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Full text of "Die geschichte der neueren philosophie in ihrem zusammenhange mit der allgemeinen kultur und den besonderen wissenschaften"

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DIE  GESCHICHTE 


i 


DER 


NEUEREN  PHILOSOPHIE 

IN  IHEEM  ZUSAMMENHANGE  MIT 

DER  ALLGEMEINEN  KULTUR  UND  DEN  BESONDEREN 

WISSENSCHAFTEN 

DARGESTELLT  VON 

WILHELM  WINDELBAND 

PEOFESSOE  IN  HEIDELBERG 


ZWEITER  BAND 

VON  KANT  BIS  HEGEL  UND  HERBART 

FÜNFTE,  DURCHGESEHENE  AUFLAGE 


LEIPZIG 

DRUCK  UND  VERLAG  VON  BREITKOPF  &  HÄRTEL 

1911 


DIE  BLÜTEZEIT 


DER 


DEUTSCHEN  PHILOSOPHIE 


yON 


WILHELM  WINDELBAND 


FÜNFTE,  DURCHGESEHENE  AUFLAGE 


LEIPZIG 

DRUCK  UND  VERLAG  YON  BREITKOPF  &  HÄRTEL 

1911 


MAY   2  7  1942^ 

Copyright  1911  by  Breitkopf  &  Härtel,  Leipzig. 
Alle  Rechte,  insbesondere  das  der  Übersetzung,  vorbehalten. 


\ 


Aus  dem  Vorwort  zur  ersten  Auflage. 


Der  zweite  Band  dieses  Werkes  enthält  noch  nicht,  wie  ich 
ursprünglich  beabsichtigte,  den  Abschluß.  Der  Grund  da- 
von liegt  in  den  Schwierigkeiten,  welche  der  noch  fehlende  Teil 
des  Gegenstandes  bereitet.  Nachdem  ich  mich  überzeugt  hatte, 
daß  noch  Jahre  vergehen  können,  ehe  ich  meinen  Plan  zu  Ende 
zu  führen  in  der  Lage  sein  werde,  habe  ich  es  jetzt  vorgezogen, 
denjenigen  Teil,  dessen  Quellen  mir  schon  lange  vollständig  zu  Ge- 
bote standen  und  dessen  Darstellung  bereits  abgeschlossen  war, 
gesondert  zu  veröffentlichen.  Ich  glaube  mich  dazu  um  so  mehr 
berechtigt,  als  nun  diese  beiden  Bände  die  Geschichte  der  neueren 
Philosophie  bis  zu  dem  Punkte  umfassen,  bei  welchem  auch  der 
größere  Teil  der  bisherigen  Darstellungen  abschließt  und  über  welchen 
hinaas  nur  skizzenhafte  Umrisse  der  neuesten  Entwicklung  vorhanden 
sind.  Alles,  was  im  eigentlichen  Sinne  »der  Geschichte  angehört«, 
ist  in  diesen  beiden  Bänden  enthalten:  der  dritte  Band  wird  es  mit 
der  historischen  Darstellung  derjenigen  Bewegungen  zu  tun  haben, 
in  denen  wir  noch  gegenwärtig  stehen. 

Weiterhin  fand  ich  eine  Berechtigung  zur  gesonderten  Heraus- 
gabe dieses  Bandes  in  dem  Umstände,  daß  der  Inhalt  desselben, 
die  große  Periode  der  deutschen  Philosophie  von  Kant  bis  Hegel 
und  Herbart,  ein  sich  gewissermaßen  von  selbst  aus  der  geschicht- 
lichen Bewegung  heraushebendes  und  in  sich  abschließendes  Ganzes 


VI 


Vorwort. 


bildet.  Je  mehi'  dem  Bewußtsein  der  Gegenwart  das  Verständnis 
für  die  geistige  Größe  verloren  zu  gehen  droht,  welche  jener  Zeit 
trotz  aller  Irrtümer  und  Mängel  der  einzelnen  Lehren  den  unver- 
gänglichen Wert,  der  Höhepunkt  des  modernen  Denkens  zu  sein, 
aufprägt,  um  so  wertvoller  mußte  für  die  historische  Darstellung 
die  Aufgabe  erscheinen,  den  tiefsten  und  bleibenden  Gehalt  jener 
gewaltigen  Entwicklung  in  seiner  reinen  Gestalt  hervortreten  zu 
lassen. 


Freiburg  i.  B.,  Mai  1880. 


Inliult. 

IL  Teil. 
Die  Kantische  Ptiilosophie. 

Seite 

§  57.     Kants  Leben  und  Schriften 4 

§  58.     Kants  philosophische  Entwicklung 16 

§  59.     Kants  theoretische  Philosophie 51 

§  60.     Kants  praktische  Philosophie 112 

§  61.     Kants  ästhetische  Philosophie 164 

IIL  Teil. 
Die  nachkautisclie  Philosophie. 

L  Kapitel.  Die  systematische  Entwicklung  der  deutschen  Philosophie 

nach  Kant. 

§  62.     Die  ersten  Wirkungen  der  kritischen  Philosophie 190 

§  63.     Der  ethische  Idealismus  (Fichte) 210 

§  64.     Der  physische  Idealismus  (Schelling  und  die  Naturphilosophie)   .  241 

§  65.    Der  ästhetische  Idealismus  (Schiller  und  die  Romantiker)  ....  262 

§  66.     Der  absolute  Idealismus  (Schellings  Identitätssystem)      287 

§  67.     Der  religiöse  Idealismus  (Fichte  und  Schleiermacher) 301 

§  68.     Der  logische  Idealismus  (Hegel) 316 

§  69.     Der  Irrationalismus  (Jacobi,  Schelling,  Schopenhauer,  Feuerbach)  355 

^  70.     Die  kritische  Metaphysik  (Herbart) 394 

§  71.     Der  Psychologismus  ^Frie3  und  Beneke) 416 


B 

193 
.VV5 


§ 

1. 

§ 

2. 

§ 

3. 

§ 

4. 

§ 

6. 

§ 

6. 

§ 

7. 

§ 

8. 

§ 

9. 

I  II  ll  u  I  t. 


Einleitung.  snt. 

Die  innere  Auflösung  der  Scholastik 3 

Die  Kultur  der  Renaissance 8 

Die  Erneuerung  der  antiken  Philosophie 12 

Die  religiöse  Reformation 25 

Die  deutsche  Mystik 27 

Die  neue  Rechtsphilosophie 34 

Die  Anfänge  der  Naturwissenschaft 41 

Das  Zeitalter  der  Entdeckimgen  und  Erfindungen 65 

Die  Gliederung  der  neueren  Philosophie 59 


I.  Teil. 
Die  Yorkantische  Philosophie. 

I.  Kapitel.    Die  italienische  Naturphilosophie. 

§  10.     Bernardino  Telesio 62 

§  11.     Francesco  Patrizzi 65 

§  12.     Giordano  Bruno 68 

§  13.     Tommaso  Campanella 80 

§  14.     Galüeo  GaUlei 88 

II.  Kapitel.    Die  deutsche  Philosophie  im  Reformationszeitalter. 

§15.     Die  Reformation  und  die  Philosophie 95 

§  16.     Die  protestantische  Schulphilosophie  und  ihre  Gegner    ....  98 

§  17.     Die  Mystiker 103 

§  18.     Valentin  Weigel 108 

§  19.     Jakob  Böhme 111 

III.  Kapitel.    Der  englische  Empirismus. 

§  20.     Der  erkenntnistheoretische  Charakter  der  neueren  Philosophie.  126 

§  21.     Francis  Bacon 130 

§  22.     Thomas  Hobbes 148 


Inhalt. 


Seite 
IV.  Kapitel.    Der  Rationalismus  in  Frankreich  und  den  Niederlanden. 

§  23.  Frankreich  nach  der  Reformation 163 

§  24.  Rene  Descartea 166 

§  25.  Die  Cartesianer  und  die  Occasionalisten 194 

§  26.  Baruch  Spinoza 200 

§  27.  Nicole  Malebranche 240 

V.  Kapitel.    Die  englische  Aufklärung. 

§  28.  John  Locke 253 

§  29.  Die  Moralphilosophie 273 

§  30.  Der  Deismus 287 

§  31.  Die  mechanische  Naturphilosophie 299 

§  32.  Die  Assoziationspsychologie 310 

§  33.  Der  Spiritualismus  Berkeleys 318 

§  34.  David  Hume      330 

§  35.  Die  schottische  Philosophie 357 

VI.  Kapitel.    Die  französische  Aufklärung. 

§  36.  Der  Mystizismus 369 

§  37.  Der  Skeptizismus 373 

§  38.  Die  mechanische  Naturphilosophie 382 

§  39.  Voltaires  Philosophie  der  deistischen  Aufklärung 385 

§  40.  Der  Naturahsmus 393 

§  41.  Der  Materialismus 400 

§  42.  Der  Sensualismus 407 

§  43.  Die  Moral-,  Rechts-  und  Gesellschaftsphilosophie 414 

§  44.  Die  Enzyklopädisten 420 

§  45.  Das  Systeme  de  la  nature 428 

§  46.  Jean  Jacques  Rousseau 435 

VII.  Kapitel.    Die  deutsche  Aufklärung. 

§  47.  Deutschland  im  XVII.  Jahrhundert 448 

§  48.  Leibniz 454 

§  49.  Tschirnhaus  und  Thomasius 505 

§  50.  Wolff  und  seine  Schule 514 

§  51.  Der  Deismus 637 

§  52.  Lessing 644 

§  63.  Die  eklektischen  Methodologen 665 

§  64.  Die  empirische  Psychologie 569 

§  65.  Die  Popularphilosophie 582 

§  56.  Hamann  und  Herder 690 


ÜJUMII 


II.  Teil. 
Die   Knntisc^lio   IMiilosopliio. 


Von  mannigfaclien  Ausgai\j];spunkten  her  hat  sich  das  moderne 
Denken  entwickelt;  in  der  ganzen  Breite  des  europäischen 
Kulturlebens  angelegt,  hat  es  alle  Motive  daraus  zu  bewußter  Ge- 
staltung gebracht,  und  wenn  auch  der  gemeinsame  Zug  einer  inner- 
lichen Verselbständiofunff  der  vernünftioen  Erkenntnis  durch  alle 
diese  Bewegungen  hindurchgeht,  so  ergab  sich  doch  von  selbst, 
daß,  den  besonderen  Veranlassungen  und  Beziehungen  entsprechend, 
jede  dieser  Bewegungen  zunächst  sich  selbst  auslebte  und  in  ihrer 
ganzen  Eigentümlichkeit  ausprägte.  Zwar  war  es  dabei  durch  die 
Natur  der  Sache  und  durch  den  Zusammenhang  des  geistigen 
Lebens  geboten,  daß  in  der  vielfältigsten  Weise  diese  verschiedenen 
Richtungen  sich  durcheinanderflochten,  und  daß  hervorragende 
Geister  allerorten  diese  Zusammengehörigkeit  durchscliauten  und 
befestigten.  Aber  es  bedurfte  erst  jener  weitschichtigen  Durch- 
arbeitung und  jener  allmählichen  Ausgleichung  aller  dieser  Ge- 
dankenmassen, welche  sich  im  Jahrhundert  der  Aufklärung  vollzog, 
ehe  ein  Geist  erstehen  konnte,  der  mit  vollständiger  Beherrschung 
die  innerste  Struktur  ihres  Zusammenhan2;es  in  einem  umfassenden 
Systeme  zur  Klarheit  und  zur  Darstellung  brachte.  Dieser  Geist 
ist  Kant,  und  darin  eben  besteht  seine  historische  Stellung,  daß 
sich  in  ihm  alles,  was  an  bewegenden  Prinzipien  das  moderne 
Denken  vorher  erfüllt  hatte,  zu  lebendiger  Einheit  konzentriert, 
und  daß  alle  Fäden  des  modernen  Denkens,  nachdem  sie  durch 
die  schwierige  Verschürzung  seiner  Lehre  hindurchgegangen  sind, 
in  durchaus  veränderter  Form  wieder  daraus  hervorgehen.  Die 
große  Gewalt,  welche  Kant  über  die  philosophische  Bewegung  zu- 
nächst seiner  Zeit  ausgeübt  hat,   liegt  vielleicht  am  meisten  iu 

Windelband,  Gesch.  d.  u.  Philos.    II.  1 


2  Kant. 

der  unvergleichlichen  Weite  seines  geistigen  Horizontes  und  in  der 
Sicherheit,  womit  er  das  Nahe  und  das  Ferne  von  seinem  Stand- 
punkt aus  überall  im  richtigen  Verhältnis  zu  sehen  wußte.  Es  ist 
kein  Problem  der  neueren  Philosophie,  das  er  nicht  behandelt  hätte  — 
keines,  dessen  Lösung  er  nicht,  selbst  wo  er  es  nur  gelegentlich 
streifte,  das  eigenartige  Gepräge  seines  Geistes  aufgedrückt  hätte. 
Aber  diese  Universalität  ist  nur  der  äußere  Umriß  und  noch  nicht 
der  Kern  seiner  Größe ;  dieser  liegt  vielmehr  in  der  bewunderungs- 
würdigen Energie,  mit  der  er  die  Fülle  des  Gedankenstoffes  zur 
einheitlichen  Durchdringung  zu  bringen  und  zu  verarbeiten  ver- 
mochte. Weite  und  Tiefe  sind  in  seinem  Geiste  von  gleich  be- 
wunderungswürdiger Größe,  und  sein  Blick  umspannt  ebenso  den 
ganzen  Umfang  der  menschlichen  Vorstellungswelt,  wie  er  an  jedem 
Punkte  bis  in  das  Innerste  dringt.  In  dieser  Paarung  sonst  selten 
vereinter  Eigenschaften  liegt  der  Reiz,  welchen  die  Persönlichkeit 
und  die  Werke  Kants  immer  ausgeübt  haben,  und  der  ihn  unter 
den  Philosophen  stets  den  ersten  Platz  einnehmen  lassen  wird. 

Darin  zeigt  sich  zugleich  das  eigentümliche  Verhältnis,  worin 
sich  Kant  zum  Zeitalter  der  Aufklärung  befindet.  Insofern  als  alle 
philosophischen  Bestrebungen,  welche  dieses  erfüllen,  in  seiner 
Lehre  irgendwo  ihren  Platz  und  zugleich  ihre  deutlichste  Formu- 
lierung finden,  ist  er  der  größte  Philosoph  der  Aufklärung  selbst 
und  ihr  allseitiger  und  kräftigster  Repräsentant.  Insofern  aber  als 
dabei  jedern  dieser  Gedanken  sein  Verhältnis  zu  den  übrigen  an- 
gewiesen und  so  ein  gänzlich  neuer  Zusammenhang  des  Ganzen 
geschaffen  wird,  erhebt  sich  die  Kantische  Philosophie  über  jede 
Einseitigkeit,  die  der  Aufklärung  in  ihren  einzelnen  Richtungen 
angehaftet  hatte,  und  beginnt  damit  eine  neue,  der  Aufklärung 
teilweise  sich  entgegenstellende  Periode  des  deutschen  und  in  der 
weiteren  Wirkung  des  europäischen  Denkens.  Kants  Lehre  ist  der 
Punkt,  an  welchem  die  Entwicklungslinie  der  Aufklärung  kulminiert 
und  damit  aus  ihrem  Aufstreben  in  die  absteigende  Bahn  zurück- 
fallt; sie  ist  der  Abschluß  der  Aufklärungsbewegung  und  eben  des- 
halb zugleich  die  Vollendung  und  die  Überwindung  der 
Aufklärung.  Sie  hat  diese  Doppelstellung  vor  allem  dadurch, 
daß  sie  von  dem  Recht  der  Vernunft,  die  Welt  mit  ihrer  Einsicht 
zu  durchdringen  und  das  Leben  danach  zu  gestalten,  bis  an  die 
äußerste  Grenze  Gebrauch  macht  und,   indem   sie   sich   darüber 


Verhält nin  zur  AiifklKninj?.  '.\ 

K(M*hoiisrliaft  i^ibt,  rlx'ii  dios«»  Grenze  be^ifflich  be.stiiinnt,  jonneitH 
(Inrii  (li(^  inatioiialen  Momente  den  Lebens  ihr  Reich  haben. 

Eine  so  dominiereiuleStellun«^  auf  der  Höhe  eine«  großen  kultur- 
historischen Prozesses  kaini  dw  IMiilosoph  nur  dadurch  einnehmen, 
daß  es  ihm  jjjegeben  ist,  mit  schöpferischer  Or^^anisation  die  Ide^^n 
der  Zeit  zu  einem  geschh)ssenen  Ganzen  zu  «gestalten,  und  diese 
organisierende  Kraft  ist  nirgends  anders  als  in  einem  groK'en  Prinzip 
zu  suchen,  auf  welches  der  ganze  Reiclitum  des  Zeitinhaltes  be- 
zogen und  von  dem  aus  er  in  ein  neues  Licht  gestellt  wird.  Sucht 
man  dieses  Prinzip  bei  Kant,  so  stößt  man  auf  die  erstaunliclie 
Tatsache,  daß  es  nicht  in  einem  theoretischen  Grundgedanken  zu 
finden  ist.  Solange  man  sich  auf  dem  Felde  der  Ideen  umsieht 
und  in  dem  Reiche  der  begrifflichen  Lehren  bleibt,  trifft  man  das 
Prinzip  der  Kantischen  Philosophie  nicht.  Es  ist  keine  zentrale 
Erkenntnis,  von  der  aus  das  Licht  auf  alle  Teile  der  Kantischen 
Philosophie  gleichmäßig  fiele.  Wer  da  etwa  eine  Kantische  Lehre 
herausheben  und  meinen  wollte,  daß  das  ganze  übrige  System  sich 
aus  ihrer  Entwicklung,  aus  ihrer  Anwendung  auf  die  verschiedenen 
Probleme  mit  logischer  Notwendigkeit  ergeben  habe  (wie  das  so 
oft  bei  anderen  Philosophen  der  Fall  ist),  der  würde  seine  Er- 
wartung getäuscht  finden.  Einen  derartigen  Hauptschlüssel,  um 
alle  Türen  des  weitläufigen  Gebäudes  der  Kantischen  Philosophie 
aufzuschließen,  gibt  es  nicht.  Die  zentralisierende  und  organi- 
sierende Kraft  dieses  Systems  liegt  nicht  in  einem  abstrakten 
Gedanken,  sondern  in  einer  lebendigen  Überzeugung  seines  Ur- 
hebers. Es  ist  der  unerschütterliche  Glaube  an  die  Macht  der 
Vernunft,  welcher  die  gesamte  Kantische  Philosophie  belebt  und 
durchwärmt,  und  dieser  Glaube  ist  nicht  etwa  eine  erkenntnis- 
theoretische Ansicht,  sondern  er  überschreitet  von  vornherein  den 
Kreis  der  theoretischen  Funktion  und  nimmt  seine  Stellung  in 
der  sittlichen  Vernunft  der  menschlichen  Gattung.  Von 
diesem  Mittelpunkt  aus,  welcher  nicht  derjenige  eines  rein  theo- 
retischen Gedankens,  sondern  derjenige  einer  persönlichen  ÜT)er- 
zeugung  war,  muß  man  die  Kantische  Lehre  bis  in  ihre  Einzel- 
heiten betrachten,  um  sie  ganz  zu  verstehen  und  zu  würdigen. 
Und  das  ist  auch  sein  wahres  Verhältnis  zur  Aufklärung.  Er  teilt 
mit  ihr  das  Bestreben,  im  ganzen  Umkreis  der  Dinge,  der 
menschlichen  und  der  außermenschlichen,  allüberall  der  Vernunft 

1* 


4  Kants  Leben  und  Schriften. 

ihr  Recht  zu  wahren  und  ihre  Herrschaft  zu  sichern;  aber  er  über- 
windet ihre  trockene  und  kühle  Verständigkeit,  indem  er  das  tiefste 
Wesen  dieser  Vernunft  statt  in  theoretischen  Sätzen  vielmehr  in 
der  Energie  der  sittlichen  Überzeugung  sucht.  So  zieht  mit  ihm 
in  die  deutsche  Philosophie  die  gefühlswarme  Macht  der  persön- 
lichen Überzeugung  ein.  Und  dieser  Bund  des  klaren  Denkens 
mit  dem  überzeugungsvollen  Wollen  ist  zum  bestimmenden  Charakter 
für  die  von  Kant  zunächst  abhängige  Entwicklung  der  Philosophie 
geworden. 

