchlagen wurden.
Vom Gehalt ihres Mannes vermochte fie auch
nod einen Teil zurüdzulegen, und überdies
hatte Wolf noch eine Nebeneinnahme, da er
wöchentlich mehrere Abende im Bureau feines
älteren Stiefbrubers zubrachte, um deſſen Bücher
zu rebibieren, wofür biefer — ein wohl
habender Yabrifant ihn reichlich ent⸗
ſchädigte.
Magdalene hatte vom erſten Tage ihrer
Ehe an mit jedem Pfennig gerechnet. Damals
hatte fie ſich ein ganz junges Dienſtmädchen
gehalten, dem fie fo gut wie micht® bezahlte.
Diefes Mädchen jedoch — es war eine robufte
Bauerntochter getvefen — hatte eine ungeheure
Eßluſt befeffen und war dadurch eine Duelle
nieverfagenden Ärgers für bie fparfame Magba-
Iene geweſen.
Im zweiten Jahr ihrer Che lag auf den
Kiffen im Wäſchekorb, den man neben Mag-
dalenens Bett auf zwei Stühle gefeßt hatte,
ein winziges, gelbes, ſchwächliches Kerlchen,
Magdalenens volllommenes Ebenbild, der
kleine Andreas. Vom Vater hatte das Kind
nur die graublonden, ſchier farbloſen Haare
geerbt und die ebenſo farbloſen Augen.
Als Magdalene wieder aufſtand, war ihr
ohnedies vorgebeugter Rüden noch ſchiefer,
und man konnte deutlicher als bisher erkennen,
daß ihre rechte Schulter höher als ihre linke
war. Sie hatte nicht im Bette bleiben können,
aus Angſt, es möchte hinter ihrem Rücken im
Hauſe etwas veruntreut werden. —
490
Um diefe Zeit fagte ihr Mann einmal des
Abends nad) Tiich zu ihr:
„Heute bin ich Helene Forſtner begegnet.
Sie will ſich demnächſt verheiraten.” Darauf
Ichwieg er eine Weile nachdenklich, dann ſagte
er mit eigentümlichem Lächeln:
„Du tmeißt vielleicht garnicht, daß ich felbft
eine Seit lang daran bachte, fie zu heiraten.
Hübſch ift fie ja! Außerdem rieten mein
Bruder und meine Schwägerin mir lebhaft zu
der Verbindung. Ein ganz nettes Vermögen
batte fie auch — —“
Er nannte eine Summe, die Magdalenens
Vermögen beinahe um die Hälfte überſtieg.
Sie ſah erſtaunt von ihrer Arbeit auf. —
„Nun, weshalb thateſt du's nicht?“, fragte ſie.
Ya, ſiehſt du”, antwortete ihr Mann,
„ich beobadytete das Mädchen fo. Wir waren
jede Woche einmal zufammen bei meinem
Bruder eingeladen.
Da trug fie einmal ein neue? Kleid, das
nächte Mal einen anderen Hut, bald hatte fie
ein Konzert befucht, dann war fie wieder im
Theater gewwefen. Im Sommer reifte fie
ins Bad.
Siehft du, Lena, da dacht ih mir: fo
eine paßt doch nicht für dich! Die Zinſen
ihres Geldes reichen gerade für ihre Kleider
und ihr Vergnügen. Und von der Wirtfhaft
verfteht die ganz gewiß nichts. .
Sieber eine, die weniger mitbringt und
weniger hübſch ift, — aber bejcheiden in ben
Ansprüchen. Eine, die mir im Haus mit an-
greift und zufammenhält, was da ift. Hab
ih nicht recht?”
Er Hopfte fie auf die hohe Edhulter.
Da zudte das magere, gelbe Gejchöpf, das
jest nach der Geburt bes Kindes, erſchöpft
und gealtert, reizlofer als je erfchien, vor
innerfter Glüdfeligfeit zufammen. hr tar,
ala bätte ihr einer ein Königreich gefchenft.
So ergriff fie dies halb verhehlte Lob ihres
Mannes, der, wie fie felbft, gefühlsfarg, ihr
faum je eine Liebkoſung ſpendete.
Sie lag die Naht über ſchlaflos vor Gr:
regung. Einige Tage Später ſagte fie zu
ihrem Gatten:
„Du Mar, — ih hab mir das jo über:
legt, das Mädel, die Kathi, haben wir nicht
nötig. Die ißt wie ein Dreher. Man kann
Der Kleine Andrea.
fih auch mit allerlei noch einfchränfen, wenn
fo ein Frauenzimmer einem nicht ewig in allı
Töpfe und Läden gudt! Und dann braudıen
wir ihre Kammer fo notwendig. Ich nehm'
mir eine Aufivärterin.”
„Sa wirft du denn fo mit der Arbeit
fertig?” meinte Wolf.
Sie dachte an das Lob, das er vor kurzem
ihrer Sparſamkeit und ihrem Fleiße geſchenkt
und wurde ganz rot. Wolf, eben zum Auz-
gehen gerüftet, reichte ihr bie Hand und fagte:
„Ra, verſuch's halt. 's wär freilid einc
Ihöne Erfparnis!“
Andread war jeßt drei Jahre alt. Er
hatte, ſchwächlich wie er geblieben war, überaus
ſpät gelernt zu gehen. Auch jegt fiel e3 ibm
noch ſchwer.
Indes fammelte der dreijährige Knirps jetzt
Ihon blanke Nidel, die ihm die Eltern ab und zu
ichenften, wie man Kindern fonjt Obſt und
Bonbons giebt, in einer Pillenſchachtel. Er
merkte febr genau, wenn eines der Eltern ihm
im Scherz eine Münze herausgenommen.
Dann ſuchte er in allen Eden und Winkeln,
froch unter Tiſche und Etühle, begann fchlich-
lich ganz kläglich zu heulen und wurde nicht
ruhig, ehe er das Bermißte hatte. — — —
Als Andreas vier Jahre zählte, entließ
tagdalene die Aufmärterin, um allein die
ganze Wirtfchaft zu übernehmen. Ihre ein:
zige Hilfe war der kleine Andreas, Er be—
forgte, was fie an fleinen Dingen in der
Küche bedurfte, rihtig und pünftlid. Nie
hatte er Gelb verloren oder eine Düte zerrifien,
wie andere Zungen thaten.
Einmal, als fie ihn mit einer Fleinen Kom:
miffion auf die Straße geſchickt hatte, hatte ihn ein
Hund gebiffen. Er fam mit blutendem Bein
nad) Haufe, zitternd und balbtot vor Angit.
Dod) hielt er das Sträußchen Peterfilie, das
er eingefauft hatte, treulic in der einen Hand,
während die andere fo Frampfhaft über ein
paar Pfennigen zufanınengeballt war, daß fid)
die Nägel in das Fleiſch gegraben batten. —
Andreas ging zur Schule. Er lernte
ziemlich Schwer, war aber fleißig und fill, fo
daß ber Lehrer feine Klage führte. Seine
Der Heine Andreas.
Mitſchuler aber haften ihn bitter und prügelten
ihn, wo fie ihn erwiſchen konnten. Er fannte
alle Gänge und Schlupiwinkel auf dem
Schulwege und benußte fi, um fi feinen
Peinigern zu entziehen.
Hingegen fchlug er alle Heinen und ſchwäch⸗
lichen Kinder und war in der ganzen Etrafe
von ihnen gefürchtet. Zu Haufe klagte er
niemals, — auch nicht, wenn man ihm noch
fo übel mitgefpielt hatte.
Er brachte vielmehr beinahe täglid Spiel:
ſachen nady Haus, die er — wie er fagte —
von anderen Kindern geſchenlt befommen ober
gefunden hatte,
Diefe Dinge verſchwanden indefien nad
einiger Zeit wieder. Dafür manderte ein
Geldſtuck in die Sparkafje. Andreas verfaufte
ober vertaufchte diefe Dinge gegen Gelb.
Er hatte auch ein regelrechtes, Meines Ver⸗
leihgefhäft mit Bleiftiften, Federn und Papier,
die er feinen vergeßlichen ober nadläffigen
Mitfhülern gegen Tribut von einigen Nideln
überließ. Ein Kind, das ihm irgend etwas
ſchuldete, verfolgte er mit unerhörter Aus:
dauer. —
Die Eltern hatten den Anaben um feiner
Sparſamleit willen lieb. „Nie vernaſcht er
einen Pfennig“, fagte Magdalene. „Er wird
es zu etwas bringen!” ...
Andreas erreichte in dieſem Winter ſein
achtes Jahr. Immer noch war er ein
ſchmãchtiges, ſchwaches Bürſchlein und eigent⸗
lich doch wieder von merkwürdig zäher Art.
Beinahe immer war er verſchnupft, er-
tältet, huftete, ober war irgendwie fonft nicht
wohl. Das Schüffelhen mit Bruft:, Kamillen⸗
ober Minzenthee kam faft nicht aus der Dienröhre.
Das war eine fortwährende Sorge für
Magdalene.
Einmal in diefem Jahr hatte Andreas den
Eltern noch außerdem furdtbaren Kummer be:
reitet.
Magdalene hatte Andreas dabei betroffen,
ein größeres Gelbftüd durd die Öffnung der
Sparbüchſe zu zwängen. „Ich habe es auf der
Treppe gefunden!”, hatte er gefagt.
Nach einer Weile erſchien eine Nachbarin,
der Andreas mandmal gegen Heine Gefchente
an Geld Kommiffionen machte, bei Magdalene
und behauptete, Andreas habe ihr ein Geld:
491
ftüd vom Tifch entivendet. Magdalene zerſchlug
die Eparbücfe. Das vermißte Gelvftüd fand
fih unter den übrigen Heineren Münzen.
Andreas fauerte mit verfiodtem Gefiht in
der Eofacde.
Die Frau ging. —
Magdalene taumelte gegen den Schrank
und ftieß fi) eine Beule an der Stirn. Wie
eine Wahnfinnige fah fie aus, die Augen
quollen hervor, fie brachte feinen Laut über
ihre Lippen.
Andreas wollte durch die Thür entfchlüpfen.
Da rannte fie auf ihm zu, ſchüttelte ihn, bis
ihr der Atem ausging, riß ihm die Kleider
vom Leibe, warf ihn auf fein Bett und ver-
ſchloß die Thür feines Kämmerchens.
Sie Heidete ſich mit furchtbarſter Haft zum
Ausgehen an; fie, die Sorgfame, zerbrach die
Halten und zerriß den Beſatz mit zitternden
Händen.
Den weiten Weg bis zum Minifterium
lief fie befinnungslos. Eine Stunde lang
ftand fie vor dem Haufe und wartete. Dann
tatn Wolf herunter. Unter lautem Meinen
erzählte fie alles.
Wolf entfärbte ſich, ſprach aber fein Wort.
Ganz verfunfen gingen fie neben einander her,
er in verbiffenem Zom, fie leife weinend in
bilflofem Gram.
Magdalene wartete auf ein gutes, tröftendes
Wort. Aber es blieb aus. —
Zu Haufe rannte Wolf in die Schlaf:
tammer des Knaben.
Cie war ganz erfüllt, mit dem faben,
albernen Geruch, den der Körper des Knaben
ausftrömte, der feinen Kleidern anhaftete und
allem, was mit ihm in Berührung fam.
Wolf riß Andreas aus feinem Bett und
ſchlug erbarmungslos auf den Heinen, jämmer⸗
lichen Körper 108. Das Kind ſchrie anfänglich
laut und durchdringend, winſelte dann leife
und verftummte endlich.
Jetzt warf Magdalene ſich dazwiſchen.
Andreas fieberte die ganze Nacht und
mälzte ſich in feinem Bett umher.
Stundenlang ſaß Magdalene neben ihm
in ber dunflen Kammer.
Wolf hatte fi, ohne fein Abenbbrot eins
zunehmen, zur Rube begeben. — — — —
492
In der nädften Zeit wurde ber Knabe
ftreng überwacht. Einige Wochen lang brachte
er weder gefundene, noch geſchenkte Gegen:
ftände mit. Später that er es wieder, aber
heimlich. Er verbarg die Sachen im Korribor,
binter einem Schrant, in der Holzlammer, in
der Matraße feines Bettes. |
Die Eltern bemerkten von alledem nichts
und begannen, fich zu beruhigen. Sie gingen
feit jenem Abend noch magerer und blafjer
einher, als früher.
„Er hatte ja das Geld nicht vernajcht, wie
andere Kinder!“, ſagte Magdalene. „Er hat
es aus Unwiſſenheit genommen, — fo ein
Kind! Und dann fpart er fo gern! Das
iſt doch nicht ſchlecht! Mir maren zu
ſtreng!“ —
Um Mitternacht war Andreas noch wach.
Er hielt ſich jedoch ftill in feinem Bette. Der
Vater hatte feit einiger Zeit eine Befchäftigung,
die ihn länger ala gewöhnlich aufbielt. Er
übte fih im Stenographieren, um ſich um
einen Nebenpoften im Minifterium bewerben
zu fünnen, der ihm wieder einen Zuſchuß zu
feinem Gehalt bringen fonnte.
Endlich waren die Eltern zu Bett gegangen.
Alles war ftil, man hörte den Weder deutlich
durch die ganze Heine Wohnung tiden. Nun
ſchlüpfte Andreas aus feinem Bett, ging in
feinem oft geflidten, ausgewachſenen Bett:
fittelhen aus buntem Bardhend an die
Kammerthür, klinkte leife auf und fchlich ſich
auf ben Korridor hinaus.
Sn der Holzkammer, hinter dem Stoß von
Scheiten, hatte er einen Gummiball liegen,
den er morgen früh verlaufen wollte. Er
fand ihn richtig, ald er aber den Arm zurüd:
309, ftieß er heftig an die Edheite, fo daß ber
Stoß mit lautem Gepolter umfiel.
Blisichnell rannte er zurüd, zog fich die
Bettdede über die Nafe. Tas Herz Tlopfte
ihm bis zum Halle.
Set fchimmerte Licht durchs Schlüſſelloch.
Der Bater ging nad) der Holzlammer. „ES
müffen wohl Mäufe draußen fein!”, hörte er
nach einer Weile feine Mutter jagen.
Nach einer Viertelſtunde tvar alles wieder
ftil. Andreas ſprang aus dem Bett, |tredte
die Zunge beraus, fo weit es ging, bis fid)
fein Gefiht blau färbte. Mie ein Befejlener
Der Heine Andrea?.
fprang er umber und late, ladhte, ohne var
ein Ton über feine Lippen kam.
Eines Abends brachte Rolf einen niedlichen,
Heinen Hund mit nach Haufe, ein ganz jung:s
Tierhen. Er hatte e8 auf der Straße gr:
funden.
„Er ift von ganz reiner Raſſe“, ſagte
Wolf, „toir fünnen ihn in einigen Monaten
teuer verlaufen!”
Frau Magdalene zudte mißvergnügt mit
den Achſeln: woher follte fie Fleiſch und Milch
nehmen? Ob er nicht wüßte, wie leicht ſolche
jungen Tiere zu Grunde gingen? Dann
hätten fie Mühe und Koften vergeblich gehabt.
Andreas, der das feine, zierlihe Tierchen
auf feinem Schoß gehalten hatte, feßte es zu
Boden und hörte mit offenem Munde zu.
Nah dem Abendbrote griff er nach einer
Lederklappe und erſchlug die legten, berbit-
matten Etubenfliegen, die an den Wänden
hingen. Er ftedte fie in eine leere Zünbbol;-
ſchachtel.
„Mutter“, ſagte er nach einer Weile, „nun
brauchſt du dem Hunde kein Fleiſch zu kaufen.
Ich habe ihm Fliegen gefangen. Weiter
braucht er doch nichts zu freſſen?“
Wolf und Magdalene lachten.
Das Hündchen wurde am nächſten Tage
für ein paar Mark an eine Familie im Hauſe
verkauft. — —
Seit ein paar Wochen wohnte über Wolfs
ein Muſiklehrer mit feiner Familie. Da waren
aud ein paar Knaben, große, kräftige Jungen,
etwa in Andreas’ Alter, mit denen er bald
befannt wurde. Die Buben tvaren gutmütig,
ſodaß Andreas feine Schläge zu befürdten
batte. Er hütete fi) auch wohl, fie heraus:
zufordern.
Oft ftedte er halbe Tage bei der Familie
oben. Die Frau hatte eine Stube voll Kinder,
wie fie fagte, da fam es auf eines mehr ober
weniger nicht an. Magdalene hätte ohnedies
nicht geftattet, daß Andreas feine Gefptelen
mitbrachte. Fremde Kinder im Haus? Damit
fie mit fchmußigen Füßen berumftanpfen,
alles anfafjen, zerbredden, und dann zu Hauſe
erzüblen, was in der Wohnung vorgebt? Sie
hätte mit ihrem eigenen genug zu tbun!
Die beiden Kameraden Andreas’ wurden
von ihrem Vater fleißig zum Geigenfpiel an:
Der Heine Andreas.
gehalten und mußten unter feiner Aufficht
täglid ftundenlang üben.
Da befam Andreas wohl ab und zu ein
Inftrument in die Hand. Die beiden Jungen
— finblich ſtolz auf ihre Kenntniſſe — brachten
ihm fpielend die erften Fingergriffe bei.
Der Vater der beiden fam einmal dazu
und überzeugte fi, daß Andreas mit auf-
fallend reinem Gehör und feltener Finger-
fertigfeit begabt war.
Von nun an brachte Andreas ganze Tage
bei ben Leuten zu; er vernachläſſigte feine
Schularbeiten, aß faum und war" mit leiden
ſchaftlichem Eifer darauf bedacht, die Geige in
die Hand zu befommen. Den Mufitlehrer
rührte der Eifer bes Kindes.
„Hör mal, Kleiner“, fagte er, „fag’ doch
deinem Vater, er fol dir eine Violine an=
ſchaffen! Man kriegt ſchon ganz billig welche.
Dann kannſt du mit meinen Buben zufammen
bei mir lernen. Ich verlang’ nichts dafür!”
Er ſah, daß Andreas’ Eltern ziemlich
ärmlich Iebten.
Andreas lief fofort hinunter und beftürmte
feine Elten. Sie miefen ihn ab. Er bat
immer dringender. Schließlich weinte er und
legte ſich auf die Erbe.
Wolf hob ihn auf, 308 ihn bei den Ohren
und ſchickte ihm fchlafen. Auch Magdalene
gab ihm einen Puff.
Für eine folhe Verridtheit Geld aus-
geben! Das hätte ihr gerade gefehlt!
Sie beichloffen, den Jungen nicht mehr
mit ben Kindern des Mufiflehrers verkehren
zu lafjen. Da lernte er ohnedies nichts Ver:
nünftiges. Leute mit fo unficherem Ausfommen,
tie die da oben, ‘— und dabei in Saus und
Braus leben! Eo oft man eines ber Finder
fab, hatte e8 ein Butterbrod in der Hand
oder Obſt.
Magdalene redete ſich in eine ordentliche
Wut gegen die Leute hinein. Andreas lag im
Bette und fehluchzte, daß fein Heiner, magerer
Körper gegen das Holz ſchlug. Seine Bett:
ftelle war für ein Meines Kind berechnet, und
er war ihr längft entwachſen, fo daß er ge—
frümmt und mit aufgezogenen Beinen liegen
mußte. Er ballte fein Nachthemd zufammen
und ftedte e8 in den Mund, um nit laut
zu Meinen und von ben Eltern gehört zu
493
werben. Denn das, — er wußte es aus
Erfahrung, — hätte fie noch mehr aufgebracht.
So wartete er, bis fie fchliefen, — dann
weinte er herzbrechend die ganze Nacht bin:
durch. Er mußte eine Geige haben! Er mußte
fpielen darauf! Er wollte nicht leben ohne
das! Vielleicht, wenn er bat, zu Weih—
nahen! — — — — — — — — — —
Magdalene wachte ſtreng darüber, daß
Andreas bie Knaben des Muſillehrers nicht
mehr beſuchte. Das Kind ſah in der letzten
Zeit furchtbar elend aus. Er aß kaum und
brach bei jedem lauten Wort, das man an ihn
richtete, in Weinen aus.
Magdalene kochte ihm Theechen und Breichen
aller Art, verſuchte es mit allen möglichen
Hausmitteln, ja fie überwand ihre Sparſam⸗
keit ſo weit, daß ſie ihm ein friſches Ei zum
Frühſtück und gebratenes Fleiſch zu Mittag
vorſetzte, während ihr gewöhnlicher Mittags-
tiſch das ganze Jahr hindurch aus Suppe,
ausgelochtem Rindfleiſch mit Kartoffeln oder
einer anderen, billigen Zufpeife beftand.
Wenn fie für den Sonntag Fleiſch briet, kochte
fie eine Waſſerſuppe.
Aber das Kind machte ihr wahrhaft Sorgen.
Nichts wollte nügen. Sie konnte ihn nicht
mehr zur Schule gehen laſſen. Er weinte
und fieberte, und der Lehrer fhidte ihn nad
Haufe.
Der Arzt erflärte ihn für nervös und fehr
ſchwächlich. Er folle gut genährt werben
und viel in frifche Luft gehen.
Magdalene ſchickte ihn fort, er
fpazieren gehen.
Er indeſſen ſchlich ſich zwei Treppen höher,
ſetzte ſich vor der Speicherthür nieder und
horchte auf das Geigenſpiel, das durch die
Thür des Muſiklehrers auf das Treppenhaus
drang.
Er nahm ein Stück Holz unters Kinn und
bog den Ellenbogen darunter ein, ſtrich mit
einem andern Stück Holz darüber hin und
ahmte ſo das Geigen nach, während die Töne
unter ihm laut wurden.
Dann war's ihm, als hielte er ein wirk⸗
liches und rechtes Inftrument, und die Töne
drängen unter feinen Bogenftrichen hervor.
Verftummten aber die Melodien unten,
fo kehrte das Bewußtſein feiner Hilfslofigfeit
follte
494
und des Entbehrens wieder, und er meinte
zum Erbarmen.
Einmal wagte er’3, feine Eltern um eine
Heine Geige zu Weihnachten zu bitten. „Nur
eine Dreiviertel3-Geige zu Weihnachten”, jagte
er. „Ich will gamichts außerdem!” — Sie
wollten ihn heftig anfahren, befonders bie
Mutter; da fiel ihr Blid auf das verhärnte,
gelbe Kindergefiht mit den eingefunfenen
Augen, die jett voll Thränen ftanden, auf
dies arme, verheerte Geficht, das fo unkindlich,
jo greifenhaft ausſah mit feinem Ausbrud von
heftigen und unfchönen Inſtinkten, — und
fie verlor den Mut zum Echelten. —
Am Abend beriet fie mit ihrem Mann ba-
rüber. Eie fahen ja ein, dab das Kind fidh
abhärmte! Uber eine Geige anfchaffen,
etwas fo Überflüfliges, — das ſchien ihr
läfterlich.
„Wenn er nicht fo notwendig Wäfche
brauchte”, fagte fie, „und neue Etiefel! Hat
er die Geige, fo fällt ihm ein anderer Un:
jinn ein. Es ift unrecht, ihn fo zu vertvöhnen.
Nein, es geht nicht!“
„Er ift Schon ganz abgezehrt“, wandte
Wolf ein.
Magdalene dachte eine Weile nad. „Gut“,
meinte fie, „fo mag er fi die Geige von
feinem Epargeld zu Weihnachten faufen”.
Cie ging zum Kleiderfchranf, öffnete eine
Schatulle und Icerte den Inhalt auf den Tifch.
Es war alles, was der Eleine Andreas bon
feinen Baten nnd Verwandten gefchenft be—
fommen batte, durch al die Jahre, und es
fehlte wenig an hundert Marf.
Am nächſten Morgen fagte Magdalene zu
Andreas: „Wenn du eine Geige zu Weib:
nachten befommen mwillit, fo wird fie von deinem
Spargeld gekauft. Neue Schuhe aber be:
fommft du dann nicht. Die alten werden noch
einmal geflidt. Auch fonft nichts. Mir werden
auh feinen Kuchen baden. Wir find arm
und müſſen Sparen, fonderlid wenn unfer Kind
ſolch ein Verſchwender ift.” — Sie begann
zu einen.
Auf dem Tifh neben Andreas’ blecherner
Kaffeefchale Tagen die Goldſtücke. „Wir hätten
fie zum nädjten Neujahr zur Sparfaffe ge:
bracht, — du bätteft ein Buch befommen, und
Zinſen.“ — Sie ſchluchzte heftiger.
Der kleine Andreas.
Andreas ſah auf das Geld vor ſich un
auf feine aufgeregte Mutter.
„Überleg’ dir’s big zum nächften Zonnn: .
ſagte Magdalene. —
Diefe Woche wurde zu einer Folter \v
das Kind. Zwei Leibenfchaften, mie ricſen
große Ungetüme, kämpften mit geheimnisvollen
Kräften gegeneinander. Das Kind hit —
litt unbeſchreiblich.
Da war das Gold, das liebe, funten::
Gold! Da war die Mufif! Sept fpielte mn
oben. Die Töne kamen leife, füß gedäm“.
in die halb dunkle, wenig geheizte Stube tur!
den Plafond herunter, Andreas Fauerte, 'n
ein wollenes Umfchlagtuch feiner Mutter gebüll:
auf dem alten Sofa. Draußen ſchneite c:,
und der Ffalte Wind kam durd bie Fenſier
ritzen herein und bewegte die Seibenpapiv
itreifen auf dem Tifche, die Andreas ſocher
geflebt hatte.
„In dem Schrank dort liegt das Geld,“
dachte das Kind. „Goldſtücke und ein,
Silbermünzen.“
Und nach einer Weile: „Jetzt ſpielt der
Herr Lehrer ſelbſt.“ Er kannte das Lieb: „Ur
ift beftimmt in Gotted Nat.” Sie fpielten c
oft drüben auf dem Friedhof.
„Ach, wer doch eine Geige hätte!“
Er zog die Beine unter Tuch. Lieber
Gott — warum muß man denn immer barır
denen! Er bat ja das Geld fo lieb — 7
kann's nicht weggeben — aber er möchte ted
ſo gern eine Geige!
Penn er doch eine Lampe bekäme! Oder
in die helle Küche dürfte! Aber dort zieht «=,
jagt die Mutter.
So ſitzt er im Dunkeln.
Nun hat das Epiel geendet. Andrea:
flettert auf das Fenfter. Seht eben gebt cu
fleiner Knabe aus dem Haug, viel Heiner als
Andreas. Er trägt eine Geige im eimen
Sädhen aus grünem Baummolltud. Er ba
eben Stunde gehabt. Jetzt fpannt er einen
großen Schirm auf und hält ihn über ſich
und fein Säckchen.
Über Andreas fommt eine unbändige Aut.
Warum bat diefer fleine Junge eine Beine,
und er hat feine? Ad), er könnte den ungen
töten! Er ftrect die Zunge gegen das Fenſter,
daß fie ganz platt gedrüdt wird, ſchneider
|
Der Heine Andreas,
eine fürchterliche Grimaffe hinter dem Jungen
ber und zittert vor Echmerz und Haß.
Er friecht auf dad Sofa und wimmert leife.
Der Neid frißt an dem Heinen Herzen,
tie ein Lörperliher Schmerz. „Ob — alles
thut fo meh, fo weh!“, denkt Andreas.
„Warum ift das fo?” —
Andreas hatte den Pater zum Bureau
begleiten bürfen. Dann ging er noch etwas
ſpazieren. Es mar am frühen Nachmittag
und das Wetter troden und mild. Buerft
lief er nad dem Domplatz. Da mußte er
eine Inftrumentenhandlung. Bor diefer ftand
er wohl eine Stunde lang. Zithern lagen in
der Auälage, Blasinftrumente, zur Seite hingen
aud Geigen. Diefe Heine war gewiß eine
Dreiviertelögeige. Er drüdte fih mit ber
Wange and Glas, um beſſer zu fehen. Im
Eifer fam er auch mit den Fingern an die
Scheiben.
Ter Verläufer kam heraus und fuhr ihn
an. Er folle die Scheiben nicht befchmieren!
Andreas ftellte fich verfchüchtert an der Mauer
des Domes auf und verſuchte hinüberzubliden.
Da ftand er, — ein winziges Wichtchen,
im Schatten der ungeheuren Mauern, ganz
aufgelöft und verzehrt von feinem Wunſche.
Am Anger waren viele ZTröbelgefchäfte.
Da gab es gewiß auch Geigen. Dort wollte
er hingehen und nad) dem Preife fragen.
Dort lief er von einem diefer winzigen
Lädchen, die doc) fo angefüllt von unglaublichen
Maſſen alten Gerümpels find, ind andere, um
nad) einer Geige zu fragen.
Den üblen Geruch der alten Möbel, Kleider
und Schuhe atmete er oft viertelftundenlang
ein, ehe jemand nad feinen Wünſchen
fragte.
Er fah recht ärmlich aus in feinem Winter:
mäntelchen, deſſen Nähte bis aufs äußerfte
ausgelaffen, deſſen Knöpfe bis an bie Ichte
Kante gefegt waren, und in das er trotzdem
förmlich eingefhraubt erſchien. Endlich fand
er eine kleine Geige, wie er ſie gewünſcht.
Achtzehn Mark ſollte ſie koſten.
„Du mußt ſie aber bald holen“, ſagte der
Verkäufer, „es iſt jetzt viel Nachfrage!”
Auf dem Heimweg wurde Andreas ſich
haftes Violinſpiel hörbar.
Har, daß er ſoviel von feinem Spargeld nicht
würde opfern können. Als er in den Haus:
495
flur trat, fah er den Heinen Knaben mit ber
Geige mit dem grünen Sädchen eben heraus:
treten.
„Haſt du oben Stunde?” fragte er ihn.
Seine Augen hingen an dem grünen Beutel
und begannen ſcharf zu funfeln. Er wurde
noch gelber im Geficht.
„Ja“, fagte das Bürſchchen und blieb
ftehen, geneigt, eine Unterhaltung zu führen.
Andreas fagte nicht weiter, rührte ſich
aber nicht vom Fled. Er zitterte heftig. —
Der Heine Junge ging.
Als er bereits auf der Straße war, lief
Andreas ihm nad.
„Wann haft du Stunde?“ fragte er
haſti
ig.
° imo und Samstag!” Das Bübchen
blieb wieder ftehen.
Andreas kehrte um und fticg die Treppen
hinauf.
Am Morgen darauf fagte Andreas feinen
Eltern, daß er fih feine Geige kaufen wolle.
Das Geld follte auf die Sparkaſſe fommen.
Magdalene war glüdlih darüber und
belobte ihn fehr. Wolf fagte,. er fei ein braves
Kind. Andreas fah von dieſem Tag an
friiher aus und aß aud wieder. — — —
Mittwod war Andreas den ganzen Tag
über fehr erregt und zerftreut. Er hörte garnicht,
wenn man ihn anrebete, gab verkehrte Antworten
und war nicht vom Fenſter wegzubringen.
Es war ein Harer Tag heute, der Himmel
ganz blau.
Andreas fah nah dem Friedhof hinüber.
Die Bäume waren nun gänzlih entlaubt,
man fah die weißen Leichenfteine deutlich, ſah
die Eärge dazwiſchen bintragen und hinter
dem Kreuz den Bug ber Leidtragenden fchreiten
zwiſchen den Gräberreihen. Tie Totenglode
bimmelte unaufhörlih. Dazwiſchen wurde ein
Trauermarſch geblafen. Ein anderes Mal
fang ein Männergefangsverein. Dann wieder
hörte man laut beten.
Andreas rutfchte nervös auf dem Fenſter⸗
brett herum.
Es dämmerte ein wenig.
Jetzt wurde oben ein quiefenbes, anfängers
Er zudte auf.
Seine Augen wurden größer. Er ſaß regungs-
496 Der Heine Andreas.
108 eine Stunde lang. — Das Epiel brad
ab, und Andreas lief ans Fenfter.
Jetzt trat der kleine Junge mit dem
grünen Sädchen aus dem Haufe. Blitzſchnell
und leiſe ſchoß Andread aus der Stube
zur Thür hinaus. In der Küche brobelte
es laut.
Er fam ungehört die Treppen hinunter,
mar in ein paar Eefunden hinter dem Kleinen
auf der Straße, riß ihm das Säckchen mit
der Geige aus der Hand und rannte blind»
lings weiter. Der Junge ftand verblüfft da
und ‚machte fugelrunde Augen.
Dann lief er heulend hinter Andreas her,
der indes einen guten Vorfprung hatte.
Unter einer Seitenthür ber Friedhofs:
mauer ftand die Magd des Anfpeftors und
Iodte ihren tiberfpenftigen Pudel, herein
zufommen.
Andreas fehlüpfte hinter ihrem Nüden in
den Hof der Leichenhalle. Der Kleine aber
ftrebte, immer lauter brülend, gerade aus.
Der Magd war es endlich gelungen, den
Hund hereinzubefommen. Sie ſchloß das Thor
hinter fih. — — —
Es mar bereit® nach zehn Uhr abends.
Andreas war nod nicht nad Haus gekommen.
Wolf und Magbalene hatten das ganze Viertel
abgefucht, ohne den Anaben oder irgend eine
Spur von ihm aufzufinden.
Wolf war nad der Polizei gegangen,
während Magbalene ftarr, frierend und ver:
zweifelt in der Etube am Tiſche ſaß. Eie
ließ achtlos drei Kerzen und die Lampe
brennen.
Wolf fam zurüd. Er tweinte laut. So
verging die Nacht.
Früh morgens um fieben Uhr brachte
ein Polizift den Kleinen Andreas auf dem
Arme. Das Kind hielt ein Geigenfädden
feft in der Hand. Er hatte die ganze Nacht
im Vorhof der Leihenballe zugebradht. Am
Morgen hatte ihn der Wächter unter ciner
Buchshecde faft erftarrt gefunden. Man hatte
ihn gewärmt, in Tücher gewwidelt und nadı
Haufe geſchickt.
Das Tüchterchen des Wächters hatte ihn
erkannt.
Er war vollfommen fteif und konnie
nicht ſprechen.
Der Polizift entfernte fih mit der Geige.
Es fei auf feinem Burcau geftern Abend ge:
meldet worden, daß einem Knaben von einem
anderen in bdiefer Straße eine Geige ent
riſſen worden fei, fagte er, und er glaube,
daß fie mit der bei Andreas gefundenen
identiſch fei. ”
Am Spätnahmittag ftarb das Sind.
Dan hatte vergeblich zwei Ärzte gerufen.
Die Eltern ſchlichen wie Schatten um—
ber. — — —
„Magdalene“, fagte Wolf am Abend,
„wollen wir ein Grab anlaufen, oder fol
Andreas im allgemeinen Kinderfriedhof begraben
werden?“
Die Frau faß gebrochen vor dem gelben,
verzerrten Leichlein des einzigen Kindes, das
fie geboren.
Der Vater legte einen Plan vor fie bin.
Die verkäuflichen Gräber ftanden barauf, ihr
Preis und ihre Lage.
Das erfhöpfte Weib warf einen müden
Bid auf das Papier, Wolf las ihr bie
Zahlen vor. Sie wurde aufmerffam.
„Nein“, fagte fie nad) einer Weile, „wo:
zu ſoviel Geld ausgehen? Er wird uns ja
doch nicht lebendig davon.”
Sie weinte laut auf. x
497
Line dentſche Reifende in Alt / Fexiko.
Paul Schettler.
Raqhdrua verboten.
— — ſcheint auf den weiblichen Forſcherſinn einen beſonderen Reiz aus:
üben. Eine gelehrte Dame war ed, Frau Nuttall, die kürzlich in der
Bibliotheca Nazionale zu Florenz eine altmerifanifche Bilderhandſchrift aufgefunden
hat und jegt herausgiebt. Eine Amerikanerin, die Frau des Forfchungsreifenden und
Archäologen Dr. Auguftus le Plongeon, begleitete zwölf Jahre lang ihren Gatten auf
feinen Reifen in den wildeſten Urwaldgegenden von Yulatan, und in Anerkennung
ihrer Berdienfte bat die Parifer Geographiiche Gejelihaft ihrem Album berühmter
Neifender das Bild der mutigen Amerifanerin einverleibt. Und ähnlich ift auch eine
Deutfhe, Frau Caecilie Seler, ihrem Gatten auf zwei längeren Forſchungsfahrten
durch Merito und Guatemala in den Jahren 1887—88 und 1895—97 eine treue
und Hilfreiche Genoffin geweſen, deren Sammlungseifer ſich in gleicher Weile auf
Altertümer aller Art wie auf die Flora der bereiften Länder erfiredte. Die zahlloſen
Altertumsfunde, die photographifchen Aufnahmen der alten Rulturftätten und Bauwerke
der Mayas, ſowie eine reiche ethnographifche Sammlung wurden von dem Ehepaar Seler
dem Berliner Ethnographifhen Mufeum überwiefen, die mitgebrachten didleibigen
Herbarien dem Botaniſchen Mufeum; die Reife felbft aber hat Frau Seler in einem
ſchönen, reich illuftrierten Bande) beichrieben, der kürzlich bei Dietrich Reimer in Berlin
erſchienen ift. Und es iſt gut, daß bei den Publifationen ber Forfchungsergebniffe des
Ehepaars Seler die Frau ſich gerade diefen Teil vorbehalten hat; denn nun ift es
kein unlesbar gelehrtes Werk geworben, fondern ein flott und anſchaulich, ja amüfant
geichriebenes, echtes und rechte Wanderbud.
Zwar die Verfafferin glaubt fih in der Einleitung entfchuldigen zu müſſen,
daß fie von feinen Abenteuern zu berichten babe, „keine Kämpfe mit böfen Menfchen
oder wilden Tieren, feine Feuersgefahr oder Waſſersnot, fein Verſchmachten in
Sonnenbrand, fein Verhungern in dunfeln Höhlen“, all ſolche Abenteuer erlebt
der Reifende dort nicht, denn „Merito und Guntemala find feine wilden Länder“.
Aber man vermißt die großen Abenteuer auch garnicht. Dafür erfährt man
um fo mehr und um fo Intimeres von Land und Leuten, von der Nrt, in jenen
fernen Ländern zu leben, zu reifen, fih zu nähten und zu Heiden. Mit einer gewiſſen
Vorliebe fogar, wie man ſich dort Hleidet und nährt: die leifen Wanblungen, die bie
„Manta enrollada“, das in ganz Merifo und Mittelamerika die Stelle des Rodes ver-
tretende, meift bis an die Knöchel reichende, von bunter Binde um die Hüften feftgehaltene
Hüfttüch, durchmacht, vom Thal von Daraca bis hinauf nach Duczaltenango und der
Kaffeeſtadt Coban, bejchreibt fie mit der Gewiffenhaftigkeit eines Modejournals. Ihr
entgeht feine der feinen Nüancen der indianischen Nationaltracht, die bei aller weſentlichen
Übereinftimmung doch fo wechielvoll ift, daß jedes Indianerdorf Verſchiedenheiten in
der Tracht aufzuweifen bat, und wäre ed auch nur die Farbe, die „in ©. Bartolo
und aud weiterhin in den Dörfern überall dunkelblau, mit dem im Lande gebauten
Indigo gefärbt ift — die Schönen von Tehuantepec und Juchitan bevorzugen die
') Auf alten Wegen in Merito und Guatemala. Reifeerinnerungen und Eindrüde aus den Jahren
1895—1897. Mit 65 Lichtdruden, 260 in ben Tert gebrudten Abbildungen und einer Karte.
32
498 Eine beutiche Reiſende in Alt-Mexiko.
rote Farbe — die mit importiertem türfifchen Rot gefärbten Hüfttücher finb teurer;
am teueriten aber die mit echtem Purpur gefärbten. Denn an der Küfte von
Zehuantepec dient heute noch der Saft der Purpurichnede zum Färben”, umd dızie
ift nicht gerade häufig.‘ „Sorgiältig wird die Schnede von der Felswand abgehoben,
angeblajen oder angeivieen. Sie giebt dann einen waflerhellen Saft von fidy, duri
den man den weiben Faden zieht, der fih beim Trodnen an der Luft rotviolett färkt.
Die Schnede wird wieder ind Waſſer gefegt, nachdem fie getban, was man von ibı
verlangt. Soviel mir befannt, wird fonft nirgends in der Welt diejer echte Purpur
de3 Altertumd zum Färben verwendet, als an den Küflen des Etillen Ozeans.“ Ridt
minder gewillenhaft als ihre Beobachtungen über die Kleidung der Indianerfrauen
— viel jeltener fpricht fie von der der Männer — und der Spanierinnen (von denen
ihr namentlich die tebuaniichen „Damen“ mit ihren runden fteifen Röden im Schnitt
eine ſpaniſchen Hoffleide® aus dem 17. Jahrhundert auffallen, „aus bunter Seide
reih mit Goldftiderei verziert und bis zum Knie abgefteift, ebenio wie die weißen
Unterröde”, jo daß das Geräuſch der geitärften Rodjäume auf den fleinemen Treppen:
fufen der Kirche Iprichwörtlich geworden, und es audfteht und fich anhört, „als ob
die hölzernen Heiligenfiguren ihr Poftament verlaflen hätten, obzwar die Frauen von
Tehuantepec keineswegs im Geruche der Heiligkeit ftehen“), unterläßt unfere Reiſende
es nie, zu vermerken, wenn fie einen „hübjchen Kleinen Mejon mit leidlicher Unterfunit
und gutem Efjen” findet. Häufig genug müſſen fie ja auch im freien nädhtigen,
oder als Lagerftatt fann ihnen nur eine Tifchplatte eingeräumt werden; und Tüte
Früchte find oft wahre Lederbiffen, wenn man fich tagelang von ſchwarzen Bohnen
und der landezüblichen Tortilla, einem aus gequetfchter Maismafle ohne jegliche
weitere Zuthat bergeftellten laden, der bier überall die Stelle des Brote vertritt,
bat ernähren und mit großem Kummer das legte Reftchen verichimmelter Erbswurſt
fortiwerfen müſſen. „Es mag Hleinlich ericheinen”, entichuldigt Frau Seler einmal,
„daß ich To lange bei diefen Dingen verweile; für uns bedeuteten fie viel.“
Jedenfalls Hat fie neben dieſem frauenhaft fcharfen Bid für die Koſtüm- und
Küchenangelegenheiten und dem eifrigen Sammelinterejje, mit dem das Ehepaar jeder
Spur nachgeht, auf der e8 noch leidlich erhaltene Altertümer, ſei es von den Ein:
geborenen zu erhandeln, fei es ſelbſt auszugraben giebt, ein nicht minder heilfichtiges
Auge für taufend andere Dinge, die interejlieren. An allen Mexikanern Eonftatiert fie
die große Kinderfreundlichkeit, weshalb die Fülle des Spielzeuges kaum überrafchen
fann, das auf allen größeren Märkten einen breiten Raum einnimmt. „Alle nur
denkbaren Formen der gebräuchlichen Haus: und Küchengeräte findet man ba in
‚Heinftem Maßftabe.” Bei den Indianern ftellt fie eine auffallende Muſikliebe feit
Auf den Märkten find fie die beften Käufer von Mufifinfirumenten. Manche der
wohlhabenden Gemeinden beligen ein ganzes Drchefter. „Die Mufilanten kommen
bin und wieder abends zur Muſik in die Stadt, um zuzubören. Da fie natürlid
feine Noten kennen, ift dies ihre ganze mufifalifche Ausbildung Wan hört viele
deutiche Mufifftüde, da die deutichen Handelshäufer mit den Snftrumenten auch zu:
gleich die Noten einführen.”
Der deutjche Kaufmann ift dort überall anzutreffen: „Wo überhaupt Europäer
leben, find ficher Deutiche darunter. Der deutiche Kaufmann erobert die Erde langſam
und ficher. Auf unferer Reife haben wir Engländer garnicht getroffen, Ameritaner
nur, wo Eifenbabnen gebaut werden, in Minendiftrikten und in den großen Städten.
Häufiger Franzofen, aber am häufigiten Deutiche.. Dan macht den Deutfchen oft den
ungerechten Vorwurf, daß fie allzu Leicht fich fremdem Weſen anbequemen, aber
gerade dieje Leichtigkeit, fih in der andern Art Hineinzufinden, ihre Sprache fchnell zu
erlernen, ermöglicht ihre Erfolge. Im Herzen bleiben fie doch deutſch, werden es
vielleiht nod; mehr. Daß fie hier draußen manches anders anſehen als daheim,
wird ihmen niemand verargen.” In den großen Städten find die Deutichen meill
die Beliger der Ferretarien, d. h. wörtlich Eijentramladen, bedeutet aber ein Import:
aclhäft, in dem es fo ziemlich alle giebt, „was zum Haushalt, Feldbau und zum
Schmuck des Leben? notwendig ift.” Dagegen find die Geſchäfte, in denen Stofte,
Eine deutſche Reifende in Alt: Merito. 409
Gewebe, Kleider feilgehalten werden, meijt in franzöfifchen Händen, die „Tiendas de
Alborrotes“, die Wein und Schnapgläden, gehören Spaniern, und die Heinen Kram—
laden, kurzweg „Tienda“ (eigentlich „Zelt“) genannt, Einheimischen, welch letztere meift
„Zabinos“ find, Miſchlinge von Weißen und „Indios”. Eine eigentümliche Über:
raſchung durch den Spefulationsgeift deutfcher Kaufleute erlebten die Neifenden in
Guatemala: Das Hauptflädtifche Militär trug deutfche Uniformen, nur mit der Ab:
weihung, daß die Infanteriften Artilleriehelme hatten und umgekehrt. „Vermutlich
hatte ein fpefulativer Kopf ausgemufterte preußifche Uniformen aufgefauft und in
Mittelamerifa an den Mann gebradt Ob auch an der unter des militärfreundlichen
Praſidenten befonderem Protektorate erft kürzlich gegründeten Schuhfabrik, der zuliebe
eine Verordnung ergangen war, daß jeder Mann der Republik Stiefel tragen müfle,
wofern er als vollgiltiger Staatsbürger gelten wollte, deutſche Spekulation beteiligt
ift, verrät die Verfafferin nicht. Aber an anderer Stelle erzählt fie 3. B., daß der
ganze Staat Chiapas, der freilich noch zu Meriko gehört, jedoch ſchon an Guatemala
grenzt, von der Schuhwarenfabrik eined aus Warmbrunn ftammenden Deutfchen mit
Schuhwerk verfehen wird.
So kann unfere Forfhungsreifende immer wieder von Deutfchen erzählen, die
fie gaftlih aufnehmen und fie au in ihren Sammelbeflrebungen unterflügen. Wir
machen die perfünliche Befanntichaft beinahe aller Landaleute, die dort drüben leben,
und deren Verhaltniſſe werden uns fo vertraut, ald hörten wir von unfern nächften
Nachbarn im Städtchen.
Bei der Menge dort lebender deuticher Familien kann es nicht Wunder nehmen,
wenn die Reifenden auch Gelegenheit finden, Weihnachten und Sylveſter in deutſcher
Weife zu feiern. „Die deutichen Familien geben ihren indianifchen Holz: und Kohlen⸗
lieferanten ſchon wochenlang vorher den Auftrag, ihnen einen Nabelgolzbaum zu
beforgen, und aus den Wäldern des Cerre de San Felipe wird er pünktlich zur
Stelle geſchafft, wird gepubt und mit Lichtern beftedt. Und am Abend des 24. Dezember
brannten etwa ein halbes Dugend Weihnachtöbäume in Daraca. Aber trotz alledem,
trotz der reichbefchenkten Kinderſchar — die rechte Weihnachtäftimmung war doch nicht
vorhanden. Draußen war Sommer und eine Menge, die nicht von dem mußte, was
der Weihnachtsbaum in Deutfchland bedeutet. Der Baum allein aber thut es nicht.”
Die Merikaner feiern ihre Weihnachten durch die „Veladas“, die ſchon während der
Adventözeit beginnen und aus abendlichen Zufammenkünften befreundeter Familien
beftehen, wobei zuerft die reifende und Obdach fuchende Jungfrau Maria unter Eingen
feltfam kindlicher Melodien, Blechpfeifenmufit und Kerzentragen zur Darftellung gelangt,
und zum Schluß eine „Tertula” ftattfindet, eine harmloſe gefellige ——
bei der Zucerwerk herumgereicht wird. Am heiligen Abend ift die Darſtellung ber
reiſenden Jungfrau durch die Krippe verdrängt, und an Stelle der Tertulla findet ein
Ball ſtatt. Und in der Markthalle draußen ift am dieſem Abend großer Radieschen—
Markt. Alles firömt dorthin, „Rabanos“ zu kaufen, zu eſſen, ſich gegenfeitig
anzubieten. „Den Grund dieſer fonderbaren Sitte vermag ich nicht anzugeben.”
Überhaupt find alle Kirchenfefte in Mexiko mit mehrtägigen Märkten verbunden. Als
die größten Feiertage gelten den Indios Gründonnerfing und Charfreitag, an denen
die ganze Bevölkerung ſich betrinkt, während das an andern großen Feierlagen nur
immer die Einwohner des Ortes thun, deflen Patron an dem Feſte unmittelbar
beteiligt ift. Selbft in Orten, wie das große und reiche Indianerdorf Nahualä bei
Quezaltenango, das jährlih eine Geldfumme für die Vergünftigung zahlt, feinen
Branntwein-Ausichant in feinen Mauern zu dulden, darf einmal im Jahre, eben am
Tage feiner „Fielta” — für Nahualä ijt es der Kalendertag Corpus Chriſti —
Schnaps in unbeichränfter Menge hereingebracht werden, um den lanbesüblichen
Sefteszuftand der allgemeinen Vetrunfenheit herbeizuführen.
Noch mande amüfante Einzelheit ließe fich aus den Reifeeindrüden Frau Selers
erzählen, vieles, was gerade die Leferinnen der „Frau“ lebhaft intereifieren möchte.
Wir müflen uns leider mit den menigen Andeutungen begnügen. Mögen fie aber
dazu einladen, in dem Buch felber nachzulefen, das kurzweilig auch für alle die fein
32*
500 Mary Aftell.
wird, denen die Schilderung der Abenteuer fo bedeutungslos ericheint, wie die zahlreich
in den Tert bineingedrudten ſchön kolorierten alt-meritanijchen Hierogluphen Deutungs-
[08 — der einzige Mangel des Buches, daß es zu diejem Teil feiner Illuſtrationen
nicht wenigſtens einen Anhalt für deren Verftändnis giebt. Diefe ſchönen bunten
Bildchen find leider ſämtlich ungedeutete Hieroglyphen geblieben.
—22
Harv After
Sine Iirauenrechtlerin des 17. Babrbunderts.
Von
Glifabeih Gotiheriner.
Nachdruck verboten. ne
NER
Air find gewohnt, die Frauenbewegung ald eine Bewegung de 19. Kabr:
P bundert3 zu bezeichnen und in Mary Wollftonecraft3 „Verteidigung ber
SR Frauenrechte“ ihre erfte Kundgebung zu erbliden. Daß bereit3 im
17. Sahrhundert eine Frau mit beftimmten VBorjchlägen zur Erweiterung der Frauen:
bildung und zur Hebung der gejellichaftlichen Stellung des weiblichen Gejchlehts an
die Offentlichkeit trat, dürfte menig bekannt fein.
Mary Aſtell, „diefe große Zierde ihres Geſchlechts und ihres Vaterlandes“,
wie ihr im Sabre 1752 fchreibender Biograph George Ballard fie nennt, wurde im
Sabre 1668 in Newcaſtle als Tochter eines dortigen Kaufmanns geboren. Sie erhielt
eine nach damaligen Begriffen außergewöhnliche Erziehung für eine Frau, da ibr
Onfel, ein Geiftlicher, der ihre großen Fähigkeiten früh erfannt hatte, fie perjönlich
in Philoſophie, Mathematik und Logik unterrichtete. Mit ungefähr zwanzig Jahren
verließ fie Newcaſtle und ließ fich in London nieder, wo fie den übrigen Teil ihres
Lebens zubrachte.
Die Kenntuiffe, die fie felber erworben und die Vorteile, die fie dadurch vor
ihren Gefchlechtögenoffinnen voraus hatte, erwedten in ihr den Wunfch, diefe auch
anderen Frauen zugänglich zu machen und trieben fie dazu, mit einem lang erwogenen
Plan für die Erweiterung der Frauenbildung an die Öffentlichkeit zu treten. Die
Heine Schrift erfchien anonym unter dem Titel „Ein ernfter Vorfchlag für Frauen“
im Sahre 1694. Mary Aſtells Plan war, um mit ihren eigenen Worten zu |prechen,
„ein Klofter zu errichten, da3 einem doppelten Zwed dienen foll, indem es nicht nur
denen,. die den Wunfch haben, Zurüdgezogenheit von der Welt biete, jondern gleich:
zeitig auch eine Erziehbungsanftalt für diejenigen fjei, die in ber Welt Großes und
Gutes leiften wollen.” Seinerlei Gelübde follten abgelegt werden und es follte den
Klofterfrauen jederzeit frei ftehen, audzutreten. Trogdem das religidfe Element bei
dem Plan ftarf in den Vordergrund trat; — denn Mary Aftell war ftreng firchlich
gefinnt, — follte doch auch die wifjenfchaftliche und philofophijche Ausbildung zu ihrem
vollen Rechte kommen, denn „Unwiffenheit und mangelhafte Erziehung find die Wurzel
allen Lafter3”.
Ob der Plan in der Frauenwelt Anklang gefunden bat, bleibt zweifelhaft.
Jedenfalls fand fich eine vornehme Dame, — aller Wahrjcheinlichfeit nach die Tpätere
Königin Anna, damals Prinzeffin von Dänemark, — die jo begeiftert davon war,
daß fie zehntaufend Pfund für den Bau eines Frauenfolleges verſprach. Leider aber
ſah der Biſchof Burnet, zu deſſen Obren das Projekt gedrungen war, darin eine
Rückkehr zum Katholizismus, und er agitierte mit jo großem Erfolg dagegen, daß der
Marb Aftell, J 501
Plan völlig aufgegeben wurde. Seine Furt war gewiß völlig unbegründet, denn
am Schluß des einige Jahre fpäter erfchienenen zweiten Teils ſchreibt die Verfaflerin
ſelbſt: „Wer behauptet, daß wir die Nachbildung ausländifchen Kloſterweſens bezwecken,
muß entweder ſehr ungebildet oder fehr boshaft fein. Hätte man aufmerffam gelejen,
fo würde man wiſſen, daß es ſich um die Errichtung einer afademifchen, nicht einer
Höfterlichen Anftalt handelt.”
Trogdem diefer Plan fo Häglich gefcheitert war, gab Mary Aftell den Kampf
für die Befreiung ihres Geſchlechts nicht auf, und fehon nad Verlauf von zwei
Jahren tritt fie wieder als Frauenrechtlerin auf den Echauplah, diesmal mit einer
der Königin Anna gewibmeten „Schrift zur Verteidigung des weiblichen Geſchlechts“.
Die originelle Perfönlichkeit der Verfaſſerin tritt Hierin dem Leſer deutlicher vor
die Augen, als der Biograph fie zu ſchildern vermocht bat. Ihre Derbheit und ihre
Liebenswürdigkeit, ihr Icharfer Verftand und ihre Herzensgite, ihr Humor und ihr
feifcher fröhlicher Mut, alle fpiegeln fih wieder in diefem Heinen Meiſterwerk, aus
dem ſich hier leider nur ein furzer Auszug geben Täßt.
Bas fann liebenswürbiger fein, als die kurze Einleitung, in der fie ihr Buch
gegen etiwaige Angriffe der Männerwelt verteidigt. „Unferem Gefchlecht ift von der
Natur Zärtlichkeit für feine Sprößlinge eingepflanzt, es ift daher wohl erflärlih, daß
wir für die Kinder unferes Gehirns eine nocd größere Liebe empfinden, als für die
unſeres Leibes, da ihre Zahl fo gering ift, und die Welt fie fo feindfelig aufnimmt.”
Aber aud ein gefundes Selbftbervußtfein Außert fi in den Worten, bie fie der
zweiten Auflage vorausfhidt: „Einige Männer wollen behaupten, dies Buch fei nicht
von einer Frau geichrieben. Wenn ich wüßte, in wie weit ihr Urteil ſchätzenswert
if, konnte es mich dazu veranlaflen, eine höhere Meinung von dieſer Echrift zu
haben, als ich fie bisher hegte. Aber wäre dad Buch fo gut geichrieben, wie ich es
wohl wünfchte und mie der Gegenfland «8 verdiente, ſehe ich doch nicht ein, warum
unferem Gejchlecht die Ehre geraubt werden fol, es verfaßt zu haben. Denn es hat
zu allen Zeiten Frauen gegeben, deren Schriften mit denen ber größten Männer
feinen Vergleich zu ſcheuen brauchen.”
As Grund der Peröffentlihung ihrer Schrift bezeichnet fie nichts Geringeres,
als die Abficht, „durch Beweisführung zu überzeugen, daß unfer Geſchlecht mindeftens
auf gleicher Höhe fteht, wie das männliche”. Sie geht dann zu einer Erklärung über,
marum gerabe fie diefe Aufgabe auf fi) genommen babe, die andere vielleicht beſſer
bewältigen fönnten, und Mereibt: „Die Verteidigung unferes Geſchlechts gegen fo
viele und jo große Geifter, die es jo beftig angegriffen Haben, mag mit Recht als
eine zu ſchwere Aufgabe für ein Frauenzimmer ericeinen. Nicht, daB ich zugeben
fönnte oder müßte, daß wir von Natur für ein ſolches Unternehmen weniger geeignet
feien, al die Männer, wofür ich genügend Beweiſe zu geben Hoffe. Sondern weil
infolge ber Gewalt der Männer und der Tyrannei der Sitte es nur wenige Frauen
giebt, die durch ihre Erziehung für eine ſolche Aufgabe außgerüftet find. Es thut
mir leid, daß häusliche Geſchaͤfte, Zerftreuungen oder zu große Bequemlichkeit die
Frauen, die dazu imftande wären, davon abhalten, öffentlich für ihr Geſchlecht auf:
zutreten. Selbſtſucht oder Neigung zwingt die meiften Männer, gegen uns zu fämpfen,
jo daß wir faum erwarten dürfen, e8 werde ſich einer finden, der den Kampf für und
aufnimmt und der Ritter unferes Gefchlecht3 gegen die Beleidigungen und die Tyrannei
feines eigenen wird.” Mary Aftels Urteil über die Männer und deren Stellung zur
„Srauenfrage“ berührt ganz modern. An einer anderen Etelle fagt fie: „Ein Mann
ſollte fich nicht mehr darauf einbilden, daß er weiſer if, als eine Frau, — fofern er
diefen Vorteil lediglich einer befferen Erziehung und größeren Erfahrung verdankt —, als
er fich feines Mutes rühmen follte, wenn er jemand jchlägt, dem die Hände gebunden
find. Nichts bringt Tyrannen dazu, ihre Ellaven graufamer zu unterdrüden, als bie
— dieſe möchten eines Tages ſtark und mutig genug werden, um ihre Feſſeln
abzuſtreifen und ſich über ihre Herren zu ſchwingen.“
Der zweite Teil des Buches, die ind Einzelne gehende Bemweisführung, daß die
Frauen den Männern in den meiften Dingen gleichlommen und ihnen in manden
502 Mary Aftell.
überlegen jeien, und daß nur die mangelnde Erziehung ihren Aufſchwung Bindere, it
weit jchwächer, als der erfte Teil, der fich mit allgemeineren Erwägungen beſchäftigt.
Dod im ganzen genommen ift die Schrift wohl wert, der Vergeflenheit entriffen zu
werden; fie enthüllt ung die Perfönlichleit einer Frau, bie ihrer Zeit um jo wen
voraus war, daß ihr Wirken eben deshalb ohne Einfluß blieb. Das jheint fie jelber
eingefehen zu haben, denn nachdem fie im Jahre 1700 ein Buch „Über die Ehe“ ver:
öffentlicht hatte, in dem fie, wie ihr Biograph jagt, „nach der Anficht wieler Leute
bie Rechte und Vorrechte ihres Gejchleht® gar zu hitzig verfocht,” wandte fie ſich
anderen, hauptſächlich politifchen und religiöfen Intereſſen zu, die uns bier nicht be
ſchäftigen können.
Es iſt intereflant, das Urteil verfchiedener Zeitgenoffen über dieſe beroorragend:
Frau zu hören. Der Hiftorifer Dr. Sohn Walker nennt fie „die geiftreiche Mrs. Aftel,“
der befannte Theologe Henry Dodwell fpricht von ihr als einer „beivunderungsierten
grau,” und der Schriftfteller Evelyn ſchreibt über fie: „Ich würde mich großer lin:
Dankbarkeit jchuldig machen, wollte ich nicht Mrs. Aſtells Verdienfte anerkennen. Eie
bat durch ihr eigenes Beilpiel bemwiefen, daß ihr Geſchlecht großer Dinge fähig if.”
Ein intereffantes® Urteil findet fi in einem Brief des Biſchofs von Rocheſter,
Dr. 5. Atterbury, an feinen $reund Dr. Smalridge. Es lautet wie folgt:
„Vor vierzehn Tagen war ich bei Mrs. Aſtell zu Tiſch. Sie ſprach mit mir
tiber meine Predigt und riet mir, fie druden zu laffen. Sie bat mid, fie vorher noch
einmal bdurchlefen zu dürfen, und ich fchidte fie ihr am folgenden Tage. Geftern
jandte fie nun die Predigt mit inliegenden Bemerkungen zurüd, die ich mich nicht ent:
balten fann, Dir zu jchiden, da fie außerordentlich bemerkenswert find, wenn man
bebentt, daB fie der Feder einer Frau entſtammen. Man follte wirklich kaum glauben,
daß eine Frau fie gejchrieben hat. Kein einziger Ausdruck verrät ihr Gefchleht. ie
greift mic) heftig an, wie Du fiehft. Hätte fie ebenfo viel Lebensart als Verſtand,
jo würde fie vollfommen fein; aber fie ift nicht übermäßig wähleriſch im Gebraud
ihrer Worte, und ihre Ausdrucksweiſe ift oft ein wenig derb. Dies wundert mid
um fo mehr, als das weibliche Gefchlecht es im allgemeinen befjer verfteht als wir, feine
Worte geziemend zu drehen und zu wenden. Mrs. Aftell verfteht es nicht. Aber ihre
klare und verftändige Schreibweiſe hebt diefen Mangel auf, wenn überhaupt etwa
imjtande ift, ihn aufzuheben. Ich fürchte mich, mich mit ihr in einen Streit ein-
zulaffen, ich habe ihr daher nur eine allgemein gehaltene böfliche Antwort gefandt und
boffe, das übrige mündlich zu erledigen.“
Den Reit ihres Lebens widmete Mary Aftell, wie gejagt, hauptfächlich religiöfen
Pflihten und theologifchen Studien. Doch auch die griechiichen und Iateinifchen
Klaſſiker vernachläffigte fie nicht, und bis zu ihrem Tode gehörten Kenophon, Plato,
Seneca und Epictet zu ihren Lieblingsjchriftftellern.. So eifrig lag fie ihren Studien
ob, daß ihr nicht® unwillkommener war, al3 eine Unterbrechung durch Bejucher,
beſonders wenn diefe lediglich mit der Abficht kamen, ein Plauderftündchen bei ihr zu
verbringen. In ſolchen Fällen pflegte fie fcherzend zum Fenfter binauszurufen:
„Mrs. Aſtell ift nicht zu Haufe,” ein Mittel, das ihr gewiß mehr Feinde zugezogen
bat, als irgend eine ihrer Schriften. |
Ihre Schaffensluft und Lebensfreude hielten an bis zuletzt, da ein ſchweres
Krebsleiden fie befiel, das, wie fie von Anfang an wußte, nur mit dem Tode enden
fonnte. Mit wahrem Heldenmut unterzog fie fich einer Operation, die zu jener Zeit
noch ohne jegliche Betäubungsmittel vorgenommen werden mußte, doch der Erfolg
wat nur ein zeitweiliger, und am 11. Mai 1731 machte der Tod ihrem reichen Leben
ein Ende.
Daß Mary Aftel nicht Schule gemacht hat, daß ein ganzes Jahrhundert ver:
ftreichen Eonnte, ehe Mary MWollftonecraft, unbeeinflußt durch ihre Vorgängerin, von
beren Exiſtenz fie nicht einmal etwas ahnte, die Sache der Frauen von neuem aufnahm,
zeigt nur, daß die Zeit noch nicht reif war für ihre Anjchauungen.
A
Erfte ſtaatlich genehmigte Lehranftalt für
Hellgymuaftit und Maffage in Kiel.
Bon Amalie Junt
(Raddrud verboten.)
Wenn einerfeit® bie rechtzeitig angewandte,
wiſſenſchaftlich ausgeübte Heilgymnaftit den menfc:
lichen Körper vor großen Gefahren, ja vor dauerndem
Siechtum zu bewahren vermag, fo kann anderer:
feitd auch durch Unverftand und unzureichende
Kenntniffe über die Beſchaffenheit des menfchlichen
Körperd auf biefem Gebiete viel gefünbigt werden.
Und dann find birelte Geſundheitsſchädigungen
mur zu Häufig bie traurige Folge ber falſch an:
geiwandten Heilgymnaftit.
Um die wirkſame Anmwenbung der Heilgymnaftit
in weiterem Maße zu fihern, hat Dr. Lubinus
in Kiel einen Kurfus zur Ausbildung junger
Mädchen und Frauen ald Heilgymnaftinnen und
Zurnlehrerinnen eröffnet.
Die Errichtung diefer Anftalt ift um fo freubiger
zu begrüßen, als fie die erfte ftaatlich genehmigte
Lehranſtalt für Heilggmnaftit und Maſſage ift.
Dementfprecdend wird eine vom Staate ein:
gefegte Prüfungstommiffion am Schluß der Kurfe
das Examen abnehmen, und bie Schülerinnen er:
halten dann ein Zeugnis als „ſtaatlich geprüfte
Heilgymnaftin”. Es gab bisher ja auch in
Deutſchland außerordentlich tüchtige Orthopäbinnen,
die privatim ihre Lchrlurfe abfolviert hatten,
aber leider maßten fid die Mafjeure und Mafjeufen
auch oft Behandlungen auf dieſem Gebiete an,
denen ihre Kenntniſſe abfolut nicht gewachſen
waren. Diefelben hatten dann in wenigen Wochen
oder Monaten bei einem Maffeur ober etwa an |
einem Krantenhaufe die verſchiedenen Manipulationen
der Maffage mehr ober weniger gut fich zu eigen
zu machen gefucht. Naturgemäß aber konnten fie
in einer fol kurzen Vorbereitungszeit nicht über
den Bau des menſchlichen Körpers, bie Funktionen :
feiner Organe, dad Weſen der in frage kom—
menden Krankheitsprozeſſe, die Technik der Heil:
aumnaftit und die mittel® der Maffage erzeugten
| Bervegungen u. f. w. genügend aufgeflärt und
untlrrichtet werben. Es fehlt eben bie hier fo
j überaus notwendige wiſſenſchaftliche Vertiefung und
richtige Erkenntnis, die allein einen Erfolg ber
Behandlung erhoffen läßt. Um fo befier konnte
es benn auch den ſchwediſchen Heilghmnaſten refp.
Gpmnaftinnen gelingen, bei uns in Deutſchland
feften Zuß zu faſſen, fo daß feldft junge Schwedinnen,
bie nicht ihre Ausbildung am Sentral-Inftitut in
Stodholm erhielten (dad Königl. ghmnaſtiſche
Zentral· Inſtitut in Gtodholm erfreut ſich be:
anntlich eined Weltrufes und hat längft die
wiſſenſchaftliche Ausbildung junger Mädchen zu
Heilghmnaſtinnen übernommen), fondern nur wenige
Monate privatim vorgebildet waren, bei und
reichlich Befhäftigung fanden. Auch ſchon von
dieſem Geſichtspunkte auß ift es cin mohlberechtigtes
deutſches Streben, durch eingehende wiſſen ſchaft.
liche und pratifche Ausbildung einen ebenbürtigen
Stand deutfcher Yeilgymmaftinnen zu fchaffen.
1 68 ift leicht erſichtlich wie bie Genehmigung
eined vor ber Regierung abgelegten Eramens ben
Stand heben und ihm die volle Anerkennung der
Ärzte verichaffen wird.
Der erfte Aurfus in Kiel beginnt mit dem
15. April und wird zweijährig fein.
Die Lehrgegenftände find folgende:
Anatomie ded menſchlichen Körpers,
Phoſiologie
Bewegungslehre,
Geſundheits· und Krankheitslehre,
Turnen, inkl. Geſchichte, Methodik und Gerät
kunde,
Heilghmnaſtil und Maflage, ſowohl theoretiſch
als auch in praltiſcher Ausübung.
Die Aufnahmebedingungen. find:
. Alter zwifchen 18 und 85 Jahren.
. Gute Schulbildung.
. Kräftiger Gefunbheitäzuftand.
. Amtliches Führungszeugnis.
. Honorar halbjährlich 1650 Marl.
. Teilnefmerinnen-Zafl fol möglichft be:
ſchrantt werben.
enmopm
504 Frauenleben und :Streben.
7. Anmeldungen und Anfragen find zu richten
an ben Leiter der Anftalt Dr. Lubinus-
Kiel, Brundwiderftr. 10.
Die beftandene Prüfung verleiht ben Schülerinnen
die Approbation ald SHeilgymnaftin und Turm:
lehrerin. Solche Ausbildung ſchafft nicht einen
Stand von Hanblangern, ſondern wiſſenſchaftlich
eingehenden Ausbilbung, die Kranktheitäerfcheinungen
in ihrer Urfache und ihren Wirkungen richtig zu er-
kennen vermögen, alfo auch bie richtige Bebanblumg2-
weile anwenden können. Selbitverftändblich haben
auch fie mit den Ärzten Hand in Hand zu gehen.
Es unterfieht wohl keinem Zweifel, baß ber
in Kiel unternommene Verſuch fih ald lebens
gefchulte Kräfte, die ihrer oft ſchwer verantiwort- | fähig ermeifen unb weitere Derartige Unternehmungen
lichen Aufgabe gewachſen find, weil fie, dank ihrer | nad) fich ziehen wird.
— de —
Tranenleben und -Streben.
Nachdruck mit Duellenangabe erlaubt.
* Der Bund beutfcher Frauenvereine hat
durch feine Rechtskommiſſion in Ausführung der
Beichlüffe der Dresdener Generalverfammlung
nachfolgendes Flugblatt ausarbeiten und verfenden
laſſen, das wir eindringlich der Beachtung empfehlen.
Weshalb follen Eheverträge geichloffen werben?
Das Bermögen und die Ausfteuer der Frau
find nad) dem geltenden Güterrecht, mit Au2-
nahme der zum perjönlichen Gebraud der Frau
beftimmten Saden, wie inäbefondere Kleider,
Schmudjachen und Arbeitögeräte, eingebrachtes Gut,
der Mann verwaltet es und verfügt barüber. Durch
Vertrag, den die künftigen Gatten vor einem Notar
oder vor Gericht unterfchreiben, kann an Stelle
dieſes Rechte Gütertrennung vereinbart erden,
db. h. die Frau behält die Verfügung über ihr Ber:
mögen und deſſen Erträge, und ift verpflichtet, dem
Ehemann einen angemefjenen Beitrag zur Be:
ftreitung des ehelichen Aufwandes zu zahlen. In
denjenigen Ehen, in denen die Frau im Hausweſen
oder Geſchäft des Mannes erheblich mitarbeitet,
fann fie fi durch Vereinbarung von Errungens
Ichaftögemeinichaft, verbunden mit Giütertrennung,
den ihrer Arbeit entiprechenden Anteil am Gewinn
und Griparten fichern.
Man fagt, daß bei glüdlichen Chen die Gelb:
und Eigentumsfrage feine Rolle fpiele, aber es
giebt doch auch unglüdliche Ehen, und gerade die
pefuniäre Abhängigkeit der Frau, die unerquidlichen
Auseinanderfegungen, das Rechten um fleine und
große Ausgaben untergraben nur zu oft Frieden
und Vertrauen -und dadurch das Glüd. Es ift
fiher Müger und praftifcher, die Geldfrage vor der
Ehe in gerechter, den Berbältniffen entiprechender
Weiſe zu ordnen und fo fpäterem Unfricden vor:
zubeugen. Es ift Pflicht jedes Menfchen, feine
Pflicht dürfen fi auch die rauen heutigen Tages
nicht mehr entziehen. Derliert eine rau den
Gatten, jo bat fie nach den neuen Gefeh, außer
dem eigenen Vermögen, auch das ber Kinder zu
verwalten, daher ift es notwendig, daß fie von
vornherein auch in Geichäftsangelegenbeiten felbft:
jtändig handeln lernt. €3 kann ber Familie nur
zum Vorteil gereichen, wenn nicht mehr ausſchließ⸗
lih der Mann bie gefchäftlihen Intereſſen ber
Familie wahrt, fondern auch die Frau ihren Scharf:
blid und ihre Erfahrung geltend machen Tann.
Pflicht der Eltern ift e8 vor allem, barauf zu
dringen, daß ihre Töchter Eheverträge ſchließen.
Nur auf diefe Weife kann ein mirkfamer Schug
bes Frauenvermögens gegen bie Folgen von Schid:
falsichlägen, fowie gegen eventuelle Mißwirtſchaft
bed Gatten erreicht werben. Vernünftig und geredht
dentende Männer werben biefe Fürforge der Eltern
verſtehen unb darin feinerlei Miftrauen gegen ihre
Perſon erbliden. Bei einem fo wichtigen Lebens:
abichnitt dürfen falſch angebrachtes Zartgefübhl und
Sentimentalität nicht maßgebend fein. Die Bin:
gebende Liebe der Frau wird burd die Wahrung
ihrer pekuniären Selbftändigfeit in feiner Weife
berührt; die bingebende Liebe des Mannes jur
Frau bedingt ja auch nicht, daß er ihr fein Ber:
mögen überlafie.
Die praftifchen Vorteile eines Chevertrages find
jo bedeutende, daß man Verlobten nicht dringend
genug das Eingehen eines folchen raten Tann.
I. yormular
zum Gbevertrag einer vermögenden Chefrau.
Zwiſchen ...... ijt unter heutigem Datum
der folgende Ehevertrag abgejchloffen worden:
81
In der Ehe ſoll Guͤtertrennung herrſchen, die
Verwaltung und Nutznießung des Mannes am Ber:
eigenen Angelegenheiten felbft zu beforgen; bdiefer | mögen der Frau fällt fort.
\|
Frauenleben
82.
Die Roften des Ehevertraged tragen, bie Ci
gatten ve eigen zeilm ed Fragen. bie he
m Formular
er Frau, bie einen Beruf auß:
ober —— ein Gefchäft betreibt.
Zwilhen ...... ft unter heutigem Datum
ber folgende eherrenna N ofen worden:
In der Ehe foll Shkertrennung herrſchen, bie
Verwaltung und Rutznießung bed Manned am Ber:
mögen ber Frau fält fort.
82.
Die Hinftige Ehefrau hat das Recht, ihren Beruf
dauernb auszuüben ober ihr Ermerbögefchäft dauernd
w betreiben. Insbeſondere erteilt ber Chemann
R. feiner Braut und künftigen Ehefrau hiermit
ein für allemal die Zuftimmung zur Eingehung von
jeglicher Art von Verträgen, durch melche fie ſich
zu einer von ihr in Perfon zu bewirkenden Leiftung
verpflichten will.
88.
Die Koften bed Ehevertraged tragen bie Che:
gatten zu gleichen Teilen.
I. Formular
zu einem Arbeiterehevertrag.
Zwiſchen ...... ift unter heutigem Tatum
der folgende Ehevertrag abgeſchloff en worben:
814.
In der Ehe ſoll Gütertrennung herrſchen, die
Verwaltung und Nutznießung des Mannes am
Bermögen der Frau fällt fort.
82.
Die künftige Ehefrau fol ferner auch in ber
Berwertung ihrer Arbeitöfraft vollftändige Freiheit
haben und von ber Zuftimmung ihres Mannes
hierbei gänzlich unabhängig fein. Insbeſondere
erteilt der Ehemann N. N. feiner Braut und zu
tünftigen Ehefrau hiermit ein für allemal bie
Zuftimmung zur Eingehung von jeglicher Art von
Verträgen, burd; welche fie ſich zu einer von ihr
in verſon zu beivirtenden Zeiftung verpflichten will.
88
Die Koften bed Ehevertraged tragen bie Che:
gatten zu gleichen Teilen.
IV. Formular
zum Ghevertrag einer Frau, bie einen Landwirt,
Handel: oder geiverbetreibenben Mann heiratet, oder
einer bermögend: und beruföfofen ‘Frau, bie durch
ihre Arbeit im Haufe am eignen Erwerb ge:
Sinbert it
wilden ...... iſte unter heutigem Datum
der ſolgende ——— ‚seetstoflen worden:
Als eheliches uem "gilt Die Errungenſchafis.
gemeinfhaft, da8 heißt: da3, was bie Gatten durch
den, gemeinfchaftfichen Betrieb eine® Erwerbo
geijäfted geiwinnen oder auf andere Weife fparen,
wird gemeinfchaftliches Vermögen.
und «Streben. 505
$2.
Borbehaltägut ber fünftigen Ehefrau find die
in beiliegendem Verzeichnis aufgeführten Gegen:
fände ber Außfteuer und alled, wa bie künftige
Ehefrau durch Erbfolge, Bermägtnis ober Pflichtteil
erwirbt (Ertverb von Todeswegen), ober was ihr
unter Lebenden von einem Dritten unentgeltlich zu:
|
gewendet wird.
88.
Im Fall der Aufloſung der Ehe durch Scheidung
ober Aufhebung ber ehelichen Gemeinfchaft er:
Hält jeber Ehegatte die Hälfte des Gefamtgutes,
welches nad; Berichtigung ber Geſamtgutsverbindlich⸗
kin als 3 Vermögen vorhanden ift.
Im Fall der Auflöfung der Ehe durch Tob er
hält ber überlebende Gatte die Hälfte des Gefamt:
guted, welches nach Berichtigung der Gefamtgutd-
verbinblicleiten vorhanden ift.
8 4.
Zur Beftreitung ihrer perfönlicen Betürfniffe
erhält bie künftige Ehefrau für ihre Arbeit im
Hausweſen des Mannes eine Bergütung ven
monatlich - Marl.
85.
Die Koften bed Ehevertraged tragen bie Che:
gatten zu gleichen Teilen.
Anmerkung 1:
$ 1427 des Bürgerlichen Gefegbudjes beftimmt,
daß bei Gütertrennung bie Frau bem Mann zur
Beftreitung des ehelichen Aufwandes einen an:
gemeffenen Beitrag aus den Ginkünften ihres
Vermögens, von dem Ertrag ihrer Arbeit ober eines
von ihr felbftänbig betriebenen Erwerbägefhäftes zu
eiften hat. Die Höhe dieſes Beitrages fann im
Ehevertrag nicht für bie Dauer der Che feſtgeſetzt
werben, ba ber Vermögensſtand beider Ehegatten
fih im Laufe der Jahre zu verändern pflegt.
Anmerkung 2:
Der Ehevertrag wird am beften vor Eingehung
der Che bei gleichzeitiger Anweſenheit beider
Verlobten oder beren Bevollmächtigten vor bem
| Amtögericht ober vor dem Notar abgeichloffen.
Anmerfung 8:
Nach gefcploffener Che ift die Eintragung bed
‚ Ehevertrages ind Güterrechtöregifter ded Amtd-
| gerichted zu beantragen, in deffen Bezirk der Mann
! feinen Wohnfig bat. Die Beantragung kann
geichehen entiveer burd) beide Ehegatten, durch
einen derfelben oder durch den Notar. Lehieres ift
da8 einfacfte Derfahren. Nur durd biefe Ein:
tragung wird der Ehevertrag Dritten gegenüber
wirkfam.
Anmerkung 4:
Es empfiehlt fi, im Sinblid auf den & 1362
des Bürgerlichen Gefegbuhes unb ben $ 45 ber
Reis: Konkurd: Drbnung, bem Antrag auf Ein:
tragung in dad Güterredhtöregifter ein vollftänbiges
Verzeichnis des ber Frau gehörenden Vermogens
(Wertpapiere, Möbel u. f. iv.) beizufügen.
Anmerkung 6:
Abänderungen der PVertragsformulare können
dur Weglaffen und Hinzufügen einzelner, den
! erhältniffen und Wunſchen ber Bertragigjließenden
nicht entſprechenden Beftimmungen vorgenommen
werben. Tod raten wir, wo es irgend angeht,
* bie Formulare fo zu. benugen, wie fie vorliegen.
6
* Ter Berliner Frauenverein und die Haus⸗
inbufßrie in der Berliner Qoſtũm⸗Naſſchneiderei
Tie Antworten der Inhaber von Koftüm-Tetail-
ge:häften, bei benen der Berliner Frauenverein,
wie in den vorigen Rummern berichtet wurbe, über
die etwa geplante Cintührung von Hausinduſtrie
Grluntigungen einsog, haben die Kommiſſion des
Vereins zu folgendem weiteren Schreiben an die
Konfektionãre veranlaßt:
Sehr geebrter Herr!
Aus dem Antwortihreiben bed Arbeitgeber:
verbante3 vom 7. März ſowie aus den Bricien
aner Anzabl Inbaber von Koftüm-Detailgeibäften
bat Die unterzeichnete Kemmiiſion des Berliner
Frauenvereins mit Bedauern von der Thatiache
Kennmid genommen, daß ein Teil der Berliner
Rap: Tetailgeihäfte dazu übergegangen ift, in er:
wmeitertem limtange Waren auserbalb ihrer Wert:
ftatten anfertigen zu lafien. Als Grund dafür
wird angegeben, daß man durch die übermäßigen
‚serderungen der Arbeiter zu dielem Auswege ge:
swungen worden ie.
Zie ‚stage, ob Liele Forderungen übermäßig
seien, iſt unierer Anfıht nad ichon durch die im
rorzgen Frühjahr eriolgte Annabme beitimmter
Zarıie ven jeiten der Herren Arbeitgeber felbit
verneint worden. In der Umgebung aber ticier
art'masigen Abmachunaen durch Die Ausgabe von
Arkeir an Zwiibenmeiiter und Seimarbeiter er:
bi:den wir jedenialls eine nicht zu billigende Maß—
regel; und zmar
1. aus allgemein fozialpolitiihen Gründen;
2. aus lanitaren (Sründen.
Es ift eine alfaemein beitätiate Criabrung, daß das
ungeregelte Arbeitsangebot der Heimarbeiter und
Me Unmealichkeit, in der Suusinduitrie zu kollek—
tiren Abmachungen zmwiihen Arbeitaebern und Ar:
beimebmern zu fommen, zu der Entwicklung unges
funder Yobnverbältninie fuhren mug. — Wir lönnen
nicht wunicen, daß die Yuitinde, die in der Kon:
jettionsinduitrie allgemein beklagt werben, aud in
ter Maßbranche Play areisen.
Tie fanitaren Bedenken, die ber Seritellung
von Zaren in unlontreilierten Arbeitsitätten ent:
gegeriteben, liegen auf ber Hand.
Nonne man auch vieleiht für bie ſozial—
politiſchen Getichtäpuntte nicht auf das Veritandnis
weiterer Kreiſe rechnen, io dech für Diejenigen,
weiche Die geiundbeitlichen Antereiien der Kuͤnd
icaft berußren.
Tas Publikum, das in den eriten Geichäften
Berlins die beiten Treiie zahlt, kann und wird
auch tie Forderung fielen, daß die von ihm ent:
nemmenen Waren nicht Anitedungsactabren in
unbefannten Wohnungen ausgeiegt werben.
Die Unterzeichneten innen nur befürworten,
daß die Kundichaf in dieier Frage zur Selbitbilie
greiit und durch Vachiorichung uber die Beſchañen—
heit der Arbeitsſtätten und Bekanntgebung der—
jenigen Geſchaite, welche in geſundbeitlich einwands⸗
freien ®ertitisten arbeiten iaien, ſeine Intereiien
fichert.
Wir erfuhen die Firmen, bie fih zu unieren
Ötuntiägen befennen, um eine zuistiimmende Annwert
Frauenleben und -Streben.
und bie Erlaubnis, ihren Ramen im ber Lite :u
veroffentlichen, die wir über diejenigen Gekhö'
zu führen gebenten, welde ihren Berrieb nut
unferen Gefichtspunkten leiten.
Mit vorzügfider Hochachtung
i. A. der Kommiſſion des Berliner Fraucaverems
Helene Lange. Gertrud Dyvhrenfurth.
Alice Salomon.
Ta jegt ſchon feftzuftellen if, daß ſehr wenige
der Konfektionäre fi zu ben in dem Schreiben
audgeiprochenen Grundiägen beiennen, jo werten
diele erften Schritte des Berliner Frauenvercius
nur dann von Einfluß auf die herrſchenden Ver
kältnifie werben lonnen, wenn fie gu einer in
weiteren Kreiſen unternommenen Bewegung den
Anitoh geben.
* Die Oymuekallurfe für Frauen zu Berliz
haben Oſtern wiederum zwei Schülerinnen entlarien,
Frl Tora und Annemarie Bieber, die beide
mit gutem Erfolg bad Cramen vor ber Prüfungs
kommiĩſion bed Königlichen Luiſengymnaſtums be
ftanten. Trei andere Xipirantinnen, die fich auf
Grund privater Vorbereitung gemeldet batıen,
mußten teild ibon vor Beginn, teild währenb bes
mundliden Examens zurüdtreten. Es wäre ieht
mwünichenätvert, wenn der Riniiter, der fi immer
noch die Enticheibung über die Zulafiung von Fall
zu Fall vorbehalten bat, ſolchen privatim, oft in
fürzeiter Zeit vorbereiteten Schülerinnen bie Zu:
laitung erihmwerte. In Berlin wiederholt fih nun
iben jeit einer Reibe von Jahren bei jebem
Trüfungätermin der gleihe Vorgang, daß folde
privatim vorbereiteten Schülerinnen — bie nicht
jelten wegen Unfähigkeit oder Mangel an Fleiß
in bieiiaen oder anderen Aurfen nicht vorwärts
famen — bie Zeit der Prüfungstommiffion unnüsß
in Aniprub nebmen und das Frauenſtudium
diskreditieren.
* Die beiden erfien ſtaatlich approbierten
Ärztinnen in Deuntſchlaud find Frl M. Wagner
und Frl. Democh, die beide ibr Staatderamen
kürzlich beitanden, tt. Wagner in jrreiburg i. Br.
stil. Democh in Salle.
* Anftellung Radtiiher Waijenpflegeriunen
in Tilfit. Am 12. Dezember des vorigen Jahres
bat bie Trtägruppe Tilſit Des Allgemeinen Deutfchen
Frauenvereins in einer Cinaabe an den Magiſtrat
ibrer Statt um die Anstellung ſtädtiſcher Waiſen⸗
pilegerinnen. Der Eingabe war eine Lifte bei:
geleat, welche die Namen ven 70 ‚rauen aus ben
verſchiedenſten Ständen enthielt, die ſich bereit
erflärt batten, dad Amt ter Waifenpflegerin zu
En
En ö— — — — — —
Frauendereine.
übernehmen. Unterftügt wurde die Petition ber
Drtögruppe von fämtlichen hieſigen Frauenvereinen
und vom Königlichen Amtögericht, dad den Magiftrat
erfuchte, der Bitte der Frauen gemäß verfügen zu
wollen, da „mir die Anftellung von Waiſen⸗
pflegerinnen für die Stabt Tilfit als jehr wünfchend:
wert betrachten”. — Der infolge biefer Petition
geftellte Antrag auf Anftelung von Waifen-
pflegerinnen wurde fowohl im Magiftratstollegium
mie in ber Stabtverorbnetenverfommlung ein:
Rimmig angenommen; aud) von feiten ber Waiſen⸗
räte wurde fein Einwand gegen ben Befchluß erhoben.
Für die 14 Bezirke der Stadtgemeinde find vorläufig
28 Baifenpflegerinnen gewählt worden, bie ſchon
an ber nächſten Waifenratöfigung teilnehmen follen.
* Ueber die Bulafjung von Franen zum
gaſtweiſen Beſuch von Univerfitätänsrlefungen :
iſt kürzlich eine neue minifterielle Beftimmung er:
laffen, die für die numeriſche Geftaltung des
Srauenftubiums im Sommerfemefter bebeutungävoll
werben dürfte. Der Beftimmung zufolge wird es
als ſelbſtverſtaͤndlich erachtet, daß die für männliche
Hofpitanten geltenden Crforbernifie auch auf die
weiblichen in Anwendung gebracht werben.
erfteren wird an den Univerfitäten allgemein baran
feftgehalten, daß ohne eine mindeftend der Ober⸗
ſecunda einer inländifhen höheren Lehranſtalt oder
der wiftenichaftlichen Reife für ben einjährig frei⸗
Bi |
507
} willigen Militärdienſt entfprechende Vorbildung ber
Beſuch von Univerfitätßvorlefungen nicht geftattet
! werben Tann. Da die Borbildung ber Volksſchul⸗
ı lehrer zum einjährig freiwilligen Militärbienft be:
rechtigt, wird für die Zulaſſung weiblicher Hofpi-
| tanten unbedenklich das Lehrerinnenzeugnis genügen.
Es würde aber voraußfichtlich die wiſſenſchaftuͤche
| Höße des Univerfitätdunterricht8 gefährden, wenn
auch daB bloße Entlafjungäzeugnis einer Höheren
| Tochterſchule ald ausreichend erachtet würde. Biel:
mehr darf die Zulaſſung hier jedenfall nur ganz
ausnahmsweiſe beim Vorliegen andermeiter voll:
j gültiger Ausweiſe über bie erforderliche Borbildung
erfolgen. Bezüglich der in Betracht kommenden
auslandiſchen Zeugniffe wird eine nähere Be:
ı ftimmung vorbehalten.
* Totenjen. Frau Dr. jur. Emilie Xempin
ftarb nad langem Leiden in ber Irrenanftalt zu
| Bürig. Sie bat befanntli) bie legte Zeit ihrer
N deruflichen Thätigteit in Berlin zugebradt, und
| pi glauben und berechtigt, anzunehmen, daß der
| damals zu mandem Angriff führende plögliche
| Weile ihrer Überzeugungen fhon auf die ber
ginnende geiftige Umnadhtung zurüdzuführen war,
! der bie unglüdlihe Frau, wohl mit infolge von
drüdenden Sorgen, verfiel. Frau Kempin bat ſich
i in ber Zeit ihrer vollen geiftigen Kraft bedeutende
“ Zerbienfte um den Fortſchritt des Frauenſtudiums
erworben, vor allem dadurch, daß fie als erfte auf
| dem Kontinent das juriftifhe Studium bis zur
! Promotion burchjegte.
57.25
Frauenvereine.
Die de —E ringen in
die ber Verein Frauenbildung — Frauen:
ubium ins Leben gerufen bat, wurben am 14. April
in Anwefenheit von Vertreiern ber ftaatlichen und
ftäptifchen Behörde, Angehörigen der Sı rinnen
und Freunden der Sache eröffnet. In ihrer Er:
öffnungörede gab bie Borfihenbe der Abteilung rant-
furt des Verein® Frauenbilvung — Frauenftubium, '
Frl. Dr. Elifaberh Winterhalter, einen Über: |
bfid über ben Fortf—ritt des Unternehmens Biß -
jet unb Tennzeichnete die Gefichtepunkte, nad) denen
es fortgeführt werben follte, etwa mit folgenden
Ausführungen: Tie Schülerinnen follen nicht lernen
zur Befriedigung ihrer Gitelteit, um dur Willen
zu glänzen, fie follen auch nicht arbeiten im Hinblick
auf einen rein äufierlihen wel, um für das
Eramen eine gewifie Summe von Kenntniffen zur '
Verfügung zu haben, fondern fie follen in heiterer,
Iebenfrober Arbeitöluft einen Teil_ ihrer ſchonen
Jugend, ganz allein un ihrer felbft willen, dem
Studium wibmen, zur Erlangung von wahrkafter
Bildung, von wahrhaftem Verſtändnis für die Melt
und ben Meniden, für die Größe und Schönheit
in Ratur, Wiffenfhaft und Kunft, zur Erlangung
eines geiftigen Inhalte, einer inneren Welt. Für
den Menfchen ift dieſe innere Welt ein (Yut von
‚größter Roftbarteit, die Erlöfung von aller Unfreiheit
und Halbheit. Tas Streben ber Schülerinnen fei,
dur Arbeit zu Willen und durch Wiſſen zu
innerer Kraft unb gu innerer Freiheit zu gelangen,
dad heißt gu fönfter und befter Entfaltung der
Verfönlihteit. — Im Auftrag de Provinzial:
fdultolegiums zu Caffel und des Cherpräfidenten
überbrachte Herr Propinzialfulrat Dr. Pähler die
beften Wünfce und die Verfiherung bes Intereffes
und Wohlmollend ber Behörden. Serr TDireltor
Dr. Hartwig betonte, wie wichtig es fei, daß bie
erteiterte Bildung der Kurfe mit dem, was bie
jungen Damen an Wiſſen mit ſich bringen, organiſch
Ü vertettet werde. Herr Cherbürgermeifter Dr. Adides
rühmte das fehöne Recht der Privatunternehmung,
tüßn voranzugehen unb fid neue Ziele zu fteden.
Ein Unternehmen, das fo befonnen und fo ruhig
in bie Wege geleitet werde, fei danach angethan,
die neuen Aufgaben, welche bie wirtſchaftliche Ent-
widfung unjere8 voiles aufrolle, mit löfen zu
belfen. Die Kurfe werden, wie noch bemerkt fei,
mit 10 Schülerinnen eröffnet und zwar mit einer,
der unterften Klafie (Tbertertia). Als Ordinarius
der Klaffe wurden für Latein, Deutſch, Geſchichte
Dr. 9. Auengle, für die übrigen Unterrictäfächer
bewährte Lehrkräfte Frankfurt gewonnen.
- — -
„DaB Wefen bes Chriſtentums.“ Sechszehn
Vorlefungen vor Stubierenben aller Fakultäten im
Winterfemefter 1899/19008 an der Univerfität
Berlin, gehalten von Abolf Harnad. (Leipzig.
3.2. Hinricha'fche Buchhandlung.) Die Menfcheit
Tonne nicht oft genug daran erinnert werben, fo
hat einmal John Stuart Mill gejagt, da es einft
einen Mann Namens Sokrates gegeben. Wichtiger
als das, fo beginnt Harnad die erfte feiner Bor:
leſungen, fei es, die Menfchheit immer wieder
daran zu erinnern, baß einft ein Mann Namens
Jeſus Chriftus in ihrer Mitte geftanden habe. Die
Berfönlichteit und dad Wert Jefu darzuftellen, die
Frage zu beantworten: Was ift Chriftentum? was
ift es geivefen? was ift es geworben? das ift ber
Zwed ber DVorlefungen. Der Weg ift der des
Siftorifers. Das Chriftentum ais eine hiftorifche
Erſcheinung gefaßt, zuerft in feinen Grundlinien
als Verkündigung Jefu felbft, dann in feinen
Beziehungen zu fittlichen, fozialen, religiöfen Lebens:
fragen des Einzelnen und der Gejamtheit, und
ſchůeßlich der Weg des Evangeliums durch die
Geſchichte, das wird in großen Zügen, doch ſo,
daß fich dem Verſtehenden die weiteren einzelnen
Augeftaltungen Leicht von felbft anſchließen unb
unterorbnen, in dem Buche entivorfen. — Es ift
teine Frage, daß das innere Bebürfnis nach einer
Weltanfhauung unter ben Gebilbeten unferer Zeit
tebhafter empfunden wird, ald in den legten Jahr⸗
zehnten, keine Frage auch, daß mächtige und immer
mächtiger werdende Strömungen unfere modernen
Geifteölebens eine tiefe innere Vertwandtiaft mit
dem Chriftentum zeigen. Und modernen Menfchen
aber wird eine Weltanihauung vor allem Iebendig
un verftänblich, in ihrer Beziehung und in ihrer
Wirkung auf Rerfönlicteiten, auf praftiiche
Vrobleme, in ihrem Charakter al gefhichtlihe
Macht, ald der Kern geſchichtlichen Werbens. Auf
biefem Wege das Chriftentum dem gebildeten Qaien
nahe gebracht zu haben — und man kann wohl
fagen, in bisher nicht erreichter Form nahe gebracht
au haben, barin fiegt der Wert diefer Vorlefungen.
Dad Buch ift in der Geifteägefdichte der Zeit und
in ber Geſchichte der evangeliſchen Kirche eine That,
deren Bebeutung nicht Hoch genuggefehäßt werden tann.
„Frauz“. Roman von Mbolf Wilbrandt.
3. Auflage. (Stuttgart, 3. ©. Cottafhe Bud:
Handlung, Nadıf. Preis 3,50 Marl.) Der ftarke
Familienzug aller Wilbrandt’fhen Helden, ein
biebenötürbiger, feiner, Huger Xbealismus hat in
„Franz“, dem Helden ſeines neueften Romans, eine
andere Nuancierung erhalten. Franz ift ein Gott:
fuger, der die ganze Melt durdreift, um die
Gotteötheorien aller Rulturnationen kennen zu lernen,
um fchließlich zu finden, daß auf alle biefe Theorien
fi eine lebendige Lebenspraxis für bie Gegenivart
nicht aufbauen läßt, daß ber Deutſche nur vom
Deutfchen für eine erneuerte Innerlichteit des
Lebend, für ein Leben in Gott gewonnen werben
Tann. Ais Wanderprediger ganz im mobernfien
Sinne weiß er dieſer Idee Jünger biß hinein in
die Kreife exalter Wiffenfhaftler und geriebener
Geldmenſchen zu gewinnen allein durch die Macht
einer lauteren, felbftverleugnenden Perfönlichteit.
Als ein Opfer feiner in bie Praxis umgefepten
Theorie erliegt er einer anſteckenden Krankheit; ein
Schluß, der nun allerdings die Frage: Mas weiter?
jäh abſchneidet. Der eigentliche Roman, ber diefen
Kern umhüllt, ift mit der alten Sicherheit gefügt.
Eine ziemlich bunte Geftaltentelt drängt fih al®
Staffage um ben Helben. Die einzelnen Figuren
find mit der charalteriſtiſchen Liebe behandelt, durch
die ber Dichter ihmen aud eine felbftändige Be:
deutung zu geben weiß.
„Kämpfe und Ziele”, „Kampf und Spiele“.
Gedichte von Detleff vom Liliencron. (Berlin
1901. Schuſter und Löffler. Brofiert 2 Mart
pro Band.) In gut audgeftatteter Geſamtausgabe
fin die Gebichte von Lilieneron hier in 2. Auflage
erſchienen. Nicht Tann es Zwech biefer kurzen
Veſprechung fein, bie Vorzüge dieſer Gebichte, ihre
Eigenart und ifre Iede Originalität zu Harakteri-
fieren. Es fehlen der Sammlung berunglüdte
Verfuche, Gefhmadtofigfeiten night: aber «8 if
aud fein Zweifel, daß biefe Sammlung Beftes
moberner Zyrit überhaupt bietet. In diefen beien
Bänden find zahlreiche Gedichte, die tief zu Herzen
ſprechen und zwingend in ihrer Stimmung find.
„Heimattlãuge and beutfchen Gnuen’, aus:
gewählt von D. Dähnhardt. I. Aus Marid
und Heide. Mit Buchſchmuck von Robert Engels.
Brei in fünftlerifchem Einband 2,60 M. (Leippig,
3. ©. Teubner.) Das Buch gehört zu denen, bie
man bei ber heutigen Überprobuftion an Drud-
ware nicht aleihgültig bei Seite legt. Der Zwea
der ganzen Sammlung, bie e8 einleitet, ift, eine
Charatteriftit der deutſchen Volksſtämme durch
Wiedergabe ihrer munderilichen Dichtungen zu
geben. Da kommt natürlich jo gut wie alles auf
den Spürfinn und bie geididte, fichtende dand he
Herauögeberd an. Diefer erfte Band läßt für bie
folgenden das Befte hoffen. Plattdeutiche Dichtung
greift zwar immer beſonders ans Herz. Es liegi
fo etwas treuherzig Meltfrembed darin, das den
| Rulturmenfchen genau im Verhältnis zu dem Grade
Bücerfchau.
feffelt, den feine Kulturſattheit bereits erreicht hat.
Aber doch ſcheint auch bier bie Auswahl eine wohl
gelungene. Für die Freunde des Humors, für ben
die plattdeutfche Mundart gleichfalls einen fo be:
ſonders glüdlihen Ausdrud findet, empfehlen wir
das koſtbare „Rich to Marl” von Johann Hinrich
Fehrs, eine der beften der Sammlung.
„Friedeſiuchens Lebenslauf.” Fur große
und eine Leute erzählt von veinrich Sohnrep.
4.—6. Auflage. Mit Zeichnungen von Eilburger.
(Berlin SW., Georg Heinrich Mayer.) „Friedeſin⸗
hen® Lebenslauf" bildet den erften Band ber
Niederfähfifchen Dorfgeihichten, die Heinrich
Sohnrep unter dem Titel „Die Leute aus ber
Lindenhütte“ erzählt bat. Wer diefen erften Band
gelefen, der freut fi, daß noch ein zweiter in
Ausficht fteht. So viel Dorfgeſchichten e8 giebt,
fo felten find darunter die „echten“. Und am
menigften echt kommen die „braven“ Kleinhäusler
heraud; entweder merft man bie moralifche Ber: :
ſpektive ober fie merben langweilig; nicht felten
auch beides zugleich Hier aber haben wir bie
einen Leute vom Lande aus einer Zeit, wo fie
in der That noch eine Sonderegiftenz führten und |
fi) zu einer Sonberart entwideln tonnten, beren |
Glaubendbetenntnid ſich noch mit bem einfachen: .
„Ub' immer Treu und Redlichleit" bed ftamm:
verwandten Dichters dedte. Nicht folort hat biefer
Xupus bie Herjen gewonnen. Die Lindenhütten:
leute zogen fon vor 12 Jahren hinaus, ohne
fonberlide Beachtung zu finden; heute ift ihr
Erfolg entjdieden. Die feinjinnigen und daralte:
riſtiſchen Zeichnungen von 2. Burger gereichen bem
Buch zu befonderem Schmud.
DaB Verlangen nad) einer neuem beutichen
Kumf' von Theodor Volbehr. Verlag von Eugen
Diederichs, Leipzig 1901. Buchſchmud von Heinrich
Vogeler. Das Buch von Theodor Volbehr bringt
nicht eben etwas Neues. Er giebt folden, bie
weder Zeit noch Luft haben, ſich in bie Hunft:
anffauungen bed XIX. Jahrhunderts zu vertiefen,
ein bequemes Mittel in die Hanb, fih damit in
den Sauptzügen befannt zu machen. Er giebt in
geihidter Sufammenftellung einen Überblid über
die Wandlungen bed Aunfturteild bis auf unfere
gegenwärtige Zeit und zeigt daran, daß das Ber:
langen nad freiheit in der Aunftausübung, nad)
einer eignen deutichen Kumit, nicht erft eine yorbe: |
rung ber neueften Seit fei, fondern ſchon in den |
Zeiten der Nachahmung und ber Unfreiheit Wurzel |
gefaßt habe. — Tas Buch zeigt zugleich wieder |
die neuen Wege, bie ber Diederichsſche Verlag auf ;
dem Gebiete des Buhihmuds eingefhlagen hat. !
€ wird verfucht, durch eine Schrift fünftleriicher
Eigenart und beforative Behandlung der Seite mit |
i
I
Zuhilfenahme des Drnament?® dad Buch aud |
äußerlich zu einem Ganzen zu geftalten. Tiefer
verfuch ift geglüdt. Ginbandbede, Titelblatt und
der innere Schmud ber Bücher wirten charatteriftifch
jufammen. ‘eine Ornamente füllen die weißen ı
Stellen zwifchen den verſchiedenen Abſchnitten aus.
Die Überfgriften wirten in Schrift und Anordnung :
beforativ, und die Umrahmung ber Seitenzahl giebt ı
jeder Seite den Abflug.
„Orchideen im Lößgrund.“ Geſchichten vom
Raijerftußl von Pauline Wörner. (Freiburg,
509
Paul Waetzel 1901.) Unfere moderne Litteratur ift
giemlid arm an Dichtungen mit kräftigen Lotalton
in Nilieu und Charatteriftit. In biefem Lolalton liegt
der künſtleriſche Wert der einfahen und anſpruchs⸗
Iofen, aber friſch und lebendig gefchriebenen Geſchichien
vom Kaiferftupl. Der Dorfichullehrer in der erften
Erzählung „Watthis und Watthed”, der reihe
Hachberger, die Sculjungen, der alte „Bannwart”
und bie „Swicbelen:Urfchel”, das find alles fo
ſcharf und Mar umriffene Geftalten mit fo lebens.
wahren Zügen, und ihr Leben und Treiben wirb
mit fo echtem, liebenswürbigem Humor gefchilbert,
daß das Buch ſich zweifellos in kurzer Zeit überall
Freunde gewinnen wird.
„Was id als Kind erlebt.” Bon Tony
Schümacher. Mit 3 Bilbniffen und 3 Fakfimiles.
(Stuttgart und Leipzig, Teutihe Berlagsanftaft.)
Die beliebte Rinder epeitfielerin wendet fü
diefem Buch an ein erwachſenes Publitum. Sie
giebt die Gefchichte nicht nur des eigenen Lebens,
ſondern aud die der Eltern und Großeltern, bie
mithandelnd bie großen diſtoriſchen Zeiten burde
leben durften, mitleidenb durchleben mußten, bie
die erfte Hälfte unferes Jahrhunderts füllten. Sie
weiß anfgaulic da8 Aleinfeben der Familie auf
dem Hintergrund biefer Zeiten zu ſchudern und fo
ein nicht wertloſes Kulturbild zu geben. Erft der
zweite Teil ſetzt mit dem ein, was fie felbft erlebt
bat, erlebt im ftillen Pubwigsburg, das fie ald
begeifterte Schwäbin auch bem fremben, norbbeutfehen
Leſer in feiner eigenartigen Poeſie nahezubringen
meiß. Als Großnichte Juftinus Kerner möchte
fie damit eine Art Fortfegung feine® „Bilberbuch®
auß meiner Anabenzeit“ geben, in bem Sinne, den
Kerner felbft in feinem Vorwort bejeichnet: „Ich
betrachte mein eigne® Leben nur ald Faden, an dem
fi Bilder aus dem merhvürbigeren Zeben anberer
anreihen follen.” Auch das ift ihr mohlgelungen.
„Zehn Ruskin““. Ausgewählte Werke. Boll:
ftändige Überfegung. Verlegt bei Eugen Dieberichs,
Leipzig 19UL. Br. pro Band geb. 4M., brofc. 3 R.
Von der Ausgabe, die in der feinen Ausjtattung
des auf biefen Gebiet vorbüdlichen Diederihäf—en
Verlages erſcheint, liegen und der 2. und 3. Banb
ver. Der zweite enthält „Seſam und Lilien“
in der Überjegung von Hebwig Jahn, ber dritte
den „Kranz von Llivenzweigen”, überjeßt von
Anna Henichte. Bei bem Intereffe, dad Rusfin
in den leßten Jahren in Deutſchland immer mehr
erregt hat, ift das Unternehmen einer deutſchen
‚ Ausgabe burgaus zeitgemäß. Die außgezeichnete
Überfegung wird ficherlih dazu dienen, den felt:
famen altmodifjen Propheten einer modernen Welt:
betrachtung aud in Deutfdland einen tweiteren
Freundeskreis zu gewinnen.
„Spartanerjünglinge”. Cine Kabettengefchichte
in Briefen von Paul von Speiepandti. (Leipzig,
Georg Wigand, Preis 2 Marl.) Cine flott
gefcpriebene Erzählung, die night nur „Fadhtreife"
intereffieren dürfte, da fie in ihrer Art ein ebenfo
charakteriſtiſches Heined Kulturbild Tiefert als
„Rofenmentag“. Der tragiihe Schluß ift nun
freilih nur äußerlich motiviert; ber Heine Held
hätte allen Anſpruch darauf gehabt, als korrelter
Leutnant feinen Lebenslauf fortzujpinnen und eine
glänzende Karriere zu machen.
614 Gegen ben Allohol.
„und da er des Weins trank, ward er trunfen“ (1. Mof. 9, 20 u.21). Und bereiti
an dieſen nebelhaften Trunfenbeitsfall beftet jich der Fluch, der bier freilich einen
Schuldloſen trifft, den jungen Sohn Ham, nur weil dieſer des Vaters befchämenden
Zuftand fürwigig geihaut. Homer erwähnt wiederholt den Wein, bie alten
Agypter, Römer, Gallier und Germanen verftanden e8, aus Getreide Bier zu bruuen,
bie ffandinavifchen Völker bereiteten aus Honig den ftarlen Meth. Ob nun als ba3
beraufchende Prinzip dabei erft Jahrtauſende fpäter ein beftimmter chemiſcher Stoff
erfannt und beraußbeftilliert wurde, thut doch gewiß nicht der Thatfache Abbruch, dat
die alten Ägypter, Israeliten, Griechen, Germanen u. f. w. ihre alkoholiſchen Getränke
batten und fich öfter und gründlicher daran gütlich thaten, ala ihnen gut war.
Deshalb beiteht auch eine Alloholfrage nicht erſt feit der fpäteren Römerzeit, ſondern
jo ziemlich bei allen Völkern ſchon zu allen Zeiten. Solange e8 eben und wo aud
immer alkoholhaltige Getränke giebt, To lange bat auch die Neigung zu deren über-
mäßigem Genuß beftanden. Sa, es find auch fchon in älteften Zeiten Männer auf:
getreten, die dagegen eiferten, ganz wie heut, mit mehr oder weniger Erfolg. So
ift bereit3 bei den Söraeliten zur Zeit der Propheten „der Alkoholismus eine
beängftigende Erjcheinung” geworden, — wie das neuerdingd noch Dr. Franz Walter
in einem intereffanten Buche („Die Propheten in ihrem fozialen Beruf und das
Wirtjchaftöleben ihrer Zeit”, Herderiche Verlagsbuchhandlung, Freiburg i. Br. 1900)
anjchaulich geichildert, — und hat eine richtige, jogar überaus leidenfchaftlihe Anti:
alfoholbewegung hervorgerufen: namentlich die Propheten Amos und Jeſaias können fich
nicht genug thun in dein Eifern und Droben gegen die überhandnehmende Trunffucht.
„Wehe denen, die de Morgens frühe auf find, des Saufenz fich zu befleißigen, und
figen bi in die Nacht, daß fie der Wein erhiget!” Heißt e3 bei Jeſaias (5, 11) und
nod einmal: „Wehe denen, fo Helden find, Wein zu faufen, und Krieger in Völlerei !“
(5, 22). Wie weit es mit diefer, der Völlerei, gekommen, zeigen einige weitere Stellen“
bes Jeſaias. Kap. 22, V. 13 wird als die Lofung der Zeit bezeichnet: „Laßt uns
effen und trinken, wir fterben doch morgen,” und Kap. 56, B. 12: „Kommt ber,
laßt ung Wein bolen und vol faufen, und joll morgen fein twie heute, und noch viel
mehr.” Und Kap. 28, V. 7 beißt es fogar: „Dazu find diefe auch vom Wein toll
geworden, und taumeln von ftarfem Getränk. ‚Denn beide, Priefter und Propheten,
find toll von ftarfem Getränk, find im Wein erfoffen und taumeln von ftarfem
Getränk“ — alſo felbft bis auf Priefter und Propheten erftredte fich das Laſter, wie
da auch Hojen beitätigt. Dr. Walter glaubt aus dem Umftande, daß eine der zahl:
reichen Drohungen des Jeſaias mit der Unfruchtbarkeit und dem Verdorren der Weinberge
gerade an die „reichen Weiber, die forglofen Töchter” gerichtet ift, ſogar ſchließen zu
dürfen, „daß ſelbſt die Frauen dem Trunke ſtark ergeben waren“.
Daß man auch in ſpäterer Zeit noch im ganzen Orient zur Unmäßigkeit im
Trinken neigte, dafür iſt ſchon das Verbot des Weingenuſſes durch Mohammed Beweis
genug. Dies hat den in der Geſchichte der Völker einzig daſtehenden Erfolg gezeitigt,
daß die 175 Millionen Islambekenner, die es heutzutage giebt, ſich im großen und
ganzen des Alkoholgenuſſes enthalten. Leider iſt dem europäiſchen Weſten kein Prophet
erſtanden, der dem Dämon Alkohol gleich erfolgreich zuleibe gegangen wäre. Im
Gegenteil hat es z. B. in deutſchen Landen allzeit gerade als Bethätigung des
Nationalcharakters gegolten, ſich gelegentlich, d. h. möglichſt oft, toll und voll zu zechen.
Denn der Gelegenheiten gab's allweil viele: „Die alten Deutſchen tranken immer noch
Gegen ben Allohol. 515
eins.“ Die mittelalterlichen erſt recht: „Wenn man früher Thors, Wodand und
anderer Götter ‚Minne‘ trank, fo trank man nun Chrifti und der Heiligen Minne”,
ſchreibt Dr. W. Fabricius in der Einleitung feiner Gefchichte der „Deutihen Corps“
(Berlin, Hans Ludwig Thilo, 1898). „Befonders der ffandinavifche Norden war die
Heimat biefer Bräuche, und bier errichtete man ſchon frühe befondere Gelagahäufer,
Gildehäufer in den Städten, in denen die Verfammlungen abgehalten wurden. Aber
aud in Deutfchland find ſchon fehr frühe Gilbehäufer gebaut worden, und Heinrich I.
verordnete geradezu, daß die Gildegelage in den Städten gepflegt würden, weil er fo
feingn Zwed, bie Städte zu Mittelpunften des Voltslebens und Verkehrs zu machen,
in vorzüglicher Weife unterftügt fah.” Was Wunder, daß Trinfgelage die beliebtefte
Bethätigung germanischen Gefelligfeitsfinned waren und blieben. Die ftudentifchen
Drden und Nationen, die fi nad) dem Mufter diefes alten Gildenweſens zunächſt
als Schugbrüberfchaften der deutſchen Mufenföhne im Auslande bildeten, wandten
diefem Teil der Gefeligkeitspflege ihrer heimiſchen Vorbilder ihre ganz befondere
Liebe zu. Schon im 14. Jahrhundert verkehrten die Scholaren der deutfchen Nation
zu Paris in nicht weniger als 40 Kneipen, unter denen der Engel, der Hirſch, ber
goldene Bart, Kahlkopf, Schwan, Delphin, die Zither, das goldene Kreuz und
namentlich die zwei Schwerter oft genannt werden. Anlaß zu Kneipereien gaben alle
Feſte: „fieri festum in ecclesia et in taberna“, war die fländige Formel (feftiert
wird in Kirche und in Sneipe). Aber auch jedes perfönliche Ereignis wurde
„begoſſen“ — „aliquem perpotare“ hieß das ſchon damals. Strafend wird einmal
in ben Aften bemerkt, daß „der neue Profurator bislang noch nicht begofien
worden“ — „novus procurator non fuit perpotatus usque tunc“. So bildeten ſich
die fludentifchen Trinkſitten aus, denen erft jegt eine meuzeitliche Antialkoholbewegung
zu feuern ſucht. Nicht mit Unrecht hat auf dem Wiener Kongreß Dr. Meinert:Dreöden,
wenn aud in allzu fcharfen Worten, gegen die „Trinkfitten der höheren und gebildeten
Stände” geeifert, in denen er das hauptſachlichſte Hindernis für einen burchgreifenben
Erfolg der Antialfoholbewegung erblidte. Hätte er nur gefagt, daß die „Trinffitten“
eins der hauptfächlichften Förderungsmittel des Alkoholismus feien, fo hätte er auch hierin
recht gehabt. Den wefentlichften Grund indes, warum twir fo tief in die Schlingen
des Alkoholismus bineingeraten find, hat ſchon Liebig aufgededt: „der Alkohol, durch
feine Wirkung auf die Nerven, geftattet dem Arbeiter, die fehlende Kraft auf Koften
feines Körpers zu ergänzen, diejenige Menge zu verwenden, welche naturgemäß erft
den Tag darauf zur Verwendung hätte kommen dürfen; es ift ein Wechfel, außgeftellt
auf die Gefundheit, welcher immer prolongiert werden muß, weil er aus Mangel an
Mitteln nicht eingelöft werden Tann; der Arbeiter verzehrt das Kapital anftatt der
Zinſen, daher dann der unvermeidliche Bankerott feines Körpers”. In diefen Worten
liegen die urfächlichen Beziehungen des mißbräuchlichen Alkoholgenuſſes zu den fozialen
Verhältniffen angedeutet, wie fie Dr. A. Grotjahn : Berlin in feinem Buch „Der
Alkoholismus nach Weſen, Wirkung und Verbreitung“ (Band 13 der Bibliothek für
Sozialwiſſenſchaft. Georg H. Wigand, Caffel, 1898) ausführlich dargeftellt at: der
niederen Lebenshaltung breiter Schichten der Bevölkerung entfpringt vor allem andern
das Altoholbebürfnis, „denn Unterernährung, Überarbeit, Wohnungsnot, Unficherheit
der Eriftenz und die Unzulänglichkeit anderer Genüffe laffen immer wieder bie
Betroffenen zum forgentötenden, Iuftbringenden, unluftabftumpfenden Branntwein greifen“.
(Vgl. auch das treffliche „hygieniſche Merkbüchlein für das werkthätige Volk“ desfelben
33*
516 Gegen den Alkohol.
Verfaſſers, das erft fürzlich unter dem Titel „Alkohol-Genuß, Alkohol-Mißbrauch“ als
Nr. 8 der „Sammlung Saſſenbach“ — Verlag von ob. Saſſenbach, Berlin und
Paris, Preis jedes Bändchens 15 Pf. — erichienen if.) Das ift denn auch auf dem
Kongreß vielfach zur Ausfprache gekommen, daß der Trunkfjuchtgefahr andauernd nur
Durch Beſſerung der ſozialen Verhältniffe, Hebung der Lebenshaltung in ben niederen
Volksfchichten begegnet werden könne. Profeſſor Weiß-Freiburg (Schweiz) hätte ba?
Thema jeines® während des Kongrefje gehaltenen Vortrages: „Keine Sozialreform
ohne Trinkreform“ eigentlich umdrehen müffen: Keine Trinkreform ohne Sozialreform.
Daß die zahlreichen Temperenzgefellichaften, bie fich jeit Anfang des verflofjenen
Jahrhunderts aus den Vereinigten Staaten verbreitet haben (1803 entfland in Bofton
der erite derartige Verein), feine größeren Erfolge als biöher erzielten, liegt meines
Erachtens an der Unterfchägung dieſes fozialen Moments. Was hat es den amerifanijchen
Temperenzlern genügt, und vor allem: was haben fie genügt, daß fie eg big zum
ftaatlichen Verbot aller geiftigen Getränfe brachten — das erfte abjolute Verbot
jegten fie genau vor fünfzig Jahren, nämlich 1851, im Staate Maine durd —
wenn fie damit nicht weiter gelommen find, als daß die freien Bürger der Union
nun ihren Whisky heimlich in Apotheken kaufen oder aus Theetaflen trinken? Die
ganze amerifanifche Antialtoholberwegung, von jenem Maine Liquor Law und ben
verſchiedenen Sunday Laws, die den Verkauf beraufchender Getränfe und die Offen:
haltung der Wirtshäuſer an Sonntagen verbieten, bis auf den vberrüdten Kreuzzug
der biederen Frau Kanie Nation, die neuerdingd® dad Übel durch gemwaltthätiges
Demolieren der Schankwirtichaften ausrotten zu können fich unterfängt, bat mebr
gefchadet als genügt. Denn fie bat eine gute, ja große Sache, eine Frage von
eıninenter fozialer Bedeutung, an deren gründliche Löſung über kurz oder lang alle
Völker und deren gefeßgebende Organe ernithaft werden gehen müflen, einfach nur
lächerlich gemacht, dem Site und Wige der Spötter ausgeliefert. Würdiger verliefen
ja die Mäßigfeitsbewegungen in Europa. Knüpfte ſich auch an die 1832 zu Prefton
in England erfolgte Gründung der fogenannten Teetotaler-Bereine der Disput, ob das
Wort mit Thee zufammenhänge und daher englifch „tea“ zu ſchreiben fei, weil nun ſtatt
der beraufchenden Getränfe nur noch Thee und Kaffee erlaubt fein follte, oder ob «3
auf einen ftotternden Schmied aus Birmingham zurüdzuführen fei, der bei einem
Meeting anftatt „J am a totaler“ geftottert haben fol: „J am a t—t—totaler“,
jo bat es doch nicht an Bewegungen gefehlt, die nicht® weniger ald den Spott
berausforberten. Man denke nur an die großartige Thätigleit des Pater Theobald
Mathew in Srland, der in den breißiger und vierziger Jahren Millionen feiner
doch gewiß jchnapsgewohnten Landsleute das Enthaltſamkeitsgelübde abnahm, oder
an den preußifchen Baron von Seld, der in ben vierziger Jahren als Mäßigkeitsapoftel
von Stadt zu Stadt zog und folchen Erfolg hatte, daß viele Brennereien ihren Betrieb
einftellen mußten. Auch der 1877 im Anfchluß an den Kongreß zur Hebung ber
Sittlichfeit in Genf vom Pfarrer Rochat begründete Verein „Blaued Kreuz”, der
über 200 Zmeigvereine bereits zählt, ſowie der urfprünglich in Amerika begründete,
dann aber nach England verpflanzte und feit 1894 auch in Deutichland verbreitete
Orden der Guttempler haben nicht bloß eine pietiftifche Antialtohol: Bewegung
gefördert, ſondern auch ernithafte foziale Reformarbeit gethan. Mehr noch der 1883
zu Caſſel gegründete „Verein gegen den Mißbrauch geiftiger Getränke”. Denn biejer
fteht nicht auf dem Boden der abfoluten Enthaltfamkeit, fondern Fämpft, wie fein Name
Gegen den Aftohol. 517
ſchon fagt, außfchließlich gegen den Mißbrauch, gegen das übermäßige Trinken; im
Mittelpuntt ſeines Intereſſes fteht nicht die Einzelerfcheinung des Trinkers, der zum
Abftinenzler befehrt werden fol, fondern die Umgeftaltung unferer öffentlichen Ver—
hältniffe im Sinne einer Hebung ber wirtichaftlichen Lebensbebingungen ber unteren
Bevolkerungsſchichten. Und in diefem Sinne find ja auch ſchon, unleugbar unter
dem Einfluffe jenes Vereins, unfere Behörden vorgegangen. Man hat den Klein
handel mit Spirituofen unter irenge Auffiht genommen, die Schanklonzeffionen ver-
mindert, den Wirten Verabreichung von Spirituofen an notorifche Trinker unterfagt,
Trinkerafyle begründet und bergl. mehr. Ein 1891 dem Deutſchen Reichſstag vor—
gelegter Entwurf eined Gefeges zur Bekämpfung des Mißbrauches geiftiger Getränfe
ift freilich damals garnicht zur Beratung im Plenum gelommen. Dafür hat kürzlich
erft wieder Graf Douglad an der Spige der Freilonſervativen im preußifchen
Abgeorbnetenhaufe einen ähnlichen, nur noch meiter gehenden Antrag eingebracht, der
jegt vieleicht ernfter genommen wird als der vor zehn Jahren. Die kaiferliche Marine,
die feit 1894 eine befondere Statiftit darüber führt, in wie vielen fand» und kriegs⸗
gerichtlichen Straffällen Truntenheit mitgefprochen hat, (38,1 %,, in den Sonderfällen
von thätlihem Angriff und militärifhem Aufruhr fogar 75,4 reſp. 88,2%.) ift
durch Regulierung des Altoholgenufles in den Kantinen, durch Schaffung der
Seemannshäufer, firengere Beftrafung der Trunkenheit und rüdfichtölofere Entfernung
von Trunfenbolden aus dem Dienft in letzter Zeit der Frage ernfthaft zuleibe gegangen.
Noch energifcher war das Generalfommando de3 16. Armeeforps, dad ſchon 1893
nicht nur aus den Kantinen, fondern auch aus den Wirtfchaften in der Nähe ber
Rafernen den Schnaps überhaupt verbannt hat. Dasſelbe geſchah ſeitdem auch in ben
Rantinen der Faiferlichen Werften und anderer techniſcher Betriebe der Marine. Die
rheiniſchen Induftrielen wollen neuerdings ebenfalls gegen den Alkoholismus in ihren
Betrieben vorgehn. In einer am 4. April unter Teilnahme von Vertretern ber
Regierung fowie der Fölnifchen Handelsfammer abgehaltenen Berfammlung fam zur
Sprache, daß der Altoholgenuß auf Betriebsunfälle erheblichen Einfluß babe und bie
Unfalllaften um reichlich 10 %/, fteigere, die namentlich laut Nachweis der amtlichen
Statiſtik auf dad Konto der blauen Montage kommen.
Wieviel aber in Bezug auf Einfchräntung des Alkoholismus gerade feitens der
Behörden und der großen privaten Wirtſchaftsbetriebe noch zu thun übrig bleibt, dad
zeigten fo recht draſtiſch an ein paar Beiſpielen mehrere Nebner auf dem Wiener
Kongreß. So teilte der üfterreichiiche NRegierungsvertreter, Minifterpräfident
Dr. v. Koerber, gleich in feiner Begrüßungsrede das folgende Geſchichtchen mit:
„Bor zwei Jahren lag ein galiziicher Bauer drei Tage lang im kataleptiſchen Schlaf
im Sarge; als er erwachte, erklärte er, im Himmel geweſen zu fein und dort eine
Verlängerung feines Lebens unter der Bedingung zugefagt befommen zu haben, daß
er unter feinen Zandöleuten als Miffionar gegen die Trunkſucht auftrete. Er hatte
merfwürdigen Erfolg. In wenigen Monaten zählten die galiziichen Bauern, die dem
Schnaps entfagten, nach Zehntaufenden. Da ergriff die Gutäbefiger, welche Schnaps⸗
brenner und Branntweinfchenker find, und die überdies ihre ländlichen Arbeiter ftatt
mit Geld mit Schnaps entlohnen, eine förmliche Panik, und bei dem Einfluß, ben
die Polen feit vielen Jahren in der Regierung haben, war e8 ihnen ein Leichtes, den
Apoftel der Enthaltfamfeit, dem feine Miffion fo ernft war, verhaften zu laffen; und
fo viel ich weiß, ſchmachtet er noch immer im Gefängnis.”
518 Gegen ben Allohol.
Eine ähnliche Entlohnung in „Naturalien“ aus den gleichen, menfchenfreundlichen
Motiven heraus ftellte Profeſſor Dr. Neiniger- Graz bei einer Anzahl öflerreichifcher
und deuticher Brauereien feit, die nach alter Gepflogenheit ihre Arbeiter zum Teil
durch Bier entlohnen, jo daß in manchen öfterreichifchen Brauereien der Arbeiter biz
zu ſechs Liter Bier täglich zum Verbraud erhält. Dieſes Bier werde von ber
Steuerbehörde als Einfommen betrachtet und befteuert, und dem Arbeiter ſei es unter:
jagt, dad Bier zu verlaufen oder mit nach Haufe zu nehmen. Der Berziht auf das
Bier berechtige ihn nicht zu einer Entjchäbigungsforderung, wodurch der Arbeiter
demnach einem furchtbaren Trinkzwange unterivorfen werde.
Ob das ruffiihe Branntweinmonopol, da3 dem Staate 350 Millionen Rubel
einbringt, wovon er großmütig 3 Millionen für Mäßigkeitszwecke überweilt, gerade
nur in der fozialreformatorifchen Abficht eingeführt wurde, das Volk zur Mäßigkeit
zu erziehen, dürfte auch, troß der gegenteiligen Berficherungen der ruffiichen Regierung?
vertreter, nicht ganz zweifeldohne fein, wenn man auch nicht gerade der Behauptung
des Peteröburger Rechtsanwalt? Borotin zuzuftimmen braucht, daß durch dies Monopol
dad ruffiiche Volk nur noch mehr der Entartung auögefegt ſei.
Sedenfall3 hat die weitgehende Teilnahme der Regierungen an dem Kongreiie
bewiejen, daß man allentbalben bebörblicherfeit3 gewillt ift, die foziale Gefahr des
Alkoholismus anzuerkennen und ihr zu fleuern. Daß diefe Gefahr eine eminente,
dem Tann ſich nach den gewichtigen Feſtſtellungen einer folchen Reihe von wiſſen—
Ichaftlichen Kapazitäten, wie fie im April in Wien beifammen waren, und der neuejten
Statiftilen niemand mehr entziehen. Der üfterreichifche Kultusminifter v. Hartel
berichtete, daß 1897 in einem öfterreichifchen Induftriebezirt von 25 000 Einwohnem
2 Millionen Kronen für Alkoholika ausgegeben wurden, alſo 80 Kronen pro Kopf
der Bevölkerung jenes Diftriftd. In ganz Ofterreih wurde im legten Sabre für
1600 Millionen Kronen Alkohol fonjumiert! Auf den Kopf der Bevölferung entfallen
jährlih 9 Liter Branntwein, 18,9 Liter Wein und 65 Xiter Bier. Sin Böhmen
wurden in den lebten Jahren 25 000 polizeinotorijche Trunfenbolde gezählt, „deren
Lafter etwa 75 000 Kinder den ſchwerſten phyſiſchen und moralijchen Gefahren prei®:
giebt.” Da Böhmen rund 6 Millionen Einwohner bat, jo kommt auf 240 Köpfe
bereit ein notorifcher Säufer! In Deutfchland fol erft auf 2000 erivachjene Männer
ein Trunfjüchtiger fommen, und auch das ift ſchon fchlimm genug, da es an bie
10 000 Gemwohnheitsjäufer ergeben würde. In Wien gebrauchen 50 %, der Schul:
Inaben bereits alfoholifche Getränke. Gerade Kindern aber, mindeſtens bi zum
16. Lebensjahre, jollte man überhaupt feinen Alkohol geben, auch nicht in der aller:
leichteften Form. Die Gewohnheit vieler Eltern, jo führte Profeſſor Dr. Kaffowig:
Wien auf dem Kongreß aus, ihren Kindern in gefunden, . mit bejonderer Borliebe
aber in krankem Zuftande Alkohol in allen möglichen Formen zu verabreichen, hat bie
Ichweriten Schädigungen des kindlichen Körper® im Gefolge, namentlich ſchwere
funktionelle Störungen und nachiweisbare LOrganveränderungen, Leberichwellung,
Waſſerſucht. Und das nicht bloß nad Branntwein, fondern häufig auch bei bloßen
Genuß von Bier oder Wein in mäßigen Uuantitäten oder bei jo geringen Gaben
von Cognac, wie fie von vielen nicht nur als erlaubt und unfchädlich, fondern
jogar als Heilfam angejehen werden. Durch die phyſiologiſche Forſchung ift bie
früher allgemein verbreitete Annahme, daß der Alkohol irgendivelche nährenden, oder
auch nur verdauungsfördernden oder fieberftillenden und bafterientötenden Eigenschaften
Gegen ben Allohol. 519
befige, vollfommen widerlegt. Hofrat Dr. Gruber:Wien glaubte zwar menigitens
eine einzige Ausnahme für den Alkohol als Nahrungsmittel in Anfpruch nehmen zu
möüffen, nämlich bei gewiſſen SInfeltionsfranfheiten wie QTuberkulofe, obgleich gerade
er an zahlreichen Tierverfuchen feftgeftelt, daß große Gaben von Alkohol in hohem
Maße die Widerftandsfähigfeit des Körpers gegen bie Infektionserreger ſchwächten, fo
daß unter ihrem Einfluffe die Infektionen leichter zuftande famen und fchiverer verliefen
als bei normalen Tieren, während Heinere Gaben in feinem Fall das Zuftandelommen
der Infektion Hinderten oder auch nur deren Verlauf milderten und abkürzten. Allein
auch jene Ausnahme mußte er nachträglich noch befonders dahin einfchränfen, daß er
bemerkte, er wolle jelbftverftändlih nicht den Satz aufftelen: der Alkohol ift ein
Nahrungsmittel, fondern wolle ihn nur bei beftimmten Krankheiten als nährendes
Hilfsmittel angewendet wiſſen. Jedenfalls, für Kinder hat der Alkohol unter keinen
Umftänden auch nur den allergeringften Nährwert. Dr. Zapper-Wien bezeichnete es in
der Verfammlung geradezu als Unfug gröbfter Art, wenn Eltern, wie das häufig
geichehe, ihren Kindern, in ber Abficht, ihnen ein beſonders wirkſames Kräftigungsmittel
zuzuführen, Töffelmeife Cognac einflößen. „Und da die Anregung zu dieſem Mißbrauch
meift von den die Kinder behandelnden Ärzten ausgehe, fo fei es eine Pflicht der
anweſenden Ärzte, gegen biefen Unfug energifch Front zu machen und bei ihren Berufs:
genoffen darauf zu dringen, daß fie von ber leidigen Gewohnheit der Altoholz
verordnung für Kinder abgehen.”
Hat doch der Alkohol, abgefehen von den organischen Schädigungen, auch auf
das Nervenfyftem der Kinder den fchlimmften Einfluß. Sie bleiben in der geiftigen
Entwidlung zurüd, wie im törperlihen Wachstum. Bei Schulfindern wurde bie
ſchwachende Wirkung auf die Lernfähigfeit, wie Profeflor Kaſſowitz berichtete, ſelbſt
nach mäßigen Altoholgaben direkt nachgewieſen. Wie fehr der Alkohol überhaupt
das Nervenleben beeinträchtigt, geht auch aus ber Mitteilung des öfterreichifchen
Rultusminifter8 hervor, „daß 50%, ber Geiſteskranken Oſterreichs Alkoholiker geweſen
find. Ebenſo find 60—80 %/, der Roheitöverbrechen und 30—40 %, der Selbftmorde
auf chroniſche oder afute Alloholvergiftung zurüdzuführen. Eine eben bekannt
werdende internationale Selbftmorbftatiflil, die der Medical Record veröffentlicht,
weit allein für Norwegen eine Verminderung der Selbftmorde nach und führt das
ausbrüdlich auf die energifchen Maßnahmen zurüd, die hier gegen den Alloholgenuß er=
griffen worden find. Dr. Wilhelm Bode, der ſich vom Gründer des erften deutfchen radikalen
Enthaltfamteitövereins, des Altoholgegner-Bunds von 1889, zu einem der maßvollften
Belämpfer des Alkoholismus entwidelt hat, teilte vor zwei Jahren in einem Artikel der
„Gegenwart“ mit, „daß jährlih 200 000 Landsleute, zumeift junge Männer zwifchen
17 und 27 Jahren, in die Strafanftalten wandern, weil fie ‚Vergehen oder Ver:
brechen gegen die Perfon begingen‘, d. h. bei den allermeiften, weil fie den Alkohol nicht ver:
tragen konnten, den fie trinken zu müſſen glaubten“. In der Schweiz, wo e3 bie
befte Mortalitätsflatiftit giebt, wurde für 1894 feftgeftelt, daß bei den Todesurfachen
von 10%, aller über zwanzig Jahre alten Geftorbenen männlichen Geſchlechts der
Alkoholmißbrauch als Haupt: oder Nebenurfache beteiligt war. In Deutichland dürften
die Verhältniffe ähnlich Liegen, wobei nicht gefagt fein fol, daß jeder zehnte Deutſche
oder Schweizer ein Trinker ift, wohl aber, daß „der in der Schweiz (tefp. Deutfchland)
übliche Alkoholgenuß ausreicht, bei dem zehnten Teil der männlichen Bevölkerung
eine ſchwere Beeinträchtigung der Gefundheit zu veranlafien”. So mies auf dem
520 Gegen den Alkohol.
Kongreß Profeffor Forel-Chigny an der Hand der legten Statiſtik Schweizer Arzte
nad, daß durchaus nicht der Zuftand ſchwerer Trunfenheit und noch weniger der
chronische Alkoholismus es fei, der zu den geſundheitsgefährdendſten jeruellen Erzeilen
führe, jondern gerade der anfcheinend jo harmloſe Zuftand des bloßen Angebeitertfeind.
Wenn man weiter bedenkt, daß, wie Dr. Anton:Graz ausführte, es fich bei der
Alfoholvergiftung nicht nur um eine Schädigung des einzelnen Individuums Hanbelt,
jondern um „fortwachjendes, in den Nachkommen jich progreffiv verwielfältigende?
Elend”, fo wird man bie Gefahr des Alkoholismus einigermaßen ermeflen können.
Denn es ift eine alte Erfahrung, daß die Kinder von Trinkern entweder felbft auch
Trinker oder Nervenktranfe find. Bourneville berichtet, daß die Zählungen bei
1000 Idiotenkindern 471 mal chronischen Alkoholismus des Vaters, 84mal der
Mutter und in 65 Fällen Trunffucht bei beiden Eltern ergaben, aljo weit über die
Hälfte. Beſonders Häufig findet ſich auch Epilepfie bei den Nachlommen trunkjüchtiger
Menjchen, und ebenjo auffällig ift die Häufigkeit der Verbrechen gerade bei den Nach—
fommen der Trinfer. Chronifche Vergiftung des väterlichen oder mütterlichen
Organismus mit Alkohol ift an und für ſich imftande, eine frankhafte Artung und
geftörte Entwidlung des kindlichen Organismus bervorzurufen. - Und als bejonder?
draftiiches Beifpiel für den Zufammenbang von Alkoholismus und Erblichkeit teilte
Dr. Fröhlich Wien die Beobachtung eines in einer niederöfterreichiichen Weingegend
wirkenden Lehrer? mit, daß, wenn ein erfter Schuljahrgang ganz befonders jchlechten
Erfolg aufmweift, daraus immer zu erkennen fei, daß ſechs Sabre vorher ein — gute?
Weinjahr war!
Daß der Alkohol thatſächlich ein Gift fei, führte Profeffor Dr. Hand Mever:
Marburg aud. Wenn unterhalb einer gewillen Grenze in der Menge bes dem
Organismus zugeführten Alkohol jede merkliche Wirkung ausbleibe, fo teile der
Alkohol diefe Eigenschaft eben mit allen Biften. In wirkſamen Mengen verurfache
er Betäubung der Gehirnfunktionen und der Reflere, jchließlid; auch des Atemzentrums
im verlängerten Marke, bewirkte Abfchwächung der Muskelkraft, der Herzthätigfeit,
unter Umftänden Abnahme der Körperwärme und verzögere die Verdauungsthätigkeit.
Was fpeziell die Einwirkung auf die Hirnfunftionen betrifft, jo wies Dr. Rud. Wlaflak:
Wien an der Hand der erperimentellen Unterfuchungen des heidelberger Piychiaters
Profeffor Kräpelin darauf bin, daß die Fähigkeit, zu addieren, jchon nach den geringen
Alkoholgaben finke, die 0,2 Liter Bier entjprechen. Ein rapider Abfall der in einer
gemefjenen Zeit addierten Zahlen tritt bei größeren, 2—3 Liter Bier entjprechenden
Mengen ein. Der jchädigende Einfluß dieſer Mengen läßt fich durch 24 Stunden
und oft auch länger noch nachweilen. Ganz dasfelbe zeigt fich für das Auswenbdig-
lernen und die Fähigkeit, Vorftelungsverbindungen zu bilden. Beſonders deutlich
find die Störungen der Auffaſſungs- und Merkthätigfeit einfacher Sinneseindrüde,
wie Zahlen, Buchftaben und Silben, die dem Auge nur eine kurze meßbare Zeit dar:
geboten werden. Schon bei Alkoholdoſen von 30 Gramm (?/, Liter Bier) find bie
Leiſtungen berabgefett, fehlerhaftes Lejen und Auslaffungen fowohl beim Lejen wie beim
Reproduzieren fteigern fih. Bon vielleicht noch größerer praftifcher Bedeutung find
die Verfuche über die Wirkung täglich regelmäßig genofjener Alkoholdoſen. Hier zeigt
es fih, daß die Schädigungen der einzelnen Tage fich zu häufen vermögen, und daß
diefe Schädigung beim Ausfegen des Alkohol mehrere Tage hindurch nachweisbar
bleibt. Daraus cergiebt fich, wie Kräpelin mit Recht bemerkt, eine wiſſenſchaftliche
Gegen den Allohol. 521
Definition des „Trinkers“, die weit über die bes täglichen Lebens hinausgeht.