Den  Mittelpunkt  also  von  Kants  Philosophie  bildet  seine  Per- 
sönlichkeit. Wenn  irgend  einer  unter  den  großen  Denkern,  so  ist 
er  der  lebendige  Beweis  davon,  daß  die  Geschichte  der  Philosophie 
nicht  ein  webstuhlartiges  Abspinnen  abstrakter  ideeller  Notwendig- 
keiten, sondern  ein  Ringen  denkender  Menschen  ist,  und  daß  wir 
in  jedem  bedeutenden  Systeme  die  weltbewegenden  Gedanken- 
mächte in  einer  individuellen  Konzentration  vor  uns  haben.  Unter 
allen  Systemen  der  neueren  Philosophie  ist  keines,  das  diese  so  in 
nuce  darstellte,  das  ein  so  vollkommenes  Bild  des  modernen  Denkens 
gäbe,  wie  das  Kantische;  darum  erfordert  es  eine  selbständigere 
und  ausführlichere  Behandlung  als  alle  anderen.  Wenn  aber  der 
Mittelpunkt  dieses  Systems  in  der  Persönlichkeit  seines  Schöpfers 
liegt,  so  ist  es  in  diesem  Falle  mehr  denn  sonst  erforderlich,  den 
Mann  zu  kennen,  ehe  man  an  die  Betrachtung  seiner  Lehre  geht. 

§  57.     Kants  Leben  und   Schriften. 

Einsamkeit  ist  das  Geschick  der  Größe.  Davon  hat  selten  eines 
großen  Mannes  Leben  so  vollgültiges  Zeugnis  abgelegt,  wie  das- 
jenige Kants.  An  der  äußersten  Peripherie  deutschen  Kulturlebens 
geboren  und  in  dem  engen  Kreise  des  heimatlichen  Daseins  bis  an 
den  Schluß  seines  Lebens  festgehalten,  hat  er  niemals  das  Glück 
kennen  gelernt,  das  in  der  Berührung  ebenbürtiger  Geister  dem 
Genie  entspringt.  Er  hat  nicht  einmal  als  Schüler  zu  den  Füßen 
eines  bedeutenden  Menschen  gesessen,  und  von  den  persönlichen 
Anregungen,  die  er  in  seiner  Entwicklung  erfuhr,  ist  keine,  die 
ihn  in  seiner  wahren  Bedeutung  unmittelbar  gefördert  hätte.  Um 
so  riesenhafter  ragt  er  aus  dieser  Umgebung  heraus ;  was  er  ge- 
worden, verdankt  er  im  wesentlichen  sich  selbst.  Sogar  da,  wo 
der  Einfluß  der  großen  Philosophen,  deren  Werke  er  kennen  lernte, 


Hohulo  und  UnivcrNitllt.  5 

eines  licibniz  und  Hiimo,  In'stiinrrvMul  in  seine  innere  Tiaufhahn 
eingreift,  S()«^ur  du  z(M<4t(lie  Hclbstiindij^'c  Vorhercitimg  H«'in<*M  (JcÜHtes 
für  diesen  Kinfliiß  und  dessen  V(Marl)eitun;^  und  l^ni^^estaltung  bei 
weitem  gWißere  Dimensionen  als  dieser  Kinfbiß  selbst.  Und  yo 
ist  e8  der  frische  Hauch  der  Ursprünglichkeit,  welcher  üIxt  der 
Kantischen  (Gedankenwelt  schwebt.  Aus  seiner  Pjinsanikeit  Reraus 
erzeugt  er  in  origineller  Form  die  (ledanken,  welche  die  Zeit 
bewegen,  von  neuem  und  liefert  den  Beweis,  daß  man  die  Welt 
kennen  kann,  oline  sie  gesehen  zu  haben,  —  wenn  man  sie  in 
sich  trägt. 

Als  der  Sohn  einer  bescheidenen  Handwerkerfamilic,  die  sicli 
aus  schottischer  Abkunft  herleitete,  war  Immanuel  Kant  am  22.  April 
1724  zu  Königsberg  in  Preußen  geboren.  Unter  den  Jugendeinflüssen, 
die  für  sein  gesamtes  Leben  bestimmend  geblieben  sind,  ivSt  der 
seiner  Mutter  hervorzuheben,  die  in  frommer  Gläubigkeit  der 
pietistischen  Richtung  der  Zeit  ergeben  war,  jener  Richtung,  welche 
als  leiser  Ausklang  der  deutschen  Mystik  in  der  Verinnerlichung 
und  sittlichen  Betätigung  des  Glaubens  das  Wesentliche  des  religiösen 
Lebens  suchte.  Ihr  Hauptvertreter  war  damals  in  Königsberg 
der  Professor  F.  A.  Schultz,  und  dessen  persönliche  Bekanntschaft 
mit  der  Familie  vermittelte  es,  daß  der  junge  Kant  in  das  von  ihm 
geleitete  Collegium  Fridericianum  eintrat,  um  die  gelehrte  Laufbahn 
zu  eroreifen.  Es  war  eine  strenge  Schule  der  klassischen  Bilduno: 
und  der  sittlich-religiösen  Erziehung,  die  der  Philosoph  hier  durch- 
zumachen hatte,  und  sie  gab  seinem  Geiste  jenen  reinen  Ernst, 
jene  großartige  Kraft  der  Selbstbeherrschung,  welche  ihm  den 
antiken  Charakter  einfacher  und  edler  Größe  aufprägt.  Frühe 
gelehrt,  das  wahre  Glück  im  Innern  zu  suchen,  hat  Kant  auch 
auf  dem  Gipfel  des  Ruhms  niemals  die  Bescheidenheit  verlernt  und 
niemals  die  Äußerlichkeit  gelernt,  imd  von  Jugend  auf  gewöhnt, 
in  dieser  inneren  Arbeit  die  Wahrheit  gegen  sich  selbst  für  das 
Höchste  zu  achten,  hat  er  sein  ganzes  Leben  in  den  Dienst  der 
Wahrhaftigkeit  gestellt  —  jener  Wahrhaftigkeit  gegen  sieh  selbst 
und  andere,  welche  der  einzige  Weg  ist  zur  Wahrheit. 

Als  er  im  Jahre  1740  die  Universität  seiner  Vaterstadt  bezog, 
um  dem  W^unsche  seiner  Mutter  gemäß  Theologie  zu  studieren, 
fand  er  dort  vielscitiQ;e  imd  lebendige  Anresjunsf.  In  dem  allgemein- 
wissenschaftlichen   Vorstudium   trat   er    zunächst   der  Philosophie 


6  Kants  Leben  und  Schriften. 

nahe.  Sein  Lehrer  Martin  Knutzen  war  einer  der  besseren 
Vertreter  der  Wolffschen  Schulphilosophie  und  erfreute  sich 
auch  über  Königsberg  hinaus  einer  angesehenen  Stellung  inner- 
halb der  Schule.  In  dieser  war  nämlich  —  ein  Sturm  in  einem  Glase 
Wasser  —  ein  sehr  lebhaft  geführter  Streit  über  den  Begriff  der 
prästabi Herten  Harmonie  entstanden,  an  welchem  Wolff  nicht  im- 
stande gewesen  war,  dem  kühnen  Gedankenfluge  seines  Meisters 
Leibniz  zu  folgen.  Aus  den  Schriften,  mit  denen  Knutzen  diese 
Frage  gewissermaßen  zum  Abschluß  brachte,  läßt  sich  ersehen, 
daß  er,  nicht  ohne  Selbständigkeit  des  Denkens  und  mit  vöUiger 
Beherrschung  des  Leibniz -Wolffschen  Gedankenmaterials,  wohl- 
geeignet gewesen  sein  muß,  den  jungen  Kant  in  den  Zustand  der 
damaligen  Schulphilosophie  einzuführen,  und  dabei  war  es  von 
besonderem  Werte,  daß  er,  obwohl  er  in  jener  Streitfrage  sich 
wesentlich  auf  Wolffs  Seite  stellte,  doch  im  ganzen  nicht  bei 
diesem  stehen  blieb,  sondern  offenbar  auch  seine  Schüler  darauf 
hingewiesen  hat,  bei  Leibniz  selbst  die  Quelle  der  philosophischen 
Erkenntnis  zu  suchen.  ■  Neben  den  philosophischen  waren  für 
Kant  hauptsächlich  die  naturwissenschaftlichen  Studien  wichtig, 
die  ihn  schon  damals  sehr  lebhaft  in  Anspruch  nahmen,  und 
denen  er  einen  so  großen  Teil  seiner  späteren  Bedeutung  ver- 
danken sollte.  In  dieser  Hinsicht  war  es  eine  sehr  glückliche 
Fügung,  daß  er  sich  früh  von  dem  Professor  der  Physik,  Teske, 
in  die  Newton  sehe  Weltauffassung  eingeführt  sah.  So  kam  in 
Kant  ein  wichtiger  Antagonismus  zustande,  der  sich  lange  durch 
sein  Denken  hindurchgezogen  hat.  Die  beiden  großen  Männer, 
welche  bei  Lebzeiten  in  so  leidenschaftlichem  Kriege  gelebt  hatten, 
setzten  diesen  Kampf  in  dem  Geiste  des  größeren  Schülers  fort, 
und  die  philosophische  Entwicklung  Kants  zeigt  sich  in  ihrer 
ersten  Phase  durch  den  Gegensatz  Leibnizischer  Metaphysik  und 
Newtonscher  Naturphilosophie  bedingt.  Um  so  fester  aber  gestaltete 
sich  in  ihm  die  Überzeugung,  welche  beiden  gemeinsam  war,  und 
welche  zugleich  der  Richtung  seines  Fachstudiums  entsprach.  In 
sehr  verschiedener  Form  hatten  Leibniz  und  Newton  die  Aner- 
kennung des  kausalen  Mechanismus  des  Weltgeschehens  einer 
teleologischen  Grundüberzeugung  eingefügt  und  durch  das  Mittel- 
glied des  physiko- theologischen  Beweises  für  das  Dasein  Gottes 
die  Versöhnung  zwischen  der  Philosophie  und  der  religiösen  Über- 


AUgoineino  Naturpfoschic^lito.  7 

zcunun«;  «^osiiclit.  Das  war  dci-  riiiikt,  an  dem  sich  hei  Kant  zii- 
närhst  allcKinllüssc  seiner  .)u<^i'n(l('rzieliun,n  und  Heijic.sukadtMiiischeii 
Studiums  krenzlen,  und  dn-  desludl)  fiir  ilm  zum  Kernjjunkte  seiner 
persönlichen    Überzeugung;  wurtle. 

(Jc»i;cn  diese  philosophische  und  naturwisscmschaftliche  Vernutt- 
lum;  trat  offenbar  im  Jjaufe  der  Zeit  die  doi^matisch-thcologTsche 
Ausprägung  des  religiösen  Glaubens  fiir  das  Interesse  Kants  mehr 
und  melir  zurück.  Äußere  Verhältnisse  mögen  hinzugetreten 
sein,  —  er  verzichtete  auf  die  theologische  Laufbahn  und  verließ 
ITK)  die  Universität  mit  der  festen  Absicht,  sich  dem  akademischen 
Lehramte  zu  widmen  und  zur  pekuniären  Vorbereitung  dafür  sich 
den  Lasten  des  Hauslehrertums  zu  unterziehen.  Neun  Jahre  lang 
hat  er  diese  Pflichten  mit  treuer  Hingabe,  aber,  wie  er  selbst 
sagt,  mit  geringem  pädagogischen  Erfolg  erfüllt,  zuletzt  in  der 
Familie  des  Grafen  Keyserlingk,  die  seine  geistige  Bedeutmig  und 
seine  persönliche  Liebenswürdigkeit  zu  schätzen  wußte  und  auch 
später  mit  ihm  in  den  freundschaftlichsten  Beziehungen  geblieben 
ist.  Rastlos  hat  er  diese  Zeit  zur  Erweiterung  seiner  eigenen 
Studien  benutzt  und  besonders  auf  dem  naturwissenschaftlichen 
Gebiete  sich  vollständig  auf  die  Höhe  der  Zeit  gestellt.  Es  schien 
im  Anfange  fast,  als  wollte  Kants  Geist  völlig  in  die  Natur- 
forschuno-  aufgehen.  Vor  dem  Antritt  seiner  ersten  Hauslehrer- 
stelle  schrieb  er  sein  erstes  Werk  »Gedanken  von  der  wahren 
Schätzung;  der  lebendiofen  Kräfte«,  welches  in  einer  zwischen  den 
Anhängern  von  Descartes  und  denjenigen  von  Leibniz  vielfach 
verhandelten  Streitfrage  der  mathematischen  Naturphilosophie 
mit  Sicherheit  und  Bescheidenheit  eine  originelle  kritische  Stellung 
nahm,  und  am  Schlüsse  seiner  Hauslehrertätigkeit  veröffentlichte 
er  ein  Buch,  welches  in  der  Tat  den  Beweis  lieferte,  daß  er  ein 
großer  Naturforscher  war. 

Die  »Allgemeine  Naturgeschichte  und  Theorie   des  Himmels« 

o  o 

(1755)  ist  eins  von  den  Werken,  die  in  der  Geschichte  der  mensch- 
lichen Weltauffassung  unvergessen  bleiben  werden.  Es  enthält  den- 
jenigen Ausbau  der  Newtonschen  Gravitationstheorie,  welcher  in 
seinen  Grundzügen  noch  von  der  gegenwärtigen  Astrophysik  der 
Theorie  der  Himmelserscheinmigen  zugrunde  gelegt  wird  und 
unter  dem  Namen  der  Kant-Laplaceschen  Hypothese  allgemeiner 
bekannt  ist.     Kant  geht   mit   der   in  diesem  Werke   vorgelegten 


8  Kants  Leben  und  Schriften. 

Auffassung;  über  die  Newtonsche  Himmelsmechanik  in  einer  Rieh- 
tuner  hinaus,  die  auch  von  andern  Forschern  seiner  Zeit,  insbesondere 
von  dem  Engländer  Wright  eingeschlagen  worden  war.  Die  neue 
Vorstellungsweise  betraf  dabei  zwei  Hauptpunkte.  Zunächst  bildete 
die  Betrachtung  der  Milchstraße  den  Anlaß  dazu,  ein  analoges 
Verhältnis,  wie  es  in  der  Gruppierimg  und  Bewegung  der  Planeten 
unseres  Sonnensystems  besteht,  für  all  jene  in  annähernd  der  gleichen 
Ebene  erscheinenden  Fixsterne  anzunehmen  und  so  auch  die  Sonnen 
miteinander  in  eine  durch  die  Gravitationsgesetze  bestimmte  Be- 
wegung treten  zu  lassen.  Wenn  auch  die  Einzelheiten  dieses  von 
Kant  ausgeführten  Analogieschlusses,  namentlich  was  die  Gestalt 
der  Milchstraße  anbetrifft,  von  der  neueren  Forschung  anders  auf- 
gefaßt werden,  so  ist  doch  jenes  Prinzip  bisher  die  einzige  Möglich- 
keit, uns  in  dem  unendlichen  Räume  zu  orientieren  und  die  Be- 
wegung der  Sterne  gesetzmäßig  zu  verstehen.  Der  andere  Schritt 
der  Kantischen  Hypothese  führt  in  die  Vergangenheit  des  Planeten- 
systems zurück.  Den  Anfang  der  harmonischen  Bewegung,  deren 
mathematische  Gesetze  Newton  aus  dem  Prinzip  der  Gravitation 
erklärt  hatte,  vermochte  dieser  selbst  nur  auf  einen  unbegreifhchen 
Anstoß,  auf  einen  göttlichen  Bewegungsakt  zurückzuführen.  In 
dieser  Hinsicht  entwickelte  nun  Kant,  gestützt  auf  die  Fortschritte, 
welche  Chemie  und  Physik  hauptsächlich  in  bezug  auf  die  Theorie 
der  Gase  inzwischen  gemacht  hatten,  die  Lehre  von  dem  ursprüng- 
lichen Gasball,  aus  dessen  rotierender  Bewegung  sich  nach  rein 
mechanischen  Gesetzen  einer  nach  dem  andern  von  den  kleineren 
Bällen  habe  ablösen  müssen,  die  nun  mit  erkalteter  Rinde,  immer 
(noch  der  allgemeinen  Bewegung  folgend,  die  Planeten  darstellen. 
Die  Grundzüge  dieser  Anschauung  sind  zu  sehr  ein  Gemeingut 
unserer  Bildung  geworden,  als  daß  es  erforderlich  wäre,  im  besonderen 
hier  auszuführen,  wie  Kant  von  dieser  Annahme  aus  die  einzelnen 
Verhältnisse  der  Größe,  der  Dichtigkeit,  der  Entfernung  der  Planeten 
sowie  ihrer  Trabanten  auf  rein  mechanischem  Weoe  ableitete  und  so 
sein  stolzes  Wort  bewahrheitete:  »Gebt  mir  Materie,  und  ich  will 
euch  eine  Welt  daraus  bauen.«  Nichts  weiter  als  die  beiden 
Grundkräfte  der  Attraktion  und  der  Repulsion,  aus  denen  sich 
für  ihn  schon  zu  dieser  Zeit  das  Wesen  der  Materie  konstituiert, 
ist  nötig,  um  den  ganzen  Zusammenhang  der  planetarischen  Be- 
wegungen begreiflich  erscheinen  zu  lassen.     Und  wenn  nun  auch 


AHtropliysik.  9 

hierin  die  llypothoMt^  von  miscn^iii  SonnenRystcm  auf  duH  Uni- 
vcrHurn  aus^cdclml  wird,  wi'iiii  j<M»or  rotierende  (iii.sl)all  helbnl 
t?eh()n  wieder  als  der  Ausfluß  eines  ;»röüeren  erscheint,  so  ist 
damit  eine  <^r()üarti«^(^  VoUendun;^  ch'r  njechanisehen  Welt(;rkhirun^ 
gewonnen,  wehhe  zu«;leieh  das  liehen  der  Weltkörper  nicht  als  ein 
stets  sich  i^deic]d)leihendes,  sondern  vielmehr  als  einen  historischen 
Prozeß  betrachtet.  Wenn  wir  heute  j^^ewühnt  sind,  von  einer 
solchen  Entwicklung  des  Universums  zu  sprechen,  ho  darf  man 
auch  sagen,  daß  Kants  Hypothese  die  astrophysische  Grundlage 
dafür  geschaffen  hat.  Denn  er  geht  weiterhin  dem  Gedanken 
nach,  daß  die  Planetensysteme  so,  wie  sie  einst  aus  ihren  Sonnen 
hervorgegangen  sind,  vermöge  der  allmählichen  Verlangsamung 
ihrer  zentrifugalen  Bewegungstendenz  dereinst  wieder  in  den 
heimatlichen  Gasball  zurückstürzen  müssen;  er  stellt  die  Be- 
trachtung an,  daß  vermutlich  die  verschiedenen  Sonnensysteme  in 
sehr  verschiedenen  Lebensaltern  stehen,  und  daß  so  das  Universum 
eine  unendliche  Mannigfaltigkeit  von  verschiedenen  Lebenserschei- 
nungen zugleich  darbiete,  und  er  knüpft  daran  schließlich  Phan- 
tasien über  die  Bewohner  anderer  Welten  und  Weltsysteme.  Aber 
gerade  dieses  volle  Ausdenken  des  Prinzips  der  mechanischen 
Welterklärung  führt  nun  Kant  zu  einer  vertieften  Darstellung 
des  physiko-theologischen  Beweises  für  das  Dasein  Gottes.  Gerade 
wenn  es  Tatsache  ist,  daß  die  Natur  auch  aus  dem  Chaos  wirbelnder 
Gase  nach  den  ihr  einmal  innewohnenden  Gesetzen  zum  Ausbau 
der  harmonischen  Systeme  des  Gestirnlaufes  kommen  muß,  so  zeigt 
sich  eben  darin,  daß  sie  mit  dieser  ihrer  Gesetzmäßigkeit  in  einer 
höchsten  Intelligenz  ihren  Ursprung  haben  müsse.  So  übernimmt 
Kant  das  von  der  Analogie  der  Maschinen  hergenommene  Argument, 
um  dessen  bisherige  Benutzung  noch  zu  überbieten  und  die 
mechanische  Welterklärung  bis  an  die  letzte  Grenze  zu  verfolgen. 
Und  doch  ließ  auch  er  noch  einen  Punkt  übrig,  an  dem  das 
Prinzip  der  mechanischen  Weltbetrachtung  versagte.  Seine  gesamte 
Erklärung  galt  nur  der  unorganischen  Natur,  und  es  entsprach 
der  damaligen  Stellung  der  empirischen  Wissenschaft,  wenn  er 
behauptete,  die  Hypothese,  welche  für  die  Erklärung  der  Sonnen 
und  der  Planeten  ausreiche,  müsse  scheitern  am  Grashalm  und 
an  der  Raupe.  Der  Organismus  ist  für  ihn  schon  an  dieser  Stelle 
der  Grenzbegriff  der  mechanischen  Naturerklärung. 


J^Q  Kants  Leben  und  Schriften. 

Die  unzweifelhafte  Größe,  welche  Kant  als  Naturforscher  be- 
sitzt, ist  gewiß  mit  die  bedeutsamste  Grundlage  seiner  philo- 
sophischen Größe.  Aber  die  in  jenem  Werke  niedergelegte  Lehre 
charakterisiert  ihn  doch  mehr  persönhch,  als  daß  sie  mit  seiner 
späteren  Philosophie  in  unmittelbar  notwendigem  Zusammenhange 
stünde.  Das  gleiche  gilt  von  den  zahlreichen  kleineren  natur- 
wissenschaftlichen Abl&ndlungen,  die  er  vorher  und  nachher  ver- 
öffentlicht hat.  Erst  allmählich  kommt  in  seiner  schriftstellerischen 
Tätigkeit  das  philosophische  Moment  in  den  Vordergrund  zu 
stehen.  Noch  seine  Promotionsschrift  (1755)  war  eine  Abhandlung 
über  das  Feuer,  welche  sich  in  einer  gleichfalls  modernen  Theorien 
vorgreifenden  Weise  mit  der  Lehre  von  den  Imponderabihen  be- 
schäftigte und  in  ihnen  den  gemeinsamen  Ursprung  der  Wärme, 
des  Lichts,  aber  freilich  auch  der  Erscheinungen  der  Elastizität 
suchte.  Selbstverständlich  war  die  Naturphilosophie,  das  Gebiet 
des  Überganges  von  der  Naturforschung  zur  Philosophie,  um  diese 
Zeit  für  ihn  von  besonderem  Interesse.  Nachdem  er  sich  im 
Herbst  1755  mit  einer  Schrift  über  die  Prinzipien  der  metaphysischen 
Erkenntnis  (Principiorum  primorum  cognitionis  metaphysicae  nova 
dilucidatio)  bei  der  philosophischen  Fakultät  der  heimischen  Uni- 
versität habilitiert  hatte,  gab  er  im  folgenden  Frühjahr  ein  natur- 
philosophisches Programm,  seine  »Physische  Monadologie«,  heraus, 
welche  hauptsächhch  die  verschiedene  Stellung  der  Mathematik 
und  der  Metaphysik  zum  Problem  des  Raumes  behandelte  und 
in  dieser  Hinsicht  zwei  Jahre  später  durch  einen  kleinen  Aufsatz 
»Neuer  Lehrbegriff  der  Bewegung  und  Ruhe«  ergänzt  wurde. 

Wurde  Kant  nun  auch  in  seiner  Ilaupttätigkeit  Dozent  der 
Philosophie,  so  hat  er  doch  bis  in  sein  spätestes  Alter  stets  das 
re*Tste  Interesse  für  naturwissenschaftliche  Gegenstände  besessen 
und  bezeugt.  Noch  das  letzte,  unvollendete  Manuskript  seines 
Alters,  das  erst  in  neuester  Zeit  veröffentlicht  wurde  und  für  seine 
Philosophie  freilich  irrelevant  ist,  behandelte  den  Ȇbergang  von 
der  Metaphysik  zur  Physik«.  In  seiner  akademischen  Lehre  war 
es  namentlich  die  physische  Geographie,  über  welche  er  von  Zeit 
zu  Zeit  seine  besuchtesten  Vorlesungen  hielt.  Außer  der  Klarheit 
der  wissenschaftlichen  Grundlegung  wurden  dabei  die  Zuhörer, 
welche  sich  aus  allen  Ständen  in  diesen  Vorlesungen  zusammen- 
fanden, durch  die  Anschaulichkeit  in  seiner  Schilderung  von  Land 


VorkritiHcho  Al)lmn(llutij(r'n.  1  1 

inul  Leuten  anj^ezo^^^en.  Wiihreiul  er  selbst  die  Mauern  seiner 
Vatoi'staclt  nie  nielir  als  um  eini<;e  Meilen  überschritt,  hatte  er 
durch  die  Lektüre  von  Keisebeschreibunf^en  und  durch  die  scharfe 
licobachtuni;  seiner  nächsten  Uin^ebun;'  eine  so  feine  und  aus- 
gebreitete  Welt-  und  Menschenkenntnis  erworben,  daß  auch  seine 
Vorlesungen  über  pragmatische  Anthropologie  (unen  gesuchten' (ie- 
nuß  zahlreicher  Zuliörer  bildeten.  In  dieser  Hinsicht  war  er  ein 
Weltweiser  im  antiken  Sinne  des  Wortes,  und  seine  Mitbürger 
schätzten  ihn  gerade  Tils  solchen  derartig,  daß  sie  bei  Gelegenheiten, 
wie  dem  Erdbeben  von  Lissabon  oder  dem  Auftreten  abenteuer- 
licher Menschen,  von  ihm  Belehrung  erwarteten  und  durch  kleine 
Schriften  und  Aufsätze  erhielten.  Dahin  gehören  die  zwei  Be- 
trachtungen über  das  Erdbeben  von  Lissabon  (175G),  der  »Versuch 
über  den  Optimismus«  (1759),  das  »Räsonnement  über  den  Aben- 
teurer Komarnicki«  (17G4),  der  »Versuch  über  die  Krankheiten  des 
Kopfes«  (17G4),  schUeßHch  auch  in  gewissem  Sinne  die  »Träume 
eines  Geistersehers  erläutert  durch  Träume  der  Metaphysik« 
(1766). 

Durch  diese  stetige  Fühlung  mit  der  Erfahrung  hielt  sich  Kant 
von  dem  Schulpedantismus  frei,  dem  die  meisten  seiner  Fach- 
genossen um  diese  Zeit  in  Deutschland  verfielen.  Seine  Sprache 
in  diesen  Essays  ist  fein,  beweglich,  frisch  und  zum  großen  Teil 
sehr  witzig.  Es  sind  Essays  im  englischen  Genre,  und  es  ist  des- 
halb wohl  zu  bemerken,  daß  Kant  gerade  in  diesen  Jahren  sich 
vielfach  und  eingehend  mit  der  englischen  Literatur  beschäftigte 
und  seine  Zuhörer  mündlich  und  schriftlich  darauf  ebenso  hinwies, 
wie  auf  den  von  ihm  bewunderten  Rousseau.  Selbst  die  spezifisch 
philosophischen  Schriften,  welche  diesem  Zeitraum  entstammen, 
zeigen  dieselben  Eigentümlichkeiten  und  dasselbe  Bestreben,  sich 
von  der  Schulsprache  nicht  minder  frei  zu  machen,  als  von  der 
Schulmeinung.  »Die  falsche  Spitzfindigkeit  der  vier  syllogistischen 
Figuren«  (1762),  der  »Versuch,  den  Begriff  der  negativen  Größen 
in  die  Weltweisheit  einzuführen«  (1763),  »Der  einzig  mögliche  Be- 
weisgrund für  das  Dasein  Gottes«  (1763),  die  »Untersuchung  über 
die  Deutlichkeit  der  Grundsätze  der  natürlichen  Theologie  und 
Moral«  (1764),  der  moralisch  -  ästhetische  Essay  »Beobachtungen 
über  das  Gefühl  des  Schönen  und  Erhabenen«  (1764),  diese  in 
rascher  Folge  geschriebenen  und  erschienenen  Abhandlungen  sind 


12  Kants  Leben  und  Schriften. 

ebenso  viele  Beweise  für  die  Selbstbefreiung  des  Kantiscben  Geistes 
aus  den  Fesseln  der  herkömmlichen  Denk-  und  Schreibweise. 

Inzwischen  ging  es  mit  der  akademischen  Laufbahn  des  inner- 
halb und  außerhalb  Königsbergs  schon  so  hochgeachteten  Mannes 
außerordentlich  ungünstig  vorwärts.  Die  erste  frei  werdende  Pro- 
fessur wurde  durch  den  1758  in  Königsberg  regierenden  russischen 
General  anderweitig  besetzt.  Eine  Professur  der  Dichtkunst,  die 
man  ihm  1762  antrug,  lehnte  der  Philosoph  ab,  und  die  im  folgenden 
Jahre  errungene  Stellung  eines  schwach  dotierten  Unterbibliothekars 
^  /• .  konnte  doch  dafür  nur  geringen  Ersatz  bieten.  Erst  das  Jahr  1770 
brachte  ihm  gleichzeitig  Berufungen  nach  Erlangen  und  Jena, 
deren  Befolgung  indes  durch  seine  Ernennung  zum  Professor  in 
Königsberg  selbst  vorgebeugt  wurde.  Mit  der  Schrift  »De  mundi 
sensibilis  atque  intelligibilis  forma  et  principiis<<  inaugurierte  er 
nicht  nur  diese  seine  Professur,  sondern  in  gewissem  Sinne  auch 
seine  neue  Philosophie,  die  inzwischen  heranreifte,  und  damit  ein 
neues  Zeitalter  des  philosophischen  Denkens. 

Die  großen  geistigen  Veränderungen,  die  während  der  zweiten 
Hälfte  des  siebenten  Jahrzehnts  in  dem  Philosophen  vorgingen,  be- 
trafen auch,  wenn  nicht  seinen  Charakter,  so  doch  seine  äußere 
Art  sich  zu  geben  und  jedenfalls  die  Darstellungsweise  seiner 
Schriften.  Der  leichte,  elegante  Fluß  seiner  Eede  erscheint  ge- 
hemmt; ihre  Frische  und  AnschauHchkeit,  ihr  sprühender  Humor 
weichen  einer  trockenen  Sachlichkeit,  einer  umständlichen  Breite, 
einer  sorgsam  abwägenden,  vielfach  sich  selbst  wieder  einschränken- 
den, die  Sätze  ineinanderschachtelnden  Sprache,  aus  der  nur  hier 
imd  da  ein  wuchtiger  Ausdruck  voll  Pathos  und  Würde  durch- 
bricht. Ebenso  aber  ist  um  jene  Zeit  in  Kants  Wesen  ein  strenger 
und  herber  Ernst,  eine  rigorose  Lebensauffassung  zum  Durchbruch 
gekommen:  aus  dem  geistreichen  Dozenten,  der  sich  leicht  und 
gern  in  der  Gesellschaft  bewegt  hatte,  ist  ein  einsam  grübelnder 
Professor  geworden.  Von  hier  an  ist  sein  ganzes  Leben  der  Aus- 
bildung und  der  akademischen  Lehre  seines  eigenen  Systems  ge- 
widmet geblieben.  Auch  einem  Rufe  nach  Halle  im  Jahre  1778 
widerstand  er  und  blieb  bis  an  sein  Lebensende  in  Königsberg. 
Seine  Vorlesungen  mit  ihrer  anregenden  Kraft,  mit  ihrem  Bestreben, 
statt  des  toten  dogmatischen  Vortrages  den  Zwang  des  Selbst- 
denkens auf  den  Zuhörer  auszuüben,  waren  bald  weithin  berühmt, 


Ohfirnktpr.  13 

und  in  Stadt  und  Universität  war  or  eine  p;efcierte  Perscinlichkeit. 
Es  ist  ein  Eindruck  stiller,  j^danzloser  Gniße,  mit  dem  die  letzten 
Jahrzehnte  von  Kants  Leben  unwillkürlich  ergreifen.  Die  bewußte 
Grundsiitzliclikeit  seiner  Lebensein richtunfif  und  Ijebenseinteilung, 
welche  ein  Ausfluß  seines  wunderbar  hohen  Pflichtbewußtseins  war, 
ermöglichte  es  ihm,  die  Riesenarbeit  seiner  philosophischen  Werke 
und  die  treue  Erfüllung  seiner  akademischen  Pflichten  mit  einer 
in  enge  Grenzen  gezogenen  beliaglichen  Geselligkeit  zu  verbinden. 
Nie  verheiratet,  schätzte  er  den  Genuß  der  Freundschaft  sehr  hoch 
und  suchte  ihn  bezeichnenderweise  weniger  bei  seinen  Berufsgenossen 
als  in  anderen  Ständen.  Er  behielt  gerade  dadurch  die  Fühlung 
mit  dem  praktischen  Leben  und  den  Sinn  für  die  Wirklichkeit,  der 
sich  in  seinem  Charakter  und  in  seinen  Schriften  so  merkwürdig 
mit  dem  Grübelsinn  des  Philosophen  verbindet.  Die  hohe  Liebens- 
würdigkeit, welche  er  in  diesem  geselhgen  Verkehr  entwickelte,  ^ 
fand  ihre  Grenze  nur  da,  wo  entweder  das  Bewußtsein  seiner  Pflicht 
und  seiner  gewaltigen  Lebensaufgabe  oder  aber  jene  pedantische 
Eigensinnigkeit .)  ein  trat,  die  sich  allmählich,  wie  die  Züge  des 
Menschen  durch  das  Alter  eckiger  und  steifer  werden,  als  die  Kehr- 
seite jener  Tugenden  bei  ihm  einstellte,  und  von  der  sich  zahlreiche 
Anekdoten  erhalten  haben.  Eine  bewunderungswürdige  Konsequenz,  ' 
eine  großartige  Selbstbeherrschung,  eine  absolute  Unterwerfung 
seiner  Lebenstätigkeit  unter  die  erfaßten  Ziele,  ein  eisernes  Fest- 
halten an  dem  erkannten  Gehalte  des  eigenen  Lebens,  alle  diese 
Züge  machen  Kant  zu  einem  Charakter,  der  so  gewaltig  war  wie 
sein  Geist.  Auch  er  ist  ein  Bew^eis  davon,  daß  es  keine  wahre 
Größe  der  geistigen  Kraft  gibt  ohne  diejenige  des  Willens. 