Trinker iſt jeder, bei dem eine Dauerwirkung des Alkohol nachzuweiſen ift, bei dem
alfo die Nachwirkung einer Alkoholgabe noch nicht verſchwunden ift, wenn die nächfte
einfegt. Ihre volle Wichtigfeit erlangen diefe Ergebniffe aber erft dann, wenn man
fie mit der Thatſache zuſammenhält, daß alle Verfuchsperfonen während der Arbeit
feine Empfindung von der Herabjegung ihrer Leiftungsfähigleit hatten, fondern im
Gegenteil gut und leicht zu arbeiten glaubten. In diefem, die thatjächlichen Ver:
haltniſſe verfalſchenden Gefühl liegt die eigentliche und größte Gefahr der Alkohol⸗
wirkung. Sie täufcht das Ermüdungsgefühl hinweg. Und diefe Vorfpiegelung einer
in Wahrheit nicht vorhandenen erhöhten Leiftungsfähigfeit Hat vor allem zur Verbreitung
der Anſchauung von der „Närkenden” Eigenfchaft der alkoholiſchen Getränfe beigetragen.
‚Gerade diefe Fähigkeit, die Unluftgefühle in Luftgefühle zu verkehren oder fie doch
weniger fühlbar zu machen, nicht bloß über Ermüdung, fondern auch über Hunger:
und Durft:, Hitze- und Kälteempfindungen, Trauer und Freude binwegzutäufchen,
enthält, wie Dr. Grotjahn in feinem eingangs erwähnten Merfbüchlein ſehr richtig
fchließt, die Verurteilung der alkoholiſchen Getränke als Nahrungsmittel, denn es geht
daraus hervor, „daß fie ihren Ruf weniger einer wirklichen Zufuhr von Nährwert
als ihrer rein geiftigen, das körperliche Bedürfnis nicht befriedigenden, fondern übers
täubenden Wirkung verdanken. In der nämlichen Überlegung liegt aber aud zu:
gleich die volle Rechtfertigung des Alkohols als eines Genußmittels! Nichts wäre
verlehrter, als aus der Thatfache, daß der Alkohol hauptſachlich auf die fubjeltive
Empfindung Einfluß Hat, auf feine Überflüffigkeit zu ſchließen. Denn gerade bie
fichere und fehnelle Herbeiführung einer euphoriſchen Stimmung macht ihn zu einem
fo audgezeichneten Genußmittel. Und die Genußmittel, die dem Menfchen zur Ber:
fügung ſtehen, find denn doch nicht fo zahlreich, daß man bloß deshalb eines derſelben
falten Herzens opfern bürfte, weil einzelne Individuen Mißbrauch damit treiben.”
Daher verwirft Dr. Grotjahn die Forderung der abfoluten Cnthaltfamteit; bie
Menſchen könnten vielmehr froh fein, „diefen Luftbringer und Unluftabftumpfer er:
funden zu haben“, der deshalb nicht weniger ein Kulturfortfchritt bliebe,” weil fein
Genuß, wie jeder Genuß, in Mißbrauch ausarten kann.
Man braudt alfo nicht, wie der fürzlich verftorbene Pettenkofer in feinen legten
Lebensjahren, ober wie Forel, der 3. 3. energifchfte Vorfämpfer der vollftändigen
Enthaltfamfeit, der u. a. auf dem Kongreß die Thefen aufftellte, daß die Einführung
altoholfreier Getränke in Wirtichaften gefordert, ſowie aus allen ſtaatlichen Anftalten
die geiftigen Getränke verbannt und durch alkoholfreie erfegt werden müßten,
bebingungslofer Abftinenzler zu fein. Diefe Forderung brauchen mir nur, wie
Wilhelm Bode in jenem Gegenmwartartifel unter der Spigmarle „Dürfen wir noch
Bier und Wein trinfen?” ausführt, in erfler Linie an wirklich Trunkfüchtige zu
fielen: Säufer find Kranke, in Trinkerheilanftalten müffen fie als ſolche behandelt
werden und bis zur völligen Heilung zu dauernder Enthaltfamfeit in der Kur verbleiben.
Die Anftalt zu Elliton in der Schweiz hat es dahin gebracht, daß zwei Drittel ihrer
Patienten auf die Dauer geheilt find. Ferner geht die Enthaltfamfeitäforderung an
alle, die Trunkfucht zu fürchten haben oder fonft vom Trinken erheblichen Schaden
fpüren. „Wer bei ehrlicher Selbftprüfung findet, daß auch der mäßige Genuß ihm
nicht zuträglich ift oder daß er Gefahr läuft, an den Alkohol feine Freiheit zu ver-
lieren, der muß eben ben mäßigen Genuß auch aufgeben.” „Drittens geziemt ſich bie
622 Ä Gegen den Alkohol.
völlige Entbaltung für die, die unter dem Einfluß des Alkohols unrechte Dinge thun,
vielleicht Verbrechen begehen.” Viertens follen enthaltſam alle bie fein, deren Pflicht
es it, „andern den Berzicht leicht zu machen”, „Zaufende von Frauen haben jchen
ihr Schickſal bejammert, weil ihr Mann trinkt, vielen von ihnen wäre geholfen
worden, wenn fie ſelbſt tapfer das Beifpiel völligen Verzicht vorgelebt hätten.” Und
endlich eben ift von der heranmwachjenden Jugend jeder Alkohol fernzuhalten.
Für alle andern genügt bie eine Forderung: Maß halten! Die Uninverfitäls:
profefjoren Morig in Münden und Ziehen in Sena find nach forgfältiger Prüfung zu
bem Ergebnid gelommen, daß eine halbe Flaſche leichten Weines oder ein Liter Leichten
Biere das zuläjlige Tagesquantum Alkohol für den gefunden Mann darftellen.
Das entipricht etwa 30—40 Gramm abfoluten Alkohole. Bei ſchweren Bieren und
Weinen würde das zuträgliche Quantum ziemlich um die Hälfte zu verringern fein.
Für erwachlene Frauen wäre wiederum nur die Hälfte des für Männer Yuläfiigen
zu geftatten. Menjchen, die das 60. Lebensjahr überjchritten haben, brauchen ſich
feinen bejonderen Zwang aufzuerlegen, alten ‘Leuten „befommen alkoholiſche Getränfe
und gerade die Tonzentrierteren, in der Regel gut.“ Dr. Grotjahn verwirft ferner den
regelmäßigen Genuß altobolifcher Getränte bei der Arbeit wie bei den Mahlzeiten,
betont aber ausdrüdlich dabei das Regelmäßige. Als regelmäßiges Getränk betrachte
man Wafler, Kaffee und Thee. Das Leitungswaſſer der Großſtädte bat ganz
unverdientermaßen einen ſchlechten Ruf. Es ift fogar beſſer ald das Brunnenwaſſer
in den Dörfern der norddeutichen Tiefebene und wie das Quellwaſſer der Gebirgs⸗
gegenden völlig Feimfrei. Der Kaffee ift mehr als Erregungsmittel nach guten Mahl:
zeiten von Wert, er Hilft die Trägheit und Schläfrigfeit überwinden. Den ärmeren
Bevölkerungsſchichten ermöglicht er, mit den billigften ftärfemehlbaltigen Nahrungs:
mitteln, wie Kartoffeln und Brot, auszulommen; doch verichuldet er dadurch auch
jenen Zuftand der Überarbeit und der Unterernährung, der heute bei einem großen
Teil des ftädtifchen und Ländlichen Proletariat3 anzutreffen if. Für das bisher beſte
Erſatzmittel alkoholiſcher Getränke erklärt Dr. Grotjahn einzig den Thee. Gegen ein
audgiebigered Genießen von Alkoholien bei feftlichen Anläffen hat aber auch er ebenjo:
wenig einzuwenden, wie Bode, der ein gelegentliches ftärfere® Heranziehen dieſer
willlommenen „Betrüger“ des grauen Lebens und „bequemen Slufionsfabrifanten”
gleichfall8 für ganz berechtigt erklärt. „Der Lebensgenuß ift fein Unrecht, und es iſt
fein Unrecht, Bier und Wein zu genießen. Aber eben: genießen!” Dazu gehört, dab
man fi ihrer durch Wochen und Monate auch einmal ganz enthält, dann werden wir
fie gerade bei guter Gelegenheit mit umfomehr Freude genießen. Und dann könne es
unbejchadet der Geſundheit fogar einmal in größeren Mengen gefchehen. „Es find weniger
medizinische Gründe als folche äfthetifcher Natur und der Rüdfichtnahme auf eigene Würde
und die Empfindungen der Mitmenjchen, die eine Beraufchung biß zur mehr oder weniger
ausgeprägten Sinnlofigfeit verbieten. Die akute Alfoholvergiftung, als welche fich der
Rauſch vom mebizinifchen Geſichtspunkt aus darfiellt, wird nämlich in der Regel von
menschlichen Organismus fpurlos überwunden.” Nur Wiederholungen in kurzen
Zwiſchenräumen haben eine ziemlich ſchnell eintretende dauernde Schädigung im Gefolge.
Selbft der fonft fo alkobolfeindliche Profeſſor Kräpelin jagt: „Ohne Zweifel
fann man im intimen Kreife und unter lebhaften Menjchen die Anregung durch den
Alkohol ſehr gut entbehren. Dagegen wird die Gewohnheit größerer, nach Zufall
zufammengemwürfelter gejelliger Vereinigungen kaum auf ein Mittel verzichten dürfen,
Die Ausftelung des Vereins ber Berliner Künftlerinnen. 523
welches den Einfilbigen gefpräciger, den Derlegenen ſelbſtbewußter madt und bie
ftarfe Reibung vermindert, die notwendig den Verkehr einander innerlich fernftehender
und gleichgiltiger Menfchen erſchwert.“
So tönt noch aus dem finftern Chor der Ankläger, die in jenen Apriltagen
dort zu Wien im großen Mufilvereinsfanle — wo man finnigerweife den Kongreß
verfammelt hatte — dem Alkohol, diefer „Pet der modernen Menfchheit”, das Grab:
lied grollten, eine freundliche Weife Herüber, fchüchtern zwar und nüchtern und in
etwa vermindertem Alkord, aber altvertraut: „Der Wein erfreut des Menſchen Herz!”
Nur foll es möglichft leichter Landwein fein.
Er
Die Anstellung des Fereins der Berfiner Känfferinnen.
Bon
R. von Ruersivald.
Rachdrud verboten. ze
T- den Sälen der Kunftafademie Unter den Linden 38 bat ber Verein der
+ Berliner Künftlerinnen und Kunftfreundinnen feine diesjährige Ausftelung, die
17te in den Jahren feines Beſtehens, eröffnet. In gefchloffener Gruppe treten bie
Berliner Künftlerinnen bier vor die Öffentlichkeit und zeigen aufs neue, was fie zu
leiften vermögen, welche Fortfchritte fie gemacht, welche neuen Kräfte fie getvonnen
haben. Zweifellos if eine ſolche Ausftelung, die fi an bie Kritik und das Publitum
wendet und eine laute Meinung über ftillgewachiene Arbeit verlangt, grade für
Frauenſchaffen, dad fo leicht in engem Kreife bleibt, das ſchon bei rein dilettantiſcher
Berhätigung Staunen und Wohlwollen erregt und dadurch leicht Selbfizufriebenheit und
Einfeitigfeit auflommen läßt, von unberehenbarem Nugen. Und je ftrenger bie
Arbeiten gewertet werden, je mehr man heute von den künſtleriſch thätigen Frauen
verlangt, defto ftolzer dürfen fie auf das Errungene zurüdbliden — fie felbft haben
es ſich erfämpft, daß man beginnt, Anforderungen an fie zu ftellen und fie mit
anderm Maß zu mefjen, als bisher; denn nicht darauf fommt es hier an, daß das
Streben einer einzelnen, ungewöhnlich begabten Frau Anerfennung gewinnt — das
ift nicht? Neues, ſolche Ausnahmen hat es zu allen Zeiten gegeben —; hier handelt
es fi darum, dem Geſamtſchaffen der vielen, die -fih Heute der Kunft widmen,
Achtung zu erzwingen und dur Kritif und Selbftzucht dad Niveau des Könnens
zu heben.
Von diefem Geſichtspunkt aus darf die Ausftelung nur als eine durchaus
erfreuliche bezeichnet werden. Sie zeigt, daß der Fünftferifhe Ernft in beftändigem
Wachen ift, daß die Künftlerinnen es gelernt haben, fich nicht jedem fremden Einfluß
ſchwanlend hinzugeben, fondern jelbftändig die Natur zu betrachten, um ihr in
mübfamen, ernftem Studium das abzugewinnen, was jeder erft aufs neue für ſich
erringen muß. Sie zeigt — und das ift das Gute an ihr — daß die Künftlerinnen
auf dem rechten Wege find, auf dem fie vorwärtsfchreiten müflen, um — etivas
524 Die Ausftelung des Vereins ber Berliner Künftlerinnen.
wirklich Gutes zu fchaffen. Und bier fegt auch die Kritif ein: die Malerinnen bürten
es nicht vergeffen, daß dieſes wirklich Gute, von Ausnahmen natürlich abgeſehen, für
die Geſamtheit noch nicht erreicht ift. Verharren fie bei dieſen Vorarbeiten, dieſen
mehr oder minder gründlichen Studien oder dem Leben abgelaufchten Skizzen, jo
kommen fie in Gefahr, in ftehendes Waffer zu geraten und, beiten Falls, nette Genre:
bilder und verfäufliche Stillleben zu malen. Und fie wollen doch mehr. Hier aber
it, 3. B. in Landichaft und Porträt, man möchte jagen: noch Raum, Raum für
ftarfe Individualitäten, die nicht mit den Augen anderer Leute ſehen, jondern mit
eigenen, und den Beichauer zwingen, die Kraft und Wahrheit ihrer Betrachtungsmeile
anzuerkennen. Sold einen eigenen Blid hat die bier nicht vertretene Vilma Parlagbi
für eine Frau in ungewöhnlichem Grabe.
Unter den Porträtiftinnen, die diefe Ausftellung beichidt baben, find Namen von
gutem Klang, wie Sabine Lepfius, Dora Hig und Betty Wolff, am meiften
hervorzuheben. Sabine Lepfius bat ihr, jchon von der Sezeffion Her befanntes
Kinderbild gefandt, das in Farbe und Auffalfung vornehm und ruhig wirft.
Es jtedt von allen am meiften reife Kunft und ſelbſtſichere Perfönlichkeit darin.
Weniger glüdlih ift Dora Hitz mit einer Mutter und ihrem Kinde vertreten. Das
etwas Verſchwommene, Farblofe des Bildes ift ohne den intimen Zauber, ber ihre
Arbeiten jonft auszeichnet. Betty Wolff ift ſehr fed und ficher in der Zeichnung,
mit wenigen Strichen weiß fie lebendig und anmutig eine Geftalt feitzubalten, und
diefe unbefümmerte Technik ift ein Hauptreiz ihrer leichten Paftellffizzen. Eine tüchtige
und feinfinnige Arbeit bat auch U. Loewenſtein in dem Bildnis einer alten Dame
gegeben, desgleichen C. E. Fifcher in dem Porträt von M. von Keudell, und
Beyme:Golien in dem lebensvollen Bild eined jungen Mädchens. Auch Mens:
bauen und Madeweiß haben Arbeiten gejandt; doch viel neue Leben, neue
Talente für das Porträtfach find unter den andern Arbeiten der Künjtlerinnen des
Vereins nicht bemerkbar. In ähnlicher Weile fehlt e8 an ftarker, perfönlicher Aus-
brudsweile, an friichen Kräften auf dem Gebiet der Landichaft. Altbewährte Namen,
wie M. von Keudell, P. Bonte, Lobedan und M. Kirfchner find auch Bier
wieder mit anmutigen und ſchön empfundenen Stüden vertreten, auch E. Stort hat
ein paar frifche Bilder gefandt. Doch die Mehrzahl der Arbeiten erhebt fich eben
nicht über das Studienhafte, das als notwendige Vorausſetzung reifer Kunſtwerke
wohl zu begrüßen ift, aber nur einen erften Schritt auf einem langen Wege bedeutet.
Sehr reich ift dagegen die Auzftellung mit wirklich trefflichen Stillleben beichidt,
die in Technik und Aufbau zum Teil meifterhaft find. Aus der Fülle der Künitlerinnen,
die fich auf diefem Gebiet bewährt haben, fünnen nur einzelne hervorgehoben erben.
Hedinger, Lobedan, Lehnert, Iverjon, Rofe haben Arbeiten eingefandt, die ſich
den beften ihrer früheren anreihen, beſonders Hedinger ift mit zwei ſehr tieffarbigen
und wirkſamen Innenräumen vertreten, die ihr großes Können auf neue betätigen.
Hier fei auch H. Weiß mit ihrem etwas ſchweren Stillleben erwähnt, das doch durch
feine reife Technif auffällt. Die Stilllebenmalerei ift ein ſchon lange angebautes
Feld, dad der Begabung der Frau recht eigentlich zu entjprechen jcheint. Es gilt
auch Bier in ernfter Vertiefung neue Ausdrudsmeifen finden: 9. Weiß ijt auf dem
Wege dazu. Flott und kräftig find zum Teil auch die Aquarelle, die eingefandt find.
Unter den Gentebildern find die beiden bübjchen Arbeiten von U. Roeſtel zu nennen.
Das große Gemälde von EC. von Rappard bat 1900 in London bie Goldene
Die Ausftellung des Vereins der Berliner Künftlerinnen. 525
Medaille erhalten. Es ftellt ein mufizierendes Mädchen dar, das vor einer alten Frau
figt, die ihr beglüdt lauſcht. Es fehlt dem Bilde an organifhem Zufammenhang und
fräftiger Einheitlichkeit; gute Einzelheiten find vorhanden. Paczka-Wagner ift mit
zwei größeren Phantafiebildern vertreten, die die Heitere Lebensfreude entichwundener
Beiten barzuftellen beftimmt find, doch zwingen fie nicht in den Gebankengang der
Künftlerin. Es ift ſchade, daß fie Feine ihrer Zeichnungen oder Rabierungen ein
geihidt Hat. Käthe Kollwig bat ihre vorzüglichen Rabierungen zu den Webern
geſandt. Sie ift eine ftarke Kraft, die in ihren Leitungen weit über dem Durchſchnitt
ſteht, und es iſt erfreulich, daß fie ihre Kunft durch Unterricht übermittelt. Die
Arbeiten ihrer Schülerinnen laſſen den großen Einfluß ber Lehrerin erfennen und
zeichnen ſich durch befonnene Gediegenheit aus; die Radierung von Wegener ift doch
zu ſtizzenhaft.
Unter den plaftifchen Arbeiten, die nur in geringer Anzahl vorhanden find, zeigt
9. Duitinann am meiften Begabung, Leben und Bewegung feftzuhalten. Die Büften
von D. Beer find ziemlich fonventionel. Wislicenus ift mit zwei getönten Reliefs
vertreten, bie ſich durch Lieblichkeit der Erfindung und Behandlung auszeichnen. Ihre
Arbeiten werden immer gefallen, grabe weil fie ein wenig weich find. Auch hat fie
zweifellos großes Geſchick, doch ift den deutſchen Bildhauerinnen eine ähnliche Kraft
zu wünfden, wie fie in Mrs. Cadwallader Guild, die in diefen Tagen in Berlin
eine Separatausftellung eröffnet hatte, hervortritt.
Ein Teil der Ausftelungsräume ift für die Schilerinnenarbeiten beftimmt, die
nad den verſchiedenen Lehrklaſſen eingeteilt find und geeignet ericheinen, einen Über-
blid über die Lehrkräfte und Methoden zu gewähren. Diele der beften Künftler und
Künftlerinnen Berlins gehören zu dieſen Unterrichtenden, und bie Erfolge, die fie
erzielen, find durchaus anerfennenswert. Die Leiftungen von K. Kollwig wurden
ſchon erwähnt; auch M. Thun in der Blumenmalerei, Hoenerbach im Porträtfach
dürfen auf den Studiengang ihrer Schülerinnen mit Befriedigung bliden. Unter den
lehrenden Malern fein M. Buſch für Zeichnen nah Gips, Uth für Landfchaften
und Figuren und Brandenburg für Akt erwähnt. Legterer führt allerdings feine
Schülerinnen in einen kraſſen Naturalismus ein, der auch für den ernfteften Studien:
gang nicht notwendig fcheint. Viele der Akte wirken fogar brutal und in der Abfichtlich-
keit manieriert, was für Lernende gewiß nicht ohne Gefahr ift. In dem legten Saal
befinden fi die für die Verlofung beftimmten Bilder und funftgewerblichen Gegen:
Hände, unter denen fehr fchöne und tüchtige Arbeiten vorhanden find.
Sp zeigt diefe Ausftelung in recht erfreulicher Weife, wie auf allen Gebieten
die Künftlerinnen fih im ernfler Arbeit um ein immer vertieftered Können, immer
größere Sicherheit bemühen und wie fie es gelernt haben, die Sehnfucht, ſich felbit
zum Ausdrud zu bringen, zurüczubrängen, folange fie nicht ganz ihre Ausdrudgmittel
beherrichen. Das ift ein Fortfchritt, ein großer Fortfchritt, der zeigt, wieviel Ernſt
und Befonnenheit unter ihnen lebt. Unter den Bildern findet fi mehrmals bie
ſymboliſche Darftellung einer Frauengeftalt, die mit fehnend erhobenen Armen der
Sonne entgegenfteigt. Daß die Frau das in Wahrheit thut, braucht nicht mehr
befonders verkündet zu werden. Sie fol nur ftill und unverdroffen weiter Mimmen,
bis fie im Sonnenfchein fteht, — ben ihr dann feiner mehr nehmen kann.
A
— Her Sinzige. —
Roman
Nachdruck verboten. en
De April bat den Mai eingeholt”
jagen die Leute in dem kleinen Harz:
fleden Blumerode und arbeiten tüchtig in
den Gärten und Feldern. Man ift an ein
ſolch vorzeitiges Knoſpenbrechen und Grünen
und Sprießen gar nicht gewöhnt, ſonſt geht's
fein langfam, diesmal mit Gewalt. Und der
Erdgeruch ift kräftig, und bie Vögel zwitſchern,
die Quellen riefeln, die Sonne meint’3 gut,
und ber Himmel bat, wenn nicht juft ein
Schauer befruchtenden Regens berabraufcht,
ein graublaue® Ausſehen und flatternde,
weiße Wölkchen. Die Sonnenftrahlen laufen
überall bin, zeigen erbarmungslos erblindete
Fenſter, herabgefallenen Bus der Wände, ver:
nadhläffigte Wege. Man muß fchleunigft
daran gehn, die Spuren der Winterfälte und
Näffe zu befeitigen, will man nicht in den
Nuf läffiger Leute kommen. Die ziegelroten
Dächer auf den niedern Häufern fehn freundlich
aus, die Berghüöhen, die gepubert im Winter
erfcheinen, nehmen braunfhwarze Färbung an,
bald wird fie fich in einen grünzarten Echein
verwandeln. Der Schieferbevedte Kirchturm
bat ein blendendes Bliten, und die dradjen-
artige Windfahne auf dem hochgelegenen,
altersgrauen Schloß jchimmert in Silber⸗
glanz.
„Werd Frühjahr met Macht,“ fliegt es im
platten Dialelt von Mund zu Mund über die
Heden bin, hinter denen man mit Spaten und
Haden arbeitet, und überall find frifche, früh:
liche Kinderftimmen laut.
. Der belle, ſchnelle Mühlgraben, der aus
dem Gebirgsfluß gefpeift wird und in Win-
dungen durch Blumerode läuft, hier eine
Mühle, da eine Tuchfabrif treibend, ſcheint es
von
&. Vely.
nr
—
noch eiliger als ſonſt zu haben. Er iſt voll
bis zum gemauerten Schutzdämmchen, das ihn
von der Straße abſchließt. Vor dem Hauſe
des Holzherrn Wagner, wo eine uralte,
prächtige Linde ſteht, macht er eine kühne
Biegung, er hat vorher viel Fall gehabt.
Mit raſchem Schritt kommt eine zierliche,
blonde Frau über die Schwelle des freunt:
lichen Baues; fie trägt eine Harfe und ftellt
fie an den Stamm bes Baumes, um den im
Nund eine Bank läuft. Da, wo die meilte
Sonne hinſcheint, fitt ein junger, blafier
Menſch von Deden umbüllt, die Füße auf
einem Schemel in einem Pelzſack geborgen.
„Ach, Mutter”, fagt er lächelnd, „ſchon?“
Sie nidt eifrig. „Sa, mein Junge, das
wird bei dem Wetter nich’ zu lange dauem,
baß eins heruntergeſchwommen fommt, Kopf
über, Kopf unter. Eie fehrein und grölen ju
Ihon die Welt wieder voll!”
„Sie find luſtig!“
„Eben darum! Da liegt denn dag NRader:
tüg bald au drin — und ivenn hier nid'
gleih aufgepaßt wird, denn kann's jchon
Matthäi am lebten fein! Eh ſo'n Weib ficht,
daß feine Brut fortgeſchwommen is, is
meiſtens zu ſpät.“
„Hätteſt zählen ſollen, wie viel hier bei
Wagners Linde ſchon rausgeharkt ſind,
Mutter!“
„Hätt' ich viel zu duhn gehabt, mein
Junge. Da reichen ein Hundert in all
den Jahren nich! Aber, was mich immer
noch wundert, daß dazumal keiner dageweſen
is, als die lüttje Ida, der Danehlſchen ihr
Blondkopp ſo elendiglich ertrunken is. Das
war'n nüdlich Balg und konnte ſo artig:
Der Einzige.
Tag, Wagners Tante‘ jagen. Ya,
war nu ſcheußlich.“
Das Wagner'ſche Haus, dem beide den
Rücken drehn, hat belle Fenſterſcheiben; die
Sonne ſpiegelt ſich darin. Sie leuchtet auch
auf der lichtgrünen Verputzung der Wände
und der tiefer grüngetönten, hölzernen Ver—
ſchalung. Aus einem Erdgeſchoß mit acht
Fenſtern Front, einem Oberftod und einem
Halbftod befteht das Haus, auf dem Bäder:
gerechtfame ruht. Aber der Eigentümer,
Konrad Wagner, hat fih mit dem Gewerbe
lang ſchon zur Ruh gefegt und hat nur das
Ehrenamt eines Holzherrn in der Gemeinde
inne. Es befteht darin, daß er bie Über
wachung von fürftlihen Schenkungen von
Wäldern an die Gemeinde Blumerode hat —
und die Verteilung des Holzertrages gegen
Schlaggeld an die Gemeindemitglieder. Ganze
und halbe Holzftellen ruhen auf einzelnen
Häufem. Das Schloß mar Witwenſitz
welfiſcher Fürftinnen, die verſchiedentlich ſolche
Stiftungen gemacht zum Kummer des
Fiskus, dem viel Weitläufigleiten daraus er-
wachſen und ber ſchon lange an der Ab:
löſung arbeitet.
Ylütentveiße Vorhänge an den Echeiben
veden davon, daß es aud im Innern des
Haufes bligt und blinkt. in geräumiger
Hof und ein großer Garten mit vielen Obſt⸗
bäumen und Gemüfeland gehört zu dem
Wagnerſchen Anweſen, ein ftolges im Ort.
Mit al der Eorge für den Befig, der Land⸗
wirtſchaft, Gartenbeftellung und Viehzucht hat
Frau Antoinette Wagner troß zweier Dienft-
boten und vieler Tagelöhner nod genug zu
thun, denn ihr Mann fümmert fi nicht gern
darum. Gie hat ein freundliches Gefiht, das
trog ihrer fünfzig Jahre eine Runzeln
aufweiſt, Sanftmut und eine ftille Trauer
bliden aus ihren großen Augen. Eie trägt
ein einfaches Wollkleid, ein Meines, ſchwarzes
Spihtzentuch ift über ihre Haare gebunden, die
das
fi) Hinten zu einem Flechtenknoten türmen, :
der noch reichlich ſchwer iſt. Ihr Kopf ift
leicht nach vorn geneigt und ihre Schultern
find aud ein wenig gebüdt; aber wenn fie
Energie überfommt, richtet fie fich gerade auf, .
und dann ſieht's aus, als würfe fie eine
Laſt ab.
627
Sie hat das Rettungsmittel, das fih fo
jedem Vorübergehenden auch glei zur Be:
nügung bietet, nod immer mit der Rechten
geftügt, nun fegt fie fi einen Augenblid
neben den Sohn.
„Haſt's auch gut fo, mein Frige?“
„Ja, Mutter.”
Sie ftreichelt ihm leife bie weiße, blau:
abrige Hand mit den langen Fingern.
„Glaub's ſchon, hat mir immer weh ge
dahn, daß du fo infigen mußteft, ben langen
Winter.” \
Es ift ein Zug in dem ſchmalen Geficht
des hübfchen, blonden Menfchen, deſſen blaue
Augen ganz die der Mutter find, der zeigt,
daß ibm das Bebauertiverden peinvoll iſt.
Sie verfteht das fofort. J
„Na, haſt ja auch Abwechſelung gehabt
mit Leſen, und Leute ſind gelommen. Un'
die nübliche Mile hat dann mit dir gefpielt,
und ihr habt mandmal wie doll gelacht. Und
guten Toppfaufen habe ich auch gebaden, und
ihr hat er geſchmedt, das fonnte man ja
wohl merken.”
Der leichte, rote Echein auf feinen Baden
vertieft fi ein menig.
„Dag, Fru Holzherrn!“
nDag, Diehlihe!“
Eine Frau, die Hade über der Schulter,
die Röde kurz gefchürzt, ein braunrotes Woll⸗
tu, unter dem ein paar Eträhnen ſchwarzen
Haares herborquellen, über dem Kopf hinten
jufammengebunden, ift mit ſchwer fchlürfen-
den Tritten herangefommen und fteht vor ben
beiden ftill.
„Here Fritzelen auch mal wieder draußen?
Das is aber recht. Geht es denn nu alles
teile befier? Ja, fo'n Einziger, kann mich
ja denken, das macht Sorgen, wenn da nid)
alles in Ordnung is mit das Gefundfein.
Was unfereiner iS, wo neune rumheulen,
da fümmert man ſich nid ville um. Das
wächſt auf, un’ is gefund. Man bloß, daß
fie immer hungrig find. Es is ungleich auf
de Welt verteilt, Fru Holzherrn, Sie mit das
ı Shöne Wefen Eönnten mehr brauden, un’
haben bloß fo'n Einzigen, un’ is 'n Eorgen=
find.” Und das grobfnodige Weib grinft
dabei. Die Mutter fieht ihren Cohn an; er
ı hat wieder den gepeinigten Ausdruck.
528 Der Einzige.
„Diehliche, da fteht noch ettvas von Mittag,
wenn Sie fih das wärmen will?”
„Ab, Fru Holzberrn, wie woll ih nid —
wenn Sie fo gautmütig find! Ne, Sie beide!
Der Herr Holzherr au! Geſtern is er mid
noch begegnet un hat gejagt: Diehliche, Sie
weiß ja, meine Frau giebt gerne. Hol’ Sie
fih man ab und an 'nen Stüd für Ihre
Bälger!”
Über das Geficht der blonden Frau huſcht
ein Schatten, fie wendet fih ab und geht
dem Haufe zu, und die andere latſcht mit ben
großen Männeritiefeln Hinter ihr ber.
Drüben am Nachbarhaufe fteht der ver:
trunfene Gigarrenarbeiter Kracke neben ber
Schulzeſchen, die eine Witwe ift, aber nicht im
Tagelohn arbeitet, ſondern einen Kleinen Fiſch⸗
handel hat und, wenn's vorkommt, auch mit
Wild umhergeht.
„Nu, ſieh, die Diehlſche, holt ſich all
wieder was!“
„Was ſoll ſie nich?“ grinſt Kracke.
„Un' die Frau is ſo gut.“
„Der Holzherr is das ja früher auch gegen
die Diehlſche geweſen, wie ſie noch jünger
war.“ |
Die Schulzefhe hat ein hübiches, aber
freches Geficht und eine volle, ftattliche Figur.
Eie trägt ein Wollkleid und ein leuchtend
rotes Tuch darüber kreuzweis gebunden. Sie
ftreicht mit der Hand über die blaumweiß ge-
ftreifte Schürze.
„Ach, was die Leute jagen!”
Krade fchiebt feine Heine ‘Pfeife, auf der
das Bild eines Frauenzimmerd mit einer
Marketendermütze ift, in den linfen Mund:
winkel. Er hat eine Joppe an, die man früher
in befferem Zuftande an dem Heinen Major,
dem Bürgermeifter von Müller, gejehen bat,
und ein feuerrotes, ſchmutziges Halstuh, das
ihm ein durchreiſender Künftler gelafien hat,
dem er feinen Koffer nah dem Bahnhof
trug.
„Hihihi! ja, die fagen ja nu ville;
Schultzeſche, die ſagen au von Sie —“
„Watt denn, watt denn?“ fragt die Frau
und ſtemmt beide Arme in die Seite. „Watt
ſoll'n das heißen?“ |
„Ih, gar nie nich! ch meine man jo.
Un’ der Knaſter, den Sie mich da mitgebradt
—
"haben von Münzbaufen, der ſchmeckt nad
mehr, meine ich man.“
Sie ladt. „Sch geb’ ja öfter bin —
und Rrade, wenn die Leute was fagen, was
gebt’3 mir an. Sch habe mein Ausfommen.
Un’ feine neune, wie die Diehlſche — wer
ich fo was auflieft! Un’ feinen kranken
Sungen!" Dabei fliegt ein Blick nach ber
Zinde hinüber. . „Mit der Fru Holzherrn
taufch ih noch lange nih! Ne!“
Krade reibt fi die Hände. „Die bat ihr
Päckchen! die hat's — o Semine. Die hars
ordentlih. Un’ wenn fie auch nie nicht ge:
zanft un’ gekrankt hat, die weiß, was Er für
einer geweſen id. Bücherd un’ Spazierengeb’n'
Un’ die Semmeln Tonnte die Frau baden, un’
das Brot der Gefele. Büchers! gar in 'nc
Sorte Sprachen, die Fein omtlider Menſch
verſteht, ſagte Martina Anton, der ’mal ’rein-
gegudt hat. Un’ Epazierengeb’n in „Wald
und auf der Haide, da fuch ich meine Freude“
hahaha! Un’ Begleitung: Das rote feiden:
Taſchendauk aus der Nodtafche, denn mußte
die Diehlſche Beſcheid und ging nad Beeren,
oder die Pottbergen da brüben aufm Brint;
na, mid fehlen die Namens ale! So'n
Echwerenöter. Aber immer angeſeh'n! Der
Herr Sanitätörat un’ der Amtmann, die figen
ja ftundenlang mit'm auf der Bank da. Son
Schwerenöter! Schulzefche, un’ die Leute fagen,
die Stab’ ließ ’3 Maufen immer noch nid” —
ja, das fagen je!" Und er Tneift das eine
Auge zu und blinzelt fie mit dem andern
liftig an.
‚Watt geht mir's an — vor mir —“ fie
macht eine fchlenfernde Handbewegung.
„Ih ja, ih ja!“
„Woll'n Se en Wachholder? Warten Se
mal!“
Sie fchnellt hinein und fommt mit Glas
und Flaſche aus dem kleinen Haufe zurüd,
zwiſchen deſſen Fenſtern ein Scdilb jtebt:
„Witwe Schulte, Obſt- und Fiſchhand-
lung.”
Krade ſchmatzt laut: „Das kann 'n Men:
chen wieder auf die Beine bringen!”
Die Frau nidt, aber fie fcheint ganz we
anders mit ihren Gebanfen.
„Aufn Holzberrn find Se nih gut iu
iprechen, Krade! Warum eigentlidh nich?“
ur 2e/ E
Der Einzige.
Er dreht das Glas um, zum Zeichen, daß
fein Tropfen feines Inhalts drin geblichen ift.
„Warum? Darum! Schultzeſche, das is 'ne
alte Sache. Mal konnte ich in 'ner Fabrik
in Münzhaufen 'ne befiere Stelle friegen, bloß
aufn gutes Wort vom Holzherrn wär's an:
gelommen. Meinen Sie, daß er's gefagt hat?
Könnt er nid — die Wahrheit, immer bie
Wahrheit. Un’ Appels Louife ihrer Mutter
bat er aud abgeraten, daß fie mir das
Mädchen gab. Ne, Lieber nady Hannover in
Dienft. Un's Mädchen war mir gut.”
„Na, Krade! Das wär auch 'n Stüd
geweſen.“ J
„War doch 'n hübſcher Kerl — dazumal.“
Aber —“ fie macht die Bewegung des
Schludens.
Wer weiß denn, ob ich mir nich’ geändert
hätte?”
„Ne — ne!”
„38 auch nu einerlei, Schultzeſche. Brannte⸗
mein is befier wie MWeiböleute!”
Die Witwe lacht. „Schade, Krade, ſchade!“
„Was denn —“
„Ich meine man, daß Sie kein ordentlicher
Menſch geworden ſind —“
„Sagt der Bürgermeiſter auch Immer, was
überhaupt ein gemeiner Mann is, ber es gut
mit die armen Leute im Sinne hat. Krade,
Krade, der Branntewein — Herr Bürger
meifter, fag ich denn, ich hab's von Vatern,
dem fein Lieblingslied war auch ſchon:
Schnaps, Schnaps, Schnaps, du edeles Ge-
teänfe.”
nDag, Rrade, ih muß rein —“
„Na, denn Dag auch —”, fie wendet ſich
Turz und gebt, und er fteht noch ein Augen«
blidchen und gudt nah dem Wagnerſchen
Haufe Hinüber, dann fehnalzt er mit der Zunge
und ſchlägt den Weg in eine Nebengafje ein.
Fritz Wagner bat fih damit befchäftigt,
einer Bachftelze zugufehen, die über bie Steine,
dicht am Waſſer hergehüpft it. Wie das
Köpfchen ſich dreht, das Echwänzlein wippt,
die Beinchen ſich fegen, wie zierlich!
So ein Bachſtelzlein! — er lächelt, ein
Aufblitzen iſt in ſeinen Augen. Ja, und wie
er den Kopf hebt, da kommt ſie drüben vom
Pfaffengang herüber, faſt auch von Stein zu
Stein hüpfend, denn da haben die Leute Wafch-
529
fäfler über den Weg bin ausgeleert. Ihr
Kleid Hält fic hoch unb lacht und biegt
den Kopf nad der Mutter hinüber, die ihr
nicht folgen kann und ein wenig hilflos ift in
ihrer behaglichen Fülle. Sie, an die er gedacht
bat, fein Bachſtelzlein, die Mile.
„Mutter, hier! da! fo, fo geht's doch!“
ruft fie zurüd, und dann fieht fie ihn und
trippelt noch fchneller heran.
„Big! Draußen bift du!
bei dem ſchönen Wetter!”
Er fteht auf, ganz rot übers Geficht, die
Deden fallen, und er verwidelt ſich faft in
dem Fußſad.
„IH! ja freilih! Tag Mile! Guten Tag,
Frau Steuerinfpektorin,“ und er macht eine
ganz ehrfurchtsvolle Verbeugung. Mile büdt
fih nad) den Deden.
„Laß doch, laß doch,“ murmelt er, „ich
brauchte das doch gar nicht, aber die Mutter,
du weißt ja! Sie ift immer fo ängſtlich!“
Mile lat. Sie ift braunhaarig, hat ein
fraufes, natürliches Gelock und große, graue,
fragende, lachende Augen, ein keckes Näschen
und einen füßen, roten, ewig plaudernden
Mund.
Sie trägt ein blaues Wollklleid und einen
bräunlichen, nicht ganz gut figenden Paletot
darüber. Fri hat einen Blid dafür, er fieht
auch ftet3 die Mobeblätter mit an, die zu ber
Journalmappe gehören.
Der Hut mit Federn und einer feuerroten
Schleife figt fed auf dem braunen Kopfe.
Und das weiß Frig aud, wenn Milchen Zehſe
etwas abgetragen ober nur ganz einfach an=
gezogen ift, nad ihr muß man doch fehen.
Ihr fteht alles noch hundertmal befjer, ald den
reihen Mäbchen ber teure Putz.
„Mütter haben immer recht, Fritz, wenn
fie uns auch quälen. Was, Mamachen?“
Die Ungerebete ift endlich fo weit gelangt,
Frig unter haftigem Atmen die Hand-zu geben.
„Das ift ja hübſch, Herr Wagner, daß
Cie heraus können! Was fagft du, Mile,
Mütter? Ach, fie ift ein Unband, ein rechtes
Kind noch und doch ſchon fiebzehn Jahre. Ich
mar fo viel gefeßter damals, fo fehr viel —
nein, bie Leute! Die reine Sintflut bier
auf ber Straße. Ich muß es mal dem Herrn
Bürgermeifter fagen, wenn ich ihm begegne.
34
Das ift recht,
530
Da ift ja gar Feine Ordnung und Aufficht.
Ich ſagte gleich zu Mile, wir wollten auf dem
Damm drüben fpazieren gehn, aber bie muß
am Mübhlgraben entlang!”
„Das ift doch auch ſchön! köſtlich — der
bat’3 immer eilig, immer was zu beftellen.
Weißt du, Fritz Lals ob er in die weite Welt,
direft ing Meer wollte —“
Fritz lacht. „Bis er dahin fommt! Er
fließt ja erft in ein paar andre Flüſſe und gar
in die gelbe Leine!”
„Ab ja, mein armer, fchöner, heller
Graben! Fri, frag’ man nicht, wie die Heinen
Flüſſe beißen, ich weiß es ja doch nicht, und
wenn du's fagft, eraminiert mid) die Mutter.
Und für die dumme Geographie hab’ ich nichts
über — ih mil doch auch nicht Lehrerin
werden, twie fie war. Sch denfe, viel lieber —
ad nein, ich ſag's nicht. Du, haft du fchon
den neuen, bübjchen Forftlandibaten gefehn?
Steht dem die Uniform gut! Beckmann heißt
er, fagt unfere Aufwärterin.”
„Kein, Mile! Er will aber meinen Bater
befucdhen, fo viel ich weiß!“
„Deinen Vater, natürlich — den Häufften
Mann —“
„Mile!“ ruft die Steuerinfpeftorin ver:
weiſend.
„So nennen doch die Leute den alten
Wagner.“
„Den Herrn Holzherrn —“
„Ne, denn ſage ich ſchon Onkel Holzherr!“
Fritz nickt ihr zu. Sie ſpringt nach dem
Rande des Grabens.
„Die vielen Stecklinge — komm doch bloß!
Die balgen ſich förmlich! Ach nein, bleib
man da. Denn wenn deine Mutter das ſieht,
daß du dich da herausgewickelt haſt! O je,
da iſt ſie ja ſchon!“
Von der Diehl gefolgt tritt Frau Wagner
aus dem Hauſe.
„Dank ock, Dank ock, Fru Holzherrn!“
ſagt das Weib unterwürfig.
„Schon recht!“ wehrt ſie ab und kommt
mit ſchnellen Schritten unter die Linde.
„Da hat's der Fritz ja gut. Setzen Sie
ſich doch, Frau Steuerinſpektorin. Mile, du
ſiehſt mal wieder luſtig aus! Recht, mein
Kind! Geh doch rein — friſcher Zwiebel—
kuchen, hol doch, die Hanne weiß ſchon, für
Der Einzige.
dich und die Frau Mama. Nein, Das duürien
Sie mir nicht abichlagen, Frau Inſpektorin!“
Eie fpridt mit Haltung und ein wenig
gezierter als fonft; fie weiß, mas ben Hono:
ratioren des Orts zulommt, denn die Wagners
fünnen ſich trog Befit und fonftigen Anfehnd
nicht dazu zählen.
Dagegen bat die Steuerinfpeltorin, eine
Witwe in Inappen PBerhältnifien, im ibrer
ſchäbigen Eleganz etwas Patroniſierendes.
„Liebe Frau Wagner, immer friſch, immer
thätig und rührig, Sie fieht man nid
anders!”
„Da, wie joll man denn fonft die Stunden
binbringen, Frau Inſpektorin? Ich bin nidt
ſo aufgezogen, zwiſchen Büchern und gelehrten
Dingen. Wir mußten ran an 'n Haushalt
und die Zandwirtichaft; vier Scheitern war'n
wir; daß ihr mal vor eurem zulünftigen
Manne beftehen könnt, fagten Pater und
Mutter immer.”
Mile ift wieder zurüd und hält einen Teller
in der Rechten und führt mit der Linken
bereit3 ein Stück Kuden zum Munde. Sie
bolt Atem nad) dem erften Träftigen Biſſen.
„Komiſch, fürn Mann, den man nidt
fennt, aufgezogen und ausgeftattet zu werben,”
ſagt fie.
„Smilie!” vermweift ihre Mutter.
„Komiſch — doch, doch!” beharrt das
junge Ding. „So, wie 'ne Ware. Hab ich
nicht recht, Fritz?“
„Gewiſſermaßen!“ beſtätigt der. „Dem
Mädchen bleibt aber immer die Wahl —“
„Ach, Unſinn! Tante Wagner, ſag mal,
haben dir deine Eltern, wolln mal ſagen, dein
Vater, viel Wahl gelaſſen?“ Sie beugt den
Oberkörper zurück, die Hände in die Seiten
ſtemmend.
„Emilie!“
„Na, man muß ſich doch bilden, Tante —“
Die blauen Augen der Matrone nehmen
einen ſonderbaren Ausdruck an. „Viel Wahl,
Kind? Ja, was ſoll ich da antworten? An
einem Sonntagmorgen kam Konrad Wagner
nach der Aumühle zu meinem Vater. Ich war
eben im Sonntagskleid, zwei Schweſtern in
der Kirche, die andern in der Küche. Soweit
war ich mit allem fertig, daß ich eben noch
Sand auf die Diele ſtreute. Dazumal kannte
— — —
Der Einzige.
581
man’3 nid) beſſer und war's fein — heute ſoll's Hand über die andere — „ja — fo war's,
nich mehr fein. Ich bleib aber bei meiner
alten Gewohnheit und bei den weißgefcheuerten
Dielen aud.”
„Aber fo laß doch!” ruft Mile, „erzähl’
doch weiter — fo was hör ich gar zu gern,
Tante!”
Ein feltfamer Schein liegt über dem Ge-
fiht von Fritzens Mutter. „So'n bißchen
kannt' ich ja wohl Wagners Konrad, den. fie
‚den Oberflaufen‘ dazumals nannten, aber er
batte fo mas — 'n Bittſchen Angft hatt ich
vorm. ‚Morgen, Jungjerchen‘, fagt er, ‚melde
i8 es benn eigentlich von dem Aleeblatt?‘ ‚Sch
bin doch Nettchen‘, und ich ärgerte mich, weil
daß ih ja fühlte, daß ich rot wurde. Un
denn ging er rein und id war mit'm Sand
fertig und lief raus in Garten, wo id bie
Kirhengloden hören konnte. Das hatt’ ich
gerne. Dann machte mein Vater plöglih das
Fenſter auf und rief: ‚Antonette" Wenn er
Antonette fagte, dann hatte er was Befonberes,
dann war er hochdeutſch. Denn vors allge
meine wurde Platt in der Aumühle gefprochen.
Un richtig war's fo. ‚Der junge Mann,
Konrad Wagner, will dich zur Frau — un
ich fag’ Ja und Amen‘ fagte Vater.
Un diesmal wurde ich noch heißer, fudte !
Konrad an, konnt's aber nich ordentlich, und
dann faßte er mi an der Hand.
Wolln's mit einander verfuhen, was,
Jungfer Netthen?‘ Ob ich überhaupt etwas
geantwortet habe, weiß ich heute noch nicht.
Co mas, das feinen Widerſpruch leidet, hat
Frigen fein Vater damals ſchon gehabt.
am Abend, als ich'n auf 'n Weg brachte, fagte
er: ‚Das mußt ic ja beftimmt, daß heute
eine Aumüllerfhe mid an’ Schlagbaum
Un;
'
bringen müßte — ganz gewiß. Cine von .
den vieren.‘
‚Un tie famft du auf mid? fragte ic.
‚Weil du mir in den Weg liefft und fo rot ;
wurdeſt.“
‚Wenn nun eine von den andern — da
geweſen wäre?‘
‚So ginge bie vielleicht mit mir; wer fann’3
wiſſen? Aber, mir bift du recht gelommen,
die Reputierlichfte, das bift du doch von allen.
Das habe ich nun hinterher gefehen!“”
Sie fenkt die Blide und ftreicht mit der einen
Mile. Nich wie in Büchern mit Liebes»
geihichten, wo fie viele Worte machen. Das
war bazumal unter unfereinen nid Mode.“
„Sie haben ja nun auch Glüd mit einander
gehabt — viel vorwärts gebracht”, fällt die
Inſpeltorin ein, die inzwiſchen ſich den Kuchen
bat ſchmeden laſſen. Mile hat das Eſſen ver-
geflen; fie hörte mit vorgeſtredtem Stöpfchen
zu und fagt jetzt: „Viel freie Wahl war das
freilich nicht, Wagner? Tante. Aber, dazumal
waren es auch andre Zeiten. Was, Frig, wir
— wir machen es ſchon nicht mehr fo. Wir
wollen gründlich gefragt fein, oder beſſer noch,
wir wählen ganz alleine.”
„Ja, das — ja, dad!” erwidert er ver⸗
legen.
Mile achtet nicht darauf, fie beißt jegt mit
verboppeltem Appetit in ben Biviebelluchen.
„Prachtvoll, Mama, der ſchmedt anders, ala—"
Ein Blid der Mutter unterbricht fie. „Frau
Holzherr kann in gefülte Vorratsſchubladen
{ faffen, bei ſolchem Anweſen. Eine Witwe —
als mein feliger Mann noch lebte, — er war
; fo gut und ich mar glüdli mit ihm, auch
ohne fogenannten Reichtum”, fpricht die Witwe
mit Würde. „Ich bin und war ihm fo dankbar!”
Und das ift wahr, fie hat es ihm jeden Tag
gedankt, daß er fie aus unerquidlicher Gouver⸗
nantenabhängigfeit befreite. eine Launen
und Grillen hat fie gebuldig ertragen. Nun
ift ihre Hauptforge ihr Kind. Was foll ein-
mal mit dem gefchehen? Lernen that Mile
ungleich; ihr Kopf ift hell, ihre Finger find
geſchidt, und eine unbändige Lebensluſt figt
in ihr. Cie arbeiten für ein Tapifferiegefchäft
in Hannover. Ein fehmaler Verdienft — aber
doch eine Meine Zubuße. Und den Damen des
Ortes fagt Frau Ditilie Zehfe: „Was fol’n ein
paar Frauen mit ihrer vielen Zeit anfangen?
Man Tann fi doch nicht mehr nützlich machen,
wie zu Lebzeiten meines lieben, feligen
Mannes!"
„Sie müſſen noch ein paar Stüd Butter-
fuchen mitnehmen“, behauptet Frau Wagner,
„morgen früh zum Kaffee | hmedt er noch gut“,
‚ und biesmal läuft fie gleich felber, auf den
ſchwachen Widerſpruch nicht achten.
„Ihre Mutter ift fo gutherzig und aufs
merfjam”, fagt die Witwe.
u*
—- -—r
582 Der Einzige.
„Sa, ja”, meint Frist, der Mile anficht,
die mit einer Gerte, die auf der Bank lag,
drei vorüberfchnatternde Gänfe antreibt.
Frau Wagner bringt ein Packet beraus
und legt es in Miles Hände. „Nein,
wenn Eie’3 denn ſchon wollen, Tiebe Frau
Holzherr, dann trag ich's befjer felber. Sie
läßt es plößlich fallen, wenn ihr irgend etwas
in den Weg läuft. Der Wildfang!“
„Ad, fie ift ja doch noch fo jung!”
„Komm bald wieder, Mile!” fagt der
franfe, junge Menſch bittend, und feine großen
Augen glänzen.
„Natürlich!“
Ein Weilchen blicken Mutter und Sohn
den Gehenden nach. Mile muß ſelbſtverſtänd⸗
lich oben auf dem Damm hinhupfen und den
Fiſchen in dem klaren Bache zuſehn. Man
hört ſie lachen. Die rundliche Geſtalt der
Inſpektorin bewegt ſich behutſam unten.
„Ja, ja!“ ſagt Frau Wagner.
„Was, Mutter?“
„Denk ſo vor mich hin! Ein artig
Kind! Bißchen luſtig, giebt ſich aber mit'n
Jahren!“
„Iſt das nicht ſchön, ſo fröhlich ſein
können?“ fragt Fritz. „Mich freut's immer,
ſieh, wenn ſie ſo da is —“
Die Frau ſteht auf und ſtreicht ihm zwei⸗
mal über den blonden Kopf und ſtreift den
Himmel mit dem Blick, juſt über dem Haus:
dach drüben, wo die zerflatternden Wolfen die
Bläue freilaffen.
„Ja, min Junge, min Sunge, haft recht,
baft ganz recht —“
„Fiſchlein im Haren Bach!” zmwitfchert Mile
Zehfe vor ſich hin.
„Kind, fing’ doch nicht auf der Straße!“
„Ad jo — na, wenn's nit fein foll —
Oh je!“ und fie büdt fih. „Das ift ein
Prachtkerl — du komm mal bierber! Wie
heißt du denn? Diana? Blig? Schnell? —
niht? — willſt au nicht?“
Der braune Hühnerhund mit dem weißen
Stirnfled fteht und fieht fie an.
„Mamchen, wem mag der Hund gehören?
Bielleicht dem neuen Forſtkandidaten?“
„Iſt doch völlig gleichgiltig !”
„Mir nicht! Sch kenne alle Hunde in
Blumerode.”
„Fritz Wagner fieht wohler aus!” fagt vie
Inſpektorin.
„Findeſt du? Der arme Kerl! Und wie
konnte der früher laufen!“
„Das braucht man nicht fürs Leben!“
„Aber — doch ſeine Geſundheit!“
„Mit zarter Geſundheit kann man auch
alt werden. Mit liebevoller Pflege — Pater
war auch viel leidend.”
„Ich glaube — ich bleib dabei: Nur
Iuftige Kameraden braudt man bazu. Schade
um den Fritz!“
„Du läßt ihn das doch nicht fühlen?“
„Wie werd’ ich denn! Das märe ja
roh. Uber, ich meine, er fühlt es zuweilen!
Er gudt mir oft fo traurig nad.”
„Laß ihn das nie fühlen! Die Wagners
find prächtige Leute! Mir lieber ald die ganze
erite Geſellſchaft.“
„Das ftimmt!”
„Und der Befis! So viel hat er zum
Bermögen der Frau erworben, auch glüdlich
Ipefuliert. Der fünnte Blumerode auflaufen.”
„So! na —“ Mile fieht einer auf:
flatternden Taube nad), „denn kann er ja
mal Fürft von Blumerode werden und Fritz
fein Thronfolger!”
„Immer Allotria! Fri — wird eine
Bartie fein. Den nimmt jede aus dem
Honoratiorenftand in Blumerode und fonft mo
ber, kann ich dir fagen. Darauf gebe ich jede
Mette ein. Unter den Honoratioren find ja
auch feine Bartieen — nidht eine! Die beiden
Meferendare gehen jicher unverlobt weg, und
der junge Arzt und der Apotbefer follen im
Stillen fchon gebunden fein, wer bleibt denn
noch?”
„Kann mir doch wirklich ganz egal fein.“
Frau Zehſe ſeufzt. „Mädchen!“
„Ich hab noch Zeit.“ Sie bleibt plötzlich
ftehn. „Übrigens, der Fritz nimmt feine von
allen, die du im Sinne haft. Da fchneiden
fie fich, die Mädchen!”
„Woher weißt du das?”
„Weil er fie nicht ausftehen kann!“
Wie ein Seufzer der Erleichterung kommt
e8 von den Lippen ber Frau „Hm! eine
Partie, eine rechte Partie, das ift er. Und
fein Vater kann's mit allen aufnehmen an
ı Bildung und feine Mutter, eine Seele” —.
Der Einzige.
„Aber wiflen mir doch Althen. Du
findeft ja heute fein Ende. Sieh, da kommt
der Heine, dicke Männe, Männchen von Paſtors.
Hier, hier, lauf mal her, Männe!“ Sie kniet
nieder und breitet die Arme aus. Und das
Kind läuft jauchzend hinein.
Sonntagsglocken! Sie haben einen etwas
blechernen Ton, aber Fritz Wagner liebt ſie
doch. Er hat ſich in Göttingen, wo er auf
der Schule war, bei dem vollen Geläut immer
nach den dünnern Klängen der Heimatsglocken
gefehnt. Damit fam ihm allemal das liche
Gefiht der Mutter, ihr fanftes Reben, ihre
forgende Hand in den Einn, und er roh
fürmlid den Blumenduft aus dem Garten.
An Heimweh hat er immer gekrankt. Nicht
nad dem Vater, das kann er fidh nicht vor=
lügen. Der ift ihm fo fremd geivefen mit
feiner aufrechten Haltung, dem Ausbrud
robufter Gefunbheit, dem leichten Spott, ber
ihm fo oft wehe that. Auch jegt, wo fie feit
feiner ſchweren Krankheit nun lange zufammen
gelebt haben, find fie einander fremb geblieben.
So verſchieden — ja, das iſt's. Nicht böfer
Wille von ihmen beiden. Wie follte ber
zwiſchen Vater und Kind fein. Nur ver
ſchieden. Frig figt wieder im Sonnenfhein
auf der Bank; ehe die Mutter, feierlih in
ihrem ſchwarzſeidenen Kleide, in die Kirche
ging, hat fie ihn ſorglich verpadt. Ein Stoß
illuftrierter Samilienzeitungen liegt neben ihm,
fie hat fie auch herausgefchleppt.
„Mußt mid nicht fo verwöhnen!“
„Sat man, Jung! Was fann id denn
fonft viel für dich thun? Biſt doch ſchon fo
viel Hüger als ich.”
In ihrem Geſangbuch ftedt ein winziger
Strauß von Schneeglödchen, die er ihr gepflüdt
hat. Wie fie an ihn denfen wird in ber
Kirche, wie fie ihr volles Herz bittend aus—
ſchutten wird vor dem lieben Herrgott — das
weiß er ja.
Mile figt ihr natürlich gegenüber auf ber
jenfeitigen Empore.
Wenn die den Kirchenſtuhl aufſchließt und
bereinhufcht, das iſt — na ja, er meint, ber
Schlüffel kreiſcht ſchon anders in ihren Heinen,
538
tändelnden Fingern. Mit geneigtem Köpfchen
betet fie, aber dann wuppt das fchnell in die
Höhe und fie muftert die Gemeinde oben und
unten und weiß hinterher ganz genau, mas
für Kleider die Damen anhatten und ob ber
alte Kantor vorfang oder der neue Rektor, und
wenn fie aud nad dem Gefange den alten
Herrn Superintendenten fehr ftandhaft auf
der Kanzel anfieht, ob nicht die Gebanten
binter der weißen Etirn abivippen vom Thema?
— ja, die Heine Bachſtelze —
„Nu kuck einer den Jungen, der is ja nu
wohl ganz verträumt!“
Sein Vater fagt es und fteht vor ihm
mit dem Bürgermeifter und dem Sanitätsrat
Bord.
„Dieſe ganze Romanwirtſchaft in den gelben
Büchern da neben fi und träumt am frühen
Morgen!”
Konrad Wagner ift fehr groß, breitfhultrig,
fein bartlofes Geſicht ift ſcharf gefchnitten.
Kluge, graue Augen fehen unter buſchigen
Brauen hervor, das Haar ift leicht ergraut;
die Lippen, etivad breit und mulftig, paſſen
nicht recht zu Stirn und Nafe, der Naden iſt
wuchtig; die Stimme Hingt tief.
Der Sanitätsrat ift ein ſchlanker, eleganter
Mann. Er ift gefleivet, als käme er cben aus
einer Großſtadt. Zivifhen den Fingern hält
er einen Stod mit goldenem Griff, den er zu
halber Schulterhöhe emporgehoben hat,. Eitte
vergangener Jahrzehnte. Sein Kopf hat etwas
Goetheſches; um den Mund liegt ein leichter,
ſarlaſtiſcher Zug.
Der Heine Major a. D., der zwiſchen ben
beiden fteht, kommt ſchlecht weg mit feiner
unterfeßten, behäbigen Figur beim Vergleich.
Er hat braune, unruhige, lebensluftige Augen,
einen riefigen, mohlgepflegten Schnurrbart,
und bie vollſte Gutmütigfeit läßt fih aus
feinen Zügen leſen.
Guten Morgen, Herr Sanitätsrat! Guten
Morgen, Herr Major! Vater, ja, wir haben
uns auch nody nicht geſehn!“ fagt Fritz, einen
Anflug von Nöte in feinem mädchenhaften
Geſicht.
„Daß ſo'n junger Menſch das nur aus—
fprehen mag. War noch in’n Federn, als ich
"raus ging. Was, ein ſchöner Morgenfpazier:
gang auf die Eleonorenhöhe, Herr Major?”
534 Der Einzige.
„sa! ja, Freund und Gönner! Aber,
'rumgefchleppt haben Sie mich tüchtig.”
Der Sanitätsrat lächelt. „Warum find
Sie aud) ‚Verfhönerungsvereinler und woll'n
abfolut 'nen Kurort aus Blumerode machen?
Sie willen, ih bin nicht dafür. Was fol’n
wir mit Fremden in unferm Drt? Laſſen Eie
und die boch vom Leibe!”
„Aber hör'n Sie, hör'n Sie, mein teurer
Herr, man will doch, daß dem Orte aufge:
bolfen wird. Das ift der einzige Weg. Darin
jtimmt mir mein lieber Holzherr Wagner bei.“
„Sollte auch gefcheiter fein, der Konrad
Wagner,” brummt ber Arzt. „Haben mir ung
bier nich’ immer gut befunden, he?”
„Rur, aber... .”
„Bleiben Sie mir alle beide mit ihren
Volksbeglückungsideen vom Leibe. Was kommt
dabei raus? Die Leute fpefulieren auf leichten
Sommerverdienſt und arbeiten noch meniger
ala bisher. Das faule Gefindel, na —“
Dann feßt er fich neben den jungen Menſchen.
„Siehft zwar aus, als haft du's nid)
nötig, daß man fragt, mein unge. Aber
lag’ mal, wie iS e3 denn fo im allgemeinen?
Appetit? Lebensluft? Das ift die Haupt:
ſache. Na, wird fi) maden! Wird fi
machen!”
„zebensluft,” Träht der Kleine Major, „da
haben Sie ein rechtes Wort gejagt. Freude
an allem muß man haben, jeh’n Sie! An
der lieben Früblingsfonne, die nun wieder zu
icheinen beginnt, an den Beilchen, dem Vogel:
gezmoitfcher, den Tpielenden Kindern und den
lieben, bübfchen, kleinen Mädchen, die da durch
die liebe Welt laufen —”
„Hm! ja!” wirft der Sanitätsrat troden
ein, „man jagt ja hier bereits fchon, daß Eie
die haben.“
„sm allgemeinen, ganz im allgemeinen,“
beeilt fih Herr von Müller zu fagen. „Und
Dankbarkeit muß man dazu empfinden auf
diefer lieben Gotteswelt. Seh'n Eie, ich bin
eine beicheidene Natur, ich freue mich im
Winter, daß ich warm unter Dad und Fadı
bin, daß ich meinen wohlſchmeckenden Kaffee
trinten kann, ohne Eorgen, daß ich jet hier
bin und zu thun habe.”
„Den Beigefhmad wird Ihnen die liebe,
nic zufriedene Gemeinde fchon dazu ftiften.
Mas, Holder? Marten Sie'3 man ab.
Aber nun red’ du mal, Jrig, mein Sohn!“
„Der!“ Wagner verzieht die dicken Lippen.
„Das ift ne Jugend! In Deden und Kijien,
jtatt über alle Zäune. Un wie 'ne zimperliche
Sungfer, ftatt hinter allen Mädchen berzu-
laufen, wie’3 den Jahren zufommt. Herr, bu
meine Güte, wie war da unfereiner. Zwiſchen
Meizen und Korn, zwifchen Heden und Tim
— zwiſchen Bäumen und Gras‘ —
„Ra ja, na jal” begütigt der Sanitätsrat,
„Ihre Stiernatur hat der Frig nun freilid
nicht mitbefommen, aber doch 'ne ganze Menge
guter Eigenſchaften. Das laffen Sie mir nur,
das — Fri, wir fpringen auch noch über
Helden und Zäune, wenn du wieder gejund
biſt.“
„Wenn, wenn! Man hat nur den Ein—
zigen und wollte was daraus machen und ließ
ſich auch gut an. Dann plötzlich: wird nicht
ſtudieren können! ſagen die Herrn Ärzte; wird
nicht ſtudieren können. Und hab's doch gut mit
ihm vorgehabt. Was ſoll denn nu daraus
werden? Ein Bäcker, wie ſein Vater? Der
wird den Mehlſtaub und die Badofenhitze
aud nicht vertragen können, was dann alfo,
was dann?”
Fritz ſchiebt an feinen Deden; er Scheint
mit dem Entſchluß zu kämpfen, den Plaß
unter der Linde zu verlaffen und doc den
Mut nicht zu finden.
Der Eanitätsrat faßt ihn unter dem Arm.
„Ra, Wagner, mit dem Bäder, da fpielen
Sie fih nur nicht groß auf. Von Haus aus
waren Sie das wohl, aber gewandert find Eie
nid; und bann, ald Sie in Hannover in 'ne
Feinbäckerei reingegudt haben, erden Sie
fih auch nicht zu weh gethan haben. Wer'n
Bäder iS wie Sie mit den drei Heiligen:
Goethe, Heine und Beranger, der, na, aus
echtem Teig i8 der auch nich gebaden.”
Konrad Wagner lat von Herzen; halb
bat fich feine Eitelfeit bei der Strafprebigt
gefchmeichelt gefühlt.
„Freilich, gut gejagt, nur ſollt eine Krähe
— Na, Eie wilfen fhon, Herr Sanitätsrat!
Sch bin auch 'n bißchen aus bem Häuschen.
Geftern abend ift Frau von Lieven noch bei
meiner Frau geweſen und bat ihr bie
Ohren voll geſchwatzt. Den ungen hätten
Der Einzige.
wir nad der — Na, Frig, deine Mutter
hatte es natürlich nid; behalten, was hat der
Irrwiſch für eine füblihe Gegend genannt?”
Die Riviera, Vater!”
„Alſo dahin hätten wir ihn ſchiden follen,
ftatt ihn den harten Winter am Harz durch⸗
machen zu lafien. Das Weib liegt ja immer
auf ber Eifenbahn. Na, Sie kennen meine
Frau; ihr einziger Junge! Meiner i® er doch
am Ende auf. Un mas für Hoffnungen
babe ich darauf geſetzt!“
„Hm! Mit der Riviera, lieber Wagner,
da hätte ſich unfer Fritz höchſt unglüdlich ger
fühlt: aus allen Lebensgewohnheiten geriffen.
Und die Frau hätten Sie doch wohl nicht
mitgeſchickt ?“
„Bei Leibe nich! Ich will meine behagliche
Häuslichkeit nicht geftört haben! Kein Ge—
dante!” brauſt der Alte auf.
Deshalb hab ich das auch weit von mir
getviefen, Ihnen den Vorſchlag zu machen.
Fritz iſt jung; er wird fih ſchon burd-
beißen.”
Der Arzt legt Fritz die Hand auf die
Schulter.
„Wenn er der Stärkſte nicht wird —“
„Ja, freilich! Das wird er nicht. Und
— was ſoll ich denn aus ihm machen, frag
ih Siet"
Jetzt fteht Trip auf; er Mirft mit einer
energiſchen Bewegung die Deden ab und geht .
dem Haufe zu, und diesmal macht Bord feinen
Verſuch, ihn zurüdzubalten.
„Ich meine, das ift gegeben, Wagner”,
fagt er ernſt. „Cie haben das fhöne Ans
weſen; kaufen Sie dazu. Eie fönnen 'ne feine
Grafſchaft ftiften. Fürs Bewirtſchaften wird
feine Kraft reichen, notabene mit richtiger Hilfe.
Und dann ne nette Frau dazu, lieber Holzberr,
das liegt ja alles fo nah.”
Ne reiche, meinen Sie, Herr Sanitätsrat?”
„Ein paſſende zuerſt.“
Na ja! Vermögen paßt allerwegen hin.
Du, Frig — ad) fo, der Menſch hat fi) davon
gemacht.“
„Meinen Sie, es kann ihm angenehm
ſein —“
„Ach, Unſinn! Krank is er doch nu mal.
Und das hat er nich von mir!“
Bords Augen bliden ihn ſcharf an.
}
| fih Halb verbrannt im Dufel!
“585
„Von Ihrer Frau gewiß nicht. Ich habe
mid ſorgſam erkundigt; auf Generationen
hinaus ift die Zungenfrankheit nicht in ihrer
Familie geweſen. Die Alten habe ich felber
noch behandelt. Aber Ihre Mutter, Holzberr,
die hatte Tuberleln. Sie farb ja aud früh.
Sie brauchen alfo nicht viel zu fragen. Und
daß Sie's mal erfahren, das ift am Ende gut.”
Wagner macht mit feinen beiden Händen
ein paar zudende Bewegungen, dann ballt er
fie zu Fäuſten. Er ift einige Augenblide
wortlos, und man hört das Plätſchern des
Mühlgrabens, deutlich, Iuftig und bel. Dann
fagt er: „So! Meine Mutter! Ich habe
feine Frauensperfon auf der Welt fo lieb ge-
habt, wie die. Er heißt ja nad) ihr; fie hieß
Friederike.“
Schweigen. Der Arzt ſteht auf. Dann
fommt wieder bie alte, fefte Haltung über
Konrad Wagner.
„Die Herren trinfen nun ein Glas Wein
bei mir!”
„Ich nicht!” fagt Bord. „Ich muß noch
zur alten Probftei und bann nad; meiner
Freundin Schindermarie ins Armenhaus. Hat
Morgen!
Morgen!" Den Knopf des Etodes hebend,
gebt er.
„Er ift böfe,“ meint der Major.
„Na ja, wenn man den einen Jungen hat
und friegt lauter Querftrihe in feine Pläne,
da foll man’3 noch nich mal fagen. Nor ihm
zittert feine Familie und ih fol — Kommen
Eie, Herr Major und Bürgermeifter!”
„Wenn Sie's fo wollen, — ich bin nämlid)
nad dem Spaziergang hungrig und durftig.”
„Dafür wol’n wir auffommen.”
„Und ih muß Ihnen eine Gefchichte er⸗
zählen, lieber Freund und Gönner — eine
Gecſchichte! 'ne ſaftige! Is mir da bei Nizza
eingefallen.” Er ftreicht feinen Schnurrbart.
„Zie werben laden, Holzherr, ih fage
Ihnen —“ und er lacht auch ſchon in ber
Vorfreude hell und frähend.
Fritz Wagner fieht die beiden lommen und
verläßt das Wohnzimmer.
Von der Schwelle der Hausthür her ruft
der Holzherr mit ſchallender Stimme feine
Befehle nad der Küche hinüber. „Anfahren:
Schinken, Wurft, den famofen Harzläfe —“
536 ' Der Einzige.
Eine dralle, blonde Magd in Eonntags:
kleidung kommt auf die mit Sand überftreute,
weißichwarzfliefige Diele.
„Dann müßte ich um den Speifefammer:
ichlüffel bitten, Herr Holzherr!“
„Allemal! Man rausgeholt!”
Etwas befangen, fcheu nad dem fremden
Herrn binüberblinzelnd, fommt Tine ange:
trippelt und nimmt einen Schlüffel vom Hafen
hinter der Thür.
„Meine Frau is natürlich fromm. Eie
macht's für und beide ab. Mit dem Herrn
Superintendenten ſchwatz' ih gern eins unter
der Linde, aber was er da drüben fagt —“
„Ein umgänglicher, freundlicher Herr,” lobt
der Bürgermeifter.
„Freilich, aber fehn Sie, wenn er auf
feiner Kanzel das Weich alleine hat, da Tann
ih doch nich’ mwiberfprechen. Un’ unfre An:
ſichten deden ſich nid immer. Ja, in den
Keller, und uns zu ’ner guten Flaſche Rot:
sohn belfen muß ich nu felber. Setzen Sie
einftieilen ’nen Zleinen Nordhäufer auf unfern
Morgenfpaziergang; in die heiligen Hallen da
unten laß ich fein Frauenzimmer. Ne, ne!“
Er läßt den Gaft voran und holt von dem
Schrank eine Flafche, die er mitten auf den
mit gebäfelter Dede belegten Tiſch vor dem
Sofa ftelt. „Da is auch 'n Glas —” Er
ſchenkt zwei Schnapsgläfer vol. „Proft!
Proft!” beißt es gegenfeitig.
Freundlich fcheint die Sonne in den ein:
fachen, behaglihen Raum. Alte Schränfe, die
Urgroßväterzeit gefeben, fteben bier und auf
der Diele. Man treibt feine Antiquitäten-
liebhaberei in Blumerobve, Konrad Wagner hat
aber feine eigene von andern unverftandene
Freude an dem verbunfelten Eichenholz mit
der Schnigerei aus der biblifhen Geſchichte,
an den eingelegten Sternen und dem leuchtenden
Farbenſpiel der Eſchenwurzelſtühle, die mie
Kutichen find, mit Leber bezogen, ebenjo das
Sofa; weitbäuchige Rokokokomoden mit gelben
Griffen, ein paar Ridinger an den Wänden,
Goethe’ Kopf und Goethe in der Campagna
nach Tifchbein, ein Bücherfchrant neuer Art.
An dem einen Fenſter ift ein Nähtiſch, vor
dem andern ein Stehpult.
Der Major fieht zu, wie das Mädchen den
Tiſch deckt, immer mit niebdergefchlagenen
Augen und erhöhter Nöte auf den Baden;
bie prallen, mohlgeformten, bloßen Arme find
auch rot geworden.
Auf den Fenſterbänken fteben Myrten⸗
bäumchen, eine blühende Calla und Geranien,
alle mwohlgepflegt.
Konrad Wagner fommt zurüd, zwei Flafchen
im Arm.
„Für den erften Durft!” fagt er.
„Ah!“ macht der Gaft, die Marlke lefenb.
„Ale Achtung!“
„5a, darauf halt ih. Was hat man benn
viel in ſolchem Neft? Ein guter Trunf! Mit
dem beizenden Tobak hab’ ich nichts im Sinn,
— hm!“
Der Beine Major ift ganz aufgeregt, froh,
daß er dem umjchriebenen Goethegedanken
gegenüber Verftändnis bemeilen fann. Richt
oft geht's ihm fo.
„Hähä! Aber auch die Magd im Puß
— ganz allerliebft.“
„sb, was Sie jagen. Die ift erft viegehn
Tage da. Meine Frau bält fonft nicht viel
von gut ausſehenden Frauenzimmern im Haufe
— naja —“ es ift ein Schmunzeln um feine
Mundwinkel.
Sie ſetzen ſich. Tine kommt wieder, um
den Käſe zu bringen. Es iſt alles gut ge⸗
ordnet, zierlich auf dem Tiſche.
„So is recht,“ ſagt der Holzherr lobend.
„Wie heißt du doch auch, mein Kind?“
„Tine!“
„Is gut, Tine! Werde es meiner Frau
ſagen, daß du anſtellig biſt.“ Er zieht an
dem Schürzenband, als ſie vorüber huſchen will.
„Ne, mal dageblieben und Kopf hoch.
So! das iſt doch'n Geſicht, das ſich ſehn
laſſen kann. Woher find wir denn? he?“
„Loneburg!“ ſagt das verlegene Mädchen.
„Un' da?“
„Ich bin doch dem Waldarbeiter Feiſt ſein
Kind. Bei uns ſind neune und Mutter is
tot. Un' Vater ſchon vor drei Jahren, und
was mein Vormund is, der hat die Frau
Holzherrn ſo gebeten, wenn ich was lernen
ſollte, ſo könnt' ich's bloß hier, meint er. Erſt
wollte ſie nich —“
„Wollte nich —“ Wagner nickt. „Na,
das wird ihr gut gethan haben, die Aner⸗
kennung, ſchwatzen kannſt du ja ganz ornd'tlich,
EEE rn VE EEE
Der Einzige.
immer bloß aufgezogen werben muß's Uhr:
wert.”
„3a, ja, ja, die Frauenzimmer!” ruft Herr
von Müller Iuftig und zwinkert mit ben
Augen.
Die Schürze liegt am Boben.
fee auf.
„Herſagen babe ih immer gelonnt, ich
bin beim Lehrer die Erfte geweſen un’ auch
im Ronfirmandenunterridht.”
„Hat dir denn auch ſchon wer gefagt, daß
du niedlich bift?”
„Ach ne, nee —” ftammelt fie.
„Du — nid’ lügen, Tine!”
„Wahrhaftigen Gott!”
„Na denn, der Herr Bürgermeifter, ber
hat es entbedt. Vor bem nimm did) man
zufammen!”
„Ih, ih, ih!“ kräht der. Das Mädchen
huſcht hinaus; Wagner ladht, der Kleine droht
ihm mit dem finger.
„Sie Schwerenöter, Eie Schwerenöter.
Aber, das is hier gemütlich, ne, wirklich! Ja”
— ein Seufzer, — „ſo'ne Häuslichkeit ift am
Ende das Wahre!”
„30, wenn man es bequem haben will,”
Tine rafft
fagt Wagner und legt den mächtigen Kopf |
gegen die Etubllehne, „denn muß man ſich
bei Zeiten einrichten.”
Die Meinen Augen fehn ihn ein wenig
verftört an.
„Sollte es denn — — meinen Cie denn,
ſchon ein bißchen fpät für mid) fein? Ich
denle jet nämlich feit einiger Zeit — ernſtlich
„Sm! ja! Das nicht. Aber wenn
man fih eine Frau eingewöhnen will, ſehn
Sie, das ift wie mit den jungen Zugtieren.
Zur rechten Zeit muß fie ’ran, daß fie noch
unter feiner andern Hand hat ftörrig werden
Tönnen. Wenn Eie heute, die Züngfte werden
Eie ſchon aus Furt, daß fie über die Stränge
ſchlägt, nicht nehmen — eine ein bißchen An-
gejahrte friegen, die till fi nich' viel fagen
a.
SE
*
537
laſſen. Und da i8 die Gefahr, daß Sie unter
den Pantoffel kommen, Sie wiſſen nicht tie.”
Herr von Müller drüdt die Augen zu:
fammen.
„Gewiß — ja, mein lieber Holzherr!
Gewiß! Aber, wer mag fi) denn fo früh
binden? Ich komme mir mit meinen neun
undvierzig wahrhaftig noch jung vor. In der
Ehe fehen Sie, da muß man fo feinen ge=
meinfamen Weg gehn. Und ich leugne gar
nicht, ic} habe bisher Freude an allen Blumen
gehabt. An Treibhausblüten und Wald- und
Wieſenblümchen — ja fehn Sie!“ Und er
ſtreicht wohlgefällig fein gefärbtes Bärtchen.
„So! ja! nu!“ Wagner ſchließt die Lippen
und öffnet fie wieder.
„Eine junge Frau zieht man ſich aud,
wenn man felber jung und Iebenzluftig ift,
am beften.”
„So — hahaha! ja, Sie, lieber Holzherr,
Sie! Man hat ja auch'n Glödchen ſchon
läuten hören, feit man hier ift. Sie haben
fih in jeder Beziehung Ihr Leben zurecht
gemadt. Willen Eie, der Sanitätsrat aud)
— ber aud. Und ich habe das fo gar nicht
gewußt, wie man doch aufm Lande — —
Ne, lauter Salomos hier — lauter Salomos!”
„Meinen Sie?" Der Hausherr fieht Tine
nad), wie fie raſch die vergefiene Pfefferbofe
noch auf den Tiſch ftellt.
„Nun langen Sie zu!
ſchlachtete Ware.”
„Behaglih! Appetitlih! Behaglich!“ Tobt
der Major.
„Drüben hat meine Frau ihr Allerheiligftes,
ihre Staatsftube, zum Kaffeeflati natürlich.
Mahagoni und Plüfchmöbel. Vor zehn Jahren,
da beftand fie darauf. Man thut ja auch
mal was zu Gefallen.”
Er gießt die Gläfer voll, fie ftoßen an,
der Major ſchlürft langſam, mit Kenner=
miene.
„Un' nu meine Gefdjichte, lieber Holzherr,
nu paſſen Sie auf!” (Fortfegung folgt.)
Alles felbft ge:
638
Hausinonſtrielle Frauenarbeit.
Von
Dr. Robert Wilbrandt.
Nachdruck verboten.
II.
m vorigen Aufſatz babe ich einiges aus den Berichten der öſterreichiſchen k. f.
Gewerbeinjpektoren über die Heimarbeit in Böhmen berausgeboben, um an
‚go der Hand diefer amtlichen Darftelung ein Bild der bausinduftriellen Frauen:
arbeit zu geben. Für Deutichland haben wir folche amtliche Erhebungen über die
Lage der Heimarbeiter nicht. Sie find aber auch faum noch nötig, denn die wiſſen—
Ichaftlichen Unterfuhungen des Vereins für Sozialpolitif über die Hausinduftrie in
Deutfchland und Ofterreich fchildern und zuverläffig und gründlich diefe Zuftände in
unferm Vaterland. Nicht mehr zeitraubende Erhebungen, fondern durchgreifende Reform
erhoffen wir bier von der Regierung.
Um wie viele Frauen und Mädchen es fich dabei handelt, ift nicht genau anzu:
geben. „Denn Heimarbeit ift die Arbeitsform auch für alle diejenigen Arbeitsfräfte,
die von der Statiftif überhaupt nicht erfaßt find.“ Dr. Alfred Weber, deffen Worte ich
joeben anführte, in Deutfchland wohl der gründlichfte Kenner der Hauzinduflrie, hat daher
die Statiftil, die und Hier im Stich läßt, durch Berechnungen zu ergänzen gejucht.
Nach der Statiftif arbeiten rund 200 000 Frauen und rund 250 000 Männer in der
Hausinduſtrie; aber mag jchon die Zahl der Männer thatfächlich etwas größer fein,
weil mancher Heimarbeiter fich jchämt zu befennen, daß er in die Stellung des Haus:
induftriellen herabgebrüdt ift, fo find die Heimarbeiterinnen, die der Statiftif entgehen,
noch viel zahlreicher. Die Erwerbsarbeit der Ehefrauen bleibt der Statiftif überhaupt
oft unfichtbar. Selbſt in der Hausmweberei, wo die Frau oft ebenfo viel arbeitet wie
der Mann, entgeht fie leicht dem Auge der Statiftil. Und gar all die verichämten
Heimarbeiterinnen, Frauen, Witwen und Töchter des Bürgerftandes, deren es in ber
Berliner Konfektion allein 15 —20 000 giebt, erfcheinen natürlich nur als „Angehörige”
oder „DBerufslofe” in der Statiftif. Man kann daher, ſehr gering rechnend, gegen
60 000 heimliche Heimarbeiterinnen aus dem Bürgerftand in der Konfeltion und gegen
100 000 jolche in der Hausinduftrie überhaupt annehmen; und man wird nicht zu
boch greifen, wenn man die Zahl der Arbeiterfrauen, die als Heimarbeiterinnen der
Statiftif entgangen find, auf 50—100 000 ſchätzt. Dem entiprechen auch ungefähr
die Berechnungen von Dr. Weber, nach denen der Umfang der bausindujtriellen
Frauenarbeit in Deutjchland faft doppelt fo groß ift als ihn die Statiſtik angiebt:
Frauen in der Bekleidungshausindufttie . . . . 226 000
„ „„ xertilbaußindufttie . . . . . . 100000
„nn Übrigen Haußinduftrie . . » » . 43000
„nn „ Hausinduftrie überhaupt . . . . 369 000
Hausinduſtrielle Frauenarbeit. 539
Da die Heimarbeiterinnen, die der Statiftil entgehen, zum größten Teil verheiratete
Frauen find, fo müffen wir zu den amtlich nachgetviefenen 36 000 Ehefrauen und
34000 Witwen und geſchiedenen Frauen in der Hausinduftrie mindeſtens nod einmal
fo viele hinzunehmen, fo daß ungefähr 150000, alfo /, aller hausinduftriellen
Arbeiterinnen, verheiratet, verwitwet oder gejchieden find. Die Zahl ber Kinder diefer
Frauen dürfen wir nun allerdings zu Hoch nicht fchägen; aber wenn nad) R. Martins
Erhebungen bie verheirateten Fabrilarbeiterinnen, die trotz der Kinder in die Fabrik
gehen, durchichnittlich jede ein Kind haben, fo können wir — übereinftimmend mit
den Angaben von Gertrud Dyhrenfurth und Hans Grande — auf jede von dieſen
Heimarbeiterinnen, die wegen der Kinder zu Haufe arbeiten, im Durchſchnit zwei
Kinder rechnen. Soweit biefe 300 000 Kinder noch Mein oder im ſchulpflichtigen
Alter find, bedürfen fie der Mutter. Die Zahl der Frauen, die durch die Kinder ans
Haus gefeflelt find, ift alfo nicht gering; fie ift ungefähr fo groß, als bie Zahl ber
Mütter, die in die Fabrik geben und bei denen daher die Kinder der Mutter
beraubt find.
Die Gefahr, da das sweating-system auch bei uns ſich noch weiter in den
Voltzkörper hineinfrißt, ift nicht ausgeſchloſſen. Schon jetzt ift es im weiteſten Maße
vorhanden. Vor allem die Großftadt mit ihrer anwachſenden Überzahl von Frauen
und mit ihren beftändig. fteigenden Mieten if der Nährboden dafür. Die hohen
Mietspreife zwingen Frauen und Töchter zum Miterwerben, fie erfchweren dem
Unternehmer größere Werfflätten und machen ihm dadurch bie mietefparende Heim" .
arbeit wertooll, fie drängen die KHeimarbeiter in die engflen Löcher zufanmen, in
denen fie arbeiten, leben, fchlafen, kochen und — atmen müflen. Ohne es zu wollen,
bat auch ber Staat durch die Fabrifgefege und die Arbeiterverfiherung die Haus:
induftrie begünftigt: denn von diefen Laſten ift der Unternehmer in der Hausinbuftrie
faft gänzlich frei — Freiheit ift hier fein goldenes Los, Freiheit von jeder Schranfe
und jeber Pflicht. Das Unternehmerrifito Tiegt bier faft ganz auf dem Arbeiter:
fobald die günftige Gefchäftszeit vorüber ift, wird er entlaflen, eine Fabrik, derent-
wegen der Unternehmer weiter arbeiten ließe, ift ja nicht vorhanden.
Ein Produkt der Großftadtentwidlung ift vor allem bie größte Frauenhaus-
induftrie, die Konfektion. In Berlin allein befchäftigt fie 44000 Werkftattarbeiterinnen
— in Zmifchenmeifterwerfflätten — und 25000 Heimarbeiterinnen. Der Groffift,
fagt Grande, verdient am Stüd etwa 17 Prozent, der Detailift mindeftens 25 Prozent,
bei beſonders eleganten Stüden bis zu 50 Prozent. Die Reklameſtücke, die ohne
Profit verfchleudert werden, fpielen dem gegenüber keine Rolle. Die Händler find
bier die Herren. Sic) der launiſchen Mode anfchmiegend, bat ihre Spekulation die
Arbeitsfaifon in der Damentonfeltion auf 6 Monate zufammengedrängt. Drei bis
vier Monate giebt die Arbeit nur noch unzureichenden Verdienft, zwei biß drei Monate
find die Arbeiterinnen ganz ohne Arbeit. Die kurze, zufammengepreßte Arbeitzjaifon
bewirkt natürlich eine um fo längere tägliche Arbeitszeit. Nach den Erhebungen der
Reichskommiſſion für Arbeiterftatiftit umdb nad den Unterfuchungen von Grandte ift
der Durchſchnittsjahre sverdienſt der Konfeltionsarbeiterinnen 3—400 Mark, der
BWerkftattarbeiterinnen näher an 400, der Heimarbeiterinnen näher an 300 Mark.
Der Grund für diefe Niebrigkeit der Löhne liegt zunächft in dem Überangebot
von ungelernten weiblichen Arbeitskräften, und dann in der Unterbietung durch bie
Haustöchter und Ehefrauen, ber Arbeiterfchaft ſowohl wie des Bürgerftandes; dieſe
510 Hausinduſtrielle Frauenarbeit.
juchen nur einen Nebenerwerb und find daher auch mit weniger Lohn zufrieden. Und
da der großftädtifche Arbeiter durchfchnittlich 900 Mark Jahreslohn erhält, aber etwa
1200 Mark zur Ernährung der Familie braucht, fo find es 3—400 Marl, die die
Frau dazu verdienen muß; bis auf 3—400 Mark find daher die Löhne herunter⸗
gegangen, die alleinjtehenden aber können unmöglich davon leben.
Teild um diefe „Lohndrüderinnen”, die heimarbeitenden Ehefrauen, 103 zu werben
und die Organifation zu ermöglichen, teild wegen ber Scheußlichkeit ber „Schwig-
buden”, in denen jeßt gearbeitet wird, verlangten bie Arbeiter 1896 die Errichtung
von Betriebsmwerkftätten. Dieje Forderung, derentwegen fie den Streit begannen, trat
aber dann ganz in den Hintergrund, die Lohnfrage wurde bie Hauptſache. Die
Konfektionäre gingen anfangs fcheinbar auf die Verhandlungen ein, dann aber wurden
fie wortbrüdig und kehrten fich nicht an den Schiedsſpruch des Gewerbegericht!, das
einen brauchbaren Stüdlohntarif ausgearbeitet hatte. Die allgemeine Lohnerhöhung
um 12!/; Prozent, die das Gewerbegericht feitfegte, wurde jchon dadurch umgangen,
daß die Gejchäfte alle Lohnbücher einzogen und nur noch Lohnzettel außgaben: To
machten fie die Kontrolle darüber, ob die Löhne wirklich erhöht wurden, von vornherein
unmöglih. Zulegt wurden fie „ungefchminft wortbrüchig“ und erklärten den Mindeſt⸗
lohntarif des Gewerbegerichts, deſſen Schiedsſpruch fie fich unterworfen hatten, für
nicht bindend. (H. Grandke, Schriften des Vereins für Sozialpolitif, Band 85,
Seite 350). |
Auch die andere Forderung der Arbeiterfchaft, die Errichtung von Betriebs⸗
werfitätten, würde für die Mehrzahl der Arbeiter und Arbeiterinnen ein großer Segen
jein. Die Arbeitsjaifon würde durch die Betriebswerkftätten gleichmäßiger fiber das
ganze Jahr ausgedehnt werben; unter Gewerbeaufficht, in geregelter Arbeitszeit, in
gefunden, Iuftigen Räumen und mit motorifcher Kraft würde die Arbeit geſchehen, die
jest die Nächte durch in „Werkftätten” und „Wohnräumen“ gethban wird, die den
Maren eine jolche Luft mitteilen, daß beim Öffnen der von den Heimarbeitern abge:
lieferten Bündel unerträgliche Dünfte auffteigen. Eine folche „Werkſtätte“, möchte ich
als Beijpiel anführen. Da „Ichläft die ganze Familie, die Frau, der lungenkranke
Mann und drei Kinder, in der als Arbeitsraum benupten Küche, weil da Zimmer
an Schlafgänger abvermietet ift.“
Auch die große Gefahr der Übertragung von anftedenden Krankheiten auf die
Käufer der Kleider würde durch Betriebsmerkftätten fehr verringert werden. Aber am
Mohnungdelend würden fie menig ändern. Nur durch ftäbtifche Boden: und Baus
politit im Sinne der Bodenreform und durch höhere Löhne, die es den Arbeitern
möglich machen, eine menjchenwürdige Wohnung zu bezahlen, kann das gebeflert werden.
Überhaupt tritt immer der Lohn wieder an die erfte Stelle. Denn die Mütter mit
Kindern, die ja einen großen Teil der bausinbuftriellen Arbeiterinnen ausmachen,
wollen felbitverftändlich von Betriebswerkſtätten nichts wiſſen.
Betrachten wir noch die Löhne diefer Heimarbeiterinnen in der Schürzens und
Unterrod:, Blufen: und Tricotlonfektion nach der Darftelung von Gertrud Dyhrenfurth.
Hier macht der Fabrifant einen Zufchlag von 33—50 Prozent, der Bazar oder ber
Kleinhändler nimmt für ſich noch 20—50 Prozent, ſodaß eine Schürze, die der Käufer
mit 3 Mark bezahlt, in der Herftellung 1,50 Mark koftet. Und die Löhne? Bei den
billigften Unterröden, den fogenannten Bauerntöden, wird für dad Nähen von einem
Dugend 45 Pig. bezahlt; mit Nachtarbeit kann die Arbeiterin 8—10 Dugend an
Haudinduftriclle Frauenarbeit. 541
einem Tage nähen, ihr Verdienſt iſt dann für dieſen Tag 2,40 Mark; allerdings muß
fie ununterbrochen an der Mafchine fteppen, was die befannten Stepperinnenfrant:
heiten, Unterleib3- und Frauenleiden u. |. mw. zur Folge bat, die die Stepperin nach
wenigen Jahren erwerbsunfähig machen. Dennoch iſt's bei diefen billigften Unter
töden günftiger als bei dem koftbarften, kunſtvoll gearbeiteten feidenen Unterrod: die
Arbeiterin bekommt für das Nähen eines ſolchen 4 Mark, für Auslagen gehen 70 Pfg.
ab, fie arbeitet daran anderthalb Tage, verdient alfo am Tag nur 2,20 Marl. Der
Groffift verkauft diefen Unterrod für 60 Mark, der Arbeitslohn ift 4 Mark, alfo Y/ı,
de3 Preifes; würde die Verdoppelung des Arbeitölohnes und fomit die Erhöhung des
Preifes von 60 auf 64 Mark viel ausmachen bei der Kundfchaft, die folche feidene
Unterröde kauft? Oder würde es die Induſtrie zerftören, wenn der Fabrifant ftatt
33—50 Prozent und der Kleinhandler ftatt 20—50 Prozent etivad weniger in die
Tafche fteden könnte?
Bei den billigften Sachen ift der Arbeitslohn nur !/,, des Preiſes. Wenn für
das Nähen von einem Dugend Röden ftatt 30 Pfg. ein Arbeitslohn von 50 Pig.
gezahlt würde, fo daß die Frau ftatt 15 nur noch 9 Stunden täglich zu fteppen
brauchte, jo würde die Käuferin bed Unterrods nur 1%, Pig. mehr zu bezahlen haben.
Selbftverftändlich Handelt ſich's bei diefen Löhnen nur um Saifonverdienfte.
Der jährliche Durchſchnittswochenverdienſt ift in diefer blühenden Induftrie 7—9,
auch 3—5 Mark, Witwen mit Kindern, bie der Kinder wegen zu Haufe arbeiten,
richten fi) dabei zu Grunde, denn für fih und die Kinder genug zu verdienen, den
Haushalt und die Kinder zu beforgen, das fiberfteigt bei ſolchen Löhnen jede menfchliche
Kraft. Und die Kinder, um derentwillen die Mütter bei dieſer Arbeit bleiben, werden
mit zu Grunde gerichtet: denn bie Mutter, fieberhaft arbeitend, behält für ihre Pflege
und Erziehung feinen freien Augenblid. Verwahrloſung und Schmuß ift trotz aller
Aufopferung der Erfolg — Verwahrlofung und moralifher Schmug ift der Erfolg
aud bei den übrigen Aleinftehenden: die Proftitution wird zur wirtſchaftlichen Not⸗
wenbigfeit, bei ben meiften in fühle Berechnung oder in Leichtfinn und Genußfucht,
bei manchen in Verzweiflung. Die Kommiffion für Arbeiterftatiftit hat den optimiftifchen
Ausfpruch gethan, daß fich befondere fittliche Mißſtande in der Konfektion nicht gezeigt
hätten; dazu bemerkt Gertrud Dyhrenfurth, völlig übereinflimmend mit den Schilderungen
von Grandke, daß diefer Ausſpruch nur dann zutreffe, wenn „der Nachbrud auf dem
Wort ‚befondere‘ Liegen fol und man überzeugt ift, daß auch anderwärtd ein
Zufammenhang zwifchen dem Kaufpreis der Arbeit und der Käuflichleit der Arbeiterin
befteht.” „Laſſen Sie die Mädchen nur auf den Strich gehen, dann ſchaffen fie
billige Mäntel”, dieſes topifche Wort eines Unternehmers ift aus ben Reichstags-
verhandlungen befannt. Und damit die Konfeftionäre nicht zu viel Lohn zahlen
möüffen, zahlt au die Armenverwaltung und die Wohlthätigfeit davon einen Teil.
Den Verhältniffen der Berliner Konfeltion ähnlich, wenn nicht noch trauriger,
find die in Breslau und Stettin. Ein viel günftigere® Bild bietet und die rheinifch-
metfälifche Konfektion in Bielefeld, Herford u. |. w.; große moderne Fabriken, und
an fie angefchlofien eine KHeimarbeiterfhaft von Frauen, die zu Haus bei ihren
Kindern arbeiten und ohne Zmwifchenmeifter unmittelbar mit der Fabrik in Verbindung
ftehen, Herftellung beſſerer Sachen und ausreichende Löhne — und das alles aus
dem einfachen Grunde, weil dort die Nachfrage der Fabrifanten größer und das
Angebot arbeitfuchender Frauen geringer ift. Überall aber, wo Maffen von Arbeitern
542 Haudinduftrielle Frauenarbeit.
fih bei einer von Männern betriebenen Induſtrie fammeln, entfteht das Überangebot
weiblicher Arbeitskräfte.
Diefe gropftäbtiiche Konfektion ift die größte, aber vielleicht noch nicht bie
Ichlimmfte Hausinduftrie. Die zweitgrößte, die Tertilbausinduftrie, die hundert:
taufend Frauen bejchäftigt, zeigt erfreuliche Ausnahmen in der Handmafcinenftriderei
und in denjenigen Arten der Weberei, die durch ihre kunſtvollen Mufter der vernichtenden
Konkurrenz der Mafchine entzogen find. Am übrigen aber ift das MWeberelend ja
befannt; e8 ift noch Beute wie in Gerhart Hauptmanns Webern.
Auch die feineren Teile der Tertilhausinduftrie, Stiderei, Spitzen- und Pofamenten:
verfertigung, jelbit die befte Kunftitiderei, alle find fie dem allgemeinen Schidfal der
Hausinduftrie verfallen: überall find die Löhne unmenſchlich niedrig, So ift es, mit
geringen Ausnahmen, auch bei den vielen Zleineren Haußinduftrien, die man kaum
ale aufzählen Tann. Lichtpunkte find die Wirkerei in Apolda und die Kartonage—
beimarbeit in Lahr, abgejehen von der Ausnutzung der Kinder, die die „Lädlesfrauen“
in Lahr treiben. Die Kinderarbeit gehört überhaupt zum jcheußlichiten in ber Heim:
arbeit. Bei den Schachtelmacherinnen in Schlefien müfjen die Kinder von früh 4 Uhr
an mit an die Arbeit, und nad der Schule dann wieder bis zum Abend. Noch
ärger ift es bei der Filetnäherei, und gar in der Sonneberger Spielmarenbausinduftrie:
„Es ift kaum glaublich, daß an manchen Tagen, jo an den Freitagen der Sailon,
vor dem Liefertag, die Kinder die ganze Nacht hindurch arbeiten muſſen“. „Da
betrachten natürlich die Kinder die Unterrichtöftunden als Erholung und bemühen fich,
in ihnen den verfäumten Schlaf wenigſtens teilweiſe nachzuholen.“ (Profeſſor Ehren:
berg.) Auch bei der Cigarrenhausinduftrie iſt die Kinderarbeit ein Hauptübel. Im
übrigen ift hier die Heimarbeit — abgefehen davon, daß bie Unternehmer fie als
Mittel gegen die Arbeiterorganifation anivenden — vielfach ein nüglicher Erjag für
die hinfiechende Hausweberei; und mit gewiſſen geſundheitlichen Beſchränkungen wäre
fie zur Frauenhausinduftrie bejonderd geeignet.
Auf al die übrigen Heimarbeiterinnen kleinerer Induſtrieen kann ich nicht
mehr näher eingehen. Handſchuhmacherei und Fächermacherei, Schuhmwarenbeimarbeit,
Kürfchnerei und Mütenmacherei, Perlkranzflechten, Dütenkleben, Kaffeeverlejen, Bern:
fteinarbeit, Hafenhaarfchneiderei, die Induſtrien der Fünftlichen Blumen, der Hutfedern
u. ſ. w. u. ſ. w. — es ift faum möglich, hier volljtändig zu fein.
Das Mittel zur Abhilfe, das von mwohlmeinenden Leuten jo oft verlangt wird,
die Ausdehnung der Arbeiterfchußgefege auf die Hausinduftrie, hat in England und
Amerika, wo man ed damit verjucht Bat, völlig verfagt. Auch der Paragraph, um
den jest bei uns geflritten wird, die Einſchränkung oder das Verbot des Mitnachhaufe:
nehmend von Arbeit nad Beendigung der Werkitattarbeit ift in England in Geltung
und bewirkt nichts weiter als fyftematifche Umgehung und allgemeinen Betrug. Das
ift ganz natürlich, wenn man bungernden Arbeiterinnen verbietet, jo lange zu arbeiten,
bis fie ſich halbwegs von ihrem Berdienft jatt eſſen können — ohne ihnen zu
ermöglichen, in fürzerer Arbeitszeit das Nötige zu verdienen. Auch in den Vereinigten
Staaten hat man jegt zehn Jahre lang mit Befchränfung der Arbeitszeit und hygieniſchen
Vorschriften die traurigften Mißerfolge erzielt. Allerdings ift man dort vor allem auf
bie Gefundheit des Faufenden Publikums bedacht; darin mürde man vielleicht etwas
erreicht Haben, wenn diefe Gejeßgebung nicht von dem einzelnen Staaten ausginge,
fo daß die verfeuchten Waren troß aller Maßregeln des einen Staat? aus bem
Haußinduftrielle Frauenarbeit. 543
Nachbarſtaat hereinfommen. Das Wichtigfte aber, die Lage der Heimarbeiterſchaft,
ift unterdeffen nur immer ſchlimmer geworden. Nach Berichten amerifanifcher Fabrik:
inſpeltoren ift fie noch zehnmal fcheußlicher als bei und.
Ich muß e3 mir leider verfagen, bier auf die lehrreichen Mißerfolge der englifchen
und ameritanifchen Heimarbeitsgeſetzgebung näher einzugehn. Sie beweilen aufs neue,
was dem gefunden Menjchenverftand von vornherein Har ift: daß man Leuten, die
in Meinen Werkftätten oder zu Haufe arbeiten, nicht gefeglich die Arbeitszeit vor-
ſchreiben kann, weil die Kontrolle einfach unmöglich ift; und daß man fein Recht hat,
Leute mit gefundheitlichen Vorſchriften zu peinigen, deren Lohn fo gering iſt, daß fie
fie nicht befolgen können.
Für jeden, der ſich eine andere Einwirkung des Staats als die auf die Arbeits:
zeit und die Hygieine des Arbeitsraums nicht vorftellen kann, ift damit der Wunſch
gegeben, daß die Heimarbeit und die Hausinduftrie in Heinen, unfontrollierbaren Werk:
ftätten überhaupt befeitigt werde. Einschränkung oder Erſchwerung und zulegt das
Verbot der Hausinduftrie ift daher die Forderung, bie nicht nur von ber Sozial:
demokratie, fondern aud vom Arbeiterfchugfongreß in Zürich und von gründlichen
Kennern der Hausinduftrie wie Beatrice Webb und Dr. Alfred Weber erhoben
worden ift.
Für die große Mehrzahl, Männer, unverbeiratete Frauen und arbeitende Kinder,
würde allerdings, vor allem in der Stadt, die Befeitigung ber Hausinduftrie ein
reiner Segen fein. Die verheirateten, gefchiedenen, cheverlaflenen oder verwitweten
Frauen haben aber zum größten Teil wegen ihrer Kinder, wegen des kranken Mannes,
wegen der Wirtfhaft und aus andern Gründen den Wunſch, zuhauſe zu arbeiten.
Und gar die Frauen und Mädchen des Mittelftandes würden nichts als Nachteile
haben, wenn man fie aus ihrer angenehmen Wohnung in die Betrieböwerfftatt zerrte.
Bon den 230 000 Ehefrauen und Witwen, die in Fabriken arbeiten, würden auch
viele lieber zu Haus bei ihren Kindern und bei ihrer Wirtſchaft ihr Brot verdienen, fo
bald die Heimarbeit nicht fo ſchamlos ausgebeutet werden bürfte, als es jetzt gefchieht.
Diefelben Urfachen, die den jegigen Zuftand in der Hausinduftrie herbeigeführt
haben, machen es auch unmöglich, daß die Heimarbeiterfchaft fich felbft davon befreit.
Sind fon die Männer in der Hausinduftrie durch ihre gedrüdte Lage und ihre
Vereinzelung unfähig, ſich kräftig zu organifieren, fo fommen bei den Heimarbeiterinnen
nun noch Gründe Hinzu, die es bei ihnen erft recht unmöglich machen. Abgefehen davon,
daß ihre Arbeit meift keine gelernte ift, fo daß jede Arbeiterin leicht von unzähligen
andern erfegt werden kann, wächſt dad Angebot weiblicher Arbeitskräfte vor allem in
der Großftadt täglich mehr, und einerfeit® die Töchter und Frauen, die nur einen
Nebenverbienft ſuchen, andererfeit die Mütter, die plöglih für die Familie forgen
möüffen und nun Arbeit ſuchen um jeden Preis, „Arbeitöwillige” der traurigften Art,
machen ein einheitliche® Vorgehen unmöglid. Der weibliche Charakter if überhaupt
im allgemeinen mehr von der Familie als von dem Intereſſe des Berufs und der
Allgemeinheit erfüllt. Die Familie, diefe Heimat der Frau, macht fie ald Arbeiterin
unfähig zur Organifation. Gertrud Dyhrenfurth ift in einem Aufſatz, in dem fie
über eine englifche Unterfuchung diefer Frage berichtet, zu demfelben Ergebnis gefommen.
Am Schluß jagt fie: „Bisher hat man nur in Viktoria die Konfequenz daraus
gezogen und in einigen der sweated trades die zwangsweiſe Organifation eingeführt.
Vielleicht, daß wir in Deutfchland vermöge unferer ganzen gefchichtlihen Vergangen—
544 Hausinduftrielle Frauenarbeit.
heit eher als Eagland und Amerika zu einem ſtaatlichen Eingriff auch auf dieſem
Gebiete kommen werden und daß, nachdem den organiſatoriſchen Kräften der Arbeiter:
Ichaft freied Spiel gelaffen wurde, da, wo dieſe Kräfte nicht vorhanden oder nicht
wirkſam jein können, eine obligatorische Organifationsform gejchaffen wird, in ber die
Intereſſen der wirtichaftlihb Schwädhlten ihre Vertretung finden.” Dem fiimme id
vollkommen zu.
Der Gewerkverein der Heimarbeiterinnen für Kleider: und Wäſchekonfektion,
der im vorigen Herbſt von chriftlich=jozialen Frauen begründet und ſeitdem
auf 500 Mitglieder angewachlen ift, gewährt den SHeimarbeiterinnen verichiebene
wirtfchaftliche Vorteile, auch Hat er die Ausdehnung der Krantenverficherung auf die
Arbeiter der Berliner Hausinduftrie fräftig gefördert, troß des Entrüftungslärm3 der
Konfektionäre über diefe „neue Belaftung und Beläftigung der Konfektionäre in Berlin“
aber erft an die Staatshilfe angelehnt wird dieſe Organifation ihren ganzen Wert
offenbaren. Wenn der Staat auch bei un? mit gerechter, ftarfer Hand in die Lohn—
feftfegung eingreift, jo wie er es in dem fozialen Mufterländchen Viktoria gethan bat,
dann wird die Gewerkichaft die Kontrolle übernehmen, ohne die die Ausführung ber
ftaatlichen Feſtſetzungen nicht zu verbürgen ifl, und dann wird auf dieſer feiten
Grundlage vielleicht auch eine ftarfe Organilation daraus werben.
„Angelicht8 der volllommenen SHilflofigkeit der hausinduftriellen Perjonen zu
erwarten, daß dieje Leute auf dem Wege der Selbithilfe ihre Lage beflern, daß ift Utopie.
Sch bin der Meinung, daß man bier durch irgend welche autoritäre Organe, Staat oder
Gemeinde, in Verbindung mit Unternehmern und Arbeitern Mindeftlöhne für die in
dem betreffenden Bezirke produzierten Waren aufftellen follte.” (Prof. Philippovich.)
Ähnliche Gedanken vertritt jchon lange Profefior Schmoller, und fehr nahe flieht dem
auch der Borichlag von Prof. Brentano, die Heimarbeiter zwangsweiſe zu organifieren.
Die Einrichtung, an die wir bei und zur Verwirklichung ſolcher Gedanken
anzufnüpfen bätten, ſcheint mir das Gemwerbegericht als Einigungsamt zu fein. Won
Sahr zu Jahr bat es ſich mehr bewährt und das allgemeine Vertrauen erworben.
Mit zwei Befugniffen müßte es für feine neue Aufgabe ausgeftattet werden: einmal
im allgemeinen mit der Befugnis, beide Parteien, Unternehmer und Arbeiter, zur
Verhandlung vor dem Einigungsamt zu zwingen, auch wenn ed nur von der einen
Seite angerufen wird; und zmweitend müßten die Mindeftftüdlöhne, deren Feſtſetzung
e8 durch Zureden und nötigenfalls durch Schiedsſpruch herbeiführt, gefeßliche Kraft
haben. Es müßte mit hohen Strafen belegt werden, geringere als diefe Mindeft:
ftüflöhne zu zahlen. Die Erhöhung der Heimarbeitälöhne, die dadurch einträte,
würde die Unternehmer veranlaffen, die Technik zu verbefjern, große Werkftätten ein:
zurichten, Mafchinenkraft im großen anzuwenden; denn die Kraft der Stepperin, bie
die Nähmaschine tritt, wäre dann nicht mehr billiger ala die Dampfkraftl. So würben
durch die höheren Löhne ganz von jelbft zum großen Teil Betrieb3werfftätten und
Fabriken an die Stelle der Hausinduſtrie treten; und man follte das, nach Dr. Webers
Vorſchlag, in der Großftadt durch die Anlagen von Borortbahnen und auf dem Lande,
namentlich im Gebirge, durch die Anlage von Kleinbahnen unterflügen: dadurch würde
in den Vororten der Großftädte und auf den Gebirgen die Anlage von Fabriken er:
möglicht. Wenn aber dann trogdem die Errichtung von Betriebswerkſtätten nicht recht
vorwärts gebt, weil die Heimarbeit, ſelbſt wenn fie höher bezahlt ift als die Fabrik—
arbeit, durch die Erſparnis an Miete, Beleuchtung u. f. w. für den Fabrilanten oft
Haußinduftrielle Frauenarbeit. 545
doch noch das Billigere ift, jo fann man dem @ewerbegericht als Einigungsamt die
Befugnis geben, durch einen Schiedsſpruch mit gefeglicher Kraft auch die Herftellung
von Betriebswerkftätten den Unternehmern aufzuerlegen. Das Geſetz, das dem
Gewerbegericht diefe Befugnis gäbe, Könnte ihm zugleich vorfchreiben, daß es von ihr
feinen Gebrauch zu machen babe in folgenden Fällen: 1. wenn bie Leute auf dem
Lande zu weit von einander wohnen und daher vorziehen, zu Haus zu arbeiten,
2. wenn ober foweit die Arbeiterinnen Witwen, verheiratete oder gefchiedene Frauen
find, und 3. wenn der Unternehmer ſich verbürgt, daß die Räume, in benen für ihn
gearbeitet wird, den gefundheitlichen Bedingungen entfprechen, die für Fabriken vor
geichrieben find. Dieſer legte Fall wäre aljo der aller Heimarbeiterinnen oder Heim:
arbeiter, die in ausreichender und angenehmer Wohnung arbeiten; beſonders alfo ber
Frauen und Töchter des Bürgerftanded. Trifft der Gewerbeinfpeftor in dieſem leßten
Fall trog der Bürgfchaft des Unternehmers Leute, die für ihn arbeiten, in vorfchrift:
twidrigen Räumen, fo ift der Unternehmer dann fo zu beftrafen, wie wenn feine Fabrik
den gefundpeitlichen Vorfchriften der Gewerbeordnung nicht entipricht. Für bie Fälle
unter 1 und 2 gilt das natürlich nicht. Selbftverftändlich wäre der Zwang, daß der
Unternehmer die Heimarbeiter regiftriert und Lohnbücher an fie ausgiebt, für das
alles die Vorausfegung.
An die Heimarbeit der Mütter wäre alfo eine andere Bedingung als die des
Mindeſtlohns geknüpft. Wolte man dem Unternehmer Vorfchriften machen über die
Heime, in benen fie arbeiten, fo würde man damit nicht® erreichen als indirekt diefe
Ärmften zu peinigen. Ihre Wohnungen zu beffern, ift Sache der Wohnungs: und
Bodenpolitit. Etwas beffer würden ihre Wohnungen ofnehin durch die Erhöhung der
Löhne. Durch diefe würde auch ihre Arbeitszeit kürzer; und wenn einerfeit® durch
die Betriebswerkftätten mit Mafchinenkraft, in die die große Mehrzahl der Heim—
arbeiterfchaft allmählich übergeführt würde, die Nachfrage nach Arbeitern ſich verringern
würde, fo würde andrerfeit3 jede Heimarbeiterin nur noch fo viel fürzere Zeit arbeiten,
daß dadurch die Nachfrage nach Arbeitskräften wieder gefleigert und fomit die Löhne
über die Mindeftftüdlöhne hinaus gehoben würden.
Überhaupt Handelt es fi ja nur um Mindeftftüdlöhne: es bleibt der Arbeiter-
Schaft jedes Geſchafts und jeder Gegend unbenommen, auf ihrer Grundlage ſich durch
träftige Streits höhere Löhne als dieſe Mindeftlöhne zu erringen. Auch find es nur
Mindeftftücklöhne, die ich vorſchlage; die Gefahr, die bei Mindeftzeitlöhnen befteht,
daß bie weniger leiftungsfähigen Arbeiter brotlos werden, ift hier außgefchloffen. Für
die Heimarbeit ift ja aud überhaupt nur Stüdlohn möglich. Anders wäre es bei
dem Mindeſtlohn für die ungelernten Tagelöhner, wie ihn Dr. von Zwiedineck-
Südenhorft vorfchlägt, der am Schluß feines kürzlich erfchienenen Buchs über „Lohn:
politit und Lohntheorie” im übrigen zu derfelben Forderung kommt wie ich. Bei
Mindeftftüi cklohnen aber find alle Bedenken hinfällig, auch das, ob fich bei wechfelnden
Moden und vielerlei verfchiedenen Stüden Stüdlohntarife aufftellen laffen; die meiften
englifchen Gewerkvereine beftehn auf Stüdlohn und ändern ihre ausführlichen Stüd-
lohnliſten aljährlih. Aufmerkſamkeit erfordert allerdings die Höhe der Stüdlöhne;
man kann die für Heimarbeit höher fegen als die für die Werlftatt, fo lange
die Heimarbeit für den Unternehmer doch noch billiger bleibt als die der Werkſtatt:
fegt man die Heimarbeitslöhne aber zu hoch an, fo befeitigt man, ohne es zu wollen,
die Heimarbeit ganz und damit auch die der Mütter.
35
546 Hausinduftrielle Frauenarbeit.
Eine Schiwierigfeit entfiebt auch dann, wenn eine Induſtrie fi nur mit un:
menfchlich niedrigen Löhnen halten kann. Der Gewerberichter dürfte dann Doch nur
ber Feſtſetzung ſolcher Mindeftlöhne zuftimmen, von denen die Arbeiterfhaft leben
fann. Sft es der betroffenen Induſtrie nicht möglich, durch Erfindungen und Ber:
befferung der Technik auch mit folchen Löhnen zu beftehen, dann möge der Mindelt-
lohn ihr den Todesftoß verjegen. Mit Recht fagt Profeflor PHilippowih: „Hat eine
Induſtrie, welche Außerlih Waren, thatfächlich aber vermöge der Bedingungen, unter
denen fie die Waren berftellen ließ, Arbeit Gefundbeit, Stärke, Volkskraft
erportiert, Anſpruch auf Schonung?”
Ein Hindernid muß noch aus dem Meg geräumt werden: in Stadt und Land
und in den großen und Heinen Städten ift das Leben verjchieden teuer, der Mindefllobn
muß daher verjchieden hoch fein in verjchiedenen Gegenden; dabei aber muß vermieden
werden, daß die höher gelohnten Plätze durch die niedriger gelohnten unterboten werden.
Es ift daher eine Drganifation jede Gewerbes, für das Mindeftftüdlöhne feitgejegt
werben fullen, über das ganze Reich Hin nötig. Arbeiter und Arbeitgeber müſſen
Vertreter an einen Zentralpunkt jchiden, wo vor dem Gewerbegericht Mindeſtlöhne
dieſes Gewerbes für ganz Deutjchland vereinbart werden. Für die verfchiebenen
Gegenden werden zu dem allgemeinen Mindeftlohn Zufchläge feftgejegt, und bier ift
vielleicht der Ausweg der englifchen Hutmacher gangbar, von dem das Ehepaar Webb
in „Industrial democracy“ berichtet: der Unterichied der Preiſe für die ganze Lebens—
baltung entjpricht ungefähr dem der Mieten; nach diefen, deren Durchichnitte ja befannt
find, werden die Zufchlagsprozente berechnet. Die Unterſchiede der örtlichen Minimal⸗
löhne werden dann durch andere Vorteile des teureren Platzes und durch die größere
Feinbeit der Waren, die diefer herftellt, ausgeglichen, ebenſo, mie das auch jetzt der
Fall if. Unnatürlich niedrige Löhne, die jegt an gewillen Plägen die Arbeiterihaft
erdrüden, um die andern Pläße zu unterbieten, würden dadurch bejeitigt.
Sobald durch die Mindeftlöhne eine „Sanierung ded Marktes” in der Heimarbeit
erreicht ift, fann man auch dem Verbot der Fabrifarbeit der verheirateten Frauen und
der gefchiedenen und verwitweten Mütter näher treten. Über die Schädlichkeit der
Fabrikarbeit diefer Frauen brauche ich fein Wort zu verlieren; die Spagen pfeifen es
von den Dächern, was die Außerhausarbeit der Mutter für die Hinfterbenden und
verwahrloften Kinder, für die Wirtfchaft, für den Mann bedeutet. Aber erft wenn
die Löhne der Männer in ihren Mannezjahren ausreichend für die Emährung der
Familie, die Arbeiterverficherungen ausgebaut und die Löhne in der Heimarbeit
menjchenwürbdig fein werden, kann man daran geben, dem Proletariat die Familie
zu erhalten. Wenn man in dem Buch von Collet die Kindheit3erinnerungen eines
Menjchen lieft, dem durch die Fabrifarbeit die Mutter genommen war, jo wünſcht
man, diefer Tag käme bald. Alſo reformiere man bald die Hausinduſtrie!
Durch eine Reform, wie ich fie worichlage, würden von jelbft gewille Berufe,
für welche die Heimarbeit geeignet ift, die Berufe der Mütter werden, die auf Erwerbs:
arbeit angemwiejen find. Die Mütter ziehen die Heimarbeit, wenn fie anftändig bezahlt
wird, allgemein vor, und fie würden als Heimarbeiterinnen von den linternehmern
borgezogen werden, weil außer dem Minimallohn ale bejchräntenden Beſtimmungen
bei ihnen weafielen. Die Verbindung von Fabrit und Heimarbeit ift auch für den
Fabrifanten vorteilhaft. Nur eins ift gefährlich: in der Fabrik würde das ganze Jahr
gearbeitet werden, die heimarbeitenden Mütter aber würden nur in der Hauptarbeits⸗
Haudinduſtrielle Jrauenarbeit. 547
faifon herangezogen werben und in der flauen Zeit brotlos jein. Ich weiß da kaum
einen andern Ausweg als den, daß dieſe Frauen in verſchiedenen Gewerbszweigen
thätig fein müßten, deren Arbeitsfaifons mit einander abwechſeln. Das gefchieht
icon jest, aber den meiften fehlt es dazu an der nötigen allgemeinen Vorbildung.
Das ift ja ber wundefte Punkt aller Frauenarbeit: die mangelnde Vorbildung!
In der Konfektion zum Beifpiel werden die Mädchen oft in Furzer Zeit notbürftig
auf ein paar Handgriffe eingelernt, zahlen dafür Lehrgeld, werben als Urbeitäfräfte
ausgenügt und haben nachher ebenfo wenig gelernt mie vorher. Die fchlechte Aus:
bildung, fagt Gertrud Dyhrenfurth, ift geradezu eine Gefahr für die ganze Ronfeltion.
Gegenüber der Konkurrenz billiger arbeitender Völter kann überhaupt nur in der
Qualität der Waren unfre Zukunft liegen. Für Frauenarbeit und Hausinduftrie gilt
das befonderd. Der Dann kann aud in ungelernter Arbeit durch feine Körperkraft
etwas verdienen, bie Frau aber ift als Arbeiterin fo gut wie wertlos, wenn fie nicht
etwas kann, wenn fie nicht etwas gelernt hat. Und für die Heimarbeit gilt bie
Forderung von Profeffor Brentano: für Qualitätswaren Schulung, für Duantitäts-
waren Befeitigung der Hausinduſtrie. Die Heimarbeiterin alfo müßte zu einer
gewiſſen Kunftfertigleit ausgebildet fein. Das gefchieht teilweife in der Fabrik, aus
der fie nach der Verheiratung in die Heimarbeit übergeht. Aber in ben meiften
Gewerben ift das nicht möglich. Nur Vorbildungsanftalten, die zu verſchiedenen
Berufen und vor allem zu ſolchen vorbereiten, die zu Haufe ausgelibt werden können,
find Heutzutage im ftande, diefe Haffende Lüde auszufüllen. Und nur ber Staat kann
folche weibliche Fortbildungsſchulen unentgeltlich, obligatorifh und über das ganze
Land Hin einführen. Auch das, was die Mädchen des Volks jegt meift nur als
Dienftmädchen und die meiften überhaupt nicht Iernen, alles was fie als Mutter und
Hausfrauen können und wiſſen follten, müßte die obligatorifche Fortbildungsfchule fie
lehren. Jetzt wachſen namentlich die Arbeiterinnen ganz ohne ſolche Kenntniffe in die
Pflichten der Mutter und Hausfrau hinein: Das fozialdemokratifhe Verlangen, bie
Kinder lieber in Anftalten und die Erwachſenen in gutgeleiteten, gemeinfamen Wirt:
ſchaften unterzubringen, ift unter den jetzigen Verhältniffen ganz begreiflih. Alſo
entweder Anftaltöpflege für die Kinder, Befeitigung des Einzelhaushalt® und gänzliche
Auflöfung der Familie — oder gründliche Ausbildung aller Mädchen des Volks in
Haushaltung, Stindererziehung und in Berufen, die ald Fertigkeiten für die Heimarbeit
geeignet find. Dazu muß der Staat zwingen durch obligatorifchen Unterricht, und
dazu muß er die Möglichkeit geben, indem er die Erwerbsarbeit aller jungen Mädchen
bis zum 16. Jahr auf den halben Tag einfchränkt: die andre Hälfte des Tages
gehört ihrer Ausbildung. Nur unter diefen Vorausfegungen hat es einen Wert, die
Heimarbeit der Mutter zu erhalten.
Daß die Arbeiterverficherung auch auf die Arbeiter und Arbeiterinnen der Hauss
induſtrie ausgedehnt werden muß, ift eine Forderung, die ſich faft von felbft verfteht —
trotz der Schwierigkeiten, die dabei zu überwinden find. Und auch als Konfument,
als der größte Käufer, Tann der Staat bei feinen großen Beftellungen bie aus—
gebeutete Heimarbeiterfchaft bedenken: in vielen andern Ländern, vor allem in
England, haben die Behörden fchon lange begonnen, in die Verträge mit ben
Lieferanten Lohnklaufeln aufzunehmen, die den Arbeitern anftändige Löhne ausbebingen.
Und wenn ich es auch für zu weitgehend halte, in ben Verträgen jede Heimarbeit
auszufchließen, jo ift doc ein Verbot de3 Weitergebend an Zwiſchenperſonen und vor
35*
648 Die Laeisz.
. allem die Lohnklauſel jegensreih. Bei uns ijt dergleichen noch jo gut wie unbekannt.
Der Staat als Arbeitgeber foll in der Bernfteininduftrie die Heimarbeiterinnen
beſonders jchlecht zahlen, das Nähen von Militärbinden wird jammervoll bezahlt,
und bei den Lieferungen für die Armee wird von geringem Berdienft der Arbeiter
und gewaltigen Gewinnen der Unternehmer berichtet.
Aber vielleicht erleben wir es doch noch, daß man über Vorfchläge, ähnlich
denen, die ich hier gemacht Habe, in Erwägungen eintritt. Bielleicht dringt doch die An-
ſchauung allmählich in weitere Kreife, die der Abgeordnete Dito von Bigmard-Schönhaufen,
am 18. Dftober 1849, in der preußifchen Kammer mit den Worten außfprad: „Ich
glaube, es möchten uns unjere wohlfeilen Röde aus dem SKleiderladen zulegt
unbehaglich auf dem Leibe figen, wenn ihre Verfertiger daran verzweifeln müſſen,
fich auf ehrliche Weile zu ernähren.”
RE
Ze dr Kaeisʒ ID
R. Gröning.
Nachdruck verboten. un ———— —
Orr
—
A183 vor einigen Jahren der Bund deutſcher Frauenvereine in Hamburg tagte,
RR * re: und man fich zur Schlußfeier im Rathauskeller einfand, überflogen meine Augen
PEN. die Verſammlung, und ich dachte daran, ob es mir gelingen würde, Karl Laeisz
zu entdeden. Diefer Name bedeutet mir nämlich ein Stüd Familiengefchichte, und ich
hatte nicht nur am Vormittag in einem der Rathausfäle das Bild ſeines Potofi, diejes
einzig daftehenden Fünfmafters, erblidt, fondern auch die Freude gehabt, während
der folgenden Hafenfahrt einige der B.- Schiffe, (Peru, Bernambuco, Pudel ıc.,) mit dem
wohlbefannten und oft gehörten F. L. in den hanfeatifchen Farben im Top zu erbliden.
Welche Bedeutung der Name Laeidz befigt, ift nunmehr auch weiteren Kreiſen flar
geworben, jeit unſer Kaiſer den Potofi befichtigte, und Prinz Heinrich dem todkranken
Träger des Namens die legten Grüße feines Bruders überbrachte. Man weiß jebt,
was man in den Kaufmannskreiſen der ganzen Welt allerdings längit wußte, daß bie
Firma Ferd. Laeisz eines der größten Rhederei- und Afjeturanzgejchäfte ift, und ibr
Salpeterimport der Ohlendorff'ſchen Guanveinfuhr gleich teht.
Nun haben fich die Thüren des äußerlich unjcheinbaren Hauſes am Neuen
Sungfernftieg wiederum geöffnet, um dem dritten Laeisz den Weg zur legten Nubejtatt
nach dem abgelegenen Ohlsdorf frei zu geben. Ein königlicher Kaufmann wurde
beftattet und mit königlichen Ehren. Und mie bei dem Begräbnis der Mutter, jo
barrte auch jegt eine nach Hunderten zählende Menge auf der Straße, und mande
Thräne ift wiederum gefloffen. Unter den nach Hunderten zählenden Kranzipenden
waren auch SFrauenvereine vertreten, und die legte Gabe der Witwe durfte eine
Krone fein, als Zeugnis gleichfam, daß der Berftorbene Anrechte auf die Bürgerfrone
beſeſſen. Neben ihr hatte der unfcheinbare Kranz aus dem Laeiszſtift einen Ehren:
plat erhalten.
Sp möchte ich jegt von den Eltern des Verftorbenen reden, den Gründern dei
heutigen Weltgefchäftes. Als wir, meine Mutter und ich, vor einem Menjchenalter
Tie Laeisʒ. din
deren Haus zum erftenmal auffuchten, machte ich zugleich die erfte Fahrt über die
Grenze meiner engeren Heimat. Damals lernte ich noch ein Stüd des alten Hamburgs
tennen. Die Strede, die man heute mit dem Blipzug in faum zwei Stunden
durcheilt, beanspruchte eine volle Nachtfahrt mit der Pol. Es war meine erfte
Eiſenbahnreiſe und die legte mit dem Eilwagen. „Warum wollt ihr nur bis Harburg
fahren?“ Hatte man in Bremen gefragt, wo die Fortfegung diefer Weltfahrt reguliert
wurde und malte und zugleich die Annehmlichkeit einer Fähre aus, die in früher
Morgenflunde paffiert werden mußte. Damals erblidte man in Hamburg noch den
nach englifhem Vorbild blau gefleideten Konftabler mit feinem Stabe, der heute durch
den preußifchen Schugmann verdrängt if. Auch die Überbleibſel des Gängevierteld
wurden uns durch Vermittlung der alten Qaeißz gezeigt, wie wir fie fchlechtweg zu
nennen pflegten. Und fo oft wir den Landungaplat der Alfterdampfer betraten, waren
mir von einer Schar jugendlich anmutiger, in farbig echte Tracht gekleideter Vier
länderinnen umgeben, die baten: „Mir werden Sie doch Blumen ablaufen, Madame
Laeisz?“ Jetzt haben ſich auch diefe Figuren aus dem Hamburger Straßenleben
verloren, und erblidt man noch eine Vierländerin in Et. Pauli, dann ift fie ſicherlich
weder jugendlich noch farbig gekleidet.
Die alten Laeisz fanden damals bereit? auf dem Höhepunkt ihres Anſehns,
zu dem taftlofes Schaffen fie geführt hatte. Ihr bebaglicher Landfig in Eimsbüttel,
ihr ftattliches Winterquartier am Jungfernftieg befundeten das. Sinnfälligen Prunk
zu treiben aber überließen fie dem Sohn, der nunmehr auch ein alter Laeisz geworden
und grade damals fein prächtiges Heim auf der Uhlenhorſt hart am Waller bezogen
hatte. Doch auch da verriet fih ein Streben nad Einfachheit, wenigſiens in ber
Erziehung de3 Sohnes und einzigen Erben. „Bei und Kaufleuten,“ erläuterte eines
Tages der alte Konful, „pflegt der Vefig felten die dritte Generation zu überdauern;
was die erfte erwirbt, hält die zweite noch zufammen, aber bei der dritten tritt der
Verfall ein.” Das geihah Hier freilich nicht, fondern es durfte ihn mit Stolz er:
füllen, daß fein Enfel auf der von ihm betretenen Bahn der öffentlichen Wirkjamfeit
weiter ſchritt. Dagegen mußte es fchmerzlih anmuten, daß die Fortdauer des Haufes
ſtets nur auf zwei Augen beruhte — die jegigen Träger des Namens Laeisz find ſchul—
pflichtige Knaben.
Eson damals, vor mehr als dreißig Jahren, galt der alte Konſul Laeitz als
eine Berühmtheit. Er hatte als Hutmacher und Buchbindergefelle die Welt durch:
zogen, um als vielfacher Millionär zu enden. Frauenfleiß und Umjicht hat redlich
beigetragen, biefe Höhe zu erreichen. Sie waren Emporlömmlinge, die alten Laeisz,
im beften, fchönften Sinne des Wortes und fchänten fich defien nicht. Auch ala
Driginale durften fie gelten. Won ihr hörten wir oftmals, daß fie fi an der Her:
ftelung von Frauenhüten beteiligt hatte, die für Afrika beflimmt waren, und er ſprach
mit beiterem Behagen von den Abenteuern feiner Lehr: und Wanderjahre, und gern
verziehb man ihm 3. B. bei einer Wanderung dur den Hamburger Hafen die
Heine Schwäche, wenn er in feinem gewohnten Platt fagte: „Dat iS allens min.”
War er doc offenherzig genug, auch auszusprechen, daß erit mit dem Eintritt
feined Sohnes, des geichulten Kaufmanns, das Geſchaft feine Weltftelung erlangt
hatte. Er felbft hatte es fo weit gebracht, mit altrenommierten Firmen in Verbindung
zu treten.
Unfer damalige Tagesprogranım war ein fehr einfaches und beftand haupt:
ſachlich in der Morgenfahrt zur Stadt und der Nachmittagsfahrt nach dem ſpäten
Mittagsefien in die Umgegend, oft fiber die dänifche Grenze hinaus, die damals noch
in lebhafter Erinnerung jtand. Ein Beſuch von Wilkens Steller, jetzt Pforte, ſpielte
dabei feine Rolle, wohl aber wurde und mande Wohlfahrtseinrihtung gezeigt.
Wenn wir früh morgens das im Tberftod gelegene Frühſiückszimmer betraten,
erſchien bald nach uns der alte Konſul, der jchon fein Morgenbad im Gartenteich
genommen hatte, mit den — Strümpfen in der Hand, die er mit Nüdficht auf die
Gäfte auf den am Eingang ftehenden Stuhl legte, von wo die Hausfrau fie ebenfo
leife in das nebenan liegende Schlafzimmer beförderte. Am Abend verfchaffte ſie mit
550 Die Laeisz.
der gleichen ſtillen Furſorge der unbequemen Halsbinde im Schlüſſelkorb Unterkunft.
In ſolchen und anderen kleinen Zügen, in der unermüdlichen Fürſorge um die Geſundheit
und das Wohlbefinden des Gatten, verriet ſich die ſtille Herzensgüte, die man auch
am Sohne rühmte und die auf ihn übergegangen iſt. Nach dem Fruͤhſtück widmete ſich
der alte Herr der Gartenpflege, bis der Augenblick kam, wo er ſich unter dem Bei—
ſtand ſeiner Frau zur Fahrt in das Geſchäft rüſten mußte. Die hilfloſe Einfalt, mit
der er ſich bisweilen von allen Seiten betrachtete, hatte etwas Ruhrendes, wenn er
dabei außrief: „Was, Mus, haft du mir einen ganz neuen Rock angezogen? Tas
wußte ich ja nicht.” Es war auch ein hübſcher Anblid, ihn mit Roſen beladen ab-
fahren zu ſehen; die wurden fpäter an die Börlenbefucher verteilt, die fie als Laeizzjche
Roſen der Gattin heimbrachten.
Die alte Laeidz ging inzwifchen ihren häuslichen Pflichten nach, zu denen auch
die Bejorgung des Frühſtücks für Bater und Sohn gehörte. Dann fuhr auch für
uns der Wagen vor, zum shopping, wie man in England jagt. Allerdings betraten
wir dabei feine Modemagazine am NReejendamm oder Alten Sungfernftieg, ſondern
jolive Läden in ftillen Nebenftraßen. Das Ermworbene wurde zulammengebalten, doc
auch mit weiler Hand an andere verteilt. Auf dem Gebiet des Wohlthuns wird ihr
Name fortleben, wie der einer Amalie Sieveling und Emilie Wüftenfeld, die gleichfalls
ihre Pflichten als Bürgerinnen erfüllt haben. Als man in den Hamburger Bundes:
tagen ziemlich geringſchätzig äußerte: „Ach was, die bat nichts für ung gethan“, durfte
ich daher mit vollem Recht proteftieren. Die alte Laeisz hat fich, ſoviel ich weiß, der
Frauenſache öffentlich nicht angefchloffen. Bielleicht ift die Anregung dazu auch nicht
an fie herangetreten; doch die Gründung einer Ortdgruppe des Allgemeinen Deutichen
Frauenvereingd würde ihrer Aufmerkſamkeit nicht entgangen fein, und den auf Rinber-
und a en gerichteten Bundesbeftrebungen würde fie vollen Anteil entgegen:
ebracht haben.
s Alles innerlich Sohle, aller weſenloſe Formelkram war ihr ein Greuel. Offentlich
hervorzutreten, liebte fie jo wenig, wie fpäter der Sohn, und das Auftreten jchellen:
lauter Thoren pflegte fie mit fcharfem, ſchnell treffendem Wort, das ihr zu Gebote
Stand und fie manchmal gefürchtet machte, abzufertigen. Oft geſchah es dagegen, daß
fie fih in jpäter Abendftunde in unfcheinbare Tracht büllte, um ſich unerkannt jelbit
zu überzeugen, wie die von ihr geipendeten Gaben verwendet würden. Sie fannte
das Volk, aus dem fie hervorgegangen war und ließ fich nicht leicht täufchen. Wenn
dann der Gatte fragte: „Mus, wo willft du bin?” Fam prompt die Antivort: „Da?
geht dich nichts an, F. L.“, und er ließ fie gewähren. Troß ihres Scharfblids
blieben auch ihr gelegentliche Erfahrungen nicht erſpart, die das leiſe Mißtrauen recht:
fertigten, da8 über ihren Augenbrauen oft zu brüten fchien. So batte fie fich einit
mitleidig bewegen laflen, ihren Rod auszuziehen und einer Armen zu jchenfen, die fie
auf ihre ärmliche Tracht hingewieſen hatte. Als fie am andern Tage den Etand
eines Straßenbändlers pajfierte, ſah fie dort ihren Nod hängen, der direft au Japan
oder China importiert und fofort Tenntlih war. Der ihr mohlbefannte Händler
ſchwor jedoch bei dem Gotte feiner Väter, den Rod mit einer Ladung anderer von
einem Schiff gekauft zu haben. „Was ſollte ich machen?” jchloß fie lachend, „ich habe
mir meinen Rod zurüdgefauft und trage ihn noch.” Die Thür, die zwiſchen Haus
und Flureingang de3 Haufes am Jungfernſtieg ein unbemerktes Betreten und Berlaffen
ihres Arbeitszimmerd geftattete, war an fich ſchon ein Beweis für die Ausdehnung
ihres Wirkens.
Zu feinen Eigentümlichfeiten gehörte e8, daß er wohl abends mit den Worten
jein Haus betrat: „Mus, morgen gah id weg”, und fragte fie, wohin die Reife gehe,
dann antwortete er wohl: „Ob, bloß nach SKtonitantinopel,” oder wohin es fonft war.
Das war dann für fie das Signal, einen Koffer mit allem Notwendigen zu paden
— mit dem ihr Gatte abreifte, aber nicht zurüdfehrte; denn die gebrauchten Gegen:
ftände wieder in den Koffer zu legen, daran dachte er nicht. Syragte man ihn, was
er anfange, wenn er nicht3 mehr babe, dann antivortete er forglod: „Ob, ich bleibe
zu Haufe und fage dem Stellner, daß er mir etwas kaufen fol.” In feiner Anfpruchs:
Die Fach. B81
loſigleit gehörte er in die Kategorie der Millionäre, die nicht als ſolche geboren ſind.