In  diesem  stillen  Abfluß  seines  innerlich  so  tief  bewegten 
Lebens  wurde  Kant  nur  einmal  gestört,  als  nach  dem  Tode  des 
großen  Königs,  dem  er  in  aufrichtiger  Bewunderung  die  »Natur- 
geschichte des  Himmels«  gewidmet  hatte,  unter  dessen  Nach- 
folger eine  jener  Anwandlungen  der  gewaltsamen  Rehgionsmacherei 
von  oben  herab  eintrat,  die  infolge  von  persönlichen  Verschie- 
bungen von  Zeit  zu  Zeit  den  ruhigen  Gang  der  preußischen 
Politik  unterbrochen  haben.  Das  verschärfte  Zensursystem, 
welches  das  Ministerium  WöUner  einführte,  traf  Kant  nicht  nur 
durch  die  Beanstandung  seiner  religionsphüosophischen  Schriften, 
sondern    auch    durch    einen    ungnädigen  königlichen  Erlaß   und 


J4  Kants  Leben  und  Schriften. 

durch  das  an  ihn  und  alle  seine  Kollegen  gerichtete  Verbot  eines 
akademischen  Vortrages  seiner  Philosophie.  Kant  empfand  diese 
Beeinträchtigung  schwer,  er  trug  sie  mit  mannhafter  Würde.  Als 
dann  der  neue  Regierungswechsel   1797^  die   Folgen   dieses   Ver- 

7j  O  botes  aufhob,  da  senkten  sich  freiHch  über  Kant  schon  die 
Schatten  des  Alters.  Seit  demselben  Jahre  sah  er  sich  genötigt, 
von  den  Vorlesungen  Abstand  zu  nehmen,  und  zerstört  von  der 
mächtigen  Arbeit  des  Geistes,  siechte  der  Leib,  in  welchem  die 
größte  aller  Philosophien  ihren  Sitz  aufgeschlagen  hatte,  noch 
jahrelang  in   traurigem  Marasmus   dahin,    bis   ihn   der   Tod   am 

r  0  ,  .12.  Februar  1804  erlöste. 

Vom  Jahre  1770  an  ist  Kants  schriftstellerische  Tätigkeit, 
von  geringen  Abzweigungen  abgesehen,  ausschHeßlich  der  syste- 
matischen Darstellung  seiner  Lehre  gewidmet  gewesen,  deren 
Ausbildung  die  Arbeit  seines  Lebens  ausmachte,  und  der  er  selbst 
den  Namen  der  kritischen  Philosophie  gegeben  hat.  Wenn  die 
Inauguraldissertation  nur  einen,  obschon  einen  der  bedeutendsten 
Keime  davon  zur  Darstellung  brachte,  so  dauerte  es  ein  volles 
Jahrzehnt,  bis  Kant  imstande  war,  in  seinem  großen  Haupt- 
werke die  theoretische  Grundlage  seiner  Lehre  zu  veröffentlichen. 
Die  »Kritik  der  reinen  Vernunft«,  das  Grundbuch  der  deutschen 
Philosophie,  erschien  1781.     Zwei  Jahre  darauf  gab  Kant  in  den 

.^  »Prolegomena  zu  einer  jeden  künftigen  Metaphysik«  eine  Er- 
läuterung und  eine  Verteidigung  dieses  Werkes.  Sie  war  nötig; 
denn  die  Darstellung  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  war  so 
schwierig,  Kants  Wortgebrauch  darin  zum  Teil  so  unsicher,  der 
Gedankengehalt  so  riesig  und  der  Widerspruch  der  mannigfachen 
in  sie  hineingearbeiteten  Denkprozesse  so  ungelöst,  daß  die  zahl- 
reichen Mißverständnisse  imd  der  verhältnismäßig  geringe  Erfolg 
des  Buches  nicht  lediglich  der  Mißgunst  der  Schulphilosophen 
zuzuschreiben  waren.  Als  dann  das  Interesse  des  Publikums  an 
d^r  neuen  Lehre  rege  geworden  war,  folgte  1787  eine  zweite 
Auflage,  der  alle  folgenden  Auflagen  nachgedruckt  worden  sind. 
Die  vielfachen  Veränderungen,  welche  das  Werk  dabei  erfuhr, 
zuerst  von  Schelling  und  Jacobi  bemerkt,  dann  durch  Schopen- 
hauer und  Rosenkranz  hervorgehoben,  sind  die  Veranlassung  eines 
ausgedehnten  Streites  über  den  Vorzug  der  einen  oder  der  anderen 
Auflage  geworden.     In   der  Tat   liegen   wesentliche   Verschieden- 


\ 


/ 


Ihuipiwerko.  15 

lioitcii  darin  vor,  daü  \(»n  den  vicifacli  vorscldun;^<Mirn  flculaiiken- 
rcihen,  ans  doiicii  dieses  Werlv  zjisamnion^carbeitct  ist,  einige  in 
der  zweiten  Anflaj^e  eine  entschieden  stärkere  Jictonung  gefunden 
haben  als  in  der  ersten.  Aber  jeder  V()r^vü^f,  als  habe  Kan<  in 
der  zweiten  Auflage  den  Geist  der  ersten  verlassen,  ist  deshalf> 
unbereclitigt,  weil  auch  die  Tone,  die  in  der  zweiten  Auflage  am 
.stärksten  anklingen,  ausnahmslos  schon  in  der  ersten  leise  an- 
geschlagen waren.  Zweifellos  ist  daraus  zu  schließen,  daß  bei 
Kant  selbst  die  Kraft  dieser  Gedanken  nach  dem  Erscheinen  der 
ersten  Auflage  sich  energischer  und  bestimmender  entwickelt  hat 
als  vorher.  Aber  eine  Verwunderung  darüber  kann  nur  bei  dem- 
jenigen entstehen,  der  an  die  Kritik  der  reinen  Vernunft  mit  der 
Erwartung  herantritt,  in  ihr  ein  vollkommen  geschlossenes,  ab- 
solut mit  sich  übereinstimmendes  und  fertiges  System  vorzu- 
finden. Eine  solche  Erwartung  wird  hier  mehr  als  in  irgend 
einem  anderen  Werke  der  gesamten  Literatur  getäuscht.  Darin 
gerade  besteht  das  Einzige  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  und 
zugleich  der  Grund  ihrer  unvergleichlichen  historischen  Wirkung,  / 
daß  sie  alle  Gedankengänge  der  modernen  Philosophie  ineinander- 
arbeitet,  ohne  zu  einem  sich  scharf  formulierenden,  jeden  anderen  . 
Gedanken  ausschließenden  Ergebnis  zu  gelangen. 

Der  zw^eiten  Auflage  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  waren 
bereits  andere  Werke  vorhergegangen,  in  denen  Kant  die  Anwen- 
dung seiner  Prinzipien  auf  die  besonderen  Aufgaben  der  philo- 
sophischen Erkenntnis  darzustellen  begann.  1785  erschien  die 
>> Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten«,  1786  die  »Metaphy- 
sischen Anfangsgründe  der  Naturwissenschaft  <<.  Es  folgten  später 
1788^die  »Kritik  der  praktischen  Vernunft <<,  1790  die  Streit-  "^ 
Schrift  gegen  Eberhard  und  das  größte,  für  das  Verständnis  seiner 
ganzen  Weltanschauung  wichtigste  seiner  Werke,  die  »Kritik  der 
Urteilskraft <<,  1793  die  »Religion  innerhalb  der  Grenzen  der  bloßen 
A^ernunft  <<,  eine  Sammlung  von  vier  religionsphilosophischen  Ab- 
handlungen, 1797  die  »Metaphysischen  Anfangsgründe  der  Rechts- 
und diejenigen  der  Tugendlehre << ,  zwei  Schriften,  welche,  imter 
dem  Namen  der  »Metaphysik  der  Sitten«  zusammengefaßt,  bereits 
das  Zeichen  des  alternden  Geistes  ihres  Verfassers  ebenso  an  der 
Stirne  tragen,  wie  die  unter  dem  Titel  »der  Streit  der  Fakul- 
täten«  zusammengefaßten   Abhandlungen   aus   dem   Jahre    1798. 


]^ß  Kants  Entwicklung. 

An  diese  Hauptwerke  schließen  sich  eine  Reihe  höchst  bedeuten- 
der kleiner  Gelegenheitsaufsätze,  welche  teils  in  verschiedenen 
Zeitschriften  zu  Kants  Lebzeiten  erschienen,  teils  aus  seinem 
Nachlaß  gedruckt  worden  sind.  Aus  ihnen  mögen  an  dieser  Stelle 
hauptsächlich  die  geschieh tsphilosophischen  erwähnt  werden,  weil 
ihr  Gegenstand  durch  keines  jener  Hauptwerke  unmittelbar  ver- 
treten wird.  Es  gehören  dazu  die  »Idee  zu  einer  allgemeinen 
Geschichte  in  weltbürgerhcher  Absicht«  (1784),  die  »Beantwor- 
tung der  Frage,  was  ist  Aufklärung«  (1784),  der  »Mutmaßliche 
Anfang  der  Weltgeschichte«  (1786),  das  »Ende  aller  Dinge«  (1794) 
und  der  »Philosophische  Entwurf  zum  e^vigen  Frieden«    (1795). 

§  58.     Kants  philosophische  Entwicklung. 

Es  würde  schon  ein  Blick  auf  die  Gegenstände  von  Kants 
schriftstellerischer  Tätigkeit  genügen,  um  jene  Universalität  seines 
philosophischen  Interesses  bestätigt  zu  finden,  welche  die  Grund- 
bedingung für  seine  dominierende  Stellung  in  der  Geschichte  der 
modernen  Philosophie  ausmacht.  Wer  aber  auch  nur  eins  von 
seinen  großen  Werken  in  die  Hand  nimmt,  der  wird  immer  wieder 
über  die  Fülle  der  Gesichtspunkte  erstaunen  müssen,  die  Kant 
in  der  Behandlung  der  einzelnen  Gegenstände  geltend  macht  und 
in  ihr  richtiges  Verhältnis  zu  setzen  bemüht  ist.  Aber  es  sind 
nicht  etwa  historische  Anknüpfungen,  welche  dabei  im  Vorder- 
grunde stehen.  Von  jener  Gelehrsamkeit,  mit  deren  Früchten 
Leibniz  an  die  Behandlung  eines  jeden  Problems  herantritt,  ist 
Kant  weit  entfernt,  und  wenn  man  eine  schwache  Seite  bei  ihm 
finden  will,  so  ist  sie  bei  der  gelehrten  Kenntnis  der  Geschichte 
seiner  eigenen  Wissenschaft  und  besonders  der  antiken  Philo- 
sophie zu  suchen.  Aber  darin  gerade  beweist  sich  die  Weite 
seines  Geistes,  daß  er  aus  schwachen  Andeutungen  und  aus  der 
Einwirkung  der  zeitgenössischen  Literatur  den  Kern  jeder  Denk- 
weise, nach  der  die  Lösung  der  Probleme  versucht  worden  ist, 
zu  erfassen  und  selbständig  zu  reproduzieren  imstande  ist.  Eben 
deshalb  aber,  weil  er  jeden  dieser  Gedanken  als  einen  eigenen 
erzeugt  hat,  ist  seine  eigene  Denkarbeit  die  komplizierteste  imd 
verwickeltste  von  allen,  welche  die  Geschichte  der  Philosophie 
darbietet.  Jede  Richtung  der  modernen  Philosophie  ist  ein  in- 
tegrierender Bestandteil   seines   Systems,   und   darauf  beruht  die 


KriiixintnuR.  |7 

große  Manni«,'falti«^fkeit  von  Ausdoutuiigcn,  welche  diehes,  oft  in 
diametral  ent<j;egenj^esetzie!i  Kiclitiingen,  bei  den  späteren  Denkern 
erfaliren  liat.  Damit  hiinj^t  es  auch  zuHammen,  daß  das,  was 
wir  »ein  eigenes  System  nennen,  nicht  von  Jugend  an  bei  ihm 
vorhanden,  ja  in  seinen  ersten  Schriften  nicht  einmal  im  ent- 
ferntesten angelegt,  sondern  erst  in  verliilltnismäßig  spätem  Alter 
zur  Reife  gekommen  ist.  In  diesem  Stadium  der  J^eife  ver- 
dichten und  verschlingen  sich  in  ihm  alle  die  mannigfaltigen 
Gedankengänge,  welche  er  mit  der  ruhigen  Gewalt,  die  er  über 
sich  selbst  besaß,  langsam  in  sich  hat  zur  Entfaltung  kommen 
lassen.  Jenes  eigene  System  ist  deshalb  nicht  zu  begreifen,  wenn 
man  nicht  seinen  Entwicklungsgang  ins  Auge  faßt,  und  um  diesen 
zu  verstehen,  muß  man  wiederum  kein  einfaches  imd  durch- 
sichtiges Schema  annehmen,  sondern  von  vornherein  voraussetzen, 
daß  sein  Entwicklungsgang  überaus  vielseitig  und  verwickelt 
gewesen  ist.  Er  ist  eine  Repetition  der  vorkantischen  Philosophie, 
aber  in  durchaus  oricineller  Form:  allein  die  für  dessen  Ver- 
ständnis  in  den  Schriften,  im  Briefwechsel  und  in  Kants  Notizen, 
besonders  zu  seinen  Vorlesungsheften  und  eigenen  Büchern  zu- 
gänglichen Dokumente  sind  gerade  in  Rücksicht  auf  die  große 
Kompliziertheit  der  Gedankengänge,  trotz  der  stattlichen  jVnzahl, 
worin  sie  jetzt  vorhegen,  für  die  sachliche  Ausbeute  noch  immer 
so  sporadisch,  daß  man  den  Entwicklungsgang  nur  hypothetisch 
zu  rekonstruieren  vermag,  und  daß  auch  dieser  Darstellung  nichts 
weiter  übrig  bleibt,  als  zwischen  den  verschiedenen  Wegen,  die 
man  dazu  einc^eschla^en  hat,  sich  den  eigenen  zu  bahnen. 

Wenn  Kant  seine  eigene  spätere  Lehre  als^ Kritizismus  be- 
zeichnet und  damit  ihre  erkenntnistheoretische  Tendenz  in 
den  Vordergrund  gerückt  hat,  so  ist  in  der  Tat  die  OriginaUtät 
seines  Systems  nicht  in  der  Berücksichtigung  der  erkeimtnis- 
theoretischen  Frage  überhaupt,  sondern  vielmehr  in  der  neuen 
Fassung  zu  suchen,  die  zugleich  eine  ganz  neue  Methode  der 
Lösimg  nach  sich  zog.  Von  erkenntnistheoretischen  Unter- 
suchungen ist  die  gesamte  Philosophie  des  XVIII.  Jahrhunderts 
durchsetzt;  aber  einerseits  stehen  sie  immer  unter  dem  metho- 
dologischen Gesichtspunkte  der  Frage  nach  dem  richtigen  Wege  der 
philosophischen  Erkenntnis,  anderseits  machen  sie  eine  Reihe  von 
Voraussetzungen  teils  metaphysischer  Art,  teils  in  bezug  auf  den 

Windelband,  Gesch.  d.  n.  Philos.    II.  2 


18 


Kants  Entwicklung. 


/-- 


Zusammen liang  und  das  Wesen  anderer  Wissenschaften.  Es  ist 
das  Wesentliche  in  der  Kantischen  Entwicklung,  daß  er  sich  von 
diesen  Voraussetzungen  sukzessive  befreit  und  so  zuletzt  die  ver- 
hältnismäßig voraussetzungsloseste  Formel  für  den  Ausgang  des 
philosophischen  Denkens  gefunden  hat. 

Die  dem  allgemeinen  Bewußtsein  geläufigste  dieser  Voraus- 
setzungen ist  jener  »naive  Realismus«,  der  da  meint,  dem 
erkennenden  Geiste  stehe  eine  Welt  von  Dingen  gegenüber,  die 
es  nun  zu  fassen,  deren  es  sich  durch  das  Denken  zu  bemächtigen 
gelte,  und  es  sei  nur  die  Frage,  auf  welchem  Wege  das  am 
sichersten  und  richtigsten  geschehen  könne.  Dieser  naiven  Meta- 
physik haben  sich  als  der  Grundlage  ihrer  erkenntnistheoretischen 
Fragestellung  und  somit  als  einer  die  Lösung  des  Problems  von 
vornherein  bestimmenden  Voraussetzung)  weder  der  Empirismus 
noch  der  Rationalismus  der  vorkantischen  Philosophie  entschlagen 
können.  Der  eine  erklärte  sich  den  Prozeß  des  Erkennens  durch 
eine  Einwirkung  der  Dinge  auf  den  Geist,  der  andere  mußte 
schließlich  eine  prästabilierte  Harmonie  annehmen,  vermöge  deren 
die  Gesetze  des  Denkens  mit  denjenigen  der  zu  erkennenden 
Wirklichkeit  von  vornherein  identisch  seien.  So  beruhen  die 
Lehren  von  Locke  und  Leibniz  gleichmäßig  auf  jener  Voraus- 
setzung, und  es  war  trotz  aller  Versuche,  zwischen  ihnen  zu  ver- 
mitteln und  ihre  Einseitigkeiten  zu  überwinden,  eine  prinzipielle 
Überschreitung  der  von  ihnen  gewonnenen  Ansichten  so  lange 
unmöglich,  bis  jene  Voraussetzung  des  naiven  Realismus  als  solche 
durchschaut  mid  der  bestimmende  Einfluß,  den  sie  auf  die  Er- 
kenntnistheorie ausgeübt  hatte,  eliminiert  wurde.  Diese  Einsicht 
ist  die  Tat,  welche  Kant  zum  kritischen  Philosophen  xax  iJo/Y^v 
gemacht  hat,  und  der  Augenblick,  wo  er  sie  gewann,  bezeichnet 
den  Ursprung  seiner  eigentümlichen  Lehre.  Sie  ist  aber  eben 
deshalb  erst  das  Ziel  und  der  Abschluß  seiner  vorkritischen  Ent- 
wicklung, und  deren  Anfänge  entspringen  an  anderen,  sehr  viel 
spezielleren  Problemen. 