Eine Uhr trug er nicht bei ſich und würde fie auch wobl immer verloren haben,
Ihm genügte ein Blick auf die Sonne, um die genaue Tagedſiunde zu erfahren, und
meine allerdings höchſt kümmerliche Fähigkeit, den Stand der Sonne zu beurteilen,
babe ich mir damald auf unferen gemeinfamen Ausfabrten an der Seite des alten
Konſuls erworben. In ihm verkörperte ſich ein Shakeſpeareſches Element: ſonnige
Heiterkeit und kühne Wageluft, die alles, felbft das Yeben dranfegt und dadurd)
wohl den Erfolg eines Unternehmens verbürgt, folange es wenigſiens die erften
ahnt gilt. Auch die raftlofe Unruhe lebte in ihm, von ber Hamburg durchſeht
erſcheint.
Seiner Waghalſigkeit und Gewandheit ſchien nichts unmöglich. Einſt machte
er mit vierundſechzig Jahren in Trieſt auf einem Dampfer die Bemerkung, ein Sprung
aus dem Maftlorb in dad Meer müfje den Offizieren doch eine Nleinigfeit fein. Es
wollte fi feiner dazu verheen, und fofort that er es. „Daß es lebensgefährlich
war, wußte ich ja,” meinte er jpäter treuberzig, „aber ich hatte davon geſprochen und
mußte es nun doch ausführen.” Seine Frau Außerte dann wohl draſtiſch, daß er
nicht eher fterben werde, als bis man ihn wie eine Rage totfchlüge. Gern erzählte
er, daß er ald ewig bungriger Lehrling feiner geizigen Meifterin einft eine Wuͤrſt
vom Boden entwendet habe. Dabei wurde er gehört, und während die Meifterin die
Treppe herabeilte, brachte er die Wurft in Sicherheit und Eletterte fü behende eine
Leiter herab, daß er noch vor ihr anlangte und bei der Diebesſuche folden Eifer an
den Tag legen konnte, daß er mit einer zweiten Wurft belohnt wurde. Soldye und
andere Erzählungen, 3. B. die feiner Brautwerbung, die man oft von ihm felbft
gehört, enthält auch die Autobiographie, die nach feinem Tode von dem Enkel heraus
gegeben wurde, aber nicht im Buchhandel erſchienen ift.
Seine Frau pflegte feiner Originalität freundlich Rechnung zu tragen, wie cs
einer Gattin zufteht. „Ich kann allerwege durchgehen“, erklärte er wohl auf einem
Spaziergang, und dann folgten wir auf das privilegierte Gebiet der Jeniſch in Flott
bed oder wohin es fonft war. Aber wie er, jo wußte auch fie ihre Etellung fehr
wohl zu wahren. So betrat jie einft morgens um 8 Uhr das Haus der Godeffroh,
und da fie wie flet3 Yen gekleidet twar, nahm die Dienerin Anftand, fie einzulaffen.
ALS fie aber ihre Karte hineinſchickte, öffneten fich natürlich alle Thüren vor ihrem
Namen, und fie hätte nicht Karoline Laeidz fein müſſen, um der Dienerin eine Lektion
zu Schenken. Bisweilen fuchte jie den Gatten in harmloſe Verlegenheit zu feßen.
Einjt fubren wir nach Blankeneſe, als ein Gewitter uns nötigte, in Teufelsbrüd Halt
zu machen und in einer unfceinbaren Gartenwirtihaft an der Elbe einzufehren. Der
alte Yaeisz ſah fih um, und äußerte, hier jei er noch nicht gewwejen, man werde ihn
wohl nicht fennen. Schlagfertig verlegte fie: „F. &., thu doch nicht jo” und
forderte ihm nach einer Weile auf, zu bezahlen, wohl wiſſend, daß er niemals (Held
bei ſich führte. Er geftand es der Kellnerin ein und fragte, ob fie ihm auf fein
ebrliches Geficht Hin borgen wolle. Sogleich wurde geantwortet: „Natürlid, Here
Laeisz.“ — „Ich Tage e3 ja, ihn fennt jeder,” jente jeine Frau hinzu.
Ob es auf dem Landiig in Eimäbüttel einen Bücherſchrank gab, weiß ich nicht
mehr zu jagen. Ihm ließ die fauimännishe und öffentliche Thätigfeit wenig Zeit
zu nachhaltiger Lektüre, und von ihr wußte man, daß fie nur medizinische Werke las.
Auf dieſem Gebiet durfte fie ich aber ihrer Kenntniſſe und Erfahrungen ruhmen.
Dagegen liebte ber alte Laeisz den Ankauf wertvoller Bilder, und es bereitete ihm
Freude, die Auimerkjamteit darauf zu lenken und zu erzählen, wie viel Tauiende ſie
ihn gekoſtet bätten. Es iit nun einmal Hamburger Art, alles auf den materiellen
Wert hin abzuihägen. Wie jeine Gattin den Beiuch der Konzerte liebte, und auch
andern gern zugänglich machte, jo war er ein eitriger Tbeaterbeiucher, une fam man,
wenn bie Voritellung begann, in jein Haus, io erbielt man jein Billet, inces er von
dem Recht des freien Eintritts Gebrauch machte, und Die Stammgähte fih wohl
fragten, wer denn beut den Kap des alten Laeisz einnäbme. Handelie es fd Darum,
ein Tbeaterdefizit aus zugleichen, dann feblte er ni
552 Die Laeisz.
An den Weltfahrten des Gatten nahm Frau Karoline keinen Antell. Syn
jpäteren Jahren mag fie ihn oft mit ihrer Sorge begleitet haben, wenn er 3. B. in
London jtundenlangem Regen troßte, um die Auffahrt zur Königin anzufeben. Es
galt als ein Ereignis, daß fie fich einmal auf langes Drängen Hin entihloß, ein
befreundete® Haus in Bremen aufzufuchen, wohl der einzige Fall, dab fie Hamburg
verlaffen hat. Das Laeiszſtift in St. Pauli war ihre Lieblingsfchöpfung — ein
Geburtätagägefchen? ihres Gatten. Es gewährte fünfzig alten oder unfähigen Leuten
ein Aſyl und läßt den Namen Laeisz weiterleben, obſchon es an Größe dem Schröder:
ftift nicht gleichlommt. Erſt ala körperliches Siechtum — fie war zulegt recht fünmer-
ih — Frau Laeisz dazu zwang, überließ fie die Sorge für das Stift ihrem
Sohne. Sie war zeitlebens eine gute Hausfrau, deren Dinerd, Hummer und Spid:
aale man zu würdigen wußte. Aufgaben, wie fie das bürgerliche Geſetzbuch an Die
Witwen jtellt, wäre fie auch im größten Umfang gerecht geworden, denn fie war
ſtets eine gute Gefchäftsfrau geweſen. Ihrer Selbftändigfeit und ihrem Scharfblid
würden auch kaum deſſen Mängel entgangen jein und die Inkonſequenzen der Befeg-
geber, 3. B. das Verbot des Börfenbefuches. Ob fie jolcher Erkenntnis Ausdrud
verliehen Hätte, ift freilich eine andre Frage. Im Kontor des Gatten war fie
beimifch, wie im eigenen Haufe, und jede Unordnung der anderen Hausbewohner fand
an ihr eine ftrenge Richterin. Sie ließ fich ftetS die Bücher vorlegen und war über
den Stand der Gejchäfte immer genau unterrichtet. „Meine Tönigliche Mutter“,
pflegte fie der Sohn zu nennen, wenn fie auf der Neueburg erichien.
Unmdglih war e8, mit dem alten Paar zufammen zu fein, ohne an beider um:
begrenztes Wohlthun gemahnt zu werden. Meine erite und legte Erinnerung an beide
ijt damit verfnüpft. So erſchien am erften Tag meines Aufenthalts im Haufe ein ein
facher Sciffelapitän, der mit bemwegter Stimme um die Gunft bat, fein neu erbautes
Schiff Ferdinand Laeidz nennen zu dürfen. Es wurde ihm nur geftattet unter der
Bedingung, daß der Enkel als Pate des Schiffes gelten jollte. Und dann fuhr ich
abermal3 nad dem ftillen Landſitz hinaus, teild aus eigenem, teild auf fremden An-
trieb, denn man batte un? von der Erkrankung der alten Frau Laeisz geiprochen.
batte mich kaum dem alten Herrn genähert, als ein junger Mann ftaub: und
ſchweißbedeckt erichien, ein Baron von Z., und mit Thränen in den Augen nach ihrem
Befinden fich erfundigte. Er erzäblte, daß er troß des Feierabends fein beſtes Pferd
aus dem Stall gezogen und halb zu Schanden geritten habe; denn er dante ihr den
geficherten Bei feines Erbguted®. Der alte Mann hörte das gütig, aber auch mit
der unerjchütterlichen Würde eines Kaufherrn an, die ihm. jo gut ftand.
Damals fchien eine Steigerung in den äußeren Berbältniffen und im Beſitz
faum noch möglich zu fein, dennoch ift fie eingetreten. Bis dahin hatte es ſchon
an gelegentlichen Ehrengeſchenken nicht gefeblt, 3. B. aus dem Kabinet Friedrich
Wilhelms IV. Später erhielt fie das eijerne Kreuz und auch, irre ich nicht, den
Zuifenorden. Eie trat damit in die Neihe derer, deren Wirken gleichſam ftaatlich
anerkannt ericheint. Ihm murde wiederholt die Aufgabe, Wilhelm I. in jeinem
geliebten Hamburg zu empfangen. AS aber vor der Diamanthochzeit vertraulich
angefragt wurde, ob dem Jubelpaar eine Bibel als Geſchenk des Kaiferpaares
angenehm wäre, erklärte der Sohn: „Ya, wenn etwas bineingejchrieben wird.” —
Es steht zu Hoffen, daß folches Selbftgefühl, auf freiem hanfeatifchen Boden erwachſen,
in unjerem Föbderativftaate nie ausfterben möge.
George Band und ihre Bebentung für Sie Franenbewegung.
Von
Anna Brunnemann.
Naqhdrug verboten.
ünfundzwanzig Jahre find vergangen, feit am 7. Juni (1876) zu Nohant
in der anmutigen Provinz Berry die Echloßherrin aus dem Leben fchied,
Sp eine treffliche Mutter ihrer Kinder, eine prächtige, märchenerzäplende Groß:
mutter, bie geiftige Freundin bedeutender Zeitgenoffen, die mütterliche Beraterin aufs
ftrebender Talente, die MWohlthäterin aller Armen und Unterdrüdten. Die dreiund⸗
fiebzigjährige edle Greifin war niemand anders ald George Sand, deren Name mit
Begeifterung von einer ganzen Generation genannt wurde, und deren Werke in unferer
fchnelllebigen Zeit beinahe nur ein litterarhiftorifches Intereffe erregen würden, wenn
wir nicht daneben dieſes bedeutende Frauenleben an fi als Beifpiel einer kühnen
Selbftbefreiung des geiſtig hervorragenden Weibes in Betracht zögen. Denn wer lieft
heute noch George Sand? An uns vorübergebrauft find die Stürme des Naturalismus
und haben bie Periode glutvoller Poefie und Iyricher Deflamation, toller himmel:
ſtürmender Phantafie und troftlofen Weltichmerzes ebenfo verdrängt, wie fie das
liebliche genrehafte Idyll unmöglich machten, das George Sand in der legten Phafe
ihres litterarifchen Schaffens pflegte. Dieſes aber wird immer und immer wieder
aufleben, weil e8 auf dem Boden klarer realiftifcher Anfchauung ſteht und firenge Ge:
ſchloſſenheit der Kompofition zeigt. Wer aber Hat noch Zeit, die romantifchen
Vhantaftereien, bie breit ausgeſponnene Gefühlsſchwelgerei zu leſen, die ſich über viel:
bändige Romane erfiredt? (George Sand ſchrieb über 110 Bände.) Nur das ernfle
litterarifche Intereſſe wird fie aus ihrer Erflarrung in ben Litteraturbüchern erlöfen
und fie noch einmal aufleben laffen in voller Dichterglut; es wird unſchätzbare zeit:
geiichttiche Dokumente in ihnen finden, die ganz beſonders für und Frauen von
eri find. Das Leben, das Handeln, die Werke der George Sand waren maßgebend
für die ganze romantische Auffaffung vom Weibe und Peiner Liebe. Als fie ſich
fpäter mehr praftiichen fozialen Fragen zumandte, behandelte fie die Toziale Stellung
Frau, und ihr Einfluß erftredt ſich tief binein in die Litteratur des Jungen
Deutſchlands. Vertiefen wir uns heute an ihrem Gebenktage in das Lebenswerk der
nur noch wenig Gelejenen; es wird nicht ohne Gewinn fein.
Zu befierem Verftändnis fei ihr Lebensgang wieder ind Gedächtnis zurüdgerufen.
Marie Aurore Dupin (George Sand) ift aus einer ſeltſamen Verquidung von
Raffen und verſchiedenen fozialen Sphären hervorgegangen jo daß fich ihr ungeftümer
Drang nad Eelbftändigkeit und Fünftleriihem Sichausleben, ihre große Vorurteile:
loſigkeit und NRüdfichtslofigkeit, ihre geiftige Überlegenheit ebenfo leicht aus Atavismus
erflären laflen, wie die gemütvolle, mütterliche Seite ihres Wefend, „ce besoin de
cherir sans cesse‘; ihre Vorliebe für das Volt und dad Volkstümliche, ihre fpäteren
hauslichen, gut bürgerlichen Neigungen. Wenn der Marſchall Morig von Sachſen,
der natürliche Sohn Augufts IL. und der fchönen Aurore von Königsmark fih nad
dem Siege von Fontenoy in den Armen galanter Frauen erholte, wenn Marie Aurore
de Sare, bie feinem Verhältnis zu einer Schaufpielerin entiproffen, mit allen frei:
geifigen Anſchauungen der Revolution genährt wurde, wenn deren Sohn endlid) als
ffizier des Empire das Leben de3 fürftlichen Großvater im kleinen fortſetzte —
nur daß er ehrlich genug war, das Kind, das ihm ein Mädchen aus dein Volke
554 George Sand und ihre Bedeutung für bie Frauenbewegung.
ſchenken follte, vier Wochen vor feiner Geburt durch Heirat zu legitimieren — was
Wunder, daß eben dieſes Kind das Hecht der Leidenschaft durch Wort und Beiſpiel
in zu weitgehender Weife verteidigte? Die intelligente Großmutter aber, in zweiter
Ehe mit dem gleichfalls geiftig Hochftehenden Herrn Dupin de Francueil vermählt.
verlieh ihr edlen, ariftofratifhen Sinn und hohe geiftige Bedürfniſſe. Vom Bater
jcheint eine loyale Ritterlichfeit, von der Mutter das demokratiſche, faft Tpießbürgerliche
Element auf fie übergegangen zu fein. 1804 geboren, verlor Marie Aurore Dupin
Ihon 1808 ihren Vater durch einen Sturz vom Pferde. Sie wurde der Mutter ent:
rilfen, als einzige Erbin von Nohant unter der Agide der Großmutter erzogen ober
vielmehr fich felbft überlaffen. Ihre Kindheit verträumte fie in dem Tieblichen
Berry, das fie oft als Knabe verkleidet durchſtreifte. Hier ſog fie die große Liebe
zur Natur ein, an der fie immer wieder nach leidenfchaftlichen Lebensſtürmen gena3
und die wie ein mildes, friedenfpendendes Abendrot ihre legten Werke und Lebens—
jahre verflärte.
Sie lad wahllos und planlos, was die Bibliotbet zu Nohant bot. Rouſſeau
war ihr erjter Lehrmeifter. Mit ihm glaubte fie an die natürliche Güte des Menſchen
und an die verberbenbringende Macht der Kultur, wie die fpätere George Sand an
den angeborenen Adel und an die natürliche Güte des Frauenherzens glaubte und ſich
gegen den Zwang beuchlerifcher und deshalb verderbenbringender Sitte empörte.
Später waren ed Byron, Chateaubriand, Lamartine, die die junge Seele mit glühender
Begeilterung erfüllten. Bedeutungsvoll wurde für fie der Tod der Großmutter, der
die Sechzehnjährige wieder mit der Mutter vereinigte. Dieſe erjehnte Vereinigung
aber brachte bittere Enttäufchung. Madame Dupin, die von einer Penfion ihrer
Schwiegermutter mit zwei Kindern aus einer früheren Verbindung in Paris lebte,
bewegte fich in einer niederen Lebensfphäre, in der die junge Aurore nicht heimiſch
werden konnte. Sie nahm die Hand des Baron Caſimir Dudevant an (1822), eines
Ihmuden Offizierd, brachte ihm Nobant zu und führte mit ihm fieben Jahre lang
das Leben einer Landedelfrau, dad nur durch einige Reifen nach dem Süden unter:
brochen wurde. Zwei Kinder, ein Sohn und eine Tochter, gingen aus biefer Ebe
hervor; fie brachten die Gatten, die fich jehr bald fremd geworden waren, nicht näher.
Der Baron Dudevant, ein rober Landjunker, hatte feine Ahnung von der geiftigen
Bedeutung ſeiner Lebensgefährtin; er trieb fie geradezu an, ihre nach Nahrung
verlangende Seele anderen zu offenbaren und quälte fie dann mit Giferfuchts:
ſcenen. 1832 war dad Maß vol. Aurore .erbat fich eine Benfion von dem Gatten
und zog mit ihrer Tochter Solange nad) Paris. Sie erhielt nur 250 Franks monatlich.
Das bedeutete für fie bitterfte Armut, Zwang zu eigenem Erwerb. Nach langem
fruchtlofen Taften entdedte fie ihr ſchriftſtelleriſches Talent. Mit Jules Sandeau,
ihrem Freunde und Landsmann, fchrieb fie „Rose et Blanche“. Bereit mit dem
nächſten Roman war fie jelbitändig; fie hatte ihre Bahn gefunden. Indiana ging
unter dem Namen George Sand in die Welt. Die Baronin Dudevant war tot;
George Sand war für die Titteratur geboren. Wer aber war George Sand? Ein
Zwitterding, das, als Student verkleidet, mit langem Überrod, malerifch geichlungener
Kravatte, einem Sammetbarett, unter dem die braunen Locken bervorquollen, in Ge
jellichaft der „berrichons“, einer Truppe junger Landsleute aus dem Berry, Theater:
premieren und Clubs befuchte, in den Studentencaf6® zu Haufe war und ſich aus:
lebte in der ftudentifch-Fünftlerifchen Boheme des Quartier latin. Doch aus der
Chryſalide entwidelte fich immer mehr und mehr ein herrlicher, farbenprächtiger Falter.
Dez Nachts ſaß die fleißige Schriftftellerin bei der Arbeit; unerfchöpflich quoll e8 aus
ihrer Feder hervor, ihre Phantafie war überrafchend fruchtbar. In jchneller Auf:
einanderfolge erjchienen die Romane Valentine, Lelia, Jacques, Andre,
Leone Le&oni. Ruhm und Gewinn ftellten fich ein, und der unfcheinbare Student
wurde eine der bedeutendften Frauen der Zeit, die Bierde der litterarifchen und fünft:
lerifchen Salond. 1836 ließ ſich Aurore Dudevant von ihrem Gatten jcheiden; ihre
Kinder und ihr Vermögen wurden ihr nad) langen, peinlichen Gericht2verhandlungen,
bei denen fie der befannte Demokrat Michel de Bourges als ihr Sachwalter unter:
George Sand und ibre Bedeutung für die Frauenbewegung. Kuh)
ſtũtzte, zugeſprochen. Ihre Unabhängigkeit war errungen. Bedeutende Männer fuchten
ihre Freundſchaft; nad einer leidenichaftlichen Verbindung mit Alfred de Mujfet,
traten ihr Beranger, Pierre, Lerour, Michel de Bourges, der Abbe Lammenais,
Ledru:Rollin näher. Eine abermals leidenfchaftliche Neigung fefelte fie lange J—
an den genialen aber fränklichen und desbalb Iaunenhaften Friedrich Chopin. Lie
war befreundet mit Liszt und der Gräfin d'agoult. Von 1837— 1848 erichienen als
bedeutendere Romane: Mauprat, Horace, les sept cordes de la lyre, Jean,
le Meunier d’Angihbault; bald nach 1848 Ia petite Fadette md la Mare
an diable. George Sand nahm Tebhaften Anteil an der Nevolution von 18-18,
Dur) die Junitage ernüchtert, gab fie ihre „demission politique“*, um nach dem
Staatöftreich noch einmal in politiicher Miſſion hervorzutreten, indem fie für zahlreiche
Verbannte mit rührender Beharrlichfeit bei Napoleon III. um Begnadigung nachſuchte.
Zn ihrem geliebten Berry alternd, jchrieb fie im ungeſchwächter Echaffenstraft
bis zu ihrem Tode Nomane, Theaterftüde, Kindergefchichten und ihre Lebensgeſchichte;
durd eine ſehr ausgebreitete Korreſpondenz ſtand fie mit allen bedeutenden Ne:
präfentanten der jüngeren litterarijchen und fünftleriichen Generation in Verbindun
fie widmeten ihr eine jchranfenlofe Verehrung. Guſtave Flaubert nannte fie „una che
Gent und fie ward dem einfamen Sonderling eine tröftende, wahrhaft miütterliche
reundin.
Die bekannteſten Werke ihres Lebensabends find: Le Marquis de Villemer,
les beaux Messieurs de Bois-dore, les Confessions d’une jenne fille,
Durch ihr geruhigtes Altern, ihr liebevolle Wefen Löfchte fie die Erinnerung an das
abenteuerliche Bohemetum zu Anfang ihrer Carriere aus; nur die edelften Eigenfchaften
der George Sand findet man in der Schloßherrin zu Nohant wieder: vollkommene
Vorurteilsloſigkeit, volltommene geiftige Freiheit und Gefundpeit, mütterliche Hingebung,
oder, wie fie ald Motto zu ihrer Lebenzgeichichte fo treffend fagte: „Charite envers
les autres, dignit@ envers soj-meme.“ Auch das im fi) gelehrte, mehr cms
pfangende als gebende Weſen war geblieben. George Sand war niemals, wie bie
meiften Franzöfinnen, geiltreich und überiprudelnd, fondern eher finnend und mit großen
Augen laufchend, die Ideen gleichfam aufiaugend, um fie erft wieder unter ihrer un:
ermüdlichen Feder hervorquellen zu laſſen.
Drei Produftiondepochen treten im Lebenswerk der großen Schriſiſtellerin ſcharf
hervor. Sie find eng mit ihrem äußeren Lebensgang verknüpft und greifen mur
wenig in einander über: die romantijche, Die ſoziale und die idulfifche. Zunachn iſt fie ganz
fie jelbft, das leidenfchaftliche, von glübender Phantaſie bejeelte Weib, das die Hudy:
gehenden Wogen der Romantik tragen und an dem alles überjtrömendes, jubjeltives
Empfinden it. Auf der Höhe des Lebens umtobt fie der Zeittampf, das Aufruhr:
geichrei der Nevolution; ſie ſtürzt ſich mit dem ihr eigenen Ungejtüm mitten hinein;
fie nimmt die Jdeen bedeutender Führer fajt fanatiich auf, um ihnen mit Hilfe ihrer
kühnen Phantaſie Geitalt zu verleiben. Bisweilen trifft jie überraſchend gui den Ton
der Zeit und zeichnet wabrbeitägetreue Menſchen; Liemweilen verjagt ihre Kraft, ie
wird bis zur Ungenießbarkeit weitſchweifig und theoretilierend. Nach Überwindung
aller politischen Stürme findet fie ihr Gleichgewicht und ihren künſileriſchen Menſchen
wieder; jie fongentriert fich und gelangt zu innerer Harmonie. Sie ſchafft Meiſier⸗
werfe intimer Heimatkunſt. Als litterariiche Produkte von bfeibendem Wert itehen
dieje legten Werke am böchſten. Wir, die wir der Frau als Eelbitbefreierin, ald Vor⸗
tämpferin für die großen Umgeſtaltungen, die ſich allmählich in der jozialen Lage ber
Frau vollzieben iollten, näber treten möchten, baben vorwiegend die beiden erjten
Perioden ihres Schaffens au betrachten. Zunächſi die romantiiche.
Der Student George Sand ware wohl im WVobmetum untergegangen, hätte
er nicht feine eminente litterariiche Begabung entdedt. Tie Frau aber, die mit
„Indiana“ eine jo geniale Probe ihres Könnens abgelegt, Durite ſich mit jouveräner
Vorurteiläloiigteit und Kudüchtstoügkeit erlauben, ter Seielihait, die fie io lange
unterdrüdt, den ;sehrebandihub binzuichleudern. Sie feiert zunachſt mit allen ibr zu
Gebote stehenden Mitteln das Recht der Leidenichait, das Anrecht Des weiblichen
556 George Sand und ihre Bedeutung für die Frauenbewegung.
Individuums auf jelbit gewähltes Glüd. Sie tritt jofort in offenen Kampf gegen
die Gejellichaft. Deren Ordnung, auf eine Ehe gegründet, die durch eine beuchlerifche
Sitte gefälfcht und verderbt wird, muß völlig ungeftaltet werden, und das reformatorifche
Element wird die reine Liebe fein. Brunbildengleich verteidigt George Sand die
Liebesleidenjchaft ala elementare, unbezwingliche Naturkraft gegen bie kaltherzige
Frida, das heuchelnde Geſetz harter Sitte. „Indiana“ ift ein Niederichlag ihrer Er⸗
bitterung gegen die Form der Ehe, die fie jelbit fennen gelernt Bat. In „Valentine“
nimmt fie mit entzüdenden Einzelheiten und umvergleichlicher Poeſie das Thena der
unbeiligen Convenienzehe wieder auf, die nur Unglüd im Gefolge Hat. Hier heißt es
einmal: „le mariage est toujours une des institutions les plus barbares que la
societe ait &ebauchees; je ne doute plus qu’il soit aboli, lorsque l’humanite
aura fait quelques progres vers la sagesse et la raison.“ Nachdem fie in dem
wunderlich phantaftiihen Roman „Lelia* in der beraufchenden Sprache Alfreb be
Muſſets, der ihr um dieje Zeit nahe ftand, ein Symbol überfinnlich-finnlichen Liebes:
verlangen? auf dem Hintergrund venezianifcher Maskenfeſte der Renaiffancezeit gegeben,
-tritt fie in weiteren Romanen der Wirklichleit wieder näher und führt die Forderung,
die Stau dürfe über fich frei verfügen, bis in die letzten Konjequenzen durch. Ihr
Slaubensbefenntni® Heißt: die Liebe ift eine heilige Handlung; ihr widerſtehen
„sacrilege“ ; fie bei andern tadeln Gottlofigfeit, denn fie ift unmwiderftehlich, weil fte
göttlich ift. Sie eifert beſonders gegen die Roheit der Ehegatten und läßt biefe eine
traurige Rolle des brutalften Egoismus jpielen. Was ihre Geftalten, die der große
Dichterhauch echter Leidenschaft durchglüht, an theoretiichen Forderungen für das Ver:
hältnis der Gatten zu einander aufitellen, mutet uns oft echt elementar an; in dama—
liger Zeit rief e8 einen Sturm der Aufregung hervor. Völlig neu war dieſes Wagnis
einer Frau. Der „Bourgeois“ zich George Sands Schriften der Unfittlichfeit; für
freiere Geifter wurden fie ein neued Evangelium. Die Saint:Simoniften, mit denen
fie durch ihre Inrifchen Predigten immer mehr Berührungspunfte gewann, zogen fie
bald völlig in ihren Bann; war fie bisher nur fubjeftive Verfünderin ihres eigenen
Schickſals, ihrer eigenen Gefühlswelt geweſen, jo jah fie fich jeßt zu einer wirklich
reformatorischen Million berufen.
Che wir diefe weiter ausführen, noch einige Worte über den Saint-Simonigmus:
Der Graf Saint:Simon, geb. 1760, ein univerjeller Geift, von den Miderwärtigfeiten
des Schidjals vielfach verfolgt, hatte in feinen fpäteren Lebensjahren ein Syſtem zu
einer Erneuerung der Geſellſchaft durch Wiſſenſchaft und Induſtrie aufgeftellt. Er
predigte das Dogma der Belohnung nad) individueller Fähigkeit, indem er den produftiven
Menjchen als den wertvolliten anfah. Er verlangte ferner völlige Gleichſtellung ber
Frau mit dem Mann, denn zur Klaffe der Enterbten, die er fchügen wollte, gehörten
nach feiner Anficht nicht nur die dDarbenden und befiglofen Arbeiter, Jondern alle rauen,
denn das Weib wird vom tyranniſchen Mann nur ausgebeutet und auf unmwürdige
Meile beherricht. Schließlich verwarf er die Dogmenlehre und ftellte als höchſte
Religion die Nächftenliebe Hin, durch die das Elend des Proletariats jo raſch wie
möglich gebefjert werden würde. Saint:Simon hatte, als er 1835 flarb, nur eine
Heine Gemeinde um fich verjammelt, doch diefe Lehre lebte als kraftvolle Unterftrömung
in der Tagesflut fort und eıftarkte, als fich vor dem Ausbruch der Sulirevolution die
Unzufriedenheit mit den beftehenden Verhältniffen immer gewaltiger fteigerte, zu einer
fozialen Macht. Bedeutende Männer wurden von ihr angezogen; es bildete ſich eine
Seite der Saint: Simoniften mit einem regelrechten Oberpriefter. Daß nun auch
Apoftel, wie Enfantin, auftraten, die die ertremfte Seite der Lehre bis in ihre legten
Konſequenzen verfolgten, und fchließlich deren Untergang veranlaßten, kann Bier nicht
weiter ausgeführt werden. Uns interejjiert vorwiegend die Etellung, die der Saint:
Simonigmus zur Frauenfrage nahm. Er fuchte das Weib völlig zu emanzipieren,
nad) den Worten des Meiſters: les femmes, à peine sorties de la servitude, sont
encore partout tenues en tutelle et frappees d’interdiction religieuse, politique,
sociale; l’homme lui seul, constitue l’individu social. Le mariage est un acte
purement individuell. Les femmes serunt definitivement affranchies,
sorge Sant und ihre Vede: 557
Vindividuseialseral’hemm« .
scientifique, industrielle se exerce 2 “ .. Vergl. Orten.
Bd. 2, &. 220)
ht die Schuld Saint: Simens mar cs, wenn fc ber „art IN
Zeit feine Lebre zu nuge machte, um die Em
auf freie Liebe verauiden. Geerge Sand
Tribut, wir feben fie aber gerade durch den Sait
vielfeitiger und zielbewußter werden. Sie tritt nit mehr
iche Zug ter
em Hecht
er Kifzuna ibren
allmablich geläuterter,
zu überbliden. Ibre Liebe zum Velt treib: ii
bevölferung, Die Dur die wachſende Inuftrie in
begriffen war. Sie erkennt ibre i
übertünchten Kafie der Beũtzenden bie
Tugenden des vierten Standes. Als ibr beñes Ku
beigende Satire auf den jungen Bourgeois, tem de
Mannes aus dem Volke gegenuberachteir wirt. Itre &
die frübere: „Marthe' fagt Die Freun u
gegeben „pourynoei done cette doul-ur? Est er
la erainte de l’aveni Tu as dispese de toi. Turtai- libre: pero ube ia
le dreit de tUhumilier”.
Kunñleriſch weniger geichloen une
„le Compaznon Aut 2
beichäftigt ni
in ter m
Anden und creiit Die
„Horarı“
Lammenais. dem Femekrani
war George Sand zur damaligen get m nur ein aute
dutch rerolu:ionare Stürme H
Männer en Ider
Kanenzloterem
gnügt fi
Journaliãut.
mie Die Kette i
fteigender, Aeberba
eworden und re
illegiatur
558 George Sand und ihre Bedeutung für bie Frauenbewegung.
etouffe, on languit, on pleure, on räle, on expire dans les mansardes et dans
les cachots. Jamais la race humaine n'a fait entendre une plainte plus sourdeo.
plus rauque et plus menacante.*
Die idplliiche Periode ihres Dichterlebens ift angebrochen, die Periode des Aus-
klingens, des Gefunden? von allen Stürmen und Widerſprüchen ded Dafeind am
Herzen. der Natur, des Heimatbodend. In der Einfachheit des [ländlichen Lebens hat
George Sand eine Zuflucht gefucht und gefunden.
Und während fie jo ihrem Lebensabend entgegengeht, Ballt ihr Name weit über
die Grenzen ihres engeren Vaterlanded hinaus. Schon um 1830, ala das „Junge
Deutichland” jeine „äfthetiichen Feldzüge” begann, um die beftehende Kultur durch
äfthetifche Bildung zu reformieren, holte man ſich Rat bei den Saint-Simoniften.
Gutzkow, Laube, Theodor Mundt, Ernft Willkomm u. a. ftudierten deren Zeitfchrift
„le Globe* und nicht zum geringjten Teil wurden zugleich aus den Romanen
der George Sand die neu aufzuftellenden Glaubensjäge gezogen: dem Individuum
muß volle Freiheit verjchafft werden, damit es fich zwanglos, ganz feiner individualität
gehorchend, entwideln Tünne. Staat und Kirche in der beitehenden Form müflen
abgeichafft werden, meil fie der freien Entwidlung des Individuums binderlih find.
Die Frau iſt zu emanzipieren. Zahlreiche Frauen jtehen auf und begrüßen dankbar
die neue Lehre, denn trotz aller wiflenfchaftlichen und induftriellen Fortſchritte der Zeit
bat man fich bisher jo gut wie gar nicht um die Frau gefümmert. Der ideale und
ipäter materielle Notfchrei der George Sand wird von ihnen leidenjchaftlich wiederholt.
Viele ſehen aber nur eine Berechtigung zur Sprengung läftiger Ehefeſſeln, und mir
ftoßen auf leidenſchaftliche Plaidohers für freie Liebe. Die mehr tendenziöfen als
dichterifchen Produktionen diefer erregten Zeit find voll davon. Am ftärfften tritt
Gutzkows „Wally” für die neuen Theorien von Befreiung des Weibes ein; theoretifch
verkündet er im Vorwort zu den Briefen über Schlegeld Lucinde: „Das Zujammen:
leben zweier Menſchen muß durch volle Liebe geheiligt fein. Die Erziehung der
Mädchen aus befjeren Ständen vernachläſſigt alles, was fie zu Geführtinnen bes
Mannes machen könnte.“
Unter den vielen hervorragenden jchriftitellernden Frauen der damaligen Zeit
verhalten fich die innerlich gefunden (wie Fanny Lewald) den George Sandichen
Ertremen gegenüber maßvoll einjchränfend, während krankhaft Leidenjchaftliche und
zügellofe Tenperamente in ihr das deal erbliden. Am meiſten bat wohl bie
ercentrifche Gräfin Ida Hahn-Hahn im Bann der George Sand ber erften Periode
geftanden. Sie Jchildert mit Vorliebe das geniale, Heißblütige Weib, dad ſich, an
eine unmürdige Che gefettet, zur Sprengung der Ehefefleln berechtigt fühlt, um ſich
ganz einer tiefen Leidenschaft hinzugeben.
Löſt man die Schicht des Vergeſſens, die fich in Jo furzer Zeit ſchon über Leben
und Lebenswert der großen Schrififtellerin gebreitet hat, jo iſt's, als ob man einem
erfalteten Krater zum neuen Ausbruch verhülfe. Alles gährt und ftürmt; die elementare
Duelle heute geläuteter Gedanten wird mit einen Male auß dem Schoße der Ber:
gangenheit emporgewirbelt.
George Sand jelbft bat in ihren fpäteren Lebensjahren zu diefer Läuterung
beigetragen, indem fie als Künftlerin wie als Menſch zur Harmonie gelangte. Sie
bat ſogar fpäter der Ehe einen Hymnus gejungen und ftellt das deal des Ehegatten
in folgenden Worten hin: „le mari tel que l’a fait Jesus, tel que l’a explique
St. Paul, en un mot mariage vrai, ideal, humanitaire et chretien & la fois,
qui doit faire succeder la fidelit& conjugale, le veritable repos et la veritable
saintete de la famille & l’esp&ce de contrat honteux et de despotisme stupide
qu’a engendres la decrepitude du monde“.
George Sand bat fich zu immer reineren Idealen emporgerungen; der große
idealiftifche Dienjch in ihr wird fie überleben. Er ſteht über allen Stürmen ihres
äußeren und inneren Lebens. Er hat das Leiden einer ganzen Generation verftanden
und ſich in alle quälenden Probleme zum Heil der Menjchheit zu vertiefen gefucht.
Er bat die flammende, durch Schönheit geheiligte Sprache der Liebe geredet, er hat
An der Kindheit Grenze. 569
aus tieffüßlendem Kerzen heraus die Klage gegen alle Uugercchtigfeiten erhoben, er
hat mit echt dichterifcher Phantafie das Schöne im Menfchen und in der Natur
verherrlicht.
' Serige Sand ift niemals von einer rein idealen Auffafjung der Dinge ab»
jewichen und ins Gemeine und Häßliche gefunfen. Stets hat fie ihr Ideal hoch zu
Helen gewußt, felbft wenn dies Ideal am fi eine perfönliche oder der Zeit eigen:
tümliche Verirrung mar.
IL
An der Kindheit Grenze.
Elifabeth Siewert.
Rabbrud verboten. .
ie gingen zwiſchen zwei Mauern, ſondern bereicherten es nur, berfuchten niemals
Erneſtinchen und das Kind. Es waren die ! ihm Zwang aufzuerlegen, dafür wurden fie
Himbeerfträucher, die diefe Mauern bilveten. | gelicht.
Das Kind war fhon ziemlid) groß, ftand aber An der öftlichen Gicheljeite des Haufes
noch mit beiden Füßen im wunderbaren, grünen ; blühte auf einem zerflofienen Beet ein Durch
Dämmerland, und noch mar von biefem Land | einander namenlojer Sommerblumen, lang:
ſcheinbar fein Ende abzufehen. An feiner ı ftenglig, bunt, zart und lodend. Eie gediehen
Stelle waren die Bande gelodert, die fein ! nicht gut; um fo inniger war ihr Wefen, ihre
Weſen mit dem Weſen der Natur verfnüpften, | Farben rührend. Cie hatten ihre dünnen,
unb da das Kind ein reiches Gemüt und viel | verfchlungenen Stengel ber Sonne zugebreht;
Seele hatte, waren es viele und ſchöne Bande. , wenn ihr Goloblid fie traf, trodnete der Tau,
Deshalb unterſchied fie ſich auch fo auffallend ı der fie beſchwerte; fie dehnten ſich und dufteten
von den andern; tie ein ganz andres Gejchöpf ' ihre Lebenskraft in feinen Gerüchen aus. Am
ging fie unter den Großen umher. Man | Nachmittag ftanden fie im Schmud ihres
Tonnte wohl behaupten, nichts, was bie fahen ! Dunkelrot und Wafferblau mwartend, abends
und empfanden, worüber fie ſich freuten und wurden fie ftill im Schatten. Ich glaube,
grämten, war dem ähnlich, was das große ; diefe Blumen ftanden dem Herzen und dem
Kind fah und empfand, worüber es fich freute | Verftändnis des großen Kindes näher als
und grämte. Alles an ihm mar ftolzefter Erneſtinchen.
Anſpruch, Unbeugfamfeit, Wildheit und Ganz⸗ Und die Bäume! Ob es nun Efpen, die
beit, und dabei war feine Seele wafjerhell an | Blätter wie aufgereibte Perlen, oder Ahorn,
Reinheit. Sein Benehmen war freundlid. | fpigig und zadig in ber Form, ob es fein
Da es fein Leben ganz für fich führte, | geftrichelte Weiden oder weich gelappte, üppige
machte es wenig Anfprühe an die Cr: | Linden, blank prahlende Buchen oder heitere,
wachſenen. Fiel es dieſen einmal ein, ſich runde Kaftanien waren, fie alle, die Bäume,
in fein Treiben einzumifhen, dann flüchtete , die jungen und die alten, die einzelnen Wächter
das Kind wie eine Schnede in ihr Haus und | an den Wegen und Gräben oder hinter den
nahm alle Illuſionen und Phantafien mit, | Ställen, und die zu Hainen und Gruppen vers
von denen eingehegt es fein fürftlich reiches ! einigten Träger, die Geheimnisfrämer in Ges
Leben führte. An lebloſen oder unerleuchteten büfchen, fie fanden ihrem Herzen nahe. Im
Gefpielen hatte es eine wahre Fülle, diefe ! Sonnenlicht myſtiſche Schatten beherbergen,
miſchten fi nicht in feine Angelegenheiten, ſehnſuchtsvoll dunfel im blajjen Abendhimmel,
560
verfinftert im Sack der Naht, aufgeregt,
geſchwätzig, dramatifch im Sturm, in Schweigen
verfunfen, immer, immer Erzähler, Freunde.
Da gab es unten in der mageren Fohlen-
foppel mit ihrem Waflergraben, der Himmels:
bläue oder eine gläferne Helligfeit durch das
kurze Weideland ranlte, ein zottiges Rappfohlen.
Es mar fpröde und träge, unbänbig und
launifh, weich in den Felleln, am Bauch
bingen ihm lange Haare. Das große Kind
fonnte Stunden lang da unten am Zaun ober
mitten platt auf dem kurzen Weideland ſitzen
und das Tier mit tiefer Freude beobachten.
Wie es den Kopf warf, gelegentlich losjagte,
bäumte und einem unfichtbaren Gegner Huf:
ſchläge austeilte, jedes Muskelſpiel that dem
Kind jo wohl, weil es Mhantafiegebilde mit
jeder Lebensäußerung verband. Mit deutlichen
Spiegelbild ftand das Fohlen am Waffer in einer
beroifchen Stellung, ſenkte dann langfam ben
Kopf, um mit dem weichen, dummen Maul
die blanfe Kühle einzufaugen. Dann madıte
e3 jeinen Körper halbrund und knappſte feit-
wärts an feinem Schenkel. Wie das Kind
laut und glüdlich auflachte!
Emeftinden ftand dem Kind ganz fremd
und fern gegenüber, mie follte fie nicht! Ein
ältliher, abgebrauchter, vom Leben zurecht ge-
mobdelter, das heißt mißhandelter Menſch, eine
Dorfichneiderin, eingefponnen in all den Kram,
der mit des Lebens Notdurft und Nahrung
zujammenhängt. Mit Natur und Schönheit
bat der Kram nicht? zu thun. Das war es
ja: das Kind war fchön und fühlte Schönheit,
ed wußte von nichts andrem. In ihm war
der Anſpruch ber Griechen, das Leben bes
Vogels, die Freude und Leichtigkeit des Vogels.
Bisher war alles an ihm abgeprallt, jede
Belehrung, für die feine Natur nicht gefchaffen,
jeden Verſuch zur Cinengung hatte es von
fi) gewieſen; die Häßlichfeit und Gemeinbeit,
bie ihm je begegnet, hatte feinen Schatten ge:
worfen.
Erneſtinchen iſt mit all der Heuchelei, der
Zweizüngigkeit, der Schlauheit, die ein be—
drängtes, niederes Leben lehrt, längſt, längſt
bekannt, ſie hat all den Krampf und die
Unnatur gekoſtet, die der Verkehr unter un—
klaren, rohen Menſchen mit ſich bringt. Sie
weiß kaum mehr von einem reinen, harmoniſchen
An der Kindheit Grenze.
Seelenzuſtand. Ihre Seele bat ſich zu oft
mit dem Spielen mit geiftiger Erbebung, der
unwahren Reue und dem unmwahren Echmerz
befledt, durch tiefe, ſchlammige Sinnlichkeit hat
fie fich gefchleppt, ihr Blut hat zu oft geftebert
und ift dann totenfalt geworden. Was weiß
fie von der vollen, gefunden Wärme des
Kindesgeblüts! So Iange fie denken fan, hat
jte unter der Dual gelitten, benachteiligt zu
fein, und die Begierde, Glüd an fih zu reißen,
bat fie von Kindesbeinen an gehest.
Außerlih find die beiden Menfchen, bie
da zwiſchen ben Himbeerfträuchern geben,
vollftändige Gegenfäte. Man kann mobl
Erneftinhen eine interefiante Erfcheinung
nennen, für den interejlant, der bie Häßlichfeit
als Grundidee der Menichenbildung ſchätzt.
Eine humoriftifche Erfcheinung für den Menſchen⸗
freund, alles an ihr ift grotesf, charakteriſtiſch
Der große, birnenfürmige Kopf mit einer Un-
menge bon unappetitlichen Haaren zu Echanzen
aufggtürmt, Trönt eine Kleine, ftillofe Figur,
der Teint ift gelb und ftubenfiech, die Nafe
lang, gebogen, eine ftarfe Nafe, wie fie niemals
unintelligente Menfchen haben. Ihre DMiene,
befonderd um ben Mund, erzählt von einem
beillofen Temperament, bie ſchlaffen Wangen
geben dem Geſicht etwas Sinnlihes und Per:
brauchtes. Erneſtinchen ift feurig und em:
pfindlih, gänzlid im unklaren über ihre
Verfönlichkeit und bis zum Wabnfinn ge:
ſchmacklos. Eie fpricht von Liebe! Dem großen
Kinde erzählt fie mit einem öligen, lüjternen
Slänzen in den von Fältchen umzogenen
Augen von ihren Gefühlen für einen Dann.
Ihre unrubige, gelbe, arme Hand hält fie auf
den Bufen gepreßt, ber eine heftige Curve
beſchreibt. Das Medaillon mit dem Bildnis
des Gärtnerd trägt ſie da verborgen, ein
ftolzeg Leihen, daß fie diesmal wieder—
geliebt wird. So gut tie diefem jungen,
robuſten, nichtönugigen Burſchen ift fie noch
feinem geweſen. So gut — es zieht fie zu
ihm hin, wo fie ihn auch entbedt, jeder ihrer
gehetten Blutstropfen brennt vor Sehnfucht,
und eine Angft fchürt noch biefes Feuer: fie
fönnte ihn wieder verlieren, dad Ganze wäre
nur Spaß von feiner Seite,
Ihre Finger wühlen zwiſchen den Knöpfen
ihrer Taille, während ſie mit viel Genuß und
An der Kindheit Grenze.
Geläufigkeit erzählt, mie fie ihn hat kennen
lernen — auf einem Walbfefl, da war er
gerade vom Militär gelommen. Die Stellung
bier bat fie ihm verfchafft, nun kann fie gar
nicht die Zeit erwarten, wo fie zum Schneiden
gerufen wird, um ihr „goldenes Schnutchen“
wiederzuſehen. Während fie dies alles erzählt,
hofft fie fehr, die Angft zu verfcheuchen, die fie
foltert. AU die Thatſachen klingen ganz
vernünftig. Der Gärtner ift eben ihr Schag,
fie werben ſich Heiraten, fo bald es irgend geht.
Das große Kind geht neben dem fiebernden,
alten Weib einher tie ein unfchulbiges, anmut⸗
volles Waldgeſchöpf. Das reine Geficht mit
den tauflaren, laufenden Augen, die gerade
Schlanlheit ihres Körpers paßt in ben grünen
Garten zu dem Sonnenuntergang und der
Blätterfülle.
Die Himbeerſträucher find hochgewachſen,
die Pfundbirmenbäume, die aus dem Gebüſch
aufftreben, find noch höher, und wieder höher
ift ber mit meißen Windwolken gemufterte
Himmel, aber noch höher hängt das, was ſich
das Kind unter Liebe vorftellt.
Ein Cherub, ganz nadt, glänzend wie eine
Wolke, Sonnenftrahlen um das ewige Haupt,
mit Riefenflügeln, ſchaut aus dieſen hohen
Regionen, wo die leichte Luft in Klängen
fließt und wogt, hinweg über fie, hinweg mit
mächtigen Augen in felige Fernen, in Traum
lande, in Meeresweiten, denen Inſeln ent
fteigen. Wird es eines Tages feinem Blid
begegnen? Wie aus einem Brunnen fiebt es
empor zu bem Götterbilb, Wachfen und Bangen
in der Seele und das Herz von einer tiejen,
kaum gefaßten Vorfreude entzündet.
Von feiner Neife kehrt fein Blid zu
Erneſtinchen zurüd, die jegt dabei ift, das
Medaillon aus feinem warmen Verſteck heraus⸗
zufiichen. Mit ernfthajter Scheu ſieht das
Kind zu, wie es erſcheint, eine runde Kapfel
mit gemalten Vergißmeinnicht darauf. Nun
öffnet fie fie wichtig und poliert das Glas
mit ihrem Ärmel.
„Er iſt ein hübfches Mannsbild, das muß '
ihm der Feind laſſen,“ fagt fie, dem Kinde
das Medaillon hinreichend. „Ih fann die
Schwarzen für 'n Tob nicht leiden!”
Das Kind befieht den ganz von vom
aufgenommenen Soldaten auf dem runden
“561
Bildchen und erfennt den Gärtner, bie niedrige
Stim, über der dichte fettige Haare gefcheitelt
find, abftehende Ohren. Wenn er mit der
Herrfchaft redet, ift er ſtets furchtbar rot im
Gefiht und verlegen; fo balb er mit feines
gleichen verkehrt, fpielt er fih auf. ein
Lachen ift fo albern und unmelodiſch, wenn
er mit den Gartenmädchen zufammen ift. Ob
er noch ein ganz anderes Mefen hat, das das
Kind nicht kennt? Eigenſchaften, die allen
verborgen find, die er nur Erneftinhen offen-
bart? Und ebenfo, hat Erneftinhen noch ein
anderes Wefen als das, was fih in ihren
Mienen und Worten und Bliden verrät?
Iſt da irgend etwas ihren orftellungen
Ähnliches zwiſchen den beiden?
Das Kind fieht mit offenem Munde zu
den Windmolfen auf, als mollte es fi da
Weisheit holen, um die Rätfel zu löfen. Man
liebt nur das, was ſchön, gut und herrlich
iſt — das fcheinen ihm die meißen, wie
Hörner gebogenen, leichten, fernen Wolfen zu
ſagen. Es lädelt.
„Was haben wir ſchon alles angeſtellt,
daß wir uns mal ſehen können,“ erzählt
Erneſtinchen in eifrigem Ziſchelton. „Meine
Mutter iſt ſehr ſtreng, immer hat ſie Obacht
gegeben, daß ich nicht allein aus war. Wie
ich im Dorf bei ihr wohnte und er im Pflanz⸗
garten arbeitete, kam er abends rüber gelaufen,
unten am Zaun ging er auf und ab, um
Uhre zehn pfiff er: Ach, wie ift'3 möglich
dann. Da mußt’ ich, mein goldene? Schnutchen
ift da und wartet. Ich alles weggeſchmiſſen,
zur Mutter fagt ih: Die Freundin wartet,
wir müfjen ein bißchen fpazieren, man wird
ganz dumm vom vielen Sitzen.“
„Was thun Sie nun beide, wenn er pfeift
und Sie berausfommen?" fragt das Kind
ängftlih und wißbegierig zugleich.
Erneſtinchen zeigt langfam die Zähne.
„2iebesleute haben immer was zu reden.”
Sie lacht in fi hinein. „Er ift auch fehr
für's Schälern, grade fo wie ih aud. Neu—
lich habe ich ihm die Armel von feinem
Raletot heimlih zugenäht, das gab ein
Gaudium.“
Das große Kind findet, daß es ſchauder⸗
haft ausſieht, wie Erneſtinchen jetzt das Bild
zurück in ihren Buſen praktiziert und dabei
562
auf eine feltiame Art mit ftarren Augen
lächelt. „Näben Eie ihm aud Knöpfe an?”
fragt es zur Seite ſehend und errötet.
Die Himbeeren haben aufgehört. Auf
einer Rabatte vor langen Gurkenbeeten, von
DiN überfchleiert, ftehen grelle, gelbrote Einnien.
Ihre Farbe feſſelt wie ein lauter Ton. Das
Kind muß feine Augen auf dieſe blendenben,
gröben, duftlofen Blumen richten, die jo frech
fagen: da find wir.
„Na ob, er ift fo abgerifjen, ſchon acht
Mal hab ich nachts an feinen Hemden geflidt.”
Das ift fehr gut von Erneftindhen, denkt
das Kind, und ihm ift doch fo unheimlich und
zweifelnd zu Sinn. Erneſtinchen ift nicht gut,
fie flidt die Hemden nicht, weil fie zerrifien
find und der Gärtner ihr leid thut, da iſt
irgend etwas SHäßliches verborgen, was es
nicht verfteht. Die Cinnien find auch fo
häßlich und fo grell, fie geben das Kind
gar nicht? an, und es muß doch hinjehen, jo:
gar den Kopf dreht es nad) ihnen um. Soll
es nicht lieber auf feinen alten Lieblingsplag
unter den Hollunderbüfchen am Gartenteich
laufen, die Harfe nehmen, die da verftedt in
einem Buſch hängt, und den Pla um die
Heine Bank und den wadligen, felbitgezimmerten
Tiſch harken? Vielleicht waren auch wieder
die beiden meißen Enten auf dein Teich, die
fih da fo gern herumtrieben und nicht ſchlafen
gehen wollten.
Nein, es kann ſich nicht losreißen, obgleich
es nach dem Hollunderberg ſchmachtet, nach
dem Alleinſein mit feinen ſchönen Vor⸗
ſtellungen von geflügelten Göttern und aller:
band heimlichem, buntem Märchenkram. hm
ahnt Trauriges, und boch, es wird feitgehalten;
Erneſtinchen erzählt fo neue, wunderliche
Saden, die den Vorzug haben, in greifbarer
Nähe fi) abzufpielen, je dunkler es wird, je
neuer und mwunberlicher werben fie.
Der Weg verfinftert ſich jetzt; mie ein
Hohlweg läuft er in die Büſche hinein und
verſchwindet. Lindenblütengeruh liegt ſüß
und ſtark in der Wölbung.
Erneſtinchen unterbricht fih in ihrer Er:
zäblung von einem Tanzvergnügen im Dorf:
fruge, fie feufzt mwollüftig auf: „Ad die
Linden, wie die ſchön buften,” dann fährt fie
fort. „Wir gingen 'nen Schottſchen zufamnten,
—
An der Kindheit Grenze.
ih in blau Barege mit vieredigem Ausſchnitt.
In der Paufe fpazierten wir Arm in Arm im
Wirtsgarten. Es war naß im Garten — na,
er wollt’ aber, und ich Tann nidt nein jagen,
wenn Mar mas will. Der Organiſt kam
uns nachgepinjchert, er hatte ſich die Naſe
begofien und fing an, Redensarten zu maden.
Mein Schatz ift ein Draufgänger — es lam
bald zum Krawall. Er ift eben eiferfüchtig.”
Erneftindhen ſchwelgte in der fchmeichelbaften
Auslegung, die fie den Vorgängen im Krug⸗
garten gab.
„Eiferfüchtig!” wiederholte das Kind, mit
Teierlichleit in den dunklen, duftſchweren
Zaubengang bineinfchreitend.
An der Bleihe wurde es wieder beller,
vrüben der blühende Schneeball Teuchtete
verloren vor den Heden. Die Windwolken
waren faft alle verichwunben; nur eine lang:
geftredte, rötliche Fahne bing noch im glas⸗
Haren Abenphimmel. '
„Haben Sie den Gärtner denn lieber ala
Ihr Leben?” fragte das Kind und rungelte
feine elfenhaft beitere, glatte Stirne.
„Ab, du liebe Zeit!” Erneftindhen lachte
auf eine ganz befondere Art und drehte ſich
in ihren Kleidern.
Am Treibhaus gingen fie vorbei, wo bie
wohlriechende Wide wie ein Mantel um den
Schornſtein hing, ihre Füße traten auf Glas-
ſcherben. Dann rechts über die Feine, gewölbte
Brüde den Weg zwiſchen den Zwergbäumen
und ber langen Stallmauer entlang.
Wie durch unfichtbare, ftarfe Fäden feit:
gefnüpft, muß das Sind an Erneſtinchens
Seite bleiben. Die ganzen Detail® einer
frampfhaften, von vornherein verfehlten Liebes⸗
gefchichte merden ihm aufgetiiht. In der
dunklen, warmen Luft befommt e3 heiße Wangen
und unrubige, entgeilterte Augen.
Auf ihren Wanderungen find bie beiben
dem Wohnhaus in den Nüden gelommen,
zwei helle Fenſter ſehen mit rotem Schein
aus der Hoffront neben dem Vorbau der Küche.
„Da find fie alle verfammelt!” Erneftinden
faßt e8 wie im Fieber, fie ftrebt mit Energie
auf die hellen Fenfter zu und ergreift des
Kindes Arm, um fih zu verſichern, daß es
mit fommt. Man hat es ihrem Schutze an⸗
vertraut.
An ber Kindheit Grenze.
Der Infpeltor Schulz figt auf dem Tiſch,
feine langen Beine in heller Hofe und langen
Stiefeln wippen unternebmend. Die Mamjell
hat die Hände auf den Magen gefaltet und
lacht ſchallend. In ihrem firfchroten Sonntags⸗
kleid ſieht der eng eingeſpannte Buſen und
der ſtarke Leib beſonders auffallend und plump
aus. Das Geſicht mit den feiſten Backen,
der Stumpfnaſe hat ſeinen gewöhnlichen, gut⸗
mütig ſchlauen Ausdrud. Da ift auch der
Brenner, ein brünetter, firer, Heiner Dann
mit Epigbubenaugen, das podennarbige,
maliziöfe Stubenmäbchen und nod eine un=
befannte Frauensperfon, ein hübſches, derbes
Ding mit bunten Schleifen auf einem ſchwarzen
Kleid.
„Hola! das Fräulein Echneiberin, das
witzige Marjellchen!“ ruft der Brenner, auf
Ermeftinhen zutänzelnd. Als er das große
Kind entbedt, reißt er die Augen auf, ver:
ändert etwas feinen breiften Ton und fagt:
„Sie fommen grad zur Seit, wir werben was
ſpielen.“
Jemand ruft „Kudcudk.“
Die Mamfel lacht noch lauter, fih an
den Dfen lehnend, und zeigt auf Erneſtinchen,
die fih mild im Kreiſe umficht, und als es
nochmals Kudud ruft, ſich geberbet, als fei
fie von der Tarantel geftohen. Erneſtinchens
Betragen wirft beängftigend auf das Sind.
Es dachte wirklich, fie hätte den Verſtand
verloren, man müſſe ihr zu Hilfe kommen.
Das ftört das Sind in der berivunderten
Beratung der Wirtſchaftsſtube. Die ift
nämlid) völlig verändert. Der Milchſchrank
fieht in der unnatürlichen Beleuchtung einer
ohne Glode brennenden Stehlampe aus wie |
ein Poften, der emfig ein völlig abgegrenztes
Neich bewacht. Die geblümten Gardinen haben
etwas fpöttifch Fratzenhaftes, das Bett wirkt
peinlich, nein, unheimlich und efelhaft, wie es
da verftohlen in feiner Ede fteht. Die gelbe,
getündte Dede und die faltblaue Tapete
machen den Raum zu einer Höhle, und fie
maren doch diefelben wie an vielen Tagen i
und Abenden, wo fie das Kind geſehen, friedlich
zu einer häuslichen Beihäftigung den Hinter
grund abgebend.
Emeftinden fährt, die Nöde ſchwenkend, in
der Stube umher, als es immer wieder Kudud |
568
ruft, ſtürzt fie auf den Inſpeltor los, ihn am
Armel padend, ihn anſchreiend, ob er wiſſe,
wo der Gärtner ftedt.
Dem Kinde wird himmelangft. Das muß
doc jeder merken, daß die Stimme hinter dem
Dfen berfommt, mie kann Erneftindhen fo
dumm fein!
„Suchen Eie doch hinter dem Den nach“,
rät ihr. das podennarbige Stubenmäbchen mit
verädhtlihem Ton. „Mie lange follen wir
denn die Komödie anfehen!” fagt fie zu der
Mamfell.
Der Gärtner wird hinter dem Milchſchrank
und dem Den hervorgeholt, er thut, ala fei
er eingefchlafen, fein Glied fann er rühren,
er taumelt über die Diele mit hochgezogenen
Schultern, während er ein Geſicht fchneidet
und fällt auf Emeftinchen herauf. Die kreifcht
[08 und verfichert, daß fie Herzllopfen habe.
Dem Kinde ift, als erlebe es in der ver-
änderten Wirtſchaftsſtube einen fchredlichen
Traum, ber zugleich fo bunt, wild und von
folder derben Kraft ift, daß es baraus nicht
aufmachen kann. AU diefe Menſchen, die fie
tennt, zeigen ſich ihr vom einer neuen Seite,
ala eine gefchlofiene Geſellſchaft, die ihren
befonderen Charakter trägt, in ber fie felber
ſich nur geduldet vorlommt. Und das ift das
Schmerzliche an dem Treiben diefer Geſellſchaft:
es ift etwas Verftedtes, Unficheres darin, das
Feuer in den Augen ift frampfhaft, das laute
Lachen ohne Freimut, die Beziehungen zwiſchen
den verſchiedenen Perfonen tagesfhen. Aus
diefem Grunde macht das Gefinde einen ge
ſpenſtiſchen Eindrud, trotz aller groben Auße⸗
rungen ihrer Freude.
Man arrangiert ein Spiel. Der Inſpektor
mit den fhönen Beinen, die er fo eifrig zur
Schau ftellte, bequemt fih vom Tiih auf
einen Stuhl. Er ſetzt fi neben das Kind,
dem man bienfteifrig zu allererft einen Stuhl
zurecht geftellt hat. Manchmal wirft der
ftattlihe Mann feinen Kopf zu ihm herum,
dann fieht das Kind feine blanfen, falten
Augen, feine hübſche Nafe und den weichen,
roten Mund in dem kurzen, braunen Bart.
Er wirkt nicht gefpenftifch, fondern beängftigend.
Es ſcheint fo, ala ob er etwas fagen will,
aber er entfchließt fich nicht dazu, verhält ſich
überhaupt ziemlih ftumm. Sein Anteil an
36*
564 An der Kindheit Grenze.
den Gefellihaftsfpielen beichränft ſich darauf,
Witze zu beflatichen, mas er dadurch bewerk⸗
ftelligt, daß er mit feiner hellroten Hand auf
feine ftraffen Schenkel klopft. Ober er erhebt
fih zu feiner fchlanfen Höhe und fchlichtet
einen Streit, zwingt das Mädchen mit den
bunten Schleifen dazu, ſich einen Schnurrbart
anmalen zu laſſen, faßt jemand, ber ſich ber
Spielregel nit fügen will und befördert ihn
dahin, wo er bin fol. Gelegentlich greift er
der Mamfell unter das Kinn — das große
Kind erftarrt über den Ausdrud, den dies
Frauengefiht annimmt. Diefer Mund, — ihm
ift, ala müſſe es um Gnade bitten. ..
Dem Kinde gegenüber fiten Emeftinchen
und der Gärtner, fie tufcheln und greifen fich
an den Händen und fteden die Köpfe zufammen.
Jeden unbewachten Augenblid benußt der
Gärtner, um mit hingenommenem, lüfternem
Blid nah dem Mädchen im Schwarzen Kleid
binzufchielen.. Die ift jchredlich affektiert, fie
fpielt die Feine, die Zimperliche. Erneftinchen
weiß, daß fie eine Nebenbuhlerin bat, fie
möchte das fremde junge Mädchen zum Fenſter
hinauswerfen. Sie zeigt ihren Abſcheu fo
deutlich, daß alle ihre Gefühle merfen. Man
verhöhnt fie, ſpitzt auf ihr Alter. Mit
ziemlicher Gewandheit teilt fie Hiebe aus, wo
man fie angreift, und dabei leidet fie unfäglich.
Das große Kind weiß es und fieht auf die
Dielen mit ihren großen Flecken und Sprüngen.
Es furrt in feinem Kopf, als ob da raftlofe
Näder an neuen Gedanken fpönnen. Muß
ed um al die armen Gefpenjter Mitleid und
Scham im Herzen tragen, und fi um bie
Sleden auf den Dielen forgen? In der
ſchwülen, unreinen Luft überlaufen das Kind
Schauer.
Man ſpielt Briefträger. Hinter der
Thür nach der Schankſtube ſteht die dicke
Mamſell, ſie wird gefragt und antwortet.
Die roten Siegel auf den Briefen bedeuten
Küſſe, die ſchwarzen Ohrfeigen.
Das Kind ſieht der Schneiderin Geſicht
ſich zu einer wahren Muſterkarte von Zorn
und Qual verändern, ſterbenskrank und welkend
alt ſieht ſie aus, um den Mund ein paar
tiefe Falten. Was geht vor? Der Gärtner
küßt das fremde Mädchen, ſie wehrt ſich
lachend, jeden einzelnen Kuß läßt ſie ſich
rauben. Es giebt eine bewegte, jugendliche
Gruppe, der es nicht an einer gewiſſen derben
Grazie fehlt.
Der Inſpektor zählt die Küſſe.
Dem Kind iſt, als ſtiege ein feucht heißer
Dampf aus den Dielenritzen, der es einhüllte
und ihm die Kleider vom Körper ſchmolz, der es
hineinzieht in einen trägen, ſtarken, furchtbaren
Wirbel. Die Hände klammern ſich au den
Stuhl feſt, der Körper ſtrafft ſich.
„Einen Brief vom Herrn Inſpektor an
das kleine Fräulein!“
„Wieviel Siegel? Rot oder ſchwarz?“
„Eins. Ein rotes Siegel.“
Es entſteht eine Pauſe.
Wie aus der Nebenſtube, durch Brauſen
hindurch, hört das Kind Frage und Antwort.
Mit einem Ruck fällt Hitze und Schwindel
von ihm ab, es ſitzt in ſeinem weißen Kleid
auf einem Stuhle mitten unter dem Geſinde,
den Kopf erhoben mit fühlen Wangen, groß⸗
äugig und mit gefpanntem, ſtarkem Herzſchlag.
Ein Siegel für fie? Alle ſehen fie an mit
Augen, die nach ihr Hafen auszuwerfen fcheinen.
Der Inſpektor Schulz neben ihr bat den Kopf
auf dem langen beweglichen Halfe berum:
geworfen.
„Auglöfen!” ruft der Brenner widtig, in
demfelben Tonfall, wie e8 der Inſpektor thut
und erhebt ſich von feinem Platz.
Das Kind Sieht zur Seite und begegnet
des Inſpektors Blid.
„Auslöfen, auslöfen!” Der Brenner näbert
fih, ein Grinfen auf dem Gefidht, das Stuben:
mäbchen fommt auch berbei.
Nein, ganz gewiß nicht, denkt das Kind
mit einem feltfamen Schwächegefühl in feinen
Gliedern und einem Auflodern feiner Seelen:
fräfte.
Der Inſpektor neben ihm erbebt fi, cr
fühlt einen leichten Zwang in feinen Be:
wegungen, wie ein Turm fteht er neben ber
Kleinen und fieht auf fie herab, während feine
Wangenmuskeln fpielen. Langſam beugt er ſich.
Das Kind ficht zu dem Manne auf. Sein
Geficht nähert fich ihm wie die Verkörperung
einer rauben, niedrigen, brutalen Welt. Die
Finger ihrer Heinen Hände fpreizen ſich ein
wenig, ihre Pupillen vergrößern fih in Ab:
wehr, je näher diefe ausgebrannten, wiſſenden
An der Kindheit Grenze.
Augen, diefe roten, fündigen Lippen in dem
krauſen Bart ihr kommen. Sein Atem ftreift
über ihr Blumengefiht .... „Das war fein
Kuß,“ fagt das Etubenmäbchen mit einem
unbefinierbar gehäffigen Blit auf bas
große Kind.
„Wenigftend ein Handkuß,“ ſchlägt der
Brenner vor.
Der Infpektor hat fih aufgerichtet und
fieht auf die Nleine herab, auf dieſe
unfhuldigen Hände... .
„Es wird meiter gefpielt!” befiehlt er mit
einer fcharfen Wenbung, faßt das Stuben-
mädchen um die Echultern und dreht fie wie
einen Kreifel um ſich felber. „Es foll fi
feiner unterftehen, an die Kleine einen Brief
zu bringen,“ ruft er mit fnarrender Stimme.
Nach diefem überftandenen Echreden kommt
dem Kind die erlöfende Entdedung, daß bie
verherte Wirtfchaftsftube eine Thür hat, die
durch den Eleinen Zwiſchenraum in die Küche
und durch den Vorbau ins Freie führt. Ins
Freie! Ihr perlen Schweißtropfen auf ber
Stim, ihre Nafenflügel dehnen fi. Ins
Freie! Sie ift ja ein gefangener Vogel, ein
gequälter Schlupfvogel unter vierfüßigen
Tieren, fie hat, o Gott, Gott fei Dant, fie
bat ja Flügel! Noch ſchwebt über ihrem
Kopfe wie eine Viſion das Gefiht des In—
ſpeltors, und in ihrem Blut ift fo ein
peinigenber Aufruhr, leiſe fteht es auf.
Dazu ift es zu fchüchtern, um biefe ver:
bündete Geſellſchaft, in der es nur gebulvet
mar, ganz augenfällig zu verlaffen, aber ven
Tumult benußt es ſchlau; als der Brenner,
dem ſechs Küffe von Erneſtinchen bevorftehen,
mit Ausrufen des Jammers hinter den Dfen
ftürzt, da ſchleicht es fih zur Thür. Co
lange es im Haufe in Engigfeit und Dunfel-
heit vorwärtstaftet, fo lange wirb es verfolgt
von dem naben, drohenden Männergeficht.
Nun noch ein Schritt — der hohe Himmel
ift über ihm, Himmelsöde, der alte Mond
fteht blank und ſcharf über den Gartenbäumen
binter ber Mauer. J
Das Kind blidt um ſich und dann noch—
mals zurüd nad den beiden hellen Fenftern.
Es würde fih nit wundern, wenn da
Flammen zwifchen den Gardinen fpielten, oder
die Leute in der Wirtſchaftsſtube oben an der
585
Dede herumzögen mit Larven ftatt Gefichtern.
Die Männer hinter den rauen ber, bie
rauen den Männern nad, eine wilde Hehe.
Welche ftarke, albbrüdende Macht ftrömt aus
den beiden Fenftern? Es muß ieiter fort,
um ihr zu entrinnen; noch iſt e8 nicht allein.
Da auf ber Bleihe hat der Mond feine
wunderbare Wäfche ausgebreitet, da hinein
ftürmt das Kind in das raub betaute, helle
Gras. Mitten darauf in der Weite bes
Pages, in feiner größten Freiheit bleibt es
ftehen und breitet die Arme aus.
Wie eine Geifterhand legt fi der Schein
auf fein Haar, an feinem Halsausſchnitt vorbei
rinnt er über feine Bruft, an den Fingern
tropft er herab zu dem mohlig auögebreiteten
Teich von Licht. Das Kind Feucht und ſtößt
findifche Klagelaute aus. Es möchte irgend
jemand ober irgend etwas zur Verantwortung
ziehen für die Häßlichfeit, die es gefehen hat,
und alles ringsum ift ftumm, öde und von
erbrüdender Großartigleit. Da ahnt das
Kind, nichts auf der Welt kann ihm helfen,
die Häßlichteit ift da, ebenfo wie eine lachende
tüdifhe Tierfrage aus Holz geihnigt da ift,
die im Hausflur hängt, von irgend welchem
widerwaͤrtigen, wilden Mann gearbeitet. Man
kann fid} von ihr weg wenden, aber ba ift fie.
Eine neue, ſchmerzhafte Traurigteit fchüttelt
das Kind bis ins Mark.
Mit geſenktem Kopf und einem Him, das
ſich dehnt in verwirrenden, fremdartigen Vor:
ftellungen, ftapft es aus dem Gras und
begiebt fih an ben Ententeich. Wo der
Rand ganz flad ift, kauert es fi hin, wirft
einen Blid hinüber nad ihrem Hollunberberg
mit dem Tifh und der Bank in dem jein-
gemufterten Echattenbild des Laubes — was
für ein felig einfames Plätzchen — horch,
die Fröſche quarren. — Nun fängt es an,
fi das Geficht zu waſchen, ganz nah fieht
es auf die glatte, ſchwarze Waſſermaſſe, ſchöpft
dann und reibt mit Eifer. Wie ein Segel
liegt weiter unterhalb des Hollunderberges
der Mondſchein und da drüben am Ufer unter
den großen Kürbisblätten! Da hat fih der
Herr Mond nicht den Epaß gemadt, einen
Heinen weißen Berg von Licht aufzuhäufen,
nein, das find die beiden Ausreißer, die beiben
weißen Enten eng bei einander. Mit nafjem
566 An der Kindheit Grenze.
Geſicht läuft das große Kind um ben Teich,
bebende wie ein Indianer nähert es fich dem
Uferrand, „Ahr Mondenten!” Mit auf:
ſtrahlendem Geſicht büdt es fih, um leife auf
die feften Federrücken zu taften. Und plötzlich
hebt es mit einem Rud die Hände und ruft
leidenfchaftlih und mit böfer Schabenfreube:
„Huhu!“
Die Enten ſchnattern erſchreckt und flüchten
mit ausgebreiteten klappenden Schwingen
nebeneinander über das Waſſer; als ſie über
den Glanz ſtreichen, blitzen ihre Federn ſilbern
auf. Das Kind zeigt die Zähne vor Luſt, ſo
heftig hat es ſich noch nie gefreut.
Jenſeit ducken ſich die Enten, plantſchen
und klatſchen noch ein wenig, die Kreiſe auf
dem Waſſer verlöſchen. Jetzt quarren nur noch
die Fröſche in dem Bruch hinter der Hecke.
Die Traurigkeit hat nur darauf gewartet,
daß es wieder ruhig werden ſollte, jetzt ſenkt
ſie ſich aus allen Büſchen und Bäumen, aus
der Luft herab, vom Waſſer hergleitend, aus
dem Mondſchein rinnend, hinein in des großen
Kindes Seele. Sieh mal, ſagt ſie, ſo traurig
iſt die Häßlichkeit! Mußt du nicht über das
weinen, was du geſehen haft? War irgend
etwas, ein Wort, eine Miene, ein Blid nicht
beflagenswert? Beſinne dich, ich babe Zeit
zu Warten.
Das Kind preßt die Lippen zufammen und
befinnt fih. Nichts, nichts mar lauter, fchön,
natürlich, die Zärtlichleit ohne Reinheit und
Süßigkeit, die Blide ohne Seele, die Geberden
ohne Abel. Zum Sterben häßlich das Ganze!
Aber in ihr wühlt Trog und Yeinbfeligfeit
gegen die ſchwarze Trauer, die fie zu Thränen
auffordert. Sch will doch meiterleben, wenn
ih auch weiß, wie es mit Erneſtinchen ſteht,
daß fie lieber lügt und Spott erträgt, als es
entbehrt, mit dem Gärtner zufammen zu fein,
von dem fie doch weiß, daß er lieber mit dem
Mädchen mit den bunten Schleifen zufammen
wäre, jagt das Kind. ch weiß auch, daß die
Mamfell nicht nur einem Schwein ähnlid, ift,
nein, fie hat auch etwas von einem Schwein
ganz gewiß; als ich fie anfah, wie fie der
Inſpektor unter das Sinn faßte, da mußte idh
e3. Der Gärtner ift fo dumm und albern,
daß er in einem Augenblid nicht weiß, wie
er im nächſten fein wird, lauter Sehen find
in ihm. Der Brenner möchte immerzu lärmen
und Witze maden, um nicht zu bedenken, daß
er ein Spitbube if. Das weiß ich alles und
werde e3 ertragen. a, aud das werbe ich
ertragen, daß mir Herr Schulz jo nahe mit
feinen Augen, feinem Bart und feinen Zippen
gefommen ift. Sch werde nicht mehr daran
denken, außerbem habe ich mich ja gewaſchen.
Das Waſchen thut es nicht, auch nicht
das daran nicht denken, bu Baft etwas
verloren — fpürft du die Lüde, liebe Seele?
Das große Kind fpürt: die Lüde — eine
Brefche ift in feine goldenen und bunten,
gläſernen Kouliſſen eingeriffen, mit denen es
fein Dafein umjtelt; die unbarmherzige,
wirflihe Ferne fieht hinein, und es bläft Falt
wie ein Winteriwind durch das Loch.
Eigentlih gebt es mich gar nicht an,
was das Gefinde treibt, ſagt es fih mit
gewollter Fühlloſigkeit. Warum fol ich mich
grämen, ich habe ſolchen Abfcheu vor ihnen,
ih bin anders als fie.
Sa, aber fie find Menſchen, und du bift
ein Menſch. Sie find ärmer und niedriger
als du — fieh, darum mußt du am meiften
weinen, — das Kind denkt nach, und bie
Augen werden ihm naß. Wie web thut biefe
ſchwere Traurigkeit feiner heiteren Seele! Es
bäumt auf und fchleubert fie fort zu ben
Chatten unter den Kürbisblättern, in ben
Teich .... Das weiß ich ja alles, fagt fich
das Kind heftig. Es nützt nichts, Sand darauf
zu ſchütten, aber ich thue es doch! Sch will
das ſchöne Leben meiter führen, das von
geitern und heute Vormittag, ich werde fo
tbun, als ob nichts vorgefallen wäre. Dleine
Erfahrung über das Häßliche fol mir niemand
anmerken... ...
Das Leben ber Erivadhjenen fing an
diefem Abend feine Arbeit bei der Kinder:
in ihrem Weſen, es ift furchtbar, aber es ift | feele an.
NRadbrud mit Duellenangabe erlaubt.
“ Das Bercind: und Berfammlungsredht der
rauen wurde am 4. Mai von bem Ausſchuk der
Geiellichaft für Soziale Reform verhandelt. Wir
geben um der Wichrigfeit der Sache willen den
Bericht über dieie Situng (Soziale Praris Nr. 32)
im Wortlaute:
Ter Referent Reichstagsabgeordneter Nic.
Noefide betonte, wie bei Begründung ber Gefell
ſchaft für Soziale Heform die Abſicht beſtanden
babe, alle Areite ber Bevölterung und alfe Parteien ;
jum Sivede der Förderung der Zoyiafreforn au
umfailen unb zu vereinigen jerngeblieben feien
aus eigenem Entichluß die Ertremften rechts und
lints, die auf der rechten Seite, weil fie überhaupt
von ber Sozialreform nichts willen wollten, die
linfs, weil fie leiber noch in der Ablehnung gemein
ſamer Thätigteit vwerbarrten. Hier könnten wir
nichts ändern. Anders aber jei c& mit den ‚rauen.
Dieje hätten felbft ben Iebhafteiten Wunich mirzu
arbeiten und das wärmite Intereſſe an unferen
PVeftrebungen bekundet. Trogtem Fonnten wir fie
nicht zulafien, weil in ben größten Staaten bad
Vereinsgeſet es ausdrücklich verbietet. Und nicht
die Geielfhaft für Soziale Reform allein müſie
jegt auf dieſe wertvolle Unterftügung verzichten,
ſondern fie fehle allen soziatpofitiichen Beitrebungen,
ia au der Hegierung felbit, die ja nad ihrer oft
wieder doiten Yeteuerung Die Sortführung ber [
reform für unerläßlich balte, ſich aber für weite
Gebiete der beiten Mitarbeiterinnen beraube. Tas
Heich habe auch den Arbeiterinnen bad Roalitions
recht verliel
helfen, der Einzelftaat aber werfümmere ober ent.
siehe ihnen Dieies Recht micher
aber dieſes Verbot, fo fegen wir uns der ür
ber Pol aus und verbindern geradezu feine Be:
jeitigung. Dian foll überhaupt in der Sorialpolitit
Wunden nicht zudeden, iondern wir müſſen sie
oñenlegen und Mittel zur Heilung fuchen, In
dielem Falle heißt daß; 1 den ‚Frauen
das Recht verichaften, ſich iosialpolitii
und Verſammilunger betätigen. Wie Die ge:
werbůchen Verbaln (ch geftaltet haben, it es
wideriinnig die PVeteiliaung der Ärauen aus:
ichließen. Schen heute in ihre Teilnahme in
vielen Bundes ſtaaten erlaubt, aber gerate bie
größten verbieten fie. Hier ann nur cin
geiek belfen, chenio mic man durch Mei
einzelftaatlichen Verbote ber Verbindung von Ler:
einen aufgehoben bat.
damit fie fi durch eigene Nraft
Übertreten wir :
Vereinen '
J FRE L i
Der Korreierent Preieiſor Dr. Frande entwarf
557
in großen Zügen ein Bild der beftchenden vereins
geieglichen Beitinmungen über die Julafiung von
rauen zu politiichen Vereinen. 16 deutſche Cinzel
ftaaten, an der Spige Sachien, Württemberg, Yaben,
Heſſen, dann bie meiiten Nleinftaaten und vie
Sanjaftäbte, fennten feit den I1R50er Jahren das
Frauenverbot nicht; ja nicht einmal ber rcaftienäre
Bundesbeſchluß von Ix54 habe bie Arauen aus:
neichlofien, fondern nur die Schüler und Lebrlinge.
Andere Staaten, wie bie Beiden Medienburg und
Eliaß votbringen, verböten die Teilnahme der frauen
nicht ausbrücklich, ftellten aber das nanıe Vereins
und Verſammlungsweſen in das biöfretienäre Er
meiten ber Vehörten. Vayern habe IHUN dao
Frauenverbot nur inſoweit aufgehoben, ald Vereine
für die Berufsintereſſen, ſowie Zwecke des Inter:
richts, der Erziehung und Mranfenpflege in Betracht
fommen. Preußens Vereinsrecht, da® nun 51 Sabre
alt jei, ichliche die rauen von Vereinen aus, die
volitifche Angelegenheiten in Verfammiungen er-
ürterten, laile fie aber zu öffentlichen Verjammlungen
au. Noch reaftionärer ſcien bie Vorichriiten im
Braunſchweig, wo jept der Evangelich Soziale Non:
greß darunter zu leiden Babe, und ciniger Alein:
ftaaten. So ergebe jih ein aanı bunticediaes
Bild, ein zuſtand gröhter Berworrenbei
in dem einen Staate feit alters her erlaubt, jei in
dem benadhkarten verboten. Tief verlegend müie
für die ‚frauen die Zufammenftellung mit Yehrlinaen,
Schülern, (perjährigen, ber Ehrenrehte Zer:
luſtigen wirfen. Und das in einer Zeit, we ber
Ztaat die ‚Frauen ald Beamte in manden Ver
waltungen keicäftine, wo er ibnen im Ermerbs.
leben bieielben Rechte wie den Männern aewäbre!
Auch ber Norreierent it der Anficht, daß bier nur
durch Eingriff der ihögeiehachung zu belien sei,
indem man das landesgeſehliche Frauenverbot cbenio
wie das Verbindungsverbot beieitige.
An ber Schr Ichbaften Debatte beteiligten. ſich
bie Herren Hite. Nei Schmoller, Bebrens, Som:
bart, vehner, Freiberr ". Berlevich und die Ne:
ferenten. Schließlich wurde auf Grund veridiebener
Anträge folgender Beichluß einitimmig gefaht:
Im Sinklid auf Die dringende Notwendig
teit der Mitwirfung ber Frauen an allen
beichlic‘
ber
ran,
eine Eingabe an Bundesrat und Reichstag zu
richten, in der der baltige Erfah; eine Heihs
geiehes gefordert wird, das bie der Anteilnabme
der ‚Frauen an jenen Beitrebungen entgegen:
ſtehenden landesgeieglichen Heihräntungen der
Vereins: und Verlannılungsgeicggebungaaufbebt,
en Beitrebungen,
563
+ Die Frage des Zudrangs umberufener
Frauen zu den Univerſitätsvorleſungen be:
Ihäftigte den Berliner Frauenverein in einer
Situng, zu ber auch die Mitglieder des „Vereins
ftudierender Frauen zu Berlin“ eingeladen worben
waren. Die Frage war zur Diskuſſion geftellt
worden, da in meiteren Kreifen die Anficht ver:
breitet ift, die Zulaffung ber Frauen zur Berliner
Univerfität fei in einer Weife von Unberufenen
ausgenußt worden, daß das Frauenftubium für die
Univerfität zu einer Kalamität werde. Es murbe
von den anmwefenden Stubentinnen feftgeftellt, daß
es ſich bei den Elementen, für die dieſe Anficht ge:
rechtfertigt fei, meift um Frauen handele, die ohne
Erlaubnid einzelne Borlefungen befuchen. ine
ſchärfere Kontrolle würde dem Übelftand abhelfen.
Im übrigen mar man der Anficht, daß die neue
minifterielle Beftimmung über den Berechtigungs:
nachwei3 zum Befuch der Borlefungen genügen
werbe, um den Mikftänden, von denen jedenfalls
im Publikum übertriebene Vorftelungen berrichten,
abzuhelfen. Die Verſammlung faßte das Ergebnis
der Disfuffion in folgende Refolution zufammen:
„Die am 25. April tagende Verfammlung bes
Berliner Frauenvereind FTonftatiert, daß an ben
öffentlichen, und zum Teil auch an den privaten
Borlefungen der Berliner Univerfität Hörerinnen
teilgenommen baben, die nicht im Beſitz des vor:
ſchriftsmäßigen Hoſpitantenſcheines waren und beren
Anwesenheit in den Hörfälen thatſächlich ala eine
Gefahr für das Frauenftudium betrachtet werden
kann. Die Berfammlung hält eine ftrengere Aus:
übung der Kontrolle für wünſchenswert. Der
Minifterialerlaß vom 26. Februar betreffend bie
Zulafjung von Hörerinnen mwürbe nad) Anficht der
Verfammlung ein genügendes Mittel zur Abftellung
der Übelftände fein, eine ftrenge Handhabung und
möglichit beichräntte Zulaffung von Ausnahmen
vorausgefegt. Doch erklärt die Verfammlung es
für wünſchenswert, daß die in Ausficht geftellten
Beltimmungen für die Ausländerinnen von biefen
eine Ausbildung verlangen, bie ber von ben
deutichen Hörerinnen geforderten durchaus entſpricht.“
* Das Wahlreht ber rauen für Die Ge-
werbegerichte wurde im Anſchluß an 5 10 und
S 13 des Gefeged über die Gemwerbegerichte bei
Beratung bed Abänderungsentwurfe® von bem
Reichdtag verhandelt. Der von fozialdemofratifcher
Seite eingebrachte Antrag, Frauen das paffive
($ 10) und attive Wahlrecht (K 13) für die Ge:
mwerbegerichte zu geben, den Abgeordneter Tutauer
mit dem Hinweis auf die Erfahrungen in Ofterreich
begründete, wurde gegen die Stimmen der Sozial:
demokraten abgelehnt.
* An der lUniverfität Heidelberg wurden
für dies Semefter ſechs Damen immatrifuliert.
Weitere zwei find vorgemerkt, und aus vorigem
Frauenleben und :Streben.
Semefter find brei verblieben Mit fonadh
mindeſtens 11 rite immatritulierten Studentinnen
hat die Ruperto:Carola im laufenden Senmer-
femefter die höchſte Zahl an einer reichäbeutichen
Hochſchule jemals vollberechtigt Ttudierender Damen
erzielt. Bei der erften Smmatrilulation an ber
Univerfität Freiburg i. B für das Taufenbe
Sommerjemefter wurden brei Damen eingejchrieben,
von benen fich zwei bem Studium ber Medizin,
eine dem ber Archäologie widmen.
* In Mannheim fol, mie bei Beratung bes
Budgets mitgeteilt wurde, der höheren Mübchen:
ſchule, unabhängig von biefer, eine Dberreal:
ſchule für Mädchen mit Unter und Bberprima
angegliedert werden, beren Nbiturientinnen bie
Univerfität befuchen tTönnen. Die Mäbchen, die
ſich bumaniftifche Bildung aneignen wollen, find
zum Befuch des Mannheimer Gymnaſiums
berechtigt.
* Den Ruhm des rüdftändigften Bereins-
rechtes im Dentfchen Reihe bat Brannfchweig,
und es fcheint ihn ftolg behaupten zu wollen Es
Ihließt die Frauen nämlich nicht nur von politifchen
Bereinen, ſondern auch von allen Berfammlungen
diefes Charakter8 aus, und der Bolizet- Präfident
behnt dieſe Beftinnmung auf den evangeliſch-ſozialen
Kongreß aus, der zu Pfingften dort tagen will
Der Allgemeine Deutfche Frauenverein,
der im Herbit feine Generalverfammlung gleichfalls
in Braunſchweig zu halten beabfichtigte und bereit?
das betreffende Geſuch dem Polizeipräfidenten ein:
gereicht Hatte, bat, infolge der Zurückweiſung der
Frauen vom Evangeliſchen Kongreß, fein Geſuch
zurüdgezogen. Im übrigen ſcheint fich Braunfchweig
erft neuerdings auf den Paragrapben befonnen zu
haben, ber den Staat vor einer Gefährdung durch
bie rauen fchüßen fol. Als vor 33 Jahren ber
Allgemeine Deutiche Frauenverein dort tagte, fvurbe
ihm der Rathausſaal zu feinen Berfammlungen
eingeräumt und Frau Dr. Goldſchmidt Konnte
zum Schluß einer Rebe, in der fie u.a. die Zulaflung
der Frauen zu kommunalen Ämtern forberte, den
Vertretern der Stadt Braunfchmeig ihren Dank
mit den Worten ausſprechen:
„Laſſen Sie e8 mid noch zum Schluſſe als
ein bedeutungsvolled Zeichen der nahenden Erfüllung
der in meinem Antrage geftellten Forderungen
begrüßen, baß die Vertreter der altehrwürbigen
Stadt Braunſchweig uns dieſe Stätte zu unfern
Beratungen geöffnet. Sie haben und bamit ala
Bürgerinnen, unjere Beftrebungen als gemeins
nüßige anerkannt.”
Als das Kefultat einer Entwidlung von drei
Jahrzehnten ift die Zurüdweilung der rauen des
Rrauenleben und
evangeliich iesiaten Menarchics fur Braunichwein
aewiß cin seltiames Jeunnis. Immerbin kann
man im Sinblid auf die Beruckſichtigung. Die das
Vergehen der Hraunicweiger Veborde durch die
Weleuichaft für Tosiale Reform gefunden 11. 2.507
dieier Kummer), Die aanze Sache al& ein Zeichen
einer Ariũs betrachten, auf Die endlich cine
der ungelunden Verbaltniſſe, Die durch bie ci
ĩtaatlichen Vereinsrechie geichaften werben, er
felgen muß.
» Über die induftriele Tramenarbeit im
OHeſſen krinat der neue Jabreebericht der beittichen
Griwerbiinipektion «1Mm) eine Neibe für uns
wichtiger Rotizen. Mer den Erielg der Arbeit der
weiblichen Aifiitenten berichten die Auichtebeamten
von Tffentah und Tarmitant (unitiais. Der
fenkader Tenitattert, dak Der
Arbeiterinnen mit der Aftirentin ſich iebr acheben
babe, baupriahlic auf (rund der in ihrer Dienit
lien Thatiareit erwerbenen Kenntnis von Terionen
und werben.
Bemerfendwert find Die Angaben uber die
Arbeirdzeit Fur die Arbeiterinnen. Ton 145 Jabriken
des Mainzer Besirts beichaitigen nur 20 bie
Arbeiterinnen 197, besm. I1 Stunden malic, aue
anderen breiben unser der acieplich
Rarimalacbei: ding danach, de
lortuntige N
grekt Schmier
Tie Treaniatien
* Die Gründung eines Bi
fer ranenvereine,
+ geberene Hefenfame in Teetinbem ernannt.
Streben. 5
ittat Heidelbera sum Ghrenbofter ernannt wurde,
ft jett zum Witter des bertugieſiichen Santiaue
erdens ernannı worden. Tie aleiche Auszeichnung
eriubr Die bekannte vertugieiriche
Amalia Sa: de Carvalbe.
criten rauen in Kertuagal,
verlieben wurde.
Üund dies Die
denen dieier Erten
Als Sculinipehter im Berirt Tectindem
(Erorinz elderland wurte rau X. H. M. vente,
Zie
iit der eriie weibliche Schulinipefter in Sellane.
- Ein‘ an Frauen eingeleiteteö gensfienihait-
n Maktaber icheint
andeiter Ausiihr auf Kerwir:
Es banteit Äh um Me Einsuhtung ve
teinunastuchen inc denen Bezırfen ver Statt,
durch die man den turd
bervorgeni
bes Einzeibausbaltes abzuberien
Ruce ich in rurrer Ber ın einem ter widtteiten
Staditeile erofner werden. Tie li
eine Aktienseilihak mir beisrantter
“ Die Begräudung
im Normen
570
„über den phufiofogifhen Schwachfinn des
Weibed“ von®.J.Möbius. 2. Aufl. (Halle a. ©.
Sarl Marhold.) Bon Zeit zu Zeit taugt immer
einmal wieder ein Mediziner auf, der mit jenfatio-
nellen Behauptungen über bie geiftige Beſchaffenheit
der Frau ein billiged Auffehen erregt. Die Sade
ift jest bereit® jubiläumäreif, denn betanntlich
begann Profeffor von Bifchoff in den fiebziger
Jahren den Reigen. Auf Bilhoff folgten Runge
und Albert, von deſſen Broſchüre Marie von
Ebner-Ejchenbad) bekanntlich fagte: „Solde Bücher
nügen un mehr als fie ſchaden · Febt ift wieder
ein ganz Heiner Epigone erftanden, ber über den
pbpfiologifchen Schwachjfinn bes Weibes allerlei Mare
au berichten weiß, gefpiet mit Reminicenzen aus
Schopenhauer, Lombrofo und den ärztlichen Kollegen.
Seine mebizinifchen Behauptungen haben bereits
eine fachverftändige Entgegnung gefunden; bie
übrigen einer Widerlegung zu würdigen, liegt fein
Grund vor. Iſt doch der Verfaffer uͤndlich genug,
um ſich beifpielaweife an der Anwendung bes
Namen? „Frau“ als Kollektivbezeichnung für dad
ganze Geflecht zu ärgern, das feiner Anficht nach
mur Anfpruch auf ben Namen „Weiber“ Habe.
Wir raten ihm, zu einer Befeitigung dieſes Arger⸗
niſſes ſich doch einmal an bie Eifenbahnverwaltung
zu wenden, mit der Bitte, die Auficrift „Frauen:
koupee” in „Weiberfoupee” zu verwandeln, was
nad Anſicht des Herrn Möbius allein bem Sprach:
gefühl des deutichen Volles entfprechen wilrbe. Im
übrigen ift die Sucht des Verfaifers, überall nur
Krankheit und Schwachfinn zu jehen, wohl genügend
dur) fein Bud) „Über das Pathologiſche bei Goethe”
getennzeichnet.
Daß übrigens ein Blatt wie der „Zeitgeift”
diefes Viſchoff Lombrofo: Albert: Runge: Möbiuside
Ragout mit einer hochſt faden Hans Schulzeihen
Brühe ferviert feinen Leſern vozufegen wagt, zeigt,
auf was für einen Geſchmack man in dem Lande
noch rechnen darf, dem die Frauen einft als „etwas
Heiliges” galten. Die Frauenbewegung aber wird
über alle diefe Schulze und Müller, dieje Hans und
Kunz zur Tagesordnung übergehen.
Es märe ja freilich ein Leichtes, dem Schrift:
hen „Bom phyfiologifhen Schwachfinn des Weibes"
ein gleiches „Vom phyfiologifcen Startfinn, vulgo
Brutalität, des Mannes“ entgegenzufegen. Ich
wollte mich gleich anbeifchig machen, babei zu ebenfo
ſchiefen Nefultaten zu kommen.
Infiierung der Mehrzahl der Männer, bie Taufende
von Frauen, bie durch fie vernichtet werden, bie
Milliarden, die fie alljährlich in Altobol, Tabak und
Tulinarifche Genüffe umſetzen, der brutale Egoismus
Die gefehlechtliche |
von Taufenden von Chemännern und Familienvätern,
mad für granbiofe Themen für ein Kapitel über
den phyſiologiſchen Starkfinn des Mannes! Wahrlich,
es wäre leicht, gegen Schopenhauer zu behaupten,
daß bie Frau der eigentliche Menfch fei, feicht,
in der frau ber heutigen Beit mehr edelmenſch⸗
Tide Züge nadzumeifen, ald in dem durch ben
Dienft der Venus, bes Bachus und Gambrinus
entarteten Mann. Den phyſiſchen Grund folder Ent:
artung könnten wir ja dann, die Grau ald Normal
menfch gefet, in dem zu großen Gehirn und ber
zu maffiven Beſchaffenheit des Mannes fuchen,
die ihn höchſtens geeignet machen, ihr als Gehirn.
und Krafttier Syſieme und technifche Apparate zur
Erleichterung ihrer rein menſchlichen Wirkfamfeit
zu bauen. Aber wir rauen von heute haben
anderes zu thun, als folhe Spielereien. Wir wollen
zufammen mit den Männern, bie mehr fönnen,
als fenfationelle Brofhüren ſchreiben, eine Zeit
heraufführen helfen, in ber billige Schmäbungen
der Frauen bie verdiente Nichtbeachtung finden, in
der Mann und Frau vereint, tie in der Familit,
fo auch im öffentlichen Leben, an der Hebung und
Veredelung ber Menfchheit arbeiten.
nDie Wenigen und die Bielen.“ Neue Eifave
von Ellen Key. (Berlin 1901, ©. Fiſcher Verlag.)
Eine moderne Lebenzftrömung, bie der Frauen
beivegung zuerft ihre Fluten entgegenzurollen ſchien.
der Individualismus, beginnt fih nun beutfih von
ihr zu fcheiden, und nimmt manche mit fort, bie
ihr halb gehörten. Ellen Key feht an bieſer
Grenzicheide. Auch die Frauenbewegung ift gewedt
und getragen von ber Kraft bed modernen Individua⸗
lismus, mag fie auch in dem altruiftifchen Pathos,
das ihre erften Lebendäußerungen trug, und in
den Mitteln, die fie ergreifen mußte, ihren Urfprung
verleugnet haben, mag die Art und bie Zahl ber
Anhänger, die fie fid) gewonnen, ihr den urfprüng-
ůchen Charakter verwißht und ihrem Auftreten ein
Mittelmäßigteitögepräge gegeben haben Es finb
die Formen, die die fozialen Verhältmiffe ihr
aufzwingen. Sie mußte ſich „herbenmäßig“
organifieren, um eine Macht zu werden. An biefen
Formen nehmen die „Wenigen“, zu denen Ellen
Key fi dechnet, Anftoß. Sie eriheinen da düch
unharmoniſch, unvornchm, fic gehören ben Vielen“
an und verhüllen das feine eigenartige Wefen der
Beften. lien Key hat ſchon viel gegen biefe
Formen aefagt, ſchon mehr und Beffered als in der
neuen Sammlung ihrer Eifays. Neue Gefichts:
punkte bringt fie nicht, fie greift nur birckter an,
als etwa in der erften. Eines Eingehens auf dad
Frauenvereine.
Sachliche der Efland, die fpexiell der frauen:
(Sie !
bewequng gelten, bedarf es desbalb kaum.
find übrigens zum Teil auch ſchon älteren Datums.)
Was bie übrigen Beiträge der Samınlung betrifft,
fo kann fi einer, der Ellen Key kennt und ihre
ſchriftſtelleriſche Thätigfeit verfolgt, des Eindrucks
micht ganz erwehren, daß auch feines Nefleftieren
über die feinen Tinge des Lebens in einen er:
mübenden Kreislauf einmünden fann.
„Education of Girls and Women In Great
Britain“ von C. S. Brenner. (London, Swan
Sonnenfeein, 1897.) Eine mit forgfältiger Aus:
wahl des Wefentlihen Kar zufammengeftellte
Überficgt über das engliiche Mädchenfhulmwefen
von der Volioſchuie Bid zur Univerfität. Sie dürfte
bei dem allgemeinen nterefie, das bei und bem ,
englijhen Mädchenerziehungsweſen entgegengebracht ;
mird, in Peuticland wohl aud eine Yüde auß:
zufüllen geeignet fein Das Buch behandelt in
zwei Zeilen das Bildungsweſen in England und
Wales, und in Schottland. Beſonders wertvoll ift
& baburd, daß «8 die tehniihe und gewerbliche
Ausbildung der Mädchen eingehend berüdfictigt,
ein Gebiet, auf dem der Ausländer aus Mangel
an Material fib am ſchwerſten orientieren fann.
Die Einteilung in kurze Abfchnitte mit vorgedrudten :
Inhaltsangaben erleichtert das Auffinden von Zeil:
gebieten außerordentlich.
571
Abendlinder.”” Roman von Frieda Freiin
von Bülow. (Dresden. Carl Reifner.) Der
‚ neue Roman von Frieda von Bülow führt uns in
cin Milieu, dad ihr befannt ift, tie faum ein
| sneited, auf die Güter des thüringiſchen Landadels.
Man mag einzelne Vorkommniſſe bezweifeln, man
mag fi unter anderm bie frage vorlegen, ob
eine Frau wie Juliane wirklich einen Mann wie
den Grafen Ternach, der ab und zu ganz harmlos
; einen Meinen Ehebruch begeht oder ſchwer betrunten
nach Hauſe getragen wird, ertragen könne: ber
volalton ift fo unzweifelhaft echt, daß das Buch
durch derlei Einzelheiten feinen Reiz nicht einbüßt.
| Er liegt Hauptfächlic in dem liebevoll wehmütigen
Verwellen auf Heinen feinen Zügen, bie ben Unter:
gang einer Welt bezeichnen, bie fi in ihrer aus:
geprägt ariſtotratiſchen Färbung, in ihrer vornehmen
Zurüdhaltung von jeber Aktion, die auf materiellen
Gewinn abzielt, gegen die thatlräftige, aber nichts
weniger ald ariftofratifehe Gegenwart nicht mehr
zu halten vermag. Tie Yiebe, mit der bie Ver:
fafferin die legten Dieimanndriebs fdilbert, bie in
bewußter Refignation auf eine Fortführung des
alten Geſchlechts verzichten, zeigt deutlich genug,
auf weſſen Seite ihr Gerz ift, wenn auch ibr Kopf ſich
dem nüchternen Rüglichleitöprinzip ber Gegenwarts⸗
welt nicht verfhließt. Am wmenigften wirffam ift bie
Berliner Epiſode bes Romans. Der berühmte Berliner
| Künftler will fid nicht recht überzeugend geftalten.
u
Franenvereine.
Aufruf!
Der unterzeichnete Vorſtand beabſichtigt eine
größere Frauenbibliothet in Leipzig einzurichten.
Der Stanım diejer Bibliothek befteht aus ber
„Louiſe Otto: und Auguſte Schmidt: Stiftung”,
welche von Herrn Profefior Dr. Wendt in Troppau
begründet und bis jegt in banfenswertefter Weile
verwaltet worden ift. Die Bibliothek ſoll enthalten:
1. alle diejenigen deutſchen Schriften, welche
don Frauen ober von Männern über die rauen
und Frauenbetoegung geſchrieben worden find, gleich: ,
viel ob im freundlichen oder im feindlichen Sinne;
2. die wiſſenſchaftlichen Schriften, die von
deutſchen Frauen geichrieben worden find. Zu
dieſen würden auch die Tiffertationen der deutſchen
Doltorinnen gehören;
3. die Schriften auslandiſcher Frauen und ihre
wiſſenſchaftlichen Arbeiten, ſowie Schriften zur
Frauenbewegung ded Auslands.
Wir bitten nun hierdurch unjere Mitglieder
ganz ergebenft, micht mur ihre eigenen etwaigen
Arbeiten einfenden zu wollen, fondern au in
weiteren Kreiſen freundlichſt dafür zu wirken, daß
Werte der oben bezeichneten Art im Sinblid auf die
Bedeutung des Unternehmens dem Verein zur Ver: !
fügung geftelft werden. Einfendungen werden an
Arau Johanna Schweiger in Leipzig, Löhrftrafe 9,
Marthahaus, erbeten.
Der Borftand
des Allgem. Teutfhen Frauenvercind.
Dert rheiniſch-weſtfäliſche Zranenverband
unter beſonderer Verückſichtigung provinzieller
-hältnijie — während der zwiſchen ben vundes⸗
Verſammlungen gelegenen Jahre den räumlich ein:
ander naheliegenden Vereinen Gelegenheit geben zu
gegenfeitiger Anregung und Förderung, zu gemein:
famem Vorgehen in verfejieenen Fragen von alls
gemeinem Intereife. Der Berband hofft, aud
folhe Vereine zum Anſchiuß zu gewinnen, denen
ein diretter Anfcluß am den Bund nod) fernliegt.
Er möchte vor allem auch burd Aufnahme von
Einzelmitgliedern in folgen Städten, in denen
tein dem Verband angehörenber Verein beftcht,
ein Mittelpunkt werben für bie noch verftreut
lebenden eingelnen Anbängerinnen der Frauenfache
in beiden Provinzen, möchte durch Sermittlung
‚ Diefer Eingelmitglieber den Ideen der Frauen
beiwegung an allen Orten neuen Boden getrinnen.
Durch Vorträge, durch Verbreitung von Propaganda:
material, durch geregelten Außtaufc) der im ver:
ſchiedenen Stäbten gemachten prattifchen Erfahrungen
hofft der MWerband förbernd thätig zu fein unb
‚ weitere Kreiſe von dem Ernſt und ber Rot:
wendigkeit der jyrauenbeftrebungen zu überzeugen.
I Er gehört bem Bunte beutiher Frauenvereine
‘ an und muß fagungsgemaß auf den Yundes:
572
verfammtlungen vertreten fein. Außerdem mwirb er
in jedem Frühjahr in beiden Provinzen
wechſelnd — eine Verbandes-Verſammlung berufen.
Mittelpunkt ded Verbandes ift die Zentral:Auskunft:
ftelle, Die unter Leitung der 1. Borfigenden, Frau
Krutenberg:Bonn, ſteht und auf alle Anfragen —
auh aus dem Verband fernftehenden Frauen:
freifen — koſtenlos Auskunft erteilt, und die
Propagandaftelle, welche in Händen der 1. Schrift:
fübrerin, Frl. Günther-Bonn, liegend, Flugblätter,
Drudichriften u. ſ. m. verbreitet und Anregung
giebt zur Begründung neuer Vereine unb Orts:
gruppen. Durch Inſerate in größeren Zeitungen
will der Berband auf feine Thätigfeit aufmerkſam
machen. Geldmittel fteben ibm bank ber Frei:
gebigteit verfchiedener Mitglieder bereits aus:
reichend zu Gebote. Bisber haben Frauenvereine
aus Bochum, Bonn, Dortmund, Godesberg, Köln,
Remſcheid ihren Beitritt erflärt.
Der Verein „Hauspflege“,
Abteilung des Berliner Frauen-Bereing, veröffentlicht
den IV. Jahresbericht über feine Thätigfeit im
Laufe des Jahres 1900. Als der Berein im’
Sabre 1897 begründet wurde, erftredte fich feine
Wirkſamkeit vorerft nur auf die am meiften be:
dürftigen Stadtgegenden SO. O., N., NW. mit
125 Stadtbezirken. Im Januar dieſes Jahres
wurde das Gentrum als letter noch fehlender
zeil mit in den Kreis der Vereinsthätigkeit ein-
aeichloffen, und nunmehr umfaßt das Gebiet des
Vereins das gefamte Berlin mit feinen 357 Stadt:
bezirten. Die Thatfache des fo fchnellen Wache:
tums des Bereind bemeift am beiten, daB feine
Leiftungen einem wirklich vorhandenen Bedürfnis
entiprechen, daher hat er auch in den 4 Sahren
feiner Thätigkeit fo viel Freunde und Gönner ge:
funden, die bie rafche Ausdehnung feiner Arbeit
ermöglichten. Das verfloffene Jahr bat fi) von
den früheren nur dadurch unterfchieden, daß die
Arbeit außerordentlich gewachſen if. Es wurde
im ganzen in 2328 Fällen mit 19 384 Pflegetagen
gepflegt. Das Zuſammenwirken mit dem Berliner
Verein für häusliche Gefunpheitöpflege und vielen
anderen bat fich für beide Teile durchaus bewährt
und wird immer unentbehrlicher und felbftverftänd:-
licher. Außer in Fällen ſchwerer Erkrankung hat
der Berein auch durch Gewährung von Hilfe bei
leichteren Erkrantungen und Rekonvalescenten
dadurch vorbeugend gewirkt, daß er durch Ge
währung von Wafchtagen und ftundenmeifer Hilfe
der Hausfrau die Möglichteit gab, fich bis zur voll:
jtändigen Wiederberftellung zu fchonen, ohne daß
die Ordnung ihres Hausweſens darunter zu leiden
batte. Sebr erfreulich ift Die ftetige Zunahme der
Zahl der freiwilligen Zuzahlungen für gemährte
Hilfe, ſowie der Umftand, daß wiederum mebrere
Familien aus Dankbarkeit für die in fchwerer Zeit
geleiftete Hilfe dem Verein als zahlende Mitglieder
beigetreten find. In finanzieller Hinficht war das
Jahr in Bezug auf einmalige bedeutende Bu:
wendungen befonderd günſtig. Die Befichtigung
von Ateliers und Kunftfammlungen ergab einen
Reinertrag von 9328,45 Mark und die Stadt Berlin
erhöbte ihre Subvention auf 4000 Marl. Auf
Grund der neuen Beftimmungen des Bürgerlichen
Geſetzbuchs ift der Verein in das Vereindregifter
eingetragen worden,
Frauenvereine.
Der Dentſch⸗Evangeliſche Franenbund
hielt am 13., 14. und 15. Mai in Gotha feine
II. Jahresverſammlung ab. Am Montag Ieitetc
ein Feſtgottesdienſt mit Predigt bed Herrn General:
Superintendenten Pfeiffer aus Kafiel die Ber:
fammlung ein. Ein Begrüßungsabend ſchloß Fich
an, der die von nah und fern zuſammen gelommernen
Mitglieder zwanglos vereinigte. Die erſte geihäft:
liche Situng am Diendtag Morgen wurde von
Frau Pfarrer Schrader:Kaflel, der bisherigen
ftellvertretenden Vorſitzenden, mit einer aegrüßunge-
rede eröffnet, in ber berpvorgeboben wurde, wie dic
Grabesluft früherer Seiten heute nicht mehr webe,
wie es nötig fei, die Schranken nieberzureißen, die
den Frauen feit Jahrhunderten aufgerichtet waren.
Die Nebnerin fchloß mit dem Wunfche, daß ter
Bund für die Unterdrüdten unſeres Geſchlechts,
für alle Frauen eintretend, in treuer Arbeit wert-
thätiger Liebe wachſen und gebeiben ındge. —
Fräulein Ganslandt-Kaſſel erftatteteben Geſchäfts
bericht: Der Deutſch⸗Evangeliſche Frauenbund zählt
heute 2108 Mitglieder mit 22 Drtögruppen.
28 Bereine haben fih ibm angeſchloſſen. Neu:
begründet wurden im legten Jahre die Dridgruppen
in Lübel, Naumburg und Cannſtadt. Nah Er:
ledigung meiterer geſchäftlicher Angelegenheiten er:
folgte die Neumahl des Bundesvorſtandes: zur erften
Vorfikenden wurde Fräulein Paula Müller:
Hannover, zur ftellvertretenben Borfigenden Fräulein
A. v. Bennigjen:Bennigfen bei Hannover, zur
Schriftführerin Gräfin M. Püdler: Hannover, zur
Schapmeijterin Fräulein A. Schöntan:Kafiel, zu
Beifigerinnen Frau Oberftabtarzt Steinhaufen:
Hannover, Fräulein E&.&ondbruch:Kaffel, Fräulein
M. Ganslandt-Kaſſel, Freiin A. v. Gablenz:
Weimar, Fräulein M. Schmidt: Stuttgart gewählt.
Der Bundesfig wurde nach Hannover verlegt.
Unter Leitung‘ der neugewählten Vorſitzenden
wurden fodanı bie behufs Cintragung in das
Vereindregifter wingearbeiteten Satzungen und ver:
ſchiedene Anträge einzelner Urtdgruppen bir:
beraten.
Die Grüße und Wünfde der Stadt Gotba
überbrachte Herr Bürgermeifter Oftertag; feitens
des Herzoglich-Gothaiſchen Staatsminifteriums
wurde der Deutſch-Evangeliſche Frauenbund durch
Herrn General-Superintendent Kretſchmann
begrüßt.
In zwei öffentlichen Verſammlungen wurden
folgende Vorträge gebalten, an die ſich lebhafte
Diskuffionen fchloffen: I. die Erziehung unferer
Töchter zur Wahrheit und zum Pflichtbewußtſein,
Fräulein v. Broceder: Dresden; II. Erwerbszweige
und Berufsarten für zrauen, Fräulein Eywalina:
Kaffel; II. Mad kann von Seiten des Deutic:
GEvangelifhen Frauenbunded zur Gewinnung von
Hülfskräften für die häusliche Krantenpflege ge:
Iheben? Fräulein Schönian:Kaffel; IV. bie
ftaatliche Fürforge: Erziehung und ihre Aufgaben
für die Wiitglieber bed Deutich : Evangelischen
Frauenbundes, Fräulein Pholen: Hannover.
Am 14. fand noch ein von Herrn Pfarrer lie.
\cher geleiteten Volksabend ftatt, Als Ort der
nächſten Sabresverfammfung wurde Hannover in
Ausſicht genommen. . M.
Frauen und Frauentypen. 879
erzeugt den Anjchein des Gegenteil. Und ausbrüdlic verwahrt fi Lou Andreas:
Salome gegen das verbreitete Mißverftändnis, die beiden Gefchlechter als bloße Hälften
aufzufaffen, wie „es in ber populären Redewendung vom Weiblichen als dem paſſiv
empfangenden Gefäß und dem männlichen als dem aktiv ſchöpferiſchen Inhalt”
geichieht.
„Der Menſch als Weib” ') im Salomefchen Lichte ift eine Zufammenftellung aller
Eigenfchaften, die ſich aus den phyſiologiſchen Bedingungen der weiblichen Korporifation
ableiten laſſen, eine modernifierte Auslegung deſſen, was von alteräher als ſpezifiſch
weiblich gegolten hat. Daher auch die Salomeihe Anfhauung, daß jene alten
Bezeichnungen für dad Wefen des Weibes, „als da find: Häuslichkeit, am-Herbeswalten,
Religion, Selbftbefcheidung, Unterordnung, Reinheit, Sittigfeit u. a. m.“, keineswegs
Zufalöbezeichnungen find, fondern, wenn auch grob und kompakt gefaßt, Symbole
und Illuſtrationen für die wahre Wefensveranlagung bed Weibes. Nach Lou Andreas:
Salome geftattet. diefe Wefensveranlagung feine völlige Individualifierung; das Weib
hat immer vom Gattungsmäßigen viel mehr an fi als der Mann. „Denn das ift
dad Eigentümliche, daß das Weib dem Weibe gleicher ift, al der Mann dem Manne.
In irgend einer geheimnisvollen und höchſten Bedeutung wird e8 wahr, was bie
ſchamloſe Brutalität der Sinnlichkeit vom wahllos aufgegriffenen Weibe ausfpricht,
daß Weib oder Weib dasfelbe gelte.” Das Weib ift das minder inbivibualifierte
Weſen, weil e8 „noch unmittelbar Anteil Hat an dem Allleben felbft und wie deſſen
perſönlich gewordenes Sprachrohr wirken kann“.
Daher fommt ed, daß ed im feiner felbfleigenen Welt als dauernden Seelen:
zuftand das befigt, was daß frieblofe, fich ing Grenzenlofe verlierende und fpezialifierende
Mannesweſen nur in feinen höchſten Augenbliden erreicht.
Die Salomefche Art der Darftellung, die dad Konventionelle verflärt, um aus
ihm die Anhaltspunkte für „ein Bild im Umriß“ der allgemein giltigen Weiblichkeit
zu gewinnen, fchließt fo völlig die Zeichnung des Individuellen aus, daß es hier fogar
aus dem Welen bed Weibes heraus grundfäglich abgelehnt wird. Sie ift zugleich
die Vorausfegung, unter der bie generalifierende Methode ſich rechtfertigt; in ber
Marholmſchen Darftellung Hingegen führt ſich die generalifierende Methode jelbft
ad absurdum, gerade weil „dad Weib” der Laura Marholm ein indivibuelleres
Gepräge trägt, weil es ein reales Weſen und nicht ein aus dem Gattungsmäßigen
Tonftruierte® Schemen iſt. Was für Widerfprüche vereinigt dieſes Weib in fih, aus
mas für wunderlich uneinheitlichen Beitandteilen ift e8 zufammengefegt! Vorerſt das
„Sentrale” des Weibes, „die heiße Duelle... . die des Weibes Ein und Alles, fein
Mittelpuntt, fein Genie und fein Inhalt ift — bie durchſeelte, verinnerlichte
Gefchlechtlichleit”. Deshalb ift es auch nicht der Mann, „für den die Wahl die
wichtigfte Angelegenheit ift, fondern das Weib“. Und dieſe Wahl mit feinfügliger
Unfehlbarkeit zu treffen, „nachtwandleriſch ſicher den einen organiſch-ſympathiſchen
Geliebten unter taufend gleichgiltigen oder abftoßenden Menfchen herauszufühlen“, wird
als Ausdrud der intakten, hochkultivierten Weibnatur gerühmt.
Aber mit Staunen Hören wir alsbald: „es kommt für das Weib in erfter Linie
nicht fo ſehr darauf an, wen es liebt, fondern daß es liebt.” Ja wir erfahren, daß
der Mann, je braver, wärmer, beffer er ift, defto pathetifcher die große Liebe verlangt,
‘) Neue deutſche Rundſchau, Jahrgang 1899, Heft 8.
37°
Frauen und Frauentgpen. 881
fondern — Gott. Mit fo weitgehenden Vollmachten ftattet felbft die patriarchaliſche
Vorftelung vom Weibe den Mann nicht aus!
Noch von einer anderen Seite fehen wir die fpezififche Weiblichkeit bei Ellen
Key. Sie fucht im Gegenfag zur Salomefchen Auffaffung für die Frauen eine
„unbegrenzte Freiheit ber Individualität” trog der durch ihre Phyfis bedingten
Gebundenheit zu retten. Dieſes Bemühen, den individuellen Unterſchieden gerecht zu
werben, durchkreuzt bei ihr beftändig die generalifierenden Schlüffe, die fie für ihre
Beweisführung doch nicht entbehren fann. Unter ihren Händen verwandelt fich die
Weiblichkeit fo unaufpörlih, daß man endlich nicht mehr weiß, warum denn von
etwas fo Unbefiimmbarem ober von etwas fo Nebenfächlichem weiter die Rebe fein fol.
Ellen Rey befennt zwar, ') daß ein einziger Ausnahmefall weiblicher Überlegenheit
eine unabweisliche Stüge für die Forderung auf volle Freiheit der Selbftbeftimmung
für jede Frau bildet — aber der Zweck ihrer Ausführungen iſt trogdem, durch Nach:
weiſe über das, was das wahre Weſen des Weibes ift, diefe Freiheit einzufchränfen.
Wenn die Geſellſchaft, wie Ellen Key fordert, Feiner Frau Hinderniffe in den Weg
legen darf, zu zeigen, was die Natur gerade mit ihr beabfichtigt bat, müßten dann
nicht zu allererfi die normativen Beftimmungen über dad Weibliche und Unweibliche
aufhören? Wozu fol e8 dann dienen, dem einzelnen Individuum vorzuhalten, mie
die große Menge feiner Gefchlechtägenofien beichaffen ift, und ihm Richtungslinien
anzumeifen, die aus Unterfuchungen über dad Durchfchnittliche gewonnen find?
Vielleicht ift e8 gegenüber ben extremen Standpunften in der Frauenbewegung
angezeigt, durch folche Darftellungen de3 allgemeinen Geſchlechtscharakters u. dgl. daran
zu erinnern, daß nicht alle Frauen für eine andere Lebensführung als die überlieferte
geeignet find. Vielleicht — denn ed wäre ja möglich, daß bie Frauenbewegung durch
übereilte Verallgemeinerungen bie und da urteilslofe Perfonen auf einen falfchen Weg
loden, fie mit dem äußerlichen Ehrgeiz erfüllen könnte, etwas anzuftreben, wozu fie doch
nicht taugen. Diefe Beftimmungen über das Durchfchnittliche tragen aber gleichzeitig
dazu bei, die normative Gewalt zu verftärken, welche die ftaatlihe und geſellſchaftliche
Tradition ohnedies über das einzelne Individuum ausübt — wie fehr auf Koften ber
perfönlichen Freiheit, daB wiffen eben nur diejenigen, die nicht in die herrſchende
Norm pafien.
Nah dem Erfahrungsfage, daß auf geiftigem Gebiete dieſelben Verhältniſſe
herrſchen müffen wie auf dem des Körpers, fucht Ellen Key die fundamentale Ungleichheit
dort, wo ber michtigfte funktionelle Unterfchied im natürlichen Leben der Gefchlechter
liegt. Wie bei Laura Marholm duch die Wildheit, ift bei Ellen Key das Weib durch
die Mütterlichleit „enger mit der Natur verwandt” als der Mann, mit dem Myftifchen,
das hinter der Wirklichkeit flieht; und, „wenn die Kraft der Mütterlichkeit einft auf
Erden in ihrer vollen Selbftherrlichfeit Hervortritt, dann wird fie, in einer tieferen
Bedeutung als bisher, der Welt die Erlöfung gebären —“ nämlich, wenn bie Frauen
erft gelernt haben werben, ihre Mütterlichkeit, die fie biöher nur in der Hingebung an
private und perfönliche Verhältniffe bethätigten, auf die öffentliche und allgemeine
Sphäre zu übertragen.
Diefe Sphäre war freilich nach Ellen Keys eigener Angabe immer biejenige des
Mannes; und e8 ift nicht einzufehen, wie die Hiftorifche Entwidlung der ſpezifiſch
») Mißbrauchte Frauenkraft.
Frauen und Frauentppen. 583
viel zu wenig beachtet wird. Und es ift zu fürchten, daß in der „allgemeinmenfchlichen
Sympathie, der Mütterlichkeit in der mweiteften Bedeutung“, die fozialen und religiöfen
Genie unter den Männern der Chriftlichleit den Frauen längft den Rang abgelaufen
haben.
Der altruiftifchsfentimentale Typus der Weiblichkeit Ellen Keys bat, foweit fein
Gebiet die Familienverhältniffe find, mit dem erotifch:ercentrifchen der Laura Marholm
den Mangel an Perfönlichleitsgefühl gemein. Beide glauben zwar eine befondere
„Weibperſonlichkeit“ der Mannperfönlichleit entgegenfegen zu können; aber der Begriff
der freien Perfönlichkeit ſteht und fällt mit der Vorausfegung, daß ein Menſch feinen
Zweck ſich felber fegen und bie Impulſe feines eigenen Weſens zum Inhalt feines
Lebens machen kann. Wer feinen Inhalt außerhalb feiner felbft fucht, das Ent-
ſcheidende feiner Eriftenz in eine andere Perfönlichkeit‘ verlegt, macht ſich dadurch zu
einem Menfchen zweiter Drbnung, zu einem felundären Weſen. Wie der Begriff der
Perſonlichkeit auf der Vorausfegung innerer Unabhängigkeit, jo ruht aber der traditionelle
Begriff der Weiblichkeit auf der Vorausfegung ber Abhängigkeit und beftimmt die
ganze Hiftorifche Stellung des weiblichen Geſchlechtes. Eine Frau, die eine felbftändige
Perfönlichkeit iſt, überfchreitet mit Notwendigkeit die Grenzen ber traditionellen
Weiblichkeit — wiſſentlich, wenn fie zugleich ſtarker Geift genug ift, fich ihre wirkliche
Natur einzugeftehen, das heißt, ſich berfelben reflectiv bewußt zu werden, unwiſſentlich,
wenn fie diefe Stärke nicht befißt.
Der Grad ber perjönlichen Hingebung ift an fich keineswegs, wie Ellen Key
will, eine zuverläffige Bafis für eine Gemeinfamleit oder Ähnlichkeit derjenigen Frauen,
deren Raceabzeichen er bilden fol, weil die Richtung, nach ber ſich diefe Hingebung
bethätigt, allzu große Unterſchiede zwifchen den einzelnen Individuen fegt. Eine Frau,
die in ihrer erotifchen Hingebung an den Mann das Lebengentfcheidende findet, wird
vergeblich erwarten, in diefem Punkt von einer Frau, deren Lebensintereffe fih in
der Mutterſchaft fonzentriert, verftanden zu werben. Der Grund, warum ber Gegen:
fag, der bier Herrfcht, nicht auffäliger zur Erfcheinung kommt, liegt nur in dem
Mangel an reflectivem Erfenntnisvermögen unter ben gewöhnlichen Frauen und in ber
Ähnlichkeit der Lebensbedingungen, durch die gemeinfame Intereſſenſphären hergeftellt
werben. In Wahrheit aber find diefe beiden Arten von Frauen fo verſchieden wie
Hund und Kage. Ya, man fannı vielleicht das Bezeichnendfte ihres primitiven Weſens
durch dieſen Vergleich charakterifieren. Die Frauen des erotiſch-excentriſchen Typus
mit dem Bedürfnis der Unterordnung unter den Mann haben etwas von ber Natur
des Hundes, der feinem Herrn auf Leben und Tod ergeben ift, und feinetwegen alles
andere im Stich läßt, wenn es fein muß, während die Frauen, die in ihren Kindern
aufgehen, mehr den Katzen gleichen, bie fi) an das Haus attadhieren, in dem fie
leben. Das Aufgehen in der Mutterihaft it an ſich noch fein Ausdrud weiblicher
„Selbftlofigkeit”. Die enge phyſiſche Verbindung, die aus dem Kinde einen Anner
des mütterlihen Organismus macht, erklärt es, daß viele Frauen der Mutterfchaft
ihrem ganzen Weſen nad) dem egoiftifch=frigiden Typus angehören.
Man kann mit demfelben Recht behaupten, daß „das Weib“ kein Centrum in
fich Hat, als daß es das fonzentrifchfte Weſen und viel mehr fein eigener Mittelpunkt
ift ala der Mann — es fommt nur darauf an, welche Art von Frauen man unter
dem Sammelnamen „dad Weib“ verfteht. Wer wüßte nicht, welchen Grad der Kultus
der eigenen Perfon, die an Selbftvergötterung grenzende Selbftliebe bei vielen Frauen
Frauen und rauentppen. 585
Es ift ein Ratſel, für das es feine objektive Erklärung giebt — es fei denn, daß
jede Frau, auch die wiſſendſte, auch die bedeutendfle, nur diejenigen Frauen kennen
und ſchatzen lernt, die ihrer eigenen Wefensart nahe kommen, ebenfo wie jeder Mann
in der Regel nur diejenigen Frauen kennt und ſchätzt, die feinem fubjeltiven Gefchmad
und Bedürfnis entfprechen.
Denn was find im Grunde alle generellen Ausfagen über „das Weib“ und
„den Mann“ anders als Selbitbefenntnifje? Der fogar Selbfiverherrlichungen?
Jeder verfieht darunter feine eigene, individuelle Befchaffenheit, mit jenem naiven
Dünkel, kraft deſſen man überzeugt if, daß man die Norm repräfentiert. Und es
Scheint, jeder will nur ſich felbft gelten laſſen, feine eigene Art als die allein echte
verbreiten.
Und doch befteht eine jo große Verfchiedenheit unter den Frauen, daß das
Verftändnis, das aus der bloßen Gefchlechtögemeinichaft entipringt, in vielen Fällen
völlig aufgehoben wird. Jener Freimaurerblid, von dem Laura Marholm fpricht, der
Blid, mit dem die Frauen angeblich untereinander die „Geheimfchrift ihrer inneren
Erlebniſſe“ Iefen, er bewährt fih nur unter Mitgliedern desſelben Grades, aber er
verfagt, wo es fih um größere Abftände Handelt, um Unterfchiede in dem, was ein
Menſch als den Kern feiner Perfönlichkeit, als das Myſterium feines befonderen
Weſens empfindet.
Jeder Menſch von Eigenart weiß, daß es eine Art von Perfonen giebt, die zu
ihm gehören, denen er ſich verftändlich machen kann, mit denen er etwas gemeinfam
bat, und eine andere Art, die ungeheuere Mehrzahl, zu der er feinen Zugang befigt,
die feine Sprache nicht verfteht, wie deutlich er auch rede, für die er in alle Ewigkeit
ein verfchloffened Buch bleiben wird. Die Trennungslinie läuft aber keineswegs immer
mit dem Gefchlechte parallel. Namentlich geiftig hervorragende Frauen finden ihre
Wahlverwandten eher unter Männern. Und nicht allein intelleftueller Momente wegen;
fie haben in viel tieferen Dingen mehr Berührungspunfte mit ihnen als mit ben
Angehörigen ihres eigenen Geſchlechts.
Ein weiſes und freies Wort über das Problem der Weiblichkeit hat Mar Stirner
ausgefprochen, als er fagte: „Was fol man von einem Weibe denken, die nur voll»
kommen ‚Weib‘ fein wollte? Das ift nicht jeder gegeben, und mande würde ſich
damit ein unerreichbares Ziel fegen. Weiblich dagegen ift fie ohnehin, von Natur,
die Weiblichkeit ift ihre Eigenſchaft, und fie braucht der ‚echten‘ Weiblichkeit nicht.”
Hineingebannt in die Schranken einer begrenzten Individualität fönnen wir bie
geheimnisvolle Bafıs, auf der unfer Fühlen und Wollen fih ſchickſalsmächtig erhebt,
nicht wählen und nicht ändern. Wir fönnen nichts Höhere, als ihr, über alle
Normen, Vorſchriften und guten Lehren hinweg, gehorchen. Denn was die Natur
ſelbſt in unferer Eigenart geſchaffen hat, das allein ift das Echte. Aber das ift nicht
das Gleiche für alle.
586
Sin ſalomoniſches Urteil.
Sin Zeifeerlebnis
von
B. Benry- Moor.
Nachdruck verboten. en
WON wohlwollend Hatte unjere Kleine, in der Cremitage eingeregnete Babe:
SR gejelljchaft die Gejchichte meines Neijeerlebniffes aufgenommen, daß ich faft
ESEE enttauſcht war, als plöglich ein Sonnenftrahl in die Borkhütte fiel und all
meine Zuhörer hinauslockte.
Nur eine feine ältere Frau, mit lieben, Eugen Augen, zögerte noch und fagte
nachdenklich:
„Schade, daß meine Tochter dad nicht mit angehört hat.“
„Die Schöne, junge Excellenz?“
„Sa, eben die.”
Sch lachte Iuftig und rief, Halb unbewußt: „In deren Gegenwart hätt’ ich wohl
faum jo viel gejprochen.”
„Weshalb? Wirkt fie jo einfchüchternd? die junge Frau?”
Sch befann mich: „Einfchüchternd?“ wiederholte ich, „ja vielleicht. Sie ift ſchwer
ir — nicht wahr? Man weiß nicht recht: iſt ſie ſchon müde oder noch
ehnſüchtig.“
Die Mutter der Abweſenden ſah mit ſeltſam verſonnenem Ausdruck den vom
Abendſchein überglühten Bergpfad hinunter, auf dem eben meine eigene kleine Kinder:
Ihar mit bligenden Augen und jauchzenden Hurrarufen im Wettlauf angeftürmt kam.
„Wundervoll,“ jagte fie — und man wußte nicht, meinte fie die Landichaft oder
die Kinder — „wundervoll! Und Sie, gerade Sie, halten e3 für denkbar, daß eine
Frau auch fremde Kleine Egviften fo lieb gewinnen fann wie eigene? Ich hab's
nie glauben mögen.”
„Aber, die Gejchichte, die ich Ahnen vorhin erzählte, ift buchftäblicd wahr,”
fagte ih. „Und die wilde Hummel da, jehen Sie, die größte, die Y jest das Saar
wieder einflicht, ift die Annaliefe, die das jalomonifche Urteil gefällt bat.“
„Schade, daß meine Tochter nicht hier war,” fagte die alte Dame wieder. Und
dann ganz leife, wie nad) einer Anftrengung: „Sie bat feine Kinder.”
Da verftand ich. „Ich jchreib’3 auf,” rief ich ihr zu — während mich meine
Kinder umringten — „und wir nennen's: das ſalomoniſche Urteil.”
%* *
*
Wie wir reifen, wiflen Sie, verehrte Freundin: immer am erften Ferientage und
immer dritter Klaffe. Den Kindern fommt das jetzt fabelhaft vornehm vor; denn
mein Mann bat ihnen eine Nührgejchichte von einem edlen Dichter erzählt, der mit
feiner Familie vierter Klafle fährt und hat Hänschens Frage, vb es denn nicht noch
viel billiger wäre, wenn der Dichter mit feiner Familie ganz zu Haufe bliebe, ein-
fach überbört. Hat fich auch nicht darum gekümmert, daß unfere Jungen die vierte
Klaſſe geradezu famos finden, fondern nur verjucht, als er feine Familie am Anbalter
Ein ſalomoniſches Urteil. 587
Bahnhof in den Zug fpedierte, ihr ein ganzes Coupe dritter zu fichern. Aber es glüdte
— Jubel der Kinder und zum do auf meine unentwegi betriebene Beamten-
beftechung.
In Halle war der Anfturm auf unferen Zug befonderd arg.
Ihnen bringe ich nur eine einzelne Dame,“ fagte der Schaffner achtungsvoll.
Dame war übertrieben.
Sie hatte höchſtens das Zeug zu einer Dame und felbft das ſah viel zu neu,
viel zu ſehr nach dem Ladenfenfter aus. Und ein fehiefgefegter rofa Feberhut verdarb
vollends alles.
reilich, auf die Kinder machte fie Eindrud. Unſer eigenes Handgepäd ſieht
wirffi „mitgenommen“ aus in jedem Sinne, aber bie Ede, in der die große, dicke
Fremde fich einrichtete, glich nach ein paar Minuten dem Schaufenfter eines Drei—
Mark-Bazars, fo wertlod und fo neu war alles, was fie um ſich herum aufbaute.
Nur das Lächeln, mit dem fie fih für die fleinen Handreichungen unferer Jungen
bedankte, wirkte zugleich abgenugt und doch wie auf Veftellung geliefert. Im langer
Übung waren die Gefichtsmusfeln der Frau zu biefem Lächeln trainiert worden. Sie
dachte ſich nicht? mehr dabei und es kam erft Leben in ihre Augen, als fie mit
Hebrigen Fingern den Inhalt einer großen Düte zu unterfuchen begann und — je
nach Objeftbefund — an Bonbons Iutjchte oder mit großer Treffficherheit Kirfchkerne
zum Coupefenfter hinausſpuckte.
Unfere Kinder fahen ihr fo lange atemlos zu, bis fie müde wurde und
at Düte, ganz geöffnetem Munde und gefpreizten Fingern feft
einfchlief.
Sie fchnarchte audgiebig, wie jemand, deſſen Natur daran gewöhnt wurde, ſich
das erforderliche Duantum Schlaf zu jeder beliebigen Tageszeit und in jeder beliebigen
Stellung zu verſchaffen. Sie fchnarchte noch, als wir in den Erfurter Bahnhof ein
fuhren und erwachte erft, als unfere Wagenthür aufgeriffen wurde und eine laute,
ängftliche Stimme rief:
„Frau Tiggenpoch, aber Frau Tiggenpody!” (geichrieben wahrſcheinlich: Diggen-
bad). Auf dem Perron ftand in abgetragener Kleidung und außgetretenen Schuhen
eine Arbeiterfrau mit einem Meinen, diden, fehr herausgepugten Bengel auf bem
Arm. Das etwa zweijährige Kind war ein Prachteremplar, aber die Frau war ſchmal
und bleih, ihr Haar war dünn und ihre Haltung müde. Kraft fchienen nur ihre
Arme und ausgearbeiteten Hände zu haben, die den Knaben fo ficher hielten, als läge er
in einer Wiege. Und immerfort lachte fie ihn an: dabei ſah man freilich all ihre
Bahnlüden und doch wurde uns allen wohl bei diefem Laden. Sie aber bemerkte
und gar nicht; denn ihre Augen wanderten zwifchen dem Kleinen und unferer Reife
gejapktin bin und ber, biß fie ihm ihr unter lebhaften Zuſpruch, aber doch Außerft
ehutfan auf den Schoß fette. Die Fremde — es mochte eine Tante oder Patin fein —
befühlte.und unterfuchte das Kind, als ob es ihr zum Kauf angeboten würde. Atemlos ſah
die Mutter zu.
„Nichwahr, Kernfleifch?” fragte fie.
Die andere nidte troden.
„Aber jo is er erft, feit mer ihm nichts Sießes mehr geben. Gelle, mei Herzchen,
Bonbons fin Baba?“ (auf diefen Spruch, der noch viel wirffamer ift, wenn man fih
die B in P verwandelt denkt, war fie beſonders ſtolz) „nee, nee, der Chunge nimmt
nicht? nid an, wenn’ ihm nich Einer einzwingen dut. Der Doktor fagt, das wär
ſei ganzes Glikk, daß mer ihm das Genafche un das Gefchlede abgemwöhnt hätten.
Da derdran lag es ja bloß, daß er die Milch partout nicht nehmen wollte. Aber nu!
Geben Se mal acht, Frau Tiggenpoch, geben Se mal act” — und fie holte aus
ihrem Korbe eine mit geftridter Hülle bekleidete Kinderflaſche — „aber noch wollen
mer fe ihm nich geben. Erft, wenn er mich nich mehr ſieht. Sonft fchreit er. Un
wenn Sie hernach iber Land mit ihm fahre, dann das mwollene Heeschen da. Un
morgen in Ihrer Marktbude beftimmt nichts Sießes, nichwahr, Frau Tiggenpoch?
Un nachts kriegt er auch noch jei Fläſchchen. Gott, wie wird mir fein, heut Nacht
588 Ein falomonifches Urteil.
um drei. Na, 's iS ja nur für enne Woche. Aber mei Mann wollt’ erfi gar nid
an her fommt noch Hadjee jagen. Gelle, mei Herzchen, mer geben Dich nich
gern her?”
Und während fie jprach, lachten ihre Augen, ihre naſſen Augen, immer tapferer
und immer luftiger in das Kindergefichtchen hinein; denn darin begann es zu zuden
und zu arbeiten — — all died Getöfe um ihn herum, dieſes aroße, ftarre, gepußte
Weib, auf deffen Schoß er jo artig figen bleiben ſollte — ich ſah es deutlich: was
den Kleinen Schelm am Schreien hinderte, war nur die Furcht.
Aber plöglich ging eine Veränderung mit ihm vor und jetzt — jeßt lachte er
zum erften Mal.
Ich weiß fchon, wann Kinder jo lachen und fo dabei anfangen zu firampeln:
wenn fie den Vater kommen ſehen. Und richtig — da haſtete ja audy ein berußter
Bahnarbeiter durch's Gewühl und holte erft Atem, als er bei dem buntgewiürfelten
Umjchlagetudh feiner Frau Halt machte.
„En Glikk, daß de daB da anhaſt,“ Teuchte er. „Sonft hätt’ ich euch nid
gefunden. 's fin jo wie fo blo8 noch drei Minuten. Bor eins darf ich ja nid.
Aber jet bring ih auch was zum Abfchied. Nee, nee, hab’ Teene Angſt nich“ —
jagte er auf einen bejorgten Blid feiner Frau — „ze eſſen is es nir. Aber da, mei
Kerlche, gieb emal acht, wie der Kikerikiki macht.“
Und er ließ einen Heinen Gummivogel quietichen und an einem Schnürden
zappeln, bis zu dem Augenblid, in dem dad Abfahrtszeichen gegeben wurde. Dann
erſt warf er dad Ding dem Kleinen in den Schoß.