Unter  den  besonderen  Voraussetzungen,  welche  die  gesamte 
vorkan tische  Philosophie  machte,  hat  eine  geradezu  das  Ferment 
für  Kants  Entwicldung  gebildet:  die  herrschende  Meinung  über 
den  wissenschaftlichen  Charakter  der  Mathematik.  Empiristen 
und  Rationalisten  waren  darin  einig,  in  der  Mathematik  das  Ideal 


LcMbniz  und  Newton.  \[) 

alI(M-  bowciHOtulcii  WisflcnHcliaffc  zu  erblicken.  Dicso  AnHJclit  wjir 
die  llicl  lisch  nur,  wonacli  der  cnipiriHtischc  Skeptizinnuis  in  Ihnnc 
seine  rücksichtslose  Kritik  an  den  iihrif^en  Wissenschaften  voll- 
zog;; diese  Ansicht  war  die  Voiaussetzun«^',  unter  welcher  der 
Rationalisnms  von  Descartcs  bis  Wolff  unablii-ssi^  an  der,  Kon- 
struktion einer  >> geometrischen  Metliode <<  der  Philosophie  arbeitete. 
Wenn  Kant  mit  seinen  pliilosopliischen  Studien  in  diesen  Ratio- 
nalismus hineinwuchs,  weim  auch  er  zunächst  die  Identität 
mathematischen  und  philosophischen  Verfahrens  als  etwas  Selbst- 
verständhches  ansehen  lernte,  so  mußte  der  erste  Anstoß  zu  einer 
selbständigen  Entwicldung  bei  ihm  in  dem  Moment  entstehen,  wo 
er  sich  an  irgend  einem  Punkte  einer  prinzipiellen  Differenz  mathe- 
matischer und  philosophischer  Behandlung  desselben  Problems 
bewußt  wurde.  Nun  war  aber  gerade  die  Naturphilosophie,  in 
der  am  ehesten  mathematische  und  metaphysische  Theorien  mit- 
einander in  Konkurrenz  treten,  das  Gebiet  seiner  ersten  selb- 
ständigen Arbeiten,  und  um  so  mehr  mußte  ihm  das  Verhältnis 
dieser  beiden  Wissenschaften  zu  einem  Gegenstande  der  Unter- 
suchung werden,  als  der  Philosoph,  den  er  am  höchsten  schätzen 
gelernt  hatte,  und  der  große  Vertreter  der  mathematischen  Natur- 
forschung, den  er  auf  das  tiefste  bewunderte,  gerade  über  die 
wichtigsten  Fragen  in  unlöslichem  Widerspruche  miteinander  zu 
stehen  schienen. 

War  daher  Kant  schon  in  seiner  allerersten  Schrift  auf  ein 
verschiedenes  Resultat  der  mathematischen  und  der  philosophischen 
Naturbetrachtung  aufmerksam  geworden,  indem  er  gefunden  hatte, 
daß  die  »lebendigen  Kräfte  aus  der  Mathematik  verwiesen  werden« 
müßten,  um  in  die  Natur  und  ihre  metaphysische  Betrachtung 
aufgenommen  zu  werden,  so  nahm  diese  Erkenntnis  viel  weitere 
Dimensionen  an,  als  er  sich  klar  wurde,  daß  zu  den  Problemen 
des  Raumes  Leibniz  und  Newton  eine  diametral  entgegengesetzte 
Stellung  einnahmen  und  einnehmen  mußten.  Als  er  in  seiner 
physischen  Monadologie  untersuchen  wollte,  wie  sich  Metaphysik 
und  Geometrie  in  der  naturphilosophischen  Untersuchung  mit- 
einander  verbinden,  fand  er  zunächst,  daß  sie  sich  trennen.  Die 
Metaphysik,  ( worunter  Kant  immer  die  Leibnizische  Monadologie 
denkt^N  leugnet  die  unendliche  Teilbarkeit  des  Raumes,  leugnet 
die   Existenz   des   leeren   Raumes,    leugnet   die   Wirkung   in   die 

2* 


20  Kants  Entwicklung, 

Ferne,  und  die  matliematisclie  Naturphilosophie  behauptet  in 
allen  diesen  Stücken  das  Gegenteil.  Indem  Kant  hier  einen 
Versuch  der  Vermittlung  macht,  benutzt  er  gegen  Newton  die 
Leibnizische  Lehre  von  der  Phänomenalität  des  Baumes.  Die 
Newtonsche  Lehre  würde  unanfechtbar  sein,  wenn  der  Raum 
eine  absolute  Wirklichkeit  und  das  Substrat  für  die  Körperwelt 
wäre,  wenn  infolgedessen  die  Gesetze  des  Raumes  auch  für  das 
innerste  Wesen  der  Körperlichkeit  bestimmt  wären.  Ist  dagegen 
der  Raum  nur  ein  Kraftprodukt  der  die  Körper  konstituierenden 
Monaden,  so  gelten  die  räumlichen  Gesetze  zwar  für  die  Er- 
scheinungsform der  Körperlichkeit,  aber  nicht  mehr  für  das  meta- 
physische Wesen  der  Körper.  So  überwiegt  zunächst  noch  in  Kants 
Betrachtung  die  Leibnizische  Metaphysik  über  die  Newtonsche 
Lehre,  und  die  letztere  wird  auf  Grund  der  Unterscheidung 
zwischen  dem  wirklichen  Körper  und  dem  Räume,  den  er  ein- 
nimmt (eine  Unterscheidung,  welche  sich  zugleich  gegen  die  funda- 
mentale Annahme  der  cartesianischen  Naturphilosophie  richtet),  auf 
die  äußere  Erscheinungsform  der  Körper  eingeschränkt.  Während 
für  Newton  der  Raum  etwas  Absolutes  bildet,  betrachtet  ihn  Kant 
mit  Leibniz  als  etwas  Relatives  und  sucht  diese  Ansicht  als  einen 
>> neuen  Lehrbegriff  von  Bewegung  und  Ruhe«  durch  empirische 
Betrachtungen  zu  begründen  (1758). 

In  gewisser  Weise  grenzt  also  Kant  in  diesen  Schriften  die 
Gebiete  der  Mathematik  und  der  Metaphysik  in  Rücksicht  auf 
die  Gegenstände  gegeneinander  ab,  und  es  ist  sehr  zu  beachten, 
daß  diese  Grenzscheidung  an  der  Linie  entlang  läuft,  welche 
Leibniz  zwischen  dem  metaphysischen  Wesen  der  Körper  und 
ihrer  räumlichen  Erscheinungsweise  gezogen  hatte.  Allein  wert- 
voller als  diese  Einsicht  in  die  sachliche  Differenz  zwischen  beiden 
Wissenschaften  erwies  sich  in  den  folgenden  Jahren  bei  Kant 
diejenige  in  ihren  formellen  und  methodischen  Unterschied.  In 
dieser  Beziehung  ist  es  sehr  wichtig,  daß  schon  Kants  erste  er- 
kenntnistheoretische Schrift,  wenn  sie  auch  im  allgemeinen  den 
Standpunkt  der  Leibniz- Wolffschen  Schulansicht  der  Metaphysik 
festhält,  doch  daneben  sehr  lebhaft  den  Einfluß  eines  Mannes  er- 
kennen läßt,  welcher  der  Herrschaft  der  geometrischen  Methode  in 
Deutschland  am  kräftigsten  entgegengetreten  war.  Wenn  Kant  die 
ersten  Prinzipien  der  metaphysischen  Erkenntnis  neu  zu  beleuchten 


Abwondunjf  vom  Rationalisniua.  21 

unternalirn,  so  tat  or  es  zwar  an  (l(3r  Hand  der  Grundhogriffo 
der  Wolffisoheii  Ontologie,  aber  ho,  daß  er  stets  darauf  das  Licht 
der  Kritik  von  Orusius  fallen  ließ.  Er  verfolgt  die  von  diesem 
begonnene  Unterscheidung  des  Realgrundes  und  des  Erkenntnis- 
grundes, und  wenn  er  sich  auch  später  gerade  über  Crusius  sehr 
abfällig  geäußert  hat,  so  ist  doch  dessen  Wirkung  auf  ihn  ganz 
augenfällig.  Kant  sieht  wie  jener  die  Aufgabe  der  Philosophie 
in  der  Erkenntnis  der  Wirklichkeit,  und  mit  dem  Sinn  für  die 
letztere,  der  in  Kant  durch  die  naturforschende  Richtung  seines 
Geistes  begründet  war  und  in  seinen  Schriften  dieser  Zeit  immer 
lebhafter  sich  geltend  machte,  tritt  er  mehr  und  mehr  in  Oppo- 
sition zu  der  schulmäßigen  Auffassung  des  Rationalismus,  welche 
ihre  Ansichten  von  der  metaphysischen  Realität  aus  logischen 
Möglichkeiten  und  Unmöglichkeiten  ableitete.  Diesen  Sinn  hat 
es,  wenn  er  dem  Satze  des  Widerspruchs  in  seiner  Habilitations- 
schrift denjenigen  der  Identität  koordinierte,  und  wenn  er  daran 
eine  Auseinandersetzung  darüber  knüpfte,  daß  es  unmöglich  sei, 
das  höchste,  absolute  Sein  aus  der  »Unmöglichkeit  des  Gegen- 
teils« nach  dem  Schema  der  Wolffischen  Ontolosjie  abzuleiten.  Er 
hat  begriffen,  daß  es  kein  Denken  geben  kann,  welches  noch 
hinter  die  absolute  Wirklichkeit  zurückginge  und  deren  Grund 
etwa  in  logischen  Verhältnissen  aufsuchte,  und  er  sagt  vom  »Sein« 
die  tiefen  Worte:  »Existit:  hoc  vero  de  eodem  et  dixisse  et  con- 
cepisse  suff icit. «  Nicht  die  Notwendigkeit  des  Seins,  sondern  das 
bloße  "Sein  selbst  gilt  es  zu  konstatieren  und  zu  beweisen. 

Innerhalb  dieser  charakteristischen,  schon  leise  nach  der  em- 
piristischen Seite  sich  hinziehenden  Grenzen  hält  Kant  in  der 
Habilitationsschrift  an  der  durch  Knutzen  vertretenen  Metaphysik 
der  Wolf  fischen  Schule  fest.  Er  ist  namentlich  überzeugt,  daß 
die  analytische  Methode  der  logischen  Begriffsentwicklung  durchaus 
imstande  sei,  die  Wirklichkeit  und  weiterhin  ihre  kausalen  Zu- 
sammenhänge in  einer  apriorischen  Erkenntnis  zu  rekonstruieren, 
und  er  glaubt  noch  fest  an  die  Möglichkeit,  durch  den  logischen 
Gedankenfortschritt  eine  Erkenntnis  der  Welt  zu  gewinnen,  xlber 
nachdem  er  einmal  auf  eine  gewisse  Diskrepanz  zwischen  Realität 
und  logischer  Begründung  aufmerksam  geworden  war,  verfolgte 
er,  um  »die  Methode  der  Metaphysik  zu  vervollkomnmen«, 
die   Beziehungen    weiter,    welche   zwischen   realen   und   logischen 


22  Kants  EntwickluDg. 

Verhältnissen  obwalten.  Es  ist  ja  die  Kardinalfrage  alles  Rationalis- 
mus, wie  weit  und  in  welchem  Sinne  logische  Notwendigkeiten 
reale  Notwendigkeiten  sind  —  wie  weit  m.  a.  W.  die  Kraft  der 
Logik  reicht,  um  die  Wirklichkeit  zu  begreifen.  War  nun  Kant 
in  der  rationalistischen  Ansicht  von  der  Bedeutung  der  logischen 
Formen  aufgewachsen,  so  ist  in  seiner  allmählichen  Entwicklung 
diese  Ansicht  völlig  unterwühlt  worden:  doch  war  es  nicht  nur 
die  Beschäftigung  mit  den  englischen  Philosophen,  sondern  weit 
mehr  seine  eigene  wühlende  Kritik,  welche  ihn  dem  rationalistischen 
Vorurteil  entfremdete  und  mit  der  Zeit  zu  der  Ansicht  führte, 
daß  das  Vorgeben  des  Rationalism.us,  die  Welt  aus  logischer  Kon- 
struktion zu  begreifen,  illusorisch  sei.  Die  logischen  Ansichten, 
die  Kant  in  dem  kleinen  Aufsatz  über  die  falsche  Spitzfindigkeit 
der  vier  syllogistischen  Figuren  niederlegte,  gehen  darauf  hinaus, 
zu  zeigen,  daß  alle  begriffhchen  Operationen  immer  nur  den  bis- 
herigen Erkenntnisinhalt  in  neue  formale  Beziehungen  bringen, 
niemals  aber  etwas  Neues  erschließen  und  hinzufügen  können.  In 
einfachster  und  durchaus  selbständiger,  rein  logisch-theoretischer 
Form  bricht  bei  Kant  dieselbe  Ansicht  durch,  mit  der  Bacon  und 
Descartes  sich  gegen  den  logischen  Formalismus  der  Scholastik 
empört  hatten:  Kant  wendet  diese  Einsicht  gegen  die  scholastische 
Gestalt,  die  der  Rationalismus  in  der  Wolffischen  Schule  wieder 
angenommen  hatte.  Er  proklamiert  hier  bereits  den  Kampf  gegen 
diesen  logisch -metaphysischen  »Koloß,  dessen  Haupt  bis  in  die 
AVolken  des  Altertums  ragt,  und  dessen  Füße  von  Ton  sind«. 
Die  Ausführung  dieses  Gedankens  ist  in  den  Schriften  der  sechziger 
Jahre  niedergelegt,  und  sie  endet  folgerichtig  mit  einer  völlig 
neuen  Auffassung  von  der  Philosophie. 

Zwei  Grundfragen  sind  es,  welche  alle  Metaphysik  zu  beant- 
worten hat;  die  eine  lautet:  Was  ist?  die  andere  lautet:  Nach 
welchen  Gesetzen  wirkt  das  Seiende?  Existenz  und  Kausa- 
lität sind  die  beiden  Grundpfeiler  unserer  gesamten  Weltauffassung. 
Wenn  daher  Kant  kritisch  der  metaphischen  Methode  näher  tritt, 
so  fragt  es  sich,  wie  diese  beiden  Fragen  auf  dem  Wege  der 
logischen  Analyse  zu  lösen  sind.  Für  den  Schluß  auf  die  Existenz 
kennt  die  logische  Betrachtung  nur  den  einen  Erkenntnisgrund, 
der  in  der  Unmöglichkeit  des  Gegenteils  besteht.  Diese  Unmög- 
lichkeit des  Gegenteils  wird,   insofern  es  sich  um  endliche  Dinge 


Kxititün/  liiid  KiiusalitUl.  23 

luiiulelt,  durch  kausale  Vcriuittlun;^eu  ürachlosHcn.  S(>bald  ea  sich 
aber  um  das  absolute  Wesen  haiidell,  bleibt  nur  die  lo^i.scho  Un- 
möglichkeit, es  als  nicht  existierend  zu  denken,  iibri;^.  So  stößt 
Kant  auf  den  Nerv  des  ontologischen  Beweises  für  das  Dasein 
(lottes,  und  seine  neue  Einsicht  entwickelt  sich  in  einer  Kritik 
der  Beweisgründe  für  das  Dasein  Uottes,  welche  in  der  Behauptung 
gipfelt,  daß  es  in  alle  Wege  unmöglich  ist,  aus  dem  begriffe  die 
Existenz  »herauszuklauben«,  mit  anderen  Worten,  daß  die  logische 
Analyse  unfähig  ist,  die  Existenz  zu  beweisen. 

Von  hier  an  richtet  Kant  mit  geschärfter  Kraft  sein  Auge  auf 
alle  Verwechslungen,  die  in  der  bisherigen  Philosophie  zwischen 
den  logischen  und  den  realen  Verhältnissen  gemacht  worden  sind, 
und  unter  diesen  fällt  ihm  vor  allen  der  Begriff  des  Widerspruchs 
auf.  Je  größer  die  Rolle  ist,  welche  in  allen  logischen  Operationen 
des  Menschen  die  Negation  spielt,  um  so  gefährlicher  ist  dabei 
die  Neigung,  diese  logischen  Verhältnisse  zu  hypostasieren.  Auch 
in  der  Wirklichkeit  herrscht  überall  Gegensatz,  und  der  logischen 
Betrachtung  erwächst  daraus  die  Verleitung,  die  einander  wider- 
strebenden Kräfte  der  Wirklichkeit  in  demselben  Verhältnis  zu- 
einander zu  denken,  wie  die  Begriffe  oder  Sätze,  die  zueinander 
in  dem  logischen  Verhältnis  des  Widerspruchs  stehen.  Hiergegen 
erhebt  Kant  Protest,  und  die  tiefste  seiner  vorkritischen  Schriften 
macht  den  »Versuch,  den  Begriff  der  negativen  Größen  in  die  Welt- 
weisheit einzuführen«,  —  einen  Versuch,  von  dem  er  sich  mehr 
verspricht  als  von  der  Anwendung  der  mathematischen  Methode 
auf  die  Philosophie.  Die  Kräfte,  die  man  in  der  mathematischen 
Betrachtung  als  positiv  und  negativ  bezeichnet,  sind  beide  voll- 
kommen real,  und  der  Begriff  von  Positivität  und  Negativität 
(der  sich  durch  die  Vertauschbarkeit  der  Vorzeichen  als  relativ 
erweist)  will  nur  sagen,  daß  die  Wirkung  dieser  Kräfte  sich  gegen- 
seitig aufhebt.  Das  ist  ein  ganz  anderes  Verhältnis  als  die 
logische  Aufhebung,  welche  durch  das  Zusammentreffen  kontra- 
diktorischer Bestimmungen  erfolgt  und  zum  reinen  Nichts  führt. 
Kant  exemplifiziert  diesen  Gedanken  sehr  glücldich  an  der  Körper- 
bewegung. Ein  Körper,  der  zugleich  sich  bewegt  und  sich  nicht 
bewegt,  ist  ein  Unding.  Aber  ein  Körper,  der  von  zwei  gleich- 
starken Kräften  nach  diametral  entgegengesetzten  Seiten  zugleich 
bewegt  wird,  ist  in  Ruhe.    In  dem  ersteren  Falle  haben  wir  das 


24  Kants  Entwicklung. 

Beispiel  der  logischen  Opposition,  in  dem  zweiten  Falle  dasjenige 
der  Realrepugnanz,  und  Kant  macht  darauf  aufmerksam,  daß 
sehr  viele  Begriffe,  welche  man  leicht  versucht  ist,  in  das  erstere 
Verhältnis  zu  setzen,  in  Wahrheit  zueinander  in  dem  zweiten 
stehen.  Lust  und  Unlust,  Haß  und  Liebe,  übel  und  gut,  Tadel 
und  Ruhm,  Häßlichkeit  und  Schönheit,  Irrtum  und  Wahrheit 
stehen  nicht  so  zueinander,  daß  das  eine  immer  nur  der  Mangel 
oder  das  Nichtvorhandensein  des  andern  wäre,  sondern  so,  daß 
es  eine  dem  andern  entgegengesetzte,  reale  und  nur  in  der  Ent- 
gegensetzung Negativ  zu  nennende  Kraft  ist.  Bedenkt  man,  welche 
Bedeutung  in  der  spinozistischen  Philosophie  die  metaphysische 
Reahtät  der  Negation  spielte,  welche  Wichtigkeit  in  der  ratio- 
nalistischen Erkenntnistheorie  die  Lehre  von  der  Negativität  des 
Irrtums  einnahm,  und  wie  sehr  sich  die  Theodicee  von  Leibniz 
auf  die  Negativität  der  Unlust  und  des  Bösen  stützte,  so  begreift 
man  die  Tragweite  des  Schriftchens,  dessen  Verfasser  sicher  das 
Vorurteil  des  Rationalismus  überwunden  haben  mußte.  Allein 
Kant  begnügt  sich  nicht  damit,  die  logische  und  die  reale  Oppo- 
sition genau  voneinander  zu  unterscheiden,  sondern  er  gründet 
darauf  den  weiteren  Schluß,  daß  das  analytische  Verfahren 
logischer  Begriffsentwicklung  zwar  für  die  Erkenntnis  der  logischen 
Opposition  selbstverständlich  kompetent  sei,  dagegen  das  Ver- 
hältnis der  realen  Opposition  nicht  aus  den  begrifflichen  Voraus- 
setzungen zu  entwickeln  imstande  sei,  und  so  führt  ihn  am  Schlüsse 
diese  Betrachtung  zu  einer  allgemeinen  Kritik  der  kausalen  Er- 
kenntnis überhaupt.  Hat  sich  gezeigt,  daß  der  Syllogismus  un- 
fähig ist,  zu  begreifen,  wie  es  kommt,  daß  die  eine  Kraft  die 
Folge  der  andern  aufhebt,  so  erweist  sich  schließlich,  daß  es 
ebensowenig  möglich  ist,  auf  lediglich  syllogistischem  Wege  »heraus- 
zuklauben«, daß  ein  Ding  auf  ein  anderes  eine  positive  Wirkung 
ausübe,  und  Kant  schließt  mit  einer  kurzen,  in  ihrer  begrifflichen 
Entwicklung  vollkommen  selbständigen  Andeutung  darüber,  (faß 
die  kausalen  Verhältnisse  sich  einer  Erkenntnis  auf  dem  analy- 
tischen Wege  der  Begriffsentwicklung  durchaus  entziehen. 