Er und die Frau liefen noch eine Strede neben dem Zuge ber: „Nich wahr,
das Wollhöschen? Un dann, bitte, bitte, nicht? Sießes! Er bat’3 denn gleich
im Magen.”
So fuhren wir ab. Der Kleine ſchrie wie beſeſſen auf, ald er die Eltern nicht
mehr ſah. Aber die fremde Frau blieb ganz ruhig dabei. Sie griff nur in die Taſche,
brachte ihre Düte zum Vorſchein und wollte den Kleinen Unband eine die, überzuderte
Mandel in den Mund jchieben. — —
Aber Sie wiffen, wer fie binderte. —
Shnen brauche ich nicht erſt zu jchildern, wie ich auf fie eindrang.
„Geben Sie mir das Kind!” rief ih. „Geben Sie mir e8 fünf Minuten, und
ich berubige es ohne alle Bonbons.“ .
Aber fie nahm gar feine Notiz von mir — der Kleine Iutfchte ſchon an einer
totgefärbten Zudermandel.
„Sroßer Gott,“ rief ich außer mir, „warum wollen Sie denn das Kind mit
Gewalt Frank machen? Die Mutter hat Sie doch beichworen — .— —“
„Ras für eine Mutter denn?” fragte die Fremde jcharf. „Die Frau da vorhin?
Das ift ja nur feine Ziehmutter. Die Mutter bin ich.“
Still, ganz ftill, feßte ich mich wieder in meine Ede. Die Frau da vorhin, mit
al ihrer warm forgenden Liebe nicht die leibliche Mutter? Mir war, als müßte ich
mich vor meinen eigenen Kindern, die das alles mit angehört, jchämen. Aber fie faben
ganz herzlich nach mir bin, und Annaliefe, die neben mir jaß, zupfte mich nach einer
beimlichen Beratung mit Otto fachte am Ärmel.
„Die fremde Frau da lügt,” flüfterte fie werächtlich. „Die Andere war die
Mutter. Die bat ihn ja fo Lieb.“
- Sch nicte ihr durch Thränen zu.
Da
Bäsagogifhe Seit- und Hfreitfragen.
Gertrud Bäumer.
aqhdrua verboten. ——
3 wäre intereſſant, einmal in der Geſchichte des geiſtigen Fortſchritts nachzu⸗
prüfen, auf welchem Wege kulturelle Fragen am ſicherſten und reinſten geldſt
werden. Ob es gut ift, wenn erft der Kampf ber Meinungen auf ber ganzen
Linie heiß und erbittert getobt hat, ehe der Staat als deus ex machina die Er-
fülung hernieberfteigen Täßt, oder ob ein gelafienes, konſtantes Nachgeben an bie Beit-
bebürfniffe, wo immer fie laut werden, zu vollfommeneren Refultaten führt.
Wer die Schidfale, die die Mädchenſchule als Gegenftand ſolcher Meinungs:
tampfe in effigie während der letzten Jahre durchmachen mußte, mit einigem Anteil
verfolgt Hat, der wird ſich des Eindrucks nicht erwehren können, daß es ihr zum Heile
gewefen wäre, wenn man ein wenig eher Ol auf die Wogen gegoffen hätte. In der
langen Zeit des Forderns und Gartens find die Angriffe, wie das in der Natur der
Sache liegt, immer heftiger geworden, haben die Wünfche fich auf der einen Seite immer
weiter von dem Boden des pofitiv Möglichen in das Utopifche verloren, ift man auf
der andern Seite immer zurüdhaltender und karger mit den Zugeftändniffen geworben.
In dem Beftreben, das große Publikum von ber Reformbebürftigleit ber Mädchen:
bildung zu überzeugen, hat man häufig genug nicht die wünfchenswerte Einficht,
fondern ein blindes, bedingungslofes Mißtrauen gegen das ganze Inſtitut erzielt, .das
einer Reform feinerfeits manches Hindernis in den Weg legt; und ber befannte Sat:
„Ich kenne die Abfichten der Regierung zwar nicht, aber ich mißbillige fie”, dürfte
genau die Stimmung fennzeichnen, in der man in manchen Kreifen dem Beginn der
Reform von oben ber entgegenfieht.
Die entgegengefegteften Intereffen ftoßen aber auch eben auf diefem Gebiet zu=
fammen. Da begegnet bie liebevolle Zähigkeit, mit der der deutfche Familienvater fein
Idealbild des für fein Behagen zärtlich und unermüdlich beforgten, hauswaltenden
Weibes fefthält, der Konfequenz, mit ber die „radikale Frauentechtlerin” das einzige
Biel der Mädchenfchulreform in der vollen Übereinftimmung mit der Knabenerziehung
fieht. Da begegnen die Forderungen der Lehrerinnen nad; größerer Beteiligung am
gefamten Unterricht und am der Leitung ber höheren Mädchenfchule ben Berufs:
interefjen der Lehrer, da kreuzen ſich bie berechtigten und unberechtigten Wunſche ber
Laien mit ben unberechtigten und berechtigten Bedenken der Fachleute, da ſteht dem
fozialen Leben und feinen immer fleigenden Anforderungen an bie Frau wohl das
Dogma einer ultra:phufiologifchen Betrachtung, „das Weib müſſe ihrer natürlichen
Beftimmung wegen gefund und dumm fein“, als bittere Ironie gegenüber. Was
Wunder, wenn man in dem Hin und Her eines langjährigen Rampfes ſchließlich auf
allen Seiten vergeffen hat, dad Gewünfcte an dem Möglichen zu meflen, wenn
fchließlich jeder auf feinem Schein zu beftehen entſchloſſen ift.
Padagogiſche Zeit: und Streitfragen. 591
die Bewohner zu vertreiben und an Stelle des alten einen Neubau von Grund auf
zu fegen, für deſſen Tragfähigkeit und Sturmfefigfeit wir doch noch Feine Sicherheit
zu geben vermödhten. ö
Auf diefer Grundlage ftellte die ſehr zahlreiche Verfammlung, die an den Ver—
handlungen über die höhere Mädchenfchule teilnahm, ihre Forderungen. Cie betonte
im Gegenfag zu mander Xußerung, die aus den Reihen der Frauenbewegung laut
geworden ift, daß bie höhere Mädchenfchule nach keiner Richtung Hin Vorbereitungs-
anftalt für beftimmte Berufe werden dürfe, fondern daß fie ihre Aufgabe darin ſehen
müffe, ihren Schülerinnen eine allgemeine Grundlage für die Erfülung ihrer fpäteren
Aufgaben in Familie oder Berufsleben zu geben. Wil fie aber diefer Aufgabe den
Anforderungen der Gegenwart entiprechend genügen, jo bebarf fie eines Ausbaus in
doppelter Richtung, in der Richtung der Realfchule einerfeits, des Gymnafiums andrer⸗
feits. Ein folder Ausbau würde ſowohl innerhalb de Rahmens der beftehenden
Schulen mit neun: und zehnjährigem Kurfus zu vollziehen fein, als auch über diefen
hinaus zu einer Erweiterung des Kurſus auf zwölf Jahre führen, und zivar würde
in diefer erweiterten Mädchenfchule nad dem fiebenten Schuljahr eine Gabelung ein=
treten in Klaffen, die der Knaben-Oberrealſchule folgen und ſolche, die eine gumnafiale
Bildung vermitteln. Da ein berartig fompliziertes Spftem nur bei großen Schul-
törpern durchführbar wäre, bleibt die Mädchenfchule mit dem neunjährigen Kurfus für
Mleinere Orte und einfachere Verhaltniſſe beftehen, doch müßte auch für fie eine Um:
geftaltung infofern eintreten, als den realen Fächern ein größerer Raum gegeben, eine
fremde Sprache fafultativ getrieben und Mathematit und fakultatives Latein in den
Lehrplan der Oberftufe eingefligt werden müßte.
Das ift ein Entwurf in großen Zügen, der zunächft nichts weiter als ein Luft
ſchloß ift und bei der Verwirklichung wohl die mannigfachften Modififationen erfahren
wird. Die Schwierigkeiten eines ſolchen Ausbaus nad fo verfchiedenen Seiten find
innerhalb der feften Organifation unferer Mädchenfchule viel größer als etwa in den
viel Lofer gefügten englifchen Syftemen. Die Verfammlung war fi auch volllommen
bewußt, daß der Weg zu dem fo aufgeftellten Ziel Schritt für Schritt über das zu⸗
nachſt Erreichbare führt, und wenn die Seftion für höhere Schulen, wie beſchloſſen
wurde, dem preußifchen Kultusminifterium ihre Wünfche für die in Ausſicht ſtehende
Reform der höheren Mädchenfchule zum Ausdrud bringen wird, fo wird fie ſich troß
de3 weiteren Programms, das fie für ihre Arbeit aufgeftellt Hat, innerhalb der Grenzen
des Erreihbaren halten.
Der Erfülung um ein wenige näher dürften die Forderungen flehen, bie für die
Zehrerinnenbildung auf Grund der von Fräulein Schneider aufgeflellten Thefen
erhoben wurden. Iſt doch der legte minifterielle Erlaf in Preußen über die Lehrerinnen-
bildung für die Notwendigkeit einer vermehrten praktiſchen Übung, einer gründlicheren
pädagogifchen Ausbildung entſchieden eingetreten. Daß diefe Forderung nur erfüllbar
werden wird in dem Maße, als Mädchenfchule und Lehrerinnenbildung im Kultugetat
etwas reichlicher bedacht werben, in dem Maße, ald der Staat die Frauenbildung ald
eine nationale Angelegenheit behandeln lernt, Liegt auf der Hand.
Eine frittige Frage, über die die Meinungen auseinandergehen, ift die, ob die
Lehrerinnen für die Volksſchule auf befonderen Anftalten ausgebildet werden, oder ob
einheitliche Seminare für den Volksſchulunterricht und den Elementarunterricht an ber
höheren Mädchenfchule zugleich vorbereiten follen. Die Referentin entichied ſich für
592 Wadagogiſche Zeit: und Streitiragen
den legten Weg. Er wird aus praktiſchen Gründen vielleicht auch zunächſt
gewöhnliche bleiben, wenn ja aud vereinzelt ſchon Volksſchullebrerinnen-Seminare
beſteben. Der Gedanke, von dem aus die Bollsichullebrerinnen ſelbũ die Frage
anichen, der ibr Intereñe an der Leſung beitimmt, ift vor allem der, daß die Beil:
ſchullebrerin im Unterschied zu der für höhere Schulen nicht eintach die Clementar:
lebrerin it, der ein geringere? Minen, eine beſchränkte Zahl von Unterrichtäjächern
genügt, ſondern dab ibr Beruf in feiner eminenten jezialen Bedeutung eine Summe
ren ganz beionderen — volkswirtichagftlichen, brgieniichen, jurittiiden — Kenntniren
erterdert, wenn er dieier Bedeutung entivrechend errüllt werden fol. Die Volksſchul⸗
lebrerin in nicht nur eine beiendere — und etwa gar minderwertige Kategorie ter
Gauung Schulmeiñer, ne in Trügerin einer umtarrenden ſozialen Aurgabe, für bie "
gar nicht vieteirig und ſergialtig genug ausgeñattet werden farnn. Um tie Anerfenmung
ibres Standes in dieſem Zinne fümpten die Volfaihullehrerinnen bi3 heut Es wir
dringend wanichenswert, daß eine Reorganiſation der Lebrerinnenbiſdung ihren An:
iprũchen gerecht wird
* *
As Tazesordnung unterer Generalveriammlung and noch ein drittes Them:,
dus mh ng dee Gebiet io’ Fer Zeit- und Streitfragen gerechnet werben kann:
„Die Krderripcoologie und die Sebreläne unierer Schalen?. Eine Zeurrage, die 3
ebenĩo ehr aut er aigereinen miiriductitiden NiStung des medernen Geißezleien!
ergiedꝛ. a Re ein Proben Br witenitoititen Padagecit if.
Der üdergeng von er normativen zur inNvidualitierenden Betrechtung, den wit
iberss in Witintsat, Kant, Moral beebaten, bet af mm Gebiet emen
Kr gegen Ertm und Weton erieiseführt, nen Auert, in dem Terdings De
Sim die wüsrung gu Eiemebzen Ihnen Sonung und Lies, ia in ügmiten
an name Alımdlıra der Arhrataelcht wird ala Die anize Worsıe 87
Smı inmtlı En non gas tra Beer meaniifen Rızırai I ja De Je:
—— ron Ein Ken, rniäend und in Bier Dinar men, wir jede Kererci.
anT art zmammun an drin arten dt si Vxtrieiz und mmantiretahmeni
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Architektur und Innendekoration. 593
Wenn id) von den Arbeitstagen des Allgemeinen Deutfchen Lehrerinnenvereins
durch die kurze Überficht der pofitiven Daten ein Bild zu geben verfucht habe, fo fühle
ich die Notwendigkeit, einen allgemeinen Zug, eine beftimmte Farbe, die erft das
Charakteriftifche giebt, Hinzuzufügen. Der Allgemeine Deutfche Lehrerinnenverein hat
ein ftarfes Perfönlichleitsgepräge. Er ift mehr als ein Fachverband, in dem nach
mechaniſch regulierten Formen die Gegenfäge in Fachkreifen außgeforhten, die gemein-
famen Anſchauungen berausgeftelt und gemeinfame Kundgebungen befchloffen werden;
Imponberabilien, deren Weſen in den führenden Perfönlichkeiten liegen, in dem, was
die Lehrerinnen über ihre Standesintereffen hinaus in dem Zuſammenſchluß fuchen,
haben ihm eine beſtimmte geiftige Eigenart, eine befondere Färbung gegeben, die nicht
in Sagungen und Refolutionen zum Ausdrud fommen fann.
Sie wird vielleicht am deutlichften in dem Gedanken, mit dem die Vorfigende
die Generalverfammlung eröffnete. Sie Inüpfte an eine Erfahrung an, der Björnfon
einmal Ausdruck gegeben bat: daß nämlich gerade die feinen Naturen im
öffentlichen Leben zurüdgebrängt werden. Diefe aber follten die geiftige Führung
haben. Sie ihnen zu fichern, fie zu. fügen, ihnen die Wirfensmöglickeiten zu
ſchaffen, deren fie bedürfen, dazu dienen die Vereine. So lange der Allgemeine Deutfche
Kehrerinnenverein diefen Gedanken feftbält, den Gedanken, daß er geiftige Werte zu
bewahren und nugbar zu machen, nicht in erfter Linie Intereſſen zu vertreten hat,
fo lange erfüllt er feine Aufgabe, fo lange ift er nicht nur eine äußere, fondern eine
geiftige Macht.
u
Architektur und Innendekoration.
Anna Goehje -Bremen.
Naqhdruc verboten.
J.
ſährend die Malerei und die Skulptur das Werk ihrer Befreiung durch einen
74 notwendigen und gefunden Durchgangsprozeß durch die Schule bes Realismus
bereits vollzogen Yaben, ftedt die deutfche Baukunſt noch recht tief in ben
Banden eines falfchen Idealismus. Falſch, — weil er immer noch von der äußeren
Wirkung, von der Faflade ausgeht und da Heil in der Jmitation früherer Stilarten
ſucht, wodurch man der Gegenwart das künftlerifche Dafein abipricht und fie der
eigenen Ausdrucksweiſe beraubt. „Unfere beften Sachen find mehr oder minder getreue
Reminiscenzen“, jagt Semper, ber berühmte Münchener Baukünftler, der ſchon in den
fünfziger Jahren de verfloffenen Jahrhunderts gegen die Anficht zu Felde 309, „daß
der Architekt jeder feiner Kompofitionen durch bie Wahl eines fogenannten biftoriichen
Stiles eine Unterlage jchaffen müſſe“. Freilich mit bisher geringem Erfolg, denn
noch immer werden unfere proteftantifchen Kirchen mit Vorliebe in gothiſchem Stil
erbaut, obwohl er der Höchfte und eigentümlichfte Ausbrud des katholiſchen Kultus
ift und wir durch die Art unferes evangelifchen Gottesbienftes, der nicht Meffe und '
Liturgie, fondern die Predigt in den Mittelpunkt ftelt, ganz andere Bebürfniffe haben.
In unferen profanen Monumentalbauten greifen wir, und nicht immer mit Glüd,
vorzugsweiſe auf die Renaiffance zurüd, wie denn z. B. auch auf der Parifer Welt:
88
Fu Acchirtckur und Innendekoration.
ausnelung das Deutihe Haus, dad die moderne deutiche Baufunft repräfentieren ſoll:e,
ein in nachgemachter Renainance prunfender und dabei einem „Berliner Bierpalst
unbeimlich übneinder Bau“ asıreien in! Daß bei einem nur auf den äußeren Schein
binzielerden Bauen manche fatale Vorkommniñe fattinden, it gewis. Recht übel
it es Dabei einer alten deutichen Reichäitadt ergangen, die „os ein präctiges Mufeum
in gotbiſchem Enl erbauen lieg. Als nun der ftattlibe Bau fertig war, umd men
rit den Sammlungen der Kunſt und des Auniigewerbes einziehen weilte, da fiellte es
rb beraus, deß feine Möglichkeit vorbanden war, die Gegentände richtig aufzuſtellen.
Es musten unter anderem erit noch Rinde zwiſchen den Tteilern gezogen werden;
und aud Dann nach batten die aufgeitellten Aunitwerfe und Wiäkcl jede Trerortion
verleren. „E war eine Zeirfung“ ‚ jo wird der eriie Eintrud geichildert, „als babe
man eine Kotofolemmore in den Kölner Tom gelegt”.
Übrigens it ein Sichanlebnen an früßere Stilarıen, ein Euden nad äußerer
Wirkung beim Monumenta!bau immer nch am erien am Platze, da er reprälentieren
tel. Urd wenn es bei einem Staatsgebaͤude den derrefienden Arditchten gelingt. Pie
aösere Nertiientation einigermaßen mit innerer Zwedinägigfeit zu vereinigen, wein
arche Unzulanglicdteiten vermieden werden, derart wie fie 3. B. bei ter Anlage ein:$
Vermaltungägebiudes vorgelommen find, wo ber Farıde zulich bei den meiiten der den
Beamten dienenden Arbeitäräume die Fenñer fo tief gelegt waren, dab alles Lich
den unzödisen Sdreisem ven unten in die Nasen nel — io mollen wir getre!
die Eriridiuna der Staatsbauten ibrem Edidial üserlsten, umiomeßr al wır
beworregende Nüöntier genug beñtzen, denen es bereit: gelungen it, bei einer
tcımerinen Beberrichung auer Stlarten berwortzgende Monumentalbauten ftilvol
und smedräfig und Dabei mit Hervorkebrung eigner füntieriiber Individualität
zu Ihaten.
Gin: anders liegt ie Sache Beim Frorungekiude, beim Wobrbaus. Gier bat
Me rbeter’Se Yorale gar feinen Sinn, und ibre Berüdiorigung kann nur zur größten
Unzatur und Sturrdrigteit rühren Am deutlichen zeigt ſich Das in ienen Sıädten,
wo es bareriis:h Darauf enfommt, Etagentrebnungen berzuñeLen. Kat jedes
grötere Pozenanrıe * nebeus in Berlin, Dresden. stanfurt u. ĩ. w. in äüaßerlich zu
ener AT von it lieAem Rencivſancevalañ gefempelt. Im Innern find dieſe 1080 Fi3
3Zro Wart:ezsen dern in der Aegel mit ſchweren Stuäwanden. bocbverdachten Flügel⸗
itartn und zuriansczen, bunten Tareten Nferett, eine biae Grofß:buerei, die jedem nit
rneren Verwen serarinaten Vertsen einen gebiimen Schauder erreat. Der unglückliche
Üreer ba indeſen dem Geicrnad dei berreenten Baouunterntbners zu fügen;
13 2 Serm gms tür ion, Die gemieicien Räume nech eiserer Individualitaät zu
ann, Dr er ji rt wor, wie Balder wieder beraus muß, um Bann in einer
zen Dotnura foıne Anderungen von vorn zu bes: nen.
Kr Üsen Babe weire Nee uniereh rufen Tuhihums mit poliger Rube
ur? Suredersit in Eiumen wobnen, Die ıbnen von irzend eincm Bauunternehmer
mıör:.2na Brsenäie worden Yad, und im adgcmenen ft cr au Das ganze Moktiiar
sur arer ziert . Die Es mir Meter Umgebung aut verttäst. Selbñ der Profeñor der
aferie Torträae über Die Blütezei: Der italieniihen Renarifance,
2, midi — mie un! Herrann Matbenus verichert —, wenn
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meinen gèanzuch auserhalb Der Kunt.
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Architeltur und Innendekoration. 596
an, daß fie in erfler Linie darauf zugefchnitten find, ein gutes Straßenbild abzugeben.
Man falle fie einmal daraufpin näher ind Auge. Da_ift 3. B. ein Haus, das Erker
und Türme auftweilt, bie feinen Sinn haben, weil fie weder bewohnbar find noch
irgend eine Ausficht gewähren.
Auch die aus dem Süden übernommenen Balkone und Altane find häufig jo
zwedwibrig wie möglich angebracht, fo daß man fie bei unferm rauhen Klima faft
nur an zwei bis drei windfreien Sommerabenden benugen fann. Dabei wirken fie
ftörend auf die Anlage der Feufter, wie denn überhaupt die Fenfter, wenn fie zunachſt
in Nüdfiht auf die Faſſade angeordnet find, höchſt ungünftig die innere Raum:
verteilung beeinfluffen. Wir follten doch endlich begreifen, daß es beim Hausbau
einzig und allein darauf ankommt, die inneren Wohnbebürfniffe zu berüdfichtigen und
die Äußere Geftaltung des Hauſes von der inneren abhängig zu machen. Woher
kommt es, daß und die Bauten aus verfloffenen Jahrhunderten jo wohlthuend
berühren? Weil fie in ihrer ganzen fachlichen Tüchtigleit zu und fpreden und ein
Ausdrud der Bedürfniffe und des Geichmades ihrer eigenen Zeit find. Wollen wir
aber diefen oder jenen ihrer äußeren Reize auf unfere Zeit übertragen, jo führt uns
das nur zu den erwähnten Verfehrtheiten, zur Künftelei. Und in ber That ftehen
unfere modernen Fafjaden mit ihren unmotivierten Renaiffanceimitationen aus Cement
oder Sandftein faft durchweg tief unter der rein fachlichen Verzierungskunft uncivilifierter
Völker, wie wir dies aus unfern ethnographiichen Sammlungen erjehen können.
Die ganze Enttwidlung unferer Kultur geht auf Vereinfachung. So wie die Allonge:
perrüde und das feidene Gewand dem ſchlichten dunklen Rod bat weichen müſſen,
wie wir das fteife Ceremoniell früherer Gefellihaftsformen mit einer einfachen natürs
lichen Redeweiſe vertaufcht Haben, jo müſſen auch nach und nad) alle Dinge, mit
denen wir und umgeben, auch das Haus, ald Erweiterung unferer Perjönlichkeit,
diefer Richtung folgen. Trachten wir bei dem Bau unſeres Haufes nicht mehr nach
dem Echein, laffen wir dad Gebot der Sache malten! Gehorchen mir in der
Kompofition einzig den Forderungen ber Zwedmäßigkeit und des Materials, jo wird
ſich eine zeitgemäße häusliche Baukunſt ganz von felbft entwideln — eine Kunft, bie
ein Ausdrud unferer eigenen Zeit if, die unfer Leben, unfer Thun und Laffen
repräfentiert und mit unferm Empfinden, unferer äußern Erfcheinung genau fo überein-
ftimmt, wie jene alten Kunftformen, die wir mit Recht bewundern und mit Unrecht
nachahmen, mit der ganzen Lebensweife der Zeiten, aus denen fie erwuchſen, übereins
geftimmt Haben. Artis sola domina necessitas! Man wende nicht ein, daß man
auf diefe Weife zu einem völlig unfünftlerifchen Hausbau, zum Nughaus der Bieder:
meierzeit fommen werde. Ganz abgejehen davon, daß diefer Gedanke an und für ſich
für den modern empfindenden Menfchen nichts Abfchredendes hat, da jedenfalls die
Viedermeierzeit in ihrem Nicht = mehr = vorftellen = wollen als fie war, etwas ungemein
Sympathifches hat und mit ihrem Sinn für einfache Zwedmäßigfeit uns näher Liegt
als die Gothif und Renaifjance, jo wollen wir auch nicht vergefien, daß die Ent—
widlung jenes bei uns ftellenweife als lächerlich; empfundenen Stiles jäh unterbrochen
worden ift. Indeſſen wird jeder, der in ein Haus aus den erften Jahrzehnten des
verfloffenen Jahrhunderts tritt, die Abficht des Erbauers, die Verhältniffe des Raumes
fünftlerifch abzumägen, jehr wohltuend empfinden. In der Regel ſieht man ben
Häufern ihren innern, wohnlichen und behaglichen Charakter ſchon von außen an.
Höhe, Breite und Tiefe geben eine harmoniſche Gefamtwirkung.
Wie felten hingegen ift das bei den Häufern der folgenden Bauperiode erzielt!
Die Verhältniffe ſcheinen Lediglich auf Zufälligfeiten zu beruben.
Freilich, wenn eine Proportionswirfung erreicht werben foll, jo gehört dazu die
Möglichkeit, über den Bauplatz frei zu verfügen. Aber beim Einzelhaus fteht dem
doc in der Regel nichts im Wege, und mit Freuden ift es zu begrüßen, daß es jegt
wieder mehr Sitte wird, daß alle, die ſich eine eigene Heimftätte gründen wollen, mit
dem dazu beauftragten Baumeifter ſich gründlich außeinanderfegen über ihre in-
dividuellen Wünſche und Wohnbebürfniffe, eine Sitte, die hoffentlich mehr und mehr
um ſich greifen wird.
38*
Son gun beſendrer Wicrigt ei in die Gets hung ter Fenferwand. Der nicht
durchzus een ſogenannten Spiegeirreiler wünidt, 1süte ñch Har machen, de5 die
übuden me enter De Enbeit des Zimmers —— a vret en Ganz abaeichen
deren, 5 beim Iwei— eNT Dreitenrierionem albes Aurtelen und Eintizen von
nen Kuntwerten utonth in da ne in dem dorrilien ae ummustg wirken, wird
augen durcd de Gerodab ir, die wentterzänte ſebt miedrig anzulegen, Je Mt:
wur un —S anna cur Die Sun Ne gemoren, und dur? De Enzichung Serie
arm Umd Ge ame Aytezzı 08 MWoritisrd unangeneba beeinzckt. Kur Die
Lomize kenn de en greſes. dreites wenter erit entiotehend erhöhter Kentertan!
gemärt, wird Ah fıner mehr an 2 Itmine Woburiume seriösen
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Architektur und Innendekoration. 597
Wenn es zu erreichen wäre, daß der Vermieter oder Verkäufer einer Wohnung
(bezw. eines Wohnhauſes) diefe nur in den nadten vier Wänden ablieferte, und wir
und feine lacherlichen und umbequemen Dekorationen aufzwingen laſſen mitßten, fo
wäre damit ſchon unendlich viel erreicht! Gewiß ift die Bequemlichkeit und Gleich
giltigfeit des Publikums vielfach felbft ſchuld an den jegigen deſolaten Zuftänden: bie
ungemöütlichen Umzugstage follen möglichſt abgekürzt werben, man will feine unnötigen
Scherereien haben und ſchnell wieder in Ordnung fein. Wer fih aber — fei es u
in noch fo befcheidenem Maße — behaglih und individuell einrichten will, der mu!
ſich Zeit dafür nehmen und ed vor allem lernen, fih um alle Dinge felbft zu kümmern.
Die detaillierten Angaben und fpeziellen Wunſche des Beſtelletss wurden übrigens
ein Außerft wirkfamer Sporm für den Handwerker fein, fobald er fich wieder daran
gewöhnt hätte. IR es doch für jeden Arbeiter in jedem Beruf intereffanter, für Menfchen
zu ſchaffen, die ihm Intereffe und Verftändnis entgegenbringen, als für ſolche, die
feinem Thun und Wirken verftänbnislos und gleichgiltig gegenüber ftehen. Wenn wir
erſt wieder ein künftlerifch erzogenes, nad Individualität und Eigenart verlangendes
Publitum Haben, jo wird der künſtleriſch arbeitende Handwerker auch, ficherlich zur
Stelle fein! An Talent und Tüchtigkeit hat e8 uns in Deutichland noch nie gefehlt,
und es ift auch jegt fein Mangel daran; nur konnten bei der herrſchenden Tendenz
der Nachahmung ſich die felbftändigen Begabungen nicht richtig enttwideln und wurden
von den fchiwächeren Talenten, denen es von Natur leichter wird fich anzupaflen,
überflügelt. Jetzt, mo die führenden Geifter in der Malerei und Skulptur wieder
anfangen, auf das Kunftgewerbe Einfluß zu gewinnen, wird ſchon von felbft aud in
biefer Beziehung eine merkliche Umwandlung vor fich gehen.
Unendlich viel ift in den letzten Jahrzehnten geſprochen und gejchrieben worden
über die geiftige und künftlerifche Kultivierung unferes Voltes; jet endlich ſcheint die
graue Theorie zu grünendem, blühendem Leben werben zu follen. Es mag nur noch
einmal darauf bingewiefen werben, daß fchon Goethe, wie und Edermann aus feinen
Gefprächen mit ihm berichtet, das moderne, neufchöpferifhe Prinzip in der Kunft der
Wohnungsgeftaltung im Gegenfag zur Imitation und Altertümeleilucht energiſch bez
fürwortet hat. „In einem Haufe,“ fagte er, „wo jo viele Zimmer find, daß man einige
derfelben leer ftehen laßt und im ganzen Jahr vielleicht nur drei, vier mal hinein:
kommt, mag eine ſolche Liebhaberei hingehen, und man mag aud ein gothifches
Zimmer haben, fo wie ich es ganz hübſch finde, daß Madame Pandoufe in Paris
ein chinefifches hat. Allein fein Wohnzimmer mit fo fremder und veralteter Umgebung
audzuftaffieren, kann ich gar nicht loben. Es ift immer eine Art von Maskerade, die
auf die Länge in feiner Hinficht wohl thun kann, vielmehr auf den Menichen, der ſich
damit befaßt, einen nachteiligen Einfluß haben muß. Denn fo etwas fteht in Wider:
ſpruch mit dem Iebendigen Tage, in welchen wir geſetzt find, und wie es aus einer
leeren und hohlen Geſinnungs- und Denkungsweiſe hervorgeht, jo wird es darin be
ftärfen. Es mag wohl einer an einem luftigen Winterabend ala Türke zur Maskerade
gehen, allein wa würden wir von einem Menfchen halten, der ein ganzes Jahr ſich
in einer ſolchen Maske zeigen wollte?” — Diefe Worte find im Jahre 1827 von
Edermann niedergefchrieben worden; meld’ eine tolle Zeit der „Wohnungsmasterade”
liegt zwifchen damals und jegt! Erſt heute feheint die Zeit ſich zu erfüllen, in ber
Goethes Geift wirklich Iebendig wird. Allmählich fcheint es und zu dämmern, daß,
um mit dem großen Künftler-Philofophen Friedrich Niegiche zu fprechen, „Goethe eine
Kultur bedeutet”, — allmählid) ertwacht in ung ein wirkliches Kulturbebürfnis. Zunächſt
unter den Künftlern! Sie find zuerft zu ber Erkenntnis gefommen, daß es ſich in der
Kunft nicht um die Ausbildung einiger Luruserfcheinungen handeln darf, fondern, daß -
es nötig ift, beim Nächflliegenden zuerft zu beginnen, bei der täglichen Umgebung:
dem Haus, der Wohnung, dem Haudgerät.
Sorgen wir nun dafür, daß die junge Kunſtwelt, die es fih zur Lebensaufgabe
geftellt hat, an dem Wiederaufbau des ſchönen, edlen Kunſthandwerkes mit zu ſchaffen,
ein entgegenkommendes Verftändnis bei und finden möge — Sichern mir ihrem
Werke Lebensfähigfeit, indem wir nicht gedankenlos die Wandlungen der Mode mit:
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Trauermarſch. 59
die Form des Zimmer und die Verteilung der Thüren an. Doc follte man auch
möglicäft vermeiden, mit dem Sofa eine Ede abzufegen, weil leicht ein toter Winkel
entfteht, den Feine Stoffdraperien und fein Mafartbouquet zu beleben im ftande ift.
Glüdlicherweife fangen dieſe legteren mehr und mehr an ins Schattenreich zu
verfhwinden, wohin ihnen Hoffentlich bald alle fünftlich präparierten Topfgewächſe
folgen werben.
Nicht energifch genug kann man gegen die Anhäufung von überflüffigem Kleinkram,
den fogenannten Rurusartifeln, den Nippes und fonftigen undefinierbaren Galanteries
waren zu Felde ziehen. In dieſer Hinficht Tönen wir viel von den Japanern lernen,
deren ganzes Kunftgewerbe noch heute auf dem Beftreben bafiert ift, jeden Gegenftand,
defien man ſich im täglichen Leben bedient, aus gutem Material anzufertigen und ihm
eine geichmadvolle Form zu geben, — ein Beftreben, das übrigens auch unfer deutiches
Runftgewerbe früherer Jahrhunderte aufgewieſen hat, ala man die Grenze zwiſchen
Gebrauchs: und Kunftgegenftänden noch nicht fo ſcharf gezogen hatte. Es war eben
jeder Gegenftand dem Material entfprechend gebildet und mit einem Schmuck verſehen,
der feine Gebrauchsfähigkeit nicht beeinträchtigte. Einfachheit, Natur und Poefie —
fo folte es auch bier heißen.
Ale Kunft muß im Haufe anfangen. Erft wenn wir gelernt haben, Schönheit
von Geihmadlofigkeit in den Dingen unferer täglichen Umgebung zu unterfcheiden,
vermögen wir zum nachempfindenden Genuffe aller jener wunderbaren Feinheiten zu
gelangen, die jedes echte Werk der abjoluten oder hohen Kunft in ſich birgt.
Soll die Kunſt wieder das werden, was fie fein will und muß, eine echte Boll:
kunſt, die den Armften und Geringften ſowohl, wie ben Reichen und Mächtigen beglüdt,
fo müffen wir ihr entgegenfommen, ihr Herz und Haus Öffnen und damit beginnen,
dem Kunſthandwerk ald der Alteften Bethätigung jedes Kunftfinnes wieder eine Stellung
zu verfchaffen im Herzen der Menfchheit.
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Franermarſch.
Hr Alosky.
&: hat eine Seele fich befreit;
Nun fchwingt fie in mächtigen Tönen. —
Und was fie fingt, das foll dein Leid
Mit ihrer Sreiheit verföhnen.
Todtraurig laufcht dein wundes Herz.
Ihm klingt es wie Abfchied vom £eben;
&s hört nicht durch den dröhnenden Schmerz
Den heimlichen Jubel beben.
€s hört nur fchmerzzerriffnen Klang,
Nur dumpfes Schidfalshaffen. —
Und doch ift es füßer Bittgefang
Um Ruhe und Schlafenlaffen.
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Der Einzige.
„Ja,“ halt die durchdringend laute
Stimme der Schwaff zu ihm herauf. „Ich
ſagte gleich auf dem Hinweg: Nach der
Kirche geh ich zu der Frau Holzherr'n 'mal
vor! Und das wollte ja die Emmy aud.
Und nun müffen Sie uns ſchon ein Augen-
blidchen annehmen, wenn wir und auch unter:
wegs getroffen haben, liebe Frau Holzherr'n.“
„Bitte, bitte!” “
Sie befomplimentieren fih an der Haus:
thür und gehen in die befte Stube. Ein
Weilchen hört er nichts, dann fallt die
Stimme feiner Mutter durd) das Haus: „Fritz!
Frigt"
Er ift unwillig, aber hinunter muß er doch.
Es ift der Mutter fonft nicht recht.
„AG, der Frig! Nein, wie der fi) raus
macht!“ ruft ihm die Schwaff entgegen, und
die gelbe Schleife unter ihrem Kinn mwadelt
fürmlid. „Der fol fih ſchonen müſſen?
Der fol frank geweſen fein? Liebe Frau
Holzherrn, Sie verwöhnen ihn bloß. Eie
haben nur darum Sorge, weil er ber
Einzige ift!”
Immer dies Berufen und Befprochen-
werben! Fritz haßt es und ift doch ohn-
mächtig dagegen. Emmy Roth trägt teure
Federn, ein Kleid mit Golbligen befegt und
legt ihre diden, mit neuen grauen Handſchuhen
befleideten Finger recht ſichtbarlich hin.
Frau Wagner holt einen füßen Likör aus
dem Silberſchrank; fie weiß, es ift altmodiſche
Eitte, aber fie mag feinen Gaft ungelabt fort:
gehn lafien. Und Minna Schwaff nimmt das
Gläschen auch ganz huldvoll an.
„Man kann nod ein wenig Wärme ver:
tragen, meinen Sie, liebe Holzherrn; nun, dann
muß ich nachgeben!“
Ihr Mantel ift feit mindeftens zehn Jahren
aus ber Mode, ihr Kleid kurz, plumpe Füße
ſchiebt fie weit von fih auf dem Teppich hin.
Aber es ift Würde und Haltung in ihr und
jene Herablafjung gegen die einfache Frau,
die Frig fühlt und die ihn ärgert.
„Nein, danke, danke”, ziert fih Emmy
Roth, „Fräulein von Lehbach, unfre Penfions-
vorfteherin in Hannover, fagte, wir follten das
nicht. Für junge Mädchen —“
Das überhört die Schwaff, fie läßt fi
das Glas zum zweitenmal füllen.
601
„Der Superintendent bat mal wieder fo
ſchön geprebigt”, jagt Emmy zu Fri hinüber
mit niebergefchlagenen Augen. „Vom barm⸗
herzigen Samariter!“
„Recht gut,“ fällt die Schwaff ein, „unſer
alter Herr lann ſich ja noch immer hören
laſſen. Wenn einen nur die Nachbarſchaft
nicht beſtändig ſtören wollte. Der neue Forſt⸗
kandidat kam natürlich zu ſpät. Na, das
kennt man — ſoll auffallen. Und dann bin
ich gewiß, der hat kein Wort von der Predigt
gehört. Immer rumgegudt oben und unten,
an unferer Seite und drüben. Wohlerzogene
junge Mädchen beachteten das zu meiner Zeit
felbftverftänblich nicht. Heutzutage —“
Die Hausthür fliegt mit einem fehnellen
Rud auf, eine helle Stimme tut eine Frage,
und dann fteht Emilie Zehſe im Zimmer,
‚ganz rot, luſtig, lachend.
„In der Staatsſtube“, fagt Tine —
„drüben halten die Herren eine Sifung. Ich
babe fo ’n Klingen gehört, wie von Weingläfern
— Tag, Tante Wagner, id) hab’ was von der
Mutter zu beftellen und mußte vorher bei
Meyers vor. Haben die ein füßes, Meines
Kind. Sechs Wochen! Die Schreipuppe hätte ,
ich mir glei mitnehmen mögen. Ja fo, Tag, .
Fräulein Schwaff! Sind Ihnen die Eifen-
kuchen neulich befommen? Ja fo, das darf
ih nicht fagen. Emmy, fo'n ſchönes, neues
Kleid? Da Fritz, auch ’ne Hand! Seh einer,
hat der Blumen im Knopfloch!“
Sie ſinkt nah aM dem überftürgenden
Geplapper in einen Stuhl. „Ad, du lieber
Himmel!”
Mir geht es ganz gut”, fagt die Schwaff,
ihre fpige Nafe hebend und die fcharfen,
ſchwarzen Augen auf das hübſche Mädchen
richtend, „ſchon allein darum, weil ich in allen
Dingen mäßig und vorfihtig bin. Im Eſſen,
in ber Bewegung und auch im Sprechen.
Denn das wurde zu meiner Zeit den jungen
Mädchen zuerft gefagt, daß fie nicht vor ältern
Leuten vorher ſchwatzen follten.”
Emmy Roth lächelt und ficht nah Mile
binüber.
„So!” antwortet Mile bloß und zupft
Frig am Rod. „Sag’ mal, wer iS denn bei
deinem Vater?”
Er flüftert ihr's zu.
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Der Einzige. 603
„Muß man, meine gnäbigfte Frau, bie „Mile bat echt,” fagt der Sohn bes
ſchöne Gegend, die gute Luft — und wie ih | Haufes. „Er ift nicht auf dem Boden, wo er
heute in der Kirche merkte: Ein Damenflor — ſich weiter entfalten fann. Man müßte fi
Ja, das muß man.” | für ihm verwenden. Nur ber Eanitätsrat
„Ich bitte, ſchlichtweg Fräulein Schwaff“, ficht das ein. Vater nicht. Und wenn man
fagt die ältlihe Dame. „Wir haben immer | ihm nicht hilft, fo wird er bie befte Zeit hier
fehr einfahe und gebiegene Sitten hier in , verträumen und figen bleiben und heiraten und
Blumerode gehabt. Nichts Neumodiſches.“ | Dorflinder Iehren, wie feine Vorgänger auch.“
„Bu Befehl — meine — zu Befehl . Sein Huften unterbricht ihn.
Fräulein Ehwaff!” | nd, lieber Frig! Sie ſprechen ja fo —
Sie nimmt es gnäbig auf, daß er ihren _ UnbSie werben hier felber bleiben und heiraten?
Namen fih fofort gemerlt. Er ift fehr ftatt: , Sie haben doch nit etwa auch abtrünnige
lich, bat große, braune Augen, einen feinges | Gedanken und fehnen fi nad der großen,
ſchnittenen Kopf, einen kühnen Schnurrbart, | bunten Welt, wie Mile Zehſe es von fid) be⸗
Iodiges Haar. Und auch fie muß finden, daß | bauptet.”
ihn das Grüngrau prächtig Heidet. | Er anttoortet nicht, das ſchöne Mädchen
Emmy Roth fieht verlegen in ihren | aber ruft: „Thu ih auch! thu ih! Nah
Schoß; ein fremder Herr ift ihr immer ein | erleben und fehen und — was weiß ich, fehne
großes Ereignis. Frau Wagner fieht mit | ih mid!” ie breitet halb ſehnſüchtig die
ihrem ftillen, freundlichen Gefiht herüber; \ Arme aus, eine flatternde Betvegung iſt's. Der
Mile lacht hell auf. Kandidat lächelt. „Einftweilen,” fagt er, um
„Na, wenn das ber Herr Superintenbent fi die Sympathien der Landdamen zu fichern,
müßte, was feine Befucher für Nebenftudien | „it dies Blumerode aber body wunder⸗
machen!“ | ſchön!“
„Aber, das iſt doch am Ende gar nicht Fritz wird von feiner Mutter hinüber:
zu vermeiden, mein —“ er unterbrüdt das | geſchidt, den Herrenbeſuch anzumelden; nad
„gnädige” auch bier —, „mein Fräulein!” ein paar Minuten treten der Major und ber
„Oh, ein ernfter Wille!” antwortet fie ı Haudherr ein.
und dreht ihr Bachftelzleinföpfhen. „Sein Unter Händefchütteln fagt ber: „Warum
Sie froh, da wir Sie nicht eraminieren über denn bier? Drüben fteht Wein, und der Major
Tert und Auslegung!” findet ihn nicht ſchlecht. Wenn Sie genug
Er drüdt die Hand gegen die Bruft. mit den Weibsleuten geſchwatzt haben —“
„Jedenfalls dankbar — für alles — wollte Aber der Forftmann lehnt dankend ab.
fagen — na, ift ja einerlei! Übrigens, man ! Mie verfhüchtert ſteht die Schwaff mit ihrer
muß doch aud, fo zu fagen, beim Eingen , Begleiterin auf.
irgendwo hinſehn!“ Und da iſt's Fritz bes „Komm, Emmy! Nun tollen wir nicht
obachtenden Augen, ala huſche auch ein leiſes weiter ftören!” Und dem Ohr ber Hausfrau
Not über ihre Züge. | näher: „Nein, liebfte Frau Holzherrn, wenn
Mile ift ſchon bei etwas anderem: „Frig, | die Männer einen Frühfhoppen getrunfen
mie heut der Kantor fang! — Aber Appel | haben, das kennt man. In meinem Eltern-
fpielte wieder Orgel, der reine Künftler. Schade | haufe, das wirklich auf einem vornehmen Fuß
für Blumerode!“ ı geführt tourbe, durfte das nicht vorfommen.
„Wieſo?“ hebt fi Fräulein Schwaff aus Meine Mutter hatte fehr früh die Zügel in
der Eofaede. „Das Befte ift einem doch die Hand genommen. Ic fomme ſchon bald
gerade gut für den Heimatort.” mal mwieber, ganz alleine, zu einem Täßchen
„Aber — er verfauert hier! Ja, ganz | Kaffee, ich habe fo viel zu erzählen. Ein
gewiß. Der müßte in bie große Etabt, to | netter, artiger Menfch, der Kandidat. Wär
man ihn fehäßt, wo er weiter kommt. — Mit | ein Umgang für Ihren Frig — mas?”
einem Worte, er verfauert!" Ihre Augen „Ad, das glaube id faum. Der ift fo
bligen. ſtill für fi hin!”
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Der Einzige.
Hofleben abgefpielt und das jegt in Beamten:
wohnungen und Gefängniffe verwandelt ift.
Das Wagnerfche Haus ragt über feine Nad-
barſchaft hinaus. Troßig erheben fih drüben
die Gewerke des Sägemüllers — Neubauten.
Note, aufpringlide Ziegel. Die Brennerei
mit dem hohen Turm gehört auch dazu. Nur
zwei Kinder, Sohn und Tochter — recht drin
figen die im Wohlitand. "Emmy Roth weiß
nicht, wie's if, wenn man fi) ein paar neue
Handſchuhe kaufen möchte und kann es nicht,
wenn man Rnitterband auf den Hut nehmen
muß, ftatt des beſſeren; bie orbinäre Säge-
müllerin, die eine Magd geweſen ift, geht
beute oft in Seide. Und ihre Mutter bügelt
fih das einzige feidene Kleid von Zeit zu
Zeit mit Pjeffermüngthee aus. Reifen können
die, wann fie wollen. Eie gehn zwar nur
immer, guter, alter Gewohnheit gemäß, nach
Hannover — fie würde in alle Weiten ſchweifen.
Die Welt fehn! Was erleben! Ad! — ein
langgezogener, fehnfüchtiger Seufzer.
„Wohin ging denn der, mein Fräulein?
Blitzſchnell wendet fie fih um — ber
Kandidat, harmlos lächelnd, die weißen Zähne
zeigend.
„Aber — mein Herr!”
„Ja, ich will nur gleich geftehen: ich bin
binter Ihnen bergelommen, ganz bewußt,
ganz abfihtlih —“
„aber —“
„Schon von der Kirche her. Daß ih Eie
dort betrachtete, haben Cie bemerlt. Bes
trachten mußte, fagen wir, um ganz forreft zu
fein. Was zwingend ift, unmittelbar, elementar,
das darf man fagen? Was wollen Eie thun,
als ganz klug und geduldig mid) anhören?
Sehn Sie, nun ift dad Echmollen weg, Eie
laden ganz allerliebft, Sie finden die jeige
Eituation zum mindeften abfonderlih und
werben Gnade für Recht ergehen laſſen?“
Glatt, ſchnell, mit wohlllingender Stimme
ift das alles vorgebracht, und der Überfall ift
fo abſonderlich.
Emilie Zehfe ift heiß getvorben vom Gehen,
vom Fächeln der Frühlingsluft. Sie wendet
dem Keden das Köpfchen zu und fagt ein
wenig von oben herab:
„Davon habe ich Ihnen nun noch nicht den
allergeringften Beweis gegeben, mein Herr!”
605
„Aber — Sie werben’8.” Er geht immer
neben ihr ber. „Mein Belenntnis iſt noch
lange nicht zu Ende. Jh habe Sie neulich
ganz flüchtig gefehen — haben Eie biß jegt
ein taltloſes Kompliment vernommen, mein
Fräulein?” Er fieht fie mit großen, ſchmachtend
erhobenen Augen an. „Seien Sie barmherzig,
laufen Sie mid) nicht fo außer Atem. Hierher
verirrt fih auch um biefe Stunde fein ges
wöhnlicher Blumeroder, und bie paar Wald-
arbeiter im Sonntagsftaat aus den umliegenden
Dörfern werben Eie nicht zählen, die kennen
Sie nicht!” Es ift ihr ganz unmöglich gemacht,
in fein Geplauder nur das Geringfte einzu=
werfen. Nur lachen Tann fie, immerfort
laden.
„Alfo in der Kirche hoffte ih Sie wieder
zu fehen. Und richtig. Ich kenne die Ges
pflogenheiten Eleiner Orte. Dann ihnen nad,
aus der Ferne. Sie traten in das Wagnerſche
Haus. Waren Sie die Tochter des Holzherrn?
Ich machte meinen Beſuch, das Übrige twiffen
Sie, und diefe Veilden hier laſſen Sie fih
demütigft darbieten!”
Sie fennt wenig Herren, feinen aber, der
fo gewandt, fo Iuftig, fo unverſchämt ift.
Und wenn fie auch verſuchen will, darüber
empört zu fein, ganz bringt fie das doch nicht
fertig. Sie macht nur eine abwehrende Be—
megung gegen die Blumen hin.
„Mein Herr, ich muß Sie bitten,” ftammelt
fie, gegen ihre fonftige Art befangen.
„Jetzt mich zu verlafien!” Er verbeugt
fih. „Ich gehorche, mein gnäbiges Fräulein,
weil ich felber fühle, daß ich Ihre Geduld ſchon
auf eine zu lange Probe ſtellte. Aber —
ein Wiederfehn nehme ich mir balbigft als
Belohnung für diefe Entfagung in Ausficht.”
Noch eine, weit tiefere Verbeugung, und
dann ſchnellt er den fehrägen Abhang zu ben
Gärten hinab und ift zwiſchen den Heden
verfhtwunden, eh fie gewahren kann, mohin.
Die Veilchen aber hält fie in der Hand.
Sie wagt nicht, fih umzufehen, fie hat
ben Kopf gefenkt. Mit ganz langfamen, kleinen
Schritten geht fie den Weg meiter. Cie hat
etwas erlebt, etivad ganz Befonderes, hier in
Blumerode.
Wer das gedacht hätte!
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Der Einzige
„Scaufter Pott fine”,
erfcprodene Mädchen und reibt mit beiden
Meinen Fäuften feine mafjerblauen Augen.
Es hat ein braunrotes, kurzes, bertragenes
Kleid an und bloße Beine und Füße. Ein
paar flachablonde Zöpfehen hängen über ben
Rüden.
„Großmutter, Großmutter!” wimmert es
Hagend und drüdt die Schultern zufammen.
„Hu! datt giwt Wichſe!“ fagt ein langer
Junge mit vergnügtem Grinfen. Die Frau
sieht dem Kinde die roten finger von dem
tbränennafjen Geſicht.
„So! oben bi den Koopmann Jenne wohnt
fe? Weiß fchon! Was Haft denn aber bei
den Mühlgraben zu thun?“ Cie droht leicht
mit dem Finger. „Is das 'n Epielplat für
lüttje Mäfens?” Dann mit einem Blid auf
die Knaben, die nun ftill geworden find:
„Wenn etwa ein’ von euch das Kind rein ger
ftoßen hat — paßt man Achtung, ich geh doch
noch mal nad; dem Herrn Lehrer.”
„Ne! is nid) wahr!” fagt der Größte.
„Se hat auf einmal brin gelegen, Kopp
oben, Kopp unnen.”
„Un’ ihr Deubelbande habt's ruhig
ſchwimmen laſſen. Nu komm, nu follft'n
warmen Schlud Kaffee kriegen.“
Das Mädchen hört auf zu meinen, - die
Bengel ftoßen ſich mit den Ellbogen und zer=
ftreuen fih, denn die beiden Männer da drüben
find gefürchtet. Wen fie von Schreiern er:
haſchen und ins Ohr fneifen, der fühlt's.
Langſam und gewichtig ſchreiten die Nachbarn
auf die Linde zu, an der die hilfreiche Harfe
bereits wieder lehnt.
„Ja, ja, ja!” fagt der Holzherr zu einem
Gedanken, den er nicht laut werben läßt.
„Meinſt de nich’, daß ich recht habe mit
die Frauenzimmer?“ wirft der Sägemüller
ſchmunzelnd Hin, „mir kennen fe doch.“
„Hm! ja! Was rechtzeitig an feinen Pla
fommt, das is bewahrt.”
„Drum!“ Und wieder ift der Knopf von
dem Rod des Freundes zwiſchen feinen dicken
Fingern. „Mein' Emmy, das fommt ja aud
nid" leer ins Haus. Un’ is anfehnlih, und
benehmen kann fie fih aud.”
„Zu was hört was.” Wagner madt ein
Zeichen über die Schulter nah feiner Frau
ftammelt das '
607
bin, die wieder mit dem Kinde erfcheint, das
feine legten Thränen über einem Stüd Kuchen
vergeffen bat, Tine hinter fih. Bis zu den
Sitzenden Hingt die are, weiche Stimme:
„Nu' lauf mit'm hin. Gleich neben Kauf⸗
mann Senne. Sein Vater is gewiß inne und
feine Großmutter aud. Sie fol’s ins Bett
legen, bis feine Röde troden find, denn thät's
nid’ ſchaden. Un’ das Umſchlagetuch bringft
du wieder und hängſt's aufn Holzhaufen.
Un’ du, Lüttje, fpielft nich” wieder am Mühl⸗
graben. Denn wenn du nod) mal drin an
geſchwommen kommſt, denn kriegſte keinen
Kuchen, denn giebt's was mit der Rute.
Tine, ſeine Leute ſoll'n es aber nich' ſchlagen,
das beſtellſt du mir!“ \
Tine nimmt das eingewidelte Kind auf
den Arm und feßt fich flint und geſchmeidig
in Bewegung.
Roth nidt. „Du, Wagner, deine Frau
is eine — die hätte fehle haben müffen.
Die Tann da zwiſchen regieren. Meine konnt's
nid, der war's immer zu viel. Um’ von
unfern Sechſen find auch man die zwei
geblieben und die find ihr auch rein über'n
KRopf ſchon. Da kann fie jagen, was fie will.
Ne, deine — die nimmts mit'm ganzen Dußend
auf!”
„Hm! Meinft du, Roth, wenn bei bir die
Sechſe teilten und bei mir aud, das wär'
fo'ne Sache. Na, denn hätte mein Junge
den Eichberg nich” zu friegen, und ber ganze
andere Krempel fäme auseinander. So was
tönnte fein Menſch mit aniehn, oder wiſſen,
daß es fo fäme, wenn er fort muß!”
Roth ftreicht über feine Stoppeln hin und ber:
„Da haft du mal wieder mitten rin geſchoſſen ins
Schwarze, alter Schüge. Darüber babe id
nu noch nie nich? nachgedacht.“
Der Holzherr lächelt. „Wiſſentlich bift du
ja aud nid’ nationalöfonomifh — findeſt's
man immer fo neben ber. Das muß aber
ſchriftlich gemacht werden, daß beine Ländereien,
die an meine im Holtenfamp ftoßen, mal ganz
direft an die Emmy kommen. Das giebt
denn ’n guten Landftrih, mas Zufammen-
gehöriges.”
„Mach'n wir, Wagners Konrad. Un’
wennehr fol’3 denn ungefähr losgehn, wie
haft du bir denn das gedacht?“
608
„Meinswegen alle Zage!
den Eichberg habe.”
„Du, in drei Tagen id mein Geburtstag
— da ſeid ihr doch jedesmal ’n Abend da-
geivefen.”
Wagner nidt. „Mir recht. Aber — nichts
den Frauensleuten vorher, das bitte ich mir
aus.“
„Morgen! Morgen! Morgen! meine
Herren und Gönner! Herr Holzherr, Herr
Senator!“ Der Major Bürgermeiſter tänzelt
über den Weg.
„Meine Herren, meine Herren! nun wird
es Frühling an allen Enden.“
Langſam holt der Sägemüller ſeine Hand
aus der Hoſentaſche. Er liebt es, ſolchen
Leuten, deren geſellſchaftliches Übergewicht er
fühlt, keine Conceſſionen zu machen.
„Denn wer'n Sie ja wohl nu wieder an
alle Orte Bänke hinſtellen und das Ber:
Ichönerungsverein nennen”, jagt ex mit feinem
breiten Zächeln und tbut, ala mollte er pfeifen.
„38 aber man bloß, damit die Liebespärchen
denn 'n Aufenthalt haben! Geh’n Sie mid
man damit. Garnichts bemwillige ih im
Magiftrat — rein feinen Grofchen for ſowas.
Früher find auch feine Bänfe im Ort geivefen,
auf dem Langhals fein Pavilliohn und aufm
Orthöllen fein Ausfichtsturm und gelebt
haben die Leute in Blumerode doch.”
„Aber die Fremden, Berebrtefter,
Fremden!“
„Was gehn die mich an? Hat meine Säge—
mühle nichts von! Brauch' ih nich!”
„Erlauben Sie!“ Der Major von Müller
huſtet, als ſei ihm etwas in die Kehle gefahren.
Da legt ſich Wagners Hand auf die ſeine.
„Na, laſſen Sie man! Ich mach 'ne
Wette, wenn bei dem reichen Sägemüller Roth
Verlobung und Hochzeit is, dann ſtiftet er
was, juſt dem Verſchönerungsverein. Wir
werden uns noch ſprechen, Bruder Louis, was?“
Er ſchlägt dem Freunde gegen die Schulter.
„Der is bloß ſo, mein lieber Herr Major,
weil er nichts an die große Glocke hängen
will. Was, Roth?“
„Brauch ich nicht!“ giebt der zurück, Herrn
von Müller im Unklaren laſſend, was er nicht
braucht. „Na — morgen die Sitzung wird
wohl ein bißchen ſtürmiſch!“ ſagt der Major,
die
|
— — — — — — — — — — — — — rn EEE — —
Der Einzige.
Jetzt, wo ih | „wenn mich die beiden Herrn nicht unternüten
in Sachen der Armenpflege. Denn daß b::
baarfträubende Zuftände, das muß zugegcken
werden! Dies Armenbaus! Alt und Jung
und Männlein und Weiblein unter einander
Und a’ Mann dreißig Pfennig die Rock:
Und Holz holen dürfen fie nit. Na, mann
ſie's denn ftehlen, To ift das fein Wunder!
Er ift febr eifrig und geftifuliert mit ten
feinen Händen.
„Sb, nu fol mich einer bewahren, da
fangen Eie jet auch mit an?” fragt te
Sägemüller. „Das is doch nu immer io
geivefen, und fein Supernbent und fein Paſiot
bat was darinne gefunden.”
Der neue Bürgermeifter ſeufzt.
„Sie haben e3 eben gehn laflen!“
„Un' Sie woll'n dem Drtsjädel neu:
Laſten aufbürden? Ne, braud ich nich!“
„Aber die armen Menſchen — Dem ta:
find die Armenhäusler am Ende dody aut!‘
Der Sägemüller lehnt ſich zurüd un
ftredt die plumpen Yüße aus.
„Barum find fe arm? warum find je md’
rechtzeitig zu mwa8 gekommen?“
„Erlauben Sie, mein Berehrter, es ſind
doch viele, ich babe mich genau orientiert, bi:
unverfchuldet —“
„Ad was, glaub’ ich nich ! brauch ich nich —
„Thatſachen, Herr Senator — Thatjaken
Iprechen!”
„Die will ich .gar nich” hören. Wer im
Armenhaus iS, der is drinne. Un’ baſta damit“
„Wenn alle fo denfen —“
„Thun fie, thun fi! Was fol id?
anders machen? Braud ih nid!”
„Herr Holzberr —“
Der hat fein meifes Lächeln. „Wit der
Zeit, Herr Major. Auf einmal wirt man
folhe Dinge nicht um. Fein langiam, mit
es heißen! Sie fennen unfre Berbälmiiz,
unfre alten Sacjfenköpfe und die Ehrfurdt
vor dem Hergebrachten in folden —“ xꝛ
lächelt fpöttifch, „Dingen nit. Der Sanitäts
rat und ih haben - oft darüber geſprochen.
Wir haben nur mit Privathilfe das Nörialte
tbun fönnen. Nütteln an den Dingen —
ab, man fieht fo vieles!”
„Sa, was Wagner fagt, der hat ja m
feine Wiffenfchaft in fo'n Sachen!“ fällt Reit
Der Einzige.
ein. „Der bat auch die Menſchen unterftügt.
Hahaha! mande Frau mit 'nem blanken
Dahler. Na ja! Aber Sie, Herr Major!
bei Sie, ba fällt es mid von ben neuen
Befen ein, bie alleweil gut fegen. Hinterher
bleibt viel liegen, mander Staubhaufen!
Hahaha!“ Herr von Müller beißt fi über
den Vergleich in die Lippen.
„Eſſen Cie bei uns man erſt'n Scheffel
Salz!“
Haarfträubend, geradezu baarfträubend,
daß folhe Zuſtände exiſtiern“, eifert von
Müller. „Und ‘die ganze Paria-Verachtung
auf die Menfchen im Armenhaus. Wenn fie
arbeiten wollen, es nimmt fie doch feiner.
Und giebt jemand ben Kindern ein Stüd
Brot, fo ift es mit dem verächtlichen Zufag:
ein Armenhaustind. Außer der menſchlichen
Geſellſchaft ftehn fie — die Dorfverachtung
und Beiſeiteſchiebung ift die allerhärtefte. Das
babe ich bisher nicht gewußt, wirklich nicht.
Den Zollborn laß ich jegt mein Holz ſchlagen.
Darüber war meine Wirtin ganz empört, es
tönnten doch beflere Menfchen auf ihren Hof
Tommen. Armenhäusler wollte fie nicht —
IH frage Eie! ich bitte Eie, meine Herren!”
Der Sägemüller hat ein breites Lachen.
„Kann ich die Frankſche gar nich’ verbenfen.
Von meinem Grund und Boden muß mid) das
Gefindel aud bleiben. Brauch' ich nid!”
Aber, wo ift denn da Abhilfe?”
Roth fteht auf. „Wenn Eie mal mit
mol’n, ih babe neue Kutſchpferde, davon
mögen Sie etwas verftehn. Mehr, wie von
Gemeindeſachen!“ Der Aufgeforderte ſchüttelt
dem Haushern bie Hand, zwinkert mit ben
Augen und folgt dem Sägemüller.
Konrad Wagner figt noch ein paar
Augenblide. Tine kommt haſtig zurüd; da
fteht er auf: „Na, is ber Schaden gut?”
„Die alte Großmutter hat gefagt, der
liebe Gott mußt's unferer Frau befonders
lohnen.”
„Denn i8 gut. Was bift fürn appetitlich
Mäten, Tine. Un’n Schatz haft wirklich noch
nid?“
Aber, Herr Holjherr!”
Er faßt fie, ihr dicht bis an die Haus—
thür folgend, unter das Kinn.
„Rüffen mußt nu aber auch bald Iernen,
609
du Flachslopp!“
huſcht davon.
Fritz hebt den Kopf, als ſein Vater in die
Wohnſtube tritt. Der nimmt das Buch, in
dem der Sohn lieſt, einen Augenblick
empor, ſieht das Titelblatt an und legt es
dann wortlos wieder vor ihn hin, geht ein
paar Schritte hin und her, tritt ans Fenſter,
wirft ein welles Blatt von dem Geranium zu
Boden und ſagt: „Weißt du, daß ich Gut
Eichberg gelauft habe?“
„Nein, Vater! Mutter haft bu es auch
wohl nid” erzählt?”
„Was geht das MWeibsleute an? doch erft,
wenn fie mit ber Wirtfhaft zu thun Friegen.
Na, fagft bu denn nichts?“
„Es wird ein vorteilhafter Kauf fein; bu
weißt ja, was bu thuft!”
„Haft Urſache dich zu freuen.
mal drauf figen!”
„Vater!“ Fri fpringt auf und eilt auf
ihn zu. „Vater — das, das wäre herrlich!
Eichberg! das fhöne Gut — Vater — id
hab’ mir doch immer gewünſcht, Landmann
fein — du ſprachſt dich nur nie aus. Aber,
mas id für mich allein ftubiert und gelernt
babe, immer heimlih —“ Der alte Wagner
fteht aufrecht, den Sohn weit überragend und
auch nicht ein wenig mehr Wärme als fonft
fommt in feinen Ton, obwohl er die Freube
des jungen Menfhen aus den aufbligenden
Augen fieht.
„Mein größter Wunſch, einen ftubierten
Menſchen aus dir zu machen, kann ſich ja nicht
erfüllen. Was bleibt mir denn über? Wir
find ſchließlich alle fo ſchwach, mehr aus unfern
Kindern machen zu wollen unb daß es ihnen
befier gehn fol, als wir's gehabt haben. Ich
babe mir mein bißchen Kenntniſſe allein er:
werben müffen, auf eigne Fauſt — Eichberg
mit dem mittelalterlihen Schloß — ja, da
folft du nu figen. Die Mutter und id) bleiben
bier auf dem Altenteil. Freilich, der Erſte,
der da brüben was zu fagen bat, das bin
doch ich.“
„Das iſt wohl ſelbſtwerſtändlich, Vater!“
„Ich!“ ſchwer und bebeutfam klingt das
dur den Raum.
Vielleicht” — Fritz ift ganz erregt — „ers
möglichft du es mir, noch vorbereitende Stubien
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Das Mädchen kichert und
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„Veiter, id wer, tab tu — daß ih —“
er itict, a3 müne er Ihrin bet cœHrien —
„du mich wobl anders mifıen Meine
Kränklichkeit und deine geunte Narr —
Vater, es in aber doch nicht meine Schuld —
en trauriges Verbaengnis: Solch geiunte
Eltern und fo 'n zerbrechlicees Kind —“
„Laß man!“
„Ich will aber ıFun, was ich kann. Ich
will — ber Sanitätsrat meint ja auch — id
gelobe fir —“
„Ja, laß man, laß man. Bloß nice
wie'n weichliches Frauenzimmer.“
Fritz ftreicht über ſeine Haare; er fühl es
bitter, taß ſich der Vater nie finden laßt —
ſelbſt in dieſem Augenblick, der ibm Teiche
Freude bringt und in dem er ſo voll Dank
iſt, nicht. Er unterdrückt einen Seuẽzer und
gebt nach ſeinem Bud zurück; ta ruit
Konrad Wagner mit einer plotzlichen Wendung
vom Fenſter her. „Ja — Frauenzimmer.
Junge, ſag mal, bhaſt du ſchon eins gem
gehabt?“
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über Spolterebitzucht, aber über ul:
Ein tanzt er Name Wile.
Konrad Nummer legt ſñich breit in: ir.
Ein zankendes Spatzenvolk ſtreitet nd > Nah.
um einen Birnen Cr iſt neugiera, ©.
iereiente Kerl der Sieger kein wire.
Das Rotbiche Anweſen, ein großes We
haus an der Spitze der Müblenzic
Schuppen, Veridiäge, Ställe und Hama. "
nah und nach zu ſeiner jegigen Ausdeb!
gelangt. Der Sügemüller but —e
jrüfe und Gärten zugekauit. Jmi
Käufer find mir Überbauung in cm z.'
verwandelt; die Unreaelmäßigfeit tt 7”
außen verdeckt mit einer freundlichen x: :
mit großen Fenitern und ftattlidder Zur.
Annern aber ſieht's deite bunter us,
gebt Stuien auf, Stuten ab, bie 37
Der Einzige. 611
links liegen höher. Mit vergoldeten Tapeten,
Spiegeln und glänzend polierten Möbeln betont
das Haus feine Wohlhabenheit. Aber die
lommen nicht viel zur Geltung, denn Über
züge und Läufer und Vorhänge fpielen auch
eine Rolle, und da in ben „ſchönen Stuben“
aus Furt vor Fliegen und Staub und aus:
brennenber Sonne wenig gelüftet wird, ift ein
dumpfer Geruch darin, der noch erhöht wird
dur getrodnete Reſeda und Lawendel, bie
in Mullbeuteln unter den Inhalt der Schub-
laden und Schränfe gelegt find.
Ein einzigmal hat die Kammerjungfer ber
alten Amtsrätin auf dem Gute, wo die Säge-
müllerin in den Viehftällen diente, fie mit in
die Geſellſchaftsräume genommen und ihr die
Schränke gezeigt. Der Geruch von Lawendel,
getrodneten Rofenblättern und Reſeda gehört
zu ben feinften Sinneseinbrüden von Minna
Roth und ift ihr ungertrennli von dem, was
Reichtum bedeutet. Die Heinen Beutel fült
fie regelmäßig zur Sommerszeit und verſenlt
fie feierlich, und betritt fie die Räume allein,
fo blähen ſich ihre Nafenflügel. Nun hat ſie's
auch fo gut wie die Amtsrätin.
Hin» und Herlaufen, Baden, Braten,
Räumen, Wegkramen und Hinftellen ift den
ganzen Tag in der Sägemühle geweſen. Man
bat bie heifere Stimme der Mutter Roth, die
Zeit ihres Lebens wie erfältet geflungen, bald
in ber Küche, im Oberftod ober in der Wohn-
ftube keifen hören. Sie trägt einen Wollrod,
eine Barhendnachtjade, deren Ärmel aufge:
ftreift find und über den Haaren, die fie in
ſchlichten Scheiteln an ben Kopf gelegt hat,
ein weißes, leinenes Tuch. Das ift auch noch
eine Gewohnheit aus ihrer Dienftzeit. Die
Pflichten innerhalb der Wände des Haufes
find ihr ſtets ſchwer zu bewältigen geblieben,
und fie ift deshalb nie für Gaftlichleit zu ge—
innen geweſen, bie ihre ertvachfene Tochter
aber num energifch einführt. Recht oft müflen
jegt bie grauen Überzüge von den Möbeln
der beiten Stube genommen werben und der
Hausfrau Hüte, Tücher und Eonntags-
Heiber, die in berfelben die Lampen garnieren
und an den Fenſterhalen hängen, ver=
ſchwinden.
Fur ſich ſelber hat Emmy die Einrichtung
eines behaglichen Mädchenzimmers im Oberftod
durchgefegt; blaue Cretonnemöbel, gleiche Vor⸗
hänge, ein zierliher Schreibtifh und ein weiß⸗
lackiertes Bett mit einem weißen Baldachin im
Schlafgemach — fie hat all das bei einer
Banlierstochter gefehn und zum Mufter ges
nommen — erregen das Staunen und bie Bes
wunderung ber Blumeroder jungen Mädchen.
„Hanne, daß mid der Braten nid’ ans
brennt! Sette, laß mid feine Augen in bie
Kartoffeln ftehn!” das find Frau Roths ftets
wiederholte Mahnungen, während fie irgend
eine Schüffel ober ein Gerät aufnimmt, um
es wieder in den Weg zu fehen.
Das Wohnzimmer ift zugleich Gefchäfts-
raum, die Leute fommen und gehn dort immer,
die große Säge arbeitet dicht nebenan, und man
hört das Wafler rauſchen. Darum ift ber
Tiſch in der beften Stube gededt. Emmy hat
es voll Herablafjung übernommen, ihn herzu⸗
richten, bedient von ber glogenden Jette, bie
alles verkehrt legen will und ſich wundert,
daß es des Beſuchs halber fo anders ift, ala
fonft. Dabei beflagt Emmy lebhaft, daß fein
befonderes Eßzimmer eriftiert, trotzdem ber
Vater ſchon zweimal fein: „Braud ich nich!”
über bie breiten Lippen gelaffen hat.
Er und fein Sohn fehn ihr zu.
Am enter fteht der Geburtstagstiſch;
um eine Torte find fo viel Lichter geftedt,
als Roth Jahre zählt. Auch das hat Emmy
aus der Penfion eingeführt. Cie hat ein
NRüdentiffen geftidt.
„PBantoffeln wären ihm lieber geweſen,“
hat der Vater gemeint.
„Verwöhnt die Männer zu ſehr,“ war bie
Erwiderung der Tochter.
Sie hat zum Kummer der Mutter alles
Silbergerät aus dem Glasſchrank geräumt.
„Das muß doch nu wieder gepußt werden,“
hat die Hausfrau gellagt.
„Recht haft du, Mutter,” hat der Sohn
zugegeben. „Mir is’n Etüd Brot aufm
gewöhnlichen Teller wahrhaftig lieber.”
Der Bruder Emmys, Oslar, hat das
vote Gefiht der Mutter und bie Heinen,
ſtechenden Augen des Vaters. In ihm findet
da8 Vornehme auch wenig Widerhall. Er
trinkt bereits viel für feine Jugend und hat
öfter ſchon einen Rauſch heimgebradht. Aber
er ift feinem Vater im Geſchäft eine Stütze
39*
612
und der Mutter Lieblingsfind,
immer an ihr zu tadeln findet.
Schweſter Yräulein Kunigunde.
Er ſieht wenig nach den Schönen des
Orts. Auf dem Schützenhof mit ein paar
Dienſtmädchen tanzen, iſt eher ſein Fall, als
den Bürgertöchtern höflich begegnen.
„Kümmere dich um deine Angelegenheiten“,
ruft Emmy ſchnippiſch.
„J — ne doch! ſieh mal!”
„Auf der Schule in Holzminden hätten ſie
dir auch ein bißchen beſſeres Benehmen bei⸗
bringen können!“
„Ich bin mir grade recht, Fräulein Kuni⸗
gunde!”
„Ru zanken fie fih fchon wieder, bloß
zwei Kinder und immer zanten,” klagt Yrau
Roth, die hereingeftürzt kommt.
„Laß man, wenn alle Sechfe noch da
wären, denn ginge es fchlimmer zu,“ wirft der
Bater ein, der in Hembsärmeln ift und auf
den Barbier wartet, Schmwartenbed, der ihm
dreimal in der Woche allen Klatſch zuträgt.
Und er denkt an die Äußerung des Holzherrn
— wenn Secdjfe teilen follten.
Frau Noth ift leicht gerührt, fie führt ben
Bipfel der blauen Schürze an ihre Augen.
„Ad, du mein Gott! daß du mid nu aud
heute davon jprechen mußt, wo bein Geburt3-
tag i8. Nu krieg ich es nich’ aus dem Sinne.
Mein Kleines Hermännden und das nübliche
Lotthen und Friße und Idachen und nu
ſeh' ich fie vor mir, wie fie auf meinen
Arm mollte, Idachen, noch zulest —” fie
ſchluchzt.
„Ja, ja — is gut!“
„Un' immer mein' ich, ſie is nich' recht
behandelt. Un' die Klawittern is mit ihrem
Kinde dazumal bei dem Schäfer in Jeliens⸗
berg geweſen, und der hat’3 gejund gemadıt.
Roth'n, fagte fie immer, daß Sie ’nen ftubierten
Doktor gehabt hat, was Verkehrteres konnte
fie ja nid’ thun. Un’ das nagt an meinem
Gemüte, dag werd’ ih Tag und Nadıt nic’
los.“
Emmy läuft hinaus und ſchlägt die Thür
hörbar zu.
„Da haſt es! Fräulein Kunigunde is
ungnädig!“ ruft Oskar und reckt ſeine Arme
in die Luft.
weil er nicht
Er nennt die
Der Einzige.
„Sie hat kein Herz for ihre toten kleinen
Geſchwiſter, gar kein Herz,“ ſeufzt Minna
Roth und trocknet mit einer energiſchen
Bewegung ihre Thränen. „Ob man bloß
Jette auch keine Augen hat ſtehn laſſen?
Ich muß wahrhaftig mal nachſehn! Wenn
man fo was ſelber ni’ thut! Auf wen
i8 denn Perla?” Sie rennt hinaus und
läßt die Thür offen.
„Drüben i8 es gemütlicher,” meint Oskar,
ber in ausgetretenen Schuhen einen ſchlurrenden
Gang bat. Und der Vater folgt ihm wortlos
hinüber; er macht forgjam die Thür zu.
Das große Familienzimmer hat für viele
Raum, da ftehn zwei Sofas, ein ledernes,
ein ganz altes mit lauter fleinen Schubladen
in ben Seitenlehnen, Schränfe, Stebpulte,
Kommoden. Eine Thür führt direft über
zwei Tritte bin nad) dem Mühlenraum, too
es rauſcht und die große Säge ächzt. Uffnet
fie fih, fo dringt der Geruch frifchen Holzes
zugleich mit dem Waſſerdunſt ein.
„uff!“ madıt der alte Sägemüller. Dann
wippt ein langer Menſch mit einer ſchwarzen
Tafche herein. „Herr Eenator, hab’ die Ehre,
Eie zu grüßen!” Ein Eeufzer. „Bitte Platz
zu nehmen, Herr Senator. Sollen gleich be-
dient werden. Ach, was is es for ne Welt,
Herr Senator!” Und wieder ein langgezogener
Seufzer.
„Was hat ſich denn begeben, Schwarten⸗
beck?“ fragt der junge Herr aus ſeinem Seſſel,
in dem er langgeſtreckt liegt.
„Ih bitte Sie — mit allem Reſpekt vor'm
Herrn Senator! Begeben? begiebt fih denn
ni’ immer was in der Politik? Is denn
das nich’ grabezu greulih? Un’ die grünen
Tiihe? Sa, da haben die Herrn gut figen!
Politik und die grünen Tiſche!“
Schwartenbeck ſchlägt den Seifenſchaum,
Roths dickes Geſicht ſieht ſchon über der
Serviette heraus. „Habe ich nicht recht, Herr
Senator?“
„Ja, wenn die da oben bei der Regierung
ſo viel Laſt hätten, wie wir mit den Orts⸗
angelegenheiten!“
„Sage ich ja,“ ſeufzt der Barbier. „Alle
Tage dreimal ſage ich: Leute, wie quält ſich
zum Beiſpiel unſer Herr Senator Roth mit
euren Sachen! Aber — das Volk iſt ja zu
Der Einzige.
dumm, rein zu bumm! Unb um den Major
thun fiel Ich bitte Siel ſo'n Austärtiger.
Und läßt ſich nic’ rafieren! Seine Sade!
Aber unfre Sachen, die kann er doch gar nich’
verftehn; is fein Blumenroder. Beileibe findet
fih da fein Fremdländiſcher rein. Zum Bei-
fpiel, das Holz hadt ihm der ſchiefe Schneider
aus dem Armenhaufe, und mer trägt’3 in’
Holzſtall? die dide Reinfterzen, au aus dem
Palaſt da oben! Frag ih Sie, Herr Senator,
i8 das ein Beifpiel fürn Ort? Da find fo
viel ehrliche Leute.” .
Der Gefragte Tann nicht antworten,
Schwartenbed hat ihn bei ber diden Nafe
gefaßt, e8 wird nur ein Schnaufen hörbar.
„Mir gefällt der Major!” fagt Oskar.
„Er ift Teutfelig und macht mal'n Epaß!"”
„Sie find jung, jung, Herr Roth! Sie
denken noch nich! viel an die Politif. Wiflen
der Herr Senator denn ſchon, daß Bormanns
ein Kalb haben mit zwei Köpfen? ber ganze
Ort ift unterwegs nah dem Mirafulum!
Ne, ih hab's nid’ gefehn! Wie ih in
Göttingen ftubiert habe, was habe ich da nich”
alles gejehn in Spiritus! Alles aus’m
menſchlichen Leben, Herr Senator! Und die
Witwe Großkurth fol ſich nächſtens verloben
woll'n mit'm Witwer mit fieben Kinder aus
Hainburg. Da geht denn auch 'ne Steuer:
zahlerin fort. Un’ zufammgebradht wärn's.
Ad, du meine Güte! fieben lebendige Kinder.
Schneider Schwupp und Rinklebens, die haben
ſich regelreht gehauen, und ber alte Amts—
diener Finke ift wieder ganz voll, er rief eben
lauter lonfuſes Zeug aus.”
„Da fol doch!” puftet der Sägemüller.
Dslar lacht. „Wenn er einen fißen hat, denn
i8 er zu komiſch, der alte Finke.”
Schwartenbed ftemmt ben Arm in bie
Seite, fenkt das Meffer und wirft einen Blid
gegen bie Dede.
„Un’ woher hat er's Geld? Vom Herm
Bürgermeifter Major von Müller. Hat'n
großes Trinkgeld gefriegt, teil er ihm ein
paar Privatgänge beforgt hat. Ich frage, ih
fage, ein Menſch, der zum Trinken neigt,
Trinkgeld! Dan follte jagen, es wäre gewiſſer⸗
maßen ein Borfchubleiften! und ber Neben-
menſch fol doch die arme, fünbhafte Kreatur
wieder auf rechte Bahnen leiten.” Er fehüttelt
618
den kleinen, grauen Kopf. „Kerr Senator, es
iſt fo zu fagen — es ift alles verehrt in ber
Belt!“
„Hahaha!“ Der Sohn des Haufes ift ſehr
vergnügt.
„Der Major hat Finken gewiß mal ſchräge
ſehn woll'n — ih fage ja, er is zu
iomiſch!
„Ach, Herr Roth junior! Das käme mir
grade ſo vor, als wie die frevelhafte That
der Frau von Siegen. Sie hat den Kindern
vom ſchiefen Schneider aus dem Armenhauſe
neulich Torte geſchenkt. Ich bitte Sie, Torte!
Und was hat ſie dazu geſagt: Die ſollten
auch mal wiſſen, wie das ſchmedt!“
Dölar brüllt jetzt. „Famos, ganz famos!“
„Herr Roth, Herr Roth!”
„Wirklich famos!”
Da fprengt der allertieffte Seufzer faft die
Bruft des Barbierd. Er ertibert nichts,
padt feine Sachen zufammen, macht einen
Kratzfuß, haucht: „Herr Senator, nu find Sie
bedient!” und verſchwindet.
Emmy ift in ihrer Stube. Eie bat im
Nebenzimmer zwei Kleider auf bie Stühle ge
bängt und betrachtet fie aus der Entfernung.
Blau oder rofa? Teuer find beide geweſen,
das bleibt fi alfo glei. Aber, fie hat
irgenbivo fagen hören, auch bie Farben
der Kleidung müßten mit ber Cituation
barmonieren.
Blau ift treu und rofa geht auf bie Liebe
bin. Welche aljo, an biefem bedeutungsvollen
Tage? denn was fich ereignen fol, hat fie
längft erraten, wenn aud ihr Vater nichts
gejagt hat. Er hat von ber Ermwerbung
Eichbergs geſprochen und daß Fritz dort figen
follte und daß der Holzherr allerlei Ders
änderungen borhätte.
Wie der einzige Sohn von drüben und fie
fo eigentlich von Mein auf von ihrem Vater
als zufammengehörig ins Auge gefaßt find,
das weiß fie doc. Der Holzherr hat nie zu
feiner Familie davon gefprocdhen, Louis Roth
aber oft zu dem Mädchen felber. „Das kann
alles noch mal deine fein, mas Wagner’ is!”
Wenn nicht ein Graf fam oder ein Baron,
mas bisher nicht geſchehen war, fo fonnte fie
„die Grafſchaft“ mit dem ſchwächlichen Frig
ala Anhängſel felbftverftändlih annehmen.
614
Blau? fie Tneift die Augen ein bißchen
zufammen. Es fteht ihr gut. Bebeutet „treu.
Na, das bißchen Gerede dabon gegen den
Lehrer Dppel, der ihr zu Liebe Sonntags
Einleitung und Finale ganz befonders jchön
jpielt, das kann fie nicht dabei ftören. Im
Ernft wird er fich das fo wenig gedacht haben,
wie fie — Roſa — Liebe? glühende ift dunfel-
rot, die wird es wohl mit Fri fo wie fo nicht
werden. Die paar Briefe muß ihr Arthur
Oppel natürli herausgeben, feine Tann er
auch befommen. Er fchrieb ſehr ſchwungvoll,
und fie ift vorfichtig gemefen. Das bat fie
ſchon in der Penfton gelernt, als fie und
Blanka Deden ſich mit den beiden Fändrich's
zum Rendezvous beſtellten. Café Roby
— kein Menſch hat's gemerkt, am wenigſten
die Penſionsmutter. War auch ganz harmlos;
ein paar Küſſe auf dem dunklen Georgswall.
Blanka Decken hat geſagt, man müßte ſeine
kleinen, harmloſen Mädchenerinnerungen haben.
Das wär' auch ein Recht gegenüber den
Männern, die ſolch viele Rechte hätten. Und
wie langweilig würde es ihr ohne das kleine
Techtelmechtel mit dem Lehrer in Blumerode
geworden ſein! Von morgen an kennt ſie ihn
nicht mehr. Vater iſt nun allerdings kürzlich
aufmerffam geworden, aber, was hat das noch
auf fi!
Sie entſcheidet fih für blau — abficht3-
Iofer.
Das Haar ift kunſtvoll frifiert, fie ftreift
den meißen Mantel ab, fieht mit Behagen
die vollen Schultern im Spiegel — der freche
Leutnant Walter hat einmal ganz unbemerkt
feine Lippen darauf gebrüdt bei einem
Gartenfefte und dann ben befannten Refrain
gefummt. Faſt hätte fie Luft, ſich felber zu
küſſen.
Dann ſchlüpft ſie in das blaue Kleid,
ſchließt es vor dem Glaſe, dreht ſich hin und
her. Eine gute Figur. Nur neben Mile
muß ſie nicht ſtehn, mit allen andern nimmt
ſie's auf in Blumerode. Dieſe Mile hat ſo
etwas —
Ob ſie das von ihrer Mutter hat, dies
gar ſo Handfeſte, die furchtbar geſunde
Röte?
Vornehm iſt Frau Zehſe, fein — das hat
ſie Mile mitgegeben, das haftet ihr bei aller
Der Einzige.
Lebendigkeit an. Sie tritt mit der Fußſpitze
wippend auf. Wenn Vater geahnt hätte, wie
hoch er fich einmal brädte, fo würbe er
Mutter wohl auch nicht juft beim Melleimer
geſucht haben.
Laßt fih nicht ändern. Aber ift fie erſt
felbftändig, dann fol fie fo wenig ala möglich
daran erinnern. Die Leute folen Augen
machen. Allerhand Schälchen, Käftchen, ein
paar Photographiealbums liegen im Zimmer
auf dem Tiſch. Sie ſucht dazwiſchen herum
nach einem Armband und zwängt es auf das
Handgelenk.
Vater iſt gut. Er erfüllt jeden ihrer
Wünfche, wenn ſie's recht anfängt.
„Wird Ihr Vater au einwilligen?” bat
ber ſchwarzäugige Lehrer gefagt. „Er ift ein
reiher Mann. Er wird bart fein können!“
„Kommt Zeit — Tommt Rat!”
Dieſes Huge Sprichwort fagte ihr der
Heine Fähnrich, als fie ihn auch ganz naiv
gefragt hatte, ob einmal feine hochadeligen
Eltern in kommenden Sahren zu ber Ver⸗
lobung ihre Einwilligung geben mürben.
„Sie gehn aufs Ganze, kleine ſüße Emmy”
— und dann den Sprud. Da war fie
allerdings fehr dumm, aber man lernt aus
jedem Vorkommnis etwas. Der hübſche
Fähnrich dachte damals fo wenig an irgend
welchen Ernit, wie ſie jeßt bei dem Anſchmachten
und Ermutigen des Lehrers. Uber es freute
fie, menn er in ber großen Slirche, vor der
verfammelten Gemeinde ganz allein für fie
fpielte. Bon ihr wollte er gelobt fein — bie
dummen Leute! Ganz alleine von ihr.
Und auf eine Orgelfompofition ſollte ihr
Name kommen als Dedifation. Sie batte
dad in ESchaufenitern von Muſikalienhand⸗
lungen gejehn.
Wenn er nur erft einen Berleger haben
würde. Dann die Blumenroder! Und Blanfa
Deden, die jebt von einem Beamten mit
ernftlichen Abfichten ſchrieb. Eie würde ſich
alfo noch früher verloben!
Die heifere Stimme von Frau Roth ſchallt
durchs Haus: „Emmy, fo komm doch endlich
runter, Fräulein Schwaff is fchon da, und
ich habe noch nich’ fertig werben können!“
„Natürlih!” Die Gerufene zudt verächtlich
die Schultern, nimmt noch einmal von bem
Der Einzige.
durchdringenden Parfüm, das ihr Bruder nicht
leiden kann, ſchiebt ein feines Tafchentud ein
und ſchlendert die Treppe binab.
Fräulein Schwaff fteht in dem Hausflur,
bemüht, Mantel und Tucd abzunehmen.
„a“, fagt Emmy, „dazu können Blume:
oder Dienftboten nicht erzogen werben”; fie
ift behilflich.
„Dane, dankte, Emmychen! Wo ift denn
aud das Geburtstagslind?“ Sie holt einen
Hyacinthentopf aus dem umhüllenden Papier
hervor. „Drin! wir haben ja fein Eßzimmer,
das wiſſen Sie. Meine Eltem —“
„Ach, Emmy, das bat hier doc niemand
— eigentlich!”
„Wir könnten's aber.”
Sie ftößt das Zimmer auf, in dem ber
Tiſch gededt iſt. Ch die Schwaff eintritt, hält
fie das junge Mädchen noch eine Sekunde
zurück. „Du, id habe fo meine Gebanfen.
Hat daB heute am Ende mehr zu ber
deuten?”
„Beiß nich'!“
„Du? Wer tommt denn alles?”
„Do nur Wagners!”
„Du! der hat Eichberg gelauft.
wenn ich das erlebte!”
„Sein Sie doch ſtill — Mutter — nein,
lachen Sie nicht.”
„Emmy, Rosmarin und Euppenkraut,
unfre Emmy wird bald Braut — mas?“
„Das Tann ſchon fein. Ich möchte nicht
mehr lange bier bleiben in der Wirtfchaft.
Finden wird fi ſchon einer!” und fie lächelt
frohmütig.
Dann Inirt die Schwaff vor dem Säge—
müller und fagt ihm ein paar ſchwungvolle
Worte von Freundfhaft und kommenden
Freuden; ganz myſtiſch.
„Na ja, legen Sie die ſchönen Redens—
arten da man hin, Fräulein Schwaff. Da
muß ich ja aud 'ne Hyacinthe bringen, wenn
Eie Ihren fünfundzwanzigften doppelt feiern!”
„Aber, Herr Roth, fo weit ift es noch
lange nicht.”
„3b, machen Sie keine Wippen. Dazu:
mal, als Sie geboren waren, — ne, id) hab's
neulih in dem Kirchenbuch gejehn. Lafjen
Sie mal —“
„St! wo ift denn Ihre liebe Frau?”
Emmy,
615
Emmy ift in das Schlafzimmer der Eltern
getreten. „Mutter, fo mad doch! Willſt du
wieder bie letzte fein?”
Frau Roth preßt ihre Fülle feufzend in
die braunfeidene Taille. „Ad, wozu is das
alles? Bloß man, daß man aus ber Ber
quemlichteit raus muß. Dies i8 mich fo eng!
Da krieg' ih noch ’n Schlag in.”
„Weil du di) immer fo gehn läßt; den
ganzen Tag, immer!”
„Ad, for wen foll® ich mid denn ein-
preflen. 'nen Mann hab ich gekriegt, ſechs
Kinder auch. Ich bin ’ne Frau bei Jahren.
Oslar fagt immer, ich hab's nicht nötig!”
„Oslar ift leider nad) dir gefchlagen; ich,
Gott fei Dank, nicht. Dahin muß eine Sted«
nabel. Richtig, Haft du ſchwarze Finger —
die mußt du erſt noch waſchen.“ Eie blidt
prüfend über bie volle Geftalt hin. „Der
Stoff ift fo ſchwer und bu fiehft dod nicht
beſſer aus, als in einem Kattunfleide.”
„Seide i8 Seibel” ruft die Mutter
gereizt.
„Kleider wollen getragen fein!” jagt Emmy
gegiert und ftreiht an ber blauen weichen
Wolle herunter. „Und benimm did nur auch
anftänbig bei Tische!”
„Wenn mein Idachen noch Iebte, das hätte
mich nid’ zu die großmäulige Hannoverfche
geſollt,“ fagt die Roth, „das wäre jetzt fo
weit. Aber das hätt’ ich ni’ von mic
gegeben, die hätt! mich nich’ gemeiftert,
wie du.”
Emmy huſcht hinaus. Die Wagners find
ſämtlich eingetreten und von ben Anweſenden,
zu denen fih auch Oslar gefellt, begrüßt,
dann kommt erft die Hausfrau mit wuchtigen
Schritten und rotem Kopf aus dem Schlafs
zimmer. "
„Da find Sie ja! Gu'n Abend. Ih muß
man erft noch mal in die Küche.”
Fräulein Schwaff figt im Sopha neben
Frau Wagner, Hinter beiden fteht ein fteiles
Nüdenkiffen. Sie erzählt, wie es bei Gefell-
ſchaften im Elternhaufe herging. „Water war
fo gaſtlich. Wenn für mid nicht fo viel
blieb, fo haben fremde Leute ihren Vorteil
davon gehabt. Emmy wird einmal ein Haus
zu führen verftehn. Sie hat den Blid für
größere Verhältnifie. Ich nehme mich ihrer
616 Der Einzige.
gern an, lieber Himmel, die Mutter, na, und
Männer find Männer.”
Der Holgberr muß erft feine Meinung
über die Weinforten abgeben, die Oskar heran
trägt; Roth verfteht nichts davon und der
Eohn trinkt „alles”, mie er mit kurzem Lachen
ſagt. Dann fett man ſich zu Tifche. Die
Reihenfolge beftimmt Fräulen Schwaff.
„Jugend zur Jugend! Herr Fri und
Fräulein Emmy. Sa, Herr Oskar — Sie
müfjen nun fchon in den fauren Apfel beißen
und an meine Seite fommen.”
„Is egal! Wenn ic man ordentlich zu
ejlen und zu trinfen kriege!“
Fritz fieht gut aus; es liegt etwas
Strahlendes heute auf feinem Geficht, etwas
Befreiteres in feinem Wefen. Und der ſchwarze
Rock fteht ihm gut, und feine Mutter fieht
ihn öfter an. „Mein unge ift doch hübſch.“
Emmy unterhält ihn, nachdem fie erit ein
wenig ſchüchtern und verlegen gethban, mehr,
ala er fie. Das bemerkt Antoinette Wagner
auch; aber, ihr Fri ift immer zurückhaltend.
Nur mit Mile geht’. Und das ift ja aud)
die Rechte, denkt die Mutter und ift bald mit
ihren Gedanken der beften Stube der Familie
Noth entführt und träumt über den Kalbs⸗
rüden bin fi) nad Eichberg. Wenn fie das
erlebt, ihren ungen da und die Mile! Sie
fiehbt nah ihrem Mann binüber. Ein paar
ganz verlorene Andeutungen bat er gemacht
bon einer zufünftigen Hausfrau auf Eichberg.
Lieber Gott! wenn fie den ungen glüdlic)
fiebt, dann kann fo viel gut gemacht fein in
ihrem Leben!
Da ftöpt Minna Roth fie an:
„So nehmen Sie doch auch an die
Sohfe, Frau Nahbarn ?”
Sie muß zurüd, bier an den Tiih und
nidt und ftimmt mit ein, ala Fräulein Schwaff
den Braten lobt.
„Das Kalb habe ich auch ſechs Wochen
bei die Kuh ftehn laſſen, da geht denn nichts
drüber!“
„Brauch ih nich',“ ſagt der Sägemüller
eben, „den Major feine neue Moden Stimm’
ih nid’ zu!”
„Wirſt dich wohl noch befinnen, Roth,
baft allemal das Bernünftige gethan,” giebt
der Holzberr zurüd. „Proſt auch!”
Ein grummelnded Brummen des Alten,
ein vergnügte® Lachen bes Sohnes Roth.
„Der Major — das is fein Spaßverderber!
Fräulein Runigunde, haft bu nid’ Luft, Frau
Majorin zu werben?”
„Behalt deine dummen Wige für Dich!”
ziihelt Emmy fcharf.
Oskar kneift feine kleinen Augen faſt
ganz zu.
„Der kann ſich in Uniform trau'n laſſen,
und denn ſpielt Oppel recht ſchön Dazu.
Wär'n Hauptſpaß!“
Emmy wirft einen haſtigen, argwöhniſchen
Blick hinüber, fie wird nicht rot, fie hätte es
fonft gefühlt, und jagt zu Frig:
„Sp ift er nun mal! Immer dumme Ein=
fälle!”
Frau Roth vergibt ganz, daß fie ben Ell⸗
bogen nicht aufftüßen joll; fie ruft mit einem
Schmagenden Laut: „Die find immer wie Habe
und Hund! Den ganzen Tag!”
„Broft, Alte!” acht der Sohn, Emmy
wird diesmal glühend rot vor Zorn, bie
Schwaff hat ihr modantes Lächeln um bie
Mundwinkel, das fie jo gut kennt; fie ſchämt
fih vor der mehr, als vor Fritz.
„Die Gabel ftedt!” Tagt ber Holzherr,
„was nu eigentlich bebeutet, daß die Damen
leben follen, woll'n aber auch man gleidy das
Geburtstagstind mit babei thun! Sch Bin
nit für lange Neben, damit’3 Eſſen nich’
falt wird. Hoch! hoch! body!”
„Son’ weitere fünfzig Jahr! ich hätt’
nicht3 gegen!” lacht Roth.
Oskar hält fein Glas vor bad Licht: „Die
Damen!” dann iſt's bi zur Neige geleert,
ſchnell ift’3 wieder gefüllt: „Der Alte!” und
ebenjo raſch getrunken.
„Der kann's!“ ſagt der Sägemüller.
„Beſcheid muß doch einer thun!“
Fritz hat mechaniſch angeſtoßen; was die
um ihn her reden, hört er gar nicht, daß
Emmy lächelt und ſchwatzt und daß er nicht
viel zu ſagen braucht, iſt ihm angenehm.
Wenn er die ſtattliche Geſtalt des Vaters
ſtreift, der einmal über kommunale Sachen
ſpricht, um den ſtets erſt widerſtrebenden und
dann nachgebenden Sägemüller zu ſeinen An⸗
ſichten zu bekehren und dazwiſchen ein
Scherzchen macht, das Fräulein Schwaff zum
— —
— —
Der Einzige.
Sachen bringt, fo geſchieht's mit einem ihm
bisher unbelannten Gefühl aufquellender
Dankbarkeit. Biel bittre Neben und ſchwere,
grüblerifche, unglüdlihe Stunden hat er dem
Manne doc wohl zu vergeben, manch
gegnerifhe Empfindung. Nun wird alles gut.
Und er meint, es beſchleicht ihn eine mitleivige
Empfindung für den Hünen, er verficht es
plögli, daß er juft mit feiner Kraftlofigfeit
und Kränflicpteit nicht der Eprößling ift, den
ein Konrad Wagner fih naturgemäß wünſchen
mußte.
Die Hausfrau läuft ein paar mal hinaus
und fommt dann mit erhigtem Geſicht wieder.
„Es i8, daß fie mid) den Pudding ornd'lich
umftülpen! Es is doch fein Verlaß auf die
Mädchens!” Auch das große Ereignis ift
vorüber; fie hat felber Butter und Käfe dienſt⸗
eifrig herbeigetragen, und Oslar macht eine
beijere Sorte Wein auf und gießt ein.
„Me, zieren Cie ſich man nic’, Fräulein
Schwaff, Sie haben ’nen ganz guten
Fall!ꝰ
Der Sägemüller iſt ſehr luſtig.
„Mein Nachbar und Bruder Konrad hat
noch 'n befondern Spruch auf ber Pfanne!
Alle Gläfer vol, fag ih. Alle Gläfer!”
Und er lacht dröhnend. „Nu paßt aber mal
auf! Nu paßt auf.” Und er legt ſich weit
zurüd gegen die knackende Etubllehne.
„Roth, nimm di doch in act!” ruft
feine Frau, „du brichſt 'n noch ab.”
„Brauch' ich nid’, ich kann 'nen andern
kaufen!”
Die Schwaff ſieht nah Emmy hinüber
und hebt ganz verftohlen den Finger, dann
hält es bie Tochter des Haufe für an:
gezeigt, die Blicke ſchuchtern in den Schoß zu
ſenlen.
„Nu! nu! nu!” lacht der Sägemüller, und
Oslar hebt wieder prüfend, mit Freude an
dem leuchtenden Echein, fein Glas gegen das
Licht.
Antoinette Wagners Gedanken find bereits
wieder weit ab, und Fritz' ſchlanke Finger
fpielen mit der Uhrlette. Er hat einen Ent-
ſchluß gefaßt. Gleih morgen will er mit
dem Vater ſprechen, daß alles zum Abſchluß
fommt. Er wird gefunden, allein fchon vom
der Freude, dem Glüd, das fühlt er.
617
Liebe Freunde!” fagt der Holjherr, „Sie,
Fräulein Schwaffen, thun ja auch fo gewiſſer-
maßen, ald ob Sie mit dazu gehören und
darum find Sie hier. Um’ denn aud, mo
Sie gewefen find und was Sie mit erlebt
haben, das kommt ’rum, und man braucht
fein Angeigeblatt. Und fo haben Sie 'n Ver-
glei mit der vielzüngigen Yama nicht zu
ſcheuen!“
„Herr Holzherr!“ Sie iſt nicht ganz klar
über die mythologiſche Andeutung, aber fie
traut Konrad Wagner nie recht.
Sie wirft den Kopf zurüd und weiß nicht,
ob fie lächeln oder böfe ausfehn fol. Sie
ſetzt ſich einftweilen fteif hin und orbnet bie
Schleife unter dem Kinn. In des Holzherrn
Gefiht lachen alle Heinen Falten mit, und er
zwidert mit den Augen, es freut ihn, daß fie
fo unſicher da figt.
Re, fol 'n Kompliment fein. Und mas
wir befchlofjen haben, mein Freund Louis Roth
und id, das fann morgen der ganze Ort
wiſſen. Eichberg habe ich gelauft, das is
ſchon rum! Und warum habe ich es’ gelauft?
Mein einziger Cohn foll drauf figen. Louis
Roth fieht das mit ſcheelen Bliden an, denn
die Waldungen, bie der dolle Nittmeifter noch
nid’ verfloppt bat, die hätte er nun gerne
abgeholzt. Wird aber auch fo noch feine
Freude dran haben. Denn — langjährige
Freunde und Nachbarn, und in gleihen Ver-
mögensverhältniffen wie wir find, haben wir
noch was andre im Sinn —“
Hier blidt Emmy ſchräg an Fritz hinauf,
dann zur lauernden Schwaff hinüber.
„Und nun kommt's. Wir wollen auf ein
Brautpaar trinken!“ Mit einem plöglichen
Erfchreden, die Augen weit aufreißend, ſieht
Antoinette Wagner ihren Fritz an, der mit
feinen Gedanken gar nicht da zu fein ſcheint.
Sonſt müßte er ja rufen — nein, fie — aber
es ift, als ob eine würgende Hand ihr nad
der Kehle faßt. Allbarmberziger Gott! ein
Stoßgebet will fih auf ihre zitternden Lippen
drängen; nur das nicht, daß das jet Wahr⸗
beit wird, was fie fürchtet, was riefengroß,
drohend auffteigt —
Nein, nein! Es Tann nicht fein, fie
träumt. Es ift alles nit wahr, fie ift hier
nicht in Roths befter Etube, da ftehn feine
618
Weinflaſchen, halten feine Hände Gläfer zum
Anftopen bereit, fit nicht ihr einziger Sohn,
fehn nicht gefpannte Gefichter hinüber nad
dem Sprechenden, der ihr Mann iſt —
„Auf ein Brautpaar woll'n wir trinken”,
Hingt Wagners mächtige Stimme noch voller,
„denn unfre beiden Kinder follen auf Eichberg
figen, mein Fris und Roth's Emmy! Daß
fie einmal zuſammenkommen follten, das
haben wir lange jchon geplant! Und nun ift
die Zeit da! Gebt euch die Hände, unfern
Segen habt ihr! hoch, hoch, hoch!“
Sein und Roths Glas klingt hell zu=-
fammen, Oskars Arm langt auch) ber.
„Vater!“ Noch weiter, noch angftvoller,
al3 die Augen der Mutter baben fidh vie
Fritzens geöffnet, auf den jebt nad) dem
Ausruf die andern alle fehen. Tobesfahl ift
fein Geficht, ein Zuden ift um feine Lippen,
feine Arme find berabgefallen und feine Singer
machen Frampfhafte Beivegungen: „Vater!
Aber der fiebt nicht einmal nad ihm bin.
Roths dide Turze Arme haben ihn gefaßt.
„Bruderherz, das haft du gut gemadt. Ne,
Bruderherz, nu haben wir das doch noch er:
lebt!” Sagt er gerührt, und zwei fchmatende
Küffe werden Wagner aufgedrüdt. „Dein
Kind und mein Kind! Und wenn bei dir ’n
Mädchen zu haben wäre, die Triegte mein
Oskar, das wär’ aud gewiß!” Und dann
zieht er das Taſchentuch, denn in folchen
Augenbliden ift er ein mweichmütiger Menic.
„ne, ine!” ſchluchzt die Hausfrau, „das
fommt einem ja jo über'n Hals, das haben
die Männer wieder unter ſich abgemadt. Un’
wenn meine vier andern auch noch da wären,”
fie ſchluchzt. „Frau Nachbarn, ne, was fagen
Eie nur! Mich kommt es wirklich un:
erwartet!“
Antoinette Wagner antwortet nicht, ſie hält
ſich mit den zitternden Fingern an der Tiſch—
fante und blidt ihren Eohn an. Emmy ift
erwartungsboll fiten geblieben, endlich muß
boh Fri ihr auch etwas jagen. Und jeßt
fiehbt der Holzherr hinüber nach den beiden
Hilflofen.
„Gebt euch die Hände!”
Mit einem Ruck fliegt Friend Stuhl
zurüd, ein unartifulierter Laut, dann ftürzt er
zu Boden.
Der Einzige.
„Mein Junge, mein Junge!” jammert dir
Mutter und ift die Erfte bei ifpm und nimmt
ben todesblaffen Kopf auf ihre Knie.
„Re Ohnmacht!“ fagt der Holzherr, jeinen
Zorn gewaltfam unterbrüdend, mit zufammen:
gezogenen Brauen. „Das if, mad man die
berfeinerte Empfindung nennt. Wa, Enmin,
denn nimm erjt mal mit 'n Ruß vom Schiwieger:
bater fürlieb.”
„sa, aber —”
Wagner faßt ihren Arm und ziebt fie
beran, und fie dulbet es mechaniſch.
„Sp zimperlihd und pimperlih wie ber
glüdliche Bräutigam bift du nich’, mein Tochter!
Lab man, das gefällt mir grade. Mas fol
ich dir jchenten, Kind? wünſch dir was, mas
Rechtes, nimm’3 wahr!”
Er fpriht das ſchnell, um fih und Den
andern über das hin zu Belien, was ibm
peinlich ift.
„sa, aber —“ ſpricht Roth feiner Emmv
nad), während Oskar ſich auf feinem Stubl
räfelt. „nen Hauptſpaß! ohnmächtig mie ne
bleihjüchtige Sungfer! hahaha! So was!”
„Nerven! wohl die Freude?” fragt Die
Schwaff und bat ihr liebenswürdigſtes
Lächeln.
„Kann ich nich fehn,” jammert Minna
Roth. „Wer Sehe gehabt hat und nur zmei
behalten hat, wie ich!” und fie beginnt noch
lauter zu ſchluchzen.
Emmy kämpft mit dem Ärger, fie ftreicht
an ihrem Kleide herunter, neftelt die goldene
Kette um die Finger und fagt: „Onkel Wagner,
jeßt weiß ich wirklich nicht —“
„Wirſt dich Schon befinnen, mein Tochter.
Es gilt! Na, Fräulein Schwaff, den hat
feine Mutter zart erzogen, was? Ein Bräutigam,
der in Ohnmacht fällt.“
„Emmy, du ſollteſt nach Kölniſchem Wafler
ſehn,“ meint die. Und die Lippen zufammen:
ziehend, geht die Braut hinaus.
„sa, ein freudiger Schreck,“ meint die
Schwaff Iauernd, aber fte hat mit diefem leijen
Antaften fein Glüd beim Vater von Fritz, fie
verfucht jebt, der Mutter Hilfe zu leiften.
Doc auch die wehrt fie ab.
„Es wird fchon gut! Das geht fchnell
vorüber. Das ift noch fon’ bißchen Schwäche.
Er Schlägt Schon die Augen wieder auf.
Der ‚Einzige.
Vater,” bittet fie dann mühſam und ver=
ſchuchtert: „Laß uns beibe jegt nach Haufe
gehn. Es iſt beſſer.“
„J was, mas, jetzt ſoll's erſt luſtig
werden!“ ruft Roth, und Oskar ſtößt mit
feinem Glafe auf den Tiih. „Bloß ord'ntlich
trinken mußte, Frig, Mut in die Bruſt!“ Die
Hausfrau kramt auf dem Tifche hin und ber:
Da i8 ja noch die Torte, die kann mid) doch
nich’ über bleiben!”
Alle Etimmen übertönt die feſte bes
Holzherrn.
„Ja, bring’ dein Widellind ins Bett.
Schlaf aus, mein Junge und hol dir morgen,
wenn’3 feiner fieht, deinen Bräutigamd-
kuß.“ Er fpaßt grollend, um nicht heftig zu
werben.
„Morgen is aud noch'n Tag,” fällt der
Sägemüller ein. Auf den Arm der Mutter
gelehnt, wankt Frig hinaus. Die Schwaff
folgt. „Meine befte Frau Holaherr —“
Da werden ihre Finger krampfhaft ums
Hammert,
„Sprechen Sie nicht über den Vorgang,
über gar nichts,” flüftert die erregte Frau.
„Ich bitte Sie —“
„Was denlen Sie!"
Emmy ſteht am Treppengeländer.
„Die Eau de Cologne iſt wohl nicht mehr
nötig?” fragt fie ſpitz.
„Bir gehn jet nach Haufe. Die Hike,
die Menſchen — es ift ihm zu viel geworben!
Die Luft wird ihm gut thun!”
Fritz fieht nicht auf, fpricht nicht, er geht
allein die Stufen hinunter. Als die Hausthür
zufält, fommt Emmy herab.
„Run?“
„Ja —“ fagt die Schwaff, in biefem
Augenblid ift fie foger ein bißchen ver—
legen.
19
„Das nennt man ja mohl ein unter
brocenes Opferfeft?” Emmy hat das Citat
auch noch aus ber Zeit ber Leutnants⸗
ſchwärmerei.
„Argere dich nicht, Emmychen!“
„Pah! dadrum! Kommen Sie, die Torte
ſchmeckt fo gut, und es ift nod viel da!”
„Du bift ein kluges Mädchen!”
Emmy zudt die Achſeln. „Ich braude
doch feine Sorge zu haben! Und um ben!”
„Eichberg, weißt bu —“
„Baht“
Die drei Männer figen am Tiſch, wie fie
eintreten, die Frau ift hinaußgegangen.
„Ih, da is ja mein Schwiegertöchterchen,“
ruft der Holzherr. „Komm ran, Kind! ber
Stärkfte is dein Bräutigam nid’ vorläufig.
Na, wenn du ’n erft in der Kur haft!”
Er zieht fie an feine Seite und ftreicht ihr
übers Haar.
„Ja, meinft du denn, Konrad —“ Roth
fommt nicht weiter.
„Was ich gefagt habe, das habe ich gefagt.
Fräulein Schwaff, Sie werden niht um Dis⸗
kretion gebeten, in biefem Falle.”
„Herr Holzherr —“
„Ne, ne! Man rein in die Poſaune! was
ich gefagt habe, Konrad Wagner! ftoß mal
an, Schwiegertöchterchen. Was, das giebt ’n
Ton! Frau Nittergutöbefigerin in spe!”
Emmy lacht.
„Sräulein Kunigunde, fannft did ja dann
Wagner von Eihberg nennen!” lallt Dakar.
„So etwas habe ich noch nicht erlebt,
Emmy,” flüftert die Schwaff.
„Was foll ih nun thun? die bittet mic,
zu ſchweigen und der will, daß ich’3 erzähle.
Was fagft du denn?”
„Mir ift es ganz egal! Wirklich. Pah!“
Echluß folgt.)
620
Auf vorgelchobenem Polten.
Voit
Belene Tange.
Nachdruck verboten. —E——⏑——————
a
— * .
ach moderner Methode — oder in modernem Jargon — behandelt man gern
\ die joziale Entwidlung als einen Naturprogeß, der nach allgemein giltigen
an Gejegen die Maflen vorwärts fchiebt, zurüdhält, wandelt. Auch die Frauen:
bewegung bat fich dieſe Auffaffung gefallen laſſen müffen. Sei es nun, daß man mit
Treitichle „wie einft in den Zeiten der Sittenverderbnis des Altertums aus dem Schlamme
ber Überbildung die Lehren der Weiberemanzipation auffteigen” fieht, oder daß man von
ben Folgen der inbuftriellen Entwidlung, von der Vergefellfchaftung der Familienkultur
Ipricht u. a. nı., folche Anſchauung bat es bewirkt, daß wir uns nicht mehr wundern, die
Frauenbewegung überall, wenigftens in den erften Anfängen, zu finden, dab wir faum
mebr das Bedürfnis baben.zu fragen: wem verdanken fie ihr Leben, ihre Entftehung?
Und doch, wenn wir genauer zujehen, zujehen mit der Fähigkeit, nicht nur das
Was?, jondern auch dad Wie? diefer Erjcheinungen zu erkennen, jo fteht am Anfang,
im Mittelpunft, ala Lebensprinzip des Ganzen, eine Perjönlichkeit.
Der eigentliche Nährboden der Frauenbewegung find die großen Städte. Taufend
Umftände treffen dort zufammen, um ihre Notwendigkeit dringender erfcheinen zu laſſen,
um Vorurteile zu vernichten, um Kräfte zu löſen, gemeinfames Handeln zu ermöglichen.
Langſam — das ift die allgemeine Regel — verbreiten fih von dort her ihre
Beitrebungen in die Provinz; um fo rafcher, je näher man dem Centrum ift, je
zahlreicher von allen Seiten verbindende Fäden fich kreuzen. Aber diefe Regel Hat
Ausnahmen. Und ſolche Ausnahmen weilen mit doppelter Sicherheit auf Perfünlichkeiten.
An der öſtlichſten Grenze unſeres Vaterlandes, in einer Gegend, die dem Kultur:
. menjchen de3 Centrums immer noch als ein etwas dunkles Kolonifationdgebiet vor:
Ichwebt, hat die Frauenbewegung einen Stüßpunft, eine Grenzmark im eigentlichen
Sinne des Wortes; dieſe Grenzmark iſt in Tilfit, und die fie begründete, it Frau
Marie Hecht.
Eine blühende Ortsgruppe des Allgemeinen deutjchen Frauenvereins, die einzige
in Oftpreußen, ein umfafjender BZmeigverein des Haugsbeamtinnenvereins, deſſen
Mitgliederzahl von 600 den vierten Teil aller Vereingmitglieder in ganz Deutichland
ausmacht, zahlreich bejuchte Volfzunterhaltungsabende für Frauen, eine bon rauen
geleitete Auskunftſtelle für Wohlfahrt3einrichtungen, eine Hausbaltungsfchule — Frauen
als ſtädtiſche Waifenpflegerinnen, Frauen mit Männern gemeinfam im Vorfland bes
Vereind zur Unterbringung entlaffener Strafgefangener, im Komitee für Dolls:
unterhaltungabende, deren Gründung der bes Frauenkomitees folgte, und zwar Frauen
aller Konfejfionen, Berufsfreife und politifchen Richtungen, und fie alle nicht nur ald
Nummern des Mitgliederverzeichniffes, fondern als felbitthätige Mitarbeiter: das find
die glücklichen Vorbedingungen, die Tilfit heute für eine gejunde Weiterentmwidlung
der jozialen Frauenarbeit aufmweift.
622 Auf vorgefchobenem Boften.
juchen. Ihre erite Vereinsgründung war ber Tilfiter Vehrerinnenverein. Die Anreaur:
dazu — eine negative Anregung freilich — gab ihr die Generalverfammlung ti:
Vereind für das höhere Mädchenſchulweſen in Berlin 1886. Die paffve Rolle, dir
bie Lehrerinnen dort jpielten, legte ihr den Gedanken nahe, die Lehrerinnen ihre:
Heimatſtadt zu einer geſchloſſenen Vertretung ihrer Berufsinterefien zu organilieren.
Noch im Herbit desjelben Jahres rief fie den Zilfiter Lehrerinnenverein ins Leben.
Für feine weitere Entwidlung war ihr Fräulein Margarete Poeblmann cin
thatkräftige Mitarbeiterin; an fie ging im vergangenen Sabre auch der VBorftg über.
Sie arbeitete in derjelben Weife mit Frau Hecht Hand in Hand bei der mit viel
größeren Schwierigfeiten verbundenen Begründung der „Vollsunterhaltunggaberde für
Frauen und Mädchen” 1891, ein Unternehmen, das zuerjt als jozialiftiicher Tendenzen
verdächtig einen wahren Aufruhr erregte, aber bald, von allen Seiten unterflügt und
gefördert, fich jo kräftig entwidelte, wie es derartigen Beranftaltungen nicht feicht
bejchieden ift. Als dann VBolfZunterhaltungsabende in größerem Maßftabe für Maänner
und Frauen organifiert wurden, erjchien es jelbjtverftändlich, daß die beteiligten Männer
die Frauen zur Arbeit im Vorſtande beranzogen.
Seit fünf Jahren arbeitet neben dem Lehrerinnenverein die gleichfall3 von Frau
Hecht gegründete Ortsgruppe des Allgemeinen deutichen Frauenvereind, Ihr ſchönſter
Erfolg ift die Anftellung von Frauen in der ftädtiichen Wailenpflege, um die im
vorigen Winter die Ortögruppe, unterftüßt von jämtlichen Frauenvereinen Tilfit3
und don dem Königlichen Amtsgericht, beim Magiſtrat einfam. Das Amtsgericht
motivierte feine Unterftügung mit der außdrüdlichen Verficherung, daß e3 die Anftelung
von Frauen in der ftädtiichen Waifenpflege für die Stadt Tilfit für fehr wünjchenswert
halte. Siebenzig Frauen batten fich für dag neuerfchloffene Amt zur Verfügung geftellt,
28 wurden in den 14 Bezirken der Stadt angeftellt, nachdem der Beichluß in Magiftrat
und Stadtverorbnetenverfammlung einjtimmig angenommen war.
Die jeltene Einmütigfeit, mit der die Forderungen der Ortsgruppe von Publikum
und Behörden aufgenommen wurden, ift der beite Beweis dafür, daß das Recht, fie
zu ftellen, durch Leiftungen erworben war, ein Weg, der viel Gebuld und Aufopferung
erfordert, den die Frauenbewegung aber nicht aufgeben darf, ohne ihre Grundlagen zu
gefährden. Dieſe Einmütigfeit ift aber zugleich auch ein Beweis des Vertrauen, Das
Frau Hecht in ihrer Vaterftadt genießt, in der fie ſchon als die Tochter des in allen
Kreifen geliebten und geachteten Superintendenten Behr ein ganz bejonders feft
gegründetes Bürgerrecht befigt.
Aber von der Wärme und Freudigfeit, die Marie Hecht in die Arbeit in ihrer
Baterjtadt zu legen wußte, hat auch das weitere Vaterland einen Hauch gejpürt. Sie
gehörte zu den 85, die in den Pfingittagen des Jahres 1890 in Friedrichroda ben
Grundftein des Allgemeinen deutſchen LZebrerinnenvereind legten, fie gehörte zu den
beliebteften Rednerinnen auf jeinen Verfammlungen wie auf denen bes Allgemeinen
deutjchen Frauenvereind, deſſen Vorftand fie angehört, fie verfolgte mit reger perjön-
licher Anteilnahme die Entwidlung des Bundes deutfcher Frauenvereine. Mit feltener
Elaftizität Hat fie e8 verftanden, für ihren entlegenen Grenzpoften Fühlung zu halten
mit allem, was auf dem Gebiet der Frauenbewegung an ernfter Arbeit geſchah; überallhin
brachte fie die Überzeugung, daß da oben „bei den Eisbären“ übliche Wärme mit
oftpreußifcher Bebarrlichkeit und Treue fich paart.
>=
623
Die Hranenfrage anf dem Kongreß deutſcher
Htrafanſtaltsbeamter.
Alire Salvmon.
Raqhdrua verboten. —
ie deutſchen Kongreſſe und Verſammlungen ftehen augenblicklich anſcheinend
unter dem — der Frauenbewegung. Was vor einem Jahrzehnt noch
allgemeines Aufiehen erregt hätte, beginnt allmählich zu einer gewohnten Er:
fheinung zu werden. Die Männer der verichiedenften Berufskreife beichäftigen ſich
auf ihren Kongrefien und Generalverfammlungen mit der Frauenarbeit; mit der Frage
der Zulaffung der Frauen zu dem betreffenden Beruf oder ihrer Ausfchließung davon.
Den Ärzten, Apothekern, Armenpflegern find nun auch die Strafanftaltsbeamten
darin gefolgt.) War bei den erften derartigen Verhandlungen vorwiegend bie Furcht
vor ber Konkurrenz der Frauen maßgebend, fam nur Tangfam der Gefichtäpunft zur
Geltung, daß die Interefien der Frauen von ihren Gefchlechtögenoffinnen wahrgenommen
werben follten, fo bricht fi num endlich aud in Männerkreifen der Gedanfe Bahn,
daß dem Bedürfnis der Frauen nad vermehrten Erwerbsmöglichkeiten Rechnung
getragen werden müffe.
In dankenswerter Weife wurde auch diefer Standpunkt auf dem Strafanftalts-
kongreß von dem Referenten über „bie Frauenfrage“ zum Ausdrud gebracht. Vielleicht
ift er damit einen Schritt weiter gegangen als ein meiblicher Referent an feiner Stelle
gegangen mwäre, denn auf allen Gebieten fozialer Hilfsarbeit haben die Anhängerinnen
der Frauenbewegung flet3 nur bie Intereſſen der Hilfsbebürftigen als Maßſiab für
ihre Forderungen gelten laſſen. Auch die Vorfämpferinnen für die Zulaflung von
Frauen zur Gefangenenpflege find von dem Gedanken ausgegangen, daß die Fürjorges
thätigfeit und die Beauffichtigung der weiblichen Gefangenen die Mitarbeit der Frauen
erfordere; fie find_fich flet3 bewußt geweſen, daß die Gefangenenpflege im Intereſſe
der Gefangenen gefchaffen worden ift, nicht im Intereſſe derer, denen aus ber Pflege:
thätigleit ein fegensreicher Beruf erwachſen könnte.
Die Frage, in wie meit den Gefängniffen und den Gefangenen durch bie
Bejegung von Beamtenftellen mit Frauen gedient fei, ftand denn auch im Mittelpunkt
der Kongreßerörterungen. Sie führte zu lebhaften Außeinanderfegungen über bie
Befähigung der Frauen für höhere, verantiwortungsvolle Poften, die einen für bie
Frauen immerhin günftigen Abſchluß nahmen und in denen eine im allgemeinen ver
ſiandnisvolle Würdigung der Frauenbewegung zum Ausdrud fam. Dielen Umftand
werben bie Frauenvereine bei ihren Beftrebungen um Zulaffung zum Gefängnisdienft
ober auch zur Gefängnigmiffion zu nügen haben!
Auf der Tagesordnung bed Kongreſſes fland u. a. dad Thema: „Wäre es
zwedmäßig, in Anftalten für weibliche Gefangene, abgefehen vom Arzte und dem
Geiftlichen, ausfchließlich weibliche Beamte anzuftellen und einem männlichen höheren
Gefängnisbeamten nur eine Art Oberaufficht in denfelben zu übertragen?” Der
Referent, Strafanftaltsdireltor Fliegenſchmidt-Wehlheiden (Kaſſel), führte dazu aus,
daß die moderne Frauenbewegung, deren Berechtigung nicht zu beftreiten fei, den
mittelbaren Anftoß zur Erörterung diefer Frage gegeben habe. Die volle Würdigung,
die er der Frauenthätigkeit in der Gefangenenpflege entgegenbringt, geht aus feinem
Bericht hervor, der in einem kurzen Auszug zur Kenntnis weiterer Frauenkreiſe gebracht
werben fol.) Herr Fliegenfchmidt erfennt an, daß die Beihäftigung mit der Lage
') Kongreß deutfcher Strafanftaltbeamter in Nürnberg, 31. Mai und 1. Juni 1901.
?) Der Bericht über diefe Ausführungen ift dem Fräntiſchen Kurier entnommen.
Die Frauenfrage auf dem Kongreß deutſcher Strafanftaltsbeanter. 625
Als Erfolg der Srauentpätigteit und der Frauenbewegung kann wohl aber die
Oppofition des Direftord der Hamburger Gefängnisanftalten, Hauptinann Dr. Gennat,
angefehen werden, dem bie Refolution zu eng gehalten fchien. Er verlangt die un⸗
bedingte Anftellung von Frauen für die Stellen des polizeilichen Unter:
perfonals, der Auffeherinnen, Oberauffeherinnen, Hausmäütter, fowie
thunlichſte Befegung aller andern Stellen, foweit befondere Vorbildung
erforderlich ober vorgefchrieben, mit Frauen, die diefen Nachweis führen
tönnen. Auf Grund langjähriger Thätigkeit an einer mit 450 Frauen bejegten
Anftalt tritt er für möglichft weitgehende greigabe des Strafanſtaltsweſens für die
Frauen ein, auch in Bezug auf die Direftoratsftellen, „die Frauen mindeftend
ebenfogut ausfüllen würden wie Männer”. Er fehe keinen Grund, ber Frau der⸗
artige Stellen vorzuenthalten, „nachdem alle Behauptungen von ber geift en Inferiorität
der Frau bisher unbewiefen geblieben, die Frau fich vielmehr in allen ihr freigegebenen
Berufen bewährt habe’. — „Die Leitung müffe der Frau in vollftem Umfange zuftehen,
alfo ohne daß etwa noch ein männlicher Direktor feine fegnende Hand darüber halte.“
Herr Direftor Gennat ſcheint mit feinen Forderungen aber denn doch den fort:
fchrittlichen Sinn der Strafanftaltsbeamten überfchägt zu haben. Sein Vorſchlag
wurde zurüdgemwieen. Man darf ſich wohl fragen, wie e8 aufgenommen worden fein
würde, wenn eine Frau den Antrag des Diretor Gennat in der Verfammlung geftelt
hätte. Ob man nicht „ohne Debatte” über ihren Antrag zur Tagesordnung über:
gegangen wäre! Der Mann, ber Kollege, erregte, wenn auch beftigen, h doch
wenigſtens nur fachlichen Widerſpruch, der allerdings zum Teil als unhaltbar zurück⸗
gewieſen werben fonnte. Einer der Kongreßteilnegmer erklärte, daß es feinem Gefühl
als Geiſtlichen und Angeftellten mwiderfireben würde, eine Frau als Oberin über ſich
zu haben; andere halten die Frau nicht für geeignet zur Belegung des Direktorpoſtens,
weil ihr die nötige phyſiſche Kraft fehlen dürfte. Nach längerer Debatte wurde
ſchließlich die Refolution des Referenten, die aljeitige Zuftimmung fand, vom Kongreß
angenommen, und mehr konnten die Frauen fchließlich nicht erwarten. Immerhin
haben dieſe Verhandlungen über die Frauenarbeit im Gefängniswefen — an denen
feine Frau teilnahm und für die Intereffen ihrer Geſchlechtsgenoſſinnen eintreten
tonnte — auf dem Grundfag gefußt, daß die Bedürfniffe der _gefangenen Frau am
beften von der Frau beurteilt werden fönnen, daß zur Beauffichtigung, Pflege und
Beſſerung der weiblichen Strafgefangenen in weit größerem Umfange bie Hilfe der
Frau herangezogen werden müffe. " *
*
Wenn die Frauen nun auch einerfeit8 gern und dankbar fold Eintreten für ihre
Sache anerfennen werden, fo dürfen fie doch anderſeits nicht Köweigen, wenn aus
Unkenntnis oder Übelwollen ihre Arbeit in falfchem Lichte datgeftellt oder ohne weitere
Begründung abfälig Fritifiert wird. Leider it auch auf dem Strafanſtaltskongreß
eine Außerung gegen die Anhängerinnen der Frauenbewegung gefallen, die um fo
weniger unmiberjprochen bleiben darf, als fie von einem Manne gethan wurde, der
verſchiedentlich Gelegenheit gehabt hat, mit Vertreterinnen ber Bewegung gemeinfam
und aud — fo viel befannt geworden ift — erfolgreich zu arbeiten. Nach ben
übereinftimmenden Berichten verfchiedener Zeitungen (3. B. des Berliner Tageblatts
und des Fränfifchen Kurier) trat Geh. Ober:Reg.:Nat Krohne: Berlin für eine
umfaffende Heranziehung der gebildeten Frauen zur Strafoollzugspflege ein. „Unter
‚gebildeten Frauen‘ verftehe er natürlich jene Frauen, die wiriſchaftlich, praftiih und
ſozial vorgebilbet feien und bie dabei alle jene Sergenätugenben befäßen, die für den
Umgang mit den Unglüdlichen unbedingt nötig feien. Dagegen möge Gott das
Strafanftaltöwefen vor dem Zuzug jener Frauen bewahren, bie in der
fogenannten ‚Frauenbewegung‘ ftänden.” Können denn Anhängerinnen der
Frauenbewegung nicht wirtſchaftlich, praktiih und fozial vorgebilvet fein, ober ift
ein Mangel an Herzendtugenden eine Begleitericheinung ber Frauenbewegung? Sollte
es Herrn Gebeimrat Krone nicht befannt fein, daß die erfte Erlaubnis, die ber
preußifche Juftigminifter Frauen zur Ausübung der Gefängnismiffton gab (einer Aufgabe,
40
626 Thackeray über Liebe, Heirat, Männer und Frauen.
die fih an Schwierigkeit ficherlich mit den Aufgaben des Gefängnisbeamten meñen
fann), der Kommiſſion des Berliner Syrauenvereind galt, eines Wereind, Der
durhaus „in der fogenannten Frauenbewegung fteht”, und daß dieſe Thätigkeit in
Preußen fait augjchließlich von Frauenvereinen ausgeübt wird, die der Frauenbewegung
angehören, ihr dienen, und durch fie für dieje ſchwierige Arbeit gewonnen und begeiitert
worden find?
Herr Geheimrat Krohne erkennt zwar an, daß man in preußiichen Anftalten dir
beiten Erfahrungen mit den angeftellten rauen gemacht bat; follte ex ſich vergemiliert
baben, daß von diefen rauen feine der Frauenbewegung nahe fteht, durch fie auf
den Beruf hingewieſen, durch freie Vereinsthätigkeit ihm zugeführt worden ift?
Die Anhängerinnen der Frauenbewegung verkennen gewiß nicht die großen
Berdienfte, die die innere Milfion und der Evangelifche Diafonieverein fich Durch Die
Einrichtung von Ausbildungsfurfen für Gefängnisbeamtinnen erworben baben; aber
diefen Kurjen wird doc manche Anhängerin der Frauenbewegung zugeführt, Deren
„loziales Empfinden” durch die Beitrebungen gewedt worden ift, die jeder Att
von Frauennot, der mwirtichaftlichen, geiftigen und fittlichen, Hilfe bringen follen. Darum:
muß die oben angeführte Bemerkung zurüdgewiejen werden. —
Die Frauenbewegung fordert das Recht auf mühjelige, verantwortungsvolle
Thatigkeit, das Recht auf Hilfgarbeit an den Hilfsbebürftigften. Was ihr davon Die
Gegenwart noch vorenthält, wird ihr die Zukunft gewähren.
——M
Fhacheray Aber Liebe, Beirat, Männer und Frauen.
Überfegt von
X. M. Schuliheis.
UM LTIENDTILITENG
Nachdruck verboten.
Mr. Brown an feinen Neffen Bob.
I Ilſo Bob iſt verliebt und erfährt an ſich das allgemeine Los. In dieſem
Moment, mein lieber Junge, erduldeſt du die Leiden und Freuden, die Eifer-
Or jucht und Schlaflofigkeit, das Sehnen und Entzüden, die rajende Verzweiflung
und jauchzende Extaſe, welche die Leidenjchaft der Liebe begleiten. Im Jahre 1812
(da3 war vor meiner Verbindung mit deiner guten, jeligen Tante, die mir nie
die oben angeführten Beunruhigungen verurfachte) Eoftete ich ſelbſt einige diefer Freuden
und Schmerzen, die du nun erduldeftl. Ich kann mit dir fühlen, und dich bemitleiden.
Sch bin jeßt ein alter Hahn, mit wankendem Schritt und zitterndem Krähen. Aber
einft war ich jung und erinnere mich deutlich jener Zeit. Seitdem — amavı
amantes — wenn ich zwei junge Menjchen glücdlich fehe, freut e8 mich, wie es
mich freut, glücdliche Kinder beim Feenfpiel zu feben. Ich war der Bertraute
vieler braven Jungen und der heimliche Zufchauer bei hundert kleinen Intriguen.
Miß Y., ich weiß, warum Sie fo eifrig auf Bälle gehen, und auch, Me. Z.,
was Sie in Ihrem reifen Alter zum Tanzen bringt. Bilden Sie fich ein, Dir. Alpha,
ich glaube, Sie gingen jeden Tag um 1/12 umfonft an die Serpentine, und daß id
D’Mega nicht fehe, wie er in Notten Nom fpaziert? — Alſo, mein lieber Bob, did
bat ein Schuß getroffen. Wenn du den Gegenftand deiner MWünfche nicht erlangit,
jo wird der Verluft dich nicht töten; das Fannft du mit großer Sicherheit annehmen.
Wenn du ihn erlangft, fo ift es möglich, daß du enttäufcht fein wirft. Diefer Punkt
tommt auch in Betracht. Aber, ob du triffft oder fehlft, ob du Glüd Haft oder nicht
— es thäte mir leid, mein guter Bob, wenn du diefe Krankheit nicht durchmachen
folteft. Jeder Mann folte fich einigemal in feinem Leben verlieben. Man trägt
Thaderan über Liebe, Heirat, Männer und Frauen. 627
einen Gewinn davon, wenn e8 worüber ift, einen Gewinn im Unglüd, wenn du es
mit männlichen Mut erträgft, einen um ſehr viel größeren Gewinn im Glüd, wenn du
einen Treffer heimbringſt und ein gutes Weib obendrein! Ach, Bob — es jteht ein
Stein im Friedhof zu Fundal, beffen ih oft gedenke — viel Hoffnung und Leiden:
Ichaft liegt darunter begraben mit dem Liebften und Holdejten Geſchöpf in der Welt —
's iſt nicht Mrd. Brown, die da liegt. Sie fchläft, nady ruheloſem Liebesfieber, im
Marylebone- Totenader, die gute Seele! Emily Blenkinſop könnte Mid. Brown
geworden fein, aber — doc ſprechen wir von etwas anderem.
Du wirft natürlich einen guten Rat betreff8 deiner Angebeteten annehmen, mein
lieber Bob. Das thut jedermann. Wir mwiffen, daß Liebende viel auf die Anfichten
ihrer Bekannten geben und nie ihrem eigenen Kopf folgen. Nun, jo erzähle ung
doch etwas von deinem Mädchen. Was für Eigenjchaften, Beſitz, Lebenzftellung hat
fie? Sch fange feine Diskuffion über Schönheit an. Ein Mann fieht Schönheit oder
Reiz auf feine befondere Weile. Sch will damit nicht jagen, daß häßliche Frauen fo
raſch Männer befommen ala hübſche — aber jo viel fchöne Mädchen find nicht ver:
heiratet, und jo ſehr viele Häßliche find es, daß es unmöglich ift, eine Regel
aufzuſtellen. Die arme gute Mrs. Brown war eine viel ftattlichere Frau als Emily
Blenkinſop, und doch liebte ich Emilys Kleinen Finger mehr als die ganze Hand, die
beine Tante Martha mir gab — ich ſehe, wie die häßlichften Frauen einen großen
Zauber über Männer ausüben — kurz, ein Mann verliebt fich in eine Frau, weil es
jein Schidjal ift, weil fie ein Weib if. Auch Bob ift ein Mann und mit Herz und
Bart ausgeſtattet.
Sit fie eine geicheite Frau? Sch will dir nicht zu nahe treten, mein guter
Junge, aber das Pulver baft du ja nicht erfunden, und ich müchte dich ganz gern
einer Eugen Frau zufallen ſehen. Zu allen Zeiten bat man die Elugen Frauen
ignoriert und ijoliert. Nimm 3. B. Shakeſpeares Heldinnen — fie fcheinen mir alle
jo ziemlich diefelben — liebevoll, mütterlich, zärtlich u. j. w. Oder die Frauen Scott?
und anderer Schriftfteller — jeder jcheint dasſelbe Modell zu zeichnen — wir verlangen
meiſtens eine idealvollkommene Sklavin — ein demütiges, lächelndes, Tinderliebendes,
theemachendes, klavierſpielendes Weſen, die über unſere Wie lacht, auch menn fie
noch ſo alt find, die uns in unjern Launen fchmeichelt und um den Bart geht und
und durchs ganze Leben liebevoll anlügt. Sch konnte deine arme Tante niemals
zu diefem Syſtem bewegen, obgleich ‘ich geitehen muß, daß ich ein glüdlicherer Mann
gemejen wäre, wenn fie es verjucht hätte.
Es giebt viel mehr kluge Frauen in der Welt al? die Männer annehmen.
Gewöhnlich verachten wir fie, wir bilden uns ein, fie denken nicht, weil fie ung nicht
widerjprechen, und feien ſchwach, weil fie nicht kämpfen und fich gegen uns erheben.
Ein Mann fängt erft an, die Frauen fennen zu lernen, wenn er alt wird; und id)
muß fagen, meine Meinung von ihrer Weisheit fteigt täglich.
Wenn ich fage, ich kenne die Frauen, jo will ich damit fonftatieren, daß ich
weiß, ich kenne fie nicht. Jede Frau, die ich je Fannte, ift mir ein Nätfel und ohne
Zweifel auch fich ſelbſt eines. Sie feien nicht Hug, jagt ihr? Ihre Heuchelei ift mir
ein ewiges Wunder und eine beftändige Übung in ber beften Art von Klugheit. Da
fiebft du 3. B. eine beicheiden ausjehende Frau, vollflommen in ihren Pflichten,
beharrlih in Hemdenknöpfen, ihrem Herrn gehorfam und bemüht, ihm in allem zu
gefallen; fill, wenn du und er Politik oder Litteratur oder Quatſch dizfutiert, und
zieht ihr fie in die Unterhaltung, jo fagt fie mit einem Lächeln volllommener Demut:
„Ab, Frauen baben fein Urteil über folche Sachen, wir überlaffen den Männern
Gelehrjamkeit und Politik.“ „Jawohl, arme Heine Poly”, jagt Jones und Flopft
Frau Jones gutmütig auf den Rüden, „fieh du nach dem Haushalt, mein Herz; dag
ift deine Sphäre, und das übrige überlaffe ung.” Vernagelter Schwachlopf! Sie
hat dich ſchon längſt durchſchaut, mitfamt deinen Freunden, fie kennt eure Schwächen
und unterftügt euch darin auf bunderterlei liftige Art und Weile. Sie kennt euren
Eigenfinn und umgeht ihn mit außerorbentlicher Kunft und Geduld, wie eine Ameije
auf ihren Wegen ein Hindernis umgeht. Jede Frau lenkt (manages) ihren Dann;
40 *
628 Thaderay über Liebe, Heirat, Männer und Frauen.
jeder Mann, der einen andern fo Ienkt, ift ein Heuchler. Ihr Lächeln, ibre Nat-
giebigfeit, ihre gute Laune, die wir an ihr fo fchägen, was find fie alles ai
bewundernsmwürbige Falſchheit? Wir eriwarten Achfelträgerei von ihr und erzieben re
zur Unaufrichtigfeit. „Should he upbraid, Tl own that he prevail; say that ht
frown, Ill answer with a smile“; — was find das anders ala Lügen, Die wir von
unfern Sklaven verlangen? — Lügen, deren gejchidte Ausführung wir als tmeiblik:
Tugenden verfündigen, rohe Türken, die wir find! Sch behaupte nicht, daß Die ſelig
Frau Bromn mir je gehorcht babe — im Gegenteil: doch würde e8 mich geiren:!
haben, denn ich bin ein Türke wie mein Nachbar.