Wer  aber  eingesehen  hat,  daß  weder  die  "Existenz  noch  die 
Kausalität  begrifflich  erkannt  werden  können,  daß  die  Anwendung 
des  Satzes  vom  Widerspruch  und  desjenigen  vom  zureichenden 
Grunde  innerhalb  der  bloßen  Begriffsbewegung  fruchtlos  ist,  daß 


iMiil(jhu[)hic  uikI   iMullioiniilik.  25 

CS  also  ciiio  KikcniilMis  der  Wirklichkeit  aus  hloücn  Jit!;^rifffn  nicht 
^ebiMi  kann,  der  ist  kein  Schüler  der  ml  ionalistischeii  Metaphysik 
mehr,  und  der  iiiul]  überzeugt  sein,  daß  die  ^geometrische  Methode 
ein  Irrweg  dei  Metaphysik  ist.  Als  deshalb  Kant,  gleichzeitig^ 
mit  der  Abfassunj^  jener  beiden  Schriften,  eine  Jieantwortuii^  der 
Preisfrage  der  Berliner  iVivademie  nach  der  Evidenz  in  den  meta- 
physischen Wissenschaften  unternahm,  gab  er  als  seine  Unter- 
suchung »über  die  Deutlichkeit  der  (irundsätze  der  natiirlichea 
Theologie  und  Moral«  in  erster  Linie  eine  formelle  und  metho- 
dische Unterscheidung  zwischen  Philosophie  und  Mathe- 
matik. Wählend  er  für  die  Metaphysik  den  Charakter  einer 
analytischen  Wissenschaft  der  Begriffe  zu  dieser  Zeit  noch  fest- 
hält, hat  er  sich  klar  gemacht,  daß  die  Mathematik  ein  ganz 
entgegengesetztes  Verfahren  einschlägt.  Ihr  Wesen  ist  dasjenige 
der  synthetischen  Konstruktion,  und  diese  darf  sie  anwenden, 
weil  ihr  Objekt  die  räumlichen  Größen  bilden,  welche  sie  selber 
in  der  Anschauung  erzeugt.  An  dieser  Stelle  liegt,  vermutlich 
durch  eine  Art  von  Kontrastwirkung  entsprungen,  Kants  erste 
große  wissenschaftliche  Entdeckung  vor.  Es  ist  die  Einsicht,  daß 
die  Mathematik  keine  ^lalytisch  verfahrende  Wissenschaft  des 
Verstandes,  sondern  eine  sjnithetisch  verfahrende  Wissen- 
schaft der  Anschauung  ist.  In  gewisser  Weise  kehrt  Kant 
damit  zu  Descartes  zurück,  der  sich  wenigstens  des  synthetischen 
Charakters  des  mathematischen  Denkens  bewußt  geblieben  war, 
und  jedenfalls  tritt  Kant  damit  in  einer  für  seine  weitere  er- 
kenntnistheoretische Entwicklung  bestimmenden  W^eise  der  all- 
gemeinen Meinung  seines  Zeitalters  durchaus  entgegen.  Die  beiden 
Elemente  seiner  wissenschaftlichen  Bildung,  Mathematik  und  Phi- 
losophie, treten  zu  dieser  Zeit  am  weitesten  bei  ihm  auseinander 
und  erscheinen  in  durchgängigem  xVntagonismus.  Denn  jener 
Gegensatz  des  analytischen  und  des  synthetischen  Verfahrens  zieht 
noch  weitere  Folgen  nach  sich.  Die  Mathematik  geht  von  Defi- 
nitionen aus,  die  Philosophie  hat  sie  zu  suchen;  die  Mathematik 
behandelt  Größen,  w^elche  sie  selbst  in  der  Anschauung  konstruiert, 
die  Philosophie  Begriffe,  die  ihr  gegeben  sein  müssen.  Das  ist 
die  weiteste  Entfernung,  welche  Kant  je  von  den  Prinzipien  des 
Rationalismus  erreicht  hat ;  es  klingt  darin  der  Grundgedanke 
von    Crusius    an,     daß     eine     nach    Analogie     der    Mathematik 


■iBiflMII 


26  Kants  Entwicklung. 

konstruierende  Methode  für  die  Philosophie  deshalb  nicht  brauchbar 
sei,  weil  sie  eine  gegebene  Wirklichkeit  zu  erkennen  hat.  Den 
Ausgangspunkt  der  philosophischen  Erkenntnis  bilden  daher  für 
Kant  in  dieser  Schrift  nicht  die  Axiome  der  Wolffischen  Ontologie, 
sondern  vielmehr  die  gegebenen  Begriffe  der  Erfahrung ;  die  Phi- 
losophie ist  ihm  noch  immer  eine  Wissenschaft  aus  Begriffen, 
aber  nicht  mehr  aus  reinen  Begriffen,  sondern  aus  Begriffen  der 
Erfahrung,  und  es  hängt  damit  zusammen,  daß  er  um  diese  Zeit 
die  Lehren  des  englischen  Empirismus  mit  großer  Sympathie  er- 
griff und  persönlich  wie  auf  dem  Katheder  vielfach  auf  Locke, 
Shaftesbury,  Hutcheson  und  Hume  Rücksicht  nahm. 

Es  ist  viel  darüber  verhandelt  worden,  an  welcher  Stelle  seiner 
Entwicklung  und  in  welcher  Weise  die  englische  Philosophie 
und  besonders  Hume  auf  Kant  jenen  Einfluß  ausgeübt  haben, 
den  er  in  späteren  Jahren  wohl  etwas  überschwengHch  selbst 
anerkannt  hat.  Es  ist  namentlich  die  Frage,  ob  Kant  durch  die 
Lektüre  der  engHschen  Empiristen  dem  Rationalismus  entfremdet 
w^urde,  oder  ob  er  umgekehrt,  nachdem  er  in  anderer  Weise  an 
der  Lehre  des  Rationalismus  irre  geworden  war,  sich  der  ent- 
gegengesetzten Richtung  zuneigte.  Offenbar  ist  nun  die  Art,  in 
welcher  Kant  die  Unzulänglichkeit  des  RationaUsmus  hinsichtlich 
der  Erkenntnis  sowohl  der  Existenz  als  auch  der  Kausalität  in 
seinen  Schriften  der  sechziger  Jahre  darstellt,  eine  so  durchaus 
originelle,  daß  die  größere  Wahrscheinlichkeit  dafür  vorliegt,  er 
habe  sich,  wenn  auch  mit  Hilfe  der  mannigfachen  Opposition,  die 
in  Deutschland  selbst  gegen  Wolff  aufgetreten  war,  im  wesent- 
lichen doch  durch  eigene  Kraft  aus  den  Fesseln  des  Schulsystems 
befreit  und  dann  erst  dem  Empirismus  »Gehör  geschenkt«.  Er 
war  durch  die  eigene  kritische  Arbeit  auf  dieselben  Resultate 
geführt  und  schien  sich  eine  Zeitlang  mit  den  engHschen  Philo- 
sophen in  gewisser  Hinsicht  einstimmig  zu  sein.  Die  »zetetische« 
Auffassung  der  philosophischen  Methode,  wonach  sie  von  den  durch 
die  Erfahrung  gegebenen  Begriffen  allmählich  zu  den  höchsten 
Definitionen  aufsteigen  soll,  dieser  Baconismus  beherrschte  nicht 
nur  seine  Vorlesungen,  sondern  auch  seine  Schriften  und  besonders 
auch  die  Behandlung  der  moralischen  und  ästhetischen  Probleme 
in  den  »Beobachtungen«.  Er  war  in  Form  und  Inhalt  auf  dem 
freien  und  beweglichen  Standpunkte  der  weltmännischen  Philosophie 


.Motu|»li)siHcl»c8  HodürrniH.  27 

ani^ekoiimu'ii.  dci-  sich  seine  eiLM-iie  Lehre   währeiul  dieser  Zeit  in 
ziiiioluiiemleiii  IMiilJc  iiniihiielte. 

liis  zu  (li(,  (  Ml  INiiiktc  ist  die  Entwicklun;^  Kants  verliältnis- 
niäl3i<i;  cinliieh  und  durchsic'hti«i;;  von  hier  an  ;iber  wird  .sie  selir 
bald  außerordentlich  viel  verwickelter  und  undurclisichti^er.  Schon 
die  Preisschrift  zeigt,  daß  Kaut  dem  enj^lischen  Knipirisnius  niemals 
ohne  eine  gewisse  Jleserve  beigetreten  ist.  Die  Erkenntnistheorie, 
welche  er  in  dieser  Schrift  entwickelt,  ist  fast  in  derselben  Weise 
initertig  und  widerspruchsvoll,  wie  es  diejenige  von  Crusius  immer 
geblieben  war.  Einen  gewissen  Rest  von  Kationalisnms  hat  Kant 
auch  in  diesem  äußersten  Stadium  immer  bewahrt,  und  dieser 
besteht  in  der  Überzeugung,  daß  mit  den  gegebenen  Begriffen  der 
Erfahrung  die  letzten  x\ufgaben  der  Erkenntnis  nicht  gelöst  werden 
können,  wenn  man  nicht  gewisse  »unauflöshche«  Begriffe  und 
unauflösliche  Axiome  hinzunimmt.  Über  deren  Stellung  zu  den 
Begriffen  der  Erfahrung,  über  die  Art  ihres  Ursprungs  und  ihrer 
Anwendung  ist  Kant  während  dieser  Übergangszeit  offenbar  durch- 
aus noch  nicht  im  Idaren.  Und  daher  ist  der  Eindruck  dieser 
prinzipiellen  Schrift  verhältnismäßig  unsicher  und  vielfacher 
Deutungen  fähig.  Bemerkenswert  aber  ist  hauptsächlich  der 
Zweck,  um  deswillen  Kant  den'^Erfahrungsbegriffetf  zur  Ergänzung 
diese ^unauflösHchen  Beariffe^  zur  Seite  stellen  will.  Ohne  sie  würde 
unser  Denken  niemals  den  Kreis  der  endlichen  und  sinnlichen 
Dinge  zu  überschreiten  imstande  sein.  Nur  mit  Hilfe  dieser  un- 
auflöslichen Begriffe  lassen  sich  die,  Grundsätze  der  natürlichen 
Theologie  und  Moral  in  wissenschaftlicher  Weise  feststellen,  und 
diese  Feststellung  anderseits  galt  Kant  um  diese  Zeit  noch  als  die 
letzte  und  höchste  Aufgabe  der  Philosophie.  Er  erw^artete  und 
verlangte  von  ihr  die  wissenschaftliche  Begründung  der 
religiösen  und  moralischen  Überzeugung,  welche  er  als 
das  Unerschütterlichste  in  sich  trug.  In  diesem  Sinne  war  er  »in 
die  Metaphysik  verliebt«  und  hoffte  er  eine  Methode  der  Meta- 
physik zu  finden,  vermöge  deren  sie  ohne  die  willkürlichen  An- 
nahmen der  schulmäßio;en  Ontologie  aus  der  Erfahruno-  heraus 
jenen  Beweis  leisten  könnte.  Offenbar  aber  hatte  er,  wie  es  auch 
aus  seiner  Korrespondenz  mit  Lambert  hervorgeht,  über  den 
Charakter  jener  unauflöslichen  Begriffe  und  die  Methode  ihrer  Ver- 
wertung zu  dieser  Zeit  noch  durchaus  unbestimmte  Vorstellungen. 


'x, 


28  Kants  Entwicklung. 

Während  er  aber  so  dem  Gedanken  einer  metaphysischen  Methode 
nachging,  weiche  die  Grundlage  für  die  religiöse  und  moralische 
Überzeugung  gewähren  sollte,  griff  allmählich  eine  ganz  entgegen- 
gesetzte Strömung  in  seinem  Geiste  Platz,  und  deren  Ursprung 
darf  man  mit  Recht  in  einem  ausländischen  Einflüsse  suchen. 
Kant  war  einer  der  ersten  und  sein  Leben  lang  einer  der  auf- 
richtigsten Verehrer  von  Rousseau.  Wenn  er  selbst  sich  in  meta- 
physischen Grübeleien  erging,  ohne  zu  dem  gewünschten  Ziele  der 
theoretischen  Begründung  absoluter  Gewißheit  zu  kommen,  und 
wenn  er  dabei  beobachtete,  wie  die  metaphysischen  Aasichten  sich 
in  ihm  gewandelt  hatten,  ohne  daß  doch  seine  moralische  und 
seine  religiöse  Überzeugung  ins  Wanken  gekommen  war,  so  mußte 
ihn  der  Emile  auf  das  tiefste  ergreifen.  Hier  fand  er  Moral  und 
Religiosität  aus  den  Wirren  des  metaphysischen  Zankes  heraus- 
gehoben und  auf  die  Basis  des  natürlichen  Gefühls  gestellt.  Hier 
fand  er,  was  ihn  auch  der  Blick  in  seine  Umgebung  lehrte,  daß 
moralische  und  religiöse  Überzeugung  weder  ein  Privilegium  des 
wissenschaftlichen  Denkens  sind,  noch  durch  die  metaphysische 
Spekulation  befestigt  und  erhalten  werden.  Der  freie  Ausblick  auf 
die  Weite  des  menschlichen  Lebens,  den  er  durch  die  empiristische 
Richtung  gewonnen  hatte,  machte  ihn  diesen  Einflüssen  noch  zu- 
gänglicher. Und  so  reifte  in  ihm  die  Meinung,  daß  die  Metaphysik 
zur  Begründung  der  Moralität  und  der  Religion  weder  nötig  noch 
nützlich  sei.  In  ähnlicher  Weise  wie  Bayle  und  Voltaire,' dessen 
Schriften  Kant  gleichfalls  eifrig  las,  wurde  er  durch  sein  skeptisches 
Verhalten  gegen  die  Metaphysik,  in  der  er  aufgewachsen  war,  dazu 
geführt ,  Metaphysik  imd  moralisch-religiöses  Leben'  als  zwei  ge-^ 
schiedene  und  zu  scheidende  Gebiete  aufzufassen.  Diese  Scheidung 
hat  er  dann,  wenn  auch  in  einer  außerordentlich  vertieften  Form, 
in  seinem  eigenen  Systeme  zur  Geltung  gebracht.  Aber  ihre  Keime 
sind  bereits  in  dieser  Phase  seiner  Entwicklung  zu  suchen.  Schon 
während  er  sich  abmühte,  den  bisherigen  von  seiner  Kritik  zerstörten 
Beweisen  von  dem  Dasein  Gottes  noch  einen  neuen  »  einzig  möglichen 
Beweisgrund«  hinzuzugrübeln,  den  er  später  stillschweigend  hat 
fallen  lassen,  fügte  er  hinzu,  es  sei  durchaus  nötig,  daß  man  vom 
Dasein  Gottes  „  überzeugt  sei,  aber  nicht  ebenso  nötig,  daß  man 
es  beweise.  Von  dieser  Äußerung  des  Jahres  1763  ist  zwar  ein 
langer  Weg,  aber  immer  in  derselben  Richtung,  bis  zu  jener  Er- 


Muta])liyHik  und   Morcil.  29 

kliiruii^',  womit  er  ii\  der  Vorrode  zur  zweiten  Auflage  der  Kritik  der 
reinen  Vernunft  den  Zweck  dieses  Werkes  dahin  anj^^ab,  er  habe  das 
Wissen  fortriiunien  müssen,  inn  IMatz  für  den  (ilaubcn  zu  gewinnen. 
Je  mein  sich  diese  Trenn un^^  deH  thcoretiHchen  uihI  dcH 
praktischen  Elements  in  Kants  Überzeugung  befestigte,  um  so 
wertloser  mußten  ihm  seine  eigenen  metaphysischen  Spekulationen, 
mußte  ihm  die  Metaphysik  selbst  erscheinen.  Wenn  sie  das,  was 
er  immer  für  ihren  wesentlichen  Zweck  gehalten  liatte,  schließlich 
doch  nicht  zu  leisten  vermochte,  —  was  war  sie  dann  noch  wert? 
Was  enthielt  sie  dann  anders  als  nutzlose,  törichte  Grübeleien? 
Dieser  Antagonismus  zwischen  seinen  eigenen  metaphysischen 
Bestrebungen  und  der  Rousseauschen  Überzeugung  brachte  Kant 
in  eine  geteilte  und  fast  verzweifelte  Stimmung,  und  dieser  machte 
er  durch  eine  seiner  geistreichsten  und  charakteristischsten  Schriften 
gewissermaßen  gewaltsam  Luft.  Gerade  in  seinem  metaphysischen 
Bedürfnis  nach  dem  Übersinnlichen  hatte  er  begierig  zu  den  Ent- 
hüllungen gegriffen,  die  ein  Führer  des  damaligen  Spiritismus, 
der  schwedische  Geisterseher  Swedenborg,  über  die  Geheimnisse 
des  Jenseits  versprach.  Als  er  dann,  enttäuscht  und  ärgerhch  »die 
Träume  dieses  Geistersehers  durch  die  Träume  der  Metaphysik 
erläuterte «,  als  er  mit  glänzendem  Witz  die  luftige  Nichtigkeit  der 
gelehrten  Spekulation  geißelte,  da  waren  es  eigene  Erfahrungen,  die 
er  in  diesem  Selbstbekenntnis  niederlegte,  und  eigene  Bestrebungen, 
welche  sein  Spott  traf.  Darum  aber  war  es  auch  kein  reiner 
Humor,  der  in  dieser  Schrift  waltete.  Wer  zwischen  ihren  Zeilen 
zu  lesen  versteht,  der  muß  herausfühlen,  welchen  schweren  Kampf 
es  den  Verfasser  gekostet  hat  und  noch  kostet,  auf  jenes  geliebte 
Ziel  der  m^etaphysischen  Spekulation  zu  verzichten,  und  wie  er 
nur  darum  ihr  seine  bittern  Vorwürfe  entgegenschleudert,  weil  sie 
ihm  seinen  innigsten  Wunsch  nicht  erfüllt  hat.  Aber  mag  er 
auch  damit  in  das  eigene  Fleisch  schneiden,  in  vollem  Ernste 
macht  er  hier  den  Schnitt  zwischen  ^Metaphysik  und  Moral,  und 
während  er  für  die  letztere  an  den  gesunden  Menschenverstand 
und  an  die  Lebensweisheit  des  »Candide«  appelliert,  verweist  er 
die  erstere  aus  dem  Reiche  des  Übersinnlichen  und  Unerfahrbaren. 
Die  Bescheidung  der  theoretischen  Philosophie  auf  das  Gebiet  der 
^Erfahrung  als  einer  der  Grundsteine  von  Kants  persönlicher  Über- 
zeugung ist  damit  vorläufig  gewonnen. 


30  Kants  Entwicklung. 

Was  sollte  aber  aus  der  Metaphysik  werden,  wenn  sie  jene 
»Lieblingsgegenstände«  der  Aufklärungsphilosophie  nicht  mehr 
behandeln  durfte,  wenn  ihr  der  Weg  von  der  Erfahrung  zu  dem 
Unerfahrbaren  versperrt  war?  Auch  darin  hatte  der  englische 
Empirismus  und  namentlich  Hume  den  Weg  gewiesen.  Wenn 
die  Metaphysik  nicht  mehr  die  Erfahrung  überschreiten  und  wenn 
sie  doch  auch  nicht  in  die  besonderen  Erfahrungswissenschaften 
sich  verlaufen  soll,  so  bleibt  ihr  nur  übrig,  die  Tatsache  derJEr-^ 
kenntnis  selbst  zum  Gegenstande  ihrer  Untersuchung  zu  machen. 
Die  Metaphysik,  die  keine  Lehre  von  der  übersinnlichen  Welt  sein 
darf,  kann  nur  Erkenntnistheorie  werden.  An  die  Stelle  der  Meta- 
physik der  Dinge  tritt  die  Metaphysik  des  »Wissens«.  Die  theo- 
retische Philosophie  wird  Wissenschaftslehre,  und  da  dieser  ganze 
Gedankenprozeß  auf  der  Überzeugung  beruht,  daß  der  mensch- 
lichen Erkenntnis  die  theoretische  Begründung  von  Moral  und 
Religion  versagt  ist,  so  wird  die  Metaphysik  eine  Wissen- 
schaft von  den  Grenzen  der  menschlichen  Erkenntnis. 
Wer  darin  den  Schwerpunkt  des  Kantischen  Kritizismus  sieht, 
muß  dessen  Ursprung  bis  in  das  Jahr  1766  zurück  verlegen. 

Mit  dieser  Ansicht  rechtfertigte  sich  vor  Kant  sein  fortdauerndes 
Bemühen,  die  Methode  der  Metaphysik  sicherzustellen  und  zu  ver- 
bessern. Mochte  sie  nun  auch  nicht  mehr  dem  Zwecke  dienen, 
den  er  ihr  einst  gesetzt,  so  waren  doch  gerade  die  Untersuchungen 
über  die  Methode  wertvoll  für  die  Theorie  von  dem  Wesen  und 
den  Grenzen  der  menschlichen  Erkenntnis,  in  die  er  jetzt  den 
Schwerpunkt  der  theoretischen  Philosophie  verlegte.  Seine  brief- 
lichen Äußerungen  an  Lambert  lassen  erkennen,  wie  sehr  ihm 
die  Verbesserung  der  Methode  der  Metaphysik  am  Herzen  lag, 
und  wie  wenig  ihn  die  Versuche  förderten,  die  jener  dazu  gemacht 
hatte.  Daß  die  »Erfahrung«  dabei  mitzusprechen  habe,  aber 
allein  dazu  nicht  genüge,  daß  vielmehr  »unauflösliche«,  d.  h.  ur- 
sprüngUch  gültige  Begriffe  dazu  erforderlich  seien,  darüber  waren 
beide  Männer  einig,  aber  darauf  beschränkt  sich  auch  die  Über- 
einstimmung. Lambert  betrachtete  diese  Elementarbegriffe  unter 
dem  Leibnizischen  Gesichtspunkte  der  primae  veritates,  d.  h.  als 
sachlich  bestimmte  Urwahrlieiten  und  suchte  vergeblich  nach 
einem  Prinzip  zu  ihrer  vollständigen  Darstellung.  Kants  per- 
sönlich liebenswürdige,  aber  inhaltlich  kühle  Aufnahme  dieser  Ge- 


I'iinwirkuiifx  villi    \jCti\>u\/..  31 

(laiikcii  liil.il,  wciiii  man  <jjonau  zusieht,  nkoiincu,  daß  er  diesen 
\Ve<^  für  weiiiji,  aussichtsvoll  hicll.  Kr  seihst  schlug  einen  andern 
ein,  der  die  unaufKislicluMi  l>('i.'riff('  iiiclil  im  Inhalte,  sondern  in 
der  Fpi'ni  der  Erfahruni,^  suchte. 

In  der  Auffinduni;  dieses  Prinzips  ist  Kant  offenhar  am  ijieisten 
durch  das  erkenntnistheoretische  Hauptwerk  von  Leibniz  ge- 
fordert worden,  das  um  diese  Zeit  bekannt  wurde.  Der  gewaltige 
Eindruck  der  Nouveaux  essais  mußte  ihn  in  CJedankenrichtungen 
zuriickfiihrcn,  denen  er  in  der  Zeit  seines  Empirismus  fremd  und 
fremder  geworden  war.  Die  Nouveaux  essais  beliandelten  ja 
gerade  die  Frage,  wie  die  sinnliche  Erfalirung  zur  Vernunft- 
erkenntnis gesteigert  wTrdcn  kann.  Leibniz  hatte  zu  zeigen  ge- 
suclit,  daß  einerseits  jene.,unaufl()sHchen  Begriffe  und  Grundsätze, 
mit  denen  der  Geist  den  Inhalt  der  Erfahrung  in  seiner  Erkenntnis 
durchsetzt,  nichts  anderes  enthalten,  als  das  Bewußtsein  der  Ge- 
setze der  geistigen  Funktion  selbst,  und  daß  anderseits  der  zu 
bearbeitende  Stoff  der  geistigen  Form  nicht  als  ein  Fremdes 
gegenübersteht,  sondern  diese  bereits  in  unbewußter,  dunkler 
oder  verworrener  Gestalt  in  sich  trägt.  Diese  Iheorie  war  die 
tiefste  Form,  in  welcher  Leibniz  den  Gegensatz  des  Rationalismus 
und  des  Empirismus  dahin  zu  versöhnen  gesucht  hatte,  daß  er 
die  apriorische  Erkenntnis  der  Vernunft  von  ihren  eigen-^n  Gesetzen 
und  die  aposteriorische  Erkenntnis  der  sinnlichen  Erfahrung  in 
eine  graduelle  Entwickluns^sreihe  brachte.  Für  Leibniz  schloß  sich 
daran  die  weitere  erkenntnistheoretische  Annahme,  daß  die  niedere 
Stufe  dieser  Entwicklung,  die  sinnliche  Erfahrung,  die  Dinge  nur 
in  ihrer  Erscheimmgsweise ,  daß  dagegen  die  höhere  Stufe,  die 
klare  und  deutliche  Vernunfterkenntnis,  uns  die  Gesetzmäßigkeit 
der  Dinge,  wie  sie  an  sich  sind,  zum  Bewußtsein  bringe.  Mit 
diesem  Gegensatze  hing  der  andere  zusammen,  daß  Vernunft- 
erkenntnis eine  notwendige  und  allgemeine,  daß  dagegen  sinnliche 
Erkenntnis  immer  nur  eine  zufällige  und  besondere  Geltmig  zu 
beanspruchen  habe.  Wenn  sich  Kant  in  diese  Gedankenw^elt  hinein- 
arbeitete, so  gab  sie  ihm  nach  einer  Richtung  eine  wertvolle  psycho- 
logische Erklärung  des  Gegensatzes  von  Form  und  Inhalt  der  Er- 
kenntnis. Die  Formen,  die  nur  Verhältnisse  sind,  in  welche  der 
Inhalt  durch  das  Denken  tritt,  durften  als  die  bewußt  gewordenen 
Funktionsgesetze  der  Intelligenz  gelten,  und  er  befand  sich  mit 


32  Kants  Entwicklung. 

Leibniz  in  Übereinstimmung,  wenn  er  daran  festhielt,  daß  diese 
Formen  im  menschliclien  Geiste  nur  an  einem  erfahrungsmäßigen 
Inhalt  als  die  Funktionen  von  dessen  Verarbeitung  zum  Bewußtsein 
kommen.  Hatte  daher  Leibniz  von  einem  virtuellen  Eingeborensein 
der  Ideen  (im  Gegensatze  zur  Lehre  der  Cartesianer  und  der  Neu- 
platoniker)  gesprochen,  so  überzeugte  sich  Kant,  daß  die  »un- 
auflöslichen« Begriffe,  die  in  der  Metaphysik  gesucht  werden 
sollten,  nur  Verhältnisbegriffe  und  Funktionsformen  der  Ver- 
nunft sind,  vermöge  deren  die  Synth esis  des  Erfahrungsstoffes 
vollzogen  und  zum  Bewußtsein  gebracht  wird.  Die  Erfahrung 
erscheint  ihm  danach  als  eine  Synthesis,  deren  Inhalt  a  posteriori 
durch  die  Sinnlichkeit,  deren  Form  a  priori  durch  die  Vernunft 
gegeben  ist. 

Diese  Verstärkung,  welche  das  rationalistische  Element  in 
Kants  Denken  durch  den  Einfluß  von  Leibniz  erfuhr,  wäre  viel- 
leicht dazu  angetan  gewesen,  ihn  vollständig  auf  die  Seite  des 
früheren  Rationalismus  zurückzuziehen,  wenn  jene  Erkenntnis- 
theorie nicht  mit  seinen  Überzeugungen  vom  Wesen  und  Werte 
der  Mathematik  in  einem  weittragenden  Widerspruche  gestanden 
hätte.  Mit  Hilfe  der  Unterscheidung  von  "Dingen  an  sich  und 
Erscheinungen  erkannte  die  Leibnizische  Lehre  den  Empirismus, 
der  jetzt  bei  Kant  schon  einen  so  bedeutenden  Raum  einnahm, 
zwar  an,  aber  doch  nur  in  der  Weise  und  mit  der  Beschränkung, 
daß  die  Erfahrung  eine  zufällige  Erkenntnis  der  sinnlichen  Er- 
scheinungsweise der  Dinge  enthalte.  Hatte  Kant  in  seiner  dem 
Empirismus  nahestehenden  Periode  sich  vollkommen  klar  gemacht, 
daß  es  eine  Erkenntnis  von  Tatsachen  und  ihrem  kausalen  Zu- 
sammenhange durch  bloße  Begriffe  nicht  geben  kann,  so  war  das 
auch  die  Ansicht  von  Leibniz;  aber  für  Leibniz  waren  deshalb 
auch  die  »Tatsachen«  nichts  als  die  sinnliche  Erscheinungsform 
der  Dinge,  während  deren  wahres  metaphysisches  Wesen  ihm  nm- 
durch  die  reine  Vernunfterkenntnis  zugänglich  galt.  So  beruhte 
die  ganze  Leibnizische  Erkenntnistheorie  auf  der  Grundannahme, 
daß  Vernunfterkenntnis  mitlnotwendiger  und  allgemeiner  Erkenntnis 
und  mit  Erkenntnis  des  Wesens  der  Dinge,  umgekehrt  aber  sinn- 
liche Erkenntnis  mit  zufälliger  Erkenntnis  und  mit  Erkenntnis 
der  Erscheinung  identisch  sei.  Wenn  Kant  gegen  die  zweiten 
Glieder  dieser  Identifikation  nichts  einzuwenden  fand,   so  wurde 


Vorfltniul  lind  Sinnlirhkoit,.  3H 

cv  lim  so  inolir  stiitzi<j;  in  Riicksiclit  dor  crston.  Und  an  dicHor 
Stelle  seiner  Eniwicklung  nun  war  oh,  wo  die  Mathematik  von 
entscheidender  l^edeutun«];  für  ihn  winde.  Sic  füpjto  sich  in  das 
Schema  der  Leibnizsclien  Krkenntnislehre  so  lan^e  ein,  als  man 
sie  für  eine  analytisch  verfahrende  Wissenschaft  des  reinen  Ver- 
standes hielt,  wie  das  eben  in  der  pjesamten  vorkantischen  Pliilo- 
sophie  geschah.  Nun  aber  hatte  sich  Kant  überzeugt,  daß  die 
Mathematik  eine  anschauliche  Wissenschaft  der  Sinnlichkeit  sei, 
und  so  bildete  für  ihn  die  Notwendigkeit  und  All<^^emcin^ülti^keit 
ihrer  Erkenntnisse,  an  der  niemand  und  am  allerwenigsten  er 
selbst  zweifelte,  eine  negative  Instanz  gegen  die  Leibnizsche  Er- 
kenntnislehre. Sie  lieferte  den  Beweis,  daß  es  sinnliche  Erkenntnis 
gibt,  welche  vollkommen ,,  klar  und  deutlich  ist,  y  und  auf  der 
anderen  Seite  bildete  die  Verworrenheit  der  metaphysischen  Systeme 
den  Beweis,  daß  ein  Denken,  das  lediglich  mit  reinen  Begriffen 
zu  operieren  glaubt,  durchaus  nicht  immer  den  Ansprüchen  der 
Klarheit  und  Deutlichkeit  genügt. 

Wollte  Kant  nun  seine  eigene  Ansicht  vom  Wesen  der  Mathe- 
matik und  doch  zugleich  die  rationalistische  Auffassung  von  Leibniz, 
welche  ihm  in  Rücksicht  auf  die  Erkenntnis  der  Dinge  an  sich 
eingeleuchtet  hatte,  festhalten,  so  blieb  nichts  anderes  übrig,  als 
jene  Annahme  seines  großen  Vorgängers  umzugestalten,  wonach 
die  Sinnlichkeit  sich  zum  Verstände  als  die  niederere,  unklarere 
und  verworrenere  zu  der  höheren,  klareren  und  deutlicheren  Er- 
kenntnisstufe verhalten  sollte.  Während  also  für  Leibniz  Sinnlich- 
keit und  Verstand  nur  zwei  verschiedene  Entwicklungsstufen  des- 
selben einheitlichen  Erkenntnisvermögens  gewesen  waren,  so  kam 
Kant  dem  Gedanken  auf  die  Spur,  ob  nicht  in  beiden  zwei  grund- 
verschiedene Tätigkeitsweisen  des  erkennenden  Geistes  vorliegen 
sollten.  Wenn  er  Sinnlichkeit  und  Verstand  als  zwei  entgegen- 
gesetzte Erkenntnisweisen  betrachtete  und  die  schärfste  Sonderung 
ihrer  Erkenntnisgebiete  verlangte,  so  schien  sich  zunächst  seine 
eigene  Überzeugung  von  der  Mathematik  mit  der  Leibnizischen 
Lehre  vertragen  zu  wollen.  Wendete  man  nämlich  dann  auf  beide 
den  Unterschied  von  Form  und  Inhalt  des  Denkens  an,  so  konnte 
man  auf  beiden  Gebieten  den  Inhalt  als  ein  Zufälliges  und  Tat- 
sächliches, die  Form  dagegen  als  ein  Notwendiges  und  Allgemeines 
ansehen.     Alles  kam  daher  für  Kant  darauf  an,   ob  man  in  der 