Da iſt zum Beijpiel deine Mutter. Wenn mein Bruder zum Eſſen Fommt nad
einer erfolglofen Jagd oder nachdem er ſich die Rechnungen feiner Herren Söhne an:
gejehen bat, fängt er natürlich damit an, fich gegen eure arme Mutter mürrijch zu
zeigen und über das Hammelfleifch zu brummen. Was thut fie nun? Sie mag hd
verlegt fühlen, aber fie zeigt es nicht. Sie fängt an zu fchmeicheln, zu lächeln, da:
Gefpräh zu wenden, den Bären zu ftreicheln, und ihn in gute Laune zu verſetzen.
Sie bringt ihn auf feine alten Anekdoten und fie und all die Mädel — arnıe kleine
Sapphiras — lachen fih halb tot. 3. B. die Gefchichte von der Gans, Die in die
Kirche geht, die dein Vater erzählt und die deine Mutter und Schweltern jo amüſiert,
bis ich mich zulegt jo jchäme, daß ich kaum weiß, wohin ich bliden fl. Und Io
erzählt er die Gejchichte einmal überd andere Mal, und deine gute Mutter figt dabei
und weiß, daß ich weiß, daß fie ein Humbug ift, und lacht weiter, und lehrt die
jämtlichen Mädel® auch lachen. Wäre fie dazu geboren geweien, einen Nafenring
und Beinringe zu tragen, anftatt eine® Muffes und Kapothutes, und hätte fie eine
dunkle Haut anftatt der weißen, mit der die Natur fie ausgeftattet, jo würde fie ſich
nad dem Tode deine? braunen Brabminenvaters lebendig verbrannt haben; ja, fıe
würde die Frauen irreligids genannt haben, bie fich gemweigert hätten, fih für ibre
Herren und Meiſter braten zu laſſen. ch will damit nicht jagen, daß die felige Mrs.
Brown fih für mich bätte verbrennen laſſen — weit gefehlt: durch einen zeitigen
Abzug wurde ihr der Gram erfpart, den ihre Witwenfchaft ihr zweifelsohne verurfacht
haben würde — und was mich betrifft, jo füge ich mich in biefen Schickſalsſchluß
und babe nicht den geringften Wunſch, ihr vorausgegangen zu fein.
Sch hoffe, die Damen werben mir meine Bemerkungen nicht übel nehmen. Auch
wenn ich dafür fterben jollte, muß ich doch befennien, daß man ihnen meiner Meinung
nach nicht genügenden Spielraum läßt. In dem Handel, den wir mit ihnen eingeben,
ziehen fie den fürzeren. Und da ein Arbeiter bekanntlich mehr zu Wege bringt bei
Stüdarbeit als im Tagelohn und ein freier Mann mehr arbeitet als ein Sklave, ſo
bezweifle ich, ob wir den größten Gewinn erzielen, indem wir unjere Frauen zur
Sklaverei unter Gejeg und Sitte verdbammen. Es giebt Leute, die den Horizont Der
Frauenpflichten auf menig mehr als die Küche bejchränfen würden, andere, die fte
gern zu unferm Ergögen im Ballfaal fehen, wo fie ihre runden Schultern und
weichen Locken zur Schau ftellen mögen — wie man ja auch ein Pferd für die Mühle
und ein andres für den Park bat. Aber in welcher Geftalt wir fie auch vorziehen,
wir müflen.doch zugeben, daß die Frauen für uns erzogen werden, für ung arbeiten,
für und glänzen, für uns tanzen und was nicht alles. Bor fünfzig Jahren würde
e3 feinem Mann zur Schande gereicht haben, wenn er feinen Pudding oder Auflauf
machen konnte, aber man würde unjern Müttern Unwifjenbeit in diefen Sachen zum
Borwurf gemacht haben. Warum follten ich und du uns jett nicht fchämen, weil wir
nicht unfre eigenen Stiefel machen, oder unſre Hoſen zufchneiden können? Weil
wir etwas Beſſeres thun fönnen: wir nehmen Schufter und Schneider dafür — und
doch waren wir e8, die den Frauen Gejege gaben, den Frauen, von denen wir zu
jagen pflegen, daß fie nicht jo viel Verftand haben wie wir.
Mein lieber Neffe, jegt, wo ich alt werde und diefe Dinge überlege, weiß id,
welche die ftärkeren find, die Männer oder die Frauen, aber welche die Flügeren find,
das zögere ich auszuſprechen.
— — ——
Milchwirtſchaftliches Lehr- Fnftitut.
Bon Hildegard Jacobi
Raqhdrua verboten.
Dur den zunehmenden Mangel an Arbeits:
kräften in landwirtſchaftlichen Betrieben, fei es im
Arbeiter: ober Beamtenftande, ift das Bebilrfnis,
tüchtig geſchulte weibliche Kräfte einzuftellen, um
fo lebhafter geworben. Und fomit bietet fih in
dem landwirtſchaftlichen Berufe ein lohnender
Erwerbszweig für das weibliche Geſchlecht und
werben bie Stellungen als Milchwirtin ober
Meierin, den Leiftungen entfprechend, gut bezahlt.
Daß auch Frauen fich die erforderliche Schulung
und bie notwendigen theoretiſchen und praftiichen
Kenntniffe aneignen fünnen, dafür forgen eine An-
zahl von Moltereien.
Faft jede Provinz hat eine Moltereifchule.
Das milchwirtſchaftliche Inftitut in Prosfau,
Bahnftation Oppeln in Schlefien, unter der Direktion
des Dir. Klein erfreut ſich durch feine vorzüglichen
Lehrkräfte, gewiſſenhafte Lehrmethobe, durch das
vortrefflih für ale Milchprüfungsmethoben ein:
gerichtete Laboratorium und feine wertvollen Modell:
fammlungen bed beften Rufes, weil bie bort er:
worbene Ausbilbung eine äußerft vielfeitige ift.
Das Inſtitut fteht unter dem Kuratorium
de Prinzen Schönaich-Carolath, des befannten
Vertreter® der Frauenbeftrebungen im Reichätag.
In der Schranftalt werden alljährlich 3 Lehrkurfe
abgehalten, einer für die Ausbildung männlicher,
2 für die weiblicher Schüler, von je dreimonatlicher
Dauer. Damit für jeden Einzelnen ein möglichft
gründficher Unterricht gewährleiftet fei, werben nur
6 Teilnehmer zugelaffen, alfo müflen die An-
mefdungen ſchon lange Zeit vor Beginn bes Kurſus
erfolgen; für den erften Meierinnenturfus vom
1. März, für den ziveiten vom 1. September an.
Der Kurfus koſtet 20 Mark. Wohnung, Koft und
Verpflegung wird vom Inſtitute auch gegen
Veſahlung nicht getwährt, doch finden Schülerinnen
für den mäßigen Preis von 1,50 Mark pro Tag
Verfion im Haufe des Tireftord. Der Unterricht
zerfällt in einen theoretifchen und einen praftifchen
629
Teil. Der Direktor und feine Affiftenten über-
nehmen bie Vorträge, unterftügt burch eine äußerft
reichhaltige Fachbibliothet und bie umfangreiche
Modellſammlung.
Lehrgegenftände des theoretiſchen Unterrichtes
find:
1. Weſen und Eigenſchaften der Milch.
2. Entrahmungsmethoden, die Behandlung
des Rahms, das Milchbuttern.
8. Das Buttern, die Bearbeitung ber Butter,
das Aufbewahren und Berpaden berjelben.
4. Berkäfen der Milch, Fett: und Magerläfe,
Deich: und Hartläfe, Sauermilchläfe und Butter:
milchtaſe.
5. Verwertung der Magermilch, Buttermilch
und Molken durch Verfütterung, durch Gewinnung
don Moltkenbutter.
6. Prüfung der Milch nach den verſchiedenen
Methoden.
7. Meiereibuchführung.
8. Verwertung ber Milch nad) den verſchiedenen
Verfahren und der Meiereibetriebölchre.
9. Das Wichtigfte über Aufzucht, Haltung
und Fütterung des Rindviehs.
Der praftifpe Unterricht erftredt fih auf
folgende Gegenftände:
. Erlernen des Meltenz.
Derarbeitung der Milch auf Butter.
Darftellung der Räfearten.
Handhabung ber Milhprüfungsapparate.
Tabellenführung.
are»
Bei den praltifhen Arbeiten in ber Lehr:
molferei müffen die Schülerinnen alle Handgriffe
fo ange felbft ausführen, bis fie fih eine hin⸗
reichende Fertigteit angeeignet haben, aud bie
Moltereitabellen müſſen fie zu führen gelernt haben.
Altoöchentlih finden regelmäßige Unter:
ſuchungen der verſchiedentlich eingelieferten Mil:
arten ftatt. Auch werden u. a. dort wertvolle
Schweinefütterungäverfuche betrieben; bie babei
gemachten wichtigen Erfahrungen fommen gleichfalls
den Befuchern der Lehrkurfe zu ftatten.
Milchwirtſchaftliches Lehr- Infitnt.
Bon Hildegard Jacobi
Raddrud verboten.
Durch den zunehmenden Mangel an Arbeits:
träften in landwirtſchaftlichen Betrieben, fei es im
Arbeiter: oder Beamtenftande, ift das Bedürfnis,
tüchtig geſchulte weibliche Kräfte einzuftellen, um
fo Iebhafter geworben. Und fomit bietet fih in
dem iandwiriſchaftlichen Berufe ein lohnender
Erwerbszweig für das weibliche Geſchlecht und
werben bie Stellungen als Milchwirtin ober
Meierin, den Leiftungen entſprechend, gut bezahlt.
Daß auch Frauen ſich die erforberlihe Schulung
unb bie notwendigen theoretiſchen und praktiſchen
Kenntniffe aneignen können, dafür forgen eine An-
zahl von Mollereien.
Faſt jede Provinz hat eine Mollkereiſchule.
Das milchwirtſchaftliche Inftitut in Prostau,
Bahnftation Oppeln in Schlefien, unter der Direktion
des Dir. Rlein erfreut ſich durch feine vorzüglichen
Lehrkräfte, gewiſſenhafte Lehrmethobe, durch das
vortrefflich für alle Milhprüfungsmethoden ein:
gerichtete Laboratorium und feine wertvollen Mobell-
fammlungen be3 beften Rufes, weil bie bort er-
toorbene Ausbildung eine äuferft vielfeitige ift.
Das Inſtitut fteht unter dem Auratorium
des Prinzen Schönaid:Carolath, des bekannten
Vertreters ber Frauenbeftrebungen im Reichätag.
In der Lehranftalt werben alljährlich 3 Lehrkurſe
abgehalten, einer für die Ausbildung männlicher,
2 für die weiblicher Schüler, von je dreimonatlicher
Dauer. Damit für jeden Einzelnen ein möglichft
gründficher Unterricht gewährleiſtet fei, werden nur
6 Teilnehmer zugelaſſen, alfo müfjen bie An:
mefdungen ſchon fange Zeit vor Beginn des Kurfus
erfolgen; für den erftien Meierinnenkurſus vom
1. März, für den zweiten vom 1. Septenber an.
Der Kurjus koftet 20 Mark. Wohnung, Koft und
Verpflegung wird vom nftitute auch gegen
Bezahlung nicht gewährt, doch finden Schülerinnen
für den mäßigen Preis von 3,50 Mark pro Tag
Venfion im Haufe des Direltors. Der Unterricht
629
Zeil. Der Direltor und feine Affiftenten über:
nehmen bie Vorträge, unterftügt durd eine äußerft
reichhaltige Fachbibliothet und bie umfangreiche
Modellſammlung.
Lehrgegenſtände des theoretiſchen Unterrichtes
find:
1. Weſen und Eigenfhaften der Milch.
2. Entrahmungsmethoden, bie Behandlung
des Rahms, bad Milhbuttern.
8. Das Buttern, die Bearbeitung ber Butter,
dad Aufbewahren und Berpaden berjelben.
4. Berfäfen der Milch, Fett: und Magerfäfe,
Deich: und Hartkäfe, Sauermilchtaſe und Butter:
milchtäfe.
5. Verwertung ber Magermild, Buttermilch
und Mollen durch Berfütterung, durch Gewinnung
von Moltenbutter.
6. Prüfung ber Milch nach ben verſchiedenen
Methoden.
7. Meiereibuchführung.
8. Verwertung ber Milch nach ben verſchiedenen
Verfahren und der Meiereibetriebölchre.
9. Das Wichtigfte über Aufzucht, Haltung
und Fütterung des Rindviehs.
Der praltiſche Unterricht erftredt ſich auf
folgende Gegenftände:
1. Erlernen ded Welten.
2. Berarbeitung der Milch auf Butter.
3. Darftellung der Käfearten.
4. Handhabung der Milchprüfungsapparate.
5. Tabellenführung.
Bei den praftifchen Arbeiten in ber Lehr:
mofterei müffen die Schüferinnen alle Hanbgriffe
fo lange felbft ausführen, bis fie fih eine hin⸗
reichende Fertigkeit angeeignet haben, aud bie
Woltereitabellen mäffen fie zu führen gelernt haben.
Allwochentlich finden regelmäßige Unter:
ſuchungen der verſchiedentlich eingelieferten Milch:
arten ftatt. Auch werden u. a. dort wertvolie
Schmweinefütterungsverfuche betrieben, die dabei
gemachten wichtigen Erfahrungen kommen gleichfalls
zerfällt in einen theoretiſchen und einen praktiſchen ben Befuchern der Lehrkurfe zu ftatten.
632
Anmeldungen zur Teilnahme find zu richten
an die 1. Borfigende Fräulein E. Altmann, Soeft,
Jakobyſtr. 3; auch find von dort die Programme
zu bezieben.
Das Honorar beträgt für Mitglieder des Der:
eind und der Ortsgruppen 5 Mark, für andere
Teilnehmerinnen 10 Mar.
Etwaige Anmeldungen werben vecht bald
erbeten.
Der „Kölner Berein für weibliche Angeſtellte“
befindet fih, wie ber ſoeben erjchienene britte
Sahresbericht für das Jahr 1900 ermeift, in be:
ſonders erfreulicher Entwidlung. Nicht nur die
direkten Mitglieder, jondern auch die Kreiſe, bie
weibliche Angeftellte beichäftigen, erfennen immer
mehr bie ſegensreiche Wirkfamteit des Vereind an.
Die von dem Berein angeftrebte beſſere foziale
Stellung feiner Mitglieder wird hauptſächlich durch
die Aneignung einer möglichft gründlichen Berufs:
bildung jowie durch das Zuſammenwirken und den
Zufammenfchluß aller direkt Beteiligten zur Hebung
der Standeschre zu erreichen gefudt. Das Heim
des Bereind ift mit 42 Penfionärinnen vollftändig
und anhaltend beſetzt geweſen; dad Bebürfnis zu einer
Ermeiterung liegt vor, aber die Mittel des Vereins
geftatten dies vorläufig noch nicht. Die Mitglieder
fanden bier auch Gelegenheit, fi an ben vom
Verein eingerichteten Übungäfurfen in Turnen,
Engliſch, Franzöſiſch, Geſang, Stenograpbie und
Handarbeiten zu beteiligen; neu eingerichtet wurde
ein Kurjus für franzöfiiche Stenographie, dem fpäter
ein gleicher für engliſche folgen fol. Die zu
Dftern 1900 in Köln eröffnete „Höhere Handels:
Trauenleben und Streben.
Ichufe für Mädchen“ ift baupsfächlih burd >
Bemühungen des Vereins ind Leben gerufen were
Da der Kurſus ein zweijähriger ift, find noch
endgültigen Rejultate zu verzeichnen. Ted oc:
rechtigen bie bis jegt gemachten Erfahrungen au 7
denkbar beiten Ausfichten auf das mit Spamnur:
erwartete Schlußrefultat. Da die Schule ſtrens ır
der für bie Aufnahme vorgefhriebenen Bedinzui:
des Nachweifes der abgeihloffenen Bildung ceı:i
zehnklaſſigen höheren Tüchterichule fe ſthält, war t:
nit nur möglich, fh gang auf der Hohe x:
feftgefegten Programms gu halten, fonbern bazı:!.
in einigen Fächern noch zu erweitern und \.
vertiefen.
Der „Frauenbund zum Wohle alleinftchende:
Frauen und Mädchen zu Fraukfurt am Main“
veröffentlicht feinen 4. Jahresbericht für vu:
Jahr 1901. Das Hauptintereſſe Des Vereire
wendet ſich der Verwaltung und weiteren ur
geftaltung des von ihm errichteten Heims in >-
Langeſtraße zu. Es befindet fih in erfreufider
Entwicklung und ift nach Möglichkeit beftrebt, allen
ftchenden und unbeſchützten Mädchen die Heim!
zu cerjeben, fowie Durchreifenden und Stellunu
fuchenden ein erwünſchtes Unterkommen zu bieten.
Zu ſeinem Bedauern i ie der „grauenbundb” nic
nicht in der Lage, felbfttbätigen Anteil an den
größeren Beftrebungen für Srauenwohl und Frauen
vecht zu nehmen, dazu ift feine Mitgliederzatt
— 251 — zu Hein und fein Einlommen zu gerina;
doh war er auf ber IV. Generalverfjammtlung des
„Bundes deutſcher Frauenvereine“ durch Die Bor
ſitzende, Frau Rommel, vertreten.
————
Frauenleben und -Streben.
Nachdruck mit Quellenangabe erlaubt.
* Bolitifcher Dilettantismus. Die „rauen:
bewegung” vom 1. Suni bringt in ihrer Beilage
für „Barlamentarifche Angelegenheiten und Gefeb:
gebung” ein Schreiben an den Kriegsminiſter, von
Frau Cauer, Fräulein Dr. Augspurg und Fräulein
Heymann unterzeichnet, das an naiven Dilettantis—
mug feinesgleichen fuchen dürfte. Auf Zeitungs:
nachrichten bin, wonach europäilhe Truppen
chineſiſche Frauen vergewaltigt haben follen — von
deutjchen Truppen ift nirgends die Rede — fühlen
fie fich fo quasi als Anwälte des beutjchen Volks
berufen, den Kriegsminiſter wegen einer etwa
möglichen Beteiligung deutjcher Soldaten an folchen
Verbrechen zur Rechenjchaft zu ziehen. In autorita:
tivem Tone mird eine Antwort auf die frage ver:
langt: „Was ift von feiten der beutfchen Armee:
verwaltung gefcheben, um fejtzuftellen, ob deutſche
|
|
Soldaten und welche? an ſolchen Unthaten beteiligt
gewefen find?”
Dann beißt es wörtlich weiter:
„Sollen nicht diejenigen beutichen Frauen, weiche
in Bezug auf unjere öffentlichen Angelegenheiten
über der Sphäre der Gedanken: und Kritikloſigkeit
jtehen, in jedem beimfehrenden Chinafrieger einen
Zeilnehmer an derartigen Schändlichkeiten arg-
wöhnen und follen fie nicht vorausſetzen müſſen,
dag dem beutfchen Volkskörper von feinen leitenden
Inftanzen die bedingungslofe Neaffimilation von
Elementen zugemutet wird, die auf Grund ihrer
Thaten bier zu Lande mit Zuchthauäftrafe zu be:
Icgen fein würden, fo ift e8 bringend nötig, daß
unfere M iitärjuftiz fih mit den angeführten Be-
richten bejchäftigt, um auf Grund genauefter Nach-
forſchung entweder das tieferjchütterte Zutrauen weiter
Bevölferungstreife zu der Haltung unferer Truppen
wieberherftellen zu fünnen ober die etwa begangenen
Verbrechen burch ftrengfte Ahndung zu fühnen.”
Frauenvereine.
bezw. vervollftänbigt.
jede volfftändige Schraube,
Die Schraube beſteht, wie
aus Spindel und
Schraubenmutter, wozu noch ein Zahnring, eine ;
Feder unb ein Schalter fommt VDurch das ver:
ſchiedene Zuſammenwirlen biefer Teile
die Schraube für 3 Fälle verwenden: 1. Wenn
man bie freie Beweglichkeit der Epindel nur
während des Sihens aufgeben wil. 2. Wenn man
für längere Seit einen unbetoeglicen Stuhlfig
wünſcht, nachdem dieſer in die richtige Höhe ge:
ſchraubt ift. 3. Wenn ein in allen Fällen bre
barer Stublfig verlangt wird. Die Swedmäßigt
der Vorrichtung wird jedem einleuchten.
*
Naifer Wilgelm- Spende.
Mit befonderer
Nüdfiht auf die Bebürfniffe des Mlittelftandes mit .
beſcheidenem Einkommen gefchaffen, follte die Kaifer
Wilhelm: Spende noch viel mehr ala es geichieht,
äßt fih
681
ı zur Anlage von Erſparniſſen benußt werben. '
Durch die Möglichkeit, jederzeit bie Heinften Er-
fparnifie bis zum Betrage von 5 Mark herunter
fhon einzuzahlen, dadurch, daß feine Verpflichtung
zu fortlaufenden, regelmäßigen Einzahlungen be:
fteht, ift die Benugung ber fegensreichen Ein:
richtung ben weiteften reifen freigeftellt. Die
| Kaifer Wilhelm: Spende verfichert fowohl Jahres:
; renten ais Ropitafien. Die Verfiherung Tann nad)
zwei Tarifen gefchehen, nämlich ohne ober mit Vor⸗
behalt der Rüdgewähr. Natürlid; ergiebt bie erfie
Art der Verficherung höhere Renten und RKapitalien.
Nacträglih Tann ein Vorbehalt der Rüdgerähr
| nicht erhoben werben, es kann aber jeberzeit auf
einen ſoichen verzichtet werben.
Nähere Auskunft erteilt und Drudfachen ver:
ı fendet die Direktion, Berlin W., janer»
| frage 85.
ar
Frauenvereine.
Der Berein „Jugendſchutz“
(Porfigende: Frau Hanna Bieber:Bochm) giebt
eine neue billige Nußgabe ber ii vorbeugenden
Sri von Profeffor Dr. med. 9. Herzen:
„Wiffenfchaft und Sittlichteit“ heraus, nachdem
die von dem Schweizer Verlag übernommene Auf:
lage vergriffen if.
Der Rektor der Berliner Univerfität Brofefior
D. Adolf Harnad hat zur neuen Auflage ein
Vorwort an bie Stubierenden geichrieben, dad wir
ai bedeutfame Kundgebung im Wortlaut folgen
laſſen:
Vorwort zur neuen Auflage.
Kommilitonen! Eure Zutunft — und ſie iſt bie
Zukunft des Vaterlandes — hängt von Eurer ſitt⸗
üchen Kraft und Geſundheit ab. Viele finftere
Mächte bedrohen fie, aber die Gefahr, welche der
Verfaſſer der nachftehenden Schrift Euch vor Augen
führt, ift der größten eine. Ernft und ſchücht hat
er fie Euch vorgeftellt, ohne Schleier, aber auch
ohne Übertreibung. Cr wendet fih, indem er zur
Selbftbeherrfhung und zum Aampf mahnt, an den
guten Geift, der Euch eingepflangt ift und er ruft
feine andern Bundesgenofien zur Hilfe ald Euch
felbft. Ben fozialen Verpflichtungen wird in der
Gegenwart viel gelprosen: feid gewiß, daß bie
träftigfte foziale Leiftung ein reiner Lebenswandel
ift. Er wird Euren Charakter ftählen, Cure Ge:
finnung läutern und Gure Thatkraft fteigern. Das
Beiſpici, welches Ihr gebt, wird für die Sittlichtkeit
aller anderen Klaſſen ber Geſellſchaft entſcheibend
fein, denn Ihr feid bie zufünftigen Führer. Mut
ift die Tugend der Tugenden; aber Mut fließt nur
aus innerer Freiheit: ter fich nicht felbft beherrfcht,
bleibt immer Knecht.
Über den Anfängen unferer deutſchen Geſchichte
fteht daS Zeugnis des Tacitus: „Sera iuvenum
venus, eoque inexhausta pubertas. Nemo illic
vitia ridet, nec corrumpere et corrumpi saeculum
vocatur.“ Macht dieſes Wort enblich wahr! Die
Pflicht, die es einschließt, ift niemals fo gebieteriſch
geiveien, wie auf ber geichichtlichen Stufe, auf ber
wir und heute befinden. Das zeigt Euch Herzen
in diefem Vortrag. Die Stunde ift da, aufzuftehen
vom Schlaf, abzulegen die Werke ber Finfternid
und anzulegen die Waffen bed Lichts. In biefer
Rüftung werdet Ihr unüberwindlidh fein und das
Baterland, die Menichheit aus innerer unb äußerer
Not befreien Helfen.
D. Adolf Harnad,
b. 8. Rektor der Univerfität Berlin.
Die Bildungövereine, Lehrervereine, Frauen:
vereine und beſonders die Krantenfafienvorftände
werden auf bie billige Ausgabe aufmerffam gemacht,
welche bei gröhern Beftellungen fehr billig (100 Stüd
= 10 Rart, 500 Stüd = 25 Mart, 1000 Stüd
= 40 Wart extl. Porto, 1 Eremplar mit Porto —
23 Pig.) durd das Vürcau des Vereins „Jugend:
ans“, Berlin C., Raifer Wilgelmftr. 39, "verfandt
wird.
Der Randeöverein Preußiſcher techniſcher
Lehrerinnen
Hat in dieſem Jahre den erften Fortbilbungskurfus
für Hanbarbeitölehrerinnen eingerichtet; diejer wird
vom 15.—28. September in Bernburg ftattfinden.
Es werben Borträge gehalten werben über
Pſychologie, Ethit und Pädagogik von Herrn Rektor
Kraufe, Köthen. Über die Methobit bed Hand:
arbeitdunterrichted wird Fräulein Mepel, Bernburg,
ſprechen. Außerdem follen Lehrproben von ver:
fhiebenen Lehrerinnen in Boltd-, Mittel: und Höheren
Mädchenſchulen gehalten werben.
Herr Direltor Dr. Fride hat ſich freunbfichft
bereit erklärt, an einigen Abenden Borträge zu
halten, in denen er Rulturbilber derjenigen Länder
giebt, die zu dem verfchiebenen Zweigen ber Hand⸗
arbeiten in beſonderer Beziehung ftehen.
An die Vorträge und Lehrproben follen fi
Beſprechungen anſchließen.
Frauenleben und :Streben.
Wir können bie Frage nach dem Sachverhalt
felbft hier ganz unerörtert laſſen, da nicht der ge:
ringfte Grund vorliegt, anzunehmen, daß die deutſche
Heeredvertwaltung nicht auch ohne bie Einmifung
der Damen Cauer, Augdpurg und Heymann etwa
vorgelommene Verbrechen ahnden würde. Was
und bier zunädft angeht, das ift der unerhörte
Tilettantismus, mit dem die genannten Damen
ſich eine Kompetenz in Angelegenheiten anmaßen,
die zu beurteilen fie augenſcheinlich völlig außer
ftande find. (Gegen biefen Dilettantismus, der
ungefcheut jede Domäne des öffentlichen Lebens ald
Rebefportplag betrachtet, Haben alle Frauen, die in
ernfter Arbeit ihr Bürgerrecht erringen tollen,
Urſache, auf das energifchfte zu proteftieren. So
tönnen fie am beften beweifen, daß fie thatfächlich
in Bezug auf unfere öffentlichen Angelegenheiten
„Über der Sphäre ber Gedanken: und Krititlofigleit
ftehen”.
Im übrigen muß mit Befriedigung konſtatiert
werben, daß mir es nicht mit einer Kundgebung
irgend einer zur Frauenbewegung gehörenden Körper:
ſchaft, fondern febiglih mit einer perſonlichen
Erpeltoration der drei unterzeichneten Damen zu
thun haben. Auf ifre Rechnung kommt dann auch
bie unfreitoillige Komik in einzelnen Außerungen,
die nur ber ernfte Gegenftand und verhindert, hier
gebührend zu würdigen.
* Der anonymen Denunziation gegen Fräulein
Dr. Tiburtius wegen Führung falſchen Titels,
bie in ihrer völligen Haltlofigteit durch das in ber
Märznummer der „Frau” veröffentlichte frei-
fprechende Erlenntnis dargethan murbe, ift eine
ganz gleichlautende Denunziation feitend des
Herrn Profeffor Dr. Koßmann gefolgt. Sie
richtet fih nicht nur gegen Frl. Dr. Tiburtius,
fondern faft fämtliche Berliner Arptinnen und
einen — „Raturarzt” und Magnetifeur namens
Geift, fo daß nunmehr am 21. Juni gegen „Geift
und Genoſſen“ verhandelt wird. Auf den
Ausgang der Verhandlung braucht man gar nicht
einmal begierig zu fein. Es ſcheint nad ber
ganzen Sachlage und dem vorhergehenden frei-
ſprechenden Erlenntnis völlig ausgefloffen, daß
eine Verurteilung erfolgt. Die eigentümliche Dent:
weiſe aber, bie fi) darin befundet, daß Herr
Profeſſor Dr. Aoßmann die Berliner Arztinnen,
von denen er wiſſen muß, daß fie ein volles
mediziniſches Studium abfolviert haben, mit einem
Herrn zufammenftellt, bei dem dies augenſcheinlich
nicht der Fall ift, möchten wir denn doch Bier feft:
nageln. Über den Ausgang der Verhandlung, die
leider erft nach Redaktionsſchiuß ftattfindet, berichten
wir das nächfte Mal.
633
Breisausſchreiben.
Der Berein „Srauenbilbung:Frauen-
ftubium“ erläßt ein Preisausſchreiben zur Er—
langung einer Propagandaſchrift für bie
Frauenbewegung. Nach Art eined Katechismus
ſollen in Frage und Antwort Entftefung, Ent:
widlung, gegentoärtiger Stand unb Ziele der
deutſchen Frauenbewegung kurz und Mar dargelegt
erben. Der Preis, der 1000 Merk beträgt,
tann ganz ober geteilt zuerkannt werden, wofür
die Schrift Eigentum bed Bereind wird. Die
Namen der Preiörichter werben noch befannt ge:
geben. Sie find berechtigt, an bem von ihnen
preiägefrönten Werke zweckentſprechende Anderungen
vorzunehmen. Die Arbeiten find, mit einem Kenn:
wort verſehen, bis fpäteftend 1. Februar 1902 an
die Schriftführerin der Aommiffion "einzufenden;
ein gefchloffener Briefumſchlag mit gleichem Kenn:
wort hat Rame und Abreffe bed Verfafſers zu ent:
halten. Die Mitglieder der Kommiffion find gern
zu näherer Audfunft bereit.
Marie 9. von Helldorff, Schriftführerin
(Weimar, Aderwand 18).
Fanny Boehringer (Mannheim).
Dr. Anna von Doemming (Biesbaden).
Dr. Richard Knittel (Karlsruhe i. 8.).
Dr. Selma von Lengefeld (Weimar).
* Die Generalverfammiung des Vereins
Sranenbildung — Zranenftudinm, die vom 16.
bi 18. Mai unter bem Borfig von Frau Hofrat
Steinmann in Mannheim ftattfand, bot durch
die rege Teilnahme von Mitgliedern aus allen
Teilen Deutſchlands, durch die Verhandlungen und
Vorträge ein erfreuliches Bild der kräftigen Ent
wicllung des Bereind. In ber erften Berfammlung
begrüßte Herr Bürgermeifter von Hollander ben
Berein namens ber Stadt.
Er führte kurz aus, baß die nad; zweierlei
Richtungen gehenden Beftrebungen bed Vereins,
das Streben nad Bildungserweiterung und :Ber-
tiefung unb Arbeit, melde bie Eröffnung neuer
Erwerböbahnen zum Biel hat, anerkennenswerte
und fozial begründete find. Erweiterte und ber:
tiefte Bildung ift, was wir brauchen, fie kann auch
ben Haudfrauen und Erzieherinnen ber Kinder nur
nüglich fein. Aber auch bie zweite Thätigteit des
Wereind ift eine wertvolle. Die Männer haben
vielleicht die Individualität ber Frau nicht genügend
getwürbigt. ud) Frauen find differenziert, aud
fie ſuchen neue Bahnen, in melden fie ihre
Individualität betätigen Tönnen, und das Non
furrenzbebenten wiſchen Mann und Frau ift bei
diefen Beftrebungen hinfällig. Je mehr Berufs:
möglichteiten der rau offen ftehen, um fo geringer
wird der Zubrang zu den einzelnen Berufen fein.
Die Gefege der Natur aber und bie fozialen Be:
dingungen werben bie rauen immer bahin führen,
„Ma“, ein Porträt von Lou Andreas;
Salome. (Stuttgart 1901. I. ©. Cottaide
Buchhandlung Nach.) Das Mutterfhaftsproblem
Hat Lou Andread in ihrer neuen Erzählung be-
banbelt, doc} gift e8 nicht Freuden und Leiden beö
Nutterfeins, fondern bie vieleicht härtefte Prüfung
des Mutterherzens: die Loslöfung der Kinder von
ihr, das Entwachſen aus ihrer forgenden Liebe,
dad Aufhören mütterliher Fürforge. Die beiden
Töchter, die „Ma in hartem Ringen durchgebracht
hat und benen fie daB Befte ihre Lebens und
Herzens gegeben, find flügge geworben; bie ältere
Hat bereit8 bie Umiverfität bezogen; Die jüngere,
an der fie in doppelt inniger Liebe hängt, treibt
«8 hinaus, halb Wiffensbrang, halb Liebesichnen.
Und Ma gewinnt c8 über fi, aud) biefe Tochter
ziehen zu laffen: das, nur daß bildet den Inhalt
bed Buches. Eine eigene, ſchmerzliche Refignation
ruht darauf. Und munberboll, in anziehender
Eigenart ift ber Charakter der Ma geftaltet, und
Aüberaus fein und einwandfrei ift die pſychologiſche
Entwidlung. Zu fein vielleicht, denn es giebt auch
da Grenzen. Der Gefahr, bie für ein Talent wie
fie e3 ift, immer befteht, ift Lou Andreas in ihrem
jüngften Werke ftärfer verfallen als in „Ruth“ und
in „Aus fremder Seele”: ftellenweife mutet „Ma"
arg theoretifch, erbacht, erklügelt an. Dan meint
in einzelnen Abfcpnitten nicht einen Roman, ſondern
einen Eſſay zu leſen. Dann aber finden fih auch
wieder Szenen voller Leben, und lebendig ftehen
einem fehließlich bie Geftalten vor Mugen, daß man
fie leibhaftig vor fich wähnt, biefe blaffe, verängftete
Ma mit dem tiefen, myſtiſch tiefen Frauenempfinden.
„Les Tolftoi und feine Bedeutung für unfere
Kultur“ von Eugen Heinrich Schmitt. (Verlegt
bei Eugen Dieberichs, Leipzig 1901. Preis brod.
5 Marl, geb. 6 Mark.) Das Buch zeigt einen
intereffanten Berfub, die Glemente der Melt:
anfhauung Tolfteis fowohl Hiftorifdh zu erklären,
als philofophifd) zu entfalten und dadurch feine
Stellung in der modernen Geiftegentwidlung und
feine Bedeutung für bie Wege, die fie fünftig
nehmen twird, deutlich zu machen. Wir [ernen die
Verfönlichleit und bie Miffion Tolftois erfafien aus
dem eigentümlihen Charakter der ruffiichen Kultur,
die, nicht wie die des Weftend durch überlegene
Traditionen gebunden, einen Bruch mit ber Ver:
gangenheit leichter vollzieht, rabitafe Reformer
naiver an bie Ausführung ihrer Gedanken treten
Insbeſondere dient das Buch dem Nachweiſe,
wie die Grundanfhauungen Tolſtois, die weniger
Har in ihrer philoſophiſchen Ausprägung al8 viel:
.
mehr in ihrer fittlihen Anwenbung Berportretin,
zu dem fortgefchrittenen Naturertennen unſerer
Zeit nicht etwa im einem beſchränkt theologiihen
Gegenfag ftehen, fondern mwie fie gerabe, im Yıdıc
diefes Erkennens ergänzt und zu ihren Konſequenzen
gerahet, in ihrer ewigen Gültigleit und wahren
berlegenheit erſcheinen. Die philofophifche KXrint
dieſes Nachweiſes läßt fid nicht in ein paar
Sägen abthun. 8 fei nur gefagt, dag Telftoi auf
deuiſchem Boden und fpeziell vom Stanbpunkt unic
ver beutfchen Geiftesfultur noch feinen Interpreten
wie €. 9. Schmitt gefunden hat.
Serbfunten‘. Neue Sprüde und Sinn
gebichte von Frida Schanz. Bielefeld und Leipiig.
(Verlag von Xelhagen und Klafing, 1901. Press
1,20 Dart.) Frida Schanz hat in befonberem
Maße die Eigenfhaften ded Spruchdichters: eıme
lebhafte, warme Lebensteilnahme, eine außerorbent:
liche Leichtigkeit, für jeben Gedanken, jede Pe
obachtung ein Gewand zu finden, und eine un
gewöhnlih biegfame, eindrucksvolle Sprache.
„Herdfunten“ ift die Sammlung genannt: bie
milde, mohlthuenbe Gfut jener Weltbetrachtung.
jener Stimmung, die für und in bem Begrifi
deutſches Haus“ Liegt, weht dem Leſer aus biefen
Verſen entgegen.
Zunge Seele”. Gedichte von Fritz Bord.
@erlin, Gofe & Teglaff, 1901) Als Erftlinge-
ſchöpfungen wird man bie Lieder der „jungen
Seele“ leicht erfennen. ALS Erftlingafhöpfungen
find fie gefenngeichnet durch eine geiofffe naive
Beharrlichleit im Feſthalten und riieren ber
einen Melodie und des einen Gedankengangs:
ungt. Kiche, junge Triebe
Sterben unter Froftespaud.”
In einem Mangel an Fülle und Intenfität bes
Erlebens ift dieſes ernfthafte Beſchauen und Wieder⸗
beſchauen des eigenen „verblutenden” Herzens be
gründet. Dod verrät dann und mann ein
träftigerer Ton, eine inbivibuellere Farbe, daß hie
„junge Seele" auch tieferen Trunk aus hem
Xebensbronnen gethan und tieferen noch thum
wird; und dann möchte man wünſchen, daß cine
ftrengere Auswahl der ganzen Sammlung das
träftigere Relief gegeben, daB fie hätte haben
Tönnen. An Bezug auf innere und äußere jrorm
baben die Gedichte etwas Abgefchloffened, Fertiges;
für Situation und Stimmung finden fie oft un
gegwungen den glürlichften Auöbrud. Selten mır
wirken bie Ausdrucksmittel kunſtlich unb un
organife — fo manchmal der abgebrodene Schlub:
Frauenleben und »Streben.
* Gegen das Schweizer Eherecht proteftierte,
wie bie „Dohnmente ber Frauen“ berichten, der
Yund Schweizer Frauenvereine in feiner in (Genf
abgehaltenen Generalverfammlung. Nach Schweizer
Recht hat der Wann ald „Haupt der chelichen
Gemeinfchaft" die Ruyung des Vermögens Beider,
aud des mitgebrachten rauenvermögens. Gegen:
über biefem Spftem der Güterverbindung fprad)
ſich der Yund einftimmig für die Gütertrennung
aus. Eine längere Distuſſion wurde über die
Vaterſchaftstlage geführt, die nad) Schweizer Zivil
recht nur bis zum Ablauf von drei Monaten nad
Geburt de Kindes eingebracht werben kann. Cine
Rebuerin verlangte die Ausdehnung biefes Klage:
techtes bis zum 16. Lebensjahr des Kindes. Iſt
der Vater zahlungsunfähig, fo fol die Familie,
eventuell die Yeimalögemeinde herangezogen werden.
In der großen Kommiſſion, welche vom eidgenöſſiſchen
Juſtizdepartement zur Beratung des Zivilgeſetzbuches
ernannt wurde, figen auch einige Frauen. Es ift
zu hoffen, daß fie das angeichlagene Thema in
Auge behalten werben.
* Das Tommunale Wahlrecht der Frauen
im Norwegen ift am 26. Mai nun doch Geſetz
geworden. Das Lagthing, das, wie mir in ber
vorigen Nummer berichteten, die Vorlage zurüd:
wies, hat fie bei erneuter Beratung mit einer
Stimme Najorität angenommen. Das Wahlrecht
umfaßt alle Frauen, die ein Cinfommen von
300 Mark auf dem Lande, 400 Mark in der Stabt
verfteuern, und bie verheirateten Frauen, beren
Männer Steuern zahlen, im ganzen etwa
200 000 Frauen. Wie gejagt, ift bie Borlage
von der konfervativen Partei eingebracht, um bei
dem Inkrafttreten des allgemeinen fommunalen
Wahlrechts durch Zulaffung der ſteuerzahlenden
Frauen ihre Partei zu ftärten. Charatteriſtiſch
für die Unwiſſenheit, die unfere großen Zeitungen
immer noch in Sachen der Frauenfrage dofumentieren,
ift die Bemerkung, mit der bie Kolniſche Zeitung
die Notiz begleitet: „Ale Länder, die ſich bisher
noch nicht von ber unreifen Frauenemanzipationg:
mut ind Schlepptau haben nehmen lafjen, werben
Norivegen mit größtem Vergnügen beglückwünſchen,
daß es fih als Verſuchsſeld für Frauenftimmrecht
hergiebt, und es bleibt nun abzuwarten, ob bie
Frauen den wohlthätigen Einfluß ausüben werben,
den bie Nechte erwartet.” Als ob es angefichts
!
685
der Erfahrungen, bie in England feit Jahren mit
dem munizipalen Wahlrecht der Frauen gemacht
worden find, noch notwendig wäre, daß ſich ein
Land al „Berfuchäfelb hergiebt“! Im übrigen kann
man nur boffen, daß die wahlberechtigten Frauen
noch in andern Dingen einen wohlthatigen Ein-
fluß üben, als in Bezug auf die Intereffen ber
Rechten.
* Ein Berein zur fogialen Hebung der
Fran hat ſich vor einiger Zeit in Mailand unter
der Zeitung von einer Reihe auf dieſem Gebicte
oder Litterarifch fchon bekannter Frauen gegründet.
Das Drgan biefe® Vereins ift die „Unione
Femminile“, eine Monatsfchrift, die in Mailand
(Via Pietro Verri 7) erfeint und nad ihrer
erften Nummer zu urteilen eine ernfte und that:
kräftige Propaganda für die Hebung ber itafienifchen
Frau in intellettueller und fozialer Hinſicht eröffnen
wird. In Deutfhland wird e3 von befonderem
Interefie fein, daß Ada Negri zu den Mit:
arbeitern des Blattes zählt.
* Totenfchen. Ada Chriften, bie befonders
in Frauentreiſen bekannte Schriftftellerin und
Dichterin, ftarb am 19. Mai in Wien im Alter
von 57 Jahren. Sie hat in einem beivegten Leben
voll Enttäufjungen und Leiden allen Schmerz er:
fahren, der ein Frauenichidjal erfüllen kann; fie
hat ihn doppelt bitter erfahren bei einem Leibenfchaft:
lichen Temperament und einem fcharfen, rüdfichts:
loſen Gerechtigleitögefühl. So erſcheint fie in ihren
Digtungen, rucſichtslos ehrlid in Bezug auf ſich
ſelbſt und die Gejellipaft, Heiß und ſtart in allem
inneren Erleben, traftvol, oft hart, aber immer
padend in der Sprache. Im immer ftärterem
Maße kommt in ipren Gedichtſammlungen, von ben
„xiebern einer Berlorenen” bis zu „Aus ber Tiefe”
das ſoziale Noment zum Ausbrud. Es gehörte
ihrem urfprüngliden Selbſt an, es find nicht
äußere Lebensverhältnifie, die fie erft Ichren mit
den Unterbrücten zu fühlen, denn dies fogiafe
Moment erftartt in ihrer Dichtung unter ben
äußerlich) glänzenden Berhäftniffen ihrer zweiten
Ehe mit Adelmar von Breden. Ein langjähriges,
ſchweres Lörperliches Leiden hat Ada Chriften der
jüngften Generation vor ber Zeit entrüdt. Viel⸗
leicht wird ihr Tod fie wieder mehr in die Mitte
derer ftellen, denen fie ihrer ganzen Perfönlichteit
nad) doch verwandt ift!
„Me”, ein Porträt von Lou Andreas,
Ealome. (SAuttgarr IWl. 3. G. Cottaſche
Buchhandlung .) Tas Butterihaftsproblem
bet Lou Andreas in ibrer neuen Erzählung be
handelt, Doc gilt es nicht Freuden und Leiden des
Mutterfeing, ſondern die vielleicht härteſte Prufung
des Wiutterbergens: die Loeloſung ber Kinder von
ihn, zus Entwachſen aus ibrer ſorgenden Liebe,
dus Aufhoren muütterlider Fürſorge. Tie beiten
Tochter, die „Mu“ in hartem YHingen durchgebracht
hat und denen fie das Beſte ibres Lebens und
Herzens gegeben, find flügge geworben; bie ältere
bat bereits die Univerfität bezogen, bie jüngere,
an der fie in Doppelt inniger tiebe hängt, treibt |
es hinaus, halb Wiſſenedrang, halb xiebesichnen.
Und Wa gewinnt «8 über fi, auch diele Tochter
ziehen zu laffen: das, nur bag bildet ben Inhalt
des Budyes. Kine eigene, ſchmerzliche Hefignation
ruht darauf. Und wundervoll, in anziehender
Eigenart ijt ber Eharakter der Ma geftaliet, und
überaus fein und einwandfrei ift die pfuchologifche
Entwiclung. >3u fein vielleicht, denn es giebt auch
ba (rungen. Der Sefahr, bie für ein Talent wie
fie es ift, immer befteht, ift You Andreas in ihrem
Jüngften Werke ftärfer verfallen ala in „Huth“ und
in „Aus fremder Seele”: ſtellenweiſe mutet „Ma“
arg theoretiſch, erbacht, erflüpelt an. Man meint
in einzelnen Abfchnitten nicht einen Sloman, fonbern
einen Eſſay zu leſen. Dann aber finden fich auch
wieder Szenen voller veben, und lebendig fiehen
einen ſchließlich Die (Meftalten vor Augen, daß ınan
ſie leibhaftig vor fich wähnt, dieſe blaffe, verängftete
Na mit dem tiefen, myſtiſch tiefen Frauenempſinden.
„Leo Tolftoi und feine Wedentung für unfere
Kuültur“ von Eugen Heinrich Schmitt. (Kerlegt
bei Cugen Diederichs, veipzig 1601. Preis broch.
bh Mark, geb. 6 Markt) Das Buch zeigt einen
intereſſanten Werfuch, Die Elemente ber Melt
— — — — — — — — — — — — — — — — — — —
anſihauung Tolſtois ſowohl hiſtoriſch au erklären,
als philoſophiſch zu entſalten und dadurch feine ,
Stellung in der modernen Geiſtesentwicklung und
ſeine Weder fur Die Wege, Die ſie kunftig
nehmen wird, deutlich zu machen. Wir lernen Die
Merſönlichkeit und Die Miſſion Tolſtoid erfaſſen aus
drin eigentlichen Uhnralter Der mmllsschen Warlenen
mebr in
zu dem
Seit nidi
Begeniag '
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gefubri, in
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Sägen abt!
deutſchem %
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1,20 Dart.,
Hape die ı
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obadtung «
gewöhnlich
„Berdfunten‘
milde, mol
jener Stim
„deutſches H
Verſen entge
„Junge
(Berlin, Sof
fchöpfungen
Seele“ leicht
find fie gel:
Bebarrlichteit
einen Melodi
4
In einen W
Erlebens ift
beſchauen des
gründet, T
trüftigerer Tı
„unge Seel
Yebensbronne
Wird; amd d
Vücerfchau. — Anzeigen.
verd. Die Form ift faft durchweg weich, biegfam !
und fein nuanciert. Und in Erfindung und Ge:
ftaltung geigt ber junge Dichter viel Selbftändiges. |
Er geht eigene Wege, — nicht folde, die mit einer
tühnen Schwentung von ber Heerftraße ab in un
beianntes Sand führen, ſondern folche, die fie dann |
unb wann Treuzen, zuweilen begleiten — aber doch
eigene Wege. Daß fie ihn an ein Biel führen
werben, dafür bürgt vielleicht der Sinn, den ein
Meines Gedicht der Sammlung audfpridt:
Broße Kräfte fühl (4 mein,
Tämme (daufeind, Gruben graben.
Kur zuweilen, wenn ber
Si fps je 14 ei
Dann vur&prüß ich mein Gefgid.
Und id) wäge meine Taten
Und ic) fente meinen Spaten. —
Und ich fente meinen Bid .
nDie Natur der Fran.‘ Anthropologiſche
Studien von ®. Jaekel. (Verlag von Martin
Hildebrandt. Berlin 1900. Preis 3 Marl.) Aus
einer Flut von gebrudtem Material, aus Hunderten
von Schriften, philofophifchen, ethnoiogiſchen, kultu:
hiftorifhen bis hinunter zu populären Unter:
haltungdbücern und Schufcreftomathien hat bie
Verfafferin Notizen, Thatfagen, Außfprüde zur
Ertenntnis der Natur der Frau gefammelt und
ftellt fie nun in diefem Bud) zufammen, in einer
Fülle, daf einem ber Atem ausgeht beim Seien. ;
Der Zwed ift, Material zur Märung der Frage |
in möglichfter Reihhaltigteit beizubringen. Und
diefer Bived ift mit einer ftaunendwerten Ausbauer,
Gebuld und Belefenheit erfüllt, denn das Buch
bietet eine wahre Schaglammer von intereffanten
Daten und Urteilen.
Schlußfolgerungen freilich Tann man aus dem |
Material taum ableiten. Dazu ftehen alle bie
Einzelbeiten zu ſehr außerhalb ‚ihrer kulturellen
Beziehungen; man tönnte ben faufend Beweifen,
bie da für eine Sadje angeführt werben, zehn:
taufend gegenüberftellen, bie dagegen ſprechen; auch
ift von einer fritiichen Austwahl der Tuellen ganz
abgefehen, und viele der angeführten Thatjadhen
dürfen Yaum ald verbürgt gelten. Fragen wie die
aufgeivorfene find, wenn überhaupt theoretiich, fo
doch nur auf Grund umfafjender pſychologiſch⸗
pbyfiologiiper Erfenntni® zu löfen, die unfere
Wiffenfhaft nach ihrem heutigen Stande noch nicht
gu geben vermag. Vielleicht wird aber eine fpätere
Zeit einmal die in dem vorliegenden Buch geleiftete
Vorarbeit fruchtbar m maden wiſſen.
Eindringens, dee
zuweiſi.
687
„Diuter ber Weltſtadt von Wilhelm Bölfhe
(Verlag von Eugen Dieberih®, Leipzig 1901).
„griebrich®hagen“ hat der Berfaffer ald Lotalwori
der Sammlung feiner Eſſays vorangeftelt. Wen
biefes Wort nod) leinen 2otalton enthält, dem
werben bie Eſſays einen Farbenglanz Bineinlegen.
Sie haben eine feltene ‚interpretationafäbigkeit,
biefe Afthetifer neuefter. ‚Fictung, „Afthetiter" —
den Namen legte die Überſchrift ber Sammlung
nabe: „Gedanken zur äfthetifhen Kultur“. Er ift
nämlid) eigentlich nicht zutreffend; „Rhifofoppen“,
„Kritiker“, „Dichter“, „Effapiften“ — feiner würde
den Beruf, die Wirkungäieife diefer „Mobernften“
treffen. Sie find feine Fahmenfchen, fie mollen
„Renſchen“ fein fchlechthin, Rulturmenfchen, nach
allen Seiten Fühlfäden außftreden, von allen
Seiten auf fi wirken laſſen, Eindrüde empfangen,
ſich geftalten Laffen. In diefem Aufnehmenwollen,
Verſtehenwollen entfaltet ſich ein feltener Reichtum
des inneren Befiged, eine feltene Fähigkeit bes
Schauend. Dazu kommt eine
dewiſſe Kühnheit in der Wahl der Ausbruddmittel,
die Bölfches Sprache ungemein fräftig, oft über:
raſchend prägnant macht, aber fie allerdings auch
der Gefahr ausfept, geihmadios, ja [hmülftig zu
erben. Die Gefahr ift in diefem Bande jedenfalls
beſſer vermieden, ald in ber zweiten Folge des
„xiebeöleben in der Natur“. Aber Farben fprühen
diefe Effags! Und wenn es dem Hiftoriter fpäterer
Zeiten darum zu thun fein wird, bie werdende
Seele des zwanzigften Jahrhundert zu belaufchen,
in Wilhelm Bölſches „Hinter der MWeltftadt” wirb
fie fi ihm mit befonderer Kraft offenbaren.
„Das Geſetz Über die Fürſorgeerziehnug
Minderjäßriger” vom 2. Juli 1900, nebft den
Ausführungöbeftimmungen vom 18. Dezember 1900.
Erläutert von D.Noelle, Landgerichtsrat, Mitglied
| des Haufe der Abgeordneten. Siweite Auflage.
(Berlag von Franz Bahlen,
Berlin. Kartonniert
3 Mart, poftfrei 3,10 Mark) Die auögezeichnete
Arbeit de3 Verfaſſers ftügt fich auf feine Mitarbeit
an dem Zuftandelommen bed Geſetzes bei ben
Beratungen im Plenum und in ber Hommiffion
des Abgeorbnetenhaufes. Sie wird, nachdem bie
erfte Auflage fhon wenige Monate nach dem
Erſcheinen vergriffen war, aud in der giveiten,
unter Berüdfihtigung ber feitbem erfchienenen
Literatur revibierten Auflage jedem außerorbentlich
nüglich fein, dem das neue Geſetz neue Aufgaben
Aygienisches.
Die noch vielfah übliche Methode,
Mund und Zähne nur mitteld Zahnpulver oder
Zahnpafta zu reinigen, ift eine ganz verfehrte.
Das heißt verfehrt, wenn man beabfichtigt, feine
Zähne gefund zu erhalten. Und das, meinen toir,
ift doc der Zwed der gangen Zahnpflege. Ber
feine Zähne gefund erhalten will, muß fih unbe: '
dingt daran gewöhnen, Mund und Zähne mitteld
einer antifeptiichen Slüffigteit zu reinigen. Die
Babnreinigung mittel® Zahnpuiver ober Zahnpafta
tann nie und nimmer die Zähne vor Berderben
fgügen. Aus dem einfachen Grunde nit, weil |
gerade diejenigen Stellen, welche am cehbejten an- !
faufen, wie Rüdfeiten der Badzähne, Zahnfpalten,
Zahnli den u u. |. w., bei der Zahnreinigung mittel
Pulver oder Baftaı unbeheiigt bfeiben. Da fault
«8 alfo ruhig weiter. Cine Flüffigteit dagegen
Tann überall hinbringen, und wenn fie antifeptifch
"it, wirkt fie den zahngerftärenden Progeflen ent-
gegen. WS ein zuverläffig antifeptifch twirkendes
Präparat ift in erfter Zinie das belannte Obol zu
nennen. Die Afepfis (Freifein von Fäulnid und
Gärung) de Mundes und ber Zähne ergiebt ſich
beim Gebraude dieſes Mundwaſſers vornehmlich
durch bie merfivürbige Eigenart des Dbolß, daß ed
fi in die Zaßnfleifchfhleimpäute und in die hohlen
Dame einjaugt, bier gewiſſermaßen einen anti:
feptifchen Vorrat zurüdläßt, welcher no ftunben:
Lang fortwirtt. Die Zähne werden durch regel:
mäßige Obol:Reinigung vor Hohliverden geſchubi.
640
verfertigten Apparaten und um:
geihulten Leuten, nad) enblofen
Schwierigleiten und emormen
Gelbopfern, gelang «3 ihm fchlieh-
lich, regelrechte Vohrlocher von
120—130 m Tiefe bis in bie
naphthaführende Schicht herunter:
zubringen, dieſe zu verrohren,
die Ropnaphiha dur Scöpfen
zu Tage zu fördern, das gewonnene
Gemenge von Naphtha, Waſſer,
Sand u. ſ. w. in großen Holy:
gefäßen medanifh zu trennen
und jodie Rohnaphtha zugetvinnen,
melde den Grundftoff für das
wertvolle Heilmittel Naftalan ab:
geben follte. Gortſetung folgt.)
*
Originalrezept. — Ein:
gemachte, gebackene Mat:
relen: KRochtauer 3 Stunden.
6 Rerfonen. 2 kg Matrelen
merden gewaſchen und in zwei
langen Filet® von den Gräten
abgelöft. Man beftreut die Fiſche
mit Saly und läßt fie eine Stunde
liegen. Dann werben fie in Mehl,
geihlagenem Ei und Beikbrot:
Irumen umgedreht und in kochen:
dem Fett 1), Stunde braun und
gar gebaden. Die nun aus ber
Pfanne genommenen Stüde legt
man nebeneinander auf große
Schüffeln und läßt fie abtüfen.
Dann werben die Matrelen
in einem großen Steintopf lagen:
weifemit Swiebelfceiben, Lorbe⸗
blättern und Pfefferlörnern ein:
gepadt. Unterbefien hat man
2 1 gewöhnlichen Weineffig auf:
gekocht, läßt denfelben vollſiändig
erfalten, rührt 3—4 Theclöffel
Maggivürze träftig darunter und
füllt dies über bie Matrelen.
Man bindet den Steintopf mit
Pergamentpapier zu, ftellt ihn
äinige Tage an einen Falten Ort
und fann dann beliebig davon
gebrauchen. M.v. B.
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„Die Fran“ kanu db
die Poſt (Boftzeitungstifte “
ferner direkt von der (
handlung, Berlin S. 1-'
Inland 2,30 TRR., nad)
Ale für die Mi
eines Bamens an Die i
u adreſſieren.
Anverlangt eing
beigulegen, da w.
Verantwortlich für die Redaktion
Anzeigen.
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642 Zur Kriminalität der Gefchlechter.
lichen Gefchlechtd. Als Durchfchnitt ergiebt fih, daß von 1000 Perſonen weiblichen
Gejchleht3 rund 20, von 1000 Perfonen männlichen Geſchlechts 104 wegen Verbrechen
und Vergehen verurteilt wurden.
| Leider fteht und feine derartige Statiftif andrer Länder zur Verfügung, um
einen Vergleich anzuftellen; ein jolcher würde dieſem Beitrag zur Pſychologie der
Gefchlechter erhöhten Wert verleihen. Aus dem aber, was Kulturgefchihten und
Sittenbilder und zur Kenntniß bringen, dürfte e3 fein Fehlſchluß fein, anzunehmen,
daß das Kriminalitätsverhältnis der Gejchlechter in den verſchiedenen Nationen nicht
wejentlich variiert. Zugegeben, daß es unter den Männern mehr „rüftige”, pofitive,
unter den Frauen mehr „ichmelzende”, negative Naturen giebt, zugegeben, Daß die
Reibungsflächen, an denen der verbrecherifche Funke fich entzlindet, fich dem Manne
gewaltſamer aufdrängen als dem Weibe, jo bleibt immer noch ein Reſt, die Größe
des Unterſchieds iſt damit nicht völlig aufgeklärt. Auch darf nicht vergeflen werden,
daß unfere Zeit mit ihren Arbeitsanforderungen, mit ihren Rampfanfprühen an bie
Frau die fogenamnten negativen Naturen umzuwandeln beginnt, daß fie das Latente
auslöſt und frei macht, und daß die Neibungsflächen auch für die Frau ſich mebren,
feit fie nicht mehr allein ins Haus gehört. Diefes Schleifen, Weden, Umbilden,
Nehmen und Geben der Zeit war anfänglich ein langjames, doch fteigert es fich bis
zur Vervielfachung, je länger es fich bethätigt; jedes Jahr beweift es dem Sehenden.
Trotz diejer Amwandlungen jprechen die legten fünf Jahre jener zehnjährigen Periode
noch mehr zu Gunften der Frau und zu Ungunften des Mannes als die erften fünf
Sabre. Die Frau betrat neue Gebiete, verließ fchügende Mauern, war auf fich felbit
geftellt, mußte hinaus ins feindliche Leben, geriet in taufend neue Verfuchungen und
doch verlor fie nicht, wa fie befaß. Sie mußte im Kampf ım das Dafein gleichen
Schritt mit dem Manne halten, fie holte ihn vielfach ein, aber in diefem Punkte blieb
fie zurüd, weil fie fich jelbft getreu blieb.
E3 müjjen der Frau alſo moralifche Dualitäten eignen, die mehr als negativen
Wert haben, weil fie fich nicht auffaugen laſſen. Sittlichfeit ift nicht nur ein rocher
de bronce, an dem fich bricht, was nad) Vernichtung ftrebt, fie ift eine Jchaffende
Macht, ein Fruchtträger, wenn fie auch nicht nach Art der Intelligenz wirft. Ein?
ihrer Elemente iſt das Verantwortlichfeitsgefühl, das ſelbſtſüchtige und felbftherrliche
Iſolierung ausfchließt, und freiillig Gott und den Mitmenſchen mit in die Berechnung
bineinzieht. Verdichtet fich fol ein Berantwortungsgefühl unter Beftrahlung der
Intelligenz zu einem feften Kern, einem Prinzip, das ſelbſt Licht aufgefogen hat und
eine Leuchtlraft befigt, die die Umgebung erhellend durchdringt, Jo wird es zur Melt:
anfchauung.
Das Verantivortlichteitsgefühl, dieſes Urelement aller Sittlichkeit, das dem Selbft:
erbaltungstrieb gleichberechtigt zur Seite ftebt, bereit fich ihm zu vermäblen, ift in
den Frauen ftark geworden, das ift die pofitive moralifche Qualität, die fie einzujegen
haben und die fie zu Gewinnenden macht, wenn man die Gefchlechter an dem unbeug—
famen Maße der Kriminalität mißt, einem Maße, an dem fi) nicht drehen und deuteln
läßt. Nach feinen Wirkungen zu fchließen, bat der Verdichtungsprogeß ſchon begonnen,
-der es über das Individuelle, das Zufällige erhebt; die Frauen gelangen zu einer
Weltanſchauung, einem feiten Prinzip. Das ift eine Stärkung des Pofitiven, denn
mit dem Erkennen fchließt foldy ein Prozeß nicht ab, es ift die Vorftufe der Zweck—
jegung, des beiwußten Eingreifens und Handelns zur Erfüllung des Zived®.
Mondnacht am Jugerfee. 648
Sehen wir fo langfam, weil ungepflegt, das Pofitive in der Frau fi) entfalten
und Boden gewinnen, immer in Gefahr, der Luftzufuhr beraubt, wie ein Schädling
niebergehalten oder gar vernichtet zu werben, fo regt ſich's wie Auflage in all den
twägenden Gedanken, daß der Staat diefen Strebenden, diefen Tüchtigen, dieſen Ernte:
verfprechenden fo gar nicht aus eignem, freiem und erfennendem Entjchließen bie
Hand bietet.
Bir fünnen annehmen, daß die verurteilten männlichen Perfonen zum mindeften
dem Staat fünf mal fo viel Loften wie die verurteilten weiblichen Perfonen. Werfen
wir dieſes Plus und diefes Minus zu dem Plus und Minus für Schulen aller Art,
dann fleigt uns etwas wie Schamröte ins Geſicht.
Wo bleiben die Fortbildungsfchulen für Mädchen?
Alle Lebensverhältniffe, man ftudiere nur die Verichte der Gewerbeaufſichts-
beamten über die Fabrikarbeit der Frau, reden dieſelbe eindringlihe Sprache, aber
nur die Gebundenen leihen ihr dad Ohr und verftehen fie.
Da liegt Land brad. Was der Wind an Samenförnern binauftrug, trägt
reiche und gefunde Frucht; aber die das Saatlorn zu verteilen haben, hätten ein
wenig weiter zu wandern von ihren vollen Speichern aus, und der Weg zeigt noch
feine ausgefahrenen Gleife, er ift unerprobt. So benimmt fi die Gewohnheit wie
eine Heilige, fie thront felbftficher in ftolger Unnahbarkeit.
er
Bonsnaht am Zugerſee.
Su ift die Nacht. Der alte Gaufler Mond
Spielt auf dem See mit feinen gold'nen Tellern.
Und dag zum Schein auch Klang den Laufcher lohnt,
Schallt in die Nacht hinaus ein leifes Trällern,
Schnalzende Sifche. Irrend' Sunkenjprüh'n.
Ein Schwärmen gold’ner Mücken auf den Wellen,
Ein Gligern, Riefeln, Wandern und Derglüh'n,
Dem Tanz gleich abendtrunfener £ibellen.
Was fällt dort fchattenhaft ins £icht hinein?
Das Spiegelbild des Nigikegels in den Fluten.
Dort fehlummert Arth in Duft und Mondenfchein.
In Gligern fanft zerrinnen dort die Gluten.
Verwirrt ſchau' ich auf alle diefe Pracht,
Geblendet wie vom Glanz vom heil'gen Grale.
Wie eine große gold’ne Srüchtefchale
Erglänzt der See, ein Prunkgerät der Nacht.
Waurire von Sfern.
ER 7 BR
41*
614
Allerlei Öharakterifiifhes zum Hortfhritt Ser
Frauenbewegung.
Bon
Ile Erkart.
an
Nahdrud verboten.
WI) zum erftenmal über bie Zulaffung der Frauen zu den Univerfitäten und zu den
© willenjchaftlichen Berufen. Die deutfchen Frauen verbandelten über diefe Frage
freilich jchon ſeit 25 Jahren, aber die deutjchen Landtage hatten „noch feine er:
anlaffung gehabt”, fih damit zu befchäftigen. Als man eine Weile hin und her
geftritten hatte, ob die Unterrichtsfommiffion bei der Vorberatung der Srauenpetitionen,
mit denen man e3 zu thun Hatte, bejchlußfähig geweſen ſei oder nicht, wurde die ganze
Angelegenheit jchließlich won ber Tagesordnung abgeſetzt. Man wollte dem Kultus:
minifter erft Gelegenheit geben, einen für die Arztinnenfrage zuftändigen Vertreter zu
Ihiden. Augenicheinlih war man erleichtert, den „heiklen“ Gegenftand noch einmal
für ein Jahr ad acta legen zu können. Hatte doch in der vorangegangenen Sigung
eine® der Kommijlionsmitglieder, als ganz gegen feine Erwartungen die Frauen
petitionen ernfthaft verhandelt wurden, erzürnt feine Sachen zufammengepadt und das
Zimmer verlaffen, weil es ihm zu „phantaftifch” wurde.
Verſchiedene deutfche Landtage, die biß dahin „Feine Veranlaffung“ dazu gehabt
hatten, erwogen in jenen Tagen die Frage de3 Frauenftudiumd. Da ift manches
Wort gefallen, das gleich dem der Mädchenfchullehrer, „das deutſche Mädchen müſſe
gebildet werden, damit der deutfche Mann fich nicht Iangweile”, in den Annalen der
deutfchen Frauenbewegung aufbewahrt zu werden verdient. Es fei durchaus über:
füffig, meinte damals einer der Volksvertreter, den Wirkungskreis ber Frau zu er:
weitern; er genüge vollfommen. Es handle fich nur darum, den richtigen Punkt in
biefem Kreis zu finden. Gute Köchinnen 3. B. feien immer gefucht und gut bezahlt.
Zuweilen wieſen auch Huge Gegner auf da Schredgejpenft des weiblichen Richters
oder gar des weiblichen Parlamentarier® am Ziele ded Weges, den ahnungsloſe
Gönner der Frauenbewegung zu befchreiten gedachten. Und diefer Hinweis verfehlte
feine Wirkung felten. Aber aud) der Auzblid auf den Einzug der Frau in bie
Univerfität und das gemeinjchaftliche Studium der Gefchlechter ftimmte bedenklich.
Kingsley bat einmal gelagt, jede neue Wahrheit erlebe auf ihrem Wege durch
die Entwidlung der Menfchheit drei Phaſen. Zuerft jage man, fie fei falſch, dann,
fie jei gegen die Religion, und jchließlich, jedermann habe fie fchon lange gewußt, fie
jei ſelbſtverſtändlich.
Optimiften — und die Frauen thun gut daran, optimiftifch über ihre Sache zu
benfen — finden heute ſchon Beiveife dafür, daß der Gedanke der Frauenbewegung
Allerlei Charakteriftifches zum Fortfchritt der Frauenbewegung. 645
in jenes dritte Stadium fberzugchen beginnt. Zuweilen gewinnen diefe Beweife über:
zeugende Kraft auch für fleptifcher Urteilende.
In einer Verfanmlung des Vereins fludierender Frauen ſprach vor wenigen
Wochen vor einem großen Kreis von Frauen und Männern, Studierenden und
Gäften, Herr v. Gerlach über dad Thema: „Die Frau und das öffentliche Leben.”
Schon der Charakter der Verfammlung möchte den Herren, die vor zehn Jahren die
Frage des Frauenftudiund gar feiner ernften Behandlung wert hielten, überrafchend
. gewefen fein. Seit mehreren Semeftern ſchwankt die Zahl der Studentinnen an der
Berliner Univerfität zwifchen 300 und 400. Ihre Anweſenheit in den Auditorien ift,
wenn auch noch nicht formel, fo doch thatfächlich felbftverftändlich geiorben. Und
allmählich Hat ſich zwifchen ihnen und den Studenten jene gefunde „Communion of
Labow‘“, jene glüdliche „Gemeinfamkeit der Arbeit” entwidelt, die eine der erften
Führerinnen der englifchen Frauenbewegung als eigentliche Biel ihres Strebens
hinſtellt. Sie ift noch felten in Deutfchland, und man bat wohl behauptet, daß fie
deutfchen Traditionen zu wenig entipreche, um überhaupt bei und im Verkehr ber
Gefchlechter zum Ausdrud kommen zu können. Daß von vielen Studenten und
Studentinnen dieſer neue, kameradſchaftliche Ton gefunden ift, mag für die künftige
Entwidlung ber Frauenbewegung bedeutungsvoller werben, als manches einzelne
Zugeftändnis der Gefeggebung. Es ift ein Fortfchritt jener inneren Entwidlung, bie
der Veränderung äußerer Formen vorausgehen muß, die fich in ihnen erſt materialifiert.
Zreilih, Heut wird man aus dem fröhlichen Genießen des werdenden Neuen noch oft
genug zu der Erfahrung gewedt, daß noch recht viele nichts won dem wiſſen wollen,
mas einem oft ſchon über das Diskutiertwerden hinaus als felbftverftändlich erſchien,
daß die Frauenbewegung den Charakter eines Kampf ber Gefchlechter noch nicht
verloren bat.
Man braucht nur an die drei Auflagen bes Buches über den phyfiologiichen
Schwachſinn des Weibes zu denfen, oder an die Bemühungen bed Herrn Profeflor
Koßmann, einer Bewegung, die er nicht aufhalten kann, wenigftend noch bier und da
ein Heines Gewicht anzupängen. Das legte ift die auf feinen Antrag befchloffene
Eingabe der brandenburgifchen Ärztefammer an den Reichstag, um die kürzlich erfolgte
erfte taatliche Approbation von zwei Arztinnen, die auf Grund der Schweizer Maturität
zugelaffen waren, womöglich noch rüdgängig zu machen.) 8 trifft fih ja, dag in
denfelben Tagen die beiden erften deutfchen Mebdizinerinnen, die alle Borbedingungen
rite erfüllten, die ftantlihe Approbation erlangten.
So fieht man wohl getroft all diefe Hemmungen an wie bie geftrengen Herten,
die, wie jeder weiß, in den legten Tagen des Spätfrühjahrs nod einmal kommen
müffen.
Ein andre aus jener Berfammlung erfdien noch mehr wie eine glüdliche
Prognofe für die Zukunft. Der Vortrag behandelte die Frau und das öffentliche
Leben — oder, um die vorfichtigere Faſſung durch die prägifere zu erfegen „die '
Frau und die Politik.“ Vielleicht iſt es das erſte Mal in der Gefchichte der deutfchen
Frauenbewegung, baß von einer aus ben verjchiedenften Elementen bunt und zufällig
zufammengetvürfelten Verfammlung die Forderung des Frauenſtimmrechts als das
feloRverftändliche Ziel der Frauenbewegung widerſpruchslos anerkannt, ja als ſolche
) ©. Frauenleben und :Streben.
646 Allerlei Charalteriftifhes zum yortfchritt der Frauenbewegung.
gar nicht einmal in die Diskuffion gezogen wurde. Wohl wurde von einer Zeur
fonftatiert, daß ihre Erfüllung ſoviel Schatten= wie Lichtjeiten haben würde; daß dir:
Erfüllung kommen müſſe, ftellte feiner der Diskutierenden in Zweifel.
Es ift für den Deutſchen gewiß leichter, an eine gelebrte Frau zu glauben, al
an eine, die Politik treibt. In feiner Hinficht Hat der Deutſche ſein Frauenideal un:
ſoviel unflarer Sentimentalität ausgeſtattet, als in bezug auf ihre Stellung zuu
Baterlande.
Einerjeit3 Hat man von konfervativfter Seite immer wieder die deutſche Muttcr
gepriefen, die in ihren Kindern die Liebe zum Baterlande, den Stolz auf feine
Errungenfchaften in Krieg und Frieden, die Begeifterung für feine großen Männer
weden und pflegen fole Man bat der Mäbdchenfchule eine „nationale” Grundlax:
gegeben und verlangt, daß fie ihren Schülerinnen das Verſtändnis für die Aufgaben,
die Kultur, die Entwidlung Deutfchlands erfchließen ſolle. Man erzählt ihren ven
ben Frauen, die jelbjt mit in den Kampf zogen, und von den Fürſtinnen, die div
Geſchicke ihres Landes zu überjeben und zu leiten verftanden. Und dann verlangt
man von ihnen, daß fie fich jedes eignen Urteils begeben, fonfervativ mit dem
fonfervativen Bater und dann womöglich Liberal mit dem liberalen Gatten denken,
nie mehr ein felbjtändiges Intereſſe für die Kulturfragen ihres Vaterlandes befunden,
jondern ſich damit begnügen, dem Gatten zu Saifer® Geburtstag die Ehrenzeichen
anzufteden, die Kinder vaterländifche Lieder zu lehren und ihnen Schärpen zu
nähen.
Es war charakteriftiich, daß man jeiner Zeit in der Tagespreffe da3 öffentliche
Eintreten de3 Allgemeinen Deutſchen Frauenvereinz für die Flottenvorlage wohlwollend
begrüßte, während man die Erklärung einiger Frauen gegen die Getreidgölle als
etwas durchaus Unpaffendes und Unweibliches binftellte. Man will den Patriotismus
der deutichen Frau in den Formen jener Zeit feithalten, da man den deutſchen Mann
auch nur zu nationalen Pflichten rief, wenn es hieß, das Vaterland nach außen zu
verteidigen, ihm aber feinen Teil an der Arbeit des innern Aufbaus gab. Dean
vergißt, daß der Schwerpunkt der nationalen Aufgaben mehr und mehr auf da3
Gebiet der inneren Politik gerücdt if. Da müſſen auch die nationalen Intereſſen
heute eine andre Nichtung nehmen, als zu der Zeit, da die deutiche Frau die Wagen:
burg verteidigte und der Mann ihr das aufgezäumte Schlachtroß zur Brautgabe
brachte, als ein Zeichen, daß fie jeine Gefährtin wie im Frieden, jo im Kriege fein
ſolle. Die deutfchen Mädchen hören es in der Schule mit Stoß, daß die deutſchen
Frauen zu fo hohem Dienft berufen waren, um nachher zu erfahren, daß fie heut:
zutage nur die himmlischen Roſen ins irdifche Leben zu flechten haben.
Aber auch darin beginnt der Wandel, wenn auch erſt langſam. Und daß es
jegt Schon Männer giebt, für die e3 auch felbftverftändlich ift, daß die frauen an der
Kulturarbeit ihrer Nation ihren vollen, unverfürzten Anteil haben, daß die afademifche
Sugend für diefe Forderung eintritt, wie es an jenem Abend geſchah, läßt die Zeit
nicht mehr zu fern erfcheinen, wo die Frauenbewegung ihr Ziel: Communion uf Labour
auf allen Gebieten erreichen wird. |
— —
647
—
Bon
Palesca Jachel.
Radıprud verboten. u
enn Friedländer fagt, daß zwar alle Darftellungen römischen Lebens unvoll:
ftändig bleiben müßten, daß dies aber am meiften vom Leben der Frauen
elte, „von dem fich zufammenhängende Anfhauungen am ſchwerſten gewinnen laffen“,
0 hat er unzweifelhaft bis zu einem gewiſſen Grade recht; denn zu allen Zeiten wurde
vom Manne das Frauenleben als etwas fo Unwichtiges betrachtet, da die bezüglichen
Nachrichten in den Duellen aller Völker fich nur ganz zerflreut vorfinden. Dennoch
wird der, der genauer zufieht, in den römischen Überlieferungen noch manches bisher
Unbeachtete antreffen und nmamentlih folde Mitteilungen, die den bergebrachten
Meinungen über bie der Heidin erwieſene Nichtachtung durchaus wiberfprechen.
Allerdings fanden die Frauen Roms während der älteren Jahrhunderte gleich
den erwachſenen Söhnen in der Mundſchaft; fie erbten nicht, Magten und verteidigten
fi nicht, konnten verkauft und getötet werden. Aber dieſe Barbarei bedeutete nicht
im mindeften eine Vergewaltigung durch den Starkeren, fondern fie berußte auf den
Gefegen der Religion!), und fo lange der Ahnenglaube in Kraft land, richtete der
römiſche Hausvater, von religiöfer Scheu gezügelt, vor den Augen der gefürchteten
Ahnengötter?). Zudem feheinen mehrere Nachrichten, die eine ſehr hohe Achtung vor
dem weiblichen Gefchlecht befunden, den Schluß zu fordern, es habe der Römer der
älteften Zeit nicht anders als es für dem Inder und Hebräer bezeugt wird, das
Gedeihen der Häufer von einer guten Behandlung der mater familias, der Haus:
priefterin?), abhängig geglaubt. Nicht nur daß der ältere Cato, der bekanntlich gern
altertiiimelte, eine uralte und heimifche Anficht ausgeſprochen haben dürfte, wenn er
fagte: „Ein Mann, der feine Frau oder feine Kinder fchlägt, entweiht durch ruchlofe
Hände das, was das Heiligfte und Geweihtefle in der Welt ift.“ Die Thatjache, daß
während der erften fünf Jahrhunderte des Beſtehens der Stadt feine Eheſcheidung
fattfand, ift ein Umftand, der, wenn man ihm mit verfchiedenen Gebräuchen vergleicht,
nicht die Annahme zuläßt, er fei das Ergebnis männlicher Härte geweſen. Die Braut
betrat nach einem alten Herkommen die Schwelle ihres neuen Heims mit den an ihren
Bräutigam gerichteten Worten: „Wo du Hausherr bift, bin id; Hausherrin“; auch
empfing die Hausmutter bis zum Untergange Noms von allen Familiengliedern, den
Hausherrn miteingefchloffen, den Titel „Herrin“. Jeder Bürger Hatte den frauen
— bie von ber Gefelligfeit in feiner Weile ferngehalten wurden‘) — auf der Straße
auszuweichen, und es gab ein Gefeß, demzufolge jeder, der ſich leichtfertige Neden
gegen eine Frau erlaubte, vor den Blutrichter geftellt wurde. Zu keinem häuslichen
Geſchäfte waren die Frauen verbunden außer zur Anfertigung der Kleider. Eine
Verherrlichung des weiblichen Gefchlechts, die mit dem Marienkultus auf einer Stufe
fteht, zeigt fi in dem Inſtitut des Veftaprieftertums. Die Veftapriefterinnen befaßen
viele und große, fie teilweife über die höchſten Beamten hinaushebende Vorrechte, als
deren eined Plutarch erwähnt, daß fie noch bei Lebzeiten des Vaters ein Teſtament
') Zuftel de Coulanges, La cite antique. Paris 1874. ©. 97. — ) ebenda 107. —
3) ebenda 110. — *) Friebländer, Darftellungen aus der Sittengefhichte Noms ... Leipzig 1862.
Die Römerin. 649
hatten frei ausgehen laffen, zur Steuer heran und verminderten die Zahl der befteuerten
Frauen von 1400 auf 400.
Das Selbftgefühl der Cäfar-Bändigerinnen ging übrigens aus einer häuslichen
Stellung hervor, die an Anſehen teilweife die der älteren Jahrhunderte überbot. Seit den
punifchen Kriegen hatten die Töchter Roms mit Hilfe ihrer Väter es durchgefett, ſich
durch Ehekontrakte eine Unabhängigkeit zu fichern, die fie oft genug über ihre Männer
erhob.) Mit Ausnahme der Mitgift, die in die Hände des Mannes überging, behielt
die Frau das freie Verfügungsrecht ſowohl über ihr eingebrachtes Vermögen als über
das, was ihr fpäter dur Erbichaft aus dem Vermögen ihres Vaters zufiel. „Auf
dieſe Weile ging ein ſehr beträchtlicher Teil des römischen Neichtumd in den
unbefchräntten Befig der Frauen über.“ Der „Ichöne Profurator”, der Privatgeichäfts-
führer der Frau, den der Ehemann als einen regelrechten Cicisbeo zu dulden und jogar
mit Nüdficht zu behandeln Batte?), war fchon zu Ciceros Zeit eine Lieblingsfigur der
Zuftfpieldichter und die von reichen Frauen gegen ihre Männer geübte Tyrannei
— fie follen ihnen bisweilen Geld gegen hohe Zinſen geliehen haben — ein ftehendes
Thema der Satiriker.?) Jeder Teil konnte die Ehe (öfen, und die Löſung gab beiden
Teilen das Recht, ſich wieder zu verbeiraten. Daß von diefer Erlaubnis Gebrauch
gemacht wurde, ift häufig genug gefagt worden; das außerordentlichite Beiſpiel der
Art Führt Hieronymus an: er verfichert, daB in Rom eine Frau lebte, die an
ben breiundzwanzigften Mann als deſſen einundzwanzigſte Lebensgefährtin verheiratet
war. Man bat nun jehr viel Aufheben davon gemacht, daß mande Männer, obzwar
fie in folchen Fall, uraltem Geſetze gemäß, ihr ganzes Vermögen einbüßten, ihre Che
leichtfinnig und willkürlich trennten; nicht aber bat man das Leid und Unrecht in
Betracht gezogen, das ebenſo oft dem männlichen Teil durch leichtfertige Löfung von
Chen und Berlöbniffen zugefügt wurde. Sulia, die Tochter Cäfard, war mit Cäpio
verlobt und follte ihm in wenigen Tagen angetraut werden; da hielt es plötzlich
Pompejus für angemeffen, fie zur Gattin zu begebren, und er verfpradh, um den
Unwillen des Bräutigams zu bejänftigen, diefem feine eigene Tochter, die dem Fauſtus,
einem Sohn Sullas, zugejagt war.) Auguftus zwang feinen Stieffohn Tiberiuß, die
Agrippina, die er liebte, zu verftoßen; auch erzählt man, es babe der Beraubte
„großen Schmerz” über die Trennung empfunden, und als er der Gejchiedenen einit
begegnete, fie mit jo „unverwanbdten und thränenvollem Blick“ verfolgt, daB man
Sorge trug, fie ihm nicht wieder vor die Augen kommen zu laffen.’)
Noch find andere Berichte und zwar in großer Zahl, weit über die von Fried:
länder angeführten Beifpiele hinaus, vorhanden, die zur Widerlegung der von Gibbon
und fo vielen andern erhobenen Behauptung dienen, dem Römer fei zartfühlende,
achtungsvolle Liebe etwas Unbekanntes geweſen. Der ältefte Bericht diefer Art ſcheint
bie Erzählung von dem Vater der Gracchen zu fein, dem Gatten der berühmten
Cornelia; er ließ von zwei in feinem Haufe gefangenen Schlangen das Männchen
töten, das Weibchen freigeben, weil ihn ein Wahrfager bedeutet hatte, wenn jenes
zuerit jeinen Tod fände, würde er, Gracchus, feiner Gemahlin im Tode vorangehen.
Der Senator Cajus Plautius Numida bing mit jo großer Liebe an feiner Gattin,
daß er auf die Nachricht von ihrem Tode fich mit dem Schwert durchbohrte und
nachdem feine Hausgenofien, bie ihn überrafchten, die Wunde verbunden hatten, den
Verband abriß.) Als Marcus Plautius, der nach dem macedonifchen Kriege mit dem
Oberbefehl über die Bundesgenoflen-Flotte betraut worden war, feine Gemahlin
Oreſtilla duch den Tod verloren hatte, ftürzte er fich neben ihrem Scheiterhaufen in
fein Schwert; man legte ihn der Vielgeliebten zur Seite und verbrannte beide
auf einmal.) Lepidus, ber befannte Triumvir, mußte fich infolge der Untreue
leiner Gattin, da es das Geſetz fo gebot, fcheiden laſſen; aber er ftarb, wie
— —— — —
i) Juvenal VI, 210 f. — Plutarch, Cato der Ältere c. 8. — Legouvé, Histoire morale des
ſemmes. Paris 1869. ©. 150. — ?) Friedländer I, 273; 274 in Note. — °) Lecky, Sittengeſchichte
Curopad. Leipzig 1879. II, 254. — *) Plutarch, Pompejus c. 47. — ?) Sueton, Tiberiud c. 7. —
*) Valerius Magimus IV, 6,2. — °) ebenda IV, 6,3.
Die Römerin. 651
zu eigen geweien find, jo gemährleiflen noch viele Berichte von direkter Art
den geiftigen Standpunft der NRömerinnen als einen merkwürdig hohen. Es ilt
bierbei nicht nötig, auf einzelne Geftalten zu verweifen, etwa auf die kluge Polla
Argentaria, die Gemahlin de3 oben erwähnten Zucan, die im flande war, ihren
Gatten bei feinen Arbeiten zu unterftügen, oder auf die Satiriferin Sulpicia, oder
auf die in der Redekunſt hervorragende Lälia!), eine Tochter des Redners Lälius,
oder auf Cornelia, die Mutter der Gracchen, deren ausgezeichneter Bildung und Er:
ziehungsgabe man den Hauptanteil an der Trefflichleit ihrer Söhne zufchrieb, oder
auf die jpätere Cornelia, die Gattin des Pompejus, die mit befcheidenem, fchlichtem
Weſen und mit zärtlicher Liebe zu ihrem Gemahl eine gediegene SKenntniß der
Ichönen Wiffenfchaften, Mufit und Geometrie verband und gewöhnt war, philo-
fophische Schriften mit Nugen zu lefen.?) Gleichviel, welches Motiv Epiltet den
Nömerinnen unterfchiebt — er weiß mitzuteilen, daß fie fih mit dem Studium
des platonifchen Staats befchäftigten.?) Nach dem Zeugnis de Juvenal —
der, beiläufig gejagt, die Männer für den verderbteren Teil des vwerderbten Rom er:
Härt*) — vermochten nicht wenige Frauen fich trefflich in der griechiichen Sprache aus—
zudrüden, entwarfen al® Kläger und Bellagte die Gerichtgreden mit eigener Hand
und nahmen e3 in der Kenntnid des Rechts mit den beiten Suriften auf; audy waren
fie mit Gefchichte, Litteratur und Grammatit gründlich vertraut, ja nad dem
Geſchmack und ehrlichen Bekenntnis des Scharfzüngigen viel zu jehr; denn „dent
Manne muß Schniger zu machen erlaubt ſein“.“) Schon zu Dvids Zeit wurden Die
Stüde Menanders in Mädchen: wie in Knabenſchulen gelefen, ®) und zumeilen lajen bie
Mütter felber mit ihren Töchtern Homer und Birgil.”) Daß die Frauen „Verfe
machten, griechifche und Iateinifche, war in einer Zeit des wuchernden poetifchen
Dilettantismus natürlich und daß die Dichterinnen ſich gern mit Sappho vergleichen
ließen, nicht minder. Machten fie nicht jelbft Gedichte, fo Eritifierten fie fremde”. *)
Irrt Friedländer fich nicht, jo befaßen die Römerinnen „ehr gewöhnlich” die Fertigkeit, '
eigene Verſe oder die Gedichte andrer nach ſelbſt gejegten Melodien auf der Laute
vorzutragen.*) Auf antiken Bildern ſieht man überrafchend Häufig Malerinnen
dargeftellt; auch wird von einer gewiffen Sata, die lebenslang Jungfrau blieb, berichtet,
fie Habe ſowohl mit dem Binfel ala mit dem Grabftichel Bildniffe ungemein ſchnell
und fo vorzüglich berzuftellen verftanden, daß fie weit beffer bezahlt wurde als bie
berühmteften Maler ihrer Zeit. 1%)
Endlich ift es ein für den feeliihen Wert der Römerinnen höchſt ehren:
voller Zug, daß Meinungsäußerungen wie die des Frauenhaſſers Cato, jobald
bei öffentlichen Beratungen die echte der Frauen zur Sprade kommen,
gewöhnlich zurücdgewiefen werden. Als Gato mit Bezugnahme auf dag Oppiſche
Gefep tiber die „Unbändigfeit” der römifchen Weiber fich ereiferte, warf Lucius
Valerius fih zum Derteidiger der Frauen auf und führte ihre Sache durch.
Als Severus Cäcina den Frauen die in der Provinzverwaltung auftretenden Mißſtände
zur Laſt legte, erfuhr er den heftigen Widerfpruch der Majorität, und Valerius
Meffalinus antwortete: „Vergeblich wolle man dem Mangel an Mannheit bei den
Männern einen fremden Namen unterlegen; e3 ſei doch nur de Mannes Schuld,
wenn das Weib aus den Schranken gehe.“1) Als Metellus in feiner Rede über die
Ehe die Frauen als ein notwendiges Übel bezeichnete, übernahmen ſofort mehrere
Redner die Ehrenrettung des weiblichen Geſchlechts; fie erklärten, es rührten die libel
der Ehe in den meiften Fällen von den Fehlern und Ungerechtigkeiten der Männer ber. !?)
Sp blieben auch, wie Plinius überliefert, felbft diejenigen „Lärmreden” 3) Catos, in
denen er die uralte und vielgepflogene 1?) Sitte anfocht, Frauen auf Gemeindeloften durch
) Duimtilian I, c. 1. — ) Plutarch, Pompejus c. 55. — ?) Epiltet, Handbüchlein der Moral.
Überf. v. Stih c. 58. — *) Juvenal II, 36 ff. — 5) Juvenal VI, 455. — °) Friedländer III, 275. —
’) ebenda J, 265. — 9) ebenda I, 290. — ®) ebenda I, 267. — 10) Plinius, Naturgefchichte. Stuttgart
1840. S. 4017. — !') Tacitus, Jahrbücher. Über. v. Gutmann. IH, c. 1. — '*) Gellius, Oeuvres
complenen. Przis bei Garnier freres. I, c. 6. — 19 Plinius, Naturgeſchichte 34, c. Id. — 1) Fried:
änder III, 168,
662 Die Römerin.
Standbilder zu ehren, ohne jeden Erfolg; man fuhr fort, deren in den Provinzen und
in der Hauptfladt zu errichten, und e3 werden u. a. für Nom ein Standbild der Veſtalin
Suffetia erwähnt, eines der Cornelia, drei Standbilder der Sibylle und ein Reiter
Kanbbild der Clölia. Auch fuhr man troß Cato fort, den Frauen die größte Freibeit
im Verkehr zu gewähren, jo baß fie, einerlei ob jung oder alt, ohne Begleitung im
Theater, im Zirkus, in den Tempeln und bei Gaftmäßlern ericheinen burften
Ja, man fuhr fort, den Frauen einen fehr häufig!) gelibten und oftmals recht günitigen
Einfluß auf die öffentlichen Angelegenheiten zu geſtatten. So trat Pulvia, die Ge—
mahlin des Antonius, das Schwert an der Seite, den Helm auf dem Haupt, vor
die von ihr gefammelten Legionen, hielt Anfprachen an die Krieger und verrichtete
alle Gefchäfte eines Feldern. Tiberius ließ fih in allen Dingen von Antonia,
der Teufchen Witwe des Drufus, leiten.) Als die Beſatzung von Caftra Betera
im Jahre 15 n. Chr. die Nheinbrüde abbrechen wollte, weil dad Gerücht laut wurde,
es fei das römifche Heer vernichtet und dasjenige der Germanen in vollem Anmarid
begriffen, widerfegte fich Agrippina, die edle Gemahlin des Germanicus, dem Beginnen
und ſah zu ihrer Freude bald darauf vier übel zugerichtete Legionen die Brüde befchreiten.
Auch Weiterhin vertrat fie die Stelle ihres abweſenden Gemahls, indem fie die
Mufterung über bie Geretteten abhielt, Kleidung und Verband fpendete und ihnen
den Dank des Vaterlandes ausfprad.”) Daß die Kaiferinnen ihre Gatten auf
den Kriegäzügen begleiteten, war elwas ganz Gewöhnliches; Cäfonia, die ſechſte Gr:
mahlin des Caligula, pflegte im Soldatenrod neben dem Kaifer eingerzureiten. Von
anderer Sinneart war Plotina, die kluge, ernfte, beſcheidene Gattin Trajans; fo oft
der Kaiſer von einer friegerifchen Unternehmung in Anfpruch genommen war, führte
fie die Negierungsgefchäfte. Und ſolche Negentichaft fteht nicht vereinzelt ba; auch
unter felbftthätigen Kaifern nahmen die Kaiferinnen häufig an der Regierung bedeutenden
Anteil.) Sogar Auguftus, einer der größten Staatdmänner aller Zeiten, ließ ſich
oftmals von feiner Eugen Gemahlin leiten; ja, „man erzählte fi in Nom, daß er
nie mit Livia ein wichtiges Geipräch führe, ohne ſich fhriftlich darauf vorzubereiten“. °)
In den Provinzen ſah man vielfach die Gemahlinnen der Statthalter den Übungen
der Truppen beiwohnen, fi unter die Soldaten mifchen, von Genturionen umgeben;
fie beteiligten fih an den Geſchäften, und die Provinzialen mußten zwei Hofhaltungen
ihre Aufwartung machen und hatten mitunter doppelte Erpreſſungen zu erleiden.)
Vielleicht am deutlichſien charakterifiert den weitgehenden Einfluß, den die Nömerinnen
ſich zu verfchaffen mußten, das Schlußwort der bereit3 erwähnten, von Gäcina gegen
die Frauen gehaltenen Rebe: fie beherrfchten, „der Feſſeln ledig, Käufer, Gerichte und
bereit8 auch Heere.“
) Ley a. a. ©. II, 254. — 2) Flavius Joſephus, The Antiqnities of the Jews. Über!.
v. Whiſton. London. XVII, c. 6. — 3) Tacitus, Jahrbücher I, 69; vgl. Klemm, Die Frauen.
Dresden 1859. III, 99. — *) Zriebländer I, 288. — 5) ebenda. — 9 ebenda.
—>- der Sinzig >
Roman
von
G. Pelp.
Nachdrud verboten.
Aawinete Wagner ſchiebt das weiße
Morgenhäubchen auf die blonden Haare; ſie
hat die ganze Nacht nicht geſchlafen, immer
angeſtrengt auf jede Bewegung von Fritz nach
der angelehnten Thür hingehorcht. Er iſt
merkwürdig ruhig geweſen, kein Stöhnen,
Herumwerfen, Seufzen. Und welchen inner⸗
lichen Kampf wird er gekämpft haben! Ihr
armer, armer Junge! Seinem Herzenstraum
entſagen ſollen, das kann nicht leicht ſein, dem
weichen Gemüt ihres Fritz gewiß nicht. Wie
Ihwer wird es ihr ſchon, an die Etelle, wo
die Tiebe, lachende Mile geweſen, Emmy zu
ſetzen. Die wird ihr immer fremb bleiben.
Sie allein hat's doch gejeben und mahr:
genommen, was in dem jungen Menfchen
vorging. Und foll nun aus fein. — Reif ift
über Nacht gefallen. Sie hat ihre leifen
Thränen getrodnet, ihre Hände gefaltet. „Gott,
gieb, daß er’3 hinnimmt und trägt, nad
deinem Willen, was fein Vater nun einmal
will!” und wieder Thränen und wieder die
Bitte. Stunde um Stunde ift verronnen,
jede hat die alte fchnarrende Standuhr auf
dem Eftrihvorplag da draußen angezeigt.
Wenn fie nur müßte, ob ihr Junge ge:
ſchlafen hat.
Das Gefiht ift bla, das ihr aus dem
Epiegel entgegenfteht, und dunkle Ringe liegen
unter den Augen. Das Leben ift ihr ſchwer,
jehr fchwer geweſen in all der Wohlhabenheit
des Hauſes. Nun bat fie gemeint, es wäre
ihr fchuldig geworden, daß es ihrem Einzigen
gut geben müßte. Mber, da ift bald die
Krankheit gefommen und bat ihn zu einem
Eorgenfinde gemacht. Und nun?
Sie trägt ein graues Morgenfleid, einen
.IRANLUTTMUUG
(Schluß von Seite 619.)
Ichlichten, meißen Halsfragen und faßt nad)
der fauberen, blauen Küchenjchürze mit dem
frifchgebügelten Knid.
Der Tag ftellt feine Anforderungen wieder
an fie.
„Bit du Schon auf, Mutter?” klingt es
aus dem Nebenzimmer.
„Ja, mein Junge!” und fie unterbrüdit
den Seufzer.
„Dann will ih auch —.”
Sie faßt nah dem Schlüſſelkorb und
fommt an die Thür.
„Ad, nein doch, bleib man noch liegen.
Erbol’ dich.”
„sb bin ganz Träftig.”
Sie geht hinein, zieht den Vorhang auf,
daß die Sonne einfällt, und tritt dann an
fein Bett. |
„Haft ſchlafen können?“
„Ganz gut.“
Sie verſucht zu lächeln. „Das iſt aber
recht geweſen,“ meint ſie und ſtreicht ihm das
volle Haar aus der Stirn und ſetzt ſich auf
den Rand ſeines Bettes. „Und ein ſchöner
Tag wird!“
„Glaubſt du das wirklich, Mutter?“ fragt
er. „Ich meine, es wird wohl ein ſchwerer
ſein!“
„Ach, mein Fritz, mein Fritz!“
Er richtet ſich auf, und wie ſie in ſein
Geſicht ſieht, dünkt es ſie, als ſei ein fremder
Zug hinein gekommen. Den einen Arm um
ihre Schulter gelegt, mit der anderen Hand
über ihre Backen ſtreichend, ſagt er: „Arme
Mutter! Was für ein ſchweres Leben haſt
du gehabt. Immer getragen, getragen, ge—
tragen!“
654
Eie fieht zu Boden, auf das Mufter des
Heinen Teppich bin, der vor dem Bett liegt
— Roſen und Tulpen.
„Mein Junge, das ift ja wohl das Los
der meiften Yrauen. Es fteht in der Bibel
— fieh, das babe ich mir immer vorgehalten —“
„Wenn er dich gar zu fehr tyrannifierte.”
„Ad, laß das!“
Nun ftreichelt er ihre Kleinen, fleifchigen,
verarbeiteten Hände.
„Der große, große Egoift!”
„Fritz, das liegt in den Männern, fie find
die Herren, fie haben den Willen!”
Langſam fchüttelt der junge Menfch den
Kopf. „Ih mil es dir gleich fagen, id
füge mih nicht. Sch laſſe mich nicht mie
eine Ware behandeln.”
„Fritz!“ Wie am geftrigen Abend ſieht fie
ihn mit großen, erfchrodenen Augen an.
„Ich heirate Emmy Roth nicht!“
Set weiß fie, was das Fremde ift, das
fie in feinem blaſſen Geficdht entdedt hat: Ein
fefter Wille, der über Nacht über ihn ge=
fommen it.
„Fritz!“ Sie rüdt ein wenig von ihm ab.
„Mein lieber, lieber Sunge! Was foll dir
denn anders übrig bleiben? Er will es doch
nun einmal!”
„Und nun und nimmer gebordy’ ich!“
„Wegen — Mile!” flüftert fie.
Ein rofiger Schein Tommt über feine
Baden, und feine Augen glänzen. „Du weißt
e3, daß ich fie lieb habe!“
„Ach, mein Herzensfritz!“
„Mile!” Eine Falte rüdt feine Brauen,
die dunkler find als fein Haupthaar, faft
ganz zufammen.
„Mile!“ Sein Mund zudt, er ſchlingt die
Hände ineinander, und fie fieht, wie fich feine
Iranfe Bruft hebt und fenft.
„Das wäre das höchſte Glück getvefen,”
fagt er mit einem traumberlorenen Blick ins
Weite. Dann blendet ihn der Sonnenftrabl,
und er wendet den Kopf. „Und ich habe mir
eingebildet, er verſtehe mich, als er mich fragte
— ad, Mutter, ob ich ſchon Eine gern
gehabt.”
„Er fragte dich.” Sie weiß es beffer,
was er gedacht hat. O, ihr guter, unfchuldiger
Junge!
Der Einzige.
„Arme, arme Kinder!”
„Aber, Mutter, wenn ich fie mir aud
nicht erfämpfen fann — den Willen mit te
andern thu’ ich ihm doch nicht.“
Eie ringt die Hände. „Hat er fden
mal fein Wort zurüdgenommen? Tas Bı
noch Fein Menſch erlebt!”
„Daß ih mich nicht füge, Das wird ır
erleben.“
„Darum ſollſt du doch Eichberg nur
kriegen.“
Und ſie meint, es hebe ſich da aus der
eindringenden Sonne heraus das alte graue
Haus mit dem Turm, umſtanden von vielen
Bäumen, mit dem freundlichen Roſengarten.
den ſie immer angeſtaunt hat, wenn ſie bin
kam. Die Blumeroder machen ihre liebſien
Spaziergänge nach dort. Mile hatte ſie auf
der Schwelle geſehen, an ben blanken Scheiben.
zwiſchen den hoben Nofenftöden unb neben
ihr den, der ihr einzig Gut und? Glück au
der Melt if. — ihr Sorgenlint.
Antoinette Wagner ftarrt hilflos wor Tid
hin. „Mile giebt er dir nicht!”
„Das glaube ich felber niht. Aber —“
Zwei ſchwere Thränen rollen fiber da?
Geſicht der Matrone.
„Die unglüdlid bin ich!”
„Warſt du's nicht immer, arme Mutter?“
Er legt feinen Kopf an ihre Schulter. „Neben
einem Menſchen, den bu nicht lieb haben
konnteſt.“
Eine ganze Weile iſt's ſtill in dem Raum,
die Uhr vor der Thür holt aus und ſchlägt
dann heiſer. Die Hähne krähen unter dem
Fenſter, das Federvolk wartet auf die Haus—
frau, die ihm um dieſe Zeit das Futter
bringt.
Dann dreht fi) Antoinette Wagner herum
und ficht ihrem Sohne voll ins Geſicht.
„Lügen will ich nicht, mein Junge. Sch babe
ihn aud) mal lieb gehabt. Bon Herzen. Nicht
zuerft, da war ich ihm nur gut. Mir waren
ja aud fo zufammengebradyt. Nach meinem
Willen hatte midy Feiner gefragt. Dann
plößlic) gingen mir die Augen auf für all das,
was gut an ihm ift, und daß er fo Hug war
und hoch ftand, und er behandelte mich aud
gut. Und du kamſt auf die Welt! Sa, id
babe ihn lieb gehabt und zu ihm aufgefchen
Der Einzige. 655
und babe ihm jeden Wunſch von den Lippen
gelefen und — ad), was hätte ich nicht noch
tbun tollen und Lönnen.” Sie fdhmweigt, es
jchüttelt fie, ald ginge ein Froſt über fie hin.
„Aber, das wurde anders!”
„Mutterchen, Mutterchen, er wurde zu dem
faltherzigen Egoiften! Nicht, das war's?“
Eie nidt, und dann find fie wieder beide ftill.
Das Schreien und Krähen draußen wird
ungebuldiger; fie ſteht mechaniih auf. „Ich
muß runter!”
„Dein Junge, mein Frib,” fie bittet mit
weicher Etimme, „bedenl' dich noch.”
„Ich fürdte mid nit. Thuſt du es?“
„Warum follte ich's noch? nicht für mid).
Dich, mein Zunge, dich —” fie ftoct, fie geht
nad ber Thür und fagt von dort herüber:
„Geh' ihm menigftend nich’ glei unter bie
Augen.”
Zangfam find ihre Schritte auf dem Eſtrich⸗
boden, ſchwer auf der Inarrenden “Treppe.
Wenn er fie nur nicht hört. Aber, da ift er
fhon, er fteht in der offenen Hausthür, vor
fih hinpfeifend. Seine breite, wuchtige Geltalt
fült faft die ganze Öffnung aus, und er
achtet den Windzug nicht, der über die Diele
fommt. Die ſchwarzweißen liefen glänzen
noh von der Feuchtigkeit, fie find eben ge-
fäubert.
Der große Hund fteht neben ihm, und
feine Hand ftreicht über feinen Kopf.
Sa, die Inarrenden Etufen haben fie ver:
raten, er wendet ſich halb herum. Sie konnt's
ja wiſſen, er ift auch immer pünktlich, die Uhr
fann man nad ihm ftellen.
Ehe fie ihm guten Morgen fagen Tann mit
einem fcheuen Blid in fein Geficht, ruft er:
„Ra, mas macht das Mutterföhnden? aus:
geichlafen? will's hoffen, muß ihn Sprechen.”
„Es bat ihn angegriffen, die Hibe, die
Menfben —“ murmelt fie.
„Unfinn!”
„Sollteſt man erft rausgehen, Magner.”
„Natürlich! ich geh’ aber nich’ erjt raus!
Sch will den Herrn Cohn erſt mores lehren.
Schimpf und Schande war's, eine Undankbar-
feit fondergleihen. Geſchämt habe ich mich.”
„Ah — darım! Bor Rothe!“
„Du!”
Der Schlüffeltorb Hirrt leife an ihrem Arm.
„Lie find nid’ fo, Wagner. Die ver-
gefien jo was! Sind ja aud beide nid’
davon ber.”
„So! Er ift aber jebt der Senator Roth
und ein reiher Mann, und fie ift feine frau.
Un’ in ein paar Monaten find Wir ver:
ſchwägert.“
„Willſt du nich' wegen Fritz den Sanitätsrat
anrufen, wenn er vorbei kommt?“
Er ſtampft mit dem Fuße auf. „Die
ewige Wehleiderei! Nein!“
Die zweite Magd kommt mit dem Kaffee
über den Gang. Er wendet ſich ab und geht
in die Stube.
Frau Antoinette ſchließt die Speiſekammer
auf, entnimmt verſchiedenen auf der Erde
ſtehenden Behältern das Hühnerfutter, füllt
einen Korb und ſtößt auch die untere Hälfte
der geteilten Hofthür auf.
Gackernd kommt das Hühnervolk an⸗
geflattert, die Hälſe werden lang, die Flügel
ſchlagen. „Nur Ruhe,“ ſagt ſie und geht erſt
bis zur Mitte des Hofes, eh' ſie auszuſtreuen
beginnt. Dann ſieht fie zu. Dasfelbe Spiel
Winter und Sommer, ein paar mal am Tage.
„Ruhe! Ruhe! Geduld!”
Ihr Junge, ihr armer Junge! und fie ift
fo Hilflos. Aber pflichtgetreu blickt fie umher.
Da find die Waflernäpfe nicht gefüllt, da ift
nicht gefegt vor dem Entenftall.
„Tine! Tine!” ruft fie.
Wie das fchnattert und flattert; fie Bat
ein paar Lieblingshennen, das bunte, in der
Eonne glänzende Gefieder iſt auch Miles
Freude. Bald muß fie wieder die Gluden
fegen. Der Kleine, weiße Epit liegt drüben
und wedelt mit dem Schweif; es ift ein ganz
gewöhnlicher Schäferhund, den Frig aufgezogen
hat. Sie bat ihn darum lieber ald den großen
Zeonberger, der ihren Mann immer auf feinen
Gängen begleitet. Sa, aber Tine ift doch
fonft verläßlid. Eie ruft noch einmal.
Erft nah einer Weile fommt das andere
Mädchen.
„Wo ift Tine?”
„Die i8 ja wohl ganz narrih —“
„Wie fo?“
„De fitt in de Kammer un’ hüelt.“
„zine? bijt auch wohl narrſch. Habt ihr
euch gezanlt?“
656
„Ne!“
„Was iſt denn los?“
„Na Hus will ſe!“
„Nach Hauſe?“ Frau Wagner giebt der
Stehenden den Korb. „Die Enten kriegen
noch und dann feg' und bring friſch Water.“
„Ja, ja!“ ſagt Hanne und ſchlurft mit
langſamen Schritten nach dem Entenſtall und
ſchiebt mit Umſtändlichkeit den Riegel zurück.
Viel Fragen iſt nicht die Sache der Frau;
ſie geht nur ein wenig ſchneller als vorher.
„Morgen, Fru Holzherrn!“ ſagt der Knecht,
der mit einer Trage quer über den Hof kommt.
„Nu kümmt et aber!“
„Was denn?“
„'s Fräujohr!“
„Ja ſo! freilich. Nu kümm't!“
Neben der Mädchenſtube hinter der Küche
iſt die kleine Kammer von Tine, Hanne ſchläft
oben mit der alten Franken, die als Tagelöhnerin
einen Gnadenunterſchlupf im Hauſe hat. Auch
in der Küche hat die ordnende Hand von Tine
bereits gefehlt. Die taube Franke ſitzt auf
einem niedern Stuhl und putzt Meſſer.
„Morgen!“ An ihr vorbei geht die Haus-
frau und klinkt mit fcharfem Drud die Thür
der Mädchenſtube und dann die von Tines
Kammer auf.
Konrad Wagner hat feine große Tafle noch
nicht geleert, die Zeitungen, die ber Poftbote
ibm durd das Tenfter gereiht, auch nur
flüchtig durchblättert. Man fieht ihm die
Mipftimmung an. Als feine Frau nad) einer
Meile eintritt, giebt er feinem Stuhle einen
Nud und fagt: „Schöne Wirtfchaft! Als ob
feiner im Haufe wäre, laßt einen da allein
figen.”
Sie ftelt den Schlüffelforb mit einer
baftigen Bewegung hin und bleibt neben dem
Sofa ftehen.
„Das vergißt du doch oft genug, daß du
Frau und Kind im Haufe haft!”
Er fieht in die Höh, verzieht den Mund,
ftreicht die Zeitung glatt. „Was fällt denn
dir ein?“
„Auch ’mal die Wahrheit, Wagner!”
„Laß die Albernheiten, zu Spaß bin ich
nid aufgelegt. Dafür hat dein Söhnen
geſtern Abend geforgt.” Dann ſteht er auf,
geht nach dem Fenſter, betrachtet das Wetter:
Der Einzige.
glas, twirft einen Blid nad der Ubr und hir
zurüd an den Platz. „Er fol endlich runırı
| Tommen, ich babe mit'm zu reden.”
Die Fleine, zierliche Frau ſteht noch in der—
felben Haltung, ihr feines Geficht hat cm
fteinerne Ruhe.
„Wenn du etwa ein Etrafgericdht halten
willſt, Wagner —“
„Dadrum werde ih dich grade fragen.
Du baft'n verzärtelt, du —“
„Was ich gethan habe, iS jeßt einerlcı
Eh Fritz kommt, habe ich mit dir zu fprecben —
Er madt die geballte Hand, mit der cı
auf den Tiſch Schlagen wollte, auf und zu,
und läßt fie gelöft hängen.
In all den langen Sahren ibrer Ehe tritı
die da zum erftenmal ihm feit und fide
gegenüber. Er findet vor Erftaunen kaum
Worte, dann ruft er: „Was ich gefagt habe,
das halte ich — ihr fennt mih. Davon keit:
die Maus Fein Haar. Sch Heike Konrad
Wagner. Wenn der Junge andere Gebanten
bat, muß er fie fih aus'm Kopf fchlagen.
Beltimmt is beftimmt. Un’ nu feß dich zum
Donnerwetter bin!”
Sie jchüttelt den Kopf.
„Ich babe ganz etwas andred, Wagner —"
„Nu — denn —”
„sh will über dich und mid mit dir
Ipreben!” Und raſcher, wie fonft fallen dir
Worte von den Lippen; „barüber, daß tu
mich gekränkt haft, mit Füßen getreten, be—
banbelt haft, wie'n Haustier, das man ein:
mal bat — ich kann's nich fo ſetzen — aber
mal habe ich doc in einem von beinen ge:
lehrten Büchern was von Frauenwürde ac:
lefen —”
„Du bift wohl —”
„sb bin vernünftig, Wagner, ganz ver:
nünftig. Geheult babe ih nid’ und Wiber:
worte auch nich’ gehabt, und dein Haus verforgt
und unfer einziges Kind aufgezogen. Haft mir
nie'n Bortvurf machen können —”
„Ra, alſo —”
„Aber, was die Frauenwürde bebeutet, was
ja wohl fo viel is, wie die Achtung vor der,
mit der man mal an den Altar getreten iö
und fie zu ehren und lieb zu haben verfprocen
bat — das haft du bei mir mit Füßen ge:
treten, rein gezogen in'n Schmutz. Die Yeute
Der Einzige.
haben mich erfi ausgelacht, und dann habe ich
fie gedauert. Ich habe alles geſehen und alles
gewußt, aber ich bin hin und ber gegangen
und babe gethan, als wär' id dumm und
blind. Ich Habe ja verfprochen gehabt, dab
ich gehorfam fein wollte gegen meinen Mann!”
„Dummbeiten!” brummt er, „alte Sachen
aufrühren! ein laſſen — werben jegt alte
Leute!” aber, er fieht fie nicht an.
„Ja, wir find alt neben einander geworben,
Wagner — jeber auf feine Art. Aber, ein
älterer Mann, der an feine grauen Haare
denkt, daß er fie in Ehren hält, bift du nid’
geworben.”
„Ru hör' auf!”
„Wenn id über Tine mit dir gefprochen
habe.”
Lang gezogen „Ad fo!"
„Das junge Ding figt in feiner Kammer
und meint und will fort. Es kann da nicht
bleiben, fieht e8 ein, wo der Mann im Haufe
ihm nacftelt.”
„Ah, Dummheit. Ich hab's erſchreckt
diefe Nacht. Das is alles! Wenn man Iuftig
nad Haus kommt!”
„8 alles —“ die Stimme der Frau wird
leifer, „weil Tine an das gedacht hat, was
es in der Chriftenlehre gelernt hat.”
„Meinswegen!“ Cr verzieht den Mund
zum Pfeifen. „Wenn man mal an 'ne Kammer:
thür Hopft —. Du haft ja fo ’ne ſchöne
Nede gehalten. Du meißt doch —“
„Bas in diefem Haufe ſchon vorgegangen
is! Jal“
„Das dumme Frauenzimmer foll fi nich’
haben und machen, daß es raus fommt!” ruft
der Holzherr plöglich zomig. „Ich will's gar
nid’ mehr fehn!”
„Sollſt's auch nich” — Mann! Noch in
diefer Stunde foll bad Kind fort.”
„Alfo!” Er dreht ihr den Rüden und
will nad) feinen eitungen faſſen. Eie ift ihm
unbequem; al die Jahre her hat er feine
Heinen und großen Späße gehabt, und fie ift
an ihm vorbei gegangen und bat ihn im Uns
fihern gelafjen, ob ſie's gemerkt ober nicht.
Sein Herrenredht, das hat er geltend gemacht
in der Welt, das ift wahr und ging feinen
was an. Heute fühlt er fih zum erftenmal
befchämt; feine grauen Haare, ja! Und daß
657
er wie ein junger Burfhe Dummbeiten gemacht
bat mit dem ſchweren Wein im Kopf.
„Alſo — ſchichs weg!“
„Es is dod der Anna ihr's —“ und
wieder Ieifer, fi halb hinüber beugend, daß
ihre Lippen faft fein Ohr berühren: „Anna,
ber du 'ne Ausſteuer gegeben Haft und bie
den Walbarbeiter Feiſt freien mußte in Sonn-
burg. Die!” .
Konrad Wagner wiſcht mit der flachen
Hand über feine Stirn, eine plötzliche Hitze
überlommt ihn.
„Ich — ich — weiß nid" —
„Wirſt di ſchon erinnern, Wagner. Die
blonde, hübſche Anna! und der vertrunfene
Kerl, der's nid” fo genau nahm, wenn er nur
Geld ſah.“
Er fieht fie unſicher an, daß ihn das nichts
angeht, möchte er jagen, kann's aber nicht.
„Sie war bis dahin, wo fie leichtfinnig
wurde, — gewiß aus Dummheit, Wagner, bei
vielen von ben armen Geſchöpfen verrüdt das
ja den Kopf, wenn wer nach ihnen gudt, der'n
Herr i8 — bis dahin war fie ’ne brave und
willige Kreatur. Un’ hat's gebüßt! Grund:
elend hat fie ber verfoffene Menſch gemacht;
schauen hat er fie und hungern laſſen mit
ihren armen Würmern!”
„Hm!“ feine Hände fnittern das Papier,
er fharrt leife mit dem Fuße. Es überfonmt
ihn zornig, er möchte mit einem Fluche bie
Trage herausichreien, warum fie denn grade
die Tochter von der blonden, hübfchen Anna,
die er plöglih vor fich fieht, in fein Haus
brachte, und kann's nicht. Und als läfe fie
in feinem Herzen, fpricht fie weiter.
„Ich wollte das Kind nich’, die Tine, —
's i8 ihre Ältefte! Aber der Lehrer, ihr Vor-
mund, bat fo. Und hab's genommen und
meinte e3 gut und wollte gut machen. Ja —
Wagner!” dann finft ihre Stimme.
„Hm!“ macht er, aber es ift ein ſtöhnender
Laut.
Sie legt ihm die Hand auf die Schulter,
und fo Hein bie iſt, er zudt doch darunter
zufammen, als hätte fie Centnerſchwere.
„Kannft Gott danken, Wagner, daß bas
Mädchen nid feiner Teihtfinnigen Mutter
nachgeſchlagen is! Ich — ich habe es auch
getban —“
42
658
„grau, Frau!” murmelt er und fällt gegen
die Stuhllehne zurüd.
„Ja —“ Sie fett fih jeßt, die Hände im
Schoß, den Blid auf ihn gerichtet.
„Antoinette!” jagt er nach einer Weile.
„Weiß Gott, ich bin immer in der Be:
ziehbung — aber nich’ Schlecht, nicht ſchlecht —
das könnte einem doch —“
„Ja, ja!“
Dann ſpringt er auf und geht hin und
her. Zuweilen giebt er ſich einen Ruck. Nun
ſteht er plötzlih vor ihr. „Das is wahr,
Antoinette, du haſt viel getragen!“
Sie macht eine abwehrende Handbewegung.
„Viel, was ich gar nich' wieder gut machen
kann!“
„Ich will's vergeſſen, weil dich der liebe
Gott vor der großen Sünde bewahrt hat —“
„Nich' gut machen —“
Da faßt ſie mit beiden Händen ſeinen
Arm und umklammert ihn, und die Blutwellen
gehen und kommen in ihrem Geſicht, und ſie
iſt beinah heiſer vor Erregung.
„Doch, kannſt's auch gut machen, Konrad,
mußt's. Mach' unſern Jungen nid’ un—
glücklich —“
Sein aſchfahles Geſicht wendet ſich ihr zu,
ſeine breite Bruſt arbeitet, er hat den Schrecken
noch nicht überwunden.
„Was meinſt du?“
„Zwing' unſern Fritz nid” — ſieh, er bat
Mile lieb!“
„Was? was?“ Es wogt hinter ſeiner Stirn,
es iſt ihm rot vor den Augen.
„Mile Zehſe! Un' er will keine andre,
eh' geht er von uns, ſagt er. Un' er hat
deinen Kopf, Konrad, das habe ich heute zum
erſtenmal gemerkt.“
Er antwortet gar nichts, feſt die Lippen
aufeinander gedrückt ſitzt er da.
„Geh raus, Wagner, geh’ in’ Wald. Da
denfe nad); das thut dir immer gut.”
Er jagt nichts, aber er fteht gehorfam auf,
fucht feine Müte, ruft den Hund und verläßt
das Haus. Als fein Echritt verflungen iſt,
faltet Antoinette Wagner ftill die Hände,
dann gebt fie hinaus und. gudt über bie
Hinterthür.
„Kriſchan, Spann’ och nen Wagen an.”
„Ja, Fru Holzherrn!“
Der Einzige.
„Aber, up de Stelle!
hintere Porten!“
„Ja, Fru Holzherrn!“
Als er vorgefahren iſt, kommt die mu:
mit Tine über den Hof.
„Nu fahr uns man nah de Iſenbabn.
Kriſchan!“
„Ja, Fru Holzherrn!“
Als Frau und Magd nebeneinander
ſitzen, ſagt die erſte: „Bleib man fo ba,
Tine, immer reblid und Gott por Augen,
und fieh zu, daß bu in feine Sünde willigit,
wie’3 in der heilgen Schrift beißt.”
„Ad, Frau Holzherrn!“
„Sa, mein Tochter. Und folft nu nad
Göttingen fahren und bei meine alten Yeut
rummen bleiben, bis du'n ordentlichen Tienit
baft. Un denkſt immer, baß ich Deine aut
Freundin bin und daß du did) an mich wenden
kannſt!“
„Ach, Frau Holzherrn, das thun Sie bed
gewiß man alles, weil meine Mutter Sie fi
treu gedient hat?“
„Sa, um die Mutter, da tbu ich ed ja
wohl, mein Dochter.“
* *
*
Un’ Bol’ vor de
Frit kommt herunter, fein Schritt ift jejter,
feine Mienen find entfchloffen, er fieht um
Jahre älter aus. Er findet das Wohnzimmer
leer. Hanne räumt zwifchen den Kaffeetaſſen
umber,
„Ad, jung Serr, dat is ja nu all wohl
kolt!“ jagt fie und feßt jetzt erft die Kaffee:
müte über die Kanne.
„Is gut!“
Er trinkt einen Schluck und ſchiebt Das
Brot zurüd. Er bat feinen Appetit.
„sa fo, de Eier forn jungen Herm!“
meint Hanne, der die Handreihungen für Die
Herrſchaft ungewohnt find.
„ein, nein!”
„Die Frau Holzherrn bat es mid noch
eigend gefagt, ih ſollt' fe nich vergeflen,
mo fie twegfubren, un bin nu doch drüber bin
gekommen!“ Und Hannes faltiges, gelbes
Geſicht grinft.
„Wegfuhr?“
„Mit die Tine, jung Herr! In' openen
Kutſchwagen. Ne, da ſatt ſei drin, als ob
Der Einzige.
fe rin gehörte. Nämlich —“ fie ftedt beide
Hände unter bie blaue Schürze und biegt ſich
vor. „Tine is narrſch worden över Nacht.
Un be ol Franlen meint, de Fru brögt fe
in’t Irrenhus!”
Seine Mutter fortgefabren, ohne ihm davon
zu fagen? Er fehüttelt den Kopf, er verftcht
es nicht.
„In' Kutſchwagen mit de Fru Holzherrn!“
wundert Hanne weiter. „Wat blot de Lüt
feggen, jung Herr! de Lüt blot!“
Sie padt das Geſchirr ein wenig wadelig
zufammen, macht ein paar Schritte nad ber
Thür und bleibt dort ftehen.
„Die Fru Muttern is zu gut, rein zu gut!
So 'ne narr'ſche Cretur in'n Kutſchwagen!“
„Wo iſt denn mein Vater?”
nDe is ja wohl in’ Wald gahn.”
Tat, takt! ſchlägt's ans Fenſier, das ift
des Eanitätsrats Stod.
Fritz ſpringt hin.
„Morgen! ih, da ſind wir ja! Un' ſiehſt
doch ganz gut aus, mein Sohn! Drüben
vor der Sägemühle hat mir die Schwaffin,
die holde, aufgelauert und ganz geheimnisvoll
zugeflüſtert, ich möchte nach dir ſehn. En'
Anfall!” Er ſchüttelt den Kopf. „Ne, wart’
mal, id fomm rein!“
Als er im Zimmer fteht, und Frig ihm
den grauen Hut abnimmt, fagt er: „Siehft
aber gar nit aus — ich meine, fo was
Forſches haft du überhaupt noch nicht gehabt!”
„Ja, Herr Sanitätsrat, es kann ſchon
ſein. Ich habe nämlich gefunden, über Nacht,
daß ich alt genug bin, auch meinen Willen
zu haben!“
„Sieh einer mal an!“
Fritz wird bald rot, bald bla.
„Nämlich, die Schwaff wird denn auch
fhon —“
„Hat fie, mein Junge!”
„Ich thu's nicht, Herr Sanitäterat, ich
lann's nicht.”
„Sieh mal an!” Und dann tippt er mit
dem Zeigefinger gegen bie Herzgrube bes
jungen Menfhen. „Wer ift denn die andre?
denn fonft —“
„Ih babe Mile Zehſe Tieb, fehr lieb,
Herr Eanitätsrat,” fagt er und hat babei
feinen treuberzigen Augenauffchlag.
659
„Ale Achtung, mein Junge,“ und der
alte, vornehme Herr hat ein mohlgefäliges
Schmunzeln. „Sa, wenn ich die Wahl hätte,
die wär’ mir auch lieber als Heine, hubſche
Frau, ald der Gelbfad da brüben!”
Fritz hat al feine Schüchternheit abgelegt.
„Emmy Roth! nie, nie!“
Der Arzt zudt die Achſeln. „Ja, mein
Cohn, dein Vater ift aber der Holzherr
Wagner mit dem fehr diden Kopf.”
„Herr Sanitätsrat, jet habe ich meinen
Willen aud gefunden!”
„Na, denn man zu! Verſchreiben brauch’
ich dir da nichts. Wenn’? nur nicht hinter:
ber fommt, mein Sohn. Mit deinem Vater
ſchwatze ih gern, denn er ift ein felten kluger
und für feinen Stand gebilveter Mann! Aber,
mic mit ihm auseinanderfegen über mas —
ne, ber fann faugrob werben, und dann kennt
er fih nit! Ja, dad mußt du nun wiſſen!“
Fri begleitet den Gehenden bis über die
Schwelle.
„Schon' dich aud noch, men Junge!
Nicht erhigen, nicht erfälten. Daß du ba
geftem ohnmädtig geworden bift — fon’
did, denn deine Kraft braucht du für bein
Vornehmen. Die Mile, fieh mal! baft du
denn, du Schwerenöter, auch fehon 'n Ruß
von ihr weg?”
„Herr Sanitätsrat, fie weiß es doch noch
gar nit!”
„Eo! fo!” Und er hebt feine behandſchuhte
Rechte. „Na, denn will ich's ihr auch nicht
verraten, was? Alfo die Mile — und
wenn's gut gebt, figt fie mal auf Eichberg.
Was id) ihr gönne! Guten Morgen, mein
Sohn!”
Er geht mit feinen feften Schritten und
feiner tadellofen Haltung.
Fritz wandert durch das Haus; es ift fo
leer ohne die Mutter. Kanne fehreit in ber
Küche auf die taube Franken ein. Er mag
jest nichts von Buchern willen. Über den
Hof in den Garten. Da ift nun alles bunt
von Frühlingsblumen, Vögel huſchen flatternd
auf. Er gebt bis zu der Heinen Hinterpforte.
Auf dem Wege vor berfelben liegen Baum:
ftämme. Ein Menſch hodt darauf.
„Morgen!“ kommt es dumpf zu ihm in
die Höhe.
42*
660
„Morgen! Na, Krade, guden Sie fpazieren?”
„Kann fich unfereiner ja auch mal leiften!”
fagt der Sigarrenarbeiter. „Ich babe Teine
Beichäftigung mehr. Bin’n freier Menſche!“
„Was heißt denn das?“
„Rausgeſchmiſſen!“
„Ih doch!“
Kracke macht eine Fauſt. „Zu doll bin
ich die! zu wild! wollten keinen Raufbold in
die Fabricke! Nämlich — Angeberei!“
„Angeberei?“
Der Menſch ſteht auf und ſchüttelt wieder
die Fauſt. „Bei dem Holzherrn ſteh' ich doch
lange nich' gut. Aber nu — da is der
fremde Oberförſter, der Kandidate, der uns
drüben beim Langfaſt mal auseinandergeriſſen,
den wilden Mann, Schierkopp und mich —
Meſſer hatten wir ja — is wahr. Was
ging's den an? Der hat'n Angeber gemacht
in der Kneipe beim Herrn Grotefend, der jetzt die
Fabrik hat. Un' nu krieg' wegen mein' Leumund
gar keine Arbeit mehr! Un' nu ſitz ich hier
und guck aus!“ Er grinſt. „Un' laure! Denn
wenn ich'n mal erwiſche, den Grünrock, mal
alleine — Jetzt is er auch oben, bei die
Herzogslaube!“
„Kracke, das werden Sie doch nicht!
machen ſich ja unglücklich.“
„Is meine Sache! Wenn er mal alleine
is und gut zu faſſen, ſehn Sie, denn —“
Er- macht eine ſtoßende Bewegung. „Wie
du mich, ſo ich dich! So weit bin ich nu
nachgerade.“ Er wirft den Kopf mit einer
wilden Bewegung zurück. „So weit haben
mir die ſchlechten Menſchen! So weit!“
„Sie haben wieder getrunken, Kracke!“ ſagt
Fritz Wagner.
„Habe ich auch. Leugne ich gar nich! 's
is Einzige, 's Einzige.“
Er hebt das verzerrte Geſicht zu dem hinter
dem Zaun auf.
„Neulich hätt’ ich'n kriegen können. Ganz
dichte bei war ich. Aber da war die lüttge
Mamſell dabei, mit die er ſich da trifft — ne,
die wollt' ich den Schreck nich' anthun. Die
ſagt immerſt fo freundlich gun Dag. Un’
jetzt ſind ſie wieder oben in die Laube. Er
is über'n Heidufer hin und fie von die Papier:
müble aus.”
„Was für ne Mamjell?“
Sie
Der Einzige.
„Die Steuerinſpekterſche ihr Mädchen mit
die krauſen Haare!“
„Nein! nein!“
Daß Fritz ſein Geſicht weiß wird, wie die
Blüten des Baumes über ihm, ſieht Krade
nicht. Er lacht hell auf.
„Die Steuerinſpekter'ſche geht einem immer
in’ Bogen aus 'm Wege. Die Olle! Aber
ihr Mädchen, das is niedlid. Un’ das ba:
der Grünrod auch gemerkt!“
„Ihr irrt euch wohl, Kracke!“
„Ich — ne! Is nich!“ Er ſteht taumelnd
auf, faßt nach ſeiner Mütze, die ihm entfallen,
und lallt: „die oder ne andre! Is mich auch
egal. Er ſoll ſich in acht nehmen, ſoll ſich —“
dann taumelt er am Zaun entlang ber Heden:
ftraße zu.
Fritz wiſcht über feine Stim. Was dur
Menſch fagt, der Trunfenbold! Wie fann er
nur einen Augenblid das glauben?! Der bälı
ja den Himmel für einen Dubelfad! ‘Der hat
ja jhon das Delirium.
Mile fol den Oberförfterfanbibaten heimlich
am Herzogenbufch treffen? Er müßte eigent:
lich lachen.
Langſam zieht er den Riegel von der Prorte
und tritt hinaus, die Thür anlehnend. Cr
fiehbt nad) der Höhe. Wie lange ift er nidt
dort geweſen, wo man fol ſchöne Ausfıct
hat weit in die Ebene und auf die Bergfuppen.
Und wie es da ſchon zu feinen Füßen fprießt.
Er geht etwas weiter. Wie oft haben foldıe
Bauhölger zu feinen milden Knabenfpielen
gedient.
Mile — träfe ih? Unfinn! Der verlogene
Trunfenbold! Daß er ihm auch nur zu:
gehört hat!
Und meiter, bi zum Damm! Er muß
doch ſehn, ob der Fluß jebt viel Waſſer bat.
Die Luft ift würzig, Scharf, windig iſt's aud.
Ceine Haare fliegen. Er hat feine Mütze zu
Haufe gelafien, heut denkt er nidt an bie
alten Gemwohnbeiten. Bah, er wirb bald
ihlimmerem zu trogen haben, feinem Water
und feinem Willen.
Meiter über die Brüde, die fehr ſchwach
aus ſchwankenden Brettern zufammengefügt
it. Was man bier auch aufridhtet, um die
Verbindung mit dem andern Ufer berzuftellen,
das Hochwaſſer vernichtet alles. Und für einen
DE "W m
Der Einzige. 661
foliden, feften Bau ift bie Gemeinde nicht zu
gewinnen. So bleibt es immer ?lidtwerk.
Die Höhe hinan! Er muß oft ftehn bleiben.
Der Atem fehlt ihm, er feucht. Aber, fo gar
nicht mehr weit vom Ziel. Nun möcht er
doch hin. Mile follte? Wieder drängt ſich
ihm das Wort Unfinn auf. Ja, warum geht
er denn eigentlich hier Ihr nachſpuren? Be:
wahre, das wäre eine Beleidigung, die er nicht
einmal in feinen Gedanken begehen möchte.
Es ift, weil er ſolche Unrube in fi) fpürt, das
Haus fo unheimlich Teer jand. Er hatte gleich
mit dem frifchen Entſchluß vor feinen Vater
treten wollen. Nun gährt es in ihm. Es
ift häßlich zu warten. Schwer, ſchwer wird's
zu ſteigen. Aber er will! Er iſt jetzt auf dem
Wege, ſich in allem durchzuſetzen, mit ſeinem
Willen, mit feiner Kraft. Sie ſollen ihn nicht
mehr bemitleiden und ausſpotten.
Oben! Keuchend blidt er hinab. Da liegt
das Vaterhaus, ba ift der Fluß, die Ebene
und das Schloß. Herzogsbuſch heißt ber ſchöne
Wald, in dem eine uralte Laube mit einem
Steintiſch und einer Bank darin fteht, ſchon
länger als hundert Jahre all. Sonntags
wandern die Blumerober hinauf. Manch
heimlich Liebespaar fol fi dort treffen.
Mile follte? Nein, nein! Noch hundert
Schritt ind Gebüſch hinein, dann kann er
ſehen, daß er fi hat narren lafien von dem
elenden Trunfenbold.
Nein, nicht darum geht er jetzt weiter auf
dem ſchmalen Pfad, über dem die Tannen-
zweige zufammenfchlagen. Wenn zwei bier
durch wollen, fo müfjen fie fi) eng aneinander
preflen.
Da ift ein geſchütztes Plägchen zum Aus-
ruhen, benn bier fegt der ſcharfe Wind gar
zu unbehaglic.
Wenn zwei hier zufammengehn! Er
lächelt. Wenn erft — — ja, dann muß er
mit Mile bier hinauf, juft an biefen Plab.
Die füß wird das fein. Er fann jeßt fteigen,
feine Kraftprobe hat er gemadt. Daß fein
Herz Hopft, ganz wild, das ift nicht Schwäche,
nicht Überanftrengung, das ift felige Freude.
Der Platz ift leer. Er ſetzt fih auf bie
Steinbant, daß fein feuchender Atem ſich legen
fol. Ein wenig ruhn. So ſtill alles bier.
So himmlifh ruhig und verjhwiegen! Und
er faltet die Hände in einander. Hier kann
man fi wohl glüdlih fühlen. Und es über:
Tommt ihn eine fo felige Vorahnung.
Vogelgezwitſcher, ein ganz leifes Kniſtern,
ihm ift, als vernchme er das Schwellen und
Springen der Anofpen. Lange figt er fo.
Wirklich wohl zu lange, denn ein Froftgefühl
überlommt ihn nun doch. Er wird Hug thun,
nun enblid) wieder hinunter zu gehn. Mit
müben Füßen, ſchwerfälliger als empor, er
empfindet doch die große, plögliche Anftrengung.
Ob ihn häßliche Gedanken gequält hätten,
wenn er nicht hinauf gegangen wäre? Aber
Kraden muß er das häßlihe Lügenmaul
ftopfen. Der fol ihm 'nur in den Weg
fommen!
Am ſchwankenden Brüdengeländer muß er
fih ein paar mal halten. Schwindel? Nicht
doch — das kann's nicht fein. Soll's nicht.
Das hat er ja früher gar nicht gelannt.
Jenſeits des Stegs ſitzt der Cigarren:
arbeiter und ſchlägt mit zwei Steinen gegen-
einander, die Beine weit von ſich geftredt, das
ftruppige Haar fteht um den Kopf.
„Mufit! Muſik!“ lallt er vor fih hin.
Krade!“ fagt der junge, ſchwächliche
Menſch, „was ihr da vorhin gefafelt Habt —
Krade, ihr habt doch elend gelogen!”
„Muſid! Muflt! Un’ wenn er vorbei
lommt, kriegt er 'n Stein an 'n Kopf, ber
elende Maldläufer der!”
„Nehmt euch nur felber in acht, Krade!
Wenn ihr aber noch mal den Namen von dem
Fräulein in euer Maul bringt —“
„Bas? was hab’ ich?“
Frig ſchüttelt feine ſchmächtige Fauft —
feine Augen bligen.
„Was habe ich geſagt?“ Der Betrunfene
lacht. „So, ach, die Lütt! Na, denn is es
’ne andere geweſen. Is mich doch ganz egal,
mas für eine. Frauenzimmern bhu ich nichts.
Aber — der Grünſpecht. Der! der!”
Fritz wendet fih ab. Bon ſolch tierifch
blödem Geſchöpf hat er fi} narren lafien.
Sein Bachſtelzchen! fein Bachſtelzchen! Er
zieht die Pforte auf und fommt über ben
Strich Wiefenland in die buchsumſäumten
Gartenwege. Bachſtelzchen! Bachſtelzchen! fingt
und klingt es in ihm, und er hat gar feine Furcht,
mehr vor dem Vater, vor dem Kommenden, vor
662
dem, was ſich jet erweiſen fol. Wenn er
jtill fteht, Tann er das Geräuſch aus der Säge:
mübhle hören. Er lächelt. Der gejtrige Abend
liegt fo weit ab von ihm.
„Aber Fritz, Junge, fag bloß, two biſt du
geivefen?” Seine Mutter ift drüben am Hof-
thor und fchlägt die Hände zufammen.
„Allerwegen babe ich dich geſucht. Un’
ohne Mübe! Dreimal bin ich bis an bie
Hintergafje getvefen. Un’ Vater bat ſchon
zweimal gefragt.”
Er lächelt, er hält fich gerade, daß fie feine
Mattigfeit nicht bemerft.
„Spazieren, Mutter! Warft ja aud aus:
gefahren.”
„ah — das!” Gie vermeidet, ihn an
zufehen.
„und Bater habe ich auch vergebens ge-
ſucht.“
„Der is doch im Holze geweſen.“
Sie ſchiebt ihren Arm unter den ſeinen.
„Ausreißer, du!“
Ihre Fröhlichkeit, die ſo ungewohnt iſt,
fallt ihm auf. Sie hat ihn heute Morgen
gebrüdt, angſtvoll verlaflen.
„Hat dir die Fahrt gut gethan? Hanne
- fafelte allerlei — Tine —”
„Ad, Hanne! Tine hat nad) Verwandten
gemußt — Bater! ja zweimal hat er nad
dir gefragt.”
Fritz Steht einen Augenblick ftil. „Ich
hätt's jet fchon gelagt, wenn er da geweſen
wäre.”
Da zieht Frau Antoinette feinen Arm
ganz feit an fi und mit einem Flüſtern
fommt’3:
„Sr is gut, weihmütig — ich glaube,
mein Junge, du triffft auf eine gute Stunde.
Geh man, geh.”
„Halt du, Mutter?”
„rag nich'! Geh, mein unge!”
Wie er nun Über den Hof geht, mit der
Hand die Haare aus der Stirn ftreichend, von
der Anftrengung die Züge gerötet, ſteht fie
unbeiveglid) in dem Eonnenfcdein, der fidh
jegt über alles gelegt bat, in der Mittags:
ftunde. Er blendet fie nicht einmal.
„Herr, mein Gott, mein Gott!” fagen ihre
Lippen, ein Notruf ift’3 und eine Dankpreifung
zugleich.
Der Einzige.
Kann e3 denn überhaupt noch voller Sonnen
ichein in ihrem Leben werben?
Das gefättigte Federvieh kauert m hr
warmen Strahl, ab und an wird ein gurrendi
Laut hörbar, der Hund leckt ferne Pioten.
eine graue, große Kate ſieht mit Den lauernder
grünen Augen hinauf nah der Dachrinne,
wo fih ein paar Vögel niebergelaffen haben
Kriſchan pfeift drüben im Pferdeftall eine at
gebrochene Melodie, er fann nur den Anfuns,
dann mißrät ed. Dom Nahbarbofe beruk:
ein FZlingender Laut, das Schärfen einc
Schneidegeräts.
„Er iſt mein Gott, der in der Not —“
ja, der fchöne Vers aus dem alten Kirchen—
lied. Sie nidt vor ſich bin.
Ihr Leben ift ein verfehltes gemefen, ic
hat’3 immer gewußt; aber jet will ſie's nid:
mehr glauben, um ben Jungen nicht. Wenn
e3 für den bel wird, dann ſoll's mit dem
bißchen Glück, das fie nicht hat kennen lemen,
erfauft fein.
Sie ftelt eine Holzmulde, die umgefallen
ift, aufrecht, fieht nach den Fenſtern der Hinter:
zimmer empor. Sa, die müffen auch wohl
wieder gepußt werden. Eo in der Eon,
ba fieht man das. Tines Fortgehen mad
ihr einen Etrih durch die große Wäſce
Aber Hände, die fie erjegen, finden fich aud.
Der Botenriefe ihre Tochter wartet ſchon lanac
auf einen Dienft bei ihr. Eie ift fehr häßlich
und zigeunergelb. „Tater“ nennen fie bir
Nachbarn. Bor Tine bat fie lange Zeit
feine hübfche Magd ins Haus gebracht. „Führe
uns nicht in Verſuchung.“ Sie hätte das
auch bevenfen follen. Und wie ihr eben cin
Gedanke des Vorwurfs in die Seele Fommen
will, hört fie Fritens rufende Stimme. Eine
ihrile Empfindung, ein Durchrieſeln des
Körpers von oben nad) unten, fie meint, ibn
Füße merden plöglih ſchwer, wollen nid:
von den WBlafterfteinen weg, auf benen fie
ſtehen.
Bedeutet es etwas Gutes?
„Mein Herr und Gott!“
„Mutter, Mutter!“
Da beugt er ſich über die Hinterthür, ibr
Fritz, ihr alles, und ſie hat ihn noch nie ſo
hübſch geſehen, eiwas, wie Verklärung, — ſie
kann's nicht ausdrücken. Aber fie läuft, läuft —
Der Einzige.
und dann fällt fie ihm um den Hals — und
darauf weint fie bellauf.
„Dh! ja, er war meichmütig und alles
fol gut werden. Und Krifhan fol ihm den
„Poladen” fatteln, er will raus. Laß — daß
er nicht warten muß.”
Er eilt über den Hof, fie bleibt an ben
Pfoſten gelehnt, und die Thränen ftrömen ihr
unaufhaltfam über das Gefiht. Waren das
Minuten! .
.
„Nein, Mutter, id bin doch jetzt geſund
und fräftig. Das muß nun aufhören. Schaff
mir man. die Dinger aus den Augen!” hat
Fritz gefagt, als fie ihm nach Tiſch Kiffen und
Deden bringen will. Sie haben allein ge:
gefien und jetzt aud ben Kaffee getrunten.
Der Hausherr ift noch nicht von feinem Ritt
zurüd gelommen. Und Fri hat bis jegt nichts
erzählt. Die Mutter hatte kaum Zeit zu ſitzen,
Leute haben zu fragen gehabt, auch die Schwaff
ift herangehuſcht und hat mit Iauernden Augen
umber gegudt.
„Nur nach dem Befinden erfundigen, meine
liebe Frau Holzderrn!”
„Wir find alle munter, ganz munter!”
ie hat in ihrer Taſſe gerührt.
„Ein netter Abend war's. Geben fi) fo
viel Mühe, die Rothe. Emmy ift wirklich ein
prächtiges Mädchen!“
da, ja!“
„Nein, Herr Fritz, wie Sie da fo bla
wurden!“
„Jetzt ſieht er anders aus,” hat die Mutter
entgegnet.
„War ſchon wer von drüben da?“
„Nein!“
„Nein, wundert mid) aber — fehr fogar.“
„om!“
„Doch nicht 'n bifchen beleidigt?”
Keine Antwort, Frau Antoinette hat plötzlich
über das Wetter gefprochen.
„Nämlich, liebe Frau Holzherrn, ich habe
noch gar nichts erzählt, trotzdem es ber aus:
drüdliche Wunſch ihres Mannes war. Aber
Sie — Sie wollten es doch nicht gern. Und
Frauen müfjen zufammenhalten.”
„Das is vernünftig von Ihnen geweſen.“
Mit etwas enttäufchter Miene ift das alte
Fräulein gegangen.
„Nu is fie fo Hug, mie vorher,” meint
Frau Wagner und ſetzt fi) ihrem ohne
gegenüber, der den Ellbogen auf die Fenſter⸗
banf geftügt hat und in ben beginnenden
Abend hinausſieht.
Wenn er nad Binsfelde is, dann fommt
er nicht vor finfender Nacht nach Haufe.”
„Er ift lange nicht fo weit geritten!”
Weil er was los werden will, aus feinen
Gedanten — dann hat’3 das Tier unter ihm
nid’ gut. Ad, einmal! Wir waren jung
verheiratet, hatte er einen Streit mit meinem
Vater. Da ritt er auch weg; über Gräben
und Heden is das man fo gegangen. Und
das Pferd hatt? ihm abgeworfen. Wie er
nad Haufe kam, hat er's an bie Rüfter ges
bunden und immer mit der Peitfche gehauen.
Nich' anfehn konnt’ ich's. So mild is er nicht
mehr!“ feßt fie mit einem Eeufzer hinzu.
„Und — nu ſag's auch, Fritz.“
„Es war fo ganz anders, Mutter. Ich
brauchte gar feinen Mut. Er fah mid an,
du kennſt ja den Blid, ala ich hereinfam und
fagte: ‚Die Reihe war nad meinem Sinn!
Du wilft deinem Pater nich’ folgen. Das
i8 dumm und unpraltifh. Meinft du, daß
du ohne die andre nicht leben kannſt ?°“
‚Schr unglüdlih würde ih, Vater —
und eine andere, wie Mile, heirate ich nicht,‘
babe ich geantwortet. Dann kam wieder fo
ein befondere® Anguden und er ftampfte mit
dem Zuß auf. ‚Meinstvegen denn!“ Aber,
tie ich mic) bedanken wollte, ſchüttelte er ben
Kopf und nahın meine Hand nicht. ‚Das
mad’ mit der Mutter ab. Und Krifchan foll
den Poladen fatteln.‘”
Sie zieht feine Hand in bie ihre.
„Dos i8 ja nu einerlei! Ex hat's gefagt.”
„Wie ih ſchon die Thür in ber Hand
hatte, rief er mir nad: Nachbar Roth thut
mir leid. Du kannſt dir morgen deinen guten
Rod anziehn und zu der Inſpeltorin gehn.”
„Siehft du! Und das thuft du!”
„Ad, Mutter, Mutter!” Es ift ein
Qubelruf des Glüds. Und dann fagt er:
„Was ihn nur fo umgeftimmt hat —“ “
„Is doch einerleit”
Sie faßt nad) einer Schere, die nicht auf
ihrem Platz liegt und wirſt dabei einen Blid
aus dem Fenfter.
664
„Da kommt ja Mile!”
„Ach —“
Die Glocke der Hausthür klingelt bereits.
„Nu, mein Junge, braucht es nich' erſt
Nacht zu werden, nu —“ und ſie geht hinaus,
und er hört ihre weiche Stimme das Mädchen
begrüßen. „Fritz iſt drin. Ich komme auch
gleich wieder. Geht's Mutter gut? Is recht,
mein Töchterchen. Leg man ab. Weißt doch
Beſcheid, biſt zu Hauſe.“ Und dann büpft fie
über die Schwelle, ſein Bachſtelzchen. „Na,
mein Herr! Wie geht's uns?“ Sie ſieht hübſch
aus in dem blauen Kleide, mit dem keck auf:
geſetzten Bubenhut, den leuchtenden Augen,
dem frifchen Rot und dem lachenden Mund über
den bligenden Zähnen. „Wovon träumen
wir denn, mein Herr?”
Er umfaßt ihre Heine Hand.
„Wenn du das mwüßtelt, Mile!‘
Sie fchnellt den Hut und den Fragen mit
einem Wurf auf einen Stuhl und ſinkt auf
den von der Hausfrau verlafienen Platz.
„Ach, das Leben ift ſchwer!“ ſeufzt fie.
„Das ſagſt du, Mile?“
„Ra, das Fann jeder jagen; ift doch nur
ne Redensart, nich” wahr. Denn eigentlich
ift es doch ſchön, fehr ſchön!“ Und ein glüd-
ftrahlender Ausdruck liegt auf ihrem lieblichen
Geſicht, der fie noch hübfcher madt. „Ach,
mein lieber, alter Fritz, du, du alter Stuben-
hoder! Wenn ich’3 dir doc) bloß jagen könnte,
wie ſchön!“
„Was meinft du denn?‘ beugt er fich vor.
Lichtfunken ſcheinen aus ihren luftigen
Augen zu fpringen.
„Die Welt, die Menfchen, — ad, e3 giebt
doch gute, prächtige, liebe Menfchen. Und der
Frühling! Es ift fo herrlich jegt —“
Ernidt. „Sch weiß es! ich habe heute einen
langen Spaziergang gemadt. Auf die Höhe!”
Uber fie bewundert ihn gar nicht, wie er
doch erwartet bat. Ihre unrubigen Finger
ipielen mit den wertloſen Ringen, die fie trägt.
„Nicht wahr, der Wald! ch möchte jett
den ganzen Tag drin fein! Ad, auf den
Ihönen Wegen!”
Er nidt wieder. Wenn fie wüßte, wo er
an das Bachſtelzchen gedacht bat und tie.
Unter den nidenden Zeigen, mo fie eng, ganz
eng und verfchlungen gehen müjlen!
Der Einzige.
„Weißt du Schon, Mile, daß ter \.:
Eichberg gelauft hat und daß ich's kriegen \v.
Bewirtichaften!”
Sie nidt jetzt auch. „Das erzählt ſich is -
der ganze Ort.”
„Hübſch, nicht wahr?“
„sein!“ ſagt fie.
„Du baft das Landleben — ich meine, Tu.
und Feld und die Tiere doch auch gem!
„Ib möchte —” fie wird rot und ſcla:
ein wenig — „ich könnte meinetiwegen ga
im Walde leben.”
„So! ſiehſt du wohl.”
„Denn man glüdlih iſt?“ Eie wird ger.
eifrig. „Was hat man in ſolchem Neſt, 1.
unfer Blumerode.
fie Hatfchen doch fo viel.
wohnt —”
„Doch mit einem Menschen, den man cn
hat”, wirft er ein, denn jeßt ift feine I
fangenbheit fort.
„Natürlich, das meine ich ja. Wie jeix
ih —“ Sie ftodt wieder. „Ein Frauenzimmer
fann doch nicht allein irgendwo haufen.“
„Nein, nein!” Und dann laden ſie bei:
ſehr fröhlich.
Sie fpringt plötzlich auf, breitet die Ame
von ſich und fagt: „Sch möchte tanzen.”
„Iſt doch fein Winter, Teine Ballzeit mehr!“
„Einerlei! mit jemandem, den ich gem babr.
Er darf nicht tanzen — ob fie das ver:
gellen hat?
„Tanzen, tanzen, ach wie jo ſchön!
Wil das Fräulein tangen gehn?
Sag mit wem, du böfer Wicht?
Nein, ah nein, bag fag ich nicht!”
Und dann hebt fie die Finger und preis
fie iveit voneinander.
„Das habe ich früher meiner Puppe ver-
gefungen, und jeßt mir jelber!” Sie ladt
übermütig. Ihre großen Augen ſchimmern,
al die Fleinen, krauſen Locken fcheinen zu
tanzen.
Das Gefiht an die Scheiben preſſend,
blikt fie nach der Linde, und dann wendet
fie fh um. „Was giebt's denn Neues in
ber Welt. Erzähl’ mal!”
Er tritt hinter fie und richtet bie Blide
auch nah der Gegend, wohin ihr Köpfchen
jih dreht.
Kenn man alıı
Ich hab's ja lieb, akır.
Der Einzige.
„Das Alerneufte; fieh doch, drüben bei
der Schulzeſchen ihrem Haufe geht der Herr
Forftlandidat mit der Flinte und feinem Hunde.”
„Ach du! das feh ich doch felber!” Cie
preßt das Geſicht nod einmal an das Glas.
„Dumme Wie! Wenn du fonft nichts weißt!
Warum madft du die eigentlich 3“
Er lacht. „Ein prahtvoller Hund!”
„Treff heißt er.”
So!"
„Er ift — er fol fo gut abgerichtet fein,
fagen die Leute!”
„Siehſt du, nun erzählft du mir ja etwas
Neues.“
„Ah, was man fo hört! Die Blumerober
befümmern fih doch um alles!” fpricht fie
ſchnell.
„Freilich, um viel mehr, als ſie nötig
haben.“
„Du, was ſoll das? Was willſt du damit
fagen ?
Und mit einer blitzſchnellen Wendung dreht
ſie ſich um und ſieht ihm ins Geſicht. Und
alles lacht in dem ihrigen, fie iſt ſo lieblich.
Jetzt droht fie ihm. Ihre Nähe, er kann
ihren Atem fpüren, macht ihn ganz trunken
vor Glüd. Er fängt die Hand.
„Zah mal!”
„Ad, du!“
Ein ganz Meines Ringen.
„Ich bin ftärker!” will fie fagen, ftodt
aber dann. „Nein, du —“
Ja, er giebt die Meine Hand nicht frei,
er hält fie ganz feſt.
„Mile — dadrauf, auf den Finger fommt
gewiß bald ein Verlobungsring!”
Sie erglüht. „Was du nicht ſchwatzſt!“
„Ich — weiß es!“
„Woher denn?”
„Wärſt damit zufrieden?”
„Wie werd' ich das denn ſagen, du neu—
gieriger Burſch du!“
Und dann biegt ſie das weiße Hälschen
zurück und atmet haſtig, wie angeſtrengt.
„So biſt du doch ſonſt nicht geweſen, ich
meine, daß du fo nedft!”
n Was fi nedt —“
Darauf hört fie nit. „Gud bloß, ber
Treff kommt noch mal zurüd, als wenn er
ſucht. Was wohl?“
665
Ad, laß doch — ber ift auf einer Fährte!
Sag mir lieber von wegen dem Ring — fehr
Hein muß er fein, fo ein Fingerchen, fo ein
Nichts! Laß, ih muß —“
„Nichts mußt du!” und fie will fid
vergebens wieder frei machen.
Da geht fein Atem fchneller, fein Sprechen
wird ein Flüftern. „Mile — Eichberg! du
folft mit hinausfommen und ih, Mile, ih geb
morgen zu deiner Mutter und frage fie. Und
dann, fol id dir dann den Ring bringen?”
„Fritz!“ halblaut, aber mit dem Tone bes
Schreckens ruft fie es.
Das hört er nicht. „Mile, ich habe bi)
immer ſchon fo lieb gehabt, lang ſchon, wie
du noch ein Kind geivefen bift. Unb heute ift
es zur Sprache gelommen! Sieh, ich wäre fort
gegangen von Vater und Mutter — aber, er
bat feine Eintvilligung gegeben. Vorhin. Und
nun, Mile —“
„Laß, laß doch!“ Und wie er fie ber:
mundert, erftaunt freiläßt, weicht fie zurüd.
Ganz weiß ift ihr Gefiht, und ihre Augen
haben einen erfcpredten Ausbrud.
„Brig! Es geht nicht, Tann nicht fein — es
geht nit.“ Und dann beginnt fie leife auf⸗
zuweinen.
„Geht nicht?“ ſpricht er nach und taſtet
nach der Stuhllehne, um ſich daran zu halten.
„Mile — ich habe doch denlen müſſen, daß
du mir gut biſt. Wie wir miteinander geweſen
find —“
„Bin dir ja auch gut, wirklih. Ganz ge:
wiß!“ beteuert fie. „Aber ſieh mal — an
Heiraten, daran habe ich doch nicht denken
fönnen. Du warft immer frank und im Zimmer
und fieh, ih — ac, wie konnt' ich das denken!”
Und fie verzieht vorwurfsvoll den Heinen Mund.
„So thu's jegt — nur Gernhaben gehört
dazu — und bag —“
Sie ſchüttelt den. Kopf. „So nicht, Fritz,
fo nicht. Ich mweiß beftimmt, es geht nicht.
Kann nicht fein!”
„Kann nicht fein? Weil?"
ie wiſcht mit der Hand über die Ede des
Tiſches.
„Weil ih! Ad, Fritz — du darfſt es aber
noch niemandem fagen, mußt verſchwiegen fein.
Es darf’3 noch feiner wiſſen. Sieh, ih habe
mid) doch von dem andern küſſen laſſen und
666
ihm verfprochen,” und fie fängt an zu fchluchzen.
Helle Thränen rollen über ihre Baden und
während fie das Tuch hervornimmt: „Sieb,
fein Wort muß der Menſch halten! Nicht
wahr — das muß man?”
„Ben Bedmann, ven Forftfandibaten?”
fragt er mit ganz heiferm Ton.
„Woher weißt du?”
Er antwortet nidt. „Dem bift du gut,
auf den willft du warten? Dem bift du anders
gut wie mir. Ja dann, dann —“
„Ad, fei mir doch nicht böfe, Fritz, wir
bleiben immer gute freunde! — Ganz gewiß!”
„Wir bleiben!” Er wendet fih ab und
macht ihr den Weg frei. Und fie kommt tiefer
hinein ins Zimmer.
„Willſt du nicht, Fri?”
Er ift ſtill. Sie fieht nad) ihm bin, trodnet
die legte Thräne, geht nad) ihren Sachen und
fagt: „Daß du böfe bift, nichts mehr von mir
wiſſen millft, ift nicht recht.” Und fie nidt
troßig mit dem Kopf. „Denn kann ich auch
gehn.”
„Er wird aud) wohl warten — oben, bei
der Herzogslaube. Wenn der Abend Tommt,
da iſt's —“
„Woher weißt du das? Das?“
Mit raſchem Griff hat ſie den Hut auf
und den Mantel umgeworfen. „Es geht doch
— dich eigentlich nichts an!“ und dabei tritt
ſie zornerfüllt mit den kleinen Füßen auf.
„Meinſt du?“
Schwapp! ſie ſchlägt die Thür, die Haus—
glocke giebt nur einen halben, bimmelnden
Ton; ihre Tritte erklingen unter dem Fenſter.
Und nun fort, ganz fort. —
Es geht ihn nichts an! Fritz ſetzt ſich —
es geht ihn nichts an. Und fort iſt fein
Bachſtelzchen gemwippt, fort, für immer.
Frau Antoinette hat ſich allerlei im Haus
zu ſchaffen gemacht, in der Küche und im
Keller ift fie geiwefen und auf den Boden ge:
ftiegen. Nirgends ließ es fie lange. Die
Zeit will gar nicht hingehen. So ift fie denn
auch in den abenddämmernden Garten ge:
gangen, wo es fie fröftelt. Ohne Tuch, leicht:
finnig, das ſieht fie felber ein. Aber, einmal
wird’3 nicht gleich ſchaden. Sie muß doch
den Kindern da drinnen Zeit günnen. Die
Stunde fommt nie mieder, das weiß fie, fühlt
Der Einzige,
fie. _ Weiß fie nicht aus Erfahrung, aber ihrem
Fritz fühlt ſies nach — das ift eine eigen:
Sache um Mutter und Kind; immer Ningt's
in ihrem Herzen, iva3 den Jungen bewegt.
Und nun fol es glüdlich werden, ihr Eorgen:
und Angftfind, nun wird alles gut und ihr
Lebensabend ſchön, friedlich.
Gegen den Abendhimmel hin heben ſich
die Äſte und ſprießenden Knoſpen und die
Nadelhölzer fein ab. Schön iſt's rings um,
ſie meint, ſie habe es noch gar nicht ſo geſehen.
Müde, verzwitſchernde Vogelſtimmen. Sie
muß an müde Kinder denken, die man in ihr
Bettchen legt und deren Eleine Mäulchen eben
noch lallen. Und es ift fo warm in ihr, das
Herz jo weit. Geben will fie, viel mehr als
bisher, Thränen trodnen, wo fie fan. Denn
der liebe Gott hat doch nun alles gut gemacht
Dankerfüllt ift ihre Bruft. Es ſchlägt vom
Turm. Sie zählt. Eo fpät [don — dann
fann fie auch hineingehen. Dann ift gemefen
ztvifchen ihnen, an mas fie allein nur ein
heilige Recht haben, das Ausfprechen über
ihre jungen, glüdlichen Gefühle. Und leichtern
Schrittes als gewöhnlich gebt die zierliche Frau
So ftill iſt's, ſonſt hört man immer die
beiden, Miles Lachen — Hand in Hand werden
fie fiten. Noch ein ganz flüchtiges Zögern
vor der Zimmertbür.
„Ra, nu fol id) wohl —“
Das Halbdunkel über dem Raum läßt fie
im erften Augenblid nichts unterfcheiden. Dann
fieht fie, daß Frigens Kopf ſich aus der Eofa:
ede emporhebt.
„Fritz — allein!” ftößt fie ganz verwundert
hervor.
„Ja, Mutter, allein!” Und wie ein
Schwankender fommt er auf fie zu und legt
den Kopf gegen ihre Schulter. „Mile, weißt
du, die fann mich nicht gern haben, die bat
einen andern lieb. Den fchönen, gefunden
Forftlandidaten — weißt du!”
* *
*
Neben der Uhr, deren Schlagwerk ab:
geftellt ift, auf dem Vorplatz, fteht Antoinette
Wagner und ficht zu den Arzt auf, befien
hohe Geftalt fie weit überragt.
„Nein, Herr Sanitäterat, tbun Sie das
nich' — beichönigen Sie nichts. Ich kann es
Der Einzige.
wiſſen, muß es. Ich babe fo viel in meinem
Leben getragen! Wozu fol ih wien Kind
behandelt werben?”
„Liebe Frau —“
„Ihm haben Eie doch gewiß die Wahr:
heit gejagt, gleich nach dem fehredlichen Blut:
ſturz!
„Er iſt doch ein Mann!“
Ein bittres Lächeln zieht über ihr blaſſes
Geſicht.
„Das is er wohl! Ein rechter Mann,
der über feine Frau fortgegangen is. Immer!
Aber an dem Sterbebette, da will ich mein
Recht. Denn — das is es, Herr Eanitätd-
rat!”
Und der Arzt, der gewohnt ift, ale Fragen
und Einmifhungen fonft in feiner herriſchen
Art Fury abzuſchneiden, nidt und fagt: „Befler
werben Tann er nicht, die Hoffnung ift vor=
über!”
Eie ftößt einen qualvollen Seufzer aus.
„Eben war er noch bei Bewußtſein. Ich
ftreichelte ihm und fagte: ‚Weißt du denn, wer
bei dir iß, mein Junge? Da flug er bie
Augen groß auf und fah mid an: ‚,Jawohl —
Mutter! Aber dann hat er fie wieder zu:
gemacht und liegt ftil, ganz till! Ich möchte
feine Minute von feinem Bett weg — nur
Ihnen das fagen wollt’ id, als ich Sie tommen
ſah. Und — ich babe wohl recht? Lange
Zeit —"
Ein Niden nur.
Eie ſchreit nicht, fie macht Feine Beivegung.
„Ich — danke, Herr Sanitätsrat!”
Er faßt nad ihrer Hand und brüdt fie
teilnehmend, das ift man fonft aud nicht an
ihm gewohnt.
„Sehn Eie, daß Wagner — er giebt ben
Einzigen hin und er thut fid) Gewalt an.
Mehr als wie ihm gut iſt.“
„Den Einzigen,” fagt die Frau. „Nun hat’s
ihn ereilt, nun iſt's da!” Und plögli greift
fie in ihre Kleider über der Bruft, als beengten
fie die.
Daß es der Einzige blieb, das hat er ja
gewollt — das ift es ja geweſen. Wie ich
den Jungen im Arm hatte, fagte er: Das is
nu für alle Zeiten genug. Dem fein Erbe
fol nicht verkürzt werden! Und ging hin —
den andern nad.“
667
Eie lehnt ſich zurüd und fieht wie in
weite Fernen. „Ich hatte das Kind! Meinen
Jungen — und das war mein Glüd neben
der ſchmachvollen Behandlung — aber, wenn
der Kleine nach Geſchwiſtern verlangte und mit
ihnen fpielen wollte, tie andre Kinder — das
that mir weh!”
Die Lippen des Arztes prefien fich feſt
zuſammen, er weiß nichts zu antivorten.
„Ein Mann verfteht das wohl nid — ich
will aud nid, daß Sie mich bedauern. Aber
einmal babe ic) es doch ausfprechen müffen.
Und Sie, Eie haben ja auch immer fo'n be=
fonderen Menſchen in ihm gefehen! Wenn er
jegt von dem Schlage hart getroffen wird, —
inwendig, da wird er fi) wohl noch ganz
mas anbres fagen!” Dann macht fie bie
Thür auf und läßt den Arzt borantreten.
Das Bett ift von einem Stellſchirm gegen das
zu belle Sonnenlicht gefhügt. Konrad Wagner
figt am offenen Fenfter.
„Er ſchläft!“ fagt er leiſe aufftehend zum
Doktor hinüber.
Bord fieht auf das weiße Gefiht in den
meißen Kiffen, faßt nad der ſchlaffen Hand
und ſchüttelt langſam den Kopf. „Er wacht
nicht wieder auf!”
Kein Laut lommt über die Lippen der Frau.
„Mutter, Mutter!” ftöhnt Konrad Wagner
und will fie mit einer plöglichen Bewegung
an fich ziehen. Da wehrt fie ihn ab.
Ihre Hände find gefaltet, fie fprict in
ihrem Herzen.
„Mein Einziger!” murmelt der Mann
und fintt auf einen Stuhl. Dann fehüttelt
es ihn.
Sie ſtreicht über das Haar ihres Lieblings,
über feine Hände, die ſchmalen Wangen. Co
viel Friede ift in dem ftillen Gefiht. Den
Mann, vor dem ber fanfte Junge und fie
gegittert haben, den fieht fie gar nicht. —
Langſam geht der Arzt hinaus, die Treppe
hinunter. Es ift volle Maienfreude in ber
Natur. Schwartenbeck, der Barbier, bienert,
an der Linde ftehend.
„Herr Sanitätgrat, wenn man fragen barf,
mie fteht’3 um den Patienten?”
„Der hat feinen Doktor mehr nötig!”
„D, der arme Herr Holjherr, o jemineh!“
und Schwartenbed winkt die Schultzeſche und
668
Kracke heran, die drüben an ber Hausede
fteben.
„zeute, foeben thut mir Herr Sanitätsrat
zu willen, daß es mit'm jungen Wagner
vorbei is. Ganz, wie ich geſagt babe! Keine
Ausfiht, habe ich gefagt. Der Sit der Krank⸗
“beit war tief. Sa, unfereiner! Un’ nu will
ich gleih mal in die Sägemühle ftürgen und
denn — Me, das is nu’3 Allerneufte!”
Und er wirft feine langen Beine und ruft im
Davonlaufen: „Das is'n Schlag für den
Holzherrn!“
Kracke ſieht die Schultzeſche an. „Ja,
reiche Leute können ſich's ewige Leben auch
nich kaufen!“
„u der Einzigfte, der Allereinzigſte!“
ſagt die Schulte’fche.
„Denn kann de Holzherrn ja ein’ von bie
DiePfche ihre aptieren, das ftimmt ja ganz
gut!” grinft der Bummler.
„Schandmaul!“ fagt die Schulge’fche.
An der nächſten Ede trifft der Sanitätsrat
auf den Bürgermeifter, ber ihn ftellt.
„Ergebenfter Diener, mein Freund und
. Gönner; ganz ergebenfter! Sie ſehen mid)
an 4 .
„Sind jo patent!”
Der Heine Herr fuchtelt mit dem Spazierſtock.
„sn der Eägemühle Beſuch machen. Der
alte Herr ift jet feltfam nacdhgiebig meinen
Vorfhlägen in Gemeindeſachen gegenüber.
Da beißt’ warm halten, fchlau fein! Hahaha!“
„So! fo!”
„Lächeln fo auf Ihre Art, mein Aller:
verehrtefter! Na ja, was werden fann —
man foll nichts verſchwören. Eehen Sie, der
junge Roth, lieber Kerl, der bat mir zu ver:
ftehn gegeben, daß — nämlich, eine allerliebfte
junge Dame, Fräulein Emmy, habe fie fennen
gelernt.” Er ſchwingt das Stöckchen durch
die Luft. „Und Adel und Titel und Stellung
— immerhin iſt man doch fein Greis in den
Augen vernünftiger Mädchen.”
Der Sanitätsrat zieht
„Ra, denn: gratulor!”
„Ganz foweit iſt's ja nicht.
nicht iſt, kann werben!”
Den Etodgriff am Kinn, geht der alte
eine Grimaffe.
Mag aber
Der Einzige.
Herr weiter. Onkel! Onkel!“ rufen ein vaat
Arbeiterlinder. Er zieht eine Düte mi
Bonbons heraus und giebt in jedes ber it
ihm entgegenftredenden dicken Patſchhändchen
ein paar Stüde. „Onkel, mich auch!” ker:
es von anderen Heranfpringenben. „Ih, It
mal an! Gefindel, ihr!”
Und brüben beim Eingang in den Piart.
garten kommt ein Paar auf ihn zu, Der er:
fandidat, Mile Zebfe führend.
„Bottseindonner! So öffentlich 2” frauı
er und bleibt drobend ftehen. „Denn von
dem heimlichen Zufammengelaufe wußte ſchon
ganz Blumerode.”
„Darum, Herr Eanitätsrat, babe ich meint
Verlobung publiziert,“ entgegnet Der jtattlide
Menſch ſchneidig.
„So! Ja!“
„Onkelchen, Tein Glückwunſch?“ ſchmeichelt
Mile und duckt das Köpfchen.
„Manchmal ift der Menſch zu ſowas nid
aufgelegt.” Er befommt plöglih einen jch
ernften Ton und wirft fich in die Bruft. „Tas
Mädchenvolf iS ja nun mal fol Uniform und
grüner Rod find immer fhöner. Bon Ihnen“
und er tippt dem hübfchen Menfhen auf die
Bruft, „will ich hoffen, daß Sie fein Wind—
hund find, wie fo viele Ihresgleichen. Ein
ander Städtchen, ein ander Mädchen!”
„bo, Herr Sanitätsrat!
„Sa, ich erlaube mir das zu fagen! Ter
grobe Bord heiße ih! Is mir ganz genau
bewußt. Die bier is ſo'n kleiner Liebling von
mir, troßbem fie ſo'n flattriges Geſchöpfchen
i8. Die verfteht mich ſchon. Na, denn alle
zur Beruhigung der lieben Einwohner verlobt.
Werbe zur Mutter fommen und ihr meine
Viſite machen. Ins eine Haus fommt Trauer,
ind andre Freude. Fritz hat's nun über
ftanden —“
„Ad, Onkel!” und Miles Augen werben
feucht.
„Ja, das Leben forgt für Abmechjelung,
das is mal fo. Alſo — der is fein Wind:
hund? weißt's gewiß!”
„Wir haben ung doch fo lieb, Onkel!“
„Denn man zu!” Und mit ballenden
Chhritten geht er meiter.
A
Harn Homerville.
Alice Bouffet.
Racdrud verboten. —
8 keiner Zeit ſind Weſen und Sein der Frau, ihre Natur und Eigenart ſo
ſehr zum Gegenſtand der Beobachtung und Forſchung gemacht worden, wie in
unſeren Tagen. So lange man die genialen, durch Wiſſen und Können hervorragenden
Frauen als vereinzelte, ſeltene Typen der Gattung hinſtellen konnte, bie feinen merk⸗
baren Einfluß auf ihre Gefchlechtägenoffinnen übten, blieben die herrſchenden
Anschauungen über die weibliche Hälfte der Menfchheit und deren Wertung ziemlich
unverändert. Das 19. Jahrhundert hat nach diefer Richtung hin einen immer ftärfer
bervortretenden Wandel geichaffen; feine frühere Epoche hat ß viel bedeutende Frauen
aufzuweiſen, die Pfadfinder für ihr Geſchlecht geworden find. Die beginnende geiftige
Mündigkeit der Frau, ihr Heraudtreten an die Offentlichleit mit dem vollen Bewußi⸗
fein der ihr eignen urfprünglichen, der Nutzbarmachung hartenden Kräfte, bebeutet
einen Markflein auf dem Entwidlungswege ber Menfchheit. —
Unter den Frauen ber Neuzeit, die ihre Begabung und Kraft mit Erfolg dem
Dienfte ftrenger Wiflenfchaft gewidmet haben, nimmt die Britin Mary Somerville
wohl den erften Rang ein. Da ihr Leben und ihre umfafiende Thätigkeit auf
mathematifchem und naturwiffenfchaftlichem Gebiet in Deutichland bisher ziemlich
unbeachtet geblieben ift, fo fol in folgendem eine kurze, überfichtlihe Darftellung
besfelben verfucht werden, auf Grundlage des Buches, das im Jahre 1873, etwa
12 Monate nad) dem Tode der gelehrten Frau, erfchienen ift: „Personal Recol-
leetions from early life to old age of Mary Somerville with selections
from her correspondence — by her daughter Martha Somerville.“ (T,ondon,
John Murrey Edit.) Das Wert umfaßt 376 Seiten, die den „Erinnerungen“
entlehnten Auszüge find von der Herausgeberin mit kurzem verbindenden Text
verfehen. Sie ift, wie es in der Einleitung heißt, nicht ohne Bedenken, nur dem
dringenden Anraten werter Freunde folgend und geleitet von der Sewägung, daß
„einige Mitteilungen über einen fo hervorragenden und herrlichen Charakter” nicht
ohne Intereſſe für die Mit und Nachlebenden fein können, an diefe Aufgabe heran:
getreten. Dem Sinne der Verftorbenen entiprechend, find Mitteilungen privater Natur
aus ihrem Leben und ihrer vertraulichen Korreipondenz von ber Veröffentlichung
ausgeichloffen worden. Die eingefügten Briefe von berühmten Männern und Frauen
beziehen fich faft ausfchließlih auf Mary Somervilles wiſſenſchaftliche Werte. —
* J
Mary Fairfax wurde am 26. Dezember 1780 in dem ſchottiſchen Landflädtchen
Jebburg geboren, im Haufe ihres Onkeis und fpäteren Schwiegervater Dr. Thomas
Somerville, der daſelbſt länger als ein halbes Jahrhundert hindurch das geiftliche
Amt eined Rektors verwaltete. Die Somervilles entfiammten einer alten, zur
ſchottiſchen Ariftofratie gehörenden Familie; des Rektors Gattin und Mary Mutter
waren Schwetern. Mary8 Vater, Wiliam Fairfax, trug einen Namen, der buch Lord
Fairfax, Anführer des Parlamentsheeres gegen Carl I., Hiftorifch geworden iſt. Er
diente in der englifchen Marine, zeichnete ſich ruhmlich aus in der gegen die Holländer
fiegreich außgefochtenen Seeſchlacht von Camprebuin, erlangte infolgebeflen die Ritter:
670 Mary Somerville.
würde und ftieg allmählich bis zum Range eine® PVizeadmirals; als folcher iſt er
nach 67jähriger Dienftzeit geftorben. Der Wohnfig der Familie, die während der or
langen Abweſenheit des Vaters fehr zurüdgezogen und mit geringen Mitteln lebte,
befand ficb in einem Kleinen Küftenorte der Graffchaft Fife, Burntisland, wo Marv
mit zivei Brüdern unter Obhut der Mutter in glüdlicyer Freiheit heranwuchs. In
ihren „Erinnerungen“ giebt fie von beiden Eltern eine kurze Charakteriftil. Ter
Bater war ein fchöner Mann, tapfer und von vornehmer Sefinnung, ein vollfummener
Gentleman, äußerlich jotwobl wie im Charakter. ung und mit geringen Schul—
tenntniffen ausgerüftet, war er in den Dienft getreten, hatte aber durch Lektüre fein
Willen, durch viele Reifen und Erfahrungen im Berufsleben feinen Geſichtskrei⸗—
erweitert. Bon der Mutter jagt Mary, daß fie nicht hübſch, aber von vollendeter
Feinbeit in der Erfcheinung twie im Benehmen geweſen ſei. Sie war nachfichtig und
gütig gegen ihre Kinder, die völliges Vertrauen zu ihr hatten; fie war eine jebr
fromme Frau, die Bibel bildete neben den Zeitungen fait ausfchließlih ihre Lektüre.
Sie befaß einen gefunden Verſtand und bediente fich mündlich wie jchriftlich einer
fraftuollen Ausdrucksweiſe.
Burntisland, damals eine Heine ftile Hafenftadt in malerifcher Umgebung, bet
dem in fich gefehrten, finnigen Kinde von früh an jene Eindrüde, die ihre Liebe zur
Natur wedten und für alle Zukunft befeftigten. Die Vögel interejfierten fie insbeſondere,
fie beobachtete ihren Flug, ihre Gewohnheiten und kannte bald alle einheimischen Arten;
fie wußte „auch ihre Lieblinge gegen Nachftellungen zu jchügen und ift im ſpäteren Leben
bei manchen Anläflen energifch für den Schu der Tiere eingetreten.
Marys erſtes Leſebuch war die Bibel, dann kam der Katechigmus an die Reibe,
deſſen Lehrjäge fie nur ſchwer ihrem Gebächtniß einzuprägen vermochte, weil fie ibr
unverftändli waren. Im übrigen ließ man fie bis zu ihrem achten Jahr ziemlid
wild aufwachlen, dann begann fie an den häuslichen Gefchäften teilzunehmen uud
Intereſſe für Biicher, die ihrem Alter angemefjen waren, zu befunden. Der um dieſe
Beit heimkehrende Vater hielt fie zu vermehrter Beichäftigung an und forgte dafür.
daß fie nach vollendetem zehnten Sabre in ein Mädchenpenfionat nad) Muſſelburg
geichiett wurde, un wenigſiens fchreiben und vechnen zu lernen. Das Maß an Willen
und Können, das dazumal in Schottland für ein Mädchen aus guter Familie aus:
reichend befunden wurde, eritredte fich He weit über die Elententarfächer Hinaus,
und die Methode des Unterrichts fcheint höchſt fchwerfällig und unerjprießlich geweſen
zu fein. — Der plögliche Übergang von der gewohnten Freiheit zu einer nach jeber
Richtung fühlbaren Beſchränkung unter pedantiicher Vormundfchaft wurde von Marp
jehr bitter empfunden. Ihr Geift erwachte indeffen mehr und mehr; als fie nad
einem Sabre heimkehrte, benubte fie fortan jede Stunde, die ihre häuslichen Pflichten
ihre übrig ließen, um Shakeſpeare zu Iefen, fowie Gejchichte und etwas Latein zu
treiben; letzteres ohne eigentliche Nachhilfe.
Der Sternenhimmel erregte fchon früh ihre Aufmerkjamfeit, fie verbrachte heimlid
mandje Stunde an dem nad) Süden gelegenen Fenfter ihres Schlafzimmers, um mul
Hilfe eines Himmelsglobus die Sternbilder kennen zu lernen. Übrigend mußte fü
ſchon früh die Erfahrung machen, daß ihre Vorliebe für Studien im Kreife der Familie
und ber Bekannten mißbilligt wurde, und troß ihrer Jugend empfand fie es bereit?
ala eine Ungerechtigkeit, daß es den Frauen, die Wiſſenstrieb beſaßen, vermehrt fein
jollte, ihn zu befriedigen.
ALS vierzehnjähriges Mädchen verbrachte Mary einige Sommermonate in Jebburg bei
ihren Verwandten; fie erzählt, daß fie nie in ihrem Leben glüdlicher geweſen fei, al?
zu jener Zeit. Ihre Tante war eine liebensmwürdige Frau, vol Heiterkeit und Wib,
auch befjer belefen als die Mehrzahl der Damen ihres Standes. In dem Onkel,
Dr. Somerville, fand Mary zum eritenmal einen Freund, der ihren Durft nach Wiſſen
verftand und billigte.e Auf langen Spaziergängen, die fie in den frühen Morgenftunden
mit ihm unternahm, machte fie ihn zum Vertrauten ihrer Beflrebungen, und er lieb
ihr feinen Beiltand, indem er täglich ein bis zwei Stunden den Virgil mit ihr lad
und durch ernfte Gefpräche ihren’ Geift förderte. Über das Leben im Pfarrhaus,
Mary Somerville. 671
defien reizvolle Umgebung und den Verkehr mit den gleichaltrigen Roufinen finden ſich
anziehende Schilderungen aus Marys Feber.
Der näcfte Beluch galt dem Onkel William Charter in Edinburg, in befien
Haus man nad anderer Richtung bin auf ihre Ausbildung bedacht war: fie wurde
in eine Tanzſchule gefchidt. Doch fühlte fie fich bei diefen Verwandten viel weniger
beimifch; in bezug auf die Gegenftände, die fie intereffierten, mußte fie fih Schweigen
auferlegen, daher fand man fie verfchloffen und antiebensmirbig. Die Wohlerzogenbeit
junger Mädchen gewöhnlichen Schiags wurde ihr häufig als Vorbild Hingeftellt.
Die große politiiche Bewegung, die damals, von Frankreich ausgehend, immer
weitere Kreife zog, beichäftigte lebhaft die Gemüter, und Mary wurde auch ihrerfeits
davon ergriffen. Innerhalb der Familie und im Belanntenfreife gingen die Anfichten
weit auseinander, Liberale und Konfervative befehdeten fich mit Leidenſchaft. Die vft
maßlojen und ungerechten Angriffe gegen den Liberalismus veranlaßten das junge
Mädchen, fih auf_feiten des Tegteren zu flellen, von Jugend an hatte ihr Geift gegen
Bedrüdung und Torannei fih aufgelehnt, fo trat fie auch Bier für die Freiheit ein,
wobei ohne Zweifel der tiefe Unmwille darüber mitwirkte, daß alle Gelegenheiten zu
wiſſenſchaftlicher Ausbildung, die den Männern fo reichlich geboten wurden, ihrem
Geſchlechte verfagt blieben. Denn fie felbft war von dem brennenden Ehrgeiz erfüllt,
ſich nad) irgend einer Richtung hin auszuzeichnen und fühlte in fi, daß die Frauen
fähig feien, einen höheren Platz in der Schöpfung einzunehmen, als den, der ihnen
damals eingeräumt wurde. — Übrigens bat Mary die damals eingefogenen freien
politifhen und religiöfen Anfichten ihr Leben lang bewahrt; fie war jedod nie
republikaniſch gefinnt, vielmehr hat fie eine bochentwidelte Ariftofratie flet3 für not⸗
wendig erachtet, um ein Volk zu regieren und ed auf eine höhere Rulturftufe zu heben.
Nach ihrer Rückkehr von Edinburg wurde Mary als eben erwachſene junge Dame
in das gejellichaftliche Leben von Burntisland eingeführt. Sie fand wenig Vergnügen
daran, empfing aber merkwürdigerweiſe bei einer Polen Gelegenheit den erften Anftoß
zu dem großen Studium ihres Lebend. Beim Durchblättern einer Modenzeitung fiel
ihr Blid auf eine algebraifche Aufgabe, deren Zeichen ihr fremd und unverftänblich
waren; von nun an ruhte fie nicht, bis fie den Schlüffel zum Verfländnis jener
Wiſſenſchaft fand; es gelang ihr nach einiger Zeit, ſich Elementarbücher für Algebra
und Geometrie zu verichaffen; doch Fonnte fie zunächſt ohne meitere Anleitung nur
wenig daraus lernen. Außerdem trieb fie Griechiſch, las den Xenophon und teilweife
den Herodot; mehrere Stunden bed Tages wurden dem Klavierfpiel gewidmet. Im
folgenden Winter fiedelte die Familie nach Edinburg über, wo Mary raftlos weiter
arbeitete und ben Kreis ihrer Studien durch Aufnahme des Italieniſchen erweiterte
fowie durch den Beſuch der neu eröffneten Malakademie für Damen, die von einem
tüchtigen Landſchaftsmaler namens Nasmyth geleitet wurde. Durch diefen Lehrer wurde
Mary auf Euflid „Elemente der Geometrie” bingewiefen, die er ihr als Grundlage,
nicht nur ber Peripeltive, fondern auch der Aftronomie und aller mechanifchen Wifjen-
ſchaften bezeichnete. Es gelang ihr jedoch erft im folgenden Jahre, durch Vermittlung
eined jungen, für ihren Bruder engagierten Hauslehrers das fehnlichft gewünschte Werk
zu erhalten. Die Bedeutung der Algebra und Geometrie wurde ihr nun zwar erklärt,
aber der Philologe war nicht imflande, ihr Anleitung zum Studium biefer Fächer zu
geben; fo blieb fie, wie bisher, auf ihre eigenen, wenig fruchtbaren Bemühungen
angewielen, und mit tiefer Niedergeichlagenheit empfand fie oft, daß der Erfolg in
keinem Verhältnis zu dem Aufwand an Zeit und Anftrengung fland. —
Edinburg war zu der Zeit noch die wahre Haupiſtadt Norbbritanniens, der
Mittelpunkt des geiftigen Lebens; bie meiften ber angejehenen fchottifchen Familien
piiegten den Winter dort zu verleben. Das Theater, an dem vortrefflihe Künftler
wirkten, übte eine große Anziehungskraft, obgleich das unter den ftrengen Kalviniften
dagegen herrſchende Vorurteil noch keineswegs erloſchen war. Die Familie Fairfar
batte jedoch in diefem Punkt, wie in manchen andern, freiere Anfichten; Mary befuchte
daher oft und gern die Vorftellungen, namentlich wenn Shakeſpeares Werke auf die
Bühne Tamen. Die bedeutendflien damaligen Schaufpieler waren moralifch unantaftbare
672 Mary Somerville.
und daher bochgeachtete Perfönlichkeiten; Mary nennt u. a. die berühmte Mira Eibbon:,
mit der fie in jpäteren Jahren in perfönliche Berührung getreten if. — Unter
dem Schuß einer möütterlichen Freundin (da die eigene Mutter in Abwefenbeit ihre:
Gatten von der Gejelligkeit außer dem Haufe fi fern Hielt) befuchte Mary aus
Gefellichaften und Bälle; fie liebte den Tanz, und fie verfertigte ſelbſt Die einfachen,
weißen Balllleider von feinem indifchen Mouffelin, die den Anforderungen damaliger
Zeit genügten. Weber diejen, nicht allzubäufigen Vergnügungen verlor fie jedoch nır
ihren Hauptziwed aus den Augen; die frühen Morgenftunden maren regelmäßig dem
Studium, die fpäteren der Mufil gewidmet, außerdem malte fie fleißig und entwidelte
ihre fünftlerifchen, gar nicht unbedeutenden Anlagen zur großen Freude der Mutter.
Manche der Litteraten und Gelehrten Edinburgs waren mit den Fairfax befanıtt;
Mary kam öfter mit ihnen in Berührung, doch Feiner wurde auf ihre ernfte willen:
Ichaftlihe Richtung aufmerkſam. Ihre Beicheidenheit und eine aus den einfanz ver:
lebten Kinderjahren berfiammende Scheu verhinderte fie, mit ihren Sntereffen irgendivie
bervorzutreten; es war ihr fchon peinlich, Gedanfen oder Meinungen im größeren
Kreife laut zu äußern, geſchweige denn eine führende Rolle in der Unterhaltung auf
fih zu nehmen.
Die Außere Erfcheinung bed eben erwachlenen Mädchens war jehr harmoniſch:
unter Mittelgröße und zart gebaut, Fräftig und leicht in der Bewegung, hatte fie einen
Heinen Kopf, üppiges braunes Haar, ein angenehmes Gleichmaß der Züge, glänzend:
Augen mit intelligentem Ausdruck und einen Fehr Thönen Teint. In fpäteren Jahren
ſprach fie einmal fchergend ihr Bedauern darüber aus, daß niemand fie gemalt babe,
folange fie noch jung und hübſch gewejen; die Anmut des Ausdrucks und die ihr eigene,
durchgeiftigte Schönheit hat fie jedoch durch ihr ganzes Leben bewahrt. Eine in Rom
von Meifterhand modellierte Büfte, die alternde Frau bdarftellend, deren Abbild dem
Titelblatt der „Memoirs‘ beigegeben ift, legt Zeugnis dafür ab. —
Im Sabre 1804 Tam ein entfernter Verwandter, Mr. Samuel Greig, Rommilfionär
der rujfiihen Marine, nach Burntisland; er wurde als Vetter mit fchottifcher Ball:
freundfchaft aufgenommen, und nach einiger Zeit hielt er um Marys Hand an. Dir
Eltern gaben ihre Einwilligung unter der Bedingung, daß er nicht nach Rußland
zurüdtehre; er bewarb fi) um den Poſten eines ruflifchen Konfuls in Zondon, den er
erhielt, und bald führte er die junge Frau in fein bortiges Heim. Es ift Taum
anzunehmen, daß von ihrer Seite eine tiefere Neigung zu diefem Mann beftanden
babe,. da eine Hauptbedingung zu geiltiger Harmonie zwifchen beiden fehlte. Mary
wußte, daß er weder Verſtändnis noch Intereſſe für irgend einen Zmeig der Willen:
Ihaft beſaß, daß fie alfo von ihm feinerlei Förderung ihrer Beftrebungen erwarten
fonnte; zudem begte er eine fehr geringe Meinung von den intellettuellen Fähigkeiten
des weiblichen Gejchlechtt. Es mögen wohl baupttächtid Bernunftgründe das treibende
Motiv zu dieſer Heirat gewejen jein. In den „Erinnerungen“ ift wenig über dit
erfte Ehe gelagt, die jchon nach drei Jahren durch den Tod Samuel Greigs gelöft
wurde, Mary bat überhaupt jelten davon geiprochen. Sie benugte im Anfang ihre?
Londoner Leben? die Stunden des Alleinjeind zur Fortfegung ihrer Studien, bis
Mutterpflichten einen Zeil ihrer Zeit in Anfpruh nahmen. Der gefellige Verkehr
bejchränfte fich zumeift auf einige ruffifche Familien, die der jungen Frau ſympathiſch
waren, bejonderd die Komtelle Woronzow, Tochter des ruffiichen Gefandten, die Patin
ihres Alteften Sohnes wurde, der den Namen Woronzow erhielt. —
Bald nach der Geburt des zweiten Knaben, ber fpäter im Kindesalter ſtarb.
tehrte Mary als Witwe in dad Haus ihrer Eltern zurüd. Da fie fehr ftill Ichte,
blieb ihr neben der Sorge für die Kinder genügende Zeit zu wiſſenſchaftlichen, in®:
bejondere mathematifchen Studien. Nachdem fie ebene und ſphäriſche Trigonometrie
und Kegelichnitte, jomwie Ferguſons Aſtronomie gründlich vorgenommen Hatte, machte
fie ih an Newtons Buch über die mathematische Grundlage der Naturwiflenfchaften,
„Prineipia“ genannt. Die Schwierigkeiten, auf die fie bei der Durcharbeitung dieſes
Wertes ftieß, konnte fie nur langjam und nad) eorelor de Bemühungen tieferen Ein:
dringens bewältigen. Nachdem fie mit Wallace, Profeſſor der Mathematik in Edinburg,
674 Mary Somerville.
unbefümmert darum, daß man fie für ercentrifch und thöricht Hielt; das letztere info:
fern, als man der Anfiht war, daß fie ihre Zeit und ihre Mittel beffer darauf ver:
wendet hätte, ein behagliches gejelliges Leben zu führen.
Außer Wallace find noch drei Männer zu nennen, die als Begründer und
Herauögeber der gerade damald auf ihrer Höhe ftehenden „Edinburgh Review“ bie
Träger des im beften Sinne modernen Geifteslebend in Schottland waren: Henrv
Brougbam, Sidney Smith und Profeffor PBlaifair, mit denen Mary in Verbindung
ftand, und von denen der erftere einen hervorragenden Einfluß auf ihre fpätere willen:
Ichaftliche Laufbahn gehabt bat.
*
*
Mary Greig hatte in den Jahren ihrer Witwenſchaft mehrere Heiratsanträge
erhalten und zurückgewieſen. Im Frühjahr 1812 ſchloß ſie den Ehebund mit ihrem
Better, Dr. William Somerville, und von dieſem Zeitpunkt an wurde ihr Leben in
breitere, beiwegtere Bahnen gelenkt. Sie gab und genoß das Glüd einer harmoniſch
geftalteten Häuslichleit und fand fich getragen von der Liebe und Verehrung eines
Gatten, der ihrer eigenartigen, bedeutenden Begabung die Wege ebnete, ihr jede
mögliche Förderung zu teil werden ließ. Dr. Somerville war der ältefte Sohn des
Rektor? von Jedburg; ſeit der Vollendung jeiner Studien bis zum Zeitpunkt feiner
Heirat Hatte er als Militärarzt im Kolonial- und auswärtigen Departenıent fait
‚ immer auf Reifen und in den britiichen Kolonien fich befunden. Er war zugegen
geivefen bei der Einnahme des Kaps der guten Hoffnung burch die Engländer im
Sabre 1806 und war der erjte Europäer, der (mit Lebensgefahr) in dad Land jenfeits
des Dranjefluffes vordrang, was zu zahlreichen Beobachtungen von willenfchaftlichem
Sintereffe führte. Später brachte der Dienft ihn nad Kanada. Nach feiner Rückkehr
in die Heimat wurde er zunächſt an die Spite des Militär-Medizinalamts in Schott:
land geſtellt. Das junge Paar nahm feinen Wohnfig in Edinburg.
Dr. Somerville bejaß feine eindringende Gelehrſamkeit, aber er war in vielen
Fächern mohlunterrichtet, verfügte über ein gelundes Urteil, eine gut entwickelte
Intelligenz und viel Weltkenntnis. Seine klaſſiſche Bildung war ebenfo tüchtig wie
jeine Kenntniffe in mebreren naturwiffenfchaftlichen Fächern, namentlich in ber Botanil
und Mineralogie. Er war großmütig, Hilfabereit und aufopfernd, wo immer fid)
Anlaß dazu bot, und wurde feiner trefflichen Charaktereigenſchaften halber Überall gefchäßt.
Die Ehe beider war eine ſehr glüdliche, da fie fi vollkommen ergänzten; er
würdigte völlig die ausgezeichneten Eigenfchaften feiner Frau, war ftolz auf ihren
Befig und erkannte rücdhaltlos ihre geiltige Überlegenheit an. Bon den Schwieger:
eltern wurde Mary mit großer Liebe als Tochter aufgenommen, beide begten Längit
den Wunfch, diefe Verbindung fich vollziehen zu fehen. Der Rektor hatte die Nichte,
die in feinem Haufe geboren war, von jeher wie ein eigenes Kind betrachtet und ibren
Entwidlungggang mit väterlichem Anteil verfolgt; er zollte ihren ungewöhnlichen
Gaben und ihrer außgereiften Perfönlichkeit die vollfte Bewunderung und Anerlennung-
Ermutigt durch ihren Gatten, jeßte Mary nach der Verheiratung das Studium
des Griechijchen fort, unterftügt von einem jungen Mann, der als Lehrer ihres Sohnes
Woronzow und als Sekretär des Doktors ihr Hausgenoffe war. Dad Studium der
Geologie und Mineralogie trieben beide Gatten gemeinfam; fie legten dabei den Grund
zu ihrer jpäteren wertvollen Sammlung von Mineralien.
Zu den älteften Freunden der Somervilled gehörte Walter Scott, deijen Wohn:
fig Abbot3ford nicht fern von Jedburg lag; das junge Ehepaar unterhielt ebenfalls
freundfchaftlichen Verkehr mit dem gaftlichen Haufe des Dichters, den eine gewenfeitige
berzlihe Sympathie mit Mary verband. Scott war damals noch nicht der befannte
Verfaſſer der „Waverley Novels“, die feinen Ruhm dauernd begründen jollten, aber
nur zu bald lagerten fich die dunklen Schatten um ihn, die feine letzte Lebenszeit
getrübt Haben.
Nach vierjährigem Aufenthalt in der jchottifchen Hauptitadt wurde Dr. Somerville
als Mitglied der Medizinal:Armee-Kommifjion nach London verjegt, wo man ihn zu:
Marh Somerville. “ 675
gleich mit der Leitung des großen Militärhofpitals in Chelſea und mit der Infpeltion
der gleichartigen britiihen Anftalten betraute. Beide Amier hat er bis 1838 verwaltet.
Innerhalb diefer 23 Jahre entfaltete Mary ihre größte wiſſenſchaftliche Thätigkeit;
obwohl fie biß dahin noch feine größere Arbeit veröffentlicht hatte, war der Ruf ihrer
Gelebrfamteit ſchon in weitere Streife gedrungen; es wurde ihr leicht, da das geſell⸗
Ichaftliche Leben Londons einen bemerkenswerten Aufſchwung genommen, mannicfade
wertvolle Beziehungen anzufnüpfen. Durch Profeffor Wallace wurde fie bei Wilhelm
Herfchel eingeführt; mit ihm und namentlich mit feinem einzigen Sohn John, derzeit
noch ein Züingling, ift fie durch Bande herzlicher Freundichaft lange verbunden geweſen.
Mit Wilhelms Schwefter und treuer Gehilfin Karoline, der fpäter, gleich ihr ſelbſt,
die für Frauen feltene Auszeichnung zu teil wurde, als Mitglied in die Fönigliche
Aftronomifche Gefelichaft aufgenommen zu werben, wurde fie dagegen nicht bekannt.
Das Haus der Somervilles in Hannover Square, nahe den wifenfSaftligen und
Kunftinftituten der Hauptſtadt, bildete bald einen Mittelpunkt für den Verkehr der
gelehrten Welt; dort erfchienen unter andern auch die beiden franzöfifchen Aſtronomen
Arago und Biot, die zeitweilig zu Etudienzweden auf englifchem Boden tweilten, um
der Frau zu huldigen, die fi mit dem Hauptwerk ihres groben Landsmannes La Place,
der „Mecanique Celeste“, bekannt gemacht hatte und nad) feinen eigenen Worten die
einzige Frau tar, die feine Werke verftand.
Während eines bald darauf folgenden Aufenthalts in Paris fanden Mary und
ihr Gatte die gaftlichfte Aufnahme im Haufe Aragos, defien Liebenswürdigfeit und
univerfelle Bildung ihr einen bedeutenden Eindrud machte. Er führte fie zu La Place,
der ihr fein neueftes Werk: „Systeme du Monde“ mit eigenhändiger Widmung
überreichte. Mit beredten Worten fehildert Mary die Stunden anregenden und heiteren
gejeligen Beiſammenſeins im engeren Kreife der berühmteften Forſcher jener Tage, zu
denen außer den Genannten noch 2a Grange, Bouvard und Poinfot zählten; auch
Alerander v. Humboldt war anweſend, — die Zeit des Konſulats und des erften
Kaiſerreichs mar die glänzendfte Epoche der phyfifalifchen Aftronomie in Frankreich.
Marys Intereſſe wandte fi) aud in Paris der Kunft und dem Theater zu; fie
beiwunderte Talma und bie beiden Hauptvertreterinnen ber tragifchen und der Beiteren
Mufe Mies. Duchenois und Mars; aber ald große Verehrerin Shakefpeares Tonnte fie
fih mit den gefünftelten Formen der franzöſiſchen Tragödie nicht befreunden.
Während ihres nachfolgenden kurzen Aufenthalts in Genf lernte Mary den
Botaniker de Candolle kennen, mit dem fie fpäter in briefliche Verbindung trat, um
feinen Rat betreffs tieferen fpftematifchen Eindringens in die Botanik zu erbitten; fie
betrieb ihre weiteren Studien in diejer Richtung nach feiner Anleitung. —
Auf einer Schweizerreife im folgenden Jahr erkrankte Mary an einem hart:
nädigen Fieber, wodurch fie jo geſchwacht wurde, daß Dr. Somerville einen Winter:
aufenthalt in mildem Klima für nötig erachtete. So lernte fie zuerft Italien kennen,
daB ihr im Alter eine ziveite Heimat werden follte; fie weilte in Venedig und Florenz,
danach längere Zeit in Rom. Die Werke der Skulptur, von denen ſie einige der
ſchönſien ſchon in Paris gefehen, zog Mary denen der Malerei vor, wobei vielleicht
ihre Vorliebe für die griechiſche Kunſt und Sprache mitwirten mochte. Die Bekannt:
Schaft mit Thorwaldfen und Canova gehörte für fie zu den intereflanteften Begegnungen
in Rom. Die erhebenden Eindrüde, die ihre feingeftimmte Seele dort empfing, wurden
noch bereichert durch öftere vollendete Mufifaufführungen, denen fie bewohnte. Nach
kurzem Aufenthalt in Neapel und Umgebung kehrte die Familie im Frühling 1818
nad England zurüd. — '
Ein Heiner Kreis aufblühender Kinder, drei Töchter und ein Cohn, umgab jegt
das Ehepaar. Mary war eine forgfame, pflichttreue Mutter, die das Gedeihen ihrer
Kinder nad) jeder Richtung bin förderte, fie gab ihnen felbft einigen Unterricht und
nahm eine franzöfifche Bonne, fowie fpäter eine deutſche Erzieherin ins Haus, um den
Kindern Gelegenheit zu geben, bie verbreitetften modernen Sprachen ſchon früh ſich
anzueignen. Sie felbft hatte die Unkenntnis bezw. die mangelhafte mündliche Be:
herrſchung derfelben zu oft als flörendes Hemmnis empfunden. — Ihre eigenen
43°
676 Mary Somerville.
Arbeiten wurden troß der häufigen Unterbrechungen, an denen es im häuslichen Leben
nicht fehlte, mit der Ausdauer und Beharrlichkeit fortgefegt, die in Marys Charafter
lag. Ihr Hauptaugenmerf war fortan auf die gewaltig fortjchreitende Wiſſenſchaft der
Geologie gerichtet; die daraus rejultierenden ganz veränderten Anſchauungen vom Alter
des Erdkörpers riefen ſowohl in den Reihen der Theologen als auch fonit in wielen
ängſtlichen Gemütern lebhaften, zähen Widerfpruch hervor. Als Mary nach einigen
Jahren ihre Werk über „Phyſikaliſche Geographie” veröffentlichte, in dem die Ergebniſſe
der neueften geologifchen Forſchungen niedergelegt waren, wurde jogar von der Kanzel
der York-Kathedrale unter Nennung ihres Namens gegen fie gepredigt. —
Sn einem Leinen Kreife von Gelehrten, der fi abends oft im Somerpillejchen
Haufe zufammenfand, wurden die wiffenjchaftlichen Fragen von Bedeutung lebhaft
bisfutiert; man machte Experimente und ftellte aftronomilche Beobachtungen im Garten
an. Einer der Herborragendften Teilnehmer war der Mathematiker und Aſtronom
Dr. Young, der zuerſt die Theorie von den Lichtwellen aufitellte und beren Richtigfeit
zu beweifen fuchte. Seine Vorlefungen, die veröffentlicht wurden, bildeten eine und:
grube wertvolliten Materiald für Mary Studien. In diefelbe Beit fiel eine andere
willenichaftliche That, die den Ausgangspunkt epochemachender kosmiſcher Entbedungen
bildete. Dr. Wollafton fand bei Beobachtung des Sonnenfpeftrums fieben dunkle,
dasfelbe kreuzende Linien; er begab ſich fofort zu Mary Somerville und twiederholte
das Experiment vor ihren Augen; fie erhielt von ihm. ein kleines Prisma, das aus
Frauenhofers Werkitatt in Münden ftammte, jenes Mannes, deſſen Anteil an ber
Ausgeftaltung der von Bunſen und Kirchhoff erfundenen Methode der Speltralanaliic
genugfam befannt if. — Als Tochter eine Seemannes verfolgte Mary mit großem
Intereſſe und nicht ohne Sachfenntnis die großen Entdedunggreifen, die unter Leitung
von Franklin und Buchan nad der Oftküfte Grönlande, und von Roß und Paren
nach Baffinsbay unternommen wurden. Als der lebtere ſich anjchidte, feine britte
Neife anzutreten, wurde Mary aufgefordert, die Schiffe zu befichtigen, deren Aufenft
zweckmäßige Ausrüftung, die auf dreijährigen Aufenthalt im Arktifchen Meer berechnet
war, ihre Bewunderung erregte. Nach Rückkehr der Expedition benachrichtigte man
die Samilie, daß eine im hohen Norden gelegene, mit ewigem Schnee und Eis bebedte
nel den Namen „Somerville Island“ erhalten habe.
Die gute Gefellichaft Londons hatte zu jener Zeit eine Menge talentvoller, geilt:
reicher ‘Berjönlichkeiten aufzumweifen: Rev. Sidney Smith, Rogers, den Dichter Thomas
Moore, den Hiftoriker Macaulay, Will, Spencer, Campbell, Sir James Madintofh u. a.
bildeten den erlefenen Kreiß, den die Somervilles um fich verfammelten. Bezeichnend
für den Geift, der, von den Wirten ausgehend, die Gejelligkeit im Haufe beberrichte,
ift der Ausſpruch Marys in ihren Aufzeichnungen darüber: Manche unferer Yreunde
hatten ſehr ausgeprägte und ſehr abweichende religiöfe Anfichten, aber mein Mann und id
ließen und niemal3 in eine. Kontroverje ein; wir hatten eine zu hohe Achtung vor der
Gemillenzfreibeit, um den Meinungen der einzelnen zu nahe zu treten, und jo baben
wir mit Perfonen der verichiedenften religiöfen Standpunkte in herzlicher Freundſchaft
gelebt. Ebenfo Habe ich mich in meinen Büchern ſtets rein und ausſchließlich auf
wiſſenſchaftlichem Gebiet gehalten, ohne das religiöfe je zu berühren. — Marys eigene
Auffaffung von den höchſten Fragen des Lebens wird beleuchtet durch eine Nußerung,
antnüpfend an die mathematifch=technifchen Konftruftionen ihres Freundes Babbage:
„Nichts bat mir einen jo überzeugenden Beweis von der Einheit der Gottheit geliefert,
wie dieje rein geiftigen Begriffe von der Lehre der Gleichungen und von der Größen:
lebre, die den Menjchen gewährt worden find und die in dem erhabenen allumfaflenden
Geifte von Ewigkeit ber beftanden haben müfjen.” —
Das glüdliche, ſorgloſe Leben in Hannover Square fand einen traurigen Abſchluß.
Die lange Krankheit und der Tod der älteften Tochter des Haufes, eines Kindes von
ungewöhnlicher Begabung, verfeßte die Familie in tiefe Betrübnis. Außerdem wurde
fie durdy große Vermögensverlufte, verfchuldet durch die Unredlichkeit einer Perſon, der
man unbedingt vertraut batte, in die Notwendigkeit verjegt, das Haus in dem bar:
nehmen Stadtviertel aufzugeben und nad) Chelſea zu ziehen, wo Dr. Somerville über
Mar Somerville. 677
eine mit feiner ärztlichen Stellung am Hofpital verbundene Amtswohnung ver:
fügte. Diefe Verſetzung in eine unfreundliche, ungefunde Gegend, weit entfernt von
den Familien, die ihren Umgangskreis bildeten, war für Mary ein empfindliches Opfer,
das ihr ftet3 fühlbar blieb, weil fie während der Jahre des dortigen Aufenthalts
geſundheitlich viel zu leiden hatte. Uebrigens bot fi ihr alsbald Gelegenheit, neue
interefjante Bezichungen anzufnüpfen, u. a. mit Lady Byron und deren Tochter Ada.
Mary ift mit der Frau und Tochter des Dichters in lebendlanger Verbindung geblieben;
die legtere ſchloß fich ihr Herzlich an und trieb auf Marys Rat nicht ohne Erfolg
mathematifche Studien. Ihr fpäterer Gatte, Lord King, war ein Kollege und Freund
von Woronzow Greig. Eine zweite, warme Freundichaft verband Mary mit der Schrift:
ftellerin Maria Edgeworth; beide Frauen haben während fiebzehn Jahren Iebhafte
Korrefpondenz mit einander geführt. Mary rühmte den ungemeinen Zauber ihres Briefftils
und fügte hinzu: „ficherlich find die Frauen den Männern im Brieffchreiben überlegen“.
Nach der Nüdkehr von einer Reife durch Belgien und Holland, die Dr. Somerville
mit feiner Frau im Frühjahr 1827 unternahm, wurde der letzteren durch Lord
Broughams Vermittlung eine ebenfo überrafchende als ehrenvolle Aufforderung zu teil,
die ihrem ferneren Leben und Schaffen einen neuen ftarfen Impuls verlich. Die
„Geſellſchaft zur Verbreitung nüglicger Kenntniffe” wünſchte die Ausarbeitung einer
popular⸗wiſſenſchaftlichen Darftellung von La Places „Mecaniyue Celeste‘, die
auch den Ungelehrten die Bedeutung, den Wert und ben wejentlichen Inhalt dieſes
berühmten Werks in faßlicher Weile nahebringen follte. Die Löfung diefer Aufgabe,
mit der Mary Somerville auf einftimmigen Vorfchlag des Vorftandes der genannten
Gefelichaft betraut wurde, war infonberteit geeignet, den Beweis zu erbringen, ob es
möglich fei, den mit der Differential: und Iniegralrechnung nicht vertrauten Laien
bis zu einem gemwiffen Grade Einblid in die mathematifchzaftronomische Wiſſenſchaft
zu eröffnen. — Nach mandyerlei Bedenken und unter der Bedingung, die Sache geheim
zu halten, und der andern, daß die Arbeit in Fall des Mißlingens in aller Stille
vernichtet werde, beſchloß Mary, den Verſuch zu machen. Die Ausführung erforderte
eine beträchtliche Zeit, denn fic mußte bon neuem die Erfahrung machen, daß die
Frau nicht das Recht ungeftörter Ruhe bei geifliger Arbeit für fich in Anſpruch nehmen
tann. Sie war au zu rüdjichtövoll gegen die Beſuche, die zu ihr kamen, um ſich
ihnen zu entziehen, außerdem fonnte und wollte fie um ihres Mannes willen die
Gefelligfeit nicht zu fehr einſchränken. — Mary befaß in hohem Grade die Fähigteit
der Konzentration; wenn fie mit einem fchwierigen Problem bejchäftigt war, jo bemerkte
fie nicht8 von dem, was um fie ber vorging; wurde fie unterbrochen, fo erledigte fie
ſchnell und ohne Ungebuld, was man von ihr verlangte (dies galt namentlich für die
Nachhilfe bei den Aufgaben ihrer Kinder), und durch lange Schulung darin geübt,
ſetzte fie alsbald ihre Arbeit fort. Im großer Spannung erwartete fie das Urteil
über ihr vollendete Werk, und es machte fie wahrhaft glüdlich und ſtolz, daß es in
bohem Grade günftig ausfiel. Einer der berufenften Kritifer, Sir John Herichel,
teilte ihr im Worten voll ehrender Anerkennung mit, daß fie den in ihr Können
gefegten Erwartungen vollauf entſprochen babe. „Fahren Sie fo fort”, fchrieb er,
„und Sie werden ber Nachwelt ein Andenken ungewöhnlicher Art hinterlaffen, oder,
was Sie vielleicht höher ſchätzen als Ruhm, Sie werden ein fehr nügliches Werk
vollbracht Haben.” Sir John war Marys treuefter und befter Freund, auf deffen
Meinung fie vor alen anderen Wert legte; fie ſchätzte ihn ala Menſchen wie als
Gelehrten gleich Hoch, er hegte für fie die größte Bewunderung und Hocachtung,
erwies ihr ftetd ritterliche Ehrerbietung und übte zugleich offene und freimütige Kritik
an ihrem Schaffen, die fie ihrerfeitö bereitiillig und dankbar aufnahm. Auf feinen
Nat wurden einzelne Partien des Buches zur Erzielung geößerer Deutlichkeit und
Ausführlichleit einer Umarbeitung unterzogen für die Ausgabe, die eine populäre jein
follte, während die urfprüngliche Faſſung für den Gebrauch wiſſenſchaftlicher Streife
beftimmt wurde. Diefe Teilung erwies fich als notwendig, denn die Verfafierin ſetzte
bei dem Lefer zu viel voraus; fie konnte und wollte indefjen nicht, um das Verftändnis
zu erleichtern, die Präzifion der wiſſenſchaftlichen Terminologie aufgeben.
Marb Somerville. 6
Sie vereinigen Gaben und Errungenfchaften männlicger Art mit der feinften und
beicheidenften Weiblichkeit. Ich weiß in der That von feiner Frau, ich möchte fagen,
von feinem menfchlichen Weſen, das foviel Erfolg und Beifall Hinnimmt, ohne in die
Schwache der Eitelkeit zu verfallen.“ — Brewſters Urteil ift in die Worte zufammen-
gefaßt: „Das Vuch giebt eine Mare und gedrängte Überfiht ber allgemeinen Grund:
lagen und vornehmiten Thatjachen der phyſikaliſchen Wilfenfchaften unter Benugung
faft ſamtlicher meuen Entdedungen, die noch nicht ihren Weg in populäre Werte
geiunden haben. Der Stil ift einfach, Mar, energifh und, wo es fid um Beziehungen
auf großartige Erſcheinungen der Sinneswelt handelt, hebt die Sprache ſich zu
ergreffender jeredtſamkeit.“
Die Verbreitung von Mary Somervilles Schriften in den Vereinigten Staaten
hatte zur Folge, daß ihr auch von dort her Ehrenbezeugungen zu teil wurden. Die
Geographiſche Geſellſchaft von New-NYork und bie P —ES Geſellſchaft von
Philadelphia „zur Verbreitung nüglicher Kenntniſſe“ ernannten fie zu ihrem Mitglied.
Perſonliche Beziehungen zu einigen ber bebeutendften Männer der neuen Welt wurden
von Mary fehr geihägt; das galt befonderd von Wafhington Irving und dem Dichter
Longfellow. In Bezug auf Iegteren bemerkt fie: „Das Welen und die Erfcheinung
eine berühmten Mannes entfpricht nicht immer den Vorftellungen, die man fi von
ihm gebildet hat, in diefem Fall aber wurden meine Erwartungen weit übertroffen.”
Kongfelotos gewinnende Manieren wie feine Unterhaltung machten auf fie ben
günftigften Eindrud.
Der Plan zu ihrem bedeutenden Werk über „Phufitalifche Geographie” beſchäftigte
bereits Marys Denken, als eine lange und gefährliche Krankheit ihres Mannes fürs
erfle ihre Zeit und Kraft in Anfpruch nahm. Die Notwendigkeit, für den Winter ein
warmes Klima aufzufuchen, führte die Familie wiederum nach Stalien, wo fie in
der Folge mit einigen fürzeren Unterbrecjungen ftändigen Aufenthalt nahm, da
Dr. Somervilles Gefundheit dem heimifchen Klima nicht mehr ftandhielt. Der erſte
Winter wurde in Rom verlebt, wo Kunft und Natur, fowie ein Kreis interefjanter
Menſchen während diefer und mancher nachfolgenden „saison‘ das Leben für Mary
äußert antegend und genußreich geftalteten. Sie hatte nun endlich die Freiheit erlangt,
ſich ungeftört und ausgiebig mit ihren wiſſenſchafilichen Arbeiten befchäftigen zu können.
Durch neue Verbindungen mit Fachgelehrten, fowie durch eigne Beobachtungen und
Forfchungen in der für ihre Zwede beſonders geeigneten Landſchaft, gelangte fie
allmählich in den Befig jenes umfallenden Materials, deſſen fie bedurfte, um das
genannte Werk auszuführen. Während ihres Aufenthalt in Florenz im folgenden
Winter würdigte der Großherzog Leopold von Toskana fie feines bejonderen Wohl:
wollens; fie genoß u. a. den Vorzug, Bücher aus feiner großartigen Privatbibliothet
entleihen zu dürfen, ein Umftand, der ihren Studien ſehr zu ftatten kam. Florenz
bot überhaupt weit mehr litterarifche und wiflenfchaftliche Hilfsmittel als Rom.
Mary Ernennung zum Mitglied der dortigen Akademie für Naturwiffenfchaften war
der Anfang zahlreicher Ehrungen gleicher Art, die ihr in ber Folge feitens anderer
gelehrter Körperfchaften in verjchiedenen Städten Italiens zu teil wurden.
Der nach den Jahreszeiten wechſelnde Aufenthalt führte die Familie des öfteren
ſowohl in die intereffanteften Städte und Drtichaften Oberitaliend, als aud dem
Süden de3 Landes zu. Mary lernte alle Städte, die fie befuchte, beffer kennen, als
die Mehrzahl der Ausländer; denn überall boten ſich ihr fait ungeſucht nügliche und
angenehme Beziehungen zu den bervorragendften einheimifchen Familien, ſowie zu den
gerade anweſenden Fremden von Bedeutung. Sinige Briefe aus dem Jahr 1843 an
ihren Sohn Woronzow Greig geben fehr anmutende Schilderungen von dem in Venedig
verlebten Sommer und von Ausflügen nach Ferrara, Perugia u. |. m. — Während
der Reifezeit rubten die wiflenfchaftlichen Arbeiten, dagegen beſchäftigte Mary fich oft
und gern mit Aufnahme von Skizzen nach der Natur. Die alte Neigung zur Malerei
und bie Fähigkeit, fie auszuüben, blieben ihr biß ind Alter treu. — Im Sommer 1844
teifte Mary in Begleitung eines alten Freundes auf einige Monate nad) England,
wo fie zunächft in ber Familie Sir John Herfchels gaftlihe Aufnahme fand. Die
680 Mary Somerville,
vielfeitigen hohen Geiltesgaben dieſes Mannes, fein eminentes Willen, fein lieben:
würdiger Charakter erfüllten fie von neuem mit größter Beiwunderung, und fie freute
fich der fruchtbaren Anregungen, die fie im Verkehr mit ihm während dieſes Bei—
fammenfeind wiederum empfing. Ein Befuh in ihrer fchottiichen Heimat und in
Edinburg, der eine Fülle alter Erinnerungen und neuer Eindrüde hervorrief, endlich
das Wiederſehen mit dem Sohn und der Schwiegertocdhter in London, das ihrem
Verweilen auf Heimifchem Boden einen befriedigenden Abſchluß gab, Tieß fie erfriſcht
und gefräftigt zu den Ihrigen zurüdfebren.
Unter den Arbeiten, mit denen Mary während des folgenden Winters in Rom
beichäftigt war, verdient ein Erperiment bejonderer Art erwähnt zu werden. Sie
unterfuchte die Wirfung des Sonnenſpektrums auf den Saft gewiſſer Pflanzen und
. anderer Subftanzen; ein Bericht über die gewonnenen Ergebniffe, den fie am Herſchel
fandte, wurde von diefem mit großem Intereſſe aufgenommen und der „Königlichen
Geſellſchaft“ vorgelegt. Er beglüdwünichte die Freundin in warmen Worten dazu,
daß ihr vergönnt geweſen fei, in einem jonnigen Klima wertvolle Unterfuchungen
folder Art anzuftellen und fügte hinzu, daß dieſelben ein weites Feld fchöner und
lohnender Forschungen erichließen würden, weil fie ahnen ließen, „daß das Sonnen:
ſpektrum eine Welt von Wundern birgt, die noch der Entbüllung harten“.
Als Mary während eines jpäter wiederholten Aufentbalt3 in Schottland ſich
anjchidte, die „Physical Geography“ in Drud zu geben, erihien Humboldt:
„Kosmos“. Ihr eriter Impuls war, die eigene Arbeit zu vernichten, aber ihr Gatte
bielt fie davon ab, und auf den Rat fachverftändiger Männer wurde fie dennod
veröffentlicht. Das Werk fand eine fehr günftige Aufnahme, und al® Mary nadı
längerer Zeit ein Eremplar der zweiten Auflage dem Verfaſſer des „Kosmos“ zu:
Ihicte, erhielt fie ein überaus anerfennendes und jchmeichelhaftes Schreiben von
Humboldt. „Ich kenne Fein Werk über phyſikaliſche Geographie in irgend einer
Sprache, das dem hrigen zu vergleichen wäre”, heißt e8 in feinem, vorm Juli 1849
aus Sansſouci datierten Brief, und er ermutigt fie zu einer Erweiterung desfelben.
„Sie allein wären imftande, die herrliche Litteratur Ihres Landes durch ein voll:
jtändiges Tosmologifches Werk zu bereichern, gejchrieben mit jener durchſichtigen Klarbeit,
jenem erlefenen Gejchmad, der alles, was aus Shrer Feder ftammt, auszeichnet.” Er
wünfcht, daß die himmliſchen Spbären, in denen fie ebenſowohl heimifch, wie in den
irdifchen, durch fie in einem Gefamtiwerf zur Darftellung gelangen möchten. Eine
gleich rühmliche Beurteilung fand das Bud) durd) den von Mary hochgeſchätzten, ihr
perjönlich bekannten Phyſiker Faraday, der namentlich hervorhob, daß er demfelben
mandje wertvolle Belehrung verdante.
Der Krieg zwiſchen Ofterreih und Sardinien verzögerte die Rückkehr der
Somervilleg nach Italien; fie gingen, um rubigere Zeiten abzumarten, tm Herbft 1848
nah München, wo fie den Winter verlebten. Seit 1822, da Mary mit ihrem Gatten
eine Rheinreife unternommen, die fie bis Bonn führte, hatte fie nicht wieder auf deutſchem
Boden geweilt. Eine furze Notiz aus ihrem Tagebuch über den Münchner Aufentbalt
erwähnt wenig mehr al3 den Bejuch der Eaffiihen Muftlabende im Odeon; doch
ſcheint fich ihr das Verſtändnis für die größten Werke alter deutjcher Tonkunſt nicht
in dem Maße erjchloffen zu haben, wie für die italienische Mufit. Als die Familir
Ende des Jahres 1849 italienischen Boden wieder betrat, nahm fie zunächit längeren
Aufenthalt in Turin, wo fie im Haufe Cavour Wohnung fand. Die Belanntichaft
mit den beiden Brüdern, insbeſondere mit dem Grafen Camillo Cavour, Stalien?
größtem Staat3mann der Neuzeit, war für Mary von großem Intereſſe; fie feierte
ihn in begeifterten Worten und beklagte feinen frühen Tod als ein nationales Unglüd,
deſſen Nachwirfungen fich noch lange fühlbar machen würden. In Florenz, wohin fıe
mit den Ihrigen zurückgekehrt war, wurde fie Zeuge der Entthronung der Oflerreichiich:
Lothringifchen Dynaſtie, die Tänger als ein Jahrhundert über Toslana geberrict
batte; fie begrüßte diefe Wendung der Dinge mit vollem Verſtändnis für ihre
geichichtliche Bedeutung. Als Tochter eines freien Volks, getreu den liberalen Grund:
jäßen, die fie feit ihrer Jugend gehegt Hatte, galt ihr das Streben der Italiener nad)
Mary Somerbille. 681
Befreiung von fremdem Joch als gerecht und felbftverftänblih. In den Briefen, bie
Mary während de3 Zeittaumd vom Mai 1859 bis Juni 1861 an ihren Sohn in
London richtete, nimmt die Politik einen breiten Naum ein. Cie zweifelte nie daran,
daß die Sehnfucht aller Patrioten nach einem geeinten Italien fi erfüllen werde;
und als es ihr vergönnt war, den Tag zu erleben, an dem Victor Emanuel in Rom,
der neuen Hauptftadt des Königreichs, einzog, da flimmte fie vol Begeifterung in
den Jubel ein, den dieſes denfwürdige Ereignis hervorrief. Die nahen Beziehungen
der Somervilles zu den leitenden Polititern in Toskana und Piemont, zu Ricafoli,
Menabrea, Minghetti u. a. trugen nicht wenig bazu bei, ihr Intereſſe an allen
äußeren und inneren Vorgängen im Lande zu erhöhen.
* *
*
Im Juni 1860 ſtarb Dr. Somerville nach kurzer Krankheit; in dem glücklichen
harmoniſchen Familienleben entſtand dadurch eine ſehr fühlbare Lücke; aber ſo tief die
so jahrige Witwe dieſen ſchmerzlichen Verluſt auch empfand, — ihre Lebensenergie
wurde doch nur vorübergehend dadurch beeinträchtigt. Sie beſaß noch eine verhältnis:
mäßig große törperliche und geiftige Spannkraft. Die treue Pflege ihrer beiden Töchter
erleicyterte ihr die herannahenden Beſchwerden des Alters und machte ihr die häusliche
Vereinfamung meniger fühlbar. Mary jagt von ſich in jener Zeit, „daß die Ausdauer
und Willenskraft der Jugend noch einmal in ihr aufgelebt fei”, als fie den Entſchluß
gefaßt, eine neue, ihre legte größere Arbeit zu unternehmen. _
Das vervolllommnete Mitroftop hatte während des legten Dezenniums eine biß
dahin unfichtbare, ungelannte Schöpfung in der Luft, im Wafler, auf der Erde, den
Menſchen vor Augen geführt; die Struktur der Pflanzen und Tiere war auf das
genauefte unterfucht worden, die mit dem eleltriſchen Licht angeftellten Experimente
hatten zu Entdedungen von weittragender Bedeutung geführt. Mary, die alle Fort:
ſchritte beftändig verfolgt hatte, ſah ein neue, weites Feld vor fi, und fie wünſchte
ihre früheren Arbeiten, indbefondere „The connexion of Physical Sciences“, zu er-
gänzen und abzufchliegen durch eine überfichtliche Zufammenftellung der wichtigften
Ergebnifje auf jenen Forichungsgebieten. Das auf optifche Unterfuchungen geftügte
Werk erhielt den Titel: „Molecular and Microscopie Science“, fie gab ihm als
Motto den Ausfpruch des 5. Auguftin: „Deus magnus in magnis, maximus in
minimis.“ Während des Winterd 1861—62, den fie in Turin verlebte, wo die
nötigen Hilfsmittel zu diefer Arbeit am reichlichften vorhanden waren, wurde diefelbe
begonnen. In den Vormittagsftunden, die fie im Bette verbrachte, pflegte Mary, troß ihrer
zitternden Hände, vier bis fünf Stunden anhaltend zu ſchreiben. Ihre noch ungeſchwächte
Sehkraft geftattete ihr, den feinften Drud zu leſen, jo daß fie ohne Hilfe arbeiten
konnte. Das Werk wurde aber erft 1869 in zwei Bänden in London veröffentlicht;
es findet fi in dem vorliegenden Material keine Erwähnung der Aufnahme, die ihm
zu teil geworden, Mary felbft fagt fpäter darüber: „EB mar ein großer Mißgriff
meinerfeit8, dieſes Buch zu fehreiben, und es reut mich, es gethan zu haben. Auf
dem Gebiet der Mathematik, auf dem meine eigentliche Begabung liegt, hätte ich etwas
Nugbringenderez ſchaffen können, wenn ich mic) ausfchließlich jenem Studium gewidmet
haben würde, um fo mehr, da eine neue Ara für dieje Wiſſenſchaft angebrochen war.”
Dieſes ftrenge Urteil über die_ eigenen Leiftungen ift bemerkenswert angeſichts der
befannten großen Erfolge, die fie in ihrer litterarifchen Laufbahn errungen.
Als Mary von langer, bei ihrem hoben Alter nicht unbedenklicher Krankheit
genefen war, wurde fie durch einen Beſuch ihres Sohnes und feiner Gattin erfreut;
fie verlebten gemeinfam einige Wochen in Florenz und in Epezia, dann trat das Che:
paar die Nüdreife an. Es war ein letztes Wiederſehen geweſen, — Woronzow Greig
ftarb plöglich im Herbft 1865. Die innigfte Geiftesgemeinfchaft hatte ihn ftet3 mit
der Mutter verbunden; fo.verfiegte für fie mit feinem Scheiden eine Quelle ungetrübter
Lebensfreude; doch trug fie diefen neuen Verluft mit der ihr eigenen ruhigen Würde
und Kraft, in der Überzeugung, daß die Zeit nicht mehr fern fei, da der Tod fie mit
ihren vorangegangenen Lieben wieder vereinigen werde.
Mary Somerville. 688
begierde des jungen Mädchens erwedt hatten, welche die an ber Außerften Alterägrenze
fiebende Frau vorzugsweile befchäftigte, indem fie nicht nur mit den neueften ein=
ſchiagigen Werken ſich bekannt machte, ſondern auch die Löfung algebraifcher Probleme
erfolgreich unternahm. Außerdem mar fie bis zu ihrem legten Lebenstag mit der
Revilion und Erweiterung einer vor Jahren geichriebenen Abhandlung über „Theory
of Differences“ beſchaftigt. Daneben las fie ihre Lieblingsdichter Dante und
Shafefpeare, auch die moderne Belletriftit wurde nicht verfchmäht. — In Erwägung
diefer und aller Umftände ift es begreiflih, daß Mary fih vollkommen glücklich fühlte,
glüdlicher noch, als in den Tagen der frifchen fröhlichen Jugend; ihrem Ende ſah fie
mit volllommener Faffung entgegen, obwohl es ihr ein fchredlicher Gedanke war,
„daß ihr Geift ganz allein in eine neue unbelannte Eriftenz übergehen ſollte“. —
Dur ein gütiges Geſchid blieb fie von jeder Vorahnung des Toded verſchont; er
nahte ihr im Schlaf; in den erften Morgenftunden des 29. Novemberd 1872 erlofch
fanft und ſchmerzlos ihr Leben.
* *
*
Einige Züge, die dad Weſens- und Charafterbild von Mary Somerville zu ver:
volffändigen haben, mögen ben Abſchluß bilden. Sie war von tiefer und aufrichtiger
Neligiofität erfüllt, die alle ihre Gedanken und Handlungen beeinflußte. Die Formen
und Lehrfäge des kirchlichen Belenntniffes hatten für Re geringe Bedeutung, daher
vermochte fie auch die moderne Weltanschauung, wie fie als Ergebnis einer fort:
geichrittenen Wiffenfchaft ſich herausgebildei, mit ihrem criftlihen Glauben durchaus
in Einklang zu bringen. Sie hat fi nie gefcheut, neue Ideen oder Theorieen ernitlich
zu prüfen, ſelbſt wenn fie mit ihren früher gehegten Überzeugungen nicht überein-
ftimmten. Sie hatte ein heiteres, fanguinifches Temperament und war flet3 geneigt,
mehr bei den Lichtfeiten als bei den Schatten des Lebens zu verweilen. Beicheiden
und anſpruchslos faft bis zum Übermaß, zeigte fie ftet3 das größte Intereffe für die
Leiftungen und Entdedungen anderer und jorgte für die Verbreitung fremden Ruhmes,
während fie um ben eigenen nie im minbeften bemüht war. — „Das wahrhaft Be:
deutende an ihr”, fo urteilt W. de Reumont!) nach wiederholt empfangenen perjönlichen
Eindrüden, „war das feltene Maß der Beherrichung des großen Gebietes der Natur:
wiffenfchaften, von deſſen Teilen feiner ihr fremd blieb, während fie in den meiften
völlig zu Haufe war.” — „Unter allen ihr gegollten Huldigungen blieb fie fich immer
gleich, einfach und ohne Spur von Prätenfion, gleichſam unbewußt ber ihr allgemein
zuerfannten hohen Stellung. — Man konnte lange mit ihr verkehren, ohne zu ahnen,
daß fie auf den Höhen des Wiffens ftehe. In ihrem Auftreten war fie ſehr beſcheiden;
ihre Unterhaltung hatte —* Glanzendes, ihre Schüchternheit hatte von Jugend an
ihre Teilnahme an lebhafter Unterhaltung in weiteren Kreiſen behindert. Ihre
Lieblingsftudien waren zudem von ber Art, daß fie fich für ſolche Unterhaltung weniger
eigneten. — Obgleih in verſchiedenen Fächern gründlich unterrichtet, Hatte ihr Geift
außerhalb der mathematifchen Fächer wohl Klarheit und Präzifion, aber weder Tiefe
noch Originalität. — Ihr Urteil über Menſchen und Dinge wurde mehr duch Wohl:
wollen und eigene innere Harmonie, als durch fcharfes Erkennen der Charaktere und
Ermeffen der Umftände bedingt. — In der Erſcheinung, in der ganzen Haltung und
in den Anſichten fprach ſich die ruhige, einfache Lebensanfchauung und Milde aus,
gezeitigt durch überwiegend wohlthuende Erfahrungen eines von Leid und Verluften
nicht verfchonten, aber trogdem reich beglüdten Lebens.“
) „Sifterifches Taſchenbuch“ 1877.
le
686 Mutter Maria.
hört zivar neuerdingd wohl behaupten, daß die ftudierenden Frauen fi in Gegenſat
zur Frauenbewegung ftellten, man hört offen über ihren Undank ber Frauenbewegung
gegenüber Klagen. Wenn an biefer Klage etwas Wahres fein follte, jo muß mindeſtens
ein mildernder Umftand geltend gemacht werden. Die heutige Frauenbewegung hat
in ſich felbft ein dilettierendes Element zu befämpfen, Frauen, die kraft ihrer Eigenſchaft
als „Frauenrechtlerinnen“ plöglih alles zu verftehen glauben, was mit Frauen
irgendwie zufammenbängt, und die ſich daher in vieles mifchen, was fie nicht über:
jehen können und was fie nichts angeht. Sie haben den ftudierenden Frauen meh:
als einmal ernfte Schwierigkeiten bereitet, und die energifche Zurüdweilung ſolchet
Einmifchung ſeitens der Studentinnen, wie fie ſowohl bei der Angelegenheit der
Halliſchen ') Kliniziften, wie beim Fall?) Behrendt in Berlin erfolgte, war völlig geredt:
fertigt. Im übrigen aber ift jede ftudierende Frau ein Produkt und ein Faktor der
Frauenbewegung. Sie dient ihr, fie mag wollen oder nicht, durch ihre Arbeit. Gerade
jegt ift für die deutjche Frauenbewegung der Zeitpunft da, wo fie ihre Berechtigung,
die jo lange nur durch Neden behauptet iverden konnte und behauptet werben mußte,
mehr und mehr durch Thaten beweifen kann und muß, und eine tüchtige Ärztin, eine
Philologin, die fich Lediglich in ihre Studien vertieft, eine fähige Oberlehrerin, ein
Armen: und Waijenpflegerin, eine Fabrikinfpeftorin kann ihr eine weit feftere Stüte
werden, als eine Berufs: Frauenrechtlerin, die ohne Rückſicht auf das hiſtoriſch Ge:
wordene ganz Deutfchland über Nacht „reformieren” möchte.
Und darum noch einmal ein Glüdauf auch der Frauenbewegung, die in biejen
Tagen neue Beweisfräfte in Geftalt fähiger, tüchtiger Arbeiterinnen gewonnen bat.
— I MEr—
Mutter Maria.
Ton
G. 3. Rleft.
Nachdruck verboten.
„Willſt eine Weisheit? 's ift fo Menfchenart!”
„Ich Schau und ſchweige.“
a8 find Worte, die bezeichnend für das Schidfal der Bühnen: Dichtung „Mutter
Maria” ?) von Ernft Rosmer find, die bei ihrer Aufführung durch dad Deutſche
Theater in Berlin (19. Mai d. 3.) von Publitum und Preffe mit Stimmen:
mehrheit abgelehnt wurde. Die Ablehnung läßt ſich am Ende begreifen, wennſchon
vielleicht in der verfloffenen Saifon fein ziveites Stüd vor ung getreten ift, im dent
joviel ernftes, heißes Wollen, ſoviel fchönes, ftarkes, reiches Können fich geoffenbarl
haben. Es ift nichts Kleines, Geringes, was und die Frau, gefchenft Bat, die fid
Ernft Rosmer nennt. Aber wer fi) in die ftile Duntelheit des Zuſchauerraumes
feßt, um auf der Bühne das Spiel des Lebens an fich vorübergleiten zu lafjen, der
begnügt fich felten nur mit dem Schauen und Schweigen. Dffenbarungen, die dem
Zufchauer dad Schweigen aufzwingen, find felten in unfrer modernen Litteratut.
Und fo fucht er denn, aus einem natürlichen und gefunden Inſtinkt heraus, eine
1) f. 6. Jahrg. Heft 8 der „Frau.“ — 2%) f. 7. Jahrg. Heft 6 der „Frau.“
) Berlin 1900, S. Fifcher Verlag.
Mutter Maria. 687
„Weißheit”. Ja, das ift num eben mal fo Menfchenart. Der er läßt ſich's gern
gefallen, aus des Tages Staub und Nüchternheit ind Land der Märchen zu teilen,
die in ihrer unbefangenen Selbfiverftändlichkeit und Anfpruchelofigfeit und für Augen-
blide den lieben, unweifen Kinderglauben wiederfchenten. Aber jolche Märchen werden
heut nicht mehr geichrieben. Wir können’s eben nicht.
Ernft Rosmer bat fein Märchen dichten wollen, obſchon fie wohlbekannte
Märchengeftalten um ſich verfammelt hat. Den jugendtrunfenen königlichen Menſchen,
dem alle Thale der Erbe zu eng find und der ausftürmt, das Unfaßbare, Erbenferne
fih zu eigen zu maden. Die Bergfee mit goldenen Haaren und filbernen Füßen,
die durch die Liebe Menfch wird und mit ihrer thränenſchweren Seele nicht mehr den
Weg zurüdfindet von der Erde in ihr luftiges, leidloſes Reich. Den uralten Einfiedel,
der in feiner naiven Frömmigkeit, in feiner humorvollen Weltweisheit gleich dem
getreuen Edart die Verirrten auf den ſchmalen, fchlichten Weg weiſen möchte —
und endlid den Tod, der in den legten Jahren Stanımgaft auf unfern Bühnen ges
worden ift und dem wir armen Sterblichen nachgerade wohl ohne allzu großes Grauen
ins Auge bliden müßten —- fo fehr zeigt er ſich als einer, der ziemlich gemütlic)
und — lang mit fi) reden läßt.
Diefe Geftalten hat Ernſt Rosmer zu einer fymbolifchen Dichtung vereinigt, bie
üiberquillt von leuchtendfter Poefie, von zartefter, kräftigſter Schönheit, in der fa aber
nicht ohne Mühe der leitende Gedanke finden und fefthalten läßt.
Der Tod kommt zum Einfiedel, der aber keineswegs geneigt ift, dem ſchwarzen
Gefellen zu folgen. Er Hat nod ein Lebenswerk zu vollenden — ein Glaubens:
denkmal — das Bild der Gottedmutter, aus einem Felſenkoloß gemeißelt; und der
Tod läßt ihn jein Dafein weiter friften. Er fällt dafür den jungen Bergjäger an, der
im Rauſch der Früblingskraft an den beiden vorbei in die Wolfen binaufftürmt, die
weiße Bergſchweſter zu fallen und in Liebe zu fi zu zwingen. Das gelingt dem
Jäger, doch er büßt feine Schöpferluft mit dem Tode. Der goldene Gürtel, den er
der Geliebten entrifien hat und in feiner erftarrten Hand feſthält, zieht die Berg⸗
ſchweſter nieder aus ipren freien Regionen ind Reich der Menſchen. Schon hält die
Erde fie, — die Seele erwacht in ihr, und fie Hört den erften Ton des uralten,
zwingenden Mutterliedes. Sie ift Menfch geworden, und an der Hand bed Todes
fteigt fie hinab, ihr leidvolles Erdenwandern anzutreten und den Kampf mit dem
finfteren Gefährten aufzunehmen. In kalter Nacht, im wilden Winterwind, einfam,
audgeftoßen, ringt fie ihn in allgewaltiger Mutterliebe nieder und bringt ein Kind zur
Welt, das fie droben in der verlafienen Hütte des Vergjägers hegt. Der Einfiedel
fteht ihr bei mit Rat und That. Er forgt für fie und möchte fie zu Gott befehren.
Doch trog ihrer leidenfchaftlichen, fehmerzfreudigen Mutterfchaft drängt in ihr das
ehemalige Ich, der alte Naturtrieb auf. In lodender Sommernadht geht fie mit den
einftigen Schweftern, die kommen fie zu holen, hinauf in den Eißpalaft — zum
Geiftertang. Aber auch das alte Sein hat nicht mehr volle Macht über fie. Ermattet
und friedlos fehrt fie in ihre Hütte zurüd. Dort bat in der Nacht der Tod das
verlaffene Kind gewiegt und hat ihm die rote Mohnblüte zu Häupten gelegt. Mutter
Maria’3 Kind ift tot.
In tagelangem, ohnmächtigem Jammer, mit „ausgeweintem Menfchenherzen”, er:
fämpft fie ſich wieder die alte Geifterkraft. Sie ringt um den Schatten ihres Kindes,
dem fie durch ihre gefpenftiiche Gewalt den Weg zum Himmel wehrt, den fie zu fi
niederlodt. Aber der ruheloje Schatten weicht vor ihr zurüd, bie ihm eine Fremde
ift: „Du bift Stein — dort ift meine Mutter” — und wendet ſich von der Lebenden
zum fteinernen Marienbild. Und in der Bergſchweſter vollzieht fich die legte, höchſte
Wandlung. Die göttliche Liebe fiegt, fie giebt ihr Kind dem Himmel. Und der Tod
nimmt fie, die fih durch das Staubgewand des Menfchentums zum Königsmantel der
Göttlickeit Hindurchgerungen hat, in feine Arıne.
Eine Fülle von Motiven drängen ſich in der Dichtung, die aber mit einer nicht
ganz wegzuleugnenden Unflarheit aneinandergereiht find. Ein Hohelied der Mutter:
liebe — ein Schweftergruß von Weibe zum Weibe — eine in Tönigliches Gewand
588 Die Blumenſchlacht.
gekleidete Bitte — Forderung vom Weib zum Mann — oder einfach fchlichtiweg eu
Zotengedicht — alle jchimmert, wie das Licht aus dem Opal, aus der Gabe, dic
Ernft Rosmer und bietet. Man läßt am beiten jeden den Kommentar zu foldir
Dichtung in fich felbft fuchen. Finden wird jeder etwa® — mancher viel. Es liegt
nun einmal leider in der Kunft unferer Zeit, daß fie und durch viel graue Neflerion,
durch viel grüblerifche Symbolif den Weg zur Schönheit erfchwert.
Ein fo außergewöhnlich ſtarkes Talent, wie Ernft Rosmer, wäre wohl aber
dazu berufen, zu zeigen, daß es die Mittel entbehren kann, mit denen die „Vielen und
Kleinen” arbeiten, daß es fich von der Driginalitätzfucht, von der tupifchen Furcht
vor allem Einfachen, Schlichten, Grad: und Neinlinigen freimacen kann. Wer folde
Sprachkraft beit, wer ſo tiefe Poeſie der Seele zu geben bat, der ift und bleibt im
einfachiten Gewand am fehönften und am größten.
Die Blumenſclacht.
Bon
Charles Folen.
Autorifierte Überſetzung von Wilhelm Thal.
⸗—⸗
Nachdruchk verboten.
D. junge Romanfchriftfteller Francis |! nur der eine Wunſch feiner Lieben in dir
Donnel wanderte in Nizza an ber Paliſſade Erinnerung, er möge fih ruhen, neuc Kritı
entlang, die auf der Promenade den Platz | fanımeln und fi zerftreuen. Won alliu
des Blumenfeltes abjchnitt,; und tief atmete er
die friſchen Düfte des Tazurfarbenen Meeres,
über dem ein leiter, von der Sonne in
opale Töne getauchter Nebel fchiwebte. Er
freute fih, Baris beim erften Frühlingshauch
verlafien zu haben und bierher gefommen zu
fein, um feine Phantafie anzuregen und im
Zauberfeft des Frühlings neue Eindrüde zu
fammeln. Zange war er vor der Ausgabe
zurüdgeichredt, denn er empfand Gewiſſens—
biffe, den Verbienft feiner Winterarbeit egoiftifch
in einem Seebade zu verichiwenden, während
feine Mutter und feine beiden Heinen Schweſtern
fih in ihrem beſcheidenen fünften Stockwerk
der Rue Grenelle mit dem Notmwendigiten
begnügen mußten. Mutter und Schweltern
aber hatten ihm erflärt, man lebe dort unten
von Eonne und Maccaroni und fchlafe auf
den Marmorjchivellen der Paläfte. Und von
al diefen Spiegelbildern, mit denen fie ihn
blenden wollten, blieb ihm mit tiefer Rührung
ftarfer Anftrengung krank geworben, vor
boffnungslofer Liebe erſchöpft, gab er endlich
ihrem Drängen nad), denn er fühlte, daß ei
ausharren und ſich fchonen müßte. War cr
doc) feit dem Tode feines Vaters ihr einzig
Beſchützer. Eo reifte er denn ab, doch tu:
Herz fehnürte fi) ihm zufammen, daß er fen
Lieben nicht mitnehmen fonnte.
Und nun fpielte fich hier wirklich alles
beinah fo feenhaft ab, wie es feine Mutter
und feine Heinen Schweſtern ihm borgefpiegelt
hatten. Er war auf feine Sournaliftenfreifart:
gereift und hatte in der Nähe ber Rhede—
promenabe, in einer breiten Straße, zu br
Scheidenem Breife ein Zimmer zu ebner Erde
gefunden, deffen Fenfter unter Roſenſträuchem
faft verſchwand. Schon am Tage nad jeint
Ankunft Schrieb er in einer mahren Leni
freude an einer Erzählung, füllte mühelos
Seite auf Eeite, ohne von der Erinnerung an
diefe Miß Elfa gequält zu werben, die MM
Die Blumenſchlacht.
ihn zu bübfch, zu reich, zu oberflächlich war
und ihn den ganzen Winter hindurch mit
ihrem flirt gequält hatte. "
Ein langer Monat war nunmehr in biefem
Früblingsfefte, das ihm ein blauer Himmel
bereitet hatte, verfloſſen. Mit ungetrübter
Kindesfreude ſah er wunſchlos die vornehmen ,
Damen vorüberwandeln, die fih nah den
Tribünen drängten. Den Blumen, die fie
mit ihren langen Pliſſeehandſchuhen in dichten
Sträußen hielten, entftrömte berauſchender
Duft. Der lodte zärtlihe und heiße Münfche. .
Doch der ſcharfe, kräftige Meereswind fegte
dieſe galanten Düfte ſchnell hinweg.
Francis ftelte philofophifche Betragptungen |
über bie elegante Menge an, die, um fi
Bouquets ins Geficht zu werfen, ſich zwiſchen
ſchlecht gezimmerten Bretterwänden, unter
erſtickend heißen Zelten, die noch dazu die
herrliche Ausſicht ſperrten, zuſammendrängte.
Genoß er nicht unentgeltlich das einzig wahre
und ſchöne Schauſpiel? Er ging an den
Eintrittsſchaltern auf und ab, nicht nur, ohne
ſeine kärglichen Mittel ſchmerzlich zu empfinden,
nein, er lächelte ſogar bei dem Gedanken, daß
dieſer Aufenthalt in Nizza, ohne fein Budget
zu belaſten, ihm noch geſtattete, einen kleinen,
unerhofften Schatz mit nach Hauſe zu bringen,
den Lohn feiner Arbeit, die ihm fo leicht ge:
worden war. Er trug diefe Heine Summe wie
einen Fetiſch bei fi, und doch waren es nur
fieben Louisdors, die er im bem feidenen
Gürtel verborgen bielt, den ihm feine Heinen
Schweſtern geftidt hatten. Nicht um fi
gegen die Verfuhung zu ſchützen, den hellen
Kleidern zu folgen, fondern in ber innigen
Befriedigung eines guten Bruders und guten
Sohnes, der er ftet3 geblieben war, ging er
feine lieben Pläne nod einmal durch: Ein j
Xouisdor für ein Tafelgeded, ein Tiſchtuch
und zwölf Servietten aus abgefanteter Leine=
wand mit ruſſiſchem Mufter, blau in rot; ein
weiterer Louisdor für einen Käfig mit zwei .
Infeparables, nad) denen die Heinen Schweſtern
fo großes Verlangen trugen, ohne daß fie es '
twagten, dem Wunſch je Worte zu leihen, und
den ganzen Reſt für einen Wintermantel für
die Mama, einen warmen, molligen, gefütterten
Mantel, denn ihr mit grauem Eichhörnchenfell
gefütterter Nabmantel, den fie fchon feit
888
| zwanzig Jahren trug, war zu fehr aus der
Mode und ſah zu fläglih aus! Und er
ftellte fich die Freude bei feiner Nüdfehr vor.
Er lächelte bei diefem füßen Traum, als eine
helle Stimme, eine twahre Glodenftimme, an
| fein Ohr flug:
H „Her Francis! ...
! Zufall!”
Gleichzeitig figelten ihm einige Blumen:
ftengel das Ohr; der junge Mann blidte ſich
um und fagte:
„Wie, Sie, Miß Elfat ... D, teure
Miß Elfa!”
Und vor diefem unter den Blumen lächelnden
Blumengefiht, vor diefer in der Sonne
gligernden goldenen Haarfülle, vor dieſem
jungen Mädchen, das in bem Zauber ihrer
“ weißen und rofa Gazelleiver wie eine rofa=
weiße Elfe erfhien, empfand Francis ein
wonniges Herzllopfen, jenen feinen Rauſch,
der ſich bei dem lebhaften Flirt des Winters
feines ganzen Weſens bemädhtigt hatte.
„D, meld’ hübſcher Zufall!” wiederholte
Miß Elja mit jenem fremdländiſchen Accent,
der ihren Mund fo niedlich erjcheinen ließ.
Dann legte fie ihre feine Hand auf den Arm
des jungen Mannes und fagte bittend:
„Mein Vater hat Migräne... Eie werden
fein Tidet nehmen ..... Kommen Sie ſchnell,
tommen Sie mit meinem ®etter Gib und
mir mit!”
Francis bemerkte nun hinter ihr einen
großen, ſchönen, blonden, jungen Menfchen,
der ebenſo wie fie mit Mimofen, lieder,
Nelten und Narcifen beladen war. In fieber:
hafter Aufregung ftellte Miß Elſa die beiden
Männer einander vor und zog fie in noch
größerer Aufregung hinter fi drein. Als
die Billets fontrolliert waren, huſchte das
junge Mädchen fchnell zu den referbierten
Plägen, von denen zwei in der erften Reihe
und einer dahinter tar.
„So, vorn und neben mir,” fagte fie zu
ihm, ohne fih Zeit zum Sehten zu laſſen;
„wir werben plaudern, und ich werde glüclich
: fein... O, fehr glüdlih! Gib wird hinten
bleiben; er wird damit zufrieden fein...
und wenn er nit zufrieden ift, fo thut das
aud weiter nichts. Jetzt ſchnell, Gib, geben
| Cie mir fenell alle Blumen ber... da
4
D, welch' reizender
690 Die Blumenſchlacht.
fommen die Mackinſons in ihrem Landauer ...
ih mil Blumen nad ihnen werfen!”
Als der Wagen näher fam, grüßte man
fih, lachte und rief fih an; dann flatterten
Blumen dur die Luft, eine buftende Schar
erhob fich, Kelche und Golbbolden wogten hin
und ber. ieberhaft, zitternd, beraufcht ergriff
Elja die Nelfen, den Flieder, die Veilchen,
die Nofen mit vollen Händen und ftreute fie
mit verſchwenderiſchem Leichtfinn toll umber.
Wenn man den Angriff erwiberte, dann fchloß
fie unter dem Blumenregen die Augen fie
eine ſchwache und furchtſame Echtwimmerin,
‚ bie ihre Gefährtinnen mit Schaum befprigt
baben. Als der Landauer fern unb ber
Blumenhagel vorüber war, wandte fie fich zu
Francis und erflärte mit Iufligem Lachen:
„Ich babe alles auf einmal fortgetworfen
und habe nun gar nichts mehr!”
Dann zeigte fie mit fieberhafter Aufregung
auf ihre leeren Hände und fügte Hinzu:
„Da ift die Kalefche der Stubs ..... Den
Stubs muß ich auch viel Blumen werfen... .
D, Francis, my dear, verſchaffen Sie mir
Blumen, aber bitte gleich!”
Ein Junge, der ihren Kummer bemerft
hatte, ſchlich zwiſchen die Wagen und hob
einen Korb mit Anemonen und SHeidelraut zu
ihr empor. Sie ftieß einen Schrei kindlicher
Freude aus:
„Dante, boy ... O, good boyl „...
Francis, geben Sie dem Boy fchnell Geld,
foviel Geld, ala er haben will!”
Sie fagte das ganz natürlid, wie fie es
zu ihrem Vater oder zu Gib gejagt hätte,
ohne ſich im mindeſten ihres unbefcheidenen
Verlangen? bewußt zu werden. Als die
Kaleiche der Stubs in ihre Nähe gelommen
war, wurde fie unter einem Sturzbad von
Blumen begraben, mährend Francis den
Jungen fragte:
„Wieviel Tojtet der Korb?”
„Zwanzig Francs,“ fagte der Kleine, ben
die Bemerfung der Miß Elfa Ted gemadıt
hatte.
Francis hielt es für unnüß, zu handeln,
während die Anemonen des ungen fchon
nad allen Windrichtungen flogen. Er fuhr
mit etwas zitternder Hand nad) dem Seiden⸗
gürtel und zog einen feiner armen fieben
Louisdors hervor, mährend er mit einem
tiefen Seufzer und einem kurzen Anfall von
Melancholie dachte:
„Da verſchwindet die Heine ruſſiſche Tiſch—
decke mit den rotblauen Stickereien mit einem
Schlage!“
Als der Junge fortgelaufen war, richtete
er ſich wieder auf, und als er ſich wieber in
der bezaubernden Nähe von Miß Elfa ſah
und fie fo hübſch und glüdlich Tächelte, va
verfpürte er das Herzklopfen tieber, und ber
feine Raufch bemächtigte fich feiner von neuem.
Als dann die Kalefhe der Stubs vorüber:
fuhr, machte fie Francis mit ſchmollender
Miene leife Vorwürfe:
„O, my dear, Sie hätten mehr Blumen
nehmen müflen.... Ich babe keine mehr, und
jest Tommen die Madinfond wieder zurüd!"
Und ala der Junge, von dem erften, guten
Geſchäft entzüdt — der Kleine erriet, wie
ſchwach der junge Mann den Bitten dieſes
Ihönen Fräuleing gegenüber war — mit
einem neuen Korbe erſchien, neigte fie ſich
zu ihm bernieber, nahm ihn und befahl:
„Rod mehr Blumen, Boy! Bringe nodı
mehr, immer mehr, foviel du haft... .“
Und nun eröffnete fie gegen den Lanbauer
ein Feuer mit Mimofen, mährenb Francis mit
noch ftärfer zitternder Hand, immer langfamer
und noch linkiſcher ala vorhin einen zweiten
Louisdor aus dem Seidengürtel zog Mit
gepreßtem Herzen fagte er ſich:
„Diesmal fliegen die Heinen Inſeperables
in die Luft!”
Er blidte fi um, und plögli war es
ihm, als wenn alle diefe in Weiß, Blau,
Rofa und Lila gelleideten Frauengeftalten bei
den aus den eriten Yrühlingspflanzen aufs
fteigenden beraufchenden Düften toll würden;
es war ihm, als mären fie alle von einer
wüſten Luft befeflen, zu verſchwenden und zu
vergeuden; doch nicht Blumenkelche und
-Dolden warfen fie in die Luft, fondern Gold:
und Silberftüde, die in ben Staub, unter die
Magenräber und unter die Pferbehufe fielen.
Dann richteten fi die Augen des jungen
Mannes auf die Heinen, feinen und weißen
Hände der Miß Elfa, die nervös Blumen
und immer mehr und immer Blumen aus
dem Korbe nahmen. Und diefe Eleinen, vorigen
Die Blumenfhlcht.
Hände erfchienen ihm plötzlich recht boshaft,
und es war ihm, ala ſchidten fie fi an, ihn
zu paden und zu kratzen, wenn fie feine
Blumen mehr in dem Korbe fänden. Unb
von neuem tauchte der Junge mit zivei neuen
Körben auf. Francis dachte daran, daß es
jeßt nicht mehr die Tiſchdede mit den blau:
roten Stidereien var, die da verſchwand, daß
nit die Meinen Vögelchen davonflogen,
fondern daß e8 ber gute Wintermantel, ber
fo heißerfehnte Wintermantel feiner armen
Muster war, den bie zierlichen, gierigen und
nervöfen Finger der Miß Elſa padten, zer:
riffen und nach allen Winden hinftreuten, und
das fehnürte ihm das Herz zufammen.
Im Augenblid, da fie den Arm nad den
Körben auöftredte, umſchloß er mit brutalem
Griff ihre Finger und zwang fie, ihn anzu=
fehen. Sie war über die tiefe Traurigkeit,
die in den großen Augen des jungen Mannes
ſich abfpiegelte, höchlichſt betroffen, doch da
fie ihn nicht verſtand, fo fand fie fein Wort
der Erwiderung. Er fah fie wie beim legten
Mal mit einem Blid unendlicher Zärtlichkeit
und tiefen Bebauernd an und fagte ftodenb,
zögernd, fo fanft er nur konnte:
„Miß Elfa, wollen Sie mir geftatten, den
Platz an Ihrer Seite... . Ihrem Vetter Gib
zu überlaſſen ?“
Bewegt ſtammelte fie:
„Barum wollen Sie den Platz Gib ab»
treten? Warum denn?”
Francis rief feine ganze Energie zu Hilfe
und verfeßte ſchnell, um aud die Kraft zu
finden, feinen Sat auszuſprechen:
„Beil... ich nigt genug Geld befige,
um alle diefe Blumen zu bezahlen.”
Es lag in Miß Elſas Augen ein Ausdrud
von Schred und Verwirrung, dann zeigte ihr
Geficht einen leifen Schimmer von Traurigkeit
und Rührung. Cie machte eine haftige Ans
frengung, um zu überlegen und einen ernſten
Gedanfen feftzuhalten, der ihrem Köpfchen
entfliehen wollte. Doc es war das zu ſchwer
und zu ernft für ihr Meines, leichtſinniges und
oberflächlihes Him. Und fo murmelte fie
9
denn in dem unangenehmen Bewußtſein einer
peinlihen Lage, im Unbehagen über einen
läftigen Zufall, in ärgerlihem Ton: „Ad, wie
ftörend das iſt! ... mie ftörend das ift!”
Doch ſchon ward fie von einem Glödchen-
Hingeln abgelenkt, blidte nad der andern
Seite, und die Verwirrung, die ſich noch eben
in ihren blauen Augen gemalt hatte, ver⸗
ſchwand auf der Stelle. Ein Jasminregen,
der mit buftendem Tau auf fie fiel, betäubte,
beraufchte fie, und fie rief mit zitternder
Etimme:
Die Stubs! ... Ad, die Stubs kommen
Schon wieder zurüd!”
Unruhig wanderte ihr Blid von Francis’
Augen zu dem leeren Korbe. Eie erinnerte
ſich der Worte, die er eben geſprochen hatte
und fdien, wenn auch nicht zu begreifen, fo
doch wenigſtens alles zu ahnen, was biefes
tapfere Geftänbni® an verlorenen Hoffnungen
enthielt, und welche unüberfteiglihe Mauer es
zwiſchen ihnen aufrichtete. Doch das war nur
wie ein Blig; fie ſtieß einen vefignierten
Seufzer aus und fagte: „Nun gut, ja, ja...
Dann treten Sie Gib Ihren Platz ab! ...
Und Eie, Gib, fehnell, ſchnell, bezahlen Cie
dem Boy die Körbe! Da, da find ja bie
Stubs!"
Und mährend Gib, der fi ftets ihren
Launen fügte und wohl wußte, daß er früher
ober fpäter doch immer heranlommen würde,
in bie erfte Reihe rüdte, wanderte Francis,
bevor Miß Elfa noch Zeit hatte, fih um:
zuwenden, Iangfam dem Stranbe zu.
Jetzt, da er wußte, baf feine arme Mama
den Mantel trogbem belommen würde, über
ließ er fih, nod im berauſchenden Banne der
lieblichen Erfdeinung der einlullenden Er-
innerung an Miß Elfa. Doch feltfam! Seht
war ihm nicht mehr, ald komme der Wind
herb, friſch und fräftigend aus dem unend⸗
lichen Weltenraum, jegt glaubte er, er wehe
von ber Frühlingserbe, von den Drangen-
bügeln, und fein Hauch fdien ihm ſchwüle
! Wärme und dumpfe Zärtlichkeiten mit ſich
. zu führen.
vier
4
692
Ragdrud mit Duellenangabe erlaubt.
* Die 21. Generalverfammlung des All-
gemeinen Deutfchen Frauenvereins findet vom
29. September bis 2. Oktober d. I. in Eiſenach
ftatt, unb mit biefer wird wieder ein öffentlicher
Frauentag verbunden fein.
Der Borftand ladet feine Ortögruppen und
Ziveigvereine, die Mitgliedvereine bed Bundes
deutſcher Frauenvereine und alle Frauen, bie in
der Frauenbewegung ftehen und Intereffe dafür
haben, herzlich dazu ein.
Das fpeziele Programm wird rechtzeitig in
den „Neuen Bahnen”, der „Frau“, bem „Gentraf-
blatt des Bundes deutſcher Frauenvereine” und in
den Eiſenacher Tagesblättern befannt gemacht
werben.
Ein Lofallomitee, deſſen Vorfigende Frl.
Hedwig Bender, Marienthal 5, ift, hat freundlichft
die Vorarbeiten in Eiſenach übernommen.
Anmeldungen für SFreiquartiere, Privatlogis
und Hotel® nehmen gütigft entgegen bie Mit:
glieder des Lokallomitees: Frl. Anna Roßhirt,
Emilienſtr. 11 und Frl. Augufte Wünfhmann,
Emitienftr. 4.
* Der Broze gegen die Berliner Ärztinnen,
laut Anklage „wider die unverchelichte Tiburtius,
die unverehelichte Bader” ꝛc. (vgl. die vorige
Nummer), ift durch Freifpregung der Ärztinnen
entſchieden, ſoweit die Anklage ſich auf die Angabe
ihres Titel im Adreßbuch ftügte, weil bie Anklage
innerhalb dreier Monate nach der Veröffentlichung
des Adreßbuches hätte eingereicht werden müffen.
Bon den Angeklagten wurde nur Frl. Dr. Bluhm
zu drei Mark Strafe verurteilt. Frl. Dr. Bluhm
hatte ſich nämlich auf ihrem Schilde bezeichnet als
„Dr. med. Agnes Bluhm, praktiſcher Arzt, appro:
biert in der Schweiz”. Alle diefe Angaben find
richtig, was aud das Gericht nicht beftreitet.
Aber nad der Gewerbeordnung fol ſich niemand
als Arzt bezeichnen bürfen, ber nicht in Deutich-
land approbiert ift. Nun ſchließt zwar die Angabe
auf dem Schilde: „in der Schweiz approbiert"
jeden Irrtum aus, Frl. Dr. Vluhm hat ihr Schild,
ehe fie es anbringen ließ, von ber Polizei appro
bieren laſſen, und als fie vor 5 Jahren wegen der
felben Sache ſchon einmal denungiert wurde, ſtellte
bie Staatsanwaltfaft felbft das Verfahren ein.
Das alles hinderte jedoch nicht, dag man diesmal
an dem Buchftaben des Geſehes fefthielt.
Ein dem Prozeß nicht nur zeitlich, ſondern
aud fachlich paralleler Vorgang fpielte fich in ver
Ärztelammer für Brandenburg-Berlin in ven
felben Tagen ab. Die Voſſiſche Zeitung berichtet
darüber (Nr. 293):
Letter Gegenftand der Verhandlungen ift Die „Zu:
laffung von Perjonen mit ausländiſchen Reifezeun
niffen zu den mebizinifchen Stubien und Prüfungen“.
Der Berichterftatter Prof. Koßmann (!) geht ven
der Thatfahe aus, daß zwei weibliche Kandidaten
der Mebigin, die eine von der Brüfungäfommiifion
in Freiburg, bie andere von der Kommiffton in
Halle die Approbation als Arzt erhalten haben
Beide haben zunächft nicht das reichadeutfche Heite
zeugnis eines humaniſtiſchen Gymnaſiums, jondern
nur bie ſchweizeriſche ſog. Fremdennaturität für
das Studium ber Nebizin, der Zahnheutunde und
ber Pharmazie. Diefe fchmeizerifche Waturität
ftehe aber nach bem Urteile aller Fahmänner weit
unter ber beutfchen Reifeprüfung auch eines Real-
gymnaſiums. Tie Kenntniffe, bie verlangt werden.
find etwa diejenigen, die der deutſche Sekundaner
Die Anertennung dieſer Maturität für bie
Melbung zur reichöbeutfcgen ärztlichen Staate
prüfung ftehe im ſchroffſten Gegenfage zu den
Beftinmmungen ber deutſchen Prüfungsordnung für
Arſte Sodann aber fei ben beiden Meibluhen
Kandidaten noch eine andere in ber Prüfungs
ordnung nicht borgefcehene Dergünftigung zu til
geworden. Vorgeſchrieben fei, daß nur derjenige
zur ärztlihen Staatsprüfung zugulaffen ift, der
nach beftandener Borprüfung vier Halbjahre bie
Kliniken einer reich&beutfchen Univerfität befuct
Hat, die beiden weiblichen Nanbibaten haben Biel
Verpflichtung aber gar nicht erfüllen fönnen. Bun
ihnen die deutſche Approbation erteilt wurde, fe
fei dies ohne die Beachtung ber geſetlichen Bor
ſchriften, alfo gegen das Gefeg, geſchehen. Es
müffe vor allem Einſpruch dagegen erhoben werden,
daß ausfchliehlid zu Gunften einiger Frauen von
den Veftinmmungen über die ärztfihe Prüfung ab
gegangen werde. Zu beanftanden jei, daß nich
genügend vorgebildete weibliche Berfonen als Galt
bhörerinnen zugelafen werden. Wan verlange von
Frauenleben und »Streben.
den ftubierenden rauen die volle Maturität, aber
man fchreibe fie auch ordnungemäßig ein. Tr. Koß:
mann beantragt, daß die Kammer beichliehe: ben
Minifter zu erfucen, zu beranlafien, daß PBerfonen
mit ber ſchweizeriſchen Naturität aud) nicht aus:
nahmsweiſe zum Studium der Medizin an beutichen
Hodjihufen zugelaffen werben; nict-ummatritu:
lationsfähige Perſonen follen zum Beſuche der
Kliniten nicht zugelafien werden, weil andernfalls
der Unterricht geftört und der Kurpfuſcherei Bor:
ſchub geleiftet wird. Außerdem foll eine Eingabe
an ben Heichstag gerichtet werben, daß unterfucht
werde, ob die Erteilung ber Approbation an die
beiden weiblichen Kandidaten nicht ungefeplich war
und daraufhin die Approbationen nicht zurüdzu:
ziehen find. In der Befprebung wird betont, daß
die Nrptelammer nur das Recht getvahrt wiffen
wolle. Gegen bie Anträge ſprechen ſich (eheimrat
Dr. uefter unter SHimwei® auf die Übergangs:
verhältnifie, und Dr. R. Lennpoft, dieſer wegen
des üblen Eindrudes, den die Beſchlüſſe in der
Cfientlicheit machen würden, aus. Die Kammer
nimmt die tokmannfepen Anträge an.
Dan kann nicht eben fagen, daß bie Umſtände
zu Gunften der in ber Berfammlung aufgeftellten
Behauptung ſprechen, man wolle nur das Recht
wahren. Zum Glück ift ja bie Frauenbewegung
in der age, über dieſe Ichten Heinen Sinderniffe
vor dem Ziel nun zur Tagesordnung überzugehen.
* Über die Zahl der weiblichen Medizin:
fndierenden hat Profeſſor Eulenburg eine Um—
frage bei den deutichen Univerſitäten veranftaltet.
Die Refultate veröffentlicht er in der Deutichen
mebizinifchen Wochenschrift. Bon den reichsdeutſchen
mebizinifhen Fatultäten hat nur die Münchener
ihre Mitwirkung bei ber Umfrage verfagt. Tie
Fatultäten zu Niel und Tübingen verhalten ſich
negenüber der Zulaffung der Frauen zum Medizin—
ftubium „ganz oder überiviegend ablehnend“.
Weibliche Mebizinftubierende find nicht vorbanden:
außer in Kiel und Tübingen noch in Erlangen,
Gieken, Göttingen, Greifswald, Nena, Marburg,
Rofted, Würzburg. Die meiften Hörerinnen der
Medizin hat Berlin, nämlich 25 (4 reichsdeutſche
und 21 Ausländerinnen). Es folgt mit 24 (2 In—
länderinnen, 22 Ausländerinnen) Leipzig, dann mit
18 (10 immatrifulierten und 4 Hörerinnen ohne
Reifezeugniffe aus dem Teutichen Reiche und
4 Ausländerinnen) freiburg i. Br, daran fchlicht
ſich mit 12 Mebizinhörenden Halle an, von denen
die 3 Imländerinnen mittlerweile bie Approbation
als Arzt erlangt Haben; bie 9 Ausländerinnen
ftammen aus Rußland. Heidelberg hat 6 inländiſche
eingefchriebene Medizinftubierende, die alle die Reife.
prüfung abgeleat Haben. It 2 einheimifche Mebizin-*
hörerinnen weifen die medizinifchen Fakultäten in
Breslau und Straßburg auf. Schließlich ſtudierte
nod in Konigoberg cine reichedeutihe Dame, die
in ber Schweir die Neifeprüfung abgelegt und in
693
Bern promoviert hat. Bon den beutich:öfterreichifchen
Fakultäten hatte Gray 2 Hörerinnen, beide In:
länberinnen, außerben mehrere Hofpitantinnen in
einzelnen Xorlefungen. In Prag ift eine aus:
landiſche Gafttörerin. Innebrud Bat feine weib-
liche Medizinftubierende; über Wien fehlen die An-
naben. Von den ſchweizeriſchen Fakultäten hat
Bern im Sommerbalbjahr 1901 nicht weniger als
189 weibliche Studierende der Medizin, darunter
ift nur eine Reichsdeutſche; aus der Schweiz find
davon 6, aus Ejterreich, Dänemark, Nordamerita
je 1, hingegen aus Rußland 180. Yaufanne bat
61 weibliche Medizinftubierende, fämtlih Aus:
fänderinnen; Zürich hat im ganzen 85 weibliche
Mebiginftubierende, darunter aus der Schweiz ®,
aus dem Deutfchen Reiche 12, aus andern Ländern 64.
Über Bafel und Genf waren Angaben nicht zu er:
langen. Die Umfrage hatte zum erften Ziele feft:
zuftellen, welcher Zugang zum Studium ber Heil:
kunde zunächſt durch bie Zulaflung von Mädchen
und Frauen zur ärztlichen Staatsprüfung zu cr:
warten iſt. Insgeſamt ftubieren zur Zeit 52 weib-
liche Reichsdeutſche (39 auf reichöbeutichen, 13 auf
ſchweizeriſchen Univerfitäten) die Heiltunde. Nur
diefe kommen als zufünftige vollwertige Mit:
beiverber ber männlichen Arzte in Deutſchland in
Betracht. Tie Gefamtzahl der deutſchen Ärzte be-
trug nun 1900 27374, der bevorjtchende Zuwachs
würde ſich danach auf "/ss. das ift auf 0,19 v. H.
des jegigen Beftandes an Ärzten befaufen.
* Die Befhäftigung von rauen bei der
Staatseiſenbahnverwaltung hat nad) befriedigend
: ausgefallenen Verſuchen aufs neue eine weſentliche
Erweiterung erfahren, indem bie königlichen Eifen:
babnbirettionen ermächtigt werden find, in den
größeren üterabfertigungäftellen weibliche Berjonen
bei der Anfertigung von Fracht, Koll: und Schalter:
tarten, Avifen, bei der Führung von Nachnahme.
Büchern, Anfertigung von Monatsrechnungen und
Einbeiferung von Tarifen zu verwenden. Ferner
ſollen zur Bebienung von Schreibmajchinen für bie
Nanzleiarbeiten bei den Eifenbapnbireltionen an
Stelle anderer Ranzleikräfte cbenjall® weibliche
Perfonen angenommen werden. Abgeichen von
Schrantenwärterinnen kommen jetzt bei der Staats:
eifenbahnverwaltung für bie Belchäftigung weib⸗
licher Perſonen vier Vienftziveige in Betracht:
1. Fabrlartenausgabe, 2. Telegraphen. und Fern.
ſprechdienſt, 3. Güterabfertigungäbienft und 4. Harz
feibienft bei den Eiſenbahndirettionen. Zum Nacht.
dienft dürfen meibliche Perfonen nicht herangezogen
werben. Nach ſechsmonatlichem Probedienft erfolgt
entweder die Entlafjung ober die diätariiche Ve:
ſchäftigung und Tereidigung im aufßeretatsmäßigen
694
Beamtenverbältnig mit monatlich im vorauß zahl
barem Gehalt von 720 Mark im eriten, 780 Mark
im zweiten und 900 Mark im dritten Sabre.
Während der Beichäftigung im Probebienft wird
eine Tagedvergütung bis zu 2 Mark gewährt.
* Frau Maria Gubitz, eine um das Berliner
Vereinsleben hochverdiente Frau, feierte am 13. Juli
biefes Sahres ihren 70. Geburtätag. Wenn die
tiefe Wahrheit bes Pſalmworts, „wenn es köſtlich
geweſen ift, fo ift e8 Mühe und Arbeit geweſen“,
fih in einem Frauenichen bewährt bat, jo war es
bag ihre.
Frau Maria Gubit, geb. am 13. Juli 1831
zu Berlin, die Zrägerin eined in ber Kunft: und
Litteraturwelt Berlin hochgeachteten Namens, hät
es verſtanden, dieſem Namen eigene Bedeutung zu
geben. In Reichtum und Wohlleben herangewachſen,
ſtand ſie, mit 26 Jahren verwitwet, der ſchweren
Aufgabe gegenüber, für ſich und ein einige Wochen
nach des Vaters Tode geborenes Töchterchen den
Kampf ums Daſein aufzunehmen. Und dieſer
Kampf war in ber Mitte des abgelaufenen Jahr⸗
hunbertö fchwieriger, bornenvoller als er, dank den
Errungenfchaften der Frauenbewegung, heute ift.
AU die neu. erfchloffenen weiblichen Erwerbsgebiete
waren gebildeten Frauen vor 4, ja 3 Jahrzehnten
noch verichloffen. Das Unterricht: und Er:
ziehungsgebiet bot ihnen die faft einzige und darum
überfüllte Ermwerbögelegenbeit.
Mutig nahm die junge Mutter den Kampf ums
Dafein auf, erfolgreich focht fie ihn durch, und bie
geftählte Kraft, den geweiteten Sinn, das klare
Auge für die Nöte und Gebrechen der Gefchlecht2-
genoffinnen, Löftliche, ibeale Errungenschaften dieſes
Kampfes, ftellte fie in den Dienft ihrer Mit
ſchweſtern und barüber binaus in ben der All:
gemeinbeit.
Nah Tängerem Aufenthalt in England nad
der Baterftabt Berlin zurüdgelehrt, nahm Frau
Gubitz an al den Bereindgründbungen, die das
Jahr 1866 fo bedeutſam in ber Bereindgejchichte
Berlind machen, thätig teil. ALS im genannten
Jahre ber Letteverein zur Schaffung von ver:
mehrten Ertwerbögelegenbeiten für bie rauen und
Töchter ded unvermögenden Mittelftanded und zu
ihrer Vorbildung für neue Erwerbögebiete gegründet
wurde, war fie eine der erften, die die Bedeutung
der neuen Gründung für das meibliche Gefchlecht
erfannte und Zeit und Kraft in ihren Dienft
ftellte. Gine wie treue, unermübliche Mitarbeiterin
Frau Maria Gubitz der Gründerin der Volksküchen
in Berlin, Frau Lina Morgenftern, von An:
fang an bis zum heutigen Tage ift, weiß biefe zu
Ihägen, auch wurde ſchon in einem Artikel ber
Frauenleben unb :Streben.
„Frau“ darauf hingewieſen. Dem Berein zu:
Speifung armer Kinder, ber feit 26 Jahren ſegens
reich wirkt, gehört Frau Gubig ebenfalls Teit feiner
Begründung an. Der Verein zur Unterftüßung
Heiner Handwerker und Fabrilanten Bat fie zum
Dank für langjährige treue Mitarbeit an feiner
Darlehnskaſſe zu feinem Ehrenmitgfiebe erwählt.
Die deutſche Gejellichaft für ethiſche Kultur, ber
Erziebungsbeirat für ſchulentlafſene Waifen, ter
Kinberfchugverein, alle biefe in fo hohem Gratt
fogial wirkenden Vereinigungen zählen fte zu ifren
thätigen Mitgliedern, trogbem fie bei deren bem
letzten Jahrzehnt angehörenden Grünbungen den
in einem "höheren Lebensalter fand, in bem ſonſt
Frauen es für ihr Recht halten, nur ihren eigenen
Sinterefien zu leben. Wie Har und unbeſtechlich
der Blid der Siebzigjährigen ifl, weiß aud ber
Kaufmänniſche Hilfsperein für weiblide Angeſtelltt
zu ſchätzen, für den fie mit Zalt unb Umſich
Recherchen beforgt, wenn Unterſtützungsgeſuche se
ftellt werden. Dem Komitee für daB Kaifer und
Kaiferin Friedrich-Kinderkrankenhaus gehört fie ſen
feiner Begründung an, eine Auszeichnung, bie von
der Wertfhähung zeugt, bie bie in allen Wohl
fabrtSbeftrebungen fo bewährte Frau genießt. Im
ihrem unermüblichen, meift in ber Stille geübten
Wirken gerecht zu werben, müßten alle rauen:
und Wohlfahrtövereine ber Reichshauptſtadt auf;
gezählt werben, benn faft allen ſteht fie in irgend
einer Weiſe nahe, aber einem als nur zählendes
und zahlendes Mitglied.
Daß fie bei ihrer Geiftesrichtung ihr thätigee
Intereſſe beſonders den fpeziellen Frauenbeftrebungen
zumendete, braucht faum betont zu werden. Seit
Gründung des Allgemeinen Deutichen Frauenvereins.
des Bundes Deuticher Frauenvereine, des Vereins
zur Förderung bes Frauenerwerbs durch Obft- und
Gartenbau, der erften deutſchen unb Berliner
Lehrerinnen-Bereinigungen fördert fie in ihrer ftillen,
nicht eigene Ehre fuchenden Weiſe beren Bellre
bungen birelt und indirekt. Es ift gewiß noch im
Gedächtnis aller Beteiligten, wie fie geholfen hat,
dem im Sabre 1896 in Berlin tagenden inter:
nationalen Frauenkongreß die Stätte zu bereiten,
wie fie den viclen fremben Teilnehmerinnen ein
freundliche Beraterin und Führerin war.
Die von fo vielen verehrte Frau wolle biele
Heine Skizze ihres Wirkens als Dankeszoll bin:
nehmen von einer ber vielen, die Anregung MM
gleihem Thun und Streben von ihr empfangen
haben. Möchte fie, in das achte Jahrzehnt ihred
Lebend tretend, noch weiter wirken können ale
eine der rauen, die bie „Ssrauenbemegung” zu
Ehren gebracht. In der Stile wirkend, hat ſie
geholfen, Großes zu ſchaffen. — A. B.
Frauenleben und Streben.
* Die Zahl der Waifenpflegerinwen in Berlin
ift in den legten zwei Jahren um B1 geftiegen.
Sie betrug am 1. Januar 1899 397, am
1. Januar 1901 488. Tie Zahl der (Gemeinde
wwaifenräte, benen noch feine Frauen eingegliedert |
find, ift von 68 auf 54 gefunten.
* Die Co-Education nimmt auch bei uns in
Deutſchland langfam aber beitändig zu. Das
führende Land ift Baden, wo kürzlich aud bad
sroßherzogliche Gymnaſium von Konftanz ſich
entiloffen hat, Mädchen als Schülerinnen auf:
zunehmen. Eine Heine Duartanerin machte ben
Anfang. Aber aud in Hannover hat bie Ober:
prima des Gildemeifterfhen Realgymnafiums feit
Oſtern einen weiblichen Schüler.
* In Heidelberg promovierte Anfang Juni
Miß Neena aus Reiw:Nork unter Profeſſor Thode
und errang das Präbifat cum laude. Ais Haupt:
fab hatte fie Aunſtgeſchichte gewählt, ald Reben:
fächer Archäologie und deutſche Litteratur. Ihre
Tiffertation: „Die Anbetung ber Könige in ber
todeaniſchen Malerei”, in der fie durch grünbliche
Stubien in Florenz und Rom ganz neue (Hefichte:
puntte eröffnen konnte, ift von dem Berlag von
Seig. und Mündel in Straßburg in bie Serie „zur
Kunftgeichichte bed Auslanbes” aufgenommen, worin
fie in erteiterter Form noch diefen Herbſt aur Ver:
öffentlichung gelangen wird.
* el. Helene Stöder promovierte kürzlich
an der philoſophiſchen Fakultät von Bern auf
Grund einer Arbeit über „Wadenroder und bie
Kunfttheorien des 18. Jahrhunderts“.
* Das Doppelheim zu Paris, 21 Ruc
Brochant, das zugleich beutfche Lehrerinnen und
— Dienſtmadchen Obdach gewährt, ift ſchon früher
einmal Gegenftand Ichhafter Kontroverfen geivefen.
Es werben ſich noch viele unfrer Leferinnen ber
Thatfache entfinnen, baf in den BOer Jahren ein
Aufruf eines Frl. Lamprecht erſchien zur Be:
gründung eines Lehrerinnenheims und -Vereins in
Paris. Sie legte den Grund zu einer Gelb:
fammlung. Die von ihr gefammelte Summe über:
gab fie dem deutſchen Prediger zu Paris. Dieſem
gelang «8, ber Heinen Summe durch eifriged Werben
im Vaterland grofe Beträge zuzugeſellen; leider
ließ er fich aber dazu bewegen, enigegen der ur:
ſprünglichen Abficht, dad Heim für Lehrerinnen
auch Dienftmäbden (in Frantreich betanntlich
Bonnen genannt), unter einem Dach, wenn auch
in getrenntem Raum zugänglich zu machen. Gewiß
war den deutſchen Dienftmäbchen cin Heim im
fremden Land zu gönnen; es verriet aber wenig
695
Kenntnis deſſen, was bie beutiche Lehrerin in
Frankreich brauchte, wenn ihr fozialer Abftand von
den Dienftmäbchen fo wenig markiert wurbe. Die
Zranzöfin ift ohnehin fehr geneigt, auf ihre Er:
zieherin, zumal auf die beutfche, herabzuſehen.
Des weitern entnehmen wir einem Bericht von
Fel. Helene Adelmann auf ber Bonner General:
verfammlung über die Stellenvermittlung bed AU:
gemeinen Deutfchen Lehrerinnenvereina, deſſen
Zweigverein der Parifer ift:
Die beutfchen Lehrerinnen in Frankreich, die in
der Berbindung ber Stellenvermittlung für
Lehrerinnen und ber für Dienftboten, wie fie cin:
gerichtet worden, Gefahr für ihre Stellung int
fremden Lande fahen, fehlofien fi vor 10 Jahren
zuſammen und erreichten, daß die Stellenvermittlung
für fie im „Doppelpeim“ aufgehoben und dem
Vorſtand des Pariſer Yehrerinnenvereind überlaflen
wurde. Gie hat feitbem, wie Sie aus unfern
Verhandlungen erſehen Eonnten, in ber fegens:
reichſten Weife gearbeitet.
Nun fäht e& dem Borfigenden des Heims,
einem noch ziemlich neuen und jungen Herrn Paftor
ein, neben der im Doppelheim feit feiner Gründung
beftchenden Gtellenvermittlung für Dienſtmädchen
wieder eine für Vehrerinnen gu eröffnen. Die Ber:
eine in Paris und England haben cbenfo dringend
wie höflich gebeten, man möge bavon abftehen, und
auf die Bitte der beiden Vereine hat fi) unfer
Vorſtand des Allgemeinen deutſchen Lehrerinnen:
vereins gleichfalls mit derſelben Bitte an Herrn
Paſtor Anthe gewandt. Der Herr Paſtor hat es
nicht einmal für nötig gehalten, dem Vorſtand des
Allgemeinen beutihen Lehrerinnenvereind zu ant:
orten. Uns bfeibt nun nidt® übrig, ald
einig und feft zufammenzuhalten. Mag e3 ben
Frangöfinnen gefallen, fih ihre Lehrerin im Dienft-
botenheim zu fuchen. Wenn wir und in biefem
Haus nicht finden laffen, müflen fie zu uns kommen.
Wir haben ba® Keft in ber dand. Zeigen wir
denen, bie unfre Beftrebungen nicht verftehen ober
nicht verftehen wollen, daß wir gewilit find, die
deutfche Fahne im Ausland hoch zu halten und
der beutichen Lehrerin zu ihrem Recht zu verhelfen,
ſoweit es in unfern .Rräften fteht.
Unfer franzöfifcher Schweſterverein hat ſich ge:
nötigt gefehen, vorläufig Lehrerinnen, bie im
Doppelheim wohnen, nicht unter feine Mitglieder
aufgunehmen unb au placieren, und bemüht ſich,
ihnen gute frangöfifhe Penfionen nachzuweiſen.
Erleichtern wir ihm nad Kräften biefe feine Ber
* mühungen; gründen wir einen Leihfonds, aus dem
folchen Lehrerinnen burdh zinäfreie Darlehen ge:
bolfen werben Tann, bie den höheren Preis (die
Differenz ift etwa 20 Fres. monatlich) folder
frangöfifchen Penfionen nicht zu zahlen im ftanbe
find. Unfer Borftand ſchlägt Ihnen vor, dem
Parifer Verein für dieſen Zwed 1000 Mast zu
bewilligen. Meine (freundin, Frl. Bohnenberger
aus Stuttgart, Mitglieb des englifgen Lehrerinnen:
vereind, erbietet ſich gleichfalls, 1000 Mark bei:
zuſteuern.
Statt der beantragten 1000 Mark bewilligte
die Generalverfammlung 2000 Mark. No eine
Anzahl Heinerer Summen famen bazu, ſo baß ber
696 Frauenleben und :Streben.
Berein binnen kurzem in der Lage fein wirb, ber
nach frankreich Tommenden, mit knappen Gelb:
mitteln verſehenen Lehrerin bie Wartezeit zu er:
leichtern.. Der Allgemeine beutfche Lehrerinnen:
verein, die größte weibliche Berufsgenoffenichaft
Deutfchlandg, hat in diefer Angelegenheit ben Be-
weis geliefert, wie notwendig ſolche Berufsgenoſſen⸗
ſchaften ſind und. wie wichtig ſie gegebenenfalls
auch für die im Ausland lebenden Berufsgenoſſinnen
werden koönnen.
* jiber den Prozeß der Baronin Dr. Poſſanner
wegen Verweigerung des Wahlrechts für die Ärzte—
fammer berichten die Dokumente der Frauen
(Nr. 7):
Beim Verwaltungsgerichtshof ſtand am 18. Juni
bie Frage in Verhandlung, ob weibliche Ärzte, die
Mitglieder der Arztelanımer find, auch das. aktive
und paffive Wahlrecht in den Kammern befigen,
und man bat dieje prinzipielle Frage zu Gunſten der
Frauen, die ſich dem ärztlichen Berufe gewidmet
haben, entſchieden. Anlaß zur Enticheidung vieler
Trage giebt eine Beſchwerde, welche Frau Baronin
Dr. Gabriele Poffanner wegen Verweigerung des
aktiven und paffiven Wahlrechtes in der Arztekammer
gegen eine Enticheidung des Miniftertums des
Innern an den Berwaltungsgerichtäbof erhoben
hat. Frau Baronin Dr. Gabriele Poſſanner, der
einzige weibliche praftiiche Arzt in Wien, wurde,
obwohl fie Mitglied der Wiener Arztelammer ift,
bei den im Borjahre ftattgchabten Arztefammer:
wahlen in die Wählerlifte nicht aufgenommen;
fie rellamierte ordnungsgemäß beim Magiftrat,
wurde aber abgewieſen, da fte weder das aftive
noch paſſive Wahlrecht für die Gemeinde bejike.
Auh die Rekurſe an die Statthalterei und das
Minifterium des Innern - wurden abgewicien.
Rah einftündiger Beratung erkannte der Ber:
waltungsgerichtäbof, es werde in Stattgebung der
Beſchwerde die angefochtene Enticheidung des
Minifteriumd des Innern al® unbegründet auf:
gehoben.
Die Entſcheidung des Verwaltungsgerichtöhofes
ift eine felbftverftändliche. Eine Hutmacherin darf
in ihrer Genoſſenſchaft mitreden. Eine Arztin
foflte dag nicht dürfen? Das Sntereffantefte an
diefer Verhandlung waren bloß die unbegreiflichen
Entfcheidungen des Wiener Magiftrated, der Statt:
balterei und des Minifteriumg!
* Zum Dr. phil. der Univerfität Wien
wurde am 19. Sul d. Is. Frl Emma Ott
promoviert.
* Die erfte Franenpromotion in Prag war
die Fürzlih erfolgte von Frl. Marie Babor zum
Dr. phil.
* Die erfte öffentliche medizinifche Doltor-
prüfung einer Frau in Holland fand am 5. Juli
statt. Frl. Marie des Bouvrie promovierte
an ber mebdizinifchen Fakultät von Amſterdam
mit Auszeichnung. Sie wird im Herbſt die
Affistentin des Profeſſor Treub, der ein eifrigtt
Förderer der Frauenſache in Holland äft.
* Das politifche Frauenwaßlrecht in Belgien
ift jegt durch ähnliche Perbältniffe einen Schrin
vorwärts gerüdt, wie fie kürzlich dem kommunalen
Mahlrecht der Frauen in Norwegen aum Sicege
verholfen haben. Auch dort ift, wie die Frankfurte:
Zeitung berichtet, Die Frage aufgeworfen werten
auf Grund der neuerdingd wieder lebhafter auf.
genommenen Agitation der radikalen Parteien um
Einführung des allgemeinen Stimmrecht. Tir
Antrag der Nabilalen wurde zwar mit einer
ziemlich ftarfen Majorität abgelchnt, aber ter
Verlauf der Debatte zeigte doch, daß ber Sieg ber
radilalen Forderungen nahe bevorftünde. Angeſicht⸗
biefer Gefahr bat nun die klerikale Preife di
Forderung aufgeitellt, bei Einführung des ul:
gemeinen Stimmrehtd® auch ben Yrauen Bad
Stimmrecht zu geben. Die Gründe für diein
Vorſchlag find durchſichtig; man braucht nur daran
zu denken, wie bie klerikale Partei in Oſterreich
die rauen für ihre Wahlagitation zu lancderın
verftanden bat. Borläufig aber mag es Sid
auch darum gehandelt haben, die radikalen Parteien
unter fih zu Spalten. Thatſächlich nämlich war
man unter biejen geteilter Anfiht in der Frage,
vor allem eben wegen der Gefahr, daß durch dus
Frauenftimmrecht die klerikale Partei eine grebr
Stärkung erfahren würde. Im Generalrat der
Arbeiterpartei Fam die Frage kürzlich zur Ber
handlung. Bon den Gegnern wurde auf diele
Gefahr hingemwiefen, von den Freunden des Frauen
ſtimmrechts den aber entgegengehalten, daß felbit
wenn bie politiicde Emanzipation der Frau vor
läufig eine Stärkung des Klerifaliamus nach ſich
ziehen würde, dieſe Wirkung doch bald durch die
politifche Erziehung, die bie Frauen in der Aus
übung des Wahlrecht? erhalten, überwunden fein
würde. Es gelang, die Gegner bed Frauenftimm:
rechts zu überzeugen und bie Annabıne ber folgenden
Refolution durchyufegen:
„Der Generalrat erinnert die Gruppen und
Mitglieder ber Arbeiterpartei an bie früheren
Befchlüffe betreffend die politifche Gleichheit beider
(Sefchlechter und erfucht fie, die Agitation unter
den rauen mit dem größten Nachbrud au
betreiben.
* Eine Frauenapotheke in Petersburg wurde
kürzlich eröffnet, deren geſamtes Perſonal bis auf
den zweiten Provilor aus Frauen beficht, Die
erfte „Frauenapotheke“ in Rußland ift auf Initiative
von Frl. Leßnewski begründet worden, ber erſten
| und biöher auch einzigen Frau, die den Grab eince
ruſſiſchen Mag. pharm. beſitzt.
— — —
— —
Frauenvereine.
Totenſchau. Am 22. Juni ſtarb in Tübingen
eine der erften Borlämpferinnen ber Frauenbewegung,
Frau Mathilde Weber.
ihr Wirken hat eine eingehende Würdigung in
einem früheren Jahrgang ber „Frau“ gefunden. Es
fei hier nur noch einmal darauf hingewieien, daß
fie es ift, der die deutſche Frauenbewegung ven
erften entfchiedenen Fortſchritt auf dem Gebiet ver:
dantt, auf dem fie ſich heute der erften Errungen:
ſchaften erfreut, auf dem Gebiete des mediziniſchen
Frauenſtudiums. Es iſt in vielen Fällen kein Ber:
dienſt, unter den erften zu fein, die für einen ort:
ſchrin eintreten, nur dann iſt es ein Verbienft,
wenn hinter einer ſolchen Agitation eine Berfön:
lichteit fteht, die ihr cine Wirkung ſichert, und
eine Arbeitölciftung, der cine Beweiokraft für
Ihre Bedeutung und |
er
! bie Reife und den Ernft des Forderns innewwohnt.
| MS der deutiche Reichstag die Frage bed mebizi:
niſchen Frauenftubiums vor zehn Jahren zum erften
| Mal crörterte, da konnte der Abgeordnete Ridert
den Bedenken gegen die „Emanzipationägelüfte” die
Frage entgegenhalten: „Kennen Zie bad Buch von
Mathide Weber: Arztinnen für Frauentrankheiten?
Kennen Sie die Frau ſelber?“
Darin, daß fie eine vollwertige Perfönfichteit
in den Dienft der Frauenfache ftelte, liegt das ber
ſchloſſen, was wir Mathilde Weber verdanken, liegt
bie Schwere des Verluſtes, den ihr Tod für une
bedeutet. Co lange bie Frauenbewegung diefen
Wertmeffer für ihre Arbeiterinnen fefthält, wird
das Gedächtnis von Mathilde Weber in ihr
lebendig bleiben.
—E —
Frauenvereine.
Der Landeöverein preußiſcher Bolloſchul⸗
lehrerinuen
bat eine Petition bei dem Miniſter für Handel
unb Gewerbe und bei den Rultusminifter eingereicht.
Die_erfte Mmüpft an die am 1. ftober 1900 in
Kraft getretene Gewerbeordnungsnovelle, die in $ 120
Gemeinden und Kommunalbehörden dad Recht zu:
ſpricht, den Fortbildungszwang aud [
weibliche YHanblungsgehilfen einzuführen. Ta
das Beifpiel Wicdbadens und die in andern großen
Städten eingeleiteten Verhandlungen zeigen, daß
die Städte von biefem Recht Gebrauh machen
werben, da andrerſeits zum Unterricht an dieſen an
die Volksſchule anfchliekenden Fortbildungsſchulen
die Volksſchullehrerinnen in eriter Linie berufen
find, fo richtet der Verein an dem Unterrichts:
minifter die Bitte:
1. Eine hohe Königliche Staatöregierung wolle
durch Errichtung faatlicher Hurfe zur Aus:
bildung von SandelBichulfehrerinnen dem vor: .
liegenden Bebürfniß genügen und
2. zuglei) den preußiichen volts ſchullehrerinnen
durch befonbere Einrichtungen die Möglichleit
der Teilname an dieſen Kurfen gewähren.
Damit die Ausbildung der Handelsſe
Ichrerinnen eine gründliche werbe, bittet der Verein
a) die Ausbilbungäzeit auf mindeftend ein
Jahr hemeſſen zu wollen, b) die Kurfe an eine
Univerfität anzugliedern; c) mo cine Handels⸗
hochſchule gegründet wird, die Bulaffung ber
Xehrerinnen verfügen zu wollen, d) nad Schluß
der theoretifcpen Ausbildung die dreimonatliche
a
Einfihtnahme in den Geihäftägang eines fauf:
männifchen Betriebeö anzuordnen; e) die geivonnene
Ausbildung durch eine Prüfung abfdliegen zu
wollen.
Da die materielle Lage ber Vollsſchullehrerinnen
Erfparnifje für Stubienzwede nur in geringem
Umfange möglich macht, fo bittet ber Berein,
Stipendien zur Unterftügung für die Teilnehmerinnen
diefer Kurfe auöwerfen zu wollen.
Die zweite Petition an den Aultusminifter
enthält die Bitte um Errichtung ftaatlier
Kurfe zur Ausbildung von Fortbildungsfgul:
Iehrerinnen. Für bie Art biefer Ausbildung
fpricht der Verein folgende Wünfche aus:
ALS Unterrichtsfächer follen gelten: Piychologie
und Methobil; SKulturgeldichte, Bolswirtfpafts:
lehre und Gefepeöfunde; Geſundheitslehre mit
befonderer Berüdfichtigung der Kinberpflege; haus:
wirtſchaftlicher Unterricht mit Bethätigung in der
Küche, ald Wahllurſe Schneidern und Mäfchenähen.
Der Verein erbittet ferner: eine Zeitdauer der
Rurfe von einem Jahre; die Errichtung der Kurfe
in einer Univerfitätöftadt, damit die Teilnehmerinnen
zusleich Borlefungen an ber Univerfität in den
| von ihnen bevorzugten Fächern hören können;
! die Bewilligung von ftaatlihen lnterftügungen
während ber Teilnahme an den Kurſen, damit
diefe jeder begabten und ftrebfamen Boltzjchul:
lehrerin auch thatſächlich zugänglich find.
—
| Die Bereind: Zeutralftelle für Rechtsſchutz
(Leiterin Frl. Dr. jur. Marie Raſchke) ift am
i 1, Oftober 1900 in® Lehen getreten, um eine Ber:
bindung aller derjenigen (rauen: Vereine und
Vereins Unternehmungen herbeizuführen, welche bazu
dienen, den Frauen Rat und Hilfe in Rechtsfragen
! und Rechtöftreitigteiten zu getvähren.
Turdh ftatiftifhe und milfenfhaftfiche Ber-
arbeitung der Erfahrungen und Refultate der ber
Bentralftelle amgeglieberten Iotalen Nechtafhug:
| vereine will biefe
a) der Öffentlichfeit die Notwendigkeit des
Rechtöiguges durch Frauen für Frauen und den
Segen, den biefe Einrichtung einer großen Anzahl
von Frauen gebracht hat, vor Augen führen (An:
regung zur Bildung neuer Rechtsſchutzſielien),
698
b) durch Hinweiß auf etwaige Ungleichheit in
ber Rechtiprechung und wiflenfchaftliche Erörterung
biefer letzteren Einfluß auf bie Rechtſprechung
nach der Seite des Rechtsbewußtſeins der Frauen
bin gewinnen.
Hierdurch ſoll ſich die nationale Rechtsſchutz⸗
ftelle zu einer — fo zu fagen — juriftifchen Stätte
erweitern, von der aus das Mitwirken der Frauen
bei der Geſetzgebung des Reiches vorbereitet wird.
Die Zentralftelle erläßt einen Aufruf an bie:
jenigen Nechtöfchugvereine und -Stellen, bie ihr
noch nicht angeſchloſſen find und bittet fie, fich bis
zum weiteren Ausbau der Bentralftelle bedingt
anichließen zu wollen, indem fie fich eventl. nur
verpflichten, der Zentralftelle alle 3 oder 6 Monate
ihre Erfahrungen auf dem Gebiete bed Rechts-
ſchutzes ſowie den Verlauf ihrer Bermittelung bei
Rechtsſtreitigkeiten mitzuteilen. Der Bericht müßte
die Angaben enthalten:
a) in welchen Fällen Rat oder Hilfe eingeholt
worden ift.
b) welche Fülle gütlich beigelegt oder durch
außergerichtlichen Vergleich erledigt worden find,
ß 8 welche Fälle dem Gericht überwieſen worden
ind.
In lehrreichen Fällen, wie Alimentations-Ehe⸗
ſachen, Lohnſtreitigkeiten, Schadenserſatzklagen ꝛc.
müßte, wenn es irgend angängig iſt, der Ausgang
des Prozeſſes der Zentralſtelle mitgeteilt, d. h. ihr
eine Abſchrift des Urteils mit Thatbeſtand und
Entſcheidungsgründen auf ihre Koſten eingeſandt
werden. Zu dem Zweck wäre die Klientin zu
erſuchen, eine Abſchrift des Urteils vom Gericht
zu verlangen und der betreffenden Rechtsſchutzſtelle
zu übergeben.
Da ſelbſt der vorgeſchrittenſte Rechtsanwalt
nicht in allen Rechtsfragen die Rechtsanſchauung
der vorgeſchrittenen Frauen teilt, empfiehlt der
Aufruf, daß ſich die Leiterinnen der Rechtsſchutz⸗
vereine und :Stellen in Rechtsfragen, die in das
Gebiet des Familienrechts fallen, im Zweifel an bie
Leiterin der B:8.:5telle, Berlin SW., König:
gräßerftraße 88, wenden, die laut Programm in
ſolchen Fällen gegen Einfendung von 1 Mark (in
Briefmarken für die Kaffe der Zentralftelle) ein:
gehend ſchriftlich Auskunft erteilt.
Dad Programm der Vereins: Zentralftelle für
Rechtsſchutz ift in Heft 2—6 der „Zeitichrift für
populäre Rechtskunde“ abgebrudt.
Der Letteverein
(Dorfigende Frau Elifabeth Kaſelowsky) zeigt
in feinem 28. Jahresbericht für das Jahr 1900, daß
er in den altbewährten Bahnen fortjchreitet. Bei der
von der erwählten Baulommilfion ausgefchricbenen
Konkurrenz für den Neubau eines Vereinshauſes
find 6 BPreife verteilt worden. Den erften Preis
erhielt Herr Baumeifter Schulz, in Firma Schulz &
Schlichting, der beauftragt wurde, feinen Plan aus⸗
zuarbeiten. Es ift jedoch noch nicht möglich
gewefen, die Pläne fomweik fertig zu ftellen, um fie
ber Behörde zur baupolizeilichen Genehmigung ein:
reihen zu können. Der Berein hofft jedoch, noch
im Laufe des Sommers den Grunbftein legen zu
fönnen und ben Bau entſprechend zu fördern.
S. M. der Kaiſer bat 50000 Mark aus bem
Dispofitionsfonde zum Bau des Haufes bewilligt. —
Das Vertrauen bed Publikums zu bem Verein ift
Frauenvereine.
fo groß, daß alle Klaſſen bis zur äußerfien Grenv
der Aufnahmemöglichkeit gefüllt ſind, und toi
namentlih in ber Handelsſchule, ber Kochſchoun
und ber pbotographifchen Lehranftalt Schülerinnen
zurüdgemwiejen ober auf einen fpäteren Termin
verwiefen werden müflen. Neue Kurſe ſind ım
laufenden Jahre nicht eingerichtet tworben, jedes
ift eine Buchbinderei-Lchranftaft ind Auge getar:.
und ber Berein bofft, mit der Einrichtung bıda
Lebranftalt mieber einer größeren Anzahl ven
Mädchen und Frauen einen lobnenden Erwerb-
zweig zu eröffnen.
Der „ Rechtsfchugverein für Franen“ im Dredden
bat im Laufe bed Vereinsjahrs 1900 18 Ti
glieder: und öffentliche Verſammlungen abgebalten,
außerdem einen in Gemeinfhaft mit der hieſigen
Abteilung Frauenbilbung : Frauenſtubium veran
ftalteten Vortraggabend. Die vom Berein unter
nommene Enquäte in der Strobhutnäherei ıft ſower
zum Abſchluß gelommen, daß mit ber Sichtung
und Zufammenjtellung des gefammelten, zieml:t
reichhaltigen Materials begonnen werden konnt:
Die Rechtsſchutz-Geſchäftsſtelle des Vereins wurd.
in 792 Fällen in Anſpruch genommen. Bon dm
die Sprechftunde auffuchenden (yrauen waren tir
heiratet 569, unverheiratet 228. Bon befonderem
Intereſſe iſt das im vergangenen Jahre erketit
Verlangen verlobter Berfonen nad Ebevertrügen
mit Ausschluß der ehemännlichen Nupnichung un?
Verwaltung am Frauenvermögen, ſowie die Anfrage
verbeirateter Frauen, wie bie Ausſchließung ver
Nubniekung und Verwaltung nad geichlofiene
Ehe zu bewirken fei. Als erfreuliche Thatfache it
ferner das dankenswerte Entgegenfommen der Be
hörden zu erwähnen, mit benen bee Berein in
Verbindung zu treten Gelegenheit hatte. Mit x
fonderer Freundlichkeit berüdfichtigten bie Herren
Vormundichaftsrichter und die Poligeiorgane, aud
die Spitzen bderfelben, die an fie geftellten Anliegen
und Anfragen. — Die Auskunftsſtelle für Wohl
fahrtseinrichtungen ift in biefem Vereinsjahr —
dem zweiten feit Beftehen berfelben — von 119
Berfonen — gegen 60 im borbergegangenen —
aufgefucht worden.
Der Berein Berliner Dienſtherrſchaften und
Dienftangeftellten
will bei feinem praktiſchen Zufammenarbeiten ben
Hausfrauen und Dienenden zunächft ben tielem
Hfundenen Schäden der Stellenvermittelung entgegen
treten. Bekanntlich bat der Verein bereitö cınem
gut funktionierenden eigenen unentgeltfiden Stellen:
nachweis für feine Mitglieder eingerigtet Ti
Gefchäftäftelle ift Potsbamerftr. B3c, nachmittage
von 3—7 Uhr geöffnet.
Der Stabtbunb ber Vereine für Armenpfen
und Wohlthätigleit zu Fraukfurt a. M.
(BVorfigende: Frau Profeffor Edinger) ift ver
zwei Jahren aus dem Bebürfnid hervorgegangen.
alle in ber Wohlfahrtäpflege thätigen Organe IM
gemeinfamer Arbeit zu vereinigen. Er bemübt
fih, eine Zentral: und PVermittlungäftele zu ſein
für alle diejenigen Vereine und Private, bie auf
dein weiten Feld der fozialen Hilfsarbeit that
Frauenvereine.
find. — Eeinem Charakter entſprechend läßt es ſich
der Stabtbund angelegen fein, eine möglichft große
Zahl von Namen folder Familien in feinen Alten
zu befigen, melde jemals bie öffentliche ober
private Wobftpätigleit in Anfprucd genommen
haben. Hierdurch ift er im ftande, einen großen
Bruchteil der an ihm gerichteten Anfragen andrer
Vereine oder Privater zur Zufriedenheit ber
Fragenden zu beantworten. Weiterhin bemüht er
fib, auögleihend und vermittelnd thätig zu fein
bei der Organifierung von Weihnachtöbeiherungen
fowie bei den Beftrebungen zur Beichaffung eines
Sommeraufenthaltes für Kinder unb Erwachſene.
Turd) Aufnahme von Meldungen und Pergleichung
von Liften ift ed dem Stabtbund gelungen, hierin
günftige Nefultate zu erzielen. Er barf ſich
rühmen, daß durch feine Vermittlung cine größere
Anzahl von Doppelbefcherungen vermieden, und
dafür andern Familien, bie noch von feiner Seite
her bebadht wurden, etwas zugeivenbet worden ift. —
Nicht minder fegendreih waren feine Bemühungen
betr. bie Sommerpflege von Schultindern und im
Beruf ſtehender junger Mädchen. Durd feine
vermittelnde Beihilfe konnte eine nicht geringe
Anzahl Erholungäbebürftiger der Wohlihat eines
mehrwöchentlichen Lanbaufenthalteöteifhaftig werben.
— Ein großed Verdienft erwarb ſich der Stadt:
bund außerdem noch durch bie Lerausgabe bed
Sand: und Nachſchlagebuches „Die private Fürforge
in Frankfurt a. M.“ Dasjelbe enthält eine genaue
und praktiſche Zuſammenſtellung der in der Stabt
beftehenden gemeinnügigen SBeranftaltungen und
ift für alle diejenigen, die fih mit MWohlthätigkeit
und Armenpflege befaflen, von wirklich gro|
Nugen. — CB ift begreiflich, daß die fi über ein
fo weites Feld erftredende Thätigkeit des Vereins
einer großen Anzahl von Arbeitöfräften bedarf. Es
ift daher von Anfang an das Beftreben des Stadt:
bundes geivefen, möglichft viele freiwillige Si
träfte heranzuziehen, ta® ihm auch gelungen ift.
Tantbar blidt er auf eine große Zahl von frei
willig mit ihm Arbeitenden, und es iſt erfreulich
zu konſtatieren, daß das Intereſſe und die Liebe
zur fozialen Hilfethätigkeit immer weitere Kreiſe
der befferen Gefellichaftätlafien erfaßt. — Cine
Menge junger Mädden arbeiten im Tienit des
Stabtbunded auf ben verfchiebenften Gebieten.
Befonder® bevorzugt wird dad Erie len von Rad):
biffeunterricht an durd Krankheit ober mangelnde
Begabung zurücgeblicbene Schultinder; aber aud)
die Befuche bei Armen und Kranken. Die Arbeiten
aur SHeritellung von Blindenſchrift, ſowie bie
Hilfe in Kinderſchule, Kindergarten, Kinder:
bert und jlidfurs werden eifrig, betrieben. —
Auf der diesjährigen Generalverfammlung bes
Bundes wurde über eine Cingabe des Stabt:
bunbes an ben Magiftrat der Stadt Frankfurt,
betreffend die Einführung des Sauähaltung
unterrichte® in bie oberfte Klaffe der Vollsmädche
ſchule in Tebhafter Debatte verhandelt. Aus der:
felben ging hervor, dafı die große Mehrheit der
Schulmänner dem Antrag nicht günftig geftinmt
gegenüberfteht, während alfe auf fozialem Gebiet
Arbeitenden von der unbedingten Notwendigkeit
einer obligatorifhen hauswirtfchaftliden
698
Die beiden Parteien einigten ſich ſchließlich dahin,
daß bie Eingabe gemacht werben follte und die
Lehrer ihre Yuftimmung zu einer probeweifen Ein⸗
führung des betr. Unterrichteö geben würden.
Die hauswirtſchaftliche Fortbildungsſchule des
Vereins Fraueuwohl zu Königsberg i. Pr.
veröffentlichte ihren 7. Jahresbericht für bie Zeit
von Dftober 18989— 1900. Ihre Maieftät die
Naiferin Friedrich hat das Proteftorat über die
Säule übernommen. Es wurden ſtets circa
30 Mädchen in ben verfeiebenften Siveigen ber
Haußwirtfchaft mie: Kochen, Waſchen, Plätten,
Schneidern, Mafchine: und Wäfchenähen, fowie auch
in Deutich, Rechnen, Haushaltungdhunde, Zeichnen
und Turnen unterrichtet. Zum Teil nehmen bie
Mädchen nad vollendetem Kurfus Stellen an, zum
Zeil aber verwerten fie auch die erworbenen Fertig:
feiten im eiterlichen Haushalt. Der Magiftrat hat
die bieherige Subvention von 300 Wart auf
600 Mark erhöht.
Der Berei
zur Gründung eines Mädchen:
muafiums in Münden
veröffentlicht feinen 7. Jahresbericht. Ta bie
wiederholte Gingabe ded Vereins an das Agl.
Kultusminifterium um bie Genchmigung zur Er⸗
richtung eines Mädcengumnafiums abfehlägig be:
ſchieden worden war, machte fi) in der 8. ordent⸗
lichen und einer fpäter einberufenen außerorbent:
lichen Sauptverfammlung das Verlangen nad)
Errichtung von gumnafialem Privatunterricht geltend.
Die betreffenden Anträge wurben aber mit geringer
Majorität abgelehnt, da der Verein an feinen
Grundfage fefthielt, nur ein ftaatlich genehmigtes
Bolgymnafium mit dem Rechte auf Ablegung ber
Abiturientenprüfung errichten zu wollen, wenngleich
er der Einrichtung von Privatunterricht auch fym-
pathiſch gegenüberftehe. Im Laufe des Sommers
fünbigte derr Rektor Sidenberger bie Errichtung
von gumnafialem Privatunterricht für Mädchen
unter feiner Zeitung an und ftellte im Januar den
Antrag, fein Unternehmen durch Gewährleiſtung
von greiplägen bezw. Schulgeldnachlaß an be:
bürftige Schülerinnen zu unterftüen. Bit biefem
Gefuh mar der Borftand nicht einverftanden,
einigte ſich aber fpäter mit verrn Reltor Siden:
berger über bie Bedingungen, unter welchen ber
Verein bereit fei, feine Kurfe als ſolche zu unter:
fügen. Danach leitet Herr Sidenberger biefelben
für das laufende Schuljahr unter feinem Namen
und nah dem von ihm feftgefeßten Lehrplan,
während der Berein da gefamte Soll und Haben
für da laufende Schuljahr übernimmt. Eine Er:
neuerung des Zertraged für das nachſte Schuliahr
ift vorbehalten. Bis dahin follen die Beriehungen
des Vereins zu dem Unternehmen durch den Vor—
ftand, fpäterhin durch ein aus Bereindmitgliedern
beftehendes Kuratorium wermittelt werben. —
€3 wurden 12 Borftandd: und Ausſchuß ·
figungen abgehalten und im inter ein Cheius
von 6 Vorträgen de Herrn Dr. Grafen von Du
Moulin-Edart, Profefjor an der techniſchen Goch:
Aus: ! fhule, über die „Franzöſiſche Revolution“ ver:
bildung unfrer weiblichen Jugend überzeugt find. ı anftaltet. Auferbem fanden 4 Kitglieberabenbe ftatt.
2 ep
700
Eine Reihe von hervorragenden deutſchen
Künftlern, Litterarhiftoritern und Gelchrten ver:
öffentlicht den nachftehenden
Aufruf.
Am 8. September d. 3. vollendet, fo Gott
win, Wilhelm Raabe zu Braunſchweig fein
ſiebzigſtes Lebensjahr.
Seit beinahe einem halben Jahrhundert haben
fi) Taufende und Abertaufende an ber Gemüts:
tiefe und an dem Gedanfenreichtume der Dichtungen
Raabe's erfreut und erbaut; doch wie er felbft alle
Zeit fill feined Weges gegangen ift, fo haben ibm
aud feine Leſer bisher nur in der Stille danken
tönnen. Um jo näher liegt e8, daß jetzt, da feines
Lebens Feierabend naht, alle, bie auß bem köft:
lichen Borne feined Humors fo oft Erquidung und
neuen Lebensmut geihöpft Haben, fi) einmütig in
dem Gedanken zufammenfinden, dem Dichter aud)
vor der Welt ihren Dank darzubringen.
Zür eine folde Ehrung glauben die Unter
zeipneten eine Form gefunden zu haben, bie der
Verfönlichteit des Dichters und ben Wünfchen feiner
Verehrer gleicherweife entiprechen würde.
Es ift ein oft beflagter Mangel, daß es noch
immer am einer Gefamtausgabe der Werke Raabe's
fehlt, fo daß es wohl nur wenigen vergönnt ift, fie
alle zu befigen. Giner folhen Gelamtausgabe
ftand und jtcht das Hinberniß entgegen, baf die
Verlagrechte auf Raabe’8 Schriften nicht in einer
Hand vereinigt find. Durch Befeitigung biefes
Dinberniffea ciner Gefamtausgabe die Wege zu
ebnen und bem Dichter an feinem fiebzigften Ge:
burtötage das Verfügungsrecht darüber in bie
Hand zu legen, ift der Plan, zu beffen Ber:
wirkung fi) bie Unterzeidhneten zufamınen-
gefunden haben.
Sie wenden fih hiermit an alle, die Wilhelm
Raabe kennen und Lieben, mit der Aufforderung,
die zu bem bezeichneten Ziwede erforderlichen Mittel
feibft und durch Verbreitung diefes Aufrufes in
ihren Kreifen aufbringen zu helfen.
Für den Fall, daß fic) die Verhandlungen mit
den beteiligten Verlegern zerfchlagen follten, erbitten
ſich die Unterzeichneten die Befugnis, den Ertrag
der Sammlung zur Ehrung des Dichter8 aud in
einer andern, feiner würdigen Form zu ber: |
wenden.
Beiträge nimmt entgegen:
Direktion der Diskontogeſellſchaft, Berlin,
Herr Sigmund Schott, Deutiche Effekten:
und Bechfelbant, Frankfurt a. M,
Herr Bankdireltor Paul Walter, Hz
ſchweig Hannoverſche Simpothefenbant, Bra:
ſchweig.
Mitteilungen jeder Art und Anmeldungen '=
der Feier in der Stabt Braunſchweig am &. Zu
tember 1901:
Feftverfanmlung morgens 11%/. Ubr,
Fefteffen nachmittags 4 Uhr,
werden — letztere Bis zum 15. Auguſt — *
Händen des Nechtdanwalts und Notard Louu
Engelbrecht in Braunfchtveig erbeten.
„Das Ehepaar Orlow“. Bon Marin
Gorki, deut von A. Scholg. (Berlin, Brun
und Paul Caffirer.) Ein Buch von Marim Merk
zur Hand nehmen, das heit nicht, wieder einmal
einen andern — neuen Schrifiſteller unter di
Fingern haben, den man auf Wollen und Können
Bin betrachten, betaften und prüfen mag. Ce kait
Leben vor ſich fehen, um fi fühlen — lelendut
Zehen, in dem eine ftarfe, umendfiche, weit
Seele wohnt — bie Secle des ruffifchen Boltit
Nicht der Schriftfteler tritt einem aus_diekı
Buche zuerft, am Fräftigften und greifbarften en:
gegen, fordert den hrenplag fir fi, fondern dir
Menfch, der Ruffe. Und wen des Dichters arte
Stammesbrüber noch nicht gelehrt haben, das Full
zu achten und zu lieben, über beffen Seele für un
immer noch ein Schleier liegt, die tief, weit.
unbegrenzt und voll Schtwermut ift wie ber Mutter
hoben, aus dem fie ihr Sehen faugt, und in bern
Schoß unbetannte Riefengebilde no falummern
— — ber findet an Marim Gorfi'3 Hand tur
Weg, der in die Tiefe diefer Seele führt.
Der Schuſter Orlow — in ber erften Lüngerer
Erzählung des vorliegenden Bandes — berlün!
die flaviiche Raſſe in ihrer urfprünglicen, nd
unvermifcpten und ungebändigten Eigenart. ©
lehrig gefhmeidig, fähig, alle Einbrüde
empfangen, alle Formen anzunehmen, ein un
fehulter Geift, ein Teidenfcpaftlicher Charakter, weit
und gutberzig, immer mit trüben, unllaren, [hw«T-
mütigen Empfindungen ringenb, mit dem dumpfer
Gefühl fortwährender blinder Empörung, das fit
in Trog, Boöheit und Gehäffigkeit Luft mabt
Ein Mann mit ftarken Lebenstrieben, der doch det
Leben nur irgendwo „weit — weit ba drehen
fluten hört — ein Dichter, den bie Erbe, auß N’
er beraußgetvachfen ift, umerbittlidh feftbätt. Ti
neben die rau, bie meitaus —3 de
reprodultive Natur, bie eben, weil fie die mindt
Bücerfhau. — Anzeigen.
ftarfe Perfönlichkeit if, den Weg aus den engen
Kreis ihres Ich heraus findet.
Es folgen dieſer Erzählung noch drei Stizzen,
alle aus dem Leben der Enterbten, Seimatlofen.
Vielleicht kommt hier dem Leer — wie mir —
fo nebenbei ber Gedanke, mie wenig bei und in ;
Deutſchland grade auf dem reizvollen Gebiet ber
Stigge geleiftet wird. Man nehme einmal bie
meiften unfrer Skizzen! Faft alle baufchen fie nur
einen einzigen Gebanten — eine einzige mehr ober '
minder gute Pointe, einen Ballaft von jentimentaler
Lyrit und wortreicher Betrachtung auf — und bie
Wenfben find Figuren — Schatten ohne feite
Form — ohne dieſſch und Blut! Dagegen 5. 8.
Raupaffant — Tſchechow u. a.!
Auf zwei — brei Seiten, ohne großen Apparat,
opme ein überflüffiges Wort, ein ganzes Drama,
das fih in ſcharfen Umriffen vor und entwidelt!
Und bier — Warim Gorti. Chme Zuthat, ohne
Sentimentalität, ohne verftimmende Abfichtlichteit,
in ber unbelümmerten feflellofen Art des Wander:
‚gefellen, der unbeſchwert von Befig über die Erde
— dur das Dafein ftreift, erzählt er feine Heinen
Erlebniffe. Welch ein Hauch zartefter Poefic,
rührenden Humor8 über diefen Menfcen! flder
Rolaſcha der „Gefallenen“, bie hungernd, obbadh:
108, geihlagen, auögeftoßen, in echtefter Frauengüte
noch Teoft für dem ebenfo hungrigen, elenden,
armfeligen Jungen findet! Über dem einfältigen,
gutmütigen, ewig betrunfenen Mifchla, der aus ber
unfichern Tänmerung feiner Philoſophenſeele heraus
701
der alten Betſchweſter das geſtohlene Silberſchloß
gurüdbringt! Über ber abftoßenden, verfonmenen
Terefa, die in ihrer taftenden Sehnfucht nad} einem
: Menfejen der „für fie da ift“, fid einen Freund
erfindet — — —
Aber wozu weiter rühmen? Derartige Bücher
find da, um gelefen zu werden. G S. fett.
„Die foziale Stellung ber Sranfen-
pflegerinnen“ von Schwefter Elifabeth Storp
(Tredben, im Selbftverlag, KRaigerftr. 29). Die
Xerfafferin giebt in dem Schriftepen einen Überblid
über die (Jehalt8: und Werforgungsverhältniffe der in
interfonfeffionellen Vereinen organifierten Kranten.
pflegerinnen und fnüpft baran Vorfchläge zur
Befferung diefer Berhältnife. Wir werden in diefer
geitfeprift auf biefe außerordentlich wichtige Frage
noch zurüdtommen und empfehlen vorläufig das
Schriften von Elifabeth Storp allen Inter:
effierten zur Kenntnisnahme.
Eine internationale Bibliothek zur Zrauı
frage von feltenem Umfange und jeltener Reich:
haltigteit Hat Dr. Aletta Jatobs in Amfterdam
geihaffen. Gin Hatalog diefer Bibliothek ift unter
dem Titel: La femme et lo feminisme im Ber:
lage von 2. Giard et E. Briered, Paris, er:
fhienen. Er wird jedem, der die Frauenbewegung
der verſchiedenen Länder ftubieren will, cin iwert:
volles bibliographifdhes Hilfsmittel fein.
Schöne Fütze und ſchöne Zähne find bie
wichtigften Schmudattribute de Menfchen. Während
man aber mit den häßlichften Platt: und Plump⸗
füßen kerngeſund fein und fi} körperlich fehr mollig
fühlen Tann, haben häßliche Zähne fehr häufig
lörperlice Yeiden, namentlich Verdauungaftörungen
im Gefolge. CS ift geradezu lächerlich, daß fo
viele Nenichen, die fortwährend über Magen:, Kopf:
feomerzen oder verdorbenen Magen Hagen, lieber
allerhand Mirturen und Magenfchnäpje vertilgen,
als die Urfahe diefer Yeiden zuerft in dem Nä
liegenden, nämlid) in ber Belchaffenbeit ihres Kau:
apparates zu ſuchen. Man bedente doch: Schlecht:
gelautes Effen wird ſchlecht verbaut, und nur das,
mas mir verbauen und ordentlich verbauen, ernährt
und, nicht das, was wir effen. Mit fchlechten
Zähnen ift aber eine gute Verdauung undenkbar.
An einer ricptigen Verdauung hängt die Gelundgeit
und an die (Sefundfeit ift unfer 2eben, find erft
bie Lebensgenüffe gelnüpft. Die Erhaltung und
Vflege unferer Zähne ift alfo immens wichtig, und ;
€& ift hoc) Bebauerlich, daß «8 immer noch Menfehen
giebt, die in ihrer allgemeinen Bequemlichkeit ihre :
Zähne dahinmodern laffen. Solde Leute find
einfach) Verbrecher an fich felbft. Tiefe Bequemlid):
teit_ift um f> unverzeihficher, ais und bie moberne
Wiſſenſchaft hemifche Mittel zeigt, mit deren Hilfe
jeder fein Gebiß in gutem, minbeften® in feiblich
guter Zuftande erhalten kann.
Freilih muß man ein wirklich zuverläſſiges
Mittel anwenden.
Zahnjeife oder Rulver, wie das noch vielfach üblich
Das einfache Puhen mittels ,
ift, hat gar feinen gwed. Das fann man daran
fehen, daß viele Leute, die ihre Zähne täglich mit
Pulver oder Pafta reinigen, doch ſchadhafte Zähne
haben. Ja häufig werben bie Zähne durd Puder
ober Pafta nod mehr verdorben; denn altalifhe
Zahnfeifen machen die Zähne mit der Zeit brücjig,
und dur) das tägliche Bugen mitteld Zahnpulver
ober Pafta wird die Zahnglafur angegriffen und
dünn. Abgeſehen aber von dieſen ſchädlichen
Nebenwirkungen können Zahnpulver ober Paſten
ſchon deshalb die Zähne nie und nimmer vor
Verderben ſchützen, weil ja gerabe diejenigen Stellen,
die am cheften anfaulen, wie Rüdfeiten der Bad-
zähne, Zahnfpalten, Zahnlüden u. f. w. bei dem
Bugen “mittels Pulver ober Pafta unbchefigt
bleiben. Da fault e8 alfo ruhig weiter. —
Will man feine Zähne vor Fäulnid und Verderben
frei, alfo gefund erhalten, fo kann bad nur durch
den Ionfequent täglichen Gebrauch des flüffigen
Bahnantifeptitums Tdol erzielt werden. Tiefer
dringt beim Spülen überall Hin, in die hohlen
Zähne ſowohl wie in die Zahnfpalten, an die Rüd:
feiten ber Badenzähne u. f. w. Obol ift, wie neuer:
dings twieberholt tiffenfehaftfih nachgewiefen,
unbedingt allen anderen befannten Zahnreinigunge:
mitteln weit überlegen, weil ed, ohne die Zähne
aud nur im geringften anzugreifen, ftundenlang
im Munde fortwirkt, nod lange nachdem man fid
den Mund obolifiert bat. Man beginne alfo mit
einer fonfequent täglichen Runbpflege mittels
Diol. Viele werden dann dankbar unferer
gebenten.
Anzeigen, 708
» » W. Moeser Buchhandlung, Berlin. » »
Demnächst erscheint:
Dandbuch der Hrauenbewegung
herausgegeben von
Helene Lange und Gertrud Bäumer.
Mitarbeiter:
Für Deutschland: Alice Salomon, Marie Stritt, Anna Pappritz, Ottilie Hoffmann,
Dr. Robert Wilbrandt, Lisbeth Wilbrandt.
Für das Ausland: Emilie Benz, Marie Bessmertny, Ersilia Majus Bronzini,
Biee Cammeo, Maria Cederschiold, Auguste Fickert, Kirstine Frederiksen,
J. Gatti de Gamond, Alexandra Gripenberg, Marianne Hainisch, Anna
Hierta-Retzius, Martina Kramers, Gina Krog, Jane Scherzer, Martha
Strinz, Dr. phil. Caroline Michaelis de Vasconcellos, Professor Dr.
Wyehgram u. a. BEE BEE
l. Teil.
Die Geschichte der Prauenbewegung in den Kulturländern.
I. Teil.
Die Geschichte der Prauenbewegung und der sozialen Prauenthätigkeit
in Deutschland auf ihren einzelnen Gebieten.
Il. Teil.
Der Stand der Prauenbildung in den Kulturländern.
IV. Teil.
Die deutsche Prau im Beruf.
Jeder ca. 20—25 Bogen starke Band ist einzeln käuflich.
u —
Das vorliegende Buch ist auf deutschem Boden der erste Versuch, eine Über-
sicht über das ganze Gebiet der Fragen und Bestrebungen zu geben, die man in
den Namen Frauenfrage und Frauenbewegung zusammenfasst. Es soll angesichts
der grossen Unkenntnis, die in weiten und einflussreichen Kreisen über Ursprung.
Ziele, Umfang und Bedeutung der Frauenbewegung herrscht, Aussenstehenden die
Möglichkeit geben, sich an der Hand einer objektiven, wissenschaftlichen Darstellung
über Geschichte und Stand der Frauenbewegung eingehend zu orientieren. Es soll
allen, die in der Frauenbewegung arbeiten, zu einem gründlichen Studium der ein-
schlägigen Fragen und der in Betracht kommenden Arbeitsgebiete. sowohl in Bezug
auf Beutschland als auf das Ausland, die Hand bieten. Die Herausgeberinnen
hoffen damit einem Bedürfnis enigeı enzukommen, das weder die propagandistische
Litteratur, noch die wissenschaft chen Darstellungen der Frauenbewegung durch
Aussenstehende befriedigen können.
Der Verlag wird die Ausstattung des Werkes in jeder Weise würdig und
gediegen gestalten.
704
Bilgel: . 50,
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Ir Baffanten, tägl. 8 W. bis 3 M. 60 Pf.
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beiqulegen, da andernfalls eine Rürkfeı
Berantiortig für die Rebattion: Helene Lange, Berlin. — Beriag:
rud: @. Moefer Bugbruderei, B
706 Kaiferin Friebri +.
blieb das nicht aus. Eine Frau mit felbftändigen politiichen Anfihten, die Nat“:
dem Thron, in der Bismardichen Aera! Die Prinzeß Royal von England, bie cı
weitblidender Bater jchon als Halbes Kind mit in dad Parlament genommen bat::
um ſich nachher von ihr die Dispofitionen der gehörten Reden geben zu laſſen ur:
ihr politifches Urteil allmählich zu bilden, am preußilchen Hof!
Was dann die neunundneunzig Tage ihr brachten, was bie befannte Zeitung?
bee damals an ihr gejündigt bat, bat fih ihr unauslöfchlich eingegraben, ohne ihren
ftarfen Geift brechen zu können.
Ein vornehmer Geift ift fie geweien, und mit vornehmen Geiftern liebte fie es.
ſtille Zwielprache zu halten. Weder Salonphiloſophie noch vberflählide Roman:
litteratur, die den „Gebildeten” jo bequeme Gefprächsgegenftände liefern, Hatten tr
etwas zu jagen. Sie liebte Geifter, mit denen fie zu ringen batte, die nicht gelelen,
fondern ftudiert fein wollten, die ihr inneres Selbft mit aufzubauen im flande waren.
Aber es ift völlig unmöglich, auch nur andeutungsmweile bier die Grenzen
beftimmen zu wollen, innerhalb derer dies überreiche Geiſtesleben ſich bewegte,
unmöglich, auch nur flizzierend den Gang eined Lebens verfolgen zu wollen, ba, in
feinem äußeren Verlauf jedem befannt, in feiner reichen inneren Außgeftaltung fo viele
ungehobene Schäge birgt, die noch der Wünfchelrute eines feinfinnigen Interpreten
barren. Uns ſteht fie in erfter Linie als Frau nabe, und ber erfte Artikel unjeres
Blattes aus der Feder von Georg von Bunjen hat ihr gegolten. Er bat die That:
ſachen gruppiert, die Außerlich von ihrem Anteil an Frauenarbeit und Frauenbildung
in Deutjchland zeugen. Mir bleibt der Verfuch, zu zeigen, welder Geift dieſen
äußeren Zeugnifjen ihre Geftalt gab, mie es thatſächlich um ihre innere Stellung zur
Frauenbewegung ftand, über die jo manche Tageszeitungen, die eine „Beichäftigung“
mit der Frauenfrage jchon an fich für ein leichtes Brandmal halten, jo viel Unver:
ftandene? und Mißverftändliches beibringen.
Ihre Auffaffung der Frauenbewegung wurde, wie das ja auch faum anders
fein Tann, in ihrem Grundzug durch ihre eigene geiftige Entwidlung beſtimmt. Durd
ihre wiflenfchaftlichen Studien und durch die ihr fo reichlich gebotene Möglichkeit,
tiefere Einblide in foziale Fragen und ihre weitverzweigten Bufammenhänge zu
gewinnen, ſowie durch ihren praftifchen Blid würde fie fich im ftande gefühlt haben,
wenn dad Schickſal ihr die äußeren Möglichkeiten gegeben hätte, im Kulturleben die:
jenigen Kräfte beftimmend zur Geltung zu bringen, die nur ber Frau eigen find.
Und fo konnte fie fih auch eine kulturelle Wirkjamleit der Frauen im großen nur
durch allfeitig gebildete PVerfönlichkeiten denken. Die Vorbedingungen bazu zu fchaffen,
das ſchien ihr die nächlte Aufgabe der Frauenbewegung; an diefem Punkte würde fie
jelbft eingejegt haben, wenn Kaifer Friedrich, der bier ganz eines Sinnes mit ihr war,
eine längere Herrfchaft befchieden gewejen wäre. Als nach feinem Tode der Katjerin
ber Wunfch ausgeſprochen wurde, der Trauer um ihn irgend einen bleibenden Aus:
druck zu geben, da äußerte fie in feinem wie in ihrem Sinne: „Wie märe eB, wenn
man einige feiner Ideen verfuchte zur Ausführung zu bringen? 3. B. das Inſtitut
für die Erziehung der Frauen — die Klinik für Halskrankheiten — die Arbeiter:
wohnungen um Berlin — das Beftalozzi: Fröbel: Haus?” — — —
Ein Inftitut für die Erziehung der Frauen — das war ber Gedanke, ber fie
jelbft Jahre lang beichäftigte und zu dem fie Pläne entwarf und entwerfen ließ. Sie
dachte es fich als einen Kompler von Anftalten, in denen die Gelegenheit zu jener
8
aaiſerin Friedrich +. 07
allfeitigen Ausbildung ber weiblichen Perfönlichkeit geboten werben follte, mit der für
fie die Löfung ber Frauenfrage vor allem verbunden war. Nicht ala ob alle alles
lernen follten, Wiſſenſchaft und Kunft, praftifche Hausführung und Kindergärtnerei,
Krankenpflege und foziale Hilfsthätigkeit, aber das räumliche Nebeneinander follte jeder
die Möglichleit des Einblids in die Sphären gewähren, die in ihrer Totalität die
gefamte Kulturarbeit der Frau umfaßten, follte die gebildete Frau vor ber ihr fo oft
anhaftenden hausfraulichen oder gelehrten Einfeitigfeit in gleicher Weife bewahren.
Man mag über die Zwedmäßigkeit und Ausführbarfeit diefes Planes denken wie
man will, für fie war er harakteriftiih. Im ihm glaubte fie die Möglichkeit gefunden
zu Haben zur Verwirklichung ihres Frauenideals — eines gefunden Ideals. Sie ift
nicht dazu gefommen, diefen Gedanken auf feine Durchführbarkeit hin prüfen zu können.
In einzelnen Schöpfungen fah fie einen Teil ihrer Ideen ſich verwirklichen. Wer fie
verwirklichen half, wer auf gleichem geifligen Boden mit ihr fland, dem gab fie nicht
„hohe Proteltion“, fondern die lebendig wirkende Anregung geiftiger Mitarbeit. Ihre
Beziehungen zu Henriette Schrader, Hedwig Heyl, Ulrike Henſchke, zu den
Vorfteherinnen der unter ihrem Schuß ftehenden Anftalten, zu allen, die arbeitend ihre
Ideen verkörpern halfen, ruhten auf einer Gemeinfamleit der kulturellen Intereſſen,
die ihren fchönen, rein menfchlichen Ausdrud in den Stunden fand, da fie den Kreis
diefer Frauen zu gegenjeitigem Gedankenaustauſch um ſich verfammelte.
Eine vornehme geiflige Kultur, praktifches ſoziales Verftändnis und die haus—
frauliche Dispofitionsfähigfeit und Tichtigfeit, die vor dem Beherrſchtwerden durch
bausfrauliche Sorgen bewahrt, dad war ihr bie vor allem notwendige geiftige Grund»
Tage, durch die ihr die Gefundheit der wirtſchaftlichen und rechtlichen Entwidlung der
Frauenbewegung am beften gefichert erfchien. Von diefen Prämifen ausgehend, hat
fie die Konfequenzen der Frauenbewegung: den Einfluß der Frauen auch im öffent—
lichen Leben zur Geltung zu bringen, zu Ende gedacht. Denn daß auch bei uns dort
Frauenforge und Fraueneinfluß not tue, mußte. der praltiſche Blid der Tochter
Englands ſchnell genug erkennen.
Aber ihre Hiftorifche Bildung war zu tiefgründig, um fie nicht die Gefahr des
Dilettantismus, der notwendige Stufen überfpringen will, deutlich erkennen zu laſſen.
Und obwohl fie die Notwendigkeit einer vernünftigen Propaganda nicht verfannte —
fie hat jelbft einem Frauentag de3 Allgemeinen Deutfchen Frauenvereins beigemohnt —
fo war ihr doch jede auf Augenblidserfolge gerichtete Reklame, jedes Vorwegnehmen
legter Ziele um der demonftrativen Wirkung auf unreife Maſſen willen, ald eine un—
wurdige Charlatanerie erſchienen. Sole Richtung lehnte fie durchaus ab.
So war ihr Eintreten für die Frauenbewegung vol ficheren, vornehmen Ver—
trauen auf die unfehlbar wirkende Macht der kulturellen Kräfte der Frau, die fie
helfen wollte zu befreien.
ALS Kaifer Friedrich Gemahlin — mußten die Zeitungen zu fagen — wird fie
in die Weltgefchichte eingehen. Der Weltgefchichte, die aus Fürftengallerien mit
Schlachtenbildern im Hintergrunde befteht, wird fie nichts bedeuten. In die Kultur=
geſchichte aber wird fie eingehen als felbftändige Perfönlichkeit, als bie erfte Fürftin,
die ihren vollen Einfluß für die Frauenbewegung einfegte, zu einer Zeit, in der die
Acht weiter Kreife noch ſchwer auf ihr laſtete. Helene Tange.
RER
45*
708
— Sisheis Schafe. —I>
Skizze
von
Frida Sıhany
Nachdruck verboten.
—— —7z
ID ie froh war bie junge rau, als fie | Strafe, Prügel. Die Mutter hatte fie ver:
in dem großen Garten mit den vielen Lilien-
beeten aus ihrem Traum erwachte!
Sie fah fih verwundert um.
So war alles nicht wahr?
Nicht wirklich ihre Angft, ihre Schluchzen
um Lisbets zerriffene Schuhe?
Graufig hatte fie geträumt. Ihr fchöner,
guter Mann war geftorben, die Leute hatten
feine lieben Bilder meggeholt und alle ihre
herrlichen Sachen; die Freunde hatten fie nicht
mehr gefannt; in ein fchredliches Vorftabthaus,
wo die Armut unterfroch in bundertfacher Ge-
ftalt, hatte fie mit ben drei verwöhnten Lieb⸗
lingen ziehn müflen. Sie hatte Geld verbienen
folen und fonnte nichts. Mit Sprachftunden
hatte ſie's verſucht; aber der Hals war ihr
immer fo troden vom vielen Weinen, bie
Bruft that ihr weh, und fie hatte fo große
Angft vor ihren: feden Schülern. Und die
Kinder wurden immer bläfjer; der Winter
fam. Lisbet mußte in die Armenfchule gehn.
Aber dann konnte fie fie nicht mehr fchiden.
Lisbet huftete die ganze Nacht. Es regnete,
regnete. Und Lisbets Schuhe waren zerriffen,
fo zerriffen, daß der Schufter fie nicht mehr
flicken gewollt.
Da kam der Höhepunkt ihres Traums.
Gie hatte an ihrer Kleinen Mädchen Betten
geſeſſen und mit ihren fieberglübenden Händen
die drei paar Falten Füßchen erwärmt, bie
Kleinen waren dabei eingefchlafen, aber Lisbet
hatte in wilder Angft die zarten Hände ge-
rungen. Sie mußte morgen in die Schule,
fie mußte, mußte; zu Haus bleiben wegen
der zerriffenen Schuhe konnte fie nit. Wenn
fie nit fam, befam fie am andern Tag
tröftet: fie wolle Rat fchaffen; fie folle gehn.
Da fchlief fie ein; und die Mutter faß dann
bei der Lampe und hatte bie gerriffenen Schube
in der Hand, und ihr Elend fief auf fie nieder
wie eine Bergeslajt. Sie mußte nicht aus
noch ein; fie fchrie in ihrem Innern nach ibrem
Mann, um Hilfe für ihre Kleinen; fte ſchrie,
ohne daß fie die Lippen bewegte, ftumm und
doch fo fchrill und lau, — — — bis auf
einmal das Wunderbare geſchah, bis der
glühende Reif zeriprang, ber feft um ihre
Stirn gelegen, bis fte fanft fiel, hinabglitt,
wohl viele hundert Klaftern tief unb dann —
erwachte.
Da ſtand ſie in dem Liliengarten.
Ja, an die Lilien auf dem Felde hatte ſie
ja in ihrem entſetzlichen Traum eben noch
gedacht. Es war, als ob ihr jemand mit
goldiger, ſonniger Stimme das Wort zuriefe,
auf das fie ſich ſeit ihrer Kindheit nicht mehr
befonnen, das Wort von den Lilien auf dem
Feld, die nicht arbeiten und nicht fpinnen
und die doch ſchöner bekleidet find ala König
Salomo in feiner Herrlichteit.
Und nun um fie ber lauter foldye weiß:
goldene Blumenkelche. Sie befann fich einen
Augenblid. Kennft du denn das alles? De
dunfle Traum wollte noch einmal die Hand
nach ihr außftreden; eine Bifion von weinenden
Kindern, fchreienden Nachbarinnen und einem
großen Blutfled auf der Diele ftieg vor ihr
auf; aber da ſchwang ſich auf einmal eine
Lerche aus den Lilien, body hoch auf, und
fchmetterte in zitternder Luft: „Sehet bie
Vögel unter dem Himmel an! Sie fäen nict,
fie ernten nidt . . .“
Liebets Schufe.
Der furdtbare Traum war nun ganz ver⸗
geffen. Sie fuhr fi mit der Hand über bie
Stim; da mar’, als fiele auch das legte
Band, und fie wußte nun, ja, fie mar unter
den Lilien, daheim, in dem Garten, über dem
in blauer Luft die trillernde Lerche fang. Sie
mußte es genau, denn eine Stimme tönte an
ihr Ohr; deren bloßer Klang fagte ihr: „Ya,
du bift bier daheim, denn bier bin ih!" —
Da kam eine Beruhigung über fie, füßer
als alle Wonnen, die fie je gefühlt; von
weitem hörte fie nun aud feinen Tritt; da
ſah fie fhämig-felig an ſich herab und fah,
mie ihr meißes Gewand die weißen Blüten
ftreifte. In Weiß hatte er fie immer fehen
wollen! Hatte fie nicht eben ein häßliches,
altes Trauerfleid getragen? — Nein, nein —
alles ftrahlte an ihr. Und mit feligem Schrei
flog fie ihrem Mann entgegen, — zwiſchen
den Lilien fam er daher, — mit dem ruhigen
Schritt, mit ausgebreiteten Armen, mit dem
Götterläheln ber Güte, das ihm immer
eigen war.
D, ausruhn an feiner Bruft! Es tar,
als thue ihm etwas weh an ihr, denn er fah
fie fo eigen, fo mitleidig an. Und ihr Atem
ftodte. Waren fie nicht taufend Meilen und
taufend Jahre getrennt geweſen, mußte fie ihm
nicht erzählen von jenem Grauen, das fie
durchſchaudert, von ben tiefften Qualen ber
Menfhenbruft?
Sie konnte fih nicht mehr befinnen, was
es war. Er tar ja bei ihr, er umfing fie
feft. Sie fann und fann. Da burdyzudte es
fie. Klein⸗Lisbets zerriffene Schuhe fielen ihr
ein und was fie um beretwillen für Angft
gelitten. — D Wohlthat, es ihm zu fagen, ihm
alles zu Hagen! —
Aber er fhüttelte den Kopf, als ob fie
Märchen erzähle. „Was willſt du?” fagte er
und küßte fie innig. „Du bift ja bei mir,
und die Kinder find ja hier!”
Und da floß ihr Herz faft über von Sonne.
Denn die Kinder famen gefprungen, — um
die Ede des weißen Haufes herum, das mitten
in den Lilien ftand. Ihre blonden Haare
flogen, ihre blauen Augen ſchimmerten und
709
glängten. Weiße Kleider trugen fie, tie immer
in ber Sommeräzeit. Und an ben Heinen
Füßen trugen fie goldene Schuhe. Damit
flogen fie leicht wie der Sommerwind, tänzelnd
wie Sonnenftrahlen, über den lichten Sand.
Sie flogen an der Mutter Hals und dann an
des Vaters Bruft, führten einander dann an
den Händen und gingen vor ben Eltern ber,
die Heine Maria in der Mitte zwiſchen der
zaͤrtlichen Dorothea und ber ernften, verftändigen
Lisbet. Ganz ruhig, ganz ſicher ſchwebte nun
das Glüd über den Lilienbeeten.
Nur einmal noch fuhr's wie eine Natter
hervor, das alte, ſchwarze Grauen.
Einen kurzen Moment lang war bie junge
Mutter wieder aus dem Garten verfloßen.
In buntgewürfelten Kifjen lag fie, in einem
Eifenbett, zwiſchen vielen anderen im Kranken⸗
haus. Ein bleiches, ftrenges Frauenantlig
beugte fi} über fie, und die namenlofe Angft
fchrie aus ihr:
„Schweſter, find meine Kinder verforgt?
Hat Lisbet ganze Schuhe?” —
Feſt und ruhig, wie eherner Glodenklang,
lam die Antwort:
„Seien Sie ganz getroſt, liebe Frau!
Ihren Kindern geht's gut. Alle drei haben
neue Kleider und Schuhe bekommen.“
Da nickte fie verklärt. Ach ja, goldene
Schuhe! Nun wußte fie'3 wieder! Und nun
wollte fie es merken, und nichts follte ihren
Frieden mehr ftören im Garten mit den Lilien,
die nicht fpinnen und forgen.
* D
*
Drei Tage fpäter ſchritten drei Meine
Mädchen in Waifenhausfleivern in ber auf:
geweichten Kirchhoferde hinter dem Sarg ihrer
Mutter ber. Nur die Schweſter, bie ihre
Mutter gepflegt, und der Paftor ging mit
ihnen. Regen fiel. Es ging fich ſchlecht auf
den ſchmalen Seitenwegen zwiſchen den Hügeln.
Die neuen, harten Lederſchuhe brüdten bie
zarten Füßchen. Aber es war doch gut, daß
die Schuhe fo hart und derb waren.
Denn fie follten den langen Weg durchs
Waiſenhaus ins harte Leben gehn. —
BI
710
Hranemarbeit in der '
Alire
Rachdruc verboten.
lerwärts giebt es noch Frı
Induſtriearbeiterin feinen
E Induſtrieſtädte aufwuchſen
darüber zu orientieren. Nicht nur
nur Zeitungen und Zeitfchriften rei
umzufegen verfteht: auch unzählige
verknüpfen das Leben der Induftei
Konfumentinnen. Ganze Induftrien,
beihäftigen außfchließlich oder größ
die Frau und wird auch von ihr —
mann — bezahlt. Vom Gejchmad
wird die Arbeit der produzierenden
bier wie auf allen Lebensgeb
Vorderhaus und Hinterhaus läßt ſich
zwiſchen Xillenviertel und Arbeiterv
Zu den Lurusinduftrien, di
Abfaggebiet ſich hauptſachlich auf 9
von Bijouteriewaren, die in Pforzh
bergifihen Drtfchaften unter ftarker
foeben erfchienene Schrift „Die fo;
berüdfichtigt daher auch insbefondı
Arbeiterichaft; das Intereſſe für bi
Arbeitsgebiete behandelt, auf dem Q
die Natur des Gewerbes, durch Sit
aufnehmen. Um fo lehrreicher ilt es,
zwifchen den Geſchlechtern Platz gr
Arbeit, die ſich aus ber befonder
die nur durchbrochen wird, wo ei
Sefehtechtägenoffen nicht teilen, ohn
dadurch erleidet. Yon anderen ähnl
daß fie die Verhältniffe eines abgefd
Wirtfchaftsgebietes, ſowie aud) eine
Unterfuchungen fi in ber Regel
über das ganze Land verbreiteten
beachtenswert, daß die Monographis
bearbeitet und von der Badiſchen Fa
dafür, daß in dem Staat ber vorge
erftattung zu den Aufgaben der Aı
darüber: „Die Zeit, welche den Fa
M Die foziale Lage der Pforzheimer
Fabritinfpektor Fuchs. Karlsruhe. Ferd.
Frauenarbeit in der Pforsheimer Bijouterieinbuftrie. 711
der übrigen Aufgaben verloren geht, wird reichlich aufgewogen durch das tiefere
Eindringen der Auffichtsbeamten in die Arbeiterverhältnifie, ganz abgefehen von dem
Nugen, den eine genaue Kenntnis und das Bekanntwerden dieſer Dinge für den
Arbeiter felbft bringt.“
Die wirtfcaftlichen Verhältnifie ber Pforzheimer Gegend find durchaus abhängig
von der Entwidlung der Bijouterie-Induftrie — als Pauptfächlicher oder einziger
Erwerböquelle; feine andre bebeutende Induſtrie beſchränkt fih auf ein fo enges
Gebiet, wie die badifche Schmudwarenfabrifation, die mit 15 000 Arbeitern die dritt⸗
größte Induftrie Badens ift. Unter 14 152 in den Fabriken der Gegend befchäftigten
Bijouteriearbeitern find 4944 Frauen, und zwar 796 Arbeiterinnen unter 16 Jahren
und 1443 verheiratete Arbeiterinnen. Die allgemeine Annahme, daß die Teilnahme
der Frauen an einer Imduflrie befonderd groß ift, wo die Löhne der männlichen
Arbeiter nicht zum Unterhalt der Familien ausreichen, trifft Hier nicht zu. Mehr noch als
in andern Induſtrien bat ſich der Prozentfag weiblicher Arheiter mit dem Aufblühen
des Gewerbes vergrößert, und Hand in Hand damit ging eine Verbefferung ber
Arbeitöbedingungen. „Gerade die in dem legten Dezennium verhältnismäßig hoch⸗
geftiegenen Löhne der Arbeiterinnen fcheinen biefe auch noch als Ehefrauen in die
Fabrik gelodt zu haben, nachdem bie gefegliche Feftiegung des elfftündigen Arbeitätages
doch auch eine übermäßige Ausnügung der weiblichen Arbeitskraft im einzelnen Fall
unmöglich gemacht hatte. Geordnete Verhältniffe und fleigende Löhne laffen weit
mehr die noch vielfach brachliegende Arbeitskraft von Mädchen und Frauen für die
Induftrie nugbar werden, als lange Arbeitszeiten und niedrige Löhne, welche bie
Maſſen zur Außerfien Bebürfnislofigleit erziehen, aus der herauszukommen fie oft gar
nicht einmal das Beftreben zeigen. Erſt ein gewiſſes Maß befferer Lebenshaltung
erwedt weitere Bebürfniffe und zieht auch die legte Kraft zur probuftiven Thätigkeit
heran.” Fuchs glaubt, daß eine weitere Verkürzung ber Arbeitszeit auf 9 Stunden
einen vermehrten Eintritt von Frauen in die Fabrik herbeiführen, aber auch bie
Schäden befeitigen oder vermindern würde, die unter dem jegigen Syſtem für Familie
und Kindererziebung aus der Frauenarbeit erwachien.
Wie die Arbeiter, fo machen auch die Arbeiterinnen faft regelmäßig eine mehr:
jährige Lehrzeit durch. Die Fabritanten durchziehen geradezu die Gegend, um die Eltern
zu bewegen, ihre Rinder in die Lehre zu ſchicken. Es pflegte nämlich in den legten
Jahren ein beftändiger Mangel an Arbeitern und Arbeiterinnen zu berrichen, aller:
dings mit Ausnahme der ftillen Zeit, die gewöhnlich in den Hochjommer fallt.
Um die Schwierigfeiten des Saifonbetriebs zu fiberwinden, haben die Unter:
nehmer ſehr wechſelnde Arbeitzeiten eingeführt; von 6 Stunden in ber ftillen Zeit
herauf bis zu 13 Stunden in Perioden des guten Gefchäftäganged, und den Arbeiter
ſchutzgeſetzen iſt energiicher Widerftand sutgegengejegt worden. Der in bdiefen Der:
bältniffen begründete Mißſtand für die Arbeiter wird noch dadurch erhöht, daß die
Lohne der Arbeitszeit proportional find und namentlich jlingere Arbeiter ſich ſchwer
an eine wirtichaftliche Verwendung fo unzegelmäßiger Einnahmen gewöhnen. „In ber
Zeit der gefüllten Börſe verfagt man fich feinen Lieblingswunſch, um in der Zeit des
Xeerftanded nachher zu darben. Es bringen biefe Umftände eine gewiſſe Unficherheit
in die Eriftenz, Neigung zum augenblidlihen Genuß, nicht aber Streben nad
tulturelem Fortichritt wird Bervorgerufen, eine Erfcheinung, die überall bei Saifon-
arbeitern hervortritt.”
Es wird dann auch in der Pforzheimer Gegend, nicht nur von Fabrifanten,
fondern auch von älteren, gefeßten Arbeitern allgemein über die Zügellofigleit der
Jugend geflagt. Nirgends in Baden ift die Unfitte des Blaumachens fo verbreitet
und fo ausgeartet wie in der Bijouteriefabrifation. Biel Schuld daran tragen aller:
dings mande Fabrifanten, die das Blaumachen in der ftilen Zeit nicht ungern fehen.
Ein Geſchäftsinhaber, bei dem nod am Dienstag die meiften erwachſenen Arbeiter
fehlten, erklärte das entfchuldigend damit, daß in der letzten Zeit viele Überftunden
gemacht worden wären. „Die Kirchmweihen der um Pforzheim herum gelegenen Drte
bieten den äußeren Anlaß, um die Tage von Sonntag bis Dienstag dem tollſten
Frauenarbeit in ber Pforzheimer Bijouterieinbuftrie. 713
ber phyſiologiſchen Bilanzen, daß häufig eine unzwedmäßige Verteilung ber Nährftoffe
ftattfindet, die auf Unkenntnis über bie zur Emäßrung notwendigen oder wünjchend-
werten Stoffe zurüdzufüßren iſt. In einzelnen Fällen geht das natürliche Beſtteben
zur Erhaltung ber Arbeitskraft zu weit. Das fteigende Einfommen wird häufig nur
zur Verbefferung der Ernährung benugt, und bie Befriedigung andrer Kufturbebürfniffe
oder die Sicherung der Zukunft, die oft neben ausreichender Ernährung fehr wohl
möglich wären, werben nicht ins Auge gefaßt. Dazu trägt auch viel der ftarfe Glaube
an bie fräftigende Wirkung des Atodote (in Form von Wein und Bier) bei, der ganz
allgemein bei Frauen und Männern verbreitet if, und der oft zu einem Alkohol
verbrauch führt, der 10—15 Prozent der Gelamthaushaltungskoften verichlingt.
Daneben treten andre Bebürfniffe bei den Vijouteriearbeitern und ihren Familien
ganz zurüd. Außer bei den unverheirateten Arbeiterinnen, die einen großen Teil
ihre Verdienſtes für Beihaffung von Put ausgeben, verſchwinden die Beträge für
Kleidung und Hausrat volftändig Hinter den Sonntagsausgaben, die neben Wohnung
und Ernährung einen beträchtlichen Poften ausmachen. Die mangelnde Befchaffung not
wendiger Gebrauchögegenftände wird aber anfcheinend nicht empfunden. Fuchs fagt darüber:
„Diefe Erſcheinung lehrt deutlich, daß tro& aller Fortichritte der Kultur in einer nicht
einmal ſchlecht bezahlten Arbeiterfchaft das Bedurfnis nach Gegenftänden, die das
Leben angenehm und behaglich machen, noch fchlummert. Den Arbeitern müflen Be:
dürfnifje erft noch erwedt werden, die kulturell höherftehenden Klaſſen längft zur Ge:
wohnheit getoorden find. Das Erwachen ſolcher Bedürfniffe und der lebhafte Wunfch,
ihnen zu genügen, wird für die Arbeiter ein wirkſamer Anfporn zur Vervollommnung
ihrer Leiflungen fein; er wird fie befähigen, einen immer fteigenden Anteil am Volks⸗
einfommen zu erringen, vermöge deſſen fie als zahlungsfähigere Käufer unferer
Induftrieprodufte auftreten Lönnen, als das heute noch der Fall iſt.“
Über die erft in den legten Jahren Umfang gewinnende Hausinbuftrie, die faft
ausfchließlih Frauen beichäftigt, ift ein abfchließendes Urteil noch nicht zu geben;
Fuchs glaubt, daß ihr Beftehen wefentlih davon abhängen wird, ob die Mode dauernd
ein Abſatzgebiet für leichte Ketten (fogenannte Meterfetten) aus unechtem Metal Ichafft,
da andrer Schmud faum in der Haußinduftrie herzuftellen ift. Die ſchnelle Ausdehnung
diefes Syſtems führt er einerſeits auf die fteigende Entwidlung der Bijouterie-Induftrie
zurüd, die aud die legte verfügbare Kraft in Anfpruch nehmen mußte, andrerfeits
auf den Wunſch ber Induftriellen, die Beichräntungen der Schuggefeßgebung und die
Laften des Verſicherungszwanges zu umgehen.
Fuchs bringt vielfache Anregungen und Vorſchläge zur weiteren Ausgeftaltun
der Schuggefeßgebung, auf die einzugehen im Rahmen dieſes Artikels nicht mö, Nie)
iſt. Lehrreicher noch find für die Frauen die Betrachtungen über das Nulturs
niveau der Arbeiterbevölferung, die eine Mahnung für Befigende und Nichtbefigende
enthalten. Es gilt nicht nur, den Arbeitern fürzere Arbeitäzeit und höhere Löhne zu
ſchaffen; dieſe find nur Mittel — oder follten e8 werden — zu dem Zived, ihnen zu
befferer —e und höherer Kultur zu helfen. An den Frauen
biegt es, die Konfequenzen folcher Betrachtungen zu ziehen. In ihre Hand ift es
gegeben, auf eine richtige Verwendung des Einkommens und der Mußeflunden Bin=
zuwirlen; die Arbeiterin kann bei jachgemäßer Verteilung der einzelnen Ausgabepoften
den größtmöglichen Vorteil aus dem Familieneinkommen ziehen. Die befigende Frau
mit gefchultem Intelleft Tann ihr aufflärend darin zur Seite ftehen; fie fann ihr zu
dem Glauben an den Wert der materiellen Güter den neuen Glauben an ideelle Werte
bringen. Die einzelnen Arbeiter und Arbeiterinnen mögen nur einen geringen Einfluß
auf die Erhöhung ihres Lohnes ausüben können; aber fie können einen Teil davon
für materielle Genüffe gröbfter Art hingeben, oder ihn „zur Verfeinerung des Lebens
und Find Veredlung feines Inhalts benügen. Nur die volllommene Ausnügung des
Gegebenen befähigt und berechtigt zur Erringung von Größerem.”
ver
„green nn jrsattiit GOULITUGE uUber „Di
Beobachtungen bis zum Ausgange des 17. Jahrhunder
Berlin auf bem 9. deutfchen Meteorologentag in S
glaubte er ausdrüdlich „die felbft in Fachkreiſen 5
müffen, „daß mit ganz vereinzelten Ausnahmen
meteorologifchen Beobachtungen feine Rede fein Für
fängen der menfchlichen Kultur, jo führte der Redner
Hirten gany beſonders eingehend das Wetter betrachte
auch die eriten natürlichen Wetterzeichen feftgeftellt t
für gewifle Wetterregeln zur Vorausbeſtimmung der A
erbten fih von Geſchlecht zu Geſchlecht fort und ha
heutigen Tag erhalten. Eine große Anzahl unjrer fc
fo das Erbftüd aus frühefler Vorväterzeit fein, dan
Bronzezeit auf den Sümpfen Europas feinen Pfahlba
Roden fein Stüdlein Aderland dem Urwald entrang
um 4000 vor Ehrifti ein mwohlgeordneter Betrieb von W
und Voraudberechnungen ihrer Folgeericheinungen, mie
Forſchungen zur Gewißheit gemacht haben. Spyitematif
das Wie der Wettererfcheinungen fanden auch bei d.
ftatt. Ariftoteles bat fchon ein Buch fiber Meteorolog
das Wieviel, alfo „quantitative” Unterjuchungen, fchein
hundert nach Chrifti, und zwar in Paläftina ausgeführ
erftenmale der Regen gemeſſen. Die Miſchna, die
bildet und die dem Leben und Gebrauch angepaß
ftelt, überliefert ung noch den Betrag der Frühregen,
maßgebend ift, nach unfrer Rechnung nämlich 54 Ce
Meffungen in derſelben Gegend und für dieſelbe Per
ergeben, jo gewinnen wir daraus den interejlanten Sch
der Negenfälle in Baläftina während zweier Yahrt
ändert bat.
Diefe quantitativen Meſſungen ſtehen allerdings
ſind wioder Marnmualt..-
Wetterlunde und Wetterkünder. 716
von Witterungsnotizen in den Kalendern werben allgemein üblich, und am Ausgange
des 15. Jahrhunderts tritt Meteorologie bereit? an der Wiener Univerfität als Lehr:
gegenftand auf.
Die erperimentelle Meteorologie hat ihre Wiege zu Florenz, wo fie um die Mitte
bes 17. Jahrhunderts zur Ausbildung gelangte, und in Stalien find auch zuerft
Barometer, Thermometer und Regenmeffer für die Zwede ber Meteorologie zur An:
wendung gelommen. Ende be3 17. Jahrhundert? wurden regelmäßige inftrumentelle
Beobachtungen bereit in allen Nulturländern nicht bloß Curopas, fondern auch
Afrikas, Aſiens und Amerikas vorgenommen und die wichtigften Grundlagen für eine
wiſſenſchaftliche Wetterkunde feftgeftelt. Im 18. Jahrhundert wurde die erfle ſyſtematiſche
Drganifation gefchaffen und im 19. greift zum erftenmale die ftantliche Fürforge ein,
die fi in der Errichtung und Unterhaltung von meteorologiſchen Stationen, mit allen
Inftrumenten der Neuzeit ausgeftatteten und von erften Forſchern geleiteten Wetter:
und Seewarten äußert.
Wir haben heute erkannt, daß nur die allerforgfältigften, fyftematifch über den
ganzen Erdball ausgeführten und mit einander verglichenen Beobachtungen der Vorgänge
in der Atmofphäre uns einigermaßen zuverläffigen Aufihluß über die Verhältniffe
geben können, von denen die Witterungszuftände an beflimmten Orten und zu
beftimmten Zeiten abhängig find. Aufs genauefte werden an unzähligen Stellen
Entflefung, Fortbewegung, Schnelligkeit der Winde und Stürme beobachtet und
berechnet, die Verſchiedenheiten des Luftdruds, der Temperatur und des Waſſerdampf⸗
gehalts gemefjen, die Wolfen von ben tiefften Nimbus: und Cumulus- bis zu ben
höchſiſen Cirruswolken, die mehr ala 10 Kilometer hoch gehen, in ihrem Laufe
verfolgt, wird bie Atmofphäre noch weit darüber Hinaus, jet bereit3 bis zu
14000 Meter Hoch durch Regifirierballons auf ihre Temperatur, ihren Feuchtigkeits-
gehalt, die Stärfe und Richtung der in ſolcher Höhe herrſchenden Luftftrömungen u. ſ. w.
bin unterfucht, werben bie verborgenften Meeredftrömungen berüdfichtigt, bie ja, wie
dad vom marmen Golf: und dem falten Polarſtrom bekannt ifl, einen ungemeinen
Einfluß auf Klima und Wetter haben. Auf Wetterfarten wird tagaus tagein ber
BWitterungszuftand, wie er ſich aus den Beobachtungen nicht nur auf meteorologifchen
Stationen, fondern auch auf den Schiffen herleiten laßt, gewiſſenhaft verzeichnet,
werden bie Linien vermerkt, die die Orte gleichen Luftdruds (Iſobaren) und bie
gleicher mittlerer Temperatur (Jfothermen) verbinden. Und wenn alle dieſe Beobachtungen
auf den einzelnen Stationen gemacht find, werden fie fofort nach den Zentralftationen
telegraphiert, verglichen, zufammengeftelt, — für Deutſchland ift e8 die Seewarte in
Hamburg — und dann hat man wohl ein ſchönes Material beieinander, um allerlei
Wahrfcheinlichkeitsfchlüffe auf die möglichen Wind: und Wetteränderungen ber nächften
24 Stunden zu ziehen. Und menn man fi mit der mehr ober minder großen
Wahrſcheinlichkeit begnügt, die immerhin fo groß ift, daß gegenwärtig bereits 80 Prozent
der von der Hamburger Seewwarte außgegebenen Wetterprognofen zutreffen — von
den vom Dbfervatorium in Wafhington, der Zentralftation für Nordamerika, auf ein
bis zwei Tage im voraus berechneten Wetteranfagen follen fogar über 90 Prozent
zutreffen, wohl nicht allein, weil e8 von mehr als Hundert Stationen Nordamerikas und
der Antillen telegraphifch aufs befte und ſchnellſte bedient wird, fondern mehr noch, weil
der Golf von Mexiko, der Wetterwinkel Nordamerikas, die Luftfirömungen recht
gleichmäßig beeinflußt, jo daß die Witterung dort immer eine gewifle Stetigkeit hat —
716 Metterlunde und Wetterkünder.
jo fann man wohl auch jagen, daß das Problem des MWetterfündens, iwenigfien
der Vorausſage auf die nächften 24—48 Stunden, einigermaßen gelöft if.
Neuerdings noch bat Prof. Dr. van Bebber, der eifrige Meteorologe ber
Hamburger Seewarte, die Vorausfage des Wetterd auch auf längere Zeit durchaus
für möglich und_notwendig erklärt. Er fucht, wie das auch Prof. Hellmann getban,
einer befriedigenderen Löfung der Frage, als es bisher möglich war, daburch bei:
zulommen, daß "er in der Wiederkehr ähnlicher Witterungdverhältniffe eine gewiſſe
Periodizität nachzumeifen beftrebt if. Es müſſen ſich Gefegmäßigfeiten in der Auf:
einanderfolge und im MWechjel der Witterung innerhalb längerer Zeiträume, Monate
und Jahreszeiten auffinden laffen. So ftellt er fünf Hauptiwettertopen für Europa
auf, deren Dauer und Wandlung er zu berechnen verjucdht bat. Im Durchfchnitt
fann man annehmen, daß eine Wetterlage höchſtens drei Tage anbält, fürzer, wenn
das Hocdrudgebiet über Deutfchland felbft lagert, länger, wenn es ſich weſtlich oder
nördlich befindet. Höchſt jelten überjchreitet eine Wetterperiode die Dauer von zwei
Wochen. Solcher langen Perioden bat van Bebber in dem Zeitraum von 1876—1895
nur zwölf verzeichnet.
Daß die Häufigkeit der Gewitter eine gewiſſe Periodizität, und zwar eine ſolche
von durchfchnittlich 26 Tagen, aufweilt, haben Profefior v. Bezold und die beiden
ſchwediſchen Forſcher Eckholm und Arrhenius feftgeftellt.
Mehrjährige Wärme- und Kälteperioden haben Brückner und Hellmann ermittelt,
und zwar kleinere Perioden von 9—15 Jahren und größere von einer durchſchnittlichen
Dauer von 36 Jahren. Jedenfalls ift damit dargethan, daß es eine müßige Epielerei
unferer Kalendermacher ift, wenn fie noch immer des biedern Langheimer Abtes
Mauritius Knauer (1612—1664) „hundertjährigen. Kalender” abdruden, wodurch der
Glaube erweckt werden fol, als gäbe ed eine au2gerechnet Bundertjährige Periodizität
der Witterunggerjcheinungen.
Solange nicht alle die Hundert und taufend Umftände, die bei ber längeren
Vorausbeſtimmung des Wetter mitjprechen, rechnungsmäßig aufs forgfältigite in Be⸗
tracht gezogen werden fünnen, wird das Prophezeien eine recht unfichere Sache bleiben.
Das ift 3. B. der große Irrtum auch von Leuten wie Falb, daß fie glauben, ein
einzelner Faktor, wie der — ja immerhin mögliche, dann aber gewiß nur ſehr
minimale — Einfluß des Mondes beberriche alle übrigen fo, daß es genüge, Dielen
einen Faktor in Betracht zu ziehen, um die Wetterprognoje nicht nur für Tage und
Monate, nein fürs ganze Jahr mit unfehlbarer Sicherheit zu fielen. Bor kurzen bat
fogar ein Rufe, N. A. Demtſchinsky, ein eigenes vierjprachiges Journal gegründet,
das auf Grund der Theorie vom Einfluß der Mondanziehungstraft auf die Geftaltung
des Metter® „genaue Prognofen des Wetter und der atmoſphäriſchen Erſcheinungen“
auf beliebige Zeit, mindeftens aber einen Monat im voraus, zu Nug und Frommen
aller von der Witterung abhängigen Berufsmenjchen aufftelen will. Als ver:
allgemeinerungsfähig kann noch nicht einmal die neuerdings von Hazen für die nord:
amerifanifche Küfte beobachtete Thatfache gelten, daß dort 70,5 Prozent der Gewitter
auf die Flutzeit und nur 29,5 Prozent auf die Zeit der Ebbe entfielen. Denn
Hellmann bat auf der Inſel Föhr inzwilchen feftgeftellt, dab von 209 während einer
zehnjährigen meteorologifchen Beobachtungszeit notierten Einzelgewittern 103 auf
das fleigende und 106 auf da3 fallende Waſſer kamen, „von einer ausgeſprochenen
Vorliebe der Gewitter für die Flut danach feine Rede fein kann“.
Wetterkunde und Wetterkünder. 717
Beſcheiden wir uns alſo bis auf weiteres bei der Vorausſage auf ein bis zwei
Tage, die ſchon nugbar genug wäre, wenn fie auch nur mit annähernder Sicherheit
einträfe. Für ſolche Wetterprognofen auf 24 Stunden bat neuerdings die Regierung
in ber Provinz Brandenburg eine fehr dankenswerte Einrichtung getroffen. Die von
der Hamburger Seewarte an das Berliner Wetterbürenu täglich telegraphiic über:
mittelten Berichte vervollſtändigt dieſes unter Berüdfichtigung örtlicher Beobachtungen
zu täglichen Wetterprognofen, die es fofort früh morgens an das Haupttelegraphenamt
übermittelt, und dieſes drahtet fie noch während der Vormittagsftunden weiter an
ſamtliche Telegraphenanftalten der Provinz. In deren Schaltervorraum oder am Poft-
haus gelangen fie zum Aushang, zur allgemeinen Kenntnis der Bewohner, insbeſondere
der landwirtſchaftlichen, die fich in ihren Arbeiten danach richten fünnen. Wer biefe
Wettertelegramme zu fi ind Haus gebracht haben will, Tann fi darauf abonnieren
und befommt fie je nach Wunſch durch den gewöhnlichen Briefträger ober auch
durch Eilboten zugefhict, gegen einen billigen Monatsbetrag. Immerhin kann ber
Landwirt, der ja meift felber ein halber Wetterprophet ift, feine eigne aus Erfahrung
und liebevoller Naturbeobachtung gefhöpfte Prognofe daran ftändig Tontrolieren.
Someit er fie fi) felber auch nur aus rein meteorologifchen Elementen bildet, ift es
zweifellos fiherer, fich auf das ihm von den Wetterwarten gelieferte Material zu ver:
laffen, als auf die ihm geläufigen Anzeichen, etwa ob die Sonne Har untergeht, mit oder
ohne glühendes Abendrot, ob der Mond einen Hof hat u. f. w.
Freilich bat der Landwirt, der Förſter und Jäger und fonft jeder in und mit
der Natur Lebende außerdem noch eine große Anzahl anderer Anhalte, bie zuweilen
noch viel zuverläffigere Wetteranfagen geftatten als alle meteorologifchen Beobachtungen.
Da find in erfler Reihe die Tiere, die oft merkwürdig unfehlbare Wetterpropheten
find. Natürlich denkt man gleih an den Laubfroſch im Glafe, wenn von Wetter:
propheten unter Tieren die Rede ift. Das Unglüd ift nur, daß das arme Kerlchen
im bierzu beliebten Einmacheglaſe meift in fo unnatürlicher Verfaſſung fi befindet, daß
es eher alles andre ift als ein verläßlicher Wetterprophet. Iſt in dem Glafe nichts
meiter als auf dem Grunde etwas Waffer und daraus emporragend eine Heine Leiter,
wie das beinahe ftet3 ber Fall, fo ift gar nicht davon bie Rebe, daß ber Froſch gutes
Wetter anzeigt, wenn er auf das Leiterchen Mettert, fchlechtes, wenn er ins Waller
taucht. Vielmehr wird er ind Waſſer fleigen, wenns ihm oben auf dem unbequemen
Gerüft zu unbehaglich geworden, und umgekehrt. Wil man vom Laubfroſch wirkliche
Wetterprognofen haben, fo halte man ihn in einem großen Glasbauer oder einer Kifte,
deren Boden auf einer Seite mit Moos bededt ift und auf der andern Seite ein
genügend großes Waflergefäß enthält. Dann Tann man ficher fein, dab bad Tier
nur dann ind Waffer geht, wenn Regenwetter im Anzuge ift.
Der Schlammpeigler oder Wetterfiich, der vielfach zu demfelben Zwed im Zimmer:
aquarium oder Goldfifchglafe gehalten wird, kundet dadurch Regenwetter oder Gewitter
an, daß er an bie Oberfläche kommt und unruhig umherſchwimmt, während er fi
fonft ruhig am Grunde des Waſſers hält. Vollends wenn er Schlamm und Sand
aufzumühlen beginnt, kann man auf Sturm und Ungewitter rechnen.
Apotheker haben die Beobachtung gemacht, daß die für mebizinelle Zwecke in
einer Flaſche gehaltenen Blutegel bei guten Wetter ſtill und zufammengefrümmt auf
dem Boden liegen, bei herannahendem Regen an die Oberfläche kommen und bei Wind
lebhaft hin⸗ und herſchwimmen. Im Winter liegen fie bei Harem Froft am Boden,
ig an Bäumen und Mauern. Wenn Hühner bei bei
Ställen zulaufen oder ſich unter Heden, Schuppen,
Regen bald auf. Bleiben fie aber im Regen ruhig
ein jogenannter Zandregen; es lohnt ihnen gewifjerma
Naßwerden zu fehügen, wenn ed doch tagelang ſi
drohendem Regen mit großem Gefchrei ind Feld ober
mit den Flügeln. Kehren Zauben in raſchem Fluge i
wieder ausfliegen, jo find jchwere Gewitter im Anzug:
Bienen. Kehren Tauben ungewöhnlich ſpät aus bei
Hühner noch nad Beginn der Dunkelheit Futter ſuchen
Tage ein dauerhafter Landregen ein. Desgleichen iſt
Katze ibre Toten ledt, fich über die Ohren jtreicht u
wenn Fuchs und Wolf jchreien; wenn die Maulwürfe
die Waſſervögel maſſenhaft un Land geben; wenn die Sı
aufluchen und nabe über feine Fläche ftreichen; wenn db.
in Scheunen oder unter Dächer flüchtet; wenn der ®:
und knarrt; wenn der Fiſchreiher vom Waſſer aufflie
niederläßt; wenn der Storch jeine Jungen zudedt. Lailı
Gewitters die Vögel in ihren Beichäftigungen nicht itörı
gerade md, jo zerteilt fih das Wetter, bevor es ber
für kommenden Regen ift es, wenn der Hund Gras fan
Verdauung bulber, wenn er zu viel Fleiſchnabrung zu
dad Bedürfnis nach Vegetabilien empfindet.
Schöne Tage folgen, wenn Die Fledermäuſe am
Unter den Inſekten nnd Viebbremien, Fliegen und Amei
dringen in! Zimmer und techen wütend, wenn Reger
jummen frärtiger als font, Die Ameiſen tragen in grofe
zu Net und verichliegen die Lecher. Daß es ſchön E
wenn „die Müden ſpielen“, it allbbekannt.
Mit zu den verläßlichken Wetterrrondeten gebö
Kreusirinne rebt langſam und order tt
Wetterkunde und Wetterkünber. 719
fie das Netz durch Einziehen von Fäden zu lichten, fo fommen Winde, um fo fchneller,
je eiliger fie diefe Arbeit ausführt. Schwere Stürme und Unwetter folgen, wenn das
Netz zerriffen außfieht, während die Spinne am Ende eines Fadens oder gar außer:
halb des Netzes figt. Geht fie dann ind Net zurüd und beginnt die Ausbeſſerung,
fo kann man auf gutes Wetter Hoffen, wenn's augenblidlih auch noch jo ſchlecht aus—
fieht. Eine charakteriflifche Anekdote erzählt M. Dankler, dem wir diefe Zufammen-
ftellung von Wetteranzeichen feitend der Tiere verdanken, bei diefer Gelegenheit: „Im
vorigen Sommer machte ih mit einer Anzahl Naturfreunde und Forſcher einen
botanifchzentomologifchen Ausflug in die Waldgebiete der holländifchen Grenze. Alle
Teilnehmer erjchienen im leichteften Sommeranzuge und Strohhut. Nachdem ich einige
Kreuzfpinnen meines Gartens befucht, die eilig ihre Gewebe Fichteten, nahm ich Regen:
mantel und Schlapphut mit und erregte dadurch großes Gelächter. Nachmittags gegen
drei Uhr aber begann ein Unmetter, wie lange feines erlebt war, und ald wir nad)
einftünbigem Marfche ein Haus erreichten, befanden ſich alle Genoffen in einem wirklich
erbarmungsvollen Zuftand. Alle find feitdem aufmerkſame Beobachter der Spinnen
geworben.“
Im Winter muß man die Hausfpinne beobachten. Baut fie bei kaltem Wetter
ihr Gefpinft in die Nähe des Fenfterd, fo wird bald mildes Wetter eintreten; ftarfer
Froft dagegen, wenn fie fih aus den Fenfterwinfeln entfernt und fi nad dem Dfen
anbaut. Beim Eintritt naßfalter Witterung zieht fie vor den Eingang ihre Gewebes
Fäden, die fie bei herannahendem heitern Wetter wieder entfernt. Spinnt fie eine
Anzahl Fliegen ein, ohne fie gleich zu verzehren, fo deutet das ebenfalls auf fchlecht
Wetter. Auf andauernd gutes ift zu fchließen, wenn fich viele fleißige Hängefpinnen
zeigen.
Sogar auf die Jahreszeiten weiß Dankler feine Beobachtungen auszudehnen.
Ein frenger Winter ift zu erwarten, wenn Gänfe und Hafen im Herbft recht fett
und ſtark befiedert, reſpektive behaart find, beögleichen wenn Eichhörnchen und Erd⸗
nager große Vorräte anlegen und die Waldameifen ungewöhnlich große Haufen von
Tannen: oder Kiefernadeln anhäufen.
Als befonders bewährte Wetterpropheten in den Alpen nennt Arthur Achleitner
die Ziegen, die zur Hochſommerzeit ſchon flundenlang vorher das Kerannahen eines
Wetterfturzes wittern, in auffallender Haft die Höhen verlaffen und unter das fchügende
Dach des Geißerd flüchten. Ferner den Kolkraben, deſſen dumpfer Ruf allemal bei
einem feltfamen Flimmern der Luft und bei auffallender Unbeftändigkeit des Windes
ertönt; fein „Krrof, Krrok“ ift eine Warnung vor Schneefturm oder Lawinengang und
wird felbft von Gemfen beachtet und verftanden.
Sonft achtet der Alpler noch auf das Gligern der Sterne und auf ſchwitzende
Felſen, die namentlich bei Neumond ftundens, felbft tagelang vorher jähen Witterungs⸗
wechſel und warmen Südwind anfünden.
Aber auch eine Pflanze hat er, die ſchon einen halben Tag vorher einen Wetter:
ſturz verfündet. Das ift die Stroh: oder Wetterbiftel (Carlina). Ihre Blütenköpfe
find von einer bichtblättrigen Hülle umgeben, deren innerfter Blattkreis ftrahlenförmig
enttwidelt ift und aus zungenfürmigen weißen ober gelben, ſtark hygroſtopiſchen
Blattchen befteht, d. h. fie biegen fich bei hohem Feuchtigleitägehalt der Luft über die
Blüten herüber, während fie bei trodner Luft ftrahlenförmig nach außen ftehen. Bor
dem nahenden Wetterfturz fchließt fie alfo ihre Strahlenblätter. Ahnliche Hygroflopifche,
721
I Sagesandrad. —
=. G. van Bouluygs.
Autorifierte Überfegung von R. Speyer.
Ragyprud verboten.
uf dem Dorf in der Niederung herrſcht
ungewohntes Leben. Angſtliche Augen ftarren
nah dem Signalliht dort oben, das in der
Ferne gegen das büftere Gewölk zittert. Als
es dunkel ward, ift es da drüben aufgeflammt,
auf dem hohen Turm des Etäbtchens, weithin
fihtbar.
Aus den Kellern und Unterwohnungen der
großen Gehöfte wird aller Hausrat und
Proviant auf den Schultern zuſammengeſchleppt
und in bie oberen Wohnungen geſchafft. Die
reihen Bauern geben mit weithin ſchallender
Stimme ihre Befehle, unterbroden von dem
lauten Gebrüll des in feiner Ruhe geftörten
Viehes. Wer keine hochgelegenen Ställe hat,
treibt feine Kühe und Pferde auf die Hügel
und bebedt die ſchutzloſen Tiere mit. Kleidern
und Deden. Weit über die Nieberung brauft
der heftige Wirbelmind in toller Jagd, fegt
zwiſchen Häufern und Ställen umber, treibt
Inarrend die Flügel der Windmühlen, beugt
die Wipfel der Bäume und fchlägt offenftehende
Thüren und loſe hängende Lufenfenfter zu.
Nleine Leute, Arbeiter, laden ihren ganzen
Hausrat auf Heine Handwagen und Karren;
können fie bei Höherwohnenden fein Unter=
fommen finden, fo ziehen fie hinüber zur
Stadt, die einzige Kuh und ein paar medernde
Biegen vor ſich her treibend, die unter dem
Regen erfhauern, ber auf ben breit ge
ſchwollenen Kanal nieberbrauft.
Unter den Flüchtlingen fein Murten, kein
Fluchen. Etwas wie dumpfe Refignation ift
über die Armen gelommen, die Hoffnung auf
beffere Tage und ein Leben dort oben, wo ber
helle Schein des Signals erglänzt. Unverwandt
bliden fie darauf bei ihrem ärmlihen Aufzug
auf der Landftraße. Hin und wieder bleibt
einer ftehen und lauſcht mit borgebeugtem
Haupt, und fragt den andern, ob er fein
Glodengeläut hört, feinen Alarmſchuß?
Dann geht es raſcher weiter — dem
Städtchen zu.
Sept ift e8 Iebhaft in den fonft fo ruhigen
Straßen. Auf dem Marktplag vor dem Wirts⸗
haus brängen fi den ganzen Abend über
Neugierige zufammen und arten auf bie
Berichte. Zwiſchen der Telegraphenftation und
dem Gaftzimmer, in dem einige Leute aus bem
Deihamt figen, laufen die Boten unaufhörlich
bin und ber. Unaufhörli kommen Geftalten
aus ber Gaffe neben dem Rathaus, mit hohen,
fotbefprigten Etiefeln und einer Laterne in der
Hand; fie berichten über den Pegelftand und
werben, bevor fie in dem Wirtshaus ver
ſchwinden, ängſtlich ausgefragt.
„Wie ſteht's? Noch mehr geftiegen? Wie
iſt's jetzt?“ Und einige laufen die Strafe
hinauf, um felbft zu fehen.
Der Wind, der wie an den Tagen vorher
beftändig an Heftigfeit zunimmt, rüttelt an den
Laternenpfählen, läßt die Scheiben erflirren
und die Gasflammen fi ängftlih Duden oder
wie erfchredt emporfahren; jeßt jagt er heulenb
die Straßen entlang, an den Häufern empor
und mirbelt um bie Giebel und Schornfteine.
Das ftöhnende Achzen bes hoben, breiten Turms
ift ftraßenweit hörbar.
In den Häufern bericht Unruhe. Jeden
Augenblid gleitet ein breiter Lichtſchein aus
einer geöffneten Hausthür auf bie feucht:
glänzenden Pflafterfteine. Schatten huſchen
an den erleuchteten Fenftern ber Wohnungen
vorbei.
46
.. yupro IYUEH INS Geſtcht,
ſickern aus ihrem Bart. Sie ftehen und warten.
Und inter dem Pegel, binter den plumpen
Schiffsrüumpfen unfihtbar der Etrom, der
wütend anftürmt gegen alles, was ihn in feinem
Lauf hemmt, gegen den tobenden Norweftwind,
der jede Nacht mit ihm kämpft, während die
gewaltigen Stimmen mie urfräftige Kämpfer
einander brohend entgegenheulen.
Am Ufer fchäumt braufend das Waſſer.
„Seit Mittag wieder acht Zoll mehr,”
dernimmt man murmelnde Stimmen, „und in
Köln wieder von neuem geitiegen. Es ift
ſchlimm für die Niederung, daß fie den Deich
drüben verftärft und die Schleufe gefchlofien
haben.”
„an Velddonk find alle Mann an ber
Arbeit. Sie fürdten, daß er fich ſenkt.“
„Die Deihe werden faul. Den ganzen
Winter über fein Froſt. Und das Toben
vom Wind jede Nacht!“
„'s dauert zu lang’!
Tas Mailer ift nur nod einen halben
Meter vom Deichrand entfernt, und als ein
Wächter mit feiner Laterne erfcheint, wird
auf dem gelben Wafler ein Rand von an—
gefpülter Lehmdeicherde fichtbar. Die Laterne
fladert auf, der Mann klettert über den Deich
und verfchivindet in der Straße.
Auf dem Markt noch größere Unruhe,
noch beftigered Durcheinanderreden, noch
dichteres Zufammendrängen.
Grauen Atem aus den Nüftern jagend,
mit fliegenden Flanken ſteht ein Pferd. Dice
Echhmarban-.-
en
wiſſen fi
Der Dei
es in dei
Der
Worte m
zweiräder
ein Zeiche
Dann gre
weicht zur
Noch
Wagenger
Echmei
aus einer
dem Markt
Die fta
aufgeladen.
„Es kör
gebraucht n
vollauf zu t
Sogleich
„Du a
Und nod) ei
Die Bu
auf.
„Vorwär
Die Bı
aus, und I
mit einer
Säufen bi
Tenften rü
läßt.
Die fün
—
CK TI, Li
Tage danbruch
Flüchtlingen, hören fie Kindergeſchrei und das
Medern der Biegen.
Es wird gerufen und gefragt.
ua, es ſteht ſchlecht.“
„Sie ſagen, es wäre ſchon durch.“
„Bot"
Es erfolgt feine Antwort mehr.
In das Gebränge kommt ein Handwagen
mit einem alten Mann darauf, quer vor das
Pferd. Und das Pferd plöglih zum Stehen
gebracht, bäumt fi auf.
Derbes Fluchen auf dem Wagen und
ängftlihes Wehflagen auf dem Heinen Ge:
fährt.
Der Wind trägt die Laute raſch fort.
Der Weg ift ſchon wieder frei. Nun rumpelt
der Karren weiter.
Dorus blidt hinaus in die Dunkelheit.
Eie find bald am Deih. Mit Mühe ftedt
er fi eine Pfeife an, und hodt in einer
Ede des Wagens nieber.
Die Männer fangen an ſich zu unterhalten,
ab und zu mit ber Hand an die Stim
fahrend, fobald ein Winbftoß über ben
Wagen fährt. Das Pferd erflimmt Schritt
für Schritt den Deih. Das Geſchirr knarrt
bei dem feften Anziehen.
„Meinetwegen Tönnte es noch vierzehn
Tage dauern.“
Meinetwegen auch
draußen nichts zu thun.“
Dann zu Dorus, der ſchweigend verharrt:
„Du ſchlenderſt auch ſo müßig umher.”
Dorus nidt und bläft feine Pfeife weiter an.
Der Bauer bat feine Arbeit mehr für
ihn, alles, was im Haus gefchehen konnte, ift
vollendet, und wegen der Waſſersnot ift das
Land noch nicht zu bearbeiten.
Das Pferd, das in dem Licht der Laterne
fihtbar wird, fchleppt fi im mühſeligen
Trapp weiter, und der Wagen rumpelt über
den hohen Deich, Hinter den gleichmäßig auf
ſchlagenden Hufen her. Hin und mieber ift
der Drud des Windes fo gewaltig, daß das
Pferd kräftig nach linls gehalten werben muß.
Die Männer boden ſich Hinter die Säde.
Dorus bleibt auf dem Seitenrand figen
und verfucht ſich umzuſehen.
Überall tieffte Dunkelheit. Cr hört
die dürren Zweige der Nußbäume am Weg-
s giebt doch
723
faum Inadend gegeneinander fahren, aber er
fieht fie nicht.
Und in ber breiten, formlofen Dunkelheit
dahinter allerlei fremde Klagelaute, oft vers
{lungen von dem beulenden Toben des
Windes. Nun peitfcht der Regen über Waſſer
und Land und fehlägt feine großen Tropfen
gegen bie Karre.
Dorus kennt den Fluß. Sein Bater ift
Fiſcher, und als Junge hat er zu Zeiten Nacht
für Nacht im Boot zwiſchen den Lachsnetzen
getrieben. "
eine Augen find an die Dunkelheit ges
wöhnt, aber jegt kann er doch zwiſchen Waſſer
und Land keine Trennung ſehen. Alles ſchwarz
in ſchwarz. Ganz in ber Ferne ein paar aufs
bligende Lichtfünlchen, — mehr nicht. Drüben
erben fie wohl aud nicht ruhig ſchlafen ...
Innerhalb des Deiches und weiter hinauf
fieht man Lichter in der Nieberung. Das
Land liegt tief, — fein Wunder alfo, daß bie
Menſchen im Angft leben bei dem hohen
Waſſer. Noch einen halben Meter höher, und
fie ertrinfen alle erbarmungslos, wie bie
Mäufe, wenn fie ſich nicht bei Zeiten in
Sicherheit bringen.
Wie eine Warnung leuchtet das Notfignal
nod immer body oben vom QTurm, ſtundenweit
in der Runde fihtbar.
Ein Geräuſch .... immer näher und
näher Der Huſſchlag eines raſch
trabenden Pferdes. Es naht, e3 ift ſchon bicht
daneben.
Es wird zum Schritt gebracht, und eine
Stimme ruft aus dem Wagen:
„Sind's die Säde? Raſch vorwärts. Ein
Loch wie ein Keller!”
Dann verllingt der Huffchlag in der Richtung
des Stãdtchens. Der Fuhrmann läßt die Peitſche
Hatfchend auf das Pferd fallen.
Vlöglih aufſchredend, trabt das Tier ein
paar Sekunden lang raſcher, verfält aber bald
wieder in feine trottende Gangart.
Nach einigen Minuten fehen fie erleuchtete
Fenſter aus der Dunkelheit auftauchen. Eie
nähern fih dem Werwolf, Fährhaus und
Herberge zugleich.
Durch die geöffnete Thür fällt ein breiter
Lichtſtrahl auf den Deich, in dem ſich Menfchen
I Hin und ber beivegen.
46*
724
Die Waflerwarte bat bier einen Poſten.
Die Stimme eines Rottmeiſters, der eine
Laterne hochhaltend, von der andern Eeite des
Deiches ankommt, ruft gegen den Wind an:
„Wie viel Mann?“
„Fünf.“
„Ich muß zwei hier haben. Hundert
Schritte weiter fängt es an zu rutſchen. Werft
ein paar Säcke ab.... So. Sand haben
wir bier gleich daneben liegen. ’3 ift noch
nicht arg, aber wir müſſen es im Auge be-
halten.“
Dorus und ein andrer junger Burſche
waren flugs vom Wagen gelprungen. Gie
werden wohl bier bleiben.
„Und nun, vorwärts, marſch! Zu Velddonk
it Not am Mann.” Der Kutfcher zieht die
Leine an. Das Pferd greift aus. Nüttelnd
Ichiebt der Karren ab, fie hören ihn noch an
der Schöpfitelle vorbeifahren, den Querweg
entlang, wo nur die Laterne, einem Irrlichtchen
gleich, ſichtbar ift.
„Eine böfe Nacht, Jungens,“ brummt der
Mann mit dem Olrod und den hohen Stulp-
ftiefeln. „Jeder ein paar Säde auf den Rüden
und dann mit. Halt! Kommt einen Augen-
blick mit ’rein.”
Das kleine Gaftzimmer, das fie mit ihren
derben Eohlen auf dem fnirfchenden Sand
betreten, ift voller Betroleumsgeruh und
Tabafzqualm.
Der Nottmeifter beftellt etwas bei der
Wirtin.
Der Gaftwirt, ein altes Männden, fibt
jtumpffinnig an einem Tiſch und antwortet
auf jede Frage über den hohen Wafferftand:
„sa, ja, es ift mir als wenn's gejtern
wär’, die Sylut von 60... .”
Die Außenthür wird wieder aufgerijlen,
und ein fräftiger Mann mit hohen, kot⸗
befprigten Stiefeln fett die Xaterne nieder,
Ihüttelt die Regentropfen von ſich ab und
brummt:
„Roh drei Zoll mehr!”
Ein junger Menſch mit bleihem Geficht
und einer Brille, fit rauchend am Tiſch
unter der Lampe, legt feine Zigarre nieder,
nimmt die Feder von dem neben ihm ſtehenden
Tintenfaß, ſieht nach der Uhr und fchreibt
etwas auf eine Liſte. Dann legt er die Feder
Tagedanbrud.
wieder bin, laufcht auf da8 Rütteln Des Sur:
an den Fenften, nimmt enen Sclud ur.
einer bampfenden Tafle und ftedft feine Jiaım
mit bebaglicher und wichtiger Miene miete
" Brand.
Wieder das dumpfe Geräufch von Pferde
hufen.
Die Wirtin öffnet bie Thür, und der mai.
Schein der Lampe fällt auf die Beine em:
Schimmels und die Stiefel eines Reiters.
„Die iſt's oben?”
Sie halten’S noch, ak::
e3 fommt jede Stunde etwas dazız.“
Er nimmt ein paar Papiere, Die ibm von
bem Schreiber zugereicht werben, ſteckt fie in
feine Tafche, zieht die Zügel an, und vor
wärts trabt das: Pferd in die Dunkelbeit
hinein.
„Vorwärts nun, Jungens,“ ruft der
Rottmeiſter.
Ein paar Säcke auf der Schulter, erklimmen
ſie den Deich, ſich mit aller Kraft gegen den
heftigen Wind wehrend. Sie ſehen nichts,
als das erleuchtete Stückchen Damm dirk:
vor fih. Wie eine Mauer umgiebt fie die
Duntfelbeit.
Jetzt hat's aufgehört zu regnen. Hoch
oben im dichten Gewölk ein Spalt, der ſich
von Minute zu Minute mehr verbreitert. In
dem Riß werden Sterne fihtbar.
Die Männer bören das Klatſchen des
Waſſers dicht neben fih. Sie können ten
Strom nicht fehen, aber es ift, ala fühlten
fie in dem Boden unter fih den gewaltigen
Andrang des immer weiter vorbrängenden,
einen Ausweg juchenden Waſſers.
Dorus läuft mehanifh Hinter feinem
Vordermann ber. Zumeilen muß er jtillftehn,
wenn der fcharfe, von Nordweſt nach Nordoſt
umfchlagende Wind ihm den Atem raubt.
Das Knirihen der Schubfohlen auf dem
Sand geht vollftändig verloren im Toben
des Windes und dem Toſen des Waffers,
dad hin und wieder heftiger gegen cin
Hindernis antreibt.
est kommen fie an einen Eandhaufen
auf der inneren Deichfeite. Einige Säde
füllen fie halb an, binden fie zu und fchleppen
fie dann einige zwanzig Schritt weiter, imo
der Rottmeifter feine Laterne niedergejeht bat.
Tagesanbruch.
„Das Loch iſt größer geworben. Schiebt
ein paar Säde vorſichtig her; nicht zu
weit.“
Beim gelben Fladerfchein ſieht Dorus,
wie fih in der Deichfpige ein balbfreisförmiger
Zirkel von der dunkelbraunen, aufgewühlten
Erde abhebt. Er ftedt feinen Spaten hinein,
es ift noch nicht tief.
Der bineingefhobene Sad verſchwindet
aber doch.
Noch einer. ”
Vorfihtig halten die Männer den Sad
mit dem Spaten auf, aus Angft, er könnte
vom Deich abrutſchen. Er bleibt in gleicher
Höhe des Deichrandes liegen. Nun fteden fie
etwas Erbe hinein zum Ausfüllen und ftampfen
fie mit den Füßen feft.
„So“, fagt der Rottmeifter, „wenn er nun
von unterwãrts nicht wieder fortgeſchwemmt
wird, wird er fhon aushalten. Aber ciner
muß dabei bleiben.”
Dorus ftedt feinen Epaten in den Deich
zum Zeichen, daß er hier bleibt.
„Dann gehen wir höher herauf. Aber
halt, es könnte bier anfangen zu rutſchen.
Da!” und babei reichte er Dorus eine Heine
metallne Pfeife. „Wenn du nicht allein
damit fertig toirft, ſchwenke nur mit der Laterne
und pfeife. Wir bleiben in Gehörmeite.
Hier ftehen noch ein paar Säde, und wenn's
not thut, ift bei der Witwe Vermazen auch
noch Hilfe zu befommen.”
Er weiſt auf ein paar Lichtfleden in
einiger Entfernung.
„Schön, Meifter!”
Die beiden Männer verſchwinden.
Zuerft fieht Dorus noch den Lichtſchein
einer Laterne, dann weiß er fih allein.
Warum ift er eigentlich mitgegangen?
Er weiß es felbft nicht.
In den legten Tagen ift er ſchon immer
berumgelaufen ohne Arbeit, den Deich auf und
ab, bat nach dem Waſſer gefehen, geſchwatzt
und dann mal eine Stunde lang dem Vater
beim Negefliden auf dem Boden geholfen.
Es ift ihm ziemlich gleih, was er treibt,
wenn er nur etwas zu thun hat... ..
Ob's gefährlich ift, hier fo allein auf dem
Deich zu ftehen?
Ihm ift’3 gleich. Gleichgiltig ſieht er nad)
725
dem geflidten Deichrand und fühlt den Wind
um feinen Kopf faufen.
Das Leben wird es ja wohl nicht koſten,
wie's aud wird. Und felbft dann! Was
madt ihm das?
Eben hält er die Laterne hoch. Der Sad
liegt nicht mehr in gleicher Höhe des Randes.
Es mühlt darunter. Cr ftampft mit dem
Fuß, ſchlägt mit dem Spaten darauf, um ihn
beſſer zu verftopfen.
Dann bleibt er mit beiven Händen auf
den Epatenftiel gelehnt ftehen und ftarrt in
die Dunfelheit. Schwarz, ſchwarz überall.
Immer das elende Gefühl, ſobald er allein
ift und immer der Wunſch nad Alleinfein.
Er fann es noch immer nicht verſchmerzen ...
Vierzehn Monate ift er im Dienft geweſen,
und in ber Zeit ift e8 geſchehen.
Wie fonnte fie nur fo fein? ...
Seine Schwefter hatte ihn mohl fchon
früher gewarnt, aber er fonnte es nicht glauben.
Daß fie ſo ſchlecht fein konnte! Er war doch
fo gut zu ihr geweſen. Wenn er aus dem
Dienft fam, wollten fie heiraten. Er ftedte
den Spaten tiefer in ben Sand.
An dem Sonntag Nahmittag im Haag... .
In der ſchwarzen Nacht fieht er alles Har.
Er faß mit ein paar Kameraden auf einer
Bank unter den Bäumen vor der Wilhelms⸗
taferne. Ein Iebhaftes Hin und Her von
Spaziergängern auf der Menritölade. Da
trat der Briefträger in den Hof. Einen
Augenblid fpäter ftand er an den Baum
gelehnt und las einen Brief feines Vaters:
er wolle es ihm jeßt nur fehreiben, da er es
fonft darch einen andern erfahren würde. Es
wäre ein öffentlicher Skandal, Hanne hätte mit
einem andern angebandelt und nun wäre fie
fo weit.
Es drehte ſich ihm alles vor den Augen,
er lehnte fih mit dem Rüden fefter gegen den
Stamm, da er fürdtete umzufallen, — fo
ſchwindelig war ihm. Der Giebel der Kaferne,
die hohen Bäume, feine Rameraben, alles im
dichten Nebel.
Und wieder lad er biefelben Worte und
Zeilen und dann noch einmal.
’8 war doch nicht möglich! Cie, fie mit
einem andern! Cr hatte noch einen Brief
von der vorigen Woche, alles lieb und gut.
ww. guwyev yys V⸗ vi u. 8% lin "
nach dem andern Brief, ihrem Brief, zer⸗
knitterte das Papier, zerriß es, und ſtampfte
die Papierfetzen in die Erde, als wollte er
die Erinnerung an ſie vernichten.
Aber wieder fing es in ihm an zu fragen,
zu rufen: Großer Gott, wie iſt es nur möglich,
— und die Betäubung, wie durch einen
unvorhergeſehenen Schlag, ward nun zur Pein,
zur wilden, heftigen Pein, die an ſeiner Seele
fraß, wie eine bösartige Krankheit.
Das ging ſo Tage lang.
Zuweilen wußte er ſich nicht zu helfen
und vergaß alles in ſeinem Dienſt, bekam
Verweiſe und Strafe.
Dann ließ er ſich durch ſeine Kameraden
verleiten, mehr Schnaps zu trinken, als ihm
gut war.
Auch ging er an einem Sonntag Abend
mit einem Mädchen aus dem Haag, das ihn
früher ſchon immer angeſprochen hatte. Aber
das half alles nichts.
Hanne, Hanne...
gebalten.
Dort oben Waren die Sterne wieder
verſchwunden, und der Himmel eine winzige,
büftere Drohung.
Als er ausgedient hatte,
Städtchen zurüd.
Bei feinem alten Meifter, bem reichen
Bauer, hätte er gleich wieder Arbeit befommen.
Aber es war nun alles anders gemorden.
Wie oft hatte er früher, wenn er des Nachts
auf Wade Stand, Pläne gefchmiedet und
Er bat zuviel von ihr
fehrte er ing
wus U CE
mutwillig in
war.
Der Nadıi
die Herbftmon
Arbeit, mit ti
und er arbeite
tobmübde nad) !
durdhichlief. 2
Das Ärgfi
ließ er fih w
zur Kegelbahn
auf das E hr
und ließ ſich
Spiel verleiten
Manchmal hal
fühlte er fih n
Dann ging il
der Gedanke d
batte thun för
doch ficher, de
hatte... I
ein Kerl gewe!
zubringen wuf
werden, wenn
mußte doch im
So gingen
Eines Aben
ſich auf einen
hörte er ihren
und Schweſter
. Er bo:
etwas bon „Tat
Er ftand au
Tagedanbruch.
Und aus ihrem Mund kam es dann Wort
für Wort, daß Hanne dieſe Nacht entbunden
fei.. . daß ſie's fehr ſchwer gehabt hätte —
daß das Kind tot fei... und daß fie...
Reiter, weiter,” fagte er heifer.
Er konnte felbft kaum fprechen.
Es ftände ſehr ſchlecht mit ihr, fie thäte
nichts als phantafieren und fohreien.... .
Dann bielten fie wieder inne.
„Und — und — fie haben bier ſchon
zweimal erzählt, daß fie immer nad) bir ruft.”
Er fühlte, wie ihm ein alter Schauer
über den Rüden riefelte und ſtand dann ba
wie betäubt, mit ftarren Augen.
„Ich hätt’ es bir gar nicht fagen tollen,”
begann feine Mutter twieder.
Sie blidte ihm ' erftaunt an, als er
antwortete.
n’8 ift gut, ich werbe gehen!”
Und fo war er in die Straße gegangen,
die er monatelang gemieben hatte, in bas
Häuschen, in das er früher täglich kam.
Hannes Mutter war bei feinem Eintritt
erſchredt zufammengefahren, hatte ihn fragend,
erftaunt angeblidt, aber er Fam ihr zuvor:
„Hanne hat nad) mir gefragt?”
„Ja, Dorus, aber nun ſchläft fie” —
mit einer Bewegung des Kopfes auf die Bett:
ſtelle deutend, — „ſchon feit zehn Uhr. Den
ganzen Morgen über bat fie nur bon bir
gerebet.”
Dorus ſah fi) in dem Heinen Stübchen
ratlos um und wußte nicht, was er fagen
und ob er gehen ober bleiben follte.
„Es ift hübſch von dir, daß du gelommen
bift, Dorus,“ begann die Mutter in meiner:
lihem Ton. „Sa, ja, — e8 ift doch folde
Heimfuhung für uns!”
Sie wiſchte ſich mit dem Handrüden über
die Augen und wies auf eine Heine Wiege in
einer bunfeln Ede hinter der Thür.
„Am Abend bringen fie den Heinen Sarg.”
Dorus bleibt unfdlüffig ftehen, feine
zitternde Hand hatte die Stuhllehne ums
Hammert.
„Wenn's jetzt wenigſtens dabei blieb...
es ſteht ſehr ſchlimm. Aber willſt du ſie
jehen?”
Er hatte feinen Willen. Er machte ein
paar leife Schritte und ftand nun neben ber
727
Mutter am Bett, die den Vorhang behutſam
zurüchſchlug.
Erſt ſah er nichts, und dann hob ſich im
Halbdunkel ein bleiches Geſicht von den Kiſſen
ab... dunkle Augenhöhlen, ſchwarze Haare.
„War das die Hanne?“
Die Mutter ließ den Vorhang fallen.
„Ja, ja, es ift zu ſchredlich,“ klagte fie,
während er ſtill zurüd zur Thür ging. „Aber
hübſch ift e8 von bir, Dorus. Sie ift jung
und ſtark, vielleicht Tommt fie doch noch
dur, — und wenn fie wieder nad) dir fragt,
will ich dich rufen laſſen ... Ach ja, fie hat
es fo fhmwer gehabt. Das Mädel ift bitter
geftraft . .. das kann ich dir fagen.”
Dorus ſchauerte, weil er die Berechnung
aus biefen Worten herausfühlte. Ex erwiderte
fein Wort und ging nach Haufe.
Am folgenden Tage hörte er, daß Hanne
geftorben fei.
Große Tropfen ſchlagen ihm ins Geſicht.
Er muß die Augen in dem plöglihen, heftigen
Regen, der klatſchend auf den Fluß niebergeht,
feft zufmeifen und fi) umdrehen.
Nun fieht er wieder einen Lichtſchein ſich
nähern, und allmähli löſt ſich eine Geftalt
aus dem Dunkel ab.
„Die ftehr 3?"
Der Mann blidt auf die ſchadhafte Stelle.
„Stromauftwärts fteigt das Waſſer nicht mehr.
Ih gehe nach dem Werwolf und werde ab
und zu mal nachſehen.“
Er ftößt mit dem Fuß gegen die Sand»
fäde. Bei jeder Bewegung gligern die Tropfen
an bem Öltod wie Tautropfen. Er holt
feine Uhr heraus.
„'s ift nun bald zwei... Ich werde
fehen, daß ich dich in ein paar Stunden hier
ablöfe.”
Dorus nidt und murmelt etwas. Ihm ift
alles gleich.
„Run — bu weißt, wenn bir etwas
paffiert ...“
Er geht mit dem Klatfchen der Stiefel im
Moor davon, jagt noch etwas, wovon Dorus
nur noch das Wort Laterne verfteht.
Der Regen läßt nah... er fühlt nur
noch vereinzelte Tropfen an feinen Wangen.
Bei der Unterhaltung hat er gefpürt, daß er
Tagesanbruch.
die Taſche und ftedt fie zwiſchen die Zähne.
Schrill tönt der helle Klang in dem bumpfen
Braufen, aber er wundert ſich nicht, daß ihn
niemand hört. Wie ein ohnmächtiger Schrei
wird der Ton in die Niederung getragen und
geht dort verloren.
Er bat mit feiner Laterne geſchwenlt und,
bie Pfeife zwifchen die Zähne geflemmt, ſchrille
Töne ausgeftopen. Nun fchleppt er einen
Sad dit an den Rand der Böfchung, wo
ſich dem Waffer jegt fein Hindernis mehr
in den Weg ftellt. Während er den Sad mit
großer Anftrengung weiter ſchleppt, bünft es
ihm, als ftiege die Laterne, die ſeitwärts fteht,
langfam empor; und es bauert ein paar
Selunden, bis es ihm zum Betwußtfein fommt,
daß er mit dem Sad und allem ſinkt.
Sein Herz klopft fehneller vor Schred, und
dann pfeift er fo ſchrill und lang, daß ihm
die Zähne von dem heftigen Zittern wehe
thun. Er fühlt feine Füße feftgellemmt, müht
ſich vergebens, fie aufzuheben, ftredt die Arme
aus, um einen Halt zu finden... Gott fei
Dank, — jetzt fühlt er wieder fefte Erbe unter
fi! Nun arbeitet er Fräftiger, in der Meinung,
fi aufpeben zu können, er breitet feine Arme
aus, fpannt feine ganze Muskelkraft an. Aber
es ift, als würden feine Beine feftgefogen im
naſſen Schlid, und der Boden, auf dem feine
Hände einen Halt zu finden meinten, weicht
dem Drud feiner gefpreizten Finger.
Er fieht die Flamme feiner Laterne langſam
höher und höher fteigen.
Er fühlt, wie das Wafler dur feine
Kleider zuerft an feine feitgebannten Beine,
dann an feine Kleider oberhalb der Hüften
dringt und fühlt, daß er beftändig tiefer rutfcht.
Wird er bier feinen Tod finden — und
auf dieſe Weife?
Hier erftiden?
Der Wunſch zu leben und ſich zu befreien,
läßt ihn noch einmal feine Arme ausbreiten
und den Verſuch machen, nad etwas zu greifen,
woran er fi feſthalten ann, läßt ihn die
Kraft finden, um feine Beine in der lot
ſchweren Klammer zu beivegen; und einen
Augenblid hält er ſich auf derfelben Höhe,
das Licht von ber Laterne in derſelben Ent:
fernung ſchräg über fih. Alle feine Musteln
find zur äußerften Willenskraft angefpannt,
729
und der Schweiß
Stim.
Dann aber fängt das Licht wieder an zu
fteigen,.. langſam, quälend langfam, und er
weiß, daß das Erftiden immer ‚näher kommen
und fi) feft um feine Kehle legen wird.
Nah diefer äußerften Anfpannung fommt
eine dumpfe Ruhe über ihn.
Er kann nicht mehr. So weit wie möglich
hält er die Arme ausgebreitet und fühlt das
Waſſer fhon an feiner Bruft. Sonft aber
thut er nichts mehr.
Die Todesangft ift vorbei... .
Das Toben des Windes, das Klatſchen
des Regens um ihn ber wirken wie eine
Betäubung.
Eifige Kälte dringt ihm, langfam vom
Rüden auffteigend, bis an den Naden.
Er hat feine Vorftelung mehr von ber
Wirklichkeit, er gerät in eine Art von Traum-
zuſtand ...
Ein wunderliches Durcheinander von Wahn⸗
vorſtellung und Wirklichkeit.
Hanne... die Kaſerne ... der Weg ...
Kirſchen . . . Sommerabend ... Laden...
Schwatzen ...
Daran klammert er ſich — Schwatzen —
Stimmen.
Und nun erwacht er zum Bewußtſein durch
ein berbes Geräuſch.
„Greif’ doch zu, es ift dicht neben dir.”
Er fühlt etwas an feiner halberftarrten
rechten Hand. Langfam umfängt er ed mit
feinen Fingern. Nun weicht die Betäubung
mehr und mehr. Die linke Hand führt er zur
rechten und nun umllammern fie beide das Tau.
„Run, nur langfam — gut fefthalten. —
Zieh’ nur mit, Marie!”
Dorus fühlt ziehen, ziehen... und langfam
entlommt er dem moorartigen Boben, ber ſich
an feinem Leib feftgefogen hatte.
Kannſt du noch halten?”
„Ja!“
„Paß auf, Marie, nicht zu nah heran,
halt den Fuß auf dem Brett! Nun langfam
ziehen! Sieh fo... nun eine Hand...
Marie die andre... . noch einmal ziehen...
du bift fteif geworden, Freundchen.”
Mehr und mehr mitarbeitend, ift er enblich
fo meit, daß er ohne Hilfe auf das Brett
tropft ihm von der
Tagesanbruch.
Aber ſie weigert ſich. Sie kann das
Wachen ſehr gut vertragen. Sie hätte es
anfangs des Winters oft thun müſſen.
Das iſt der Anfang eines Geſprächs in
kurzen Sätzen, mit langen Zwiſchenpauſen,
wobei ſie nicht von ihrer Arbeit aufblidt und
Dorus ab und zu die Augen ſchließt.
Vater und Mutter ſind ihr kürzlich am
Typhusfieber geſtorben. Ja, — darum iſt ſie
in Trauer. 's war eine ſchwere Zeit geweſen.
Wohl zwanzig Nächte hatte fie gewacht.
Manchmal waren ihrer dreie geivefen, die den
Vater im Bett zu halten fuchten, wenn er
rafend wurde im Fieber. Und ihre Mutter,
die zuerft frank war, ift eines Nachts, als die
Schweſter wachte, aufgeftanden und auf den
Deich binausgelaufen. Sie hatten fie am
Außendeich auf den Steinen liegend gefunden —
vierundzwanzig Stunden fpäter war fie tot.
Vater war viel länger Frank geivefen. Zuerft
dachte ber Doktor, daß er ihn durchbringen
twürbe. Aber nad) vierzehn Tagen wurde es
je länger, je ſchlimmer, und in ber vierten
Woche war's mit ihm zu Ende.
Eie erzählte das fo ruhig, daß Dorus, der
immer lauſchte und nur hin und wieder etwas
fagte, ftil vor ſich Hinbrütend fie beim Klang
diefer leifen Stimme plötzlich anſah ... Sie
blidte eben von ihrer Arbeit auf, und in
ihrem ganzen Gefiht, in den braunen Augen,
um ben ftrengen Mund lag eine ftille Er-
gebenbeit.
Wieder ftand fie auf und trat an ben Dfen,
um bie trodnenden Kleider umzuhängen, fo
ernft in ihren Trauerfleidern und fo leife aufs
tretend.
„Alſo Ihr feid hier noch nicht lange?“
Rein.”
Als ihre Eltern geftorben waren, mußte
die ganze Geſchichte auseinander. Das ging
nit anders. Es mar noch ärger, als fie
gedacht hatte. Es war eine große Hypothel
darauf. Und fo war fie dienen gegangen, wie
ihre Schweſter. Es war wohl eine große Um-
mwälzung für fie, aber was follte man thun?
s war Gottes Wille.
Nun fehweigen fie.
Dorus fieht, wie der Kopf mit den glatten
Scheiteln fih immer tiefer über die Lampe
beugt; er fieht, wie fie ruhig weiter arbeitet.
731
Er fühlt großes Mitleid. Was giebt es doch
für Kummer in der Welt! ... Und plötzlich
fommt etwas tie Ehrfurcht über ihn. Wie
fie da fo ruhig fagte: „'s war Gottes Wille.“
Er dachte an ihr Leben bier in ber Küche,
dicht neben dem Deich, Tag für Tag, allzeit
dasſelbe ..... Und wie ganz anders es damals
war, als ihre Eltern noch lebten.
Und darüber nachdenkend, hört er nichts
anderes, als das Heulen des Windes im Dfen,
das Tiden der Uhr und das leife Ziſchen der
Lampe, und er fällt langfam in Schlummer.
Dur) das Herunterbrüden ber Thürklinke,
das Öffnen und Schließen der Thür wird er
wach. Gijs tritt, bis zur Hälfte mit Schlid
beſchmutzt, triefend naß ins Zimmer.
Mit einem tiefen Atemzug fällt er auf den
Stuhl nieber.
„Das war 'ne Quälerei !”
Er hat den Rottmeifter im Fährhaus
gefunden mit noch einem Mann. Alles war
nach Velddonk, um zu helfen, und fie zu dreien
hatten's fertig gebracht. Zulegt war nod ein
Mann von der Wache dazu gefommen.
Marie war aufgeftanden, hatte Brot aus
dem Kaften genommen und fing an, für alle
zu fehmieren. Gij aß mit vollen Baden und
brummte unaufhörlih vor fih Hin. 's mar
doch fein Halten, wenn's Wetter fo bleibt.
Der Deich ift überall faul. Sie hatten noch
über den Kanzliften laden müſſen, der mit
feinem Negenmantel und feiner Brille auf der
Nafe nachſehen gekommen war und faft hinein
ſchoß.
„Der von der Wacht ſagte, daß es die
letzten beiden Stunden gefallen wäre ....
hohe Zeit .... Seht mal meine Hofen ....
fteif vom Schlid.“
Zu Dorus: „Wenn du dad Zeug da aus:
ziehſt, zieh’ ich's an.”
Dorus ift aufgeftanden. Jede Bewegung
thut ihm meh, fo fteif if er geworben. Er
unterfucht feine Kleider am Dfen. Sie find
troden. Er nimmt fie über den Arm und
geht dann zur Scheunenthür, an bie andre
Seite der Küche.
„Du brauchſt di meinettwillen nicht zu
eilen“ ... ruft Gije, der noch kauend, mit
vollem Mund, über einer breiten Schale
Kaffee figt.
Tagesanbruch.
Wieder blidt Dorus auf Marie, in
deren bunfelbraunem Saar etwas wie Gold
glänzt, und in deren bleichen Zügen es farbig
aufflammt.
Eie fteht ruhig emft und blidt in bie
Niederung auf eine hohe Pappel in der Ferne.
„Dort ift es?“ fragt Dorus.
Sie nidt, den Blid unverwandt dorthin
richten.
Er will noch etwas fagen, aber er weiß
nicht was. Doch das Schweigen wird ihm
noch fchwerer.
„Kommft du wohl mal in die Stadt?”
„Ja, Sonntags zum Kirchgang.“
„Kennft du dort niemand?”
„Rein.“
„Nun, — dann fomm’ doch mal mit
beran. Vater und Mutter werben es ficher
fehr gern mögen.”
Er nennt die Straße.
Sie blidt ihn nun forſchend an, als
ſchwanke fie.
„Das will id wohl thun ...
geh’ ich wieder heim.”
Dorus ftredt ihr feine Hand Bin und
hält die ihrige, die fi innen rauh anfühlt,
feft umflammert.
„Ich danke auch, — ich danl' aud recht
ſchön.“
Raſch geht ſie zurück, die Stufen herauf.
Ihre ſchwarze Jade verſchwindet hinter der
Scheune.
Dorus blidt fih um.
Der Wind ift viel ſchwächer geworben.
Ruhig gleitet die riefige Wafjermafje auf
dem Deih entlang, tiefe Furchen bildend
und bei jebem Hindernis jäh auffprigend.
An dem Uferrand fieht man, daß das
Waſſer gefallen ift.
und nun
783
Dorus fchreitet der Richtung des Städichens
zu, vorbei an dem Fled, an dem num noch
ein Mann die Wacht hält, und wo er wenige
Stunden vorher fiher den Tob gefunden
hätte, wenn fie ihm nicht zu Hilfe gelommen
wäre.
Er hatte geglaubt, gleichgiltig gegen das
Leben geworben zu fein. Wie hatte er im
Tobesangft gerungen! ..... Wie dankbar ift
er für feine Rettung gemwefen. Wie dankbar
iſt er Marie! ...
Nun tritt das Waſſer zurüd, der Frühling
kommt, die Mühlen drüben in ber Ferne follen
die Pfügen aus der Niederung auffaugen. Dann
tommen weiter oben Acker und Wiefen dampfend
im Sonnenfdein, um wie alljährlich bebaut
und abgegraft zu werden. Dann zieht er des
Morgens, je nady der Jahreszeit mit Harfe
und Spaten und Eichel auf dem Rüden, um
zu arbeiten bis zum fpäten Abend... .
Vereingelte, ſchneeweiße Wolfen treiben
gen Südweſt, und mie in ein großes
Beden flutet das Eonnenliht in den tiefen
Polder.
Nun fängt das Arbeiten wieder an in
Wetter und Wind ... Tag für Tag.
Und dann des Sonntags?
Einen Augenblid twieder dad Weh der
Erinnerung.
Einen Augenblid wieder der Anblid des
wachsbleichen Gefihts auf dem ſchwarz be
ſchatteten Kiffen.
Aber dann verfcheucht er das Bild wieder
durch den Gedanken an das andere, ftillzernfte
Geſicht, mit den wundervollen Augen.
Auf dem Deich in der Tiefe glänzt unter
dem hereinbredienden Tageslicht ein Strahl
neuertoachender Hoffnung, viel verheißender
Zukunft.
7184
Fredrikha Bremer.
Bu ibrem Bundertfien Geburtstag.
Bon
Maria Raſſow (Bremen).
Nachdruck verboten.
RR dem Mimen, jo fliht auch dem Romanfchriftiteller die Nachwelt bäufig
feine Kränze. Keine Gattung der Poeſie veraltet jo jchnell, wie der
Roman; wie Kein ift die Ausleſe der Meifterwerfe auf biefem Gebiet, die ſich Dauernde
Sugend bewahren, wie riefengroß die Mafje auch der beifällig aufgenommenen, wiel
gelefenen, die eine verhältnismäßig kurze Lebensdauer haben; und tauchen bie Werke
in die Vergeſſenheit unter, fo ziehen fie meift den Verfaſſer mit fich binab.
Nicht anders ift es der ſchwediſchen Schriftitellerin Frebrifa Bremer und ihren
Romanen in Deutichland ergangen. Ihre bei uns einft recht beliebten Bücher führen
beute ein ungeflörtes Dafein in Leib: und andern Bibliothefen, und das Vergeſſen
bat fich wie eine dicke Staubjchicht über fie gelegt. Und wir wollen fie da in Frieden
ruhen laſſen! Die heutige Zeit jchäßt ihr gefühlvolles Pathos, ihren harmloſen Humor
nicht mehr. Aus dem bei feinem Erfcheinen in fieben Sprachen überfegten „Haus“
bon 5. Bremer jcheint mir Beute ein Moderduft entgegenzufchlagen, und welches
moderne Mädchen würde von den Schidfalen der Nina, Petren, Rofa gerührt? Dielen
Geſchöpfen der Bremetichen Pbantafie fehlt das Leidenjchaftliche Temperament, das in
George Sands Frauengeftalten pulfiert (werden übrigen? die Werke der genialen
Franzöſin nicht heutzutage auch mehr erhoben als gelejen?); es fehlt ihnen die unver:
welfliche Frifche, die George Eliot ihren Heldinnen einzubhauchen verftand.
Hätte F. Bremer nur ihre Romane der Welt geichenkt, jo wäre ed — aud
an ihrem hundertſten Geburtstag — ungerechtfertigt, ihrer bier zu gedenken. Aber
fie war mehr als eine Durchichnitt3:Unterhaltungsschriftitellerin für Damen; viel
größer als ihre litterariiche war ihre joziale Bedeutung; und die Beitrebungen, die fie
durch ihre Bücher verfolgt, find nicht veraltet, fie beben fie hoch empor über viele
zeitgenöffiiche Konkurrentinnen der Feder und geben ihr wohl Anjpruch auf einige
Zeilen der Erinnerung auch bei un.
In ihrem Baterlande ftand und fteht F. Bremerd Andenken hoch in Ehren.
Wie Hoch, zeigt eine geiftuolle, feinfinnige Biographie, in der vor wenig Jahren zwei
ſchwediſche Schriftftellerinnen in gemeinfamer Arbeit der Vorfämpferin der Frauen;
bewegung im Norden ein Denkmal gelegt haben. (Fredrika Bremer. Biografisk
Studie af S. L—d Adlersparre och Sigrid Leijonhufvud. Stockholm 1896.)
Sn zwei ftarfen Bänden werden F. Bremerd Leben und Schriften beſprochen, und
wenn man auch beim Leſen empfindet, daß Pietät und Dankbarkeit bei der Schilderung
„einer ber edelften meiblichen Perfünlichkeiten, die die Gefchichte der ſchwediſchen
Kultur während des 19. Jahrhunderts aufzumeilen hat” (Bd. I. S. 7), manchmal
bie Feder geführt haben, jo ſchweigt doch die Kritik nicht, und das Geſamtbild fimmt
ganz mit dem überein, das mir einft durch mündliche Erzählung von Belannten ber
bedeutenden Frau gegeben wurde. — Eine große Anzahl bisher ungedrudter Briefe
baben die Biographinnen eingeflochten und bei der Auswahl befonders den Brief:
wechfel Fredrikas mit dem Gelehrten Böklin berüdfichtigt, ihrem Freund und Lehrer,
der zuerft ihr Sehnen nach wirklich willenichaftlicher Bildung befriedigte und ihr, als
fie ihn im Zwieſpalt mit fich felbft, im Ringen nad Klarheit über Gott und Welt
fennen lernte, bilfreih mar, fich zu der inneren Harmonie durchzukämpfen, die fie
jpäter in jo hohem Grade auszeichnete.
%. Bremer war 30 Jahre alt, als fie Böklin näher trat, und eine ſchwere Jugend
lag hinter ihr. Für den äußeren Beobachter allerdings jchien ihr Leben glatt und
glüdlich verlaufen zu fein. Am 17. Auguft 1801 in Abo in Finnland geboren, gehörte
Fredrita Bremer. 787
Mangel an Selbftvertrauen am eigenen Talent gezweifelt hatte, ſah plöglich, daB auch
fie in der Welt etwas leiften Tönne und bekam wieder Lebensmut. Der im folgenden
Jahre eintretende Tod des Vaters Löfte die häuslichen Ketten, und bald darauf lernte
fie durch Vermittlung ihres Schwagers in Chriftiansftad den ſchon erwähnten Rektor Böllin
fennen, mit dem fie hinfort bis zu ihrem Tode im regften geiftigen Verfehr blieb. Da
diefer Verkehr hauptſachlich brieflicher Natur war, kann man Fredrifas Werdegang Schritt
für Schritt verfolgen. Jubelnd und dankbar läßt fie fi von dem Gelehrten in fein
Gebiet, die Philofophie und Theologie, einführen. Doch folgt fie ihrem Führer
nicht blind, religiöfe Kontroverjen, naturphilofophifche Debatten find Häufig in
den zahlreichen Briefen. (Im Jahre 1834 wurden allein 96 gewechſelt.) Ihr reicher
Geift entwidelte fih mit bewundernswerter Schnelligkeit, und neben den Studien tritt
das eigene Schaffen mehr und mehr in den Vordergrund. Aus dem überfehenen
Altlihen Mädchen entpuppte fi, nun ihm ein Platz an der Sonne vergönnt war,
eine feine, weibliche Perfönlichkeit, und Männer, wie der große ſchwediſche Hiftorifer und
Dichter Geijer, wie Tegner und Anderfen traten in freundfcaftliche Beziehungen zu ihr.
Ihr Lehrer Böllin begehrte fie zur Gattin, aber da fie nur Freundichaft für ihn empfand,
lehnte fie feinen Antrag ab, und nad} kurzer Störung blüßte die feltene Freundſchaft weiter.
Man merkt F. Bremer Nomanen an, daß ihrem Leben die große Leidenſchaft
gefehlt hat; die erotifche Seite ihrer Erzählungen ift häufig die ſchwächſte. Ihr Talent
lag in der frifchen, Humorvollen Schilderung des fehtwebiligen Familien und Alltags:
lebens, wie fie und äbnlih der liebenswürdige Erzähler Hedenſtjerna heute in
mobernerer Form bietet. Hier war fie originel, und ihre feine Beobachtung auf
biefem Gebiet, der gemütvolle Ton ihrer Schreibweife gewannen ihr die Herzen, — an
einem Zufag von Sentimentalität wurde fein Anftoß genommen. Aber den Boden
der Wirklichkeit durfte fie nicht verlaſſen, die romantiſchen Epifoden, bie fie gern ein-
fliht und die uns heute zum Teil rührend unwahrſcheinlich vorfommen, fanden ſchon
damals feine ungeteilte Bewunderung. Der Einfluß der Romantifer, von denen
Fredrika befonderd Jean Paul verehrte, ift hier nicht zu verkennen.
So ſehr F. Bremer nach künftlerifcher Vervolikommnung ftrebte, die Kunft blieb
ihr nicht Selbftzwed. Bereits in ihren erften Schriften findet man die Keime ihrer
fpäteren Beftrebungen. Schon 1833 fchreibt fie, daß die leuchtende Laufbahn der
Frau von Stael fie nicht lode, fie wünfde vielmehr eine Schriftftellerin zu werden,
in deren Schriften Mutlofe und Belümmerte, beſonders ihres Geichlechts, ein Wort
der Aufmunterung und des Troftes finden möchten. Was die Leferinnen denn auch
zuerft fanden, war Fredrikas tiefes Empfinden für die „gebundenen Seelen” unter
den Frauen, d. 5. folde, die, wie fie felbft einft durch Verhältniffe und Vorurteile
beſchrankt, die geiftigen Kräfte nicht entwideln können. Und fie blieb nicht beim Mit-
gefühl ftehen! Noch halb unbewußt, ohne polemifche Abficht, betonte fie, erhob fie die
Debeutung ber Frau. In der Gefcichte der Edla fchon, in den „Töchtern des
PVräfidenten” (1834), erkannte Böklin fpäter ihr Bemühen, „eine wahrere und tröftlichere
Auffafjung der Stellung der Frau zum Manne und zum Menjchenleben hervorzurufen,
als die, welche in den alten Vorftelungen von Adams Rippe liegt”. In ihrem Roman
„Das Haus“ ließ fie ſich zuerft mit klarem Bewußtfein von der Tendenz beeinfluffen,
die allmählich dad innerfte Motiv ihrer Wirkjamfeit wurde: die Befreiung der Frau.
Im „Haus“ ift e3 die Unverheiratete, das ältere Mädchen, für das fie eintritt. Sie
ſchrieb, während fie an dem Buche arbeitete, an Böllin: „Bisher find die Penaten
echt befchränkte Götter geweſen; Leben und Luft von Millionen Frauen find unter
ihrer frommen Tyrannei verwelft, und von Millionen welfen fie zu diefer Stunde.“
Sie fuchte neue Wirkungskreife für die Frau, Kunſt, Wiffenfhaft und Induſtrie hätten
ja aud) ihre weiblichen Seiten, fie befämpfte die Anficht, daß die einzige Be:
ftimmung ber Frau die Verheiratung fei und fand es verlegend für ihr Gefühl und
ihre gejunde Vernunft, daß die ganze Bildung, das Weſen fogar der Frau darauf
zugeſchnitten werben folle, daß fie für den Mann paſſe. „Sollte nicht,” ſchrieb fie
damals in einem Briefe, „jede Frau (wenn möglich) fo gebildet werden, daß fie
felbftändig beftehen und wirken fönnte ohne Rüdlicht auf Che? Wie viel freier und
edler würde die Ehe dann werden!“ “
Fredrila Bremer. 739
Sentimentalität ausgeftattet. Die Berechtigung aber der darin enthaltenen Forderung
konnte troß alles Zeterns nicht dauernd Gektitten werben, unb welcher Triumph war
es für die Verfaflerin, als zugeftandenermaßen ihr Roman zu einer baldigen Ein—
führung der weiblichen Mündigkeit verhalf!
Viel heftiger noch als die eben erwähnte Forderung wurde bie zweite ber in
„Hertha“ vertretenen, die ber höheren Ausbildung der Frau, angefochten. Vielleicht,
gab man zu, könnte eine etwas beffere Schulbildung gewährt werden, nun ja, etwas
mehr Religions: und Litteraturunterricht, aber was verlangte biefe F. Bremer! Sie
beanfpruchte in „Hertha”: „Die Möglichkeit einer Erziehung und Selbftbeftiimmung, bie
der männlichen gleich if. Offnet, der Frau Schulen und Lehrfäle, die ihr Gelegenheit
geben, ſich felbit und ihre angeborenen Anlagen kennen zu lernen; und eröffnet ihr
dann die Wege, dieſe Anlagen ungehindert zu entwideln, da fie fonft für fie und für
den Staat ein totes, vergrabenes Bund bleiben. Nehmt die alten Schranken hinweg;
fort mit aller Meinmütigen Furcht; hegt das großherzige Vertrauen zu Gott, daß Er
fein Werk leiten und bewahren fann.” — Bir lächeln heute, wenn wir in den von
den Biographinnen mitgeteilten Kritifen Ausdrüden der tiefften Entrüftung, der vor⸗
nehmſten Geringihägung begegnen über folche Forderung und dann baran benfen,
daß feit dreißig Jahren junge Schwebinnen die Hochſchulen befuchen, daß Stodholm
die erfte Univerfität in Europa war, die in unferer Zeit eine weibliche Lehrkraft
(Sonja Kowaleweky) berief.
Die Bahnbrecherin aber wurde geihmäht, und bie große Allgemeinheit in
Schweden hielt lange Zeit die Verfafferin der „Hertha“ wirklich für das ercentrifche,
überfpannte, unmeiblihe Geihöpf, als das ihre Gegner fie darftellten. Allerdings,
wer ihr näher trat, wurde fchnell eines befferen belehrt. Milde blidte ihr Auge aus
den unſchönen aber vergeiftigten Bügen, fchlicht legte ſich das Haar um bie Fat zu
hohe Stirn, und eine weiße Haube vollendete den Eindrud anſpruchsloſer Einfachheit.
So fehen wir fie auf Büften und Bildern, nur eins macht eine Ausnahme und zeigt
fie ung in full dress; dieſe altväteriiche Eleganz von Sammet und Spigen war gewiß
ihr Hofgewand, wenn fie ber verwitweten Königin Amalia Karolina von Dänemark
oder ber Königin von Griechenland aufwartete, bie ihr beide fehr geneigt waren.
Frute doch König Georg von Griechenland F. Bremer bei ihrem Aufenthalt in
then feine eigene Yacht zur Reife nach den Inſeln zur Verfügung.) — Sie hatte
nichtö geiſtreich Sprüßendes, diefe Heine, zurüdhaltende Schwedin, und fein pifanter
Reiz umgab fie und ihre Vergangenheit; fie nahm die Menichen nicht im Sturm, aber
wie feſſelnd und anregend wirkte fie, wohin fie auch Fam, durch ihre feine Weiblichkeit
und ihren originellen Geift! So ſchildern fie und Longfellow und Hawthorne und
ähnliches fagt George Eliot von „the great little authoress".
Ruhig und unbeirrt durch die heimifchen Anfeindungen ging die alternde Schrift:
ftellerin ihren Weg weiter und zeigte in einem neuen, weniger eingreifenden Roman
„Bater und Tochter“, wie trefflich wiſſenſchaftliche Bildung und echt weibliche Pflicht
erfüllung fich vereinigen laſſen; fie plante eine „Aurora“, in ber fie ihr deal der
Zufunftäfrau zeichnen wollte. Teils hinderten längere Reifen, deren Erfahrungen fie
in mehreren Bänden nieberlegte, die Ausführung, teild veranlaßten ihre umfafjende
philanthropifche Wirkfamfeit, deren Spuren man nod heute in Stodholm verfolgen
Tann, und die großen Anfprüche, die nahe und ferne Freunde an ihre Zeit und ihre
Sympathie machten, den Aufſchub diefer Arbeit. So war „Aurora“ ungefchrieben,
als in den legten Stunden des Jahres 1865 das warme Herz ber ſchwediſchen Schrift
ftellerin erfaltete.
Aber Hatte F. Bremer ihr Ideal nicht mehr mit der Feder ſchildern können, —
was fie für feine Verwirklichung gethan hatte, mar mehr. Durch Arbeit und Beifpiel
bat die „erfte Fürfprecherin im ſchwediſchen Lande für die neuzeitliche Auffaffung der
Frau“ unendlich viel dafür gewirkt, die Iphigenienklage über das Frauenſchichal
des unnügen Lebens, über die enge Gebundenheit des weiblichen Glüds verftummen
zu machen.
Er
47*
740
Die Fran im Spiegel der modernen franzöfifehen
itteratur.
Von
Anna Brunnemann.
Nachdruck verboten. un
IN äbrend die germanifche Frau in ben legten Jahrzehnten mit Vorliebe ibr
| 1) Seelenleben zeichnet und unabhängig vom Mann zunädft ihre Individualität,
ihre Forderungen ans Leben, und dann erft ihre veränderten Begriffe von
Liebe und Ehe zur Darflelung bringt, zeigt die Franzöfin die Bedürfnis fo gut mie
‚gar nidt. Wir Haben in Frankreich zwar eine Emanzipationsbewegung, doch macht
fie nur langfame Fortichritte und zieht vorzugsweiſe ertreme Geifter in ihren Bann:
kreis, jo daß Häufig mit viel Lärm weit über das vernunftgemäß Mögliche hinaus⸗
gegangen wird. Wir hören die Feminiftin in öffentlichen VBerfammlungen viel über
Politik, Stimmrecht, Sozialismus, Anarchie, Freigeiiterei und freie Liebe deflamieren —
von den inneren Wandlungen und intimen feelifchen Forderungen, von der gefteigerien
Geiftigkeit des Weibes, das gelernt bat über fich felbft hinaugszubliden, erfahren wir
nichts. Das einzige weibliche Seelendofument, das als beachtenswert in der modernen
franzöſiſchen Litteratur vorhanden ift, find die Aufzeichnungen der Rujfin Marie
Baſhkirtſeff, deren gejchmeidiges Anpaffungsvermögen fich die jcharfe, wunderbar
feine Analyfierungsmethode des Goncourt zu eigen machte, die aber dad jüngfte Tarifer-
tum nur von der phantaftifchen Slavin reflektiert fchildert, nicht das Seelenleben einer
ftreng mit dem wirklichen Leben rechnenden Franzöſin vor uns erfteben läßt.
Wie fi) die franzöfiiche Frau Zu dem modernen Ideenfond verhält, ob ein
Weib der Zukunft zum Segen oder zum Fluch ihrer-Nation erftehen wird, die Frauen⸗
litteratur läßt dag nicht erkennen. Sollen wir die Urſache dazu in geiltiger Indolenz,
in prüder Zurüdhaltung oder aber in einem Gutheißen des gegenwärtigen Zuftandes
Juchen? Dem erften widerjpricht die alte Kulturüberlegenheit der Franzöfin, ihre
geiflige Bedeutung, die fie zu allen Zeiten beſeſſen. Die Paſſivität der beichränfteren,
in Pfaffenhand befindlihen und allenfall3 prüden Frauen fommt bier, wo e3 fi
um litterarijche Produktion Handelt, nicht in Betracht, und eben dieje il, wenn nicht
frömmelnd und für Badfiiche beftimmt, genau nach männlichem Vorbilde jeder Prüberie
bar. Bliebe alfo nur das völlige Zufriedenfein mit dem übrig, was als beftebenbe
Thatjache gefchildert wird. Offenbarungen über das Weib geben uns in Frankreich
nur die Männer, und ihre Belenntniffe laffen an Mannigfaltigfeit und Deutlichkeit
nichts zu wünſchen übrig. Auf der großen Spiegelfläche jener franzdfiichen Litteratur,
die augenblidlih für die Weltlitteratur in Betracht kommt, erfcheint das Weib trot
taufenderlei Varianten in feinen Grundlinien immer als ein und dasjelbe: als
berrichende Sflavin, ein minderwertiged, aber reizvolles, kluges und deshalb
triumphierendes Geſchöpf.
Die Frau im Spiegel der modernen franzöfiichen Litteratur. 741
Neun Zehntel der franzöfifchen Romane, Novellen und Dramen find Pariſer
Sittenbilder; fie behandeln Dreiedsverhältniffe, aus dem Konflikt zwiſchen Sittengeſetz
und Leidenfchaft hervorgegangen. Das fo finnlich angelegte franzöfifche Volt ſchließt
die Ehe aus taufend Vernunftgründen, nicht aus Liebe. Da nun aber die Frau für
den Franzoſen die flärkfte Anziehungskraft befigt, muß einerſeits das niedere erotifche
Verlangen, andrerfeit® bie wirklich edle Glücksſehnſucht tiefe Konflikte herbeiführen,
und biefe find dem franzöfiichen Schriftfteller die intereffanteften. Die übrige Litteratur,
die fi mit dem Werdegang des Mannes, feiner Stellungnahme zu den Fragen und
Aufgaben feiner Zeit beichäftigt, die ftofflich wertvollere, krankt an der zu weit:
gehenden Bedeutung, die das Weib auch hier in allen Lebensverhältniffen einnimmt.
Man Iefe „education sentimentale“ von Guftave Flaubert, mit nüchterner
Wahrheitsliebe und fouveräner Ironie wird hier geſchildert, was die Frau für einen
Durchſchnittsfranzoſen bedeutet. Sie iſt die „Alümeufe“, die in die Speichen feines
Glucks- und Lebensrades eingreift, daß es ſich vafcher dreht und fchneller verbraucht.
Selbftverftändlich läßt er fich frühe ſchon von ihren Sphinzaugen faszinieren
und fucht ihr Geheimnis zu ergründen. Seine Erfahrungen plaudert er mit Vorliebe
aus: der Naturalift brutal; der Piychologe mit raffiniert erfünftelter oder nüchtern
wiffenfchaftlicher Methode; der Dekadent ftimmungsmalend, äſthetiſierend.
Wenn Zola in feiner Neigung zur Vergrößerung, zur Steigerung der Alltags:
erfcheinungen ins Ungeheuerliche Weibtypen ſchuf, die an die Vifionen eines Felicien
Rops erinnern, fo hat fich feine Auffaffung allmählich von roher Animalität zu einem
Typus verfeinert, der dem altgermanifchen Frauenideal nahe kommt, dem der Eräftig
gefunden, fländig Leben gebenden und Leben erhaltenden Mutter, die noch fo ziemlic)
Inſtinktmenſch ift und nichts andres fein will (vergl. „Paris“, „Fecondite“). Zola ift
der einzige, der dies zwar recht elementare, doch normal geſunde Ideal aufgeftellt hat.
Einen Blick weiter in den Naturalismus, und das pathologifche Gebiet thut ſich auf.
Anormale Fälle werden mit objektiver Wahrheitsliebe gefchildert, „mal Equilibrees“,
detraquees“, „nevrosdes® find es in ungezählten Scharen von ber Marquife bis zur
Dienftmagd (3. B. die „Germinie Lacerteux“ von Goncourt). Bon der Meifter
band Flauberts ſehen wir die unbefriedigte Frau der Provinz gezeichnet: „Madame
Bovary“. Dant einer verberbten oder verftänbnislofen Umgebung erregen folche Frauen
ihr Gefühlsleben, ihre Nerven auf immer ungefundere Weife, und die zunehmende
Willenlofigleit macht fie im Fortgang der ziwingenden Ereigniffe zu ſehr komplizierten,
abgefeimt böfen Geihöpfen, gegen die Satirifer, wie der kraftvolle Dramatiker
Henri Becque nunmehr ihren Haß fchleudern und fie, die Trägerinnen der Sitte
fein foltten, den vollkommenſten moraliſchen Nihilismus ausfprechen laſſen (Becque:
„la Parisienne“). Neben den gefunden und kranken Inſtinktmenſchen tritt beim
Naturalismus ein dritter Typus, der bewußt handelnde weibliche Vampyr auf; mir
finden ihn in feiner roheſten Form bei Zola, ungleich verfeinerter bei Maupaſſant,
der ihn in feinen fpäteren Arbeiten bereits als Piychologe und mit der Sonde bed
Forſchers in der Hand ftubiert.
Es ift die Frau als befländige Dual des Mannes, weil fie, zu überzivilifiert,
zu verfeinert, die Kraft der echten Leidenfchaft verloren Hat und nur noch Senfationen
will, ohne irgend welche veredelnde Verpflichtungen auf fih zu nehmen.
Diefer Typus fcheint dem Heutigen Schriftfteller der weitauß interefjantefte zu
fein. Bon folhen Frauen geht auß, was ewig von neuem reizt und anfpornt, was
Die Frau im Spiegel der mobernen franzöſiſchen Litteratur. 743
Nur Daudet, Paul Bourget in feinen fpäteren Werken und Edouard Nod
fehen kraft ihre warmblütigen Dichtertemperamentes das echt Tragifche in dem Konflikt
zwiſchen Pflicht und Liebe; die Folge davon ift eine lebensvolle Darftelung fittlicher
Fragen.
Bei Rod ſtilles Verbluten und fchließliches DVerfteinern, weil dem Leben fein
Inhalt geraubt wurde („Le silence“, „lesRochers blanches“), äußere und innere Sühne
(„la Sacrfüce“), gewaltfame Löfung durch Selbfimord („Dernier Refuge*). Bon Schuld
und Strafe auch bei Bourget („Terre promise“). Die legteren gehen nicht wie Daubet
zu Werke; fie legen mit Forfcherleidenfchaft die fubtilften Seelenregungen bloß und
ſchildern nur das Weib in feiner höchſten Entfaltung und Verfeinerung. Seine Be—
ziehungen zum Mann werden immer vergeifligter, Tomplizierter, und doch bleibt es
dasfelbe, was fhon Benjamin Conſtant in feinem auf ſcharfer pſychologiſcher
Beobachtung beruhenden Roman „Adolphe”, der traurig bedillufionierenden Geſchichte
einer erfaltenden Leidenſchaft, ſchilderte: Werführerin oder Opfer ded Mannes, von
ihm, durch ihn lebend. Wir fehen es nur als Geliebte, nie als Gefährtin oder
Mutter. In keinem Lande hat die Frau eine größere Rolle gefpielt als in Frankreich,
niemal3 war fie fo fireng wie etwa die deutſche and häusliche, private Leben gebannt;
wenn fie nur wollte, konnte fie ihre Intelligenz, ihren Arbeitötrieb frei bethätigen, und
kaum in einem Lande ift fie, ob auch Gattin und Mutter, fo eriverbsthätig wie hier.
Wie viel Treffliches Hat nicht ſchon die norbifche Frau dank ihrer Bewegungsfreiheit
und ökonomiſchen Unabhängigkeit gewonnen! Der männerfeindlihe Zug, den bie
extremfte Emanzipation mit ſich brachte, ift bereit3 überwunden, und dad Ideal eines
Weibed der Zukunft wird aufgeftellt: „eine ſtark ausgeprägte menfchliche Individualität,
die Solidaritätsgefühl und Geſellſchaftsintereſſe befigt und doch bie volle Offenbarung
des tief Weiblichen if.“ ') Nie tritt uns die franzöfiiche Frau als Menſch und um
ihrer felbft oder, wie in hiftorifchen Momenten, um hoher Ziele und Aufgaben willen
entgegen. Ganz felten fehen wir fie als Mutter und dann nur als überzärtliche
Hüterin, nicht Erzieherin des Kindes, oder als blind verehrte Heilige.
Iſt Ibſen ganz ohne Einfluß geblieben? Wenn wir nach einer Aufführung ber
„Nora“ Bemerkungen wie „das ift ſinnlos“ vernehmen, fo giebt das zu denfen. Eine
franzöfifche Nora würde, wenn fie überhaupt möglich wäre, entiveder a la „Frou-frou“ 2)
mit dem erften beften Mann davongehen, oder aber ihr verlogenes Cheleben aus
Utilitätsgründen weiterführen, Hellmers Heine Schwächen ausfpüren und über ihn
triumphieren, ihre verratene Zärtlichkeit als Affenliebe auf ihre Kinder übertragen —
niemal3 aber würde ihr beifommen, fih nunmehr zum Individuum zu erziehen.
Wir haben keine NoraBelenntniffe oder nur entfernt Ähnliches in der franzöfifchen
Kitteratur. . b
Dennoch Hat der nordiſche Revolutionär an ein paar männlichen Gewiſſen
gerüttelt. Einige junge Schriftfteler bliden tief hinein in die heuchleriſchen
geſellſchaftlichen Zufände und finden, daß es neben Beherrſcherinnen des
Mannes noch viel mehr Frauen giebt, denen daB Courtifanen= Temperament fehlt
und bie die Literatur gefliffentlich überfieht, wie fie das reine junge Mädchen
überfieht. Diefe Frauen, die fi traditionsgemäß in die Vernunftehe mit dem Mann
) Bel. Ellen Key: Das Weib der Zukunft. Eſſays S. 29.
%) Bergl. Meilhacs gleichnamige „Comedie*.
7144 Die Frau im Spiegel der modernen franzöfifchen Litteratur.
„qui veut faire une fin* gezwungen und jelbft um die befcheidenften Glückshoffnungen
betrogen jeben, befigen feeliiche Verfeinerung genug, um edle moralifche Forderungen
aufzuftellen und unter ihrer Nichterfüllung unjäglich zu leiden. Kühn und energiſch
ergreift Paul Hervieu, ein talentvoller Dramatifer, Partei gegen die gefegmäßige,
lieblofe Unterdvrüdung de Weibeg. „Les Tenailles“ und „la loi de I’homme*
behandeln die unglüdlichen Ehen Frankreichs. Seine Heldinnen find feine „feinmes
incomprises*, hyſteriſch oder jenjationsfüchtig, nur in ihrem Innerſten verwundete und
zu trauriger Lieblofigkeit verdammte Frauen, die nach einmaligem, verzweifeltem Auf:
bäumen nur nod) elender werden. Noch furchtbarer ift die Anklage, die Jules Caſe
in feinen Roman: „La Vasalle* der Gefellfchaft mit ihrer heuchleriſchen Doppel:
moral entgegenschleudert. Eine echte Lebensgefährtin will bier die junge, geiftig und
feinfühlig veranlagte Gattin werden, doch ihre guten Vorfäge fcheitern an der egoiftijchen
Noheit des Gatten, der fie nicht verfteht, ſich anderweit zerftreut und fie ſchließlich,
moralifch vernichtet, in die Arme eines ungeliebten Bejchügers treibt.
Hier gewiffermaßen ein Fortſchritt: das fchonungslofe Enthüllen eines Not:
ftanded. Der männliche Autor aber, der den Schrei des gemarterten Weibes nad
geläutertem Cheglüd ertönen läßt, zeigt ung niemals defjen Verlangen nach ſich felbit.
Wo es halb unbewußt emporfeimt, wird e8 bald durch das noch ftärkere Anlehnungs-
bebürfnig erftidt; gejunde, rettende Heilquellen im ebeljten inneren des Weibweſens
jelbft werden nie aufgetban; nach unficherem Klopfen am toten Stein ift Dumpfe
Verzweiflung oder das Anklammern an den erften beiten Strohhalm der gewöhnliche
Ausgang. Während fich die germanijche Frau mutig auf fich jelbft ftellt oder ſchweigend
duldet und dabei noch rettet, tröftet und vergiebt, fehlen der Franzöſin, wie fie und
geichildert wird, die ficheren Grundlinien zu einem Weſen, das fich mit frei erbobener
Stirn, ſtolzem Ichbewußtſein und ſtarkem Pflichtgefühl einer nütlichen Aufgabe Hin:
giebt, der Gejellichaft, dem Mann Achtung abnötigt und fi) jo von äußeren Sklaven:
banden und den noch gefährlicheren inneren Sallitriden befreit.
Soweit die Schriftfteler und die wenigen Schriftftellerinnen, die es ihnen nach—
tbun. Von Seiten der übrigen Frauen fein Proteft, feine maßvolle Kundgebung ihres
Suchen: nad ſich ſelbſt, Fein freies über fich Hinausdeuten nach einem veredelten
Frauentypus, der das Leben als heilige Kulturaufgabe betrachtet und das Arbeiten an
der Erhöhung der eigenen Würde als Grundbedingung zur Erhöhung der Menjcen:
würde anfieht.
Die Taufende von Frauen, die mit fchmweigender Tapferkeit im Joch der Arbeit
gehen und die große Schar der Genießenden find anfcheinend mit ihrem Los zufrieden,
‚Ihre Schwächen werden ja zumeift als Vorzüge angefehen, und die Bedeutung, bie
ihrem Gefchlecht von jeher in dem alten Kulturlande zuerkannt murde, giebt den
Klugen unter ihnen immer neunundneunzig Chancen, über den Mann zu triumpbieren,
unbefümmert darum, ob fie mehr zerjtören als aufbauen.
——6
Re
745
Butter und Kind in der Heimarbeit.
Erich Stobuy.
Nachdruc verboten. — -
Motto: Uns ihres Leibes Frucht und Gegen,
Bon ihrem Arm befhügt vor Rot,
Ihr Kind und ftart und gut zu geben
Das ift der Mutter erft Gebot.
In allen Diskuffionen über die Schädlichfeit der Heimarbeit fpielt bei der Frage
F — Abihaffung oder Reform — das Argument, daß man die „Mutter nicht von
ihrem Kinde trennen dürfe,” ein far unüberwindliches Hindernis. Haben die Bejaher
der Abſchaffung die Schädlichkeit derfelben felbft bis auf dem Tipfelchen über dem 3
bewiefen, es nüßt ihnen nichts; fie müffen, gleich Siſyphus und den fozialdemofratifchen
„Unnaturen“, mit ihrer Arbeit wieder von vorn anfangen; fie müflen von neuem be:
weifen, von neuem überzeugen, um bon neuem auf der Höhe angelangt, wieder in bie
Tiefe zu ftürzen; denn es ift unnatürlich und unmenfchlich, herz⸗ und gewiſſenlos, bie
Mutter von ihrem Kinde zu trennen.
Diejer Werdegang bat fich bisher fo oft wiederholt, daß es endlich einmal an
der Zeit fein dürfte, dieſes Argument auf feinen wirklichen Wert zu unterfuchen und
den Kern auß der Schale zu fhälen. Es dürfte nachzumeifen fein, wie weit wahre
und echte oder falſche Mutterliebe auf der einen Seite, Flunkerei, Böswilligkeit oder
praltiſche Brauchbarleit auf der andern Seite, die Antvendung dieſes Arguments be:
Dingen ober geboten erfcheinen laſſen. Aber auch die Stellung, des Kindes, ala bes
eigentlich Leidenden und die der Gefelfchaft dürfen wir nicht vergeſſen. Wir müflen
uns fragen, toie fich die Geſellſchaft jelbit, auf Grund ihrer anerkannten oder freien
Moralanfhauung zu der Thatfache ftellt, daß ein großer Teil der in der Heimarbeit
erzogenen Kinder, als erwachſene Menfchen, an phyſiſchen ober pſychiſchen Defekten
leiden, fich felbft zum Verdruß, der Gejellichaft zur Scham. Wir werden und fragen
müffen, ob nicht auch eine Mutter, wenn die Intereffen der menſchlichen Gefelfchaft
und ihres Kindes dad geboten ericheinen laffen, den Trennungsichmerz zu tragen hat.
Wer möchte bei einem Krebögefchtvür — und dies ift die Heimarbeit am Gefellichafts:
törper — dem Arzte die Operation verbieten? Iſt es nicht beffer, den Schmerz zu
ertragen, al fiech und mund durchs Leben zu gehen? Diefe Fragen an der Hand
der in der Heimarbeit herrſchenden Verhältnifie kurz zu beantworten, fol der Zived
diefer Zeilen fein.
Stellen wir zunächſt einmal die Verhältniffe, unter denen in der Heimarbeit
gelebt, oder vielmehr vegetiert wird, an einem Beifpiel feſt. ine eheverlaffene Frau
mit zwei Kindern im Alter von zwei und fieben Jahren bewohnt eine Heizbare Stube.
Sie näht Jacketts biligfter Sorte. Das Ausfertigen wird beim Zwiſchenmeiſter bes
forgt. Preis pro Rumpf 0,40—0,55 Marl. Ein Bett, eine Wiege für das Jungſte,
ein altes Spind und Komode, ein Tifh, zwei Stühle, etwas Küchengerät und ein
Dfen mit Kocheinrichtung bilden die Ausftattung. Am einzigen Fenſter fteht die Näh-
maſchine, daran die Frau arbeitet. Die Gardinen haben eine undefinierbare Farbe
angenommen. „Ich kann fie nicht wajchen, ich habe feine Zeit, ich kann nicht einmal
meine Kinder waſchen,“ fagt die Frau, ohne gefragt zu werden. Sie felbft empfindet
nur zu ſehr das Niederbrüdende ihrer Umgebung. Wenn die Saifon vorbei iſt, wird
ja alles fauber gemacht. Die Kinder aber, die Fpmugig und zerriffen auf dem Fuß:
boden fpielen, find den ganzen Tag fich felbft überlaflen. Die Sense nad ihrem
Verdienſt beantwortet die Frau wie folgt: „Ich bin auf die Sachen ſehr eingearbeitet;
6—7 Rümpfe ſchaffe ich den Tag, auch 8 habe ich fchon fertig bekommen; freilich,”
Mutter und Kind in der Heimarbeit. 7147
in die Schule, jo haben fie zwar feine Lernergebniffe dem Lehrer, dafür aber einen
reichen Schag von in ber Nacht gefammelten Erfahrungen ihrer Nachbarſchaft mit:
zuteilen und bilden jo geradezu eine Peſtilenz für die andern Kinder. Und nun ihr
perfönliches Verhältnis zur Schule! Durch fortwährenden häuslichen Unfleiß bleiben
fie dem verftändigen Lehrer ein ftetes, wenn auch bemitleideted Sorgenfind. Aber
nicht alle Unterrichtenden wiſſen den befonderen Verhältniffen folcher Kinder Rechnung
zu tragen. Demütigungen mannigfacher Art bleiben ihnen daher jelten erfpart. Und
doch vergißt gerade ein Kind, das wenigſtens zum Teil für ſich felbft zu forgen
meint, die am ſchwerſten.
Aus diefen Berhältniffen Heraus erklärt fi auch zur Genüge das leidige
Schwänzen der Schule. Diefe Zeit erfegt dann wenigſtens zum Teil ben verlorenen
Nadmittag, den andre Kinder zum Spiel freihaben. Auch wird ja in der Schulzeit,
und das ilt die Hauptfache, fein Geld verdient. „Immer nur arbeiten und nie fpielen
madt aus Hans einen dummen Jungen“, — dies gilt natürlich auch von biefen
Kindern. Die Folgen all diefer Verhältniffe liegen auch Mar auf der Hand und follen hier
kurz regiftriert werden. Die alleinftehende, verwitwete, gefchiedene, oder von ihrem
Mann getrennt lebende Arbeiterin, mit oder ohne Kinder, iſi nicht in der Lage, ſich
regelrecht zu ernähren. Sie alle können von bem, was fie verdienen, nicht leben.
Armenunterftügung, Proftitution oder körperlicher Verfall ift ihr Los. Ich habe nicht
den Mut zu unterfuchen, welche pfuchiichen Gründe es find, die dieſe bedauernäwerten
und meiner vollen Überzeugung nach an ihrem Elend unfchuldigen Menſchenkinder
der Proftitution in die Arme treiben. Unter den gegebenen Umftänden fcheint es
mir mehr als gewagt, von „kühler Berechnung“, „Leichtfinn” und „Benußfucht” zu
reden. für mich, der ich über praftiiche Erfahrung in Nähftuben und Heimarbeits-
betrieben verfüge, ift der Weg zur Proftitution weder der der Berechnung und Genuß⸗
ſucht, noch der des Leichtfinns! Für mich liegt er im ganzen Syftem und nur in
ihm begründet. Und num eine Frage: Iſt eine der Proftitution verfallene Mutter
zur Erziehung ihres Kindes geeignet? Glaubt irgend jemand, daß in der Hausinduftrie
und Heimarbeit erzogene Kinder nicht wiſſen, was die Mutter ihut? Herr Dr. Wilbrandt
ſchreibt im Juniheft diefer Zeitichrift: „Witwen mit Kindern, die der Kinder wegen
zu Haufe arbeiten, richten fich dabei zu Grunde; denn für fi und die Kinder genug
zu verdienen, ben Haushalt und bie Kinder zu beforgen, das überfteigt bei ſolchen
Lohnen jede menschliche Kraft.” Nur bei „ſolchen“ Löhnen? Angenommen, die Löhne
der Heimarbeiter ftiegen bis zur Höhe der Werkſtatt- und Fabrifarbeiter; ift es nicht
au dann noch „unnatürlich”, von der Frau neben einem vollgefchüttelten Maß an
Tagedarbeit, — Lohnarbeit —, die Erhaltung der Wirtfhaft und die Pflege ber
Kinder zu verlangen? Und bie Kinder, um bderentwillen die Mütter bei diefer Arbeit
bleiben, werben mit zu Grunde gerichtet, denn die Mutter, fieberhaft arbeitend, behält
für ihre Pflege und Erziehung feinen freien Augenblid. Verwahrlofung und Schmug
ift trog aller Aufopferung der Erfolg. Verwahrlofung und moralifher Schmug iſt
der Erfolg auch bei den ül rigen Aeinftehenden! Dem brauche ich nichts Binzuzufegen.
Und in — Jammer will man Kinder belaſſen? Was ſoll denn hier aus ihnen
werden? Glaubt man vielleicht, daß dieſe entſetzliche und entnervende Armut, aus
ber es fein Entrinnen giebt, die Willenskraft eines „Garfield“ und „Lincoln“ gebiert?
O nein! Sie gehen daran zu Grunde. Von früheften Kindesbeinen an keine Wartung
und Pflege, kein Geld zu geſunder Nahrung, feine Luft, keine Bewegung, — fo fallen dieſe
Erdenwürmer neben al dem andern Ungemach der englifchen Krankheit anheim, die fie
zwar nicht gleich zum Tode, aber oftmals für ihr ganzes Leben zum Siechtum
verdammt. Ohne Wiffen und Bildung, ohne Liebe und Kraft zur Arbeit, die ihnen
von jeher eine nie verfiegende Duelle der Dual war, ohne Verſtandnis für bie
Zufammenhänge bed Lebens, lieblos und herzensroh treten fie hinaus ins Leben; von
vornherein durch die DVerhältnifie präbeftiniert für Arbeitshäufer und Gefängniffe.
Eine lebendige und gewaltige Anklage gegen alle die, die fie werden ließen, was fie find!
ber al diefem Jammer, all diefem Elend thront unberührt von allem bie
Mutterliebe! Sie heißt alles ertragen, alles erdulden. Was fehadet es auch, wenn
748 Mutter und Kind in der Heimarbeit.
das Kind Frank, ſchwach und verwahrloft ift? Die Mutter Hat e8 nur nod lie:
und iſt um jo weniger bereit, fih von ihm zu trennen. Was fchadet ed, wenn td:
Mutter durch die übermenfchliche Anftrengung zu ihrer und ber Kinder Ernährung ;:
Grunde geht und ftirbt? Sie ftarb ja im Beifein ihrer Kinder! Mögen fie dam
zu fremden Leuten, dann in eine Anftalt fommen, fie trifft feine Schuld; fo lange e:
ihr irgend möglich war, bat fie mit ihnen gelitten, mit ihnen gehungert und bie Aus
Übung ihrer Pflicht mit dem Tode bezahlt. O, es find liebe, herzensgute Leute, die dir
Mutter nicht von ihrem Kinde trennen wollen! Denn daß es einen vernünftiger Dienjchen,
eine vernünftige Mutter giebt, die ihr Kind lieber frank und verwaßrloft Bei fich bebält,
als daß fie es in eine gut geleitete Anftalt giebt, erſcheint mir unmöglich! Und dann
noch eind: giebt nicht die Verſorgung ihres Kindes auch der Mutter mehr Kraft ımd
Nahrung? Kann fie fich nicht leichter dem Ringen ihrer Berufsgenoffinnen nach Ver—
beflerung ihrer wirtjchaftlichen Lage anfchließen? Kann fie dann nicht zur Werkftatt geben
und den Schmuß aus ihrem ohnehin ja Schon jo engen Heime fchaffen? Aber abgejeben von
diejen fragen: wird fie fich auf diefe Weife die Liebe ihres Kindes nicht fiherer erringen
und erhalten fünnen und ihm zur Seite ftehen, wenn e3 des mütterlichen Rates am
bringenditen bedarf, im Lebensernſt? Und andrerfeit3: bleibt ihr benn, während ſie
ich um die notdürftigfte Erhaltung des Lebens müht und quält, auch nur Die gerinuite
Zeit, dem Kinde Liebed zu erweilen? Iſt fie nicht gezwungen, jede ſelbſt erfüllbare
Bitte des Kindes abzumweifen, weil es für fie eine Störung bedeutet? Sit fie nicht
geradezu oft gezwungen, ein barjches Weſen zur Schau zu tragen, da3 ind, das fie
umarmen will, von fich zu weiſen? Mird fie nicht öfter, als e8 gerecht ift, zur
Züchtigung greifen? Wird ihr nicht manchmal der unglüdfelige, aber erflärliche
Gedante kommen, daß es befier wäre, fie hätte nie geboren? Daß die Laft, die fe
zu tragen bat, fie zu erdrüden droht? Und das Kind? Liebt das Kind die Mutter,
weil fie Mutter beißt? O nein! Das Kind liebt den, der ihm Gutes erweiſt, es
beſchenkt und wieder liebt. Es ift anhänglich an die, die es verftehen und auf feine
Wünſche eingehen. Die pietätwolle Achtung und Verehrung der Mutter an ſich fommi
viel jpäter, die Liebe aber will erworben fein. Man muß unter der in folchen Ber:
hältniffen aufgewwachjenen Jugend gelebt Haben, um zu willen, daß fie Die Mutter
jelten ander als jeden andern Menſchen auch bewerten. Was babe ich denn von
meiner Mutter, wenn ic) den ganzen Tag arbeiten muß, — ift das traurige Eco
ihrer Kindesrede. Die foziale Frage ift eine Magenfrage, aber die Kinderliebe ift e3
auch. Wenn die Kinder groß find und nicht leiften, was man von ihnen verlangt,
wen Hagen fie an? Die Eltern, die Mutter. Und wenn die Mutter aus faljcer
Liebe und thörichter Verblendung nicht alles that, was in ihren Kräften ftand, um
förperliche® und geiftige® Siehtum vom Kinde fernzuhalten, — dann mit Redt.
Hierher aber gehört vor allen Dingen auch dad Tragen des Trennungsfchmerzes.
Die menjchliche Gefellichaft hat Fein Intereſſe an geiftig oder körperlich Kranken.
Ihr Streben muß in erfter Linie darauf gerichtet fein, ihre Mitglieder ſtark
und arbeitsfroh in jeder Hinficht zu geftalten. Sie bat in diefem Sinn fein Intereſſe
an Krankenhäufern, Aſylen, Gefängnifjen, Arbeits: und Zuchthäufern. Sie hat in:
folgedeffen auch fein Intereſſe an wirtfchaftlihen Erfcheinungen, die diefen heute
notwendigen Übeln Snjaffen zuführen. Zu diefen twirtichaftlichen Erfcheinungen aber
gehört vor allen Dingen die Heimarbeit! Ihre vollftändige Abſchaffung ift daher
unter allen Umftänden eine ernfte und dringende, eine im Intereſſe der Menfchheit
abjolut gebotene Aufgabe. Über den Weg diefer Abfchaffung, über die Art und
Schnelligkeit kann man geteilter Meinung fein, über die Notwendigkeit an fich wohl
faum. Die Werkjtätten können und follen fo befchaffen fein, daß ein jeder in ihnen
arbeiten kann. Auch die verheirateten Arbeiterfrauen, die am Tage ein paar Stunden
freie Zeit zum Verdienen haben, können in die Werkftatt gehen. Sind fie zu Haus,
von den Kindern umgeben, jo arbeiten fie an einer Arbeit von 56 Stunden ben
ganzen Tag, bis ſpät in den Abend Hinein; in der Werkſtatt aber find fie in 5 Stunden
fertig, gehören ihrem Mann und ihren Kindern wieder. Die Kinder können in bieler
Zeit in Anftalten vielleicht nach „Sröbelfcher” Art gewartet und erzogen werben.
Über Eheverträge. 749
Sie werben in biefen Stunden, die für fie Freude und Erholung bedeuten, die Mutter
nicht vermiffen. Zu Haufe aber wird es rein und fauber fein. Ich gedenke dabei auch
der Mütter mit Kindern im erflen Lebensjahr, die fozufagen nur wahrend ber Zeit,
in ber das Kind fchläft, arbeiten können. Muß es für die wenigſtens geftattet fein,
im Haufe zu arbeiten? Ich beftreite auch dieſes! Die VBefeitigung der Heimarbeit
wird die Löhne ber in Werkitätten Arbeitenden Heben unb fichern. Sept trägt die
Öffentliche Armenpflege einen großen Teil der Unterhaltungsfoften der Heimarbeiterinnen;
diefe Koſten kommen den Unternehmern zu gute. Mit Befeitigung der Heimarbeit hört
das auf. Eine Menge Unterftügungsfräfte werben frei werben, die hier verwandt
werden können, verwandt zum Segen des Kindes und der Mutter. Es ift zuzugeben,
daß das Problem damit noch nicht gelöft if, und viele Zwifchenfragen ihrer Erledigung
harten. Eins aber ift fiher: wo ein Wille ift, da ift ein Weg! Die Erledigung
diefer Frage bat meine® Erachtens von dem Grundſatz auszugehen, ob der mit der
Abſchaffung der Heimarbeit erzielte Nugen größer ift als der Schaden. Ich antworte:
Taufendmal größer; er ift fo groß, daß ber Schaden daneben verfchwindet; ganz
abgejehen davon, daß er ja überhaupt nur für eine Übergangszeit in die Erſcheinung
treten fann. Bisher bat jede große, der Menichheit und Menichlichkeit dienende
Anderung des Beftehenden das Leid einzelner bedingt; man hat fid) davon mit Recht
nicht abichreden laſſen und foll es auch Hier nicht thun.
Zum Schluß noch einmal die Frage: „Darf man Mutter und Kind voneinander
trennen, wenn die Intereſſen der Mutter, des Kindes und der Gefellichaft es er-
fordern?” „IR es graufam und umnatürlich, wenn hierbei feitens des Staates
Zwangsmittel angewandt werden?” "Auf die Gefahr Hin, zu den „Unnaturen“ zu
gehören, beantworte ich die erfte Frage mit — Ja — die andre mit — Nein —.')
BB
Über Shevperträge.
Bon
Helene Vöhnk.
Ragprud verboten. ann nn
uf der Verfammlung bes Bundes Deuticher Frauenvereine zu Dresden im
Dftober v. 3. hat der Dresdener Rechtsſchutz-Verein den Antrag geftellt, „ber
Bund wolle in eine umfaffende Agitation für eine allgemeine Einführung von
Cheverträgen bei Eheſchließungen eintreten“. Es dürfte im Anfchluß an dieſe für bie
Frauenwelt fo überaus wichtige Forderung den Leferinnen und Lefern der „Frau“
von einigem Intereſſe fein, dab im fchleswigsholfteinifchen Adel von alteröher Ehe:
verträge üblich geweſen und geblieben find bis auf den heutigen Tag. Mit der
Drdnung des Graflich Broddorff-Ahlefeldtſchen Familienarchivs beichäftigt, find mir
eine ganze Anzahl folder Dokumente durd die Hände gegangen, bie ben Namen
Ehepalten, Chefliftungen, Eheverträge oder Ehebriefe führen.
Obwohl nach den Landeögefegen, dem gemeinen Sachſenrecht, das auf dem Lande
giltig, die Gütergemeinfchaft ſchon an und für ſich ausgeſchloſſen war, jo wurden
die Eheverträge doch für mötig erachtet, „im Zalle die Eheleute ihr domicilium
mutieren und fih in Gegenden nieberlaffen jollten, wo eine allgemeine ober befondere
Gutergemeinſchaft eingeführt fein möchte”.
1) Bei der Entſchiedenheit, mit der bie Sozialpolitit für bie Heimarbeit der Frauen eintritt, um
der Familie die Mutter zu erhalten, erſchien es mir zur Klärung ber Frage geboten, auch die Er:
fahrungen eines unter diefem Spftem Aufgewachſenen mit heranzuziehen. 98%.
750 Über Eheverträge.
Die Eheverträge, von Mitte des 18. Jahrhunderts an nur auf geitempelt.n
Papier giltig, waren im 15., 16. und zu Anfang des 17. Jahrhunderts Pergamen‘
urkunden mit den angehängten Siegeln des Brautpaares ſowohl, ala min de ſtens zweirt
Eltern, gewöhnlich des Vaters und der Mutter der Braut, in deren Haufe Verlobung
und Cheftiftung vollzogen wurden, oder wie man damals fagte, die Ebeberedun:
stattfand. Im Laufe de 18. Sabrhunderts find die Dokumente meift in fir.
in Octavis Trium Regum, d. 5. in der Woche nad) ben Heiligen drei Rönigen, au®:
geftellt, wenn zur fogenannten Umfchlagszeit der Adel und die wohlſituierte PUrgerliche
Bevölkerung des Landes die hauptjächlichiten Jahresgeſchäfte abzumwideln pflegten.
Die Eingangsformel bleibt fich durch die Jahrhunderte ziemlich gleich und lautet
mit einigen Abänderungen oder Zujägen gemöhnlid: „Im Namen ber bepligen um:
zeribeilten Dreyfaltigkeit, jey Hiermit offenbahr fund und zu willen Sedermännialidsen,
infonderheit denen, jo daran gelegen, daß nach Gottes des Allmäcdtigen ſonderbaren
Schidung un Providence zwilchen dem Hoch: un Wohlgebormen Herrn — (es folat
der Name des Bräutigamd und feiner Eltern mit allen Titeln und Würden) — ın
einem und der Hoch: und MWohlgebornen Jungfer (auch wohl Fräulein) — (es folat
der Name der Braut und ihrer Eltern) — am andern Theile, nad vorher wehlüber:
legtem guten freyen Willen dem großen Gott zu Lob und Ehren vor benannter behyden
Perſohnen Wolfabrt, Heyl und Gedeihen, auch beiderjeit3 Familien noch weiter zu
befeftigender Freundichaft und Verbündniß einer Chriftlichen befländigen unb aummwider:
ruflichen Ebeftiftung nachgelegtermaßen abgeredet, behandelt und geſchloſſen worben:
„Nachdem vorgedadter . . . ſich umb die wollgeborne Sungfer ... . beb dero
Herr Vatter und Frau Mutter gebührlich durch feinen Herrn Batter und Frau Mutter
umwerben laßen, auch Perſöhnlich diefelbe zu feiner Chriftlichen Ehegemahl begebret,
worauff die Jungfer Braut auch Ihres ohrtes Shrer Herkvielgeliebten Eltern willen
und gubtachten fich gebührend untergeben, und in die von Ihrem Liebften gefchebene
anwerbung condescendiret, alß ift Shm . . . von dem Herren Vatter und Frau Butter
Ihre Herbgeliebte Sungfer Tochter... . im nahmen der Allerheyligſten und Hoch—
gebenebeyten Dreyeinigfeit, dahin Chlich zugeſaget und verfprochen, ich einander alle
ebeliche Liebe, Treue und Affection auf ihre Lebenszeit zu beiweilen und dabev un:
abläffig zu beharren, auch ihren Eheſtand dergeftalt zu führen, wie es Chriſt-Adelichen
Chegenoßen geztemet und twollanftehet, wozu der barmherzige Gott, als Stifter des
heiligen Eheftandes, Ihnen Seinen mildreichen Seegen ertheilen und alle Wollfahrt und
Glückſeligkeit gnädiglich verleihen wolle, wie denn diefe abgeredete Ehe durch prieiter:
ie an nach Landesüblicher Sitte oder Chriftlihem Gebrauche vollzogen
werden ſoll.“
Der Zeitpunkt der Hochzeit ift felten angegeben, gemöhnlich ift „demnächſt eheſtens“,
„baldmöglichit” oder „angängig” geſetzt.
Von diefen erbaulichen Betrachtungen und Vorfchriften gebt Punkt 2 direft auf
das Materielle, die Mitgift der Braut über. Sie beftand in der landesühlichen
adligen Ausſtattung an „Kleidern, Kleinodien, Gold und Perlen, wie auch Kiſten und
Kiftenwaren, Betten und Bettgewand, Zinn, Kupfer, Meſſing, Schränfe, Spiegel, Tiſche,
Stühle und was des Hausgerät3 mehr”, und den Brautjchatgeldern, bie Fllen über
10 000 Reichöthaler, nach unferm Gelde etwa 50 000 Mark betrugen. Die Brautſchatz⸗
gelder wurden entweder in der erflen auf die Hochzeit folgenden Octavis Trium
Regum, alias SKieler Umjchlag, 6.—15. Januar, ausgezahlt oder in Obligationen
übertragen, wobei dann ein landesübliches Einlager abgehalten wurde. Das heißt,
einer der nächften Blutsveriwandten der Braut mußte ſich an dem verabredeten Orte
und Tage in Haft begeben, bis die Schuldverjchreibung perfelt und in aller Form
übergeben war.
Gegen dieſe Mitgift verfprach der Bräutigam feiner zukünftigen Gemahlin ein
Leibgedinge, das meilt mit der Summe des Brautfchaßes Torrefpondiert, und wenn et
Beamter war, fo mußte er, jeit Errichtung der General-Witwenfaffe zu Kopenhagen um
die Mitte des 18. Jahrhunderts, fich verpflichten, feiner zukünftigen Gemahlin durch eine,
feinen Einfünften entjprechende Einlage, eine Wittwenpenfion zu fihern. Die Quittunſ
Über Eheverträge 751
wurde der Braut vor ber Vermählung überreicht, Später, d. 5. zu Anfang des 19. Jahr⸗
hunderts, mußte fie dem kopulierenden Prediger vorgezeigt werben, wie die Plöner
Trauregifter nachweiſen.
Außer Leibgedinge und Witwenpenſion war ber ablige Bräutigam noch gehalten,
feiner Braut eine Morgengabe und ein jährliches Nabelgeld „zu ihrer Kleidung und
willfürlihen Dispofition“ zu verfprechen.
War die Braut elternlos und Erbtochter, fo wurbe dem Bräutigam vorgefchrieben,
daß er auf die Verwaltung der Güter, reſp. des Geldes, allen Fleiß zu legen babe
und nichts ohne Genehmigung feiner künftigen Gemahlin befchließen folle.
War die Braut dagegen bei einem der vier adligen Nlöfter (Preetz, Itzehoe,
Ueterjen oder St. Johann vor Schleswig) eingefchrieben, jo hatte fie ihre Erbportion
und Dotem ſchon zum voraus empfangen und der Bräutigam konnte feinen Braut:
ichag erwarten. „Rlofter-Zungfern, wenn fie befreyet werben, können feinen Dotem
fordern, dody wird ihnen der Hauptftuhl gereichet, damit fie bei der Einkleidung be
gabet“, Heißt es in einer landgerichtlichen Entfcheidung vom Jahre 1604. Indeſſen
gab der Vater aus „freundmwilliger Gefinnung gegen feine herzgeliebte Tochter“,
wenn er leidlich bemittelt war, doch meiftens einen Brautichag, was dann natürlich
in dem Berlaffungsbrief von dem neuvermäßlten Paar entſprechend gewürdigt und
hervorgehoben wurde.
Ein meiterer, ſehr wichtiger Punkt der Chepaften ift die Ablöfung der
fogenannten Haubenbandsgerechtigkeit. Nach Iandezüblichem Gebraud und Herkommen
hatte die adlige Witwe dad Recht, nach dem Tode ihred Mannes „Jahr und Tag,
als nemblih ein Jahr, ſechs Wochen und drey Tage in feinem vollen Gute befigen
zu bleiben, und alle Aufflünfften und Habungen deſſelbigen Jahrs darauszuheben“.
„Darzu konnte fie”, nach der revidierten Landgericht3:Crdnung von 1636, „nehmen
alles Haußgerath, jo nicht Regel oder Erdfeft if. Item Wollen un Linnewandt,
alles geihlagen Silber un Gold zum halben Theile fo ihr Mann un Sie in
ftehender Ehe mit einander gezeuget un machen haben laſſen. Imgleichen alle
fahrende Haab, Ochſen, Kühe, Pferde, Schaffe, Schweine, Gänfe, halb, wes übrig
aber vom Haußgerathe, Gold, Silber, Bücher, Kleinodien, Tapezieren un Deden, fo
fie nicht zufammen gezeuget, un dem Mann von feinen Eltern un Freunden an=
geerbet um gegeben, bafjelbige alles foll den Kindern un Erben allein bleiben un
die Frawen barinnen nicht Erben, wie auch imgleichen an den reifigen Pferden,
Harnifh, Wagen un Wahren, Büchſen, Gelhüg, Pulver, Bücher un mas hierzu
geböret, folches folget billih den Erben, wie auch all bahr Geld fo auff Brieff un
Siegel geweſen, damit fol die Wittwe nichts zu Ichaffen haben, das ander gehöret
ihr halb, fo dar befunden, wie aud da der verftorbener Ehemann bahre Gelder
ftehen gehabt un nachgelaſſen, welche nicht auf Siegel un Brieffen geweſt, fondern
von den Zinfen oder der Güter Einkünfften erhoben, ob er diefelbe glei auff Rente
zu belegen vorhabens, aber vor feinem tödtlihen Hintritt nicht hätte aufgethan,
ſeyn diefelben unter der Wittiben un Erben halb un halb zu theilen. Wenn
aber der verftorbener Ehemann fein Guth Hinterliefle, hat die Wittibe an ftatt des
Jahr Hebung von den Gütern deſſelben Jahrs Zinfe von deſſen freyen Geldern zu
genieffen, des Mannes Ketten un Slenodien behalten die Erben, dargegen behält die
Sram alle ihre Guldenen Ketten, Gulden un Silber Gefchmeide un Slenodien, die
Morgengabe, fo der Mann ihr geben, gehöret der Frawen. Darzu nimmt fie ihr
Heyrath Guth, fo fie dem Manne zugebracht mit der Segenvermachung und Zugabe
des Mannes, es fey Geld oder Erbguth, jo ihr zum ibgebing verfchrieben um
vermacht ift. Dedgleichen alle Ketten, Klenodien, Kiften un Kiftenwahr, jo ihr von
ihrem Vater um Freunden gegeben un angeerbet ift, daſſelbige alles gehöret einer
Frawen vom Adel nach ihres Mannes Tode zu ihrer Fräwlichen Gerechiigkeit und
Huvenbande.“
Statt dieſer Gerechtſame aber ſetzte der Bräutigam feiner künftigen Gemahlin
im Ehevertrag eine beftinunte Abfindungsfumme aus, „dagegen Sie fih der Hauben-
banbeägerechtigkeit in Faveur derer aus dieſer Ehe Borhandenen Kinder begiebt“.
752 Über Eheverträge.
Im Falle aber feine Kinder verbanden fein würden, bliben ber Frau :
adligen Witwe fompetierenden jura refervieret. Und ſchließlich behalten jit
ausdrüdlich Die Befugnis vor, „einander durch teftamentmiige Anordnung r.:
zu benefizieren”, wie e3 denn auch wohl vorfam, daß die Ebepaften ganı :
wurden. „Wir zu Endesunterzeichneten Eheleute haben zwar vor el.
unferer Heirath mit einander Cheverträge errihte. Da wir indeſſen
glüdlichften und vergnügteften Ehe mit einander leben und bei Der Ungue::
Dauer des menjchlichen Lebens, nichts ſehnlicher wünſchen, als einander alle
Gute, Toviel nur in unfern Kräften Steht, zuzumwenden, jo bat dieſe Betrac::
beivogen, unter Aufhebung der eingangsermwähnten Ehepalten und WBorausicz
allerhöchften Confirmation ein wechjelfeitiges Teſtament zu errichten“. |
Die Schlußformel der Cheverträge bat wieder eine gewiſſe flereotuv: |
„Dbiges alles feft und treu und unverbrüchlich zu halten, au demfelben in ken: |
und Wege, unter welchem Praetert und Vorwand es auch geſchehen Fönnte, ı |
entgegen zu bandeln, jo verzeihen und begeben der Herr Bräutigam, die x.
Braut und deren beiderjeitige Eltern aller und jeder dawiber zız machenden €: |
und Exeptionen, als der argliftigen Überrebung, daß die Sache nicht recht wert: |
oder jelbige anders beredet und beichloffen, al3 wie fie bier beihrieben, ber Frl.
über die Hälfte, Wiedereinfegung in vorigen Stand, ſammt aller andern Aust.
und Behelffen, nebjt der befannten Regul, daß ein gemeiner Verzicht nicht gelt: :
fein bejonderer vorhergegangen, zu malen dieſen alten, wie felbige bereit erdae.
oder durch Menjchen Wig Fünfftig noch erfonnen werben mögen, Site für Eu
Ihre Erben auf? bündigfte und die Fräulein Braut an Eidesftatt, hierdurch ren.
und, zu Fellhaltung obiger in der Abficht und Krafft eine® unmwiberruflid:
bündigften Contracts bejchriebenen und, nad) vorhergegangener reifen Überlegung, :
bedächtlich und freiwillig gejchloffenen Ehe-Pacten, bei Verpfändung Ihrer geſa—
Haab und Güter und bei Halt: und leitung eines Landesüblichen Einlagers S::
Ihre Erben verbinden. Alles getreulich und fonder Gefährbe Uhrkundlich fin
Ehe⸗Pacten geboppelt, doch eines Innhalts ausgefertiget, unterjchrieben und mi:
angebornen adligen Betfchaften befiegelt.” Es folgt das Datum oder Gegebu |
Ort, Jahreszahl und Monatstag, oder, wie ſchon oben erwähnt, daß viel bi
In Octavis Trium Regum.
Nach vollzogener Ehe und Auszahlung des Brautſchatzes ftellten bie m“ |
Neuvermählten dem Vater der Braut einen Berlaffungs- oder Verzichtbrief ar
dem zunächſt über den Empfang ber Brautfchaßgelder und der Mitgift zu
und dann auf die wäterliche und mütterliche Verlaſſenſchaft Verzicht geleiftet ur
„Wir... urtunden und befennen hiermit für uns, unjere Erbnehmer und fonften
männiglichen, denen diefer Verlaffungs- und Verzichtbrief zu ſehen und zu fein:
fommt, daß wir von unjerm berzgeliebten Herrn, respective Batter und Sam
vatter vermöge der von uns auffgerichteten Cheftiftung die verſprochenen Yraullt“
gelder und was Sonften an Kleinodien, Goldt un Perlen, wie auch Kiften un RN
wahre u. ſ. w. volles Genüge empfangen haben und ihn biemit quit, frey, los und ki
Iprechen, wogegen wir, ebenfalls nach obberührter Eheftiftung einen genughafften t
beftändigen Verzicht thun auf die väterliche um mütterliche Erbſchaft, es fei an 1a
oder fünftigen, liegenden und fahrenden Gütern, aller Nominibus und Actionibis. "
gehen aus auf Zinfen, geldt und gülde, wie das alles Nahmen bat un zukünftig babe
mag, nicht3 außbeichieden u. |. w.“ Be
Mit der Verzicht: oder Verlaſſungsurkunde zugleic) wurde der Leibgedingebr
ausgeſtellt, eine Vollſtreckung des in den Ehepakten gegebenen Verſprechens und nike
Beitimmung über die Leiftungen des Ehemannes und die Ablöfung ber Haubenband⸗
gerechtigkeit.
Auch dieſe Dokumente waren in älterer Zeit auf Pergament, fpäter a
geftempeltem Papier gejchrieben und zählen mit dem Ehevertrage unter bie ih!
Familienurkunden.
753
Die Roggenmuhme.
Eine Stizze
von
C. v. Dornau.
Raderud verboten.
Kısı und dunfel liegt der ſchweigende
Wald da. Die bochjtämmigen Buchen ver—
ſchränken oben ihre Zeige feier undurch⸗
dringlid, und nur vereinzelt, wie Golbtropfen,
riefeln Sonnenftrahlen durch das Dichte
Blatterdach, leuchten auf dem Teppich von
dunfelgrünem Moos, der den Waldboden
bebedt, und malen filberne Reflere auf die
glatten, weißen Stämme. Draußen aber
herrſcht die volle, ungebändigte Mittagsglut.
Eie liegt auf dem Kornfelde, das in gelben
Wogen fi) unüberſehbar ausbehnt. Die
vollen Halme neigen ſich mit leiſem, geheimnis⸗
vollem Raufchen, die bunten Blumen dazwiſchen
glühen frembartig mit fübländifher Farben:
pracht, und der Himmel liegt über der Fläche,
tie eine ungeheure Schale von blauem Kriftall,
die hernieberfchmelzen möchte auf die glühende
Erde — —
Auf dem ſchmalen Pfade, der mitten durch
das Kornfeld führt, gehen ein Mann und
ein Mädchen. In lebhaftem Geſpräch waren
fie neben einander auf dem ſchattigen Wald⸗
wege dahingeſchritten, ſeitdem fie das einfame
Oberförfterhaus tief drinnen im Forſt verließen.
Jetzt geht fie ſchweigend vor ihm her zwiſchen
den engen, golbgelben Wänden, die fie von
der ganzen übrigen Welt zu trennen fcheinen.
Drinnen im Walde war fie Fräftig ausgefchritten,
und er hat im ftilen beivundert, wie ruhig
und gleihmäßig dies Waldkind atmete, trotz
des raſchen Ganges. Nun geht fie unwill⸗
kürlich Tangfamer in der fengenden Hitze — —.
Eie trägt feinen Hut, fondern hat nad Art
der Landleute ein großes, weiße? Tuch um
den Kopf gebunden. Darunter hängen bie
ftarfen, ſchwarzen Zöpfe hervor, und wenn fie
den Kopf zur Seite wendet nad einer Blume
oder einem Vogel, fieht er das feine Profil,
das fih in bräunliher Tönung von dem
weißen Tuche abhebt. Er hat gelernt, jedem
Zuge in dieſem leidenſchaftlich geliebten Antlig
nachzuforſchen, und er fieht jegt, daß fie in
ernfte Gedanfen verfunfen ift und tagt
nicht, fie darin zu ſtören. Auch auf ihm
liegt's wie ein Drud. Sie hat etwas Un—
heimliche, diefe große Stille, dies Ruhen der
Natur in der flirrenden, gleißenden Sonnen:
glut. — Er atmet tief auf und geht rafcher,
um feine Begleiterin wieder einzuholen. Der
ſchmale Pfad verbreitert fih ein wenig, fo
daß er von neuem neben ihr gehen kann.
Eie ift ftehen geblieben und ſieht ſich
lächelnd nah ihm um.
„Welch wunderliches Gefühl mich mand=
mal überkommt, wenn ich jo ſtill in der Mitte
ſommerzeit durchs Korn wandle!“ fagt fie mit
einem leichten Seufzer und fpricht damit genau
das aus, was er eben felbft empfunden hat.
„Solte man nicht denken, irgend etwas
Geheimnisvolles, Gefpenfterhajtesmüßte plötzlich
da vor einem auftauchen? Und tie viele
Leute haben auch ſchon an ſolchem Tage wie
heute die Roggenmuhme gejehen!”
Sie hat ganz ernſthaft gefprochen.
bleibt lächelnd ftehen.
„Die Roggenmuhme? Wer ift denn das?“
fragt er.
„Wiſſen Sie das nicht, Herr Profefjor?”
ruft fie erftaunt. „Und fammeln doch Volts-
märden und alte Sagen? D, dann werde
ih Ihnen diefe bier erzählen! Die müſſen
Eie kennen lernen.”
„Gut!“ erwidert er heiter; „bereichern
5 48
&
754 Die Roggenmuhme.
Sie meine Kenntniſſe! — ich babe ſchon viel
bon Ihnen gelernt,“ feßt er erniter hinzu.
Eie ſetzen jebt nebeneinander ihren Weg
fort, und das Mädchen erzählt mit fanfter,
gebämpfter Stimme das uralte Märchen von
der Noggenmuhnme, dem WMittagsgefpenft:
„Sie erjcheint nicht wie andre, ehrbare
Geipeniter, die willen, was fie ihrem Etanbe
Ihuldig find, um Mitternadt, in alten
Gemäuern, auf dem Kreuzwege oder dem
Kirchhof — nein, nur zur Beit der Kornreife,
an fo dunftig beißen, erftidenden Sommer:
tagen wie diefer, und nur in der Mittagszeit,
wenn die Sonne am höchſten fteht, taucht
bie Roggenmuhme aus dem Ührenfelde auf.
Wenn der ahnungslofe Wanderer durch das
reife Korn geht, fo wie wir bier, fieht er
fie plöglich vor ſich; doch wenn er näher tritt,
verſchwindet fie wieder zwifchen den wogenden
Ühren. Meiftens erfcheint fie in Geftalt
einer alten, bäßlichen Frau, und immer be-
deutet ihr Anblick Unheil für den, ber fie er-
blidt. Sieht fie aber wie ein fchönes, junges
Mädchen aus, fo droht ihm ein Unglüd, das
ihm bis ans tiefite Herz gebt, und er wird
Schmerzen tragen bis zum Tode!”
Die Erzählerin hat mit großem Ernft ge:
ſprochen; jetzt aber fliegt ein fchelmifches
Lächeln um ihren Mund. „Bon uns in ber
Oberförfterei bat fie noch feiner zu ſehen be-
fommen, aber die alte Waldhütersfrau behauptet,
ihr einmal begegnet zu fein; fie hat wie ein
böfes, altes Weib ausgeſehen — mein Bruder
meint, fie bätte gewiß in einen Cpiegel
geichaut, die brave Frau Mohr — und nad:
ber iſt ihre befte Kuh geftorben!”
Der Profeffor lacht mit feiner Gefährtin,
dann fieht er fie jchalfhaft an und fagt mit
fcheinbarem Ernſt: „Fräulein Gerda, wiſſen
Sie wohl, daß ich neulich die Roggenmuhme
gejeben babe?”
Das junge Mädchen fährt zufammen und
fieht ihn ängftlih an. „Treiben Eie feinen
Scherz damit!” warnt fie, „wann follte denn
das geſchehen fein?”
„Bor acht Tagen, grade an dem Tage,
an dem ich zu Ihnen fam! Eie wiflen, daß
Ihr Bruder mir den Wagen zur Bahn gefickt
hatte, für mid) und mein Gepäck. Aber id)
erzählte Ihnen noch nicht, wie mic) unterwegs
eine unbezwinglihe Luft anwandelte, Die
ftaubige, heiße Landſtraße zu verlaſſen, Ihrem
alten Gottlieb meinen Koffer anzupertrauen
und zu Fuß zum Haufe meines alten Freundes
zu pilgern. Der brave Gottlieb ſah zwar auf,
ala ob ihm mein Wunſch unbegreiflih erfchiene;
aber er wies mir boch treulih den Meg, Der
von der Chauſſee abbiegt, über die große
Wieſe und dann durch ein Kornfeld führt,
bis er nach einer Viertelſtunde Ihren ſchönen,
fühlen Wald erreiht — — Unb feben Zie,
Fräulein Gerda, in dieſem Kornfelde ſah ich
dann das Geſpenſt! — Es ſah freilih gar nicht
wie ein ſolches aus!“ unterbridt er fih felbit
auflachenb.
„Eondern?” fragt Gerda angjtvoll.
„Sondern wie ein großes, fchlanfes, ſchönes
Mädchen in einem meißen Kleive! Urplöglich,
lautlo8 tauchte es auf bem fchmalen Pfade
vor mir auf; in der einen Hand trug e3 einen
Strauß von Feldblumen, in der andern hielt
e3 Scheinbar — deutlich Tonnte ich's nicht
erkennen, die ganze Erfcheinung dauerte auch
feine halbe Minute — einen offenen Brief
ober etwas Ähnliches. Sehr profaifh und
zugleich ungewöhnlich für ein Gefpenft, was?
Ich mar unwillfürlih fteben geblieben, um
die liebliche Erjcheinung nicht zu ftören. Du
erzitterte die Luft plöglid) von Glockenllängen,
bie jedenfalls von der Welfinger Dorflirde
herrührten. Die frommen Töne verfcheucten
wohl den weißen Epufegeift; er fubr zufammen
und verſchwand plößlich ſeitwärts, fo ſchnell
und lautlos, mie er aufgetaucht! Als ich eiligft
die Stelle erreicht, wo ich ihn foeben gejeben,
war nicht mehr rings um mich, als die gelbe,
raufchende Einſamkeit!“
Der Mann erzählt lächelnd, Beiter, ſchein⸗
bar gänzlich unbelümmer. Aber fein Bid
haftet dabei forfchend auf dem Schönen, braunen
Antlig an feiner Seite. Er fieht, wie eine
tiefe Nöte es überflutet, fein Herz beginnt
ftärfer zu fchlagen, und unwillkürlich jtodt er.
Sie aber fragt baftig: „Und was geſchah
dann?”
„Dann Fam ich zu meinem alten Freunde,
und er empfing mich mit offenen Armen und
führte mich) in das liebe, gemütliche Haus mit
den vielen Hirſchgeweihen an den Mänden,
den grünen Kachelöfen und den altertämlichen,
— — — — — — —
Die Roggenmuhme.
geichnigten Möbeln — —. Wie wir aber
noch im allerjhönften Fragen und Erzählen
waren, öffnete fih die Thür, und auf der
Schwelle erſchien mein Mittagögefpenft, meine
Roggenmuhme, im weißen Kleide, mit ben
Felbblumen in der Hand, und mein alter
Gerhard ergriff diefe Hand und fagte zu mir:
‚Dies, Oswald, ift meine liebe Heine Schwefter
Gerda, mein Gausmütterhen, mein Sonnen:
fchein!“
„Und dann gab das Gefpenft Ihnen bie
Hand und benahm ſich völlig, wie ein gefittetes
Fräulein aus dem neungehnten Jahrhundert!”
vollendet Gerda lähelnd. Tadelnd fährt fie
fort: „Sie haben mir zuerft einen rechten
Schred eingejagt; das war nicht recht bon
Ihnen!”
„Würden Sie denn um mid bangen,
wenn mir ein Unglüd widerfahren follte?”
fragt der Mann neben ihr mit einem Beben
in der Etimme, dem er vergebens Halt zu
gebieten verfucht.
Sie fieht ihn freimütig an: „Gewiß!“
fagt fie ruhig. Dann blidt fie träumeriſch
grabe aus und rebet leifer: „Ich möchte gern
Sie und alle guten Menſchen glücklich fehen
— fo glüdlich, wie ich's felber heute bin! —
Doch bier find wir am Ziel!” unterbricht fie
ſich felbft und zeigt auf eine Heine Anhöhe,
die ſich vor ihnen aus dem Kornfelde erhebt.
Ein großes Hünengrab iſt's, wie es viele hier
zu Sande giebt. Cine verwitterte, alte Eiche
krönt den Hügel; unter ihrem Schatten winkt
eine grüne Raſenbank. Wie eine Dafe liegt
das fühle, fchattige Plägchen in der gelben,
fonnendurchglühten Fläche, die es umgiebt.
Gerda ift vorausgeeilt, Oswald folgt ihr
langfam. Das Blut Mopft ihm in den
Schläfen, und ſchweratmend drüdt er einen
Augenblid die Hand aufs Herz — tie leichten,
frohen Gemüts ift er vor einer Woche hier
hergefommen, zu dem alten Univerſitäts⸗
freunde, dem herrlichen, großen Menfchen mit
dem reinen Kinderherzen! Aus dem Treiben
der Großſtadt hat er fi) hinausgeflüchtet für
eine kurze Woche in biefe köſtliche Walds
einfamteit, ahnunglos, daß fein Geſchick ihn
bier erwarte. Aus großen, dunklen Rätfele
augen hat es ihn angeſchaut und fein ganzes
Weſen und Sein in unlöglihe Bande gefchlagen.
755
Morgen ruft ihn die Pflicht fort, aber er
tann, er will nicht gehen, ehe er nicht verſucht
bat, den wundervollen Schatz zu heben, den
das einfame Forfthaus für ihn birgt. Dft
ſchon bat fi in den letzten Tagen das
Geftänbnis auf feine Lippen drängen tollen.
Und immer bat er es nicht gewagt. — Wenn
zrifhen all bem heiten, herzlichen Geplauder
plöglich ihr Mund verftummie und bie großen
Augen fo meltenfern, fo ſehnſüchtig blidten,
als fähen fie etwas, das weit, weit von ihnen
fei — dann hatte fein Herz gebebt und feine
Stimme gejittert. Und dann hatte fie ihn
wieder fo ruhig fragend angefehen, und ber
Mare Kinderblid hatte ihn verwirrt gemacht,
ihn, den weltgewandten Mann, den erfahrenen
Menſchenlenner!
Geſtern Abend, als ſie alle drei im
Mondenſchein unter den großen Buchen vor
der Hausthür faßen, die beiden Männer
rauchend und Jugenderinnerungen austaufchend,
mährend bie Hunde bes Oberförſters zu
Gerdas Füßen lagen — wie hatte fie da ernft
und ſchweigſam bagefefien, die Hände gefaltet,
das Köpfchen an des Bruders Schulter gelehnt!
Und ald der Überförfter dem lauſchenden
Freunde erzählte, wie fie feit der Eltern Tode
ihm alles fei: die bravſte, forgfamfte Meine
Hausfrau der Welt, die Freude, das Licht
feines Lebens — da ftanben plöglic große
Thränen in den wundervollen Augen, fie
hatte ſich aufſchluchzend auf des Bruders Hand
gebeugt und fie gefüßt, und dann ar fie
aufgefprungen und ins Haus zurüdgeeilt.
Und heute früh! Wie rofig, wie glücklich
ſah fie aus, als fie die beiden Männer am
Frühftüdtifh begrüßte! Sie huſchte hinaus,
häuslichen Pflichten nachzugehen, und ber
Freund fagte behäbig fhmunzelnd: „Gerda
ift feit deiner Ankunft fo heiter, fo blühend
wie feit Jahren nicht. Sie ließ in letzter
Zeit öfters den Kopf ein wenig hängen; bie
Einfamteit hier war ihr doch wohl manchmal
zu groß. Ich bin auch um ihretwillen froh,
daß du hier bift, mein alter Junge; fchabe,
daß es fo bald fehon ein Ende hat — aber
du Zommft bald mieber, gell?” Damit hatte
ihm der prächtige, harmloſe Waldmenſch einen
träftigen Schlag auf die Schulter verfegt und
war bröhnenden Schrittes hinausgeeilt.
EC
756
Mit Bligesfchnelle gleiten all diefe Er:
innerungen an dem geiftigen Auge ded Mannes
vorbei, während er langjam die mäßige Ans
höhe emporfteigt. Gerda ſteht oben und fieht
ihm freundlich Tächelnd entgegen; fie bat das
weiße Tuch abgenommen und fächelt ſich
Kühlung damit zu. Eine leichte Brife hat fich
aufgemadt und weht das ſchwarze Loden-
gekräufel von ihrer Etirn, unter der die dunklen
Augen wunderſam leuchten. Der Mann, der
jegt an ihre Eeite tritt, weiß, daß die nächſten
Minuten über fein Geſchick entjcheiden werden.
Trotz der unfäglichen Erregung umfaßt fein
Auge mechaniſch alles, was ihn umgiebt —
bis aufs Eleinfte. Noch nad langen Sahren
wird er mit peinlicher Genauigkeit das grüne,
Ichattige Fleckchen Erde vor fich jehen, das hohe,
ſonnendurchglühte Korn ringsum, dort den
langen, dunklen Streifen des Waldes am
Horizont, und weit, meit im Oſten, funfelnd
und fprühend im reinjten Blau, den Silber-
jpiegel des Meeres.
Mit einem Blick hat er das alles in fidh
aufgenommen, da hört er ein leijes Auf-
ſchluchzen neben ſich. „Gerda!“ ruft er tödlich
erfhroden. Sie ift in die Aniee gefunfen, die
gefalteten Hände hat fie aufs Herz gepreßt,
und ihre thränenumflorten Augen haften mit
einem unbefchreiblichen Ausdruck auf dem
leuchtenden Meeresitreifen.
„Ich danke dir! o, ich danke dir!” haucht
fie, die Arme nach der fernen See augftredend.
„Du bringft ihn mir wieder! Du giebit ihn
mir zurüd! du liebes, fchönes Meer — o, ivie
ich dich Tiebe! Und wie ich ihn liebe!” Ihre
Stimm ſenkt fi, heiße Thränen fallen aus
ihren Augen auf den Nafen nieder.
Oswald ift hinter ihr auf die Rafenbanf
getaumelt; ein würgender Schmerz fchnürt ihm
die Kehle zu, kalte Schweißtropfen jtehen auf
feiner Stirn, und feine Hände Trampfen ſich
zujammen.
Er bat fo wonnevoll geträumt, — jäh und
fürchterlich ift dag Erwachen.
Gerda hat fi erhoben und leiſe neben
ihn geſetzt. Schüctern legt fie die warme,
fleine Hand auf feine eisfalte Nechte, und mit
gefenkten Augen bittet fie demütig: „Verzeihen
Sie, daß id) fo maßlos mich gezeigt! Was
müſſen Sie von mir denken? Es Tam. über
Die Noggenmuhme.
mid, ich weiß felbft nicht, wie! O, Bedenten
Eie, was alles ih durdlebte in biefen Iangen,
bangen Sahren! Hier war's, wo er Damals
Abſchied von mir nahm, und beim Abjchien
fagten wir uns, daß mir uns lieben. Am
nächſten Morgen mußte er an Borb feines
Schiffes. Und dann drei Sabre in fernen
Gewäflern, in Sturm und Fieber, n Kampf
und Not! Willen Eie, was das heißt, jem
Liebſtes da draußen zu willen, jahrelang, auf
dem großen, furdtbaren Weltmeer? Als er
damals fortging, dachte ich, ich Fünnte es nicht
ertragen. Wie oft habe ich bier geſtanden,
und zur See binübergefhaut, unb die Hände
gerungen und geflebt: ‚Bringe ibn mir
wieder —.‘”
Ihre Stimme, die zuletzt leidenſchaftlich
erregt geklungen, bricht, und fie lehnt
kindlich vertrauend, wie ſie's beim Bruder ge—
wohnt, den Kopf an ihres Gefährten Schulter
und ſchließt die Augen.
Der Mann neben ihr ſitzt regungslos da,
er beißt ſich die Lippen blutig, um nicht laut
aufzuſchreien, und das Schmerzgefühl, das ibn
erfüllt, raubt ihm faft die Befinnung. Nur
dag eine weiß er ganz klar und wieberbolt
fih’8 immer wieder: Gerda darf nie erfahren,
was fie dir zu Leide getban! Kein Schatten
fol in ihr Glück fallen — —
„Und nun fehrt er zurüd!” fährt Gerda
leife, mit gefchloffenen Augen fort; „in wenigen
Tagen ift er bei mir! Grabe vor einer Woche,
als Sie zu ung kamen“ — bier zudt Oswald
zujammen — „hatte ich feinen Brief erhalten —
von der legten Außenftation; heute kommt
dag Schiff in Kiel an, und dann nimmt er
Urlaub und geht zu meinem Bruder — —“
Der Mann erträgt es nicht länger; er
Ipringt haftig auf und dreht ihr den Rüden;
feine Augen ftarren verzweiflungsvoll ins
Meite. Wäre Gerda nit fo völlig erfüllt
von dem wundervollen Gefühl reden zu dürfen
über das, was ihr ganzes Sein ausmacht, jo
entginge ihr gewiß fein verftörtes Mefen nicht.
Sp aber fragt fie nur, wie aus einem Traum
ertvachend: „Was it Shen?”
„Ich denke an Ihren Bruder!” fagt er,
mühfam die Zähne auseinanderbringenb.
Ein trüber Ausdrud überfliegt ihr Geficht.
„Mein armer Bruder!” fagt fie gedankewoll.
Die Roggenmuhme.
„Jetzt muß er es doch erfahren! Es wird
ihm ſchwer jallen, mich fortzugeben — Und
doch ift die Hauptſache beim Liebbaben, daß
man das Glüd des andern über das eigne
ftelt — — Er wird auch glüdlih fein —
über unfer Glüd! Und Sie, fein liebfter
Freund, find nun mein erfter, mein einziger
Vertrauter!” Ein warmer Schein bricht aus
ihren Augen.
Oswald hat fi) umgewendet und ficht fie
an; fie ift zu jung und zu unerfahren, um
den tiefen Leidenszug zu verſtehen, der plötzlich
in feinem Antlig liegt. Er nimmt ihre Hand
in die feine und fragt liebevol: „Drei Jahre
baben Eie geſchwiegen und alles allein ge—
tragen, Eie tapferes Kind?”
„Sollte ih den .Bruber mit all meinen
Qualen und Ängſten belaften?“ fragt fie
ernfthaft zurüd. „So habe ih ihm die
drei Jahre über feine Sorgen zu maden
brauchen, fondern nur Freude; das war doch
ein wenig Überwindung wert!”
Er fieht in das junge, tapfere Gefiht und
gelobt fi, ihrem Beifpiel zu folgen. Cie
bat ihn gelehrt, was „die Hauptfache beim
Liebhaben“ ift; er will ſich nicht von ihr be—
ſchämen laſſen. Er dent an ben braven,
ehrliden Freund, der num aud ein großes
Liebesopfer bringen muß, und fein Herz wird
weit. Diefe einfachen, graden Waldleute mit
dem treuen, feſten Einn follen nie wiſſen,
was ihn ihre Gaſtfreundſchaft gefoftet hat;
feinen Wermutstropfen will er in ihren
Freudenbecher gießen! Er zicht Gerda neben
fh auf die Bank nieder und zwingt fi,
rubig und gleihmäßig zu ſprechen. Er ſetzt
ibr auseinander, wie fie fih mit dem Bruder
ausfprechen, ihm alles geftehen fol, ehe ihr
Verlobter — wie ſchwer das Mort über feine
Lippen geht! — kommen fann. — „Gehen
Sie jetzt gleich zu Gerhard,” bittet er; „ſagen
Sie ihm alles, bereiten Sie ihn vor und
767
laſſen Sie ihm dieſe Tage über Zeit, fih
Bineinzufinden. Wollen Sie das?“
Sie hat ihn mit großen Augen nachdenklich
angefeben. „Sie haben recht!” fagt fie endlich.
„IH will thun, was Cie mir raten. Dann
wird fi alles zum Guten fügen!”
„Ich aber werde Eie jetzt gleich verlaſſen,“
fährt Oswald fort. „Bei einer folhen Aus—
ſprache ift jeder dritte überflüffig — ftörend.
— Widerſprechen Sie mir nicht!” bittet er,
ala fie Miene macht, ihn zu unterbrechen.
„Ich gehe fofort von hier aus übers Feld
bis zur Waldchauſſee; von ba ift mir ber
Weg zum Bahnhof mwohlbelannt. Sie aber
fagen meinem alten Gerhard, weshalb ich mich
fo ohne Sang und Klang fortftehle. Es ift
nun einmal Gottliebs Schikfal" — er zwingt
ſich zu einem Lächeln — „daß er nur mein
Gepäd, nicht mid; felber kutſchieren darf.
Und nun gehen Sie, Gerda, gehen Eie zu
Ihrem Bruder, und Gott fegne Sie!”
Er hat fih erhoben und ftößt bie legten
Worte haftig hervor. Mit innigem Dantes-
bli reicht Gerda ihm beide Hände und fieht
ahnungslos in fein blafjes Antlig. Ihre
ganze Seele ift erfüllt von dem Gebanten
an bie Unterredung mit ihrem Bruder — —
Nebeneinander gehen fie beide den Abhang
binunter; dann ſcheiden fie. Das Mädchen
seht gebanfenvoll weiter. Da, wo der Weg
eine Biegung madıt, wendet fie fih noch ein
mal um und winkt ihm ftumm zu. Er über:
windet fi, ihr freundlich, ermutigend wieder
zuzuniden. Noch wenige Selunden, und fie
ift verſchwunden. Die goldenen Wogen haben
fie verfhlungen, wie einen Traum, eine Ers
ſcheinung aus andrer Melt. Nichts ift mehr
da, ald das raufchende Kom, bie brennende
Sonne und ber unbarmberzige, blaue
Himmel —
Er aber weiß, daß er „Schmerzen tragen
muß bis zum Tode“.
758
Die Koh: und Hauswirtihafts-Lehrerin.
Nachdrud verboten. u
Es mird über die Ausbildung der Hand:
arbeitö«, Geiverbe- und Fortbildungsſchullehrerin
viel debattiert und geſchrieben, und das hat ben
erfreufichen Erfolg gehabt — nicht, die nad} biefer
Richtung an den Staat geftellten Forderungen er:
füllt zu ſehen, dazu gehört eine längere Zeit
meitgehendfter Erwägungen, — wohl aber einen
größeren Teil ber Standesangehörigen auf ſich
aufmerffam gemacht, ihn aufgerüttelt und ihm die
Einſicht vermittelt zu Haben, baf man zunächft ſich
ſelbſt helfen muſſe, wenn einem geholfen werben
fol. Man beginnt in weiteren Kreifen die alte
Prüfungsordnung von 1885, 1886 und 1867 dem
Geift nach aufzufaffen und auszuführen, und bie
Gewerbe- und Fortbildungsſchullehrerin zweck
entſprechender, einheitlicher und namentlich päba:
gogifcher auszubilden, indem man abgegrenzte und
verlängerte Kurſe einrichtet und bei der Aufnahme
forfättiger auswäßlt.
Von der Koch- und Hauswirtſchafts-Lehrerin
und ihrer Ausbildung ſpricht man inbes entweder
garnicht oder ſtets als von etwas Fertigem, Selbſt.
verſtandlichem, über das nachzudenken nicht von
Nöten ift. Und doch berricht gerade hier eine
unheilvoile Unklarheit einerfeits und Unzufriebenheit
mit den Leiftungen andererfeitd.
Frau Hedwig Hehl, Berlin, gebührt das Ber:
bienft, bie häusliche Arbeit, die lange Zeit als
Afchenbrödel weiblicher Thätigteit galt, wieder zu
Anfehen und Ehren gebracht, fie zu einem aus:
gedehnten Lehrgegenftand erhoben und dadurch
geadelt zu haben. In ihrem „AB C der Küche“
tritt fie bahnbrechend für die Durchgeiftigung auch
der Heinften, aber darum nicht minder wichtigen
Arbeiten des täglichen Lebens ein, zeigt, daß zu
nuß: und fegenbringender Tätigkeit in Küche und
Haus ein gebankenfofes Abgerichtetfein, ein
mechaniſches Ausführen der nötigen Handgriffe und
Verrichtungen nicht mehr genüge, daß vielmehr
allem Thun, felbft dem ſcheinbar unbebeutendften,
Überfegung, Nachdenti
Wirkung voraufgehen
dazu auch umfafiende
anders bie rau im |
gemäß erfüen fo.
Der Lehrgegenftar
fanden ſich die Lehr
Frau Heyl die einfü
richtete im alten Pr
Schullüche und damit
ftätte ein, die fie zu
Caffel, fpäter auch in
Städten nahm man
ftanden eine Anzahl
Geltung verſchafften,
handenen Bedürfnis «
ertannte bie Wichtigk
gemäßer Ausbildung
öffneteim November 181
und Gewerbeſchule fi
nur ein Seminar für 9
fondern auch ein folches
Lehrerinnen. Es war
noiwendiger, als nur
werden konnte, unabh
private und pekuniãr
in den Vordergrund zu
ſachlichen Standpunkt
Es ware verfehlt,
in der Virtuofität in
taffinierter und Loft!
dafür kann man bei au
wenn man ihrer bei
Kochfrauen in Anfprı
punkt liegt vielmehr
novize für die Anford
zu äußerfter Sparfamt
Gewöhnung zu einfich
wobei ber praftifche
vermögen entividelt ı
gefördert werden folk
Kenntniffe und pral
dem erzichlihen Mon
Erwerböthätigfeit.
denn ergiehlich Lchrenlönnen fordert eignes reiches |
Wiſſen und Verſtehen. Die Unterweifung im
Kochen, Baden, Einmaden, verfhiebenfter An:
wendung, Miſchung und Konfervierung der Rahrung:
mittel, prattifcher Verwendung von Reften u. f. m.
muß einen breiten Raum im Lehrplan einnehmen,
und Henntnis und Beurteilung der Rohmaterialien
nad) Beſchaffenheit, Nährwert und Preis muß ge:
geben und davon ausgehend bie Aufftellung, Be:
rechnung und Ausführung von Speifefolgen für die
verfhiedenften Lebende: und Einnafmeverhältniffe
geübt werben.
Um zur felbftänbigen Führung einer Häuslichteit
oder einer Anftalt zu befähigen, dürfen Rechnen
und Bugführung nicht fehlen, und ba bie
Thätigteit der Kochichrerin ſich nicht nur auf das
Hoden fondern auf auf die hauswirtſchaft⸗
lien Arbeiten wie Waſchen, Plätten,
Fliden, Stopfen und ale zur Aufrechterhaltung
ber Crbnung und Reinlichteit des Hauſes gehörenden
Verrichtungen erftredt, find auch dieſe der Aus:
bildung einzufügen.
In die theoretifchen Unterweifungen find Aüchen:
chemie, Ernährungs: und Geſundheitslehre, Schul:
hygiene einzubeziehen und um bei Hleineren oder
größeren Unglüdsfällen fehnelle ſachgemäße Hilfe
leiſten zu fönnen, aud die Abfolvierung eines
Samariterfurfud zu verlangen. Außerdem wird
zur Bildung des Schönpeitäfinne wie zur Übung |
von Auge und Sand, zu praktifcher Ausführung des |
Anrihtens, Trandierens und Garnieren®
auf dad Zeichnen Wert zu legen fein.
In diefer Weife find die Fünftigen Lehrerinnen
mit Wiſſen und Fertigfeiten auszurüften, die fie in |
ausgedehntem oder beicränftem Maße ihren der:
einftigen Schülerinnen weiter geben follen. Aber
felbft dieſes leiſten und andere lehren Lönnen find
zwei grundverſchiedene Dinge, deshalb ift als ı
Hauptſache für jede Lehrthätigkeit die pädagogifche ı
Schulung zu bezeichnen, die bie wichtigften Gebiete
der Pſychologie, der Erzichungs: und namentlich
ber Unterrichtöfchre zu umfaffen Hat Lehtere muß
zunãchſt theoretiſch zum Verſtandnis gebracht und
unter Aufficht einer tüchtigen Seminarlehrerin in
einer Übungöfchule praktiſch geübt werben.
Zur Erreichung des vorgeftedten Zieles bedarf
es felbftverftänblich ſowohl einer längeren Aus
bildungszeit — abgefürpte ober gar nach Wochen
zähfende Ausbildungen Können nur für beftimmte
759
Totale Bebürfniffe im engften Rahmen und dafür
präbeftinierte Perſönlichkeiten in Betracht kommen —
als auch eines Schülerinmenmaterials, das beftinmte
Vorausſehungen erfüßt.
Der Beruf ftellt gleich hohe Anforderungen an
den Körper wie an ben Geiſt; es ift fomit ein
reiferes Alter für die Aufnahme in dieſen Kurfus
zu fordern, als für Kandidatinnen andrer techniſcher
Seminare, deren Ausbildungsziele weder fo weit⸗
greifende noch fo viel Umficht forbernde find. Wie
für jede Lehrtätigkeit kann aud bier nur eine
gebiegene, gründlihe Schul: und Allgemein:
bildung genügen unb bie zu erfprießlicher Aus:
übung bed Erzieherinnenberufes notwendige Geduld
und Ausbauer, praftifh:wirtfgaftliher Sinn, ent:
widelte® äfthetifches Gefühl und Hingebungs:
fähigkeit an den Beruf müffen mit einem gefunden
widerſtandsfahigen Körper verbunden fein. Das ift
nicht fowohl im Interefie der auszubildenden
Lehrerinnen felbft als auch von meittragendfter
Bedeutung für die Frauenbewegung als foldhe,
deren Erfolg mit den Leiftungen ber beruflich
wirkenden Frauen fteht und fält.
Wir fordern viel von ber Rod: und haus:
wirtſchaftlichen Lehrerin — aber micht mehr, ala
bie gebildete Frau in einem Beruf erfüllen kann,
den fie nad Begabung und Neigung gewählt
Hat. Das Bewußtſein, durch bie wirtfchaftlidhe
Erziehung und Bildung bes weiblichen Gefchledhts
mitzuarbeiten an der gefunden Entwicklung voll:
wirtſchaftlicher und fozialer Fragen, bie Frau zu
befähigen, Mittelpunkt des eigenen Hauſes, die
träftig leitende oder helfende Hand in fremder
Familie zu fein, wird ihr volfte Befriedigung
gewähren.
Aber nicht mur der idealen Vorzüge, die diefem
Berufe eignen, ſondern auch der realen Außfichten,
die er bietet, foll hier gedacht werben. Die Befoldung
und Niteröverforgung ber Ko: und Haus:
wirthſchafts· wie auch ber Gewerbeſchullehrerin an
ftaatlichen oder mit Staatdunterftügung geſchaffenen
und geführten ftädtifchen Gewerbe: und Haus:
haltungsſchulen ift der ber feftangeftellten wiflenfchaft:
lichen Lehrerin höherer Schulen mindeftens gleich.
Durch bie wirtfchaftliche Gleichftellung ift auch bie
fogiafe gegeben, und fo wird biefer Beruf den mehr
prattiſch beanlagten gebildeten tüchtigen Frauen eine
nad) jeder Richtung befriedigende und geficherte
2ebenäftellung bieten.
u
780
NRagbrud mit Duelenangabe erlaubt.
* Zur Beifegung Ihrer Majeftät der Kaiferin
Friedrich haben der Bund Deutfcher Frauenvereine,
der Allgemeine deutſche Sehrerinnenverein, ſowie
der Verein deutſcher Lehrerinnen in England Kränze
geſchict. Der Kranz des Bundes beutfcher Frauen:
vereine trägt die Inſchrift: „Ihrer Majeftät, der
Kaiſerin Friedrich, der Hohen Befchügerin bon Frauen:
bildung und Frauenarbeit in dankbarem Gedenken
ehrfurchtsvoll der Bund beutfher Frauenvereine”;
der Kranz des Aug. d. Schrerinnenvereind: „Ihrer
Majeftät der Kaiferin Friedrich, der unvergeßlichen
Hohen Freundin feiner Beftrebungen in bankbarer
Verehrung der Allgemeine deutſche Lehrerinnen:
verein“; der Rrany bed englilden Bereind
deutſcher Lehrerinnen: „I. M. der Kaiferin Friedrich
in Liebe und Dankbarteit ber Verein deutſcher
Lehrerinnen in England“,
* Die Gymnafialkurfe für Frauen zu Berlin
eröffnen im Herbſt einen neuen Kurfus. Aufnahme⸗
Bedingung ift der Nachweis der vollen Bildung
einer Höheren Maädchenſchule. Meldungen find an
den Bertreter der beurlaubten Leiterin, Herrn
Brofeffor Dr. Wychgram, Kgl. Auguftafchule,
Berlin S.W., Kleinbeerenſtraße 16—19, zu richten
(Sprechftunde 12—1).
Einen meuen Jahrgang eröffnet aud das
Städtifhe Mädchengymnaſium in Karlsruhe.
Auskunft über das Gymnaſium wie über das mit
dem Gymnaſium verbundene Internat erteilt
Frl. Dr. Gernet, Karlsruhe i. B., Redtenbacher
ftraße 16.
* Der Gewerkverein der Heimarbeiterinnen
für Stfeider- und Wäſchekonfeltion zählt zur
Zeit in Berlin 629 Mitglieder, darunter 96 aufer:
ordentliche. Auf die Nordgruppe entfallen 325,
auf die Zühgruppe 108, auf die Oftgruppe 100 Mit
glieder. In Bielefeld, Breslau und Stuttgart find
vorbereitende Schritte zur Gründung von Orts:
gruppen gefeheben. Der Gewerkverein, deſſen Vor:
figende die Gräfin Vermftorff ift, hat bereits eine
Begrabnislaſſe errichtet und ermöglicht den Mit:
gliedern den billig
Das Organ des |
erfcheint zunächſt dı
Antrag des Dr.
Arbeiterfchuggefellie
der Heimarbeiterir
DVerliner Vereins n
* Das NRigor
Fakultät zu Berlin
Montgomery cu
tar orientaliſche u
Differtation behant
Hammurabis.“ — |
Beatrice Edgel
dortigen Univerfität
* Der Berline
haberinnen von €
licher Bedienung
Voſſiſchen Zeitung
liche Polizeipraſidi
betreffend bie Au
Volizeiverorbnung
Regierungsrat Dun
mit dem Verein alle
material von Gru
Verein möge die
die ſich in den Lol
tommen ließen, ben
der Aufforderung u
Stellung weder in
ſchaffen. Sollten
dieſer Aufforderung
das Königliche Poli
Vermittlertongeffion
erfannte Regierungt
wenn bie Aufhebu
den Proftituierten d
geftattet, gefordert
der Verein bie br
Unterftühung in
mindeften® eine Um
Frauenleben und «Streben.
von 1892 in Ausſicht ftellen zu bürfen. Es follten
in Zutunft die Animier: und Sihvorſchriften nicht
mehr ſo ſcharf durchgeführt werden und die poligei:
liche Revifion höheren Beamten und nicht mehr,
wie jegt, Schupleuten in Zivil übertragen werden.
Die polizeilicherſeits notwendigen Recherchen würden
fib in Zufunft au auf die Bars und Chanıbres
fepardc® außdehnen.
Ob diefe Bemühungen, fo lange noch den Zu:
ftänden im Kellnerinnengewerbe auf anderm Wege
fo viel Vorſchub geleiftet wird, viel Erfolg haben
werben, bleibt abzuwarten.
” Als erfic etatömäßige Reallehrerin ift
Srl. Dr. Gernet an der Gymnafialabteilung ber
hößeren Mähdenihufe in Karlsruhe angeſtellt
worden.
* Bier Abitnrientinnen entließ das Mädchen:
avmnaſium in Karlsruhe. Mit ihnen beftanden
zwei privatim vorbereitete rauen das Cramen.
Alle ſechs werden Medizin ftudieren.
* Zu Mannheim wird eine Oberrealſchule
für Mädchen mit Genchmigung des großherzoolichen
Oberſchulrats errichtet werden. Die Schule wirb
mit ber höheren Mädchenfhule in der Form ver
bunden werben, daß von ber vierten Klafſe an
Paralleltlaſſen nad dem Lehrplan der Oberreal⸗
ſchule Hinaufgeführt werben follen.
* Für den nadjfolgenden Aufruf Hoffen wir
auf das rege Intereffe unſeres Leferinnenkreifes.
Aufruf!
An die deutſchen Zrauen!
Am 9. Mai 1905 wird ein Jahrhundert ſich
vollenden, feit Friedrich Schiller in voller Schaffens:
traft vahingegangen ift. Wie fein Hundertjähriger
Geburtötag 1859 zum nationalen Fefttag für das
ganze deutſche Volk geworben, fo foll aud fein
bunbertjähriger Todeötag zum denkwürdigen Weihe⸗
tag fich geftalten.
Deutfche Frauen! Dem Dichter, der die höchſten
Ideale fittliher Kraft in feinen Frauengeftalten
verförpert hat, wollen wir frauen ein Denkmal
errichten.
Ein Denkmal nicht aus Marmor und Erz, ein
Liebeswert ift «8, zu dem wir Sie einladen. Geit
am 10. November 1859 von Major Serre durch
die Schiller-Lotterie der große Fonds der Schiller:
Stiftung gefehaffen wurbe, Haben ſich die Anfprüce
an benfelben von Jahrzehnt zu Jahrzehnt gefteigert.
Die ungeheure Enttwidlung ber Preffe hat bei dem
Aufſchwung unferes nationalen Lebens Heerfcharen
761
geiftiger Arbeiter gefordert, und bie Schiller-Stiftung
Tann die Fürforge für die bei aufreibenber geiftiger
Arbeit invalid gewordenen Gchriftfteller und
Schriftftellerinnen und beren Hinterbliebene nicht
mehr allein bewältigen.
Und fo ergeht denn die Bitte an alle deutſchen
Frauen, ſich zu einem großen Berbande zufammen:
zufepließen, beffen Eingelglieder an allen Drten,
wohin unfer Aufruf gelangt, DOrtögruppen bes
Schiller: Berbandes bilden follen.
Der Sciller:Berband beutfcher Frauen widmet
ſich der Aufgabe, bis zum 9. Mai 1905, dem hundert:
jährigen Tobeötage unfere® großen nationalen
Dichters, durch Veranftaltungen, Aufführungen,
Sammlungen, Preisausſchreiben und freitillige
Gaben der Schiller: Stiftung neue Mittel zuzu:
führen.
Friedrich Schillerd Wed: und Mahnruf glauben
wir zu vernehmen, wenn mir Sie auffordern,
denen hilfreiche Hand zu leihen, bie in feinem
Geifte ſich mühen, damit „das Gute wirke, wachſe,
fromme“. Laſſen Sie und feinem Wed: und
Mahnruf folgen, um ben geiftigen Arbeitern im
Sinne unferer Zeit fagen zu können: „Werft bie
AÄngft de3 Irdiſchen von euch!"
Der Zentral: Borftand Leipzig.
Frau Dr. Frida Braſch.
Frau Profeffor Dr. 9. Credner.
Frau Dr. Henriette Goldſchmidt.
Frl. Dr. Agnes Goſche.
frau Dr. von Hafe.
Frau Profeflor Dr. A. Köfter.
Frau Kapellmeifter Profefior A. Nickiſch.
Frau Präfident Dr. von Deplfdläger, Excellenz.
Frau Ober Reichsanwalt Dr. Ol ſShauſen.
Frau Profeſſor Karl Reinecke.
Frau Baurat Dr. Thereſe Roßbach.
Frl. Augufte Shmibt.
Frau Profeffor Dr. Th. Schreiber.
Frau Profeffor Dr. Meta Boltelt.
Frau Rechtsanwalt Dr. Elfe Wildhagen.
Frau Geh. Rat Prof. Dr. Lotte Windſcheid.
Fe. Dr. Käthe Windſcheid.
Frau Geheimrat Profeffor Dr. W. Wundt.
Der Verwaltungsrat der deutſchen Schiller:
Stiftung in Weimar begrüßt freudig dad Unter:
nehmen beutfcher Frauen, ber Scjiller-Stiftung
neue Mittel zuzuführen und begleitet ben Aufruf
an bie beutfcgen Frauen mit ben beften Wünfchen
für reichen Erfolg.
Dr. Freiherr von Gleichen-Rußwurm,
Vorfigender.
Staatöminifter Dr. Rothe, Excellenz,
Borfigender : Stellvertreter.
ur uwzjipiysie ZUpJLENTINNEN, entſandt worden.
* Eine Petition um Zulaffung ber Frauen
zur Bormundihaft haben mehrere öfterreichiiche
Frauenvereine dem Juftizminifterium eingereicht.
Ta die Behörden häufig Schwierigfeiten haben,
URN MI:
Louvre, bie I
verleiht, erbieli
für eine Arbe
vie et ses od
en Suisse.“
geeignete Berfönlichleiten für die Uebernahme der : voller Beitrag
— Vereine.
Die erfte Öffentliche Lefchalle in Verlin, dic
feiner Zeit von der „Deutichen Gefellichaft für
Ethiſche Kultur” errichtet wurde, ift, wie wir aus
dem 6. Sahresbericht entnebmen, in Laufe des
Jahres 1900 von 100 000 Berfonen befucht worden,
d. b. von 5000 mehr ald im vorangegangenen
Jahre, trogdem die Stadt Berlin in demfelben
Jahr vier neue ftädtifche Lefehallen eröffnet hat.
Es beftehen in Berlin nunmehr 8 Öffentliche Leſe—
ballen, 6 ftädtifche und zwei private.
der Lefehalle find ftet3 gefüllt, zumeilen überfüllt;
die Durchſchnittszahl der täglichen Beſucher war
an Wochentagen 283, an Sonntagen 304. ln
gefähr zwei Drittel der Befucher lafen Zeitungen
und Zeitjchriften, ein Drittel Bücher, 35 Prozent
der gelejenen Bücher waren wiſſenſchaftliche Werke.
Aus diefen Zıblen gebt hervor, daß dic Yefchalle
einerfeit3 als eine Stätte der Erholung, der
Sammlung und edler Unterhaltung für viele gedient
hat, denen im eigenen Heim die Gelegenheit dazu
fehlt, außerdem aber den Benutern der willen:
Ichaftlichen Abteilungen und der zahlreichen Fach—
blätter Bildung, Belehrung und Förderung ihres
Erwerbslebens gebracht hat. Eine wichtige Neuerung
ift im Laufe dieſes Jahres eingeführt worden.
Seit dem April bat die Verwaltung begonnen,
auch die teilmeife Benutung von Büchern außer:
halb der Lefehalle zu geftatten, und zwar find
hauptfächlich wiſſenſchaftliche Merke dazıı nemähtt
Die Räume
angeſtellten
—
|
geben werden
anftaltete die V
baltungsabenbe,
mufilalifchen ur
wurde.
Der „Schw
entfaltet, wie d
eine äußerft viel
vermittlung mun
1764 Stellenoff
alle Arten vor
in
Berichtsjahres 1
833 durch ſei
Erkundigungen
746 Antworten
zügliche, teils bef
der Generalverſo
das 10jährige
des Vereins an
Vermittlung die
und dieſelbe jeii
eine Brämie vor
5 Jahren verbdı
235 Fr. für Die
Klinik des Bere
136 Berfonen
mubsalban an.„«“!R.
763
Hunger. Von Clifabeth Dauthendeh. (Scufter ' fih in Taten und Wirtfichteiten umfepen lichen.
und Loeffler. Berlin 1901.)
In einer Art modernen Märhenftild wird und
die Gefchichte zweier Frauenfeelen erzählt, die am
Mangel ded Einen, was not thut — der Liebe —
zu Grunde gehen. Wie in ihrem Buch „Das neue
Weib und feine Liebe” vertritt die Autorin auch
Hier bie Anficht, daß es den Mann nicht giebt, ber
die tmiürbige Ergänzung der feelifh zarteren und
feineren Frau wäre. Daß er für fie nit reif ift
— baß er ihrem Hunger Steine ftatt Brot bietet.
Es ift hier nicht der Ort, auf biefe Behauptung
näher einzugeben. Möge man darüber benfen, wie
man wolle — fidjer ift eins: fügt man ſich be:
rufen zu fämpfen, fo fol man zuvor feine Waffen
prüfen. Blinde Dreinfauen tbut oft mehr Schaben
als Nugen. Ich Habe bie vollfte Sympathie für
jede imputfive Xußerung eines warmen, lebendigen
verzend. Aber wer mit feinen Teibenfgaftlicen
lagen und Anlagen ernft genommen fein toill,
muß fi vor allzuviel Übertreibung, Unwahrſchein⸗
ligpleit und Ungerechtigteit hüten. Daß die Heldin
des vorliegenden Buches auöfgliehli nur von den
alfergemeinften Schmugnaturen umgeben fein foll
— daß bie vier Männer, die einen Pla in ihrem
2eben haben, alle geradezu Außbünde von Robeit
und Riebertradht fein follen —, daß fie feldft in
ſoich fhauberhaften Sumpf zu einem Gefchöpf von
ſoich Leuchtender Reinheit erblüht, das freilich neben
bei eine ungemein ſtark entwwidelte Sinnlichkeit zeigt
— das alles klingt denn doch ein bißchen gar zu
fabelhaft. Die aufbringliche Abficht verftimmt fehr.
Auch würde ein einfadherer, Harerer, nicht fo ganz
und gar an dem arg mißbrauchten Niekiche ver:
bildeter Stil, etwas weniger Schwüle und Schwilftig-
feit und bofteriiche Ayrit dem Büdjlein fehr zu
mwünfchen fein.
Liebe. Bon Mathieu Shwann (Eugen Diederichs
Verlag. Leipzig 1901.)
Dap alle Männer — in der Theorie wenigftend —
nicht ganz fo f&hlimm und Bartherzig find, wie
Elifabeth Dauthendey es uns glauben machen lafjen
till — nicht ganz unfähig aller feinern und kom:
pligierteren Seclenregungen, zeigt das borliegenbe
populär-philofophiige Werk, das in einer Reihe
von Iofe aneinander gefügten pfychologiſchen Stigen
und ziemlich lang ausgejponnenen Betrachtungen
das Weſen der wahren Siebe in jeberfei Geftalt
darthun will. Man ift durchaus einverftanden mit
dem ichönen und guten Grundgedanten bed Ber:
faflerd; ab und zu taucht vielleicht der Gebanfe
auf, wie ſchön es fein müßte, wenn alle die Worte
Das Buch ift übrigens von dem — in dieſer Hinſicht
rühmlichft befannten — Berlag Diederichs äußerft
geihmadvoll ausgeftattet.
Die Halben. Roman von Emil Jeanot Frei:
here von Grotthuß. (Greiner u. Pfeiffer. Stutt:
gart 1901.)
Der Kampf gegen Lüge und Vorurteil — gegen
Feigheit und Blindgeit — gegen alle Haldheit im
Menden und in der menſchlichen Geſellſchaft —
die Thema wird immer intereffteren, weil es nie
erfchöpft wird. Der Kampf wird ja immer ein
unaußgefochtener bleiben. Um fo ernfthafter wenbet
fi} die Spmpathie benen zu, bie biefen enbfofen
Kampf auf irgend eine Weile aufnehmen. Und
diefe ernfthafte Sympathie muß man aud der
ehrlichen und guten Meinung des Verfaſſers ent:
gegenbringen. Im übrigen ift der Roman als
Kunftwert und ald Tendenzroman nicht eben geglüdt.
Die Figur des Gelden bleibt dem Leſer fremd und
unglaubhaft. Cr ift wahr und ehrenhaft und ver:
abfäumt die nädjfte, natüclichfte Prliht — feiner
Braut und deren Vater feine Vergangenheit Har:
zulegen. Cr ift Mug und enorgiſch und glaubt
allen Ernfted mit einem Nomitee, wie ter Ber:
faffer e8 fehildert — mit Karifaturen — feine
hochſtrebenden Pläne für ſoziale und geiftige Reform
verwirklichen zu Fönnen. Das find unlößbare
Widerfprüde. Auch mit dem feltiam taftenden
Ghriftentum des Helden wiffen wir nicht? anzu
fangen. Am beften gezeichnet unter all dieſen
Menichen, bie eniweder ziemlich blutlos oder als
Übertreibungen wirken, ift Klara, die Braut bed
‚Helden, in ihrer Großftabtpflangennatur. G. N.
„Rechtsbücher für dad deutfche Volk’. Her:
ausgegeben von Dr. jur. NarieHafchke. 2. Band.
Die Soungeerziehung nad) der im Anfchluffe an
dad Bürgerliche Geſetzoͤuch erfolgten Neuregelung
burdh bie Sandeögefege. Bon Dr. Franz v. Eiözt,
Brofeffor, und Frieda Duenfing, stud. jur.
(Berlin 1901, Drud unb Berlag von E. Ebering)
Der 2. Band der von Dr. jur. Marie Rafehte
herausgegebenen Rechtöbücher, die als Beilage zu
der von ihr geleiteten „Jeitſchrift für populäre
Rechis lunde · erſcheinen, bietet in ber Arbeit von
Profeſſor dv. Liszi und Frieda Duenfing einen Bei:
trag von außerorbentlicher aktueller Bedeutung.
Die fehr Mare und überfichtliche Anordnung bed
Stoffes macht die Schrift auch für den Laien ver
ftändlich.
meinen. Aber fie können die Verantwortung für
ihr Handeln nicht frei und ftolz auf ſich nehmen,
fie find abhängig von den Menſchen, unter denen
fie leben müſſen, fie müfjen verbergen, verichweigen,
heucheln. Und bad Heucheln hilft ihnen nichte.
Das Alttagsleben ift ſtärker als ſie; Richard
Volkmar hat ſich ſelbſt die Möglichkeit abgeſchnitten,
ſeine beſte Kraft, das, aus dem er fein Recht
zur Überſchreitung toter Geſetzze ableitete, im Leben
zur GGeltung zu bringen. Der Kampi, den er auf:
genommen, gebt über feine Kraft; fein Weib Ticht
es und verläßt ibn, um ibm den Weg in die Ge:
ſellſchaſt zurüd freizumaden. Ihre That wird
zugleich eine innere Erlöfung für in. Zcin Leben
Ichrt ibn, daß er mit dem Anfpruch an größere
perfönliche ‚zreibeit das Recht verwirkte, ein geiftiger
Führer zu fein. Tas ift der Gang und bie
Motivierung der inneren Entwicklung. Das
äußere Tineinandergreifen des Geſchehens ift freilich
nicht immer ganz geglüdt.
„zer Tom zu Königöberg” Ein Tentmal
der geichichtlichen Entmidlung Altpreußend von
v. Froſt, Nönigöberg (Verlag von Bernb. Teichert).
Tie febr verdienftvolle Arbeit unirer einbeimiichen
Echrijtitellerin führt den Yeler an der Dand ber
(Heichichte des alten Tomes in Die intereilante
(GGeſchichte des Preußenlandes cin. Tie Ur—
bevölferung mit ihren heidniichen (Sebräuchen, die
Kroberung des Landes durch den Teutichen Urden,
die Erbauung der Burgen und ZSchlöjier, die
Antiedlung der Nitter auf der Höbe Turwungfte,
dem jegigen Nönigeberg, bildet die Kinleitung, es
Berfaflerin mi:
Tom ein Tea
Chriſtentums,
und nationalen
bald 600 Ja
geftattete Wii
des jehigen C
Borgins einge
Zeile feine?
geit und bie
Herzogs Albre
dad Bud. Hi
itellung verbin
Heinen Schrif
Buch außerorde
ibm an zablrei
Briefe ar
Nlara Billcı
und Yeipzig 1%
Man darf fi
der veritorbene
dieſe Hinterlaſſ
friichen, freien
geben. Tieie
Zpanien werde
ibrer Unmittelb
einer durch ihr
ſeele ſind auch
Jahrzehnte zur
aegenmwärtig. 1
Bud!
“ “
hygienisches.
Fin guter Rat für Magenleidende: Ein
Arzt äußerte kürzlich: Ach traf wiederholt Patienten,
welche ſich die ſchwerſten Magenübel, wie Krebs,
Geſchwür u. ſ. w. u. ſ. w. eingebildet hatten, und
heilte ſie einfach dadurch, daß ich fie zum — Yahn:
arzt ſchickte, ihre zähne in Ordnung bringen ließ
und ihnen dann eine gründliche Mundpilege mittels
werden.
Wir
gegen Magenle
nur, daß Diele
Zähne bervorg:
halb jolgerichti
durh eine ve
Wichtig iſt, dal
und mit einer a
werde. Tie i
Rleine Mitteilungen.
Die Stellenvermittiung des
deutichen Lehre:
rinnenvereing wird mit dem 1. DE
Allgemeinen
tober ihre Zentrale von Yeipzig,
Hoheſtr. 35, nah Berlin W.,
Gulmitr. 5, verlegen.
felben Räumen wird der A:
In ben:
gemeine deutſche Zebrerinnenverein _
jein Bureau einrichten.
age
Ill. Tie Berarbeitung der
Rohnaphtha auf veredeltes
Heilöl. Gortſchungy Uns inter-
eſſiert hier das ſchwere Ol, das als
Träger der durch die Deſtillation
Kleine Mitteilungen. — Anzeigen.
765
Allgemeiner deutscher Prauenverein.
Programm
21. Generalverf ammlung
und bes
damit verbundenen Irauentages
som 29, September bis 2. Oktober 1901
in Eiſenuch.
Ale Sitzungen und Berfammiungen finden im Saale ber
„Erholung‘‘ Ratt und find öffentlic.
Sonntag, den 29. September, abends 8 Ahr:
Vegrüßung der Gäfte und zwangloſes, gefelliges Berfimmenfein.
fonzentrierten ſpezifiſchen Seil: -
wirkung, wie Jäger durd) au®:
gedehnte Berfuche feftitelite, in
feiner andern Rohnaphtha cent:
halten ift.
ferner, daß dieſes Öl, nachdem
nahezu 60 %/, anderer Beltand:
teile ausgeſchieden, die berühmte
ſtark fchmerzftillende Heilkraft in
weit intenfiverer und wirkſamerer
Form entbielt, wie er urfprünglich
erwartet batte. Seine in großem
Maßſtabe bei der eingeborenen
Bevölferung ausgeführten Ber
fuche hatten fo glänzende Erfolge,
daß die Yeidenden bald von weit
und breit zulammenftrömten.
Aber Jäger begnügte ſich damit
nob nicht! Er wollte ein
pharmazeutiſches Produkt ſchaffen,
das allen an ein ſolches zu
ſtellenden Forderungen voll ent
Jäger, konſtatierte
ſprach und das ſelbſt bei offenen
Wunden ohne Bedenken angewendet
werden konnte. Nach langwierigen
Verſuchen, die auf Veredelung
des Dles gerichtet waren, fand er
ein Verfahren, welches das DI
einem gründlichen Reinigung:
prozejle unterwirft. Dieſes Ber:
fahren ift Jägers eigenfte Er-
findung. Eine Befchreibung bee:
felben müſſen wir uns verfagen,
da heute ſchon verschiedene aus
Betroleum: und WVaſelinerück—
ftänden hergeftellte, dem Naftalan
zwar äußerlich ähnliche, ſonſt
aber wertloſe Schmieren als
„Naftalan:Erfaß” in den Handel
gebradht werden. Diefe Nach:
abmungen find billig und fchlecht,
es kann daher vor ihrem Gebrauche
nur dringend gewarnt werben.
We De ı
[I
1.
3.
. Bericht von Arüulein Anna
. Wahl der Kaſſenreviſorinnen.
. Bericht Über bie Berliner Hauspflege.
e Kafieubericht, erftattet duch die Kaffiererin Fräulein
. Bericht der Kaflenreviforinnen und Erteilung ber Decharge durch die Nerfammlung.
. Wahl tes Xoritandes.
2outag, den 30. September, morgens 9'/, Ahr:
. Beridt über die zweijdhrige Wirkſamkeit deö Vereins (Oktober 1599—1901), er:
ftattet durch die Vorfigende: Fräulein Augnfte Schmidt, Veipzig.
. Verichte zweier Urtsgruppen Über ihre Rechtsſchutſtellen:
a) Hamburg, Frau Julie Siabotn.
b) Frankfurt a. M., Fräulein Marie Bfungft
. Referat von Fräulein Lina Helm, Nurnberg: „Über Gründung von Heimftätten
iur Förderung der ——
lum über den „Verein zur Förderung des Frauen⸗
erwerbs durch Obſt- und Warıenbau.”
Dienstag, den 1. Oktober, morgens 9', Ahr:
. Antrag des Vorftantes über Anderung des 1. Abfchnittes von K 2% der Statuten,
An Stelle der jegigen ‚yaflung fou es beißen:
& 2a.
Befreiung der Berufsarbeit der Frau von allen ihrer Entfaltung entgegens
ftedenben Hinderniſſen.
br Belebung des Intereſſes fir hauswirtſchaftliche und gewerbliche, wiifens
fbaftliide und kinftlerifhe Ausbildung des weiblichen Geſchlechtes.
e) Förderung der thätigen Anteilnahme an den kulturellen und fozialen
Arbeiten unfrer zeit.
d) Forderung der Rechte der Frau im privaten und Öffentliben Neben.
. Antrag des Boritandes und der Ortsgruppe Frankfurt a. M.:
„Tie Kaſſenreviſorinnen find In der vorhergehenden (eneralverfammlung
zu wiblen und follen ibr Amt ver der nädften Generalverfammlung
verfehden. Es follen zumeift Leipziger Mitglieder zu diefem Amte
gewählt werden.”
Vortrag von Frau Elsbeth KUrnkenberg: „Anitation in der Frauenbeivegung“.
Mittwoch, den 2. OfXtoder, morgens 9',, Ahr.
(Abteilung des Berliner Frauenvereins)
Johannes Brandftetter.
Verſammlungen des Frauentages:
Montag, den 30. September, abends 7'/, Ahr:
. Begrüßung durch den Herrn Dberbürgermeifter Dr. won Fewſon.
. Xortrag von
. Vortrag von Frau Marie Het, Tilfit: „Die Frau in fommunalen Amtern“.
rau Gelene von Forfter, Nürnberg: „Arauenbeiwegung”.
Dienstag, den 1. Okttober, abends 7'/, Ahr:
. Vortrag von Fräulein Alice Salomon, Berlin: „Ronfumentenmoral und Käufes
rinnenvereine“.
. Vortrag von Fraulein Bertrud Bäumer, Berlin: „Moderne Erziehungsprobleme“.
Mittwoch, den 2. Oftoßer, nachmittags 4'/, Ahr:
— von Fräulein Vertha Pappenheim, Frankfurt a. M.: „Zur Sittlich-
leitsfrage“.
Vortrag von Frau Marie Stritt, Dresden: „Die deutiſchen Vereinsgeſeze und
die rauen“.
Der Borflaud Des Allgemeinen dentſchen Frauenvereins.
Augufte Schmidt. Denriette Goldihmidt. Delene Lange. Jobanna Brandfletter.
Emilienftraße 4, und
‚ Dr. Rätbe Windfcheid. Lonife Pace. Marie Bet. Belene von Sorfter.
Nah der Mitteilung des Ortsausſchuſſes haben Iczplein A. Wünſchmann,
räulein A. Roßhirt, Emilienſtraße 11, gütigft die Ber»
« mittelung von Wohnungen übernommen.
Anzeigen. 7167
» # W. Moeser Buchhandlung, Berlin. + +
Demnächst erscheint:
Handbuch der Hrauenbewegung
herausgegeben von
Helene Lange und Gertrud Bäumer.
Mitarbeiter:
Für Deutschland: Alice Salomon, Marie Stritt, Anna Pappritz, Ottilie Hoffmann,
Dr. Robert Wilbrandt, Lisbeth Wilbrandt.
Für das Ausland: Emilie Benz, Marie Bessmertny, Ersilia Majus Bronzini,
Bice Cammeo, Maria Cederschiold, Auguste Fickert, Kirstine Frederiksen,
J. Gatti de Gamond, Alexandra Gripenberg, Marianne Hainisch, Anna
Hierta-Retzius, Martina Kramers, Gina Krog, Jane Scherzer, Martha
Strinz, Dr. phil. Caroline Michaelis de Vasconcellos, Professor Dr.
Wychgram u. a.
— — 0 — — -—_—
Die G6eschichte der Brauenbewegung in den Kulturländern.
Die Geschichte der Brauenbewegung und der sozialen Prauenthäfigkeit
in Deutschland auf ihren einzelnen Gebieten.
der Stand der Prauenbildung in den Kulturländern.
Die deutsche Frau im Beruf.
Jeder ca. 20—25 Bogen starke Band ist einzeln käuflich.
4 —
Das vorliegende Buch ist auf deutschem Boden der erste Versuch, eine Über-
sicht über das ganze Gebiet der Fragen und Bestrebungen zu geben, die man in
den Namen Frauenfrage und Frauenbewegung zusammenfasst. Es soll angesichts
der grossen Unkenntnis, die in weiten und einflussreichen Kreisen über Ursprung,
Ziele, Umfang und Bedeutung der Frauenbewegung herrscht, Aussenstehenden die
Möglichkeit geben, sich an der Hand einer objektiven, wissenschaftlichen Darstellung
über Geschichte und Stand der Frauenbewegung eingehend zu orientieren. Es soll
allen, die in der Frauenbewegung arbeiten, zu einem gründlichen Studium der ein-
schlägigen Fragen und der in Betracht kommenden Arbeitsgebiete, sowohl in Bezug
auf Deutschland als auf das Ausland, die Hand bieten. Die Herausgeberinnen
hoffen damit einem Bedürfnis entgegenzukommen, das weder die propagandistische
Litteratur, noch die wissenschaftlichen Darstellungen ‘der Frauenbewegung durch
Aussenstehende befriedigen können.
Der Verlag wird die Ausstattung des Werkes in jeder Weise würdig und
gediegen gestalten.
768 Anzeigen.
in der Wärme zu verlieren. Pariser Weltausstellung 1900
Aud bier kam Jäger hi —* Von der Internationalen Jury wurden den
langtierigen und mannigfaden Pi P}
Zerfuchen und Berbefferungen Singer Nähmaschinen
zum Ziele. Scliehlic gelang
, dem Dfe bi
Son hut 8 Frogent einer eigen GRAND PRIX
H e . f höchste Preis der Ausflellung, guerfannt.
„artigen Seifenmaffe bie getwünfchte der
* ur Die Nät ſchi der Su €o. für den familien»
Ronfiftenz zu geben, und bamit | — Mniten [SE CURLU Amedt ner art
war nach einer zehnjährigen, mühe: ' verdanten ihren Beltruf ber mujtergiltinen Ronferuftion,
vollen und zielbewußten Arbeit das vorügliten a und — —V weige
on jeher alle deren Sabritate aussen
Ba Pure .. Fe KRoftenfreier Unterricht in d. modernen Kunftftiderel.
ſich in ber Fabrik eine große Singer @s. Nähmafdinen Act. Geſ. Hamburg.
Anlage zur Herftellung von Zint:
blechdojen und stiften zum Wer-
fande des fertigen Produkte be:
findet, fo glauben wir in Kürze
alles erwähnt und damit den
geneigten Lejer mit ber Geſchichte
und Entftchung des Naftalan,
das ihm ein treuer nie fehlender
Berlin, Kronenstr. II = Lalpzig
States Mädchengymnasium
und Internat, Karlsruhe.
Hausfreund werben foll, genügend Schulgeld S1 Mk. Jährl. Pensionspreis für Internat 600 Mk. Jährl.
befannt gemacht zu haben, um Auskunft: Frl. Dr. Gernet, Karlsruhe i. B., Redtenbacherstr. 16.
ihm Vertrauen zu bemfelben ein:
zuflößen. Gortſehung folgt.)
*
Driginalrezept.. Aal in Ka ser W helms-Spende,
Dillfauce: Kohdauer 30 Mi: | | Allgemeine Bentfge Stiftung für Allers · Renlen · und KapitalYerhärrung,
men. 0 Benfonen. 11 I | | ne eh Tan Cap vr
mittelgroße Aale werben enthäutel, | | je's Mar, Die jr Zeit in Betichiger Anjaht gemagt werben fonnen.
auägenommen, in fingerlange Auskunft erteilt und Prudifaden verfendet
Stüde geſchnitten und in Saly- Die Direktion, Berlin W., Mauerstrasse No. 85.
waſſer mit 1 SBeterfilientourzel,
1 Mohrrübe, I Bündel Bohnen»
traut und Did 15 Minuten 8 goldene Medalllen.
langfam gefocht. Unterbejien
hat man 60 g Butter mit 50 g Wichtig für jede Mutter
Meht gelb gedämpft, giebt "/m 1 ist der
Milchthermoph«
füße Sahne und fo viel Fiſch
wafier dazu, daß es eine runde, zum vielstündigen Warmhalten der —A sine Feuer,
fänige Sauce wird. Man fügt
u fü nach Untersuchungen des Director:
Salz, Pfeffer, 1%, Theelöffel Hamburg, Professor Dr. Dunbar, die in Ye —F
Maggitwürze, den Saft einer Bakterien vollständig ahgeiötet werden, und die Mitch
halben Gitrone und 2 Eßloffel Stets warme Milch zur Hand, in der Nacht, im Kinderwagen u. auf Reisen.
Kingetadien Tg ak u Zu haben in allen besseren Hans- u. Küchengen ‚Geschäften.
(ale in die Tilfauce, läßt fie -
noch einige Minuten darin ziehen, Deutsche Thermophor - Aktiengesellschaft
aber nicht mehr lochen und richtet Berlin 8.W.
fie dann an. Mo. BD. Prospekte gratis und frank:
Bezugsbeöingungen.
„Die £ran“ kaun durd jede Buchhandlung im In- und Anslande oder durch
die Poſt (Boftzeitungslifte Nr. 2586) bezogen werden. Preis pro Quartal 2 TUR,
ferner direkt von der Expedition der „Frau“ (Berlag W. Moeſer Bud-
handlung, Berlin S. 14, Stallihreiberfiraße 34—35). Preis pro Quartal im
Anland 2,30 Mk. nad; dem Husland 2,50 IHR.
Alle für Die Monatsſchrift beſtimmten Sendungen ne Beifil ung
eines Namens an die Redaktion der „Frau, Berlin 8.14, $| —X erfirake
zu adreflieren.
Unverlangt eingefandten Manuſkripten if das nötige Rüdporte
beignlegen, da andernfalls eine Rückſendung nicht erfolgt.
Werantmortig für die Mevatrion: Gelens Lange, Berlin. — Berlag: M Mosfer Bughanblung, Berlin &
ED. Noefer Vugdruderei, Berlin 8.