Windelband,  Gesch.  d.  ii.  Philos.    H.  3 


^imm 


34  Kants  Entwicklung. 

Sinnlichkeit  ebenso  reine  Formen  zu  entdecken  vermögen  würde, 
wie  es  die  Leibnizsche  Erkenntnistheorie  binsicbtlicli  des  Verstandes 
tat.  Wenn  Kant  solche  »Formen  der  Sinnlichkeit«  suchte,  so 
konnte  es  nur  an  der  Hand  der  Mathematik  geschehen,  deren 
Notwendigkeit  und  Allgemeingültigkeit  ja  eben  dadurch  begründet 
werden  sollte.  In  diesem  Zusammenhange  der  Gedanken  machte 
Kant  die  einschneidendste  seiner  Entdeckungen.  Es  ergaben  sich 
ihm  nämlich  die  beiden  reinen  Anschauungsformen,  Raum 
und  Zeit,  jener  dem  geometrischen,  diese  (als  das  Element  des 
sukzessiven  Zählens)  dem  arithmetischen  Teile  der  mathematischen 
Gesetzmäßigkeit  zugrunde  liegend.  Denkt  man  sich  eine  Er- 
kenntnistheorie von  diesem  Standpunkt  aus  durchgeführt,  so 
beruht  sie  auf  der  Kreuzung  der  beiden  Gegensätze  von  Sinnlich- 
keit und  Verstand  einerseits,  von  Inhalt  und  Form  anderseits, 
und  sie  überträgt  dann  das  Prinzip  von  Leibniz'  Nouveaux  essais 
auch  auf  die  Sinnlichkeit.  Es  gibt  dann  in  Gestalt  der  Emp- 
findung einen  zufälligen  Inhalt  der  Sinnlichkeit,  welcher  lediglich 
eine  Erscheinungsform  der  Dinge  darstellt;  es  gibt  reine  Formen 
der  Sinnlichkeit,  Raum  und  Zeit,  welche  mit  ihren  mathematischen 
Gesetzen  ein  adäquater  Ausdruck  der  absoluten  Wirklichkeit  sind; 
es  gibt  einen  aus  den  sinnlichen  Anschauungen  durch  das  logische 
Denken  gewonnenen  empirischen  Inhalt  der  Verstandeserkenntnis, 
der  natürlich  auch  wieder  nur  die  Erscheinung  der  Dinge  spiegelt; 
es  gibt  endlich  reine  Formen  der  Verstandeserkenntnis,  in  denen 
sich  der  metaphysische  Zusammenhang  der  Dinge  an  sich  dar- 
stellt. Eine  solche  Auffassung  arbeitete  alle  Richtungen  der  bis- 
herigen Erkenntnistheorie  ineinander,  sie  erkannte  die  Subjek- 
tivität der  sinnlichen  Empfindungen  an,  sie  gab  dem  Empirismus 
so  weit  Raum,  als  er  eine  verstandesmäßige  Bearbeitung  dieser 
subjektiven  Erscheinungen  beanspruchte,  sie  begründete  ^^äeder 
eine  Metaphysik  durch  reine  Verstandesbegriffe,  und  indem  sie 
mit  den  letzteren  die  reinen  Formen  der  Sinnlichkeit,  Raum  und 
Zeit,  parallel  behandelte,  gab  sie  auch  dem  Newtonschen  Grund- 
gedanken einer  metaphysischen  Realität  von  Raum  und  Zeit  eine 
Stelle  im  System  der  Erkenntnistheorie.  Betrat  Kant  diesen  Stand- 
punkt, so  stellte  er  sich  vermöge  seiner  neuen  Unterscheidung 
von  Sinnlichkeit  und  Verstand  als  zweier  nicht  graduell,  sondern 
prinzipiell  verschiedener  Erkenntnisweisen  nicht  nur  der  Leibnizi- 


Sinnliche  uiul  ü))crHinnliclio  Wolt.  HO 

sehen  Lehre    von    der  Phänoinenalität  de«  Raumes,    .sondern   vor 
aHom    seiner    ei<venen    früheren    naturphilosophischen  Theorie  von 
dem    Vorhiütnis   des    Körpers    zum  llainne   diametral    gegenüber. 
Als  Anzeichen    für   diese  Phase   seiner  Entwicklun«^    besitzen  wir 
nur   das  Schriftchen  »Vom  ersten  Grunde   des  Unterschiedes  der 
Gegenden  im  Räume«  aus  dem  Jahre  17()8.     In  diesem  entwickelt 
Kant  an  der  Hand  des  Problems  der  symmetrischen  Körper,  daß 
es  Unterscliiede  im  Wesen    der  K()rper   Lubt,    die  ledifi^lich  räum- 
licher Natur  sind,  und  daß  diese  Unterschiede  niemals  begrifflicli 
definiert,  sondern  immer  nur  anschaulich  bezeichnet  werden  können. 
Daraus  folgt  in  objektiver  Beziehung,  daß  nicht,  wie  Kant  früher 
mit  Leibniz   gelehrt   hatte,    die  Körper  erst  den  Raum,    sondern 
vielmehr   der   Raum   die   Körper   möglich    macht,   daß   also   der 
Raum"  eine   der   Möglichkeit   der  Körper   überhaupt   zu- 
grunde  liegende  Realität   ist:   in   subjektiver  Beziehung   da- 
gegen  ergibt   sich,   daß   unsere  Erkenntnis   dieses  Raumes   nicht 
begrifflicher,    sondern  anschaulicher  Natur   ist.     Das  Newtonsche 
Element  steht  wieder  stark  und  kräftig  neben  dem  Leibnizischen. 
Aber  Kant  ist  auch  dabei  nicht  stehen  geblieben,  sondern  hat 
sich  von  diesem  Standpunkt  aus  gleichmäßig  über  beide  Elemente 
erhoben.     Was    ihn  weiter  geführt  hat,    sind  offenbar  wesentlich 
zwei  Gedankenreihen  von  sehr  verschiedener  Richtung.   Zunächst 
vertiefte   er   sich  immer  energischer  in  das  von  ihm  neu  formu- 
lierte Verhältnis  von  Sinnlichkeit  und  Vernunft,  und  dabei  erfuhr 
dieses   eine   derartige   Ausbildung   und   Umbildung,    daß   es   den 
Charakter  eines  Wertverhältnisses  annahm.    Schon  bei  Leibniz 
deckte  sich  ja  dieser  Gegensatz  mit  demjenigen  der  sinnlichen  und 
der  übersinnlichen  Welt,  und  wenn  Kant  wieder  die  Möglichkeit 
der  rationalistischen  Erkenntnis  der  Dinge  an  sich  energischer  ins 
Auge   faßte,   so   regten   sich   in  ihm  alle  Triebe,    welche  auf  die 
moralische  und  religiöse,  d.  h.  auf  die  übersinnliche  Bestimmung 
des  Menschen   hinwiesen,    und   er  warf  wiederum   sein  Auge  auf 
die  Metaphysik,    ob   sie   ihm  nicht   doch  noch  den  wissenschaft- 
lichen  Beweis    für    den   Inhalt   seiner   praktischen    Überzeugung 
geben  könnte.    Zugleich  aber  nahm  diese  Überzeugung  selbst  im 
Zusammenhange  mit  jenen  theoretischen  Überlegungen  eine  schärfere 
und  eigenartigere  Gestalt  an.    Hatte  er  nämlich  auf  dem  Gebiete 
der   Erkenntnis   eingesehen ,   daß   der   allmähliche  Übergang   der 

3* 


36  Kants  Entwicklung. 

sinnlichen  in  die  verstandesmäßige  Erkenntnis  ein  Irrtum  des 
bisherigen  Rationalismus  und  durch  die  scharfe  Sonderung  zwischen 
beiden  zu  ersetzen  sei,  so  galt  die  gleiche  Konsequenz  auch  für 
das  praktische  Leben.  Die  empiristische  Moralphilosophie,  welche 
er  selbst  in  den  »Beobachtungen«  noch  vertreten  hatte,  leitete 
die  moraUschen  und  religiösen  Gefühle  und  Handlungen  aus  der 
allmählichen  Veredlung  der  sinnlichen  Triebe  her.  Dieser  Ansicht 
konnte  Kant  mit  seiner  neuen  psychologischen  Auffassung  um 
so  weniger  beitreten,  als  gleichzeitig  in  seinem  ganzen  persön- 
lichen Wesen  eine  rigorosere  Stimmung  Platz  griff,  worin  er  die^ 
MoraUtät  dem  ganzen  natürlichen  Triebsystem  in  der  schärfsten 
Weise  entgegensetzen  zu  müssen  glaubte.  So  bestimmte  seine 
praktische  Überzeugung  auch  sein  theoretisches  Denken  schon 
hier:  er  mußte  von  ihr  aus  den  sinnlichen  Trieb  und  den  ver- 
nünftigen Trieb  als  grundverschiedene  und  ebendeshalb  antagoni- 
stische Formen  der  praktischen  Natur  des  Menschen  ansehen. 
Jener  persönliche  Rigorismus,  der  mit  den  Jahren  mehr  und 
mehr  in  Kant  zur  Geltung  gekommen  war,  trat  nun  hinzu,  um 
die  erkenntnistheoretische  Ansicht  des  prinzipiellen 
Gegensatzes  von  Sinnlichkeit  und  Vernunft  zur  inner- 
sten Überzeugung  des  Mannes  zu  stempeln,  und  es  kam  ihm 
gewiß  aus  tiefster  Seele,  wenn  er  an  Lambert  schrieb,  er  habe  nun 
nach  mancherlei  »Umkippungen«  den  Punkt  gewonnen,  von  dem 
er  nie  wieder  weichen  werde.  Aber  mit  dieser  praktischen  Über- 
zeugung mußte  dann  die  theoretische  Hand  in  Hand  gehen, 
daß  die  sinnliche  und  die  übersinnliche  Welt  nicht  gleichen  W^ertes 
auch  für  die  Erkenntnis  sein  dürften.  Galt  der  sinnliche  Trieb 
des  Menschen  als  Gegner  des  sittlichen,  so  konnte  auch  die  sinn- 
liche Erkenntnis  nicht  eine  Erkenntnis  des  wahren  Wesens  der 
Dinge  sein.  Es  war  die  eigene  Natur  Kants,  es  war  sein  per- 
sönlicher Charakter,  welcher  ihn  in  den  Piatonismus  der  Lcibnizi- 
schen  Lehre  zurückzog  und  ihn  die  Lehre,  daß  die  reinen  Formen 
der  Sinnlichkeit  ebenso  wie  diejenigen  des  Verstandes  die  absolute 
metaphysische  Wirklichkeit  erkennen,  wieder  aufgeben  ließ. 

Eine  andere  Überlegung  trat  hinzu.  Über  die  Gegensätze, 
welche  hinsichtlich  der  räumlichen  Probleme  zwischen  Newton 
und  Leibniz  obwalteten,  hatte  Kant  sich  früher  durch  des  letzteren 
Unterscheidung  von  Ding  an  sich  und  Erscheinung  hinwegzuhelfen 


AiitiiiomioM.  37 

gewußt.  Wenn  er  jetzt  eine  Zeitlang  der  NewtonHchen  Auf- 
fassung von  der  absoluten  Realität  des  Raumes  und  der  Zeit 
zuneigte,  so  wurden  diese  Probleme  von  neuem  in  ilim  lebendig. 
Es  waren  nanientlicli  die  Begriffe  der  Totalität  und  der  Unend- 
lichkeit, welclie  ihm  Scliwierigkeiten  machten,  und  schon  damals 
stieß  er,  wie  sicli  durch  mancherlei  Zeugnisse  hat  wahrscheinlich 
machen  lassen,  auf  die  rätselhafte  und  ihn  beunruhigende  Tat- 
sache, daß  er  sich  hinsichtlich  dieser  Probleme  die  widersprechenden 
Lehrsätze  der  verschiedenen  Ansichten  mit  gleicher  Sicherheit  be- 
weisen und  sie  somit  auch  zu  gleicher  Zeit  durcheinander  wider- 
legen zu  können  meinte.  Daß  sowohl  die  Ausdehnung  als  auch 
die  Teilbarbeit  der  räumlichen  Körperwelt  eine  Grenze  habe, 
schien  ebenso  des  Beweises  fähig,  wie  daß  es  eine  solche  Grenze 
nicht  geben  könne.  Was  Kant  später  die  mathematischen  Anti- 
nomien  genannt  hat,  bewegte  ihn  schon  um  diese  Zeit  und  gab 
mit  den  Ausschlag  für  die  weitere  Wandlung  seiner  erkenntnis- 
theoretischen Ansicht.  Ein  Raum,  von  dem  sich  beweisen  ließ, 
daß  er  begrenzt  und  daß  er  unbegrenzt,  daß  die  ihn  erfüllende 
Körperwelt  bis  ins  UnendÜche  teilbar  und  daß  sie  es  nicht  sei, 
konnte  unmöglich  eine  metaphysische  Realität  sein :  denn  er  wäre 
der  gesetzte  Widerspruch ;  eher  ließe  sich  diese  Antinomie  begreifen, 
w^enn  der  Widerspruch  in  unsere  Vorstellungstätigkeit  verlegt 
würde,  d.  h.  wenn  der  Raum  keine  metaphysische  Realität,  sondern 
nur  eine  menschliche  Anschauungsform  wäre.  So  drängte  auch 
diese  Betrachtung  von  der  Newtonschen  Lehre  wieder  ab  und 
der  Phänomenalität  des  Raumes  wieder  zu;  sie  störte  aber  in 
keiner  Weise  das  frühere  Ergebnis  von  Kants  Überlegungen, 
wonach  Raum  imd  Zeit  als  reine  Formen  der  Sinnlichkeit  und 
als  Grundlage  der  gesamten  Sinnenwelt  betrachtet  werden  sollten. 
Ja,  jene  Phänomenalität  schien  sich  am  besten  begreifen  zu  lassen, 
gerade  wenn  man  Raum  und  Zeit  als  die  im  Geiste  des  Menschen 
vorgezeichnet  liegenden  Auffassungsweisen  unserer  sinnlichen  Emp- 
fänghchkeit  bestimmte. 

Nur  aus  der  Verschlingung  dieser  mannigfaltigen  Gedanken- 
reihen läßt  sich  der  eigentümliche,  nach  vorwärts  und  rückwärts 
schillernde  Standpunkt  begreifen,  den  Kant  in  seiner  Inaugural- 
dissertation einnahm.  Die  wesentliche  Aufgabe  dieser  Schrift 
sah    Kant    später   selbst    darin,    seinen   neuen   Lehrbegriff   vom 


38  Kants  Entwicklung. 

Wesen  des  Raumes  und  der  Zeit  zu  entwickeln.  Diese  Aufgabe 
erfüllt  er  nach  einer  vorangeschickten  Untersuchung  über  den 
Begriff  der  »Welt«,  worin  jene  an  tinomischen  Betrachtungen  leise 
anklingen,  durch  eine  scharfe  Präzisierung  des  Gegensatzes  von 
Sinnlichkeit  und  Verstand.  Jene  ist  die  Rezeptivität,  dieser  die 
Spontaneität  unseres  Erkenntnisvermögens.  Jene  enthält  daher 
nur  die  subjektive  Art  und  Weise,  wie  sich  die  Dinge  in  unserer 
Empfänglichkeit  darstellen,  dieser  erkennt  mit  den  reinen  Formen 
seiner  eigenen  Funktion  den  Zusammenhang  der  absoluten  Wirk- 
lichkeit. Aber  auch  die  Sinnlichkeit  besteht  nicht  nur  in  dem 
Vermögen  affiziert  zu  werden,  sondern  vor  allem  darin,  daß  die 
bei  dieser  Affizierung  entsprungenen  Empfindungen  in  uns  eine 
Anordnung  nach  räumlichen  und  zeitlichen  Gesetzen  finden,  durch 
welche  Synthesis  erst  das  anschauliche  Bild  einer  Sinnenwelt  in 
uns  entsteht.  Kant  liefert  hier  den  im  wesentlichen  nachher 
von  der  »transzendentalen  Ästhetik«  reproduzierten  Beweis,  daß 
Raum  und  ^Zeit  nicht  Gegenstände  der  Empfindung,  sondern  viel- 
mehr synthetische  Formen  sind,  nach  denen  sinnliche  Empfindungen 
angeordnet  werden,  und  daß  diese  Formen  in  uns  nicht  erst  durch 
Abstraktion  aus  den  einzelnen  Erfahrungen  begründet  werden 
können,  sondern  vielmehr  die  ursprünglichen  und  bei  den  ein- 
zelnen Wahrnehmungen  erst  zur  Anwendung  und  zum  Bewußt- 
sein kommenden  Funktionsgesetze  der  Sinnlichkeit  sind.  Er 
behandelt  also  Raum  und  Zeit  genau  so,  wie  Leibniz  in  den 
Nouveaux  essais  die  Formen  der  Verstandestätigkeit  behandelt 
hatte;  er  behauptet  von  ihnen  dasselbe  Virtuelle  Eingeborensein, 
welches  Leibniz  den  »ewigen  Ideen«  zugeschrieben  hatte,  und 
wie  jener  darauf  die  Möglichkeit  einer  reinen  imd  allgemeingültigen 
Verstandeserkenntnis,  so  gründet  Kant  darauf  seine  Lehre  von 
einer  reinen,  notwendigen  und  allgemeingültigen  Erkenntnis  der 
Sinnlichkeit,  d.  h.  der  Mathematik.  War  die  Leibnizische  Ontologie 
eine  Reflexion  auf  die  notwendigen  Formen  des  Denkens,  so  ist 
für  Kant  die  Mathematik  eine  Reflexion  auf  die  notwendigen 
Formen  der  sinnlichen  Anschauung. 

Indem  aber  Kant  mit  Leibniz  die  Erkenntniskraft  der  Formen 
des  Denkens  für  das  metaphysische  Wesen  der  Dinge  anerkannte, 
schränkte  er  nun  ebenfalls  mit  ihm  die  Similichkeit  auf  die  Er- 
scheinungen ein.     Jene  ganze  Außenwelt,  welche  durch  die  Syn- 


Iimii^'uriildiHHcrtation.  3U 

theais  der  Einpfinduii;4en  in  liliuiiliclior  und  zeitlicher  Fonn  für 
unsere  Vorstellung  entstellt,  gilt  ihm  nur  noch  als  die  Erscheinungs- 
weise der  »Dinge  jin  siclu<.  Ihre.  Elemente,  die  sinnlichen  Emp- 
findungsquiilitiiten,  sind  VVirkungswei.'-en  der  Dinge  auf  uns  — 
diese  seit  (Jalilei,  Descartes,  llobbes  und  Locke  der  qiodernen 
Philosophie  allgemein  eigene  Auffassung  behandelt  Kant  als  so 
selbstverständlich,  daß  er  sie  kaum  mehr  berührt  — :  und  die 
Anschauungsbilder,  die  sich  aus  diesen  Elementen  zusammensetzen, 
vollziehen  sich  nach  dem  Schema  von  Kaum  und  Zeit,  welches 
lediglich  die  Form  unserer  sinnlichen  Anschauung  ist.  Da  nun 
Kant  an  der  Newtonschen  Auffassung  festhält,  daß  die  Körper 
nur  im  JRaume  möglich  sind,  so  fallen  damit  auch  die  Körper 
restlos  unter  den  Begriff  der  Erscheinung.  Die  gesamte  körper- 
liche Welt  ist  lediglich  Erscheinung,  und  von  denr  Ding  an  sich,* 
welches  dahinter  steckt,  wissen  wir  durch  die  sinnliche  Erfahrung 
nichts. 

Aber  das  gleiche  Prinzip  gilt  auch  für  die  innere  Erfahrung, 
welche  der  äußeren  als  ebenbürtig  an  die  Seite  gestellt  zu  weiden 
pflegte.  Auch  sie  enthält  nur  die  Axt  und  Weise,  wie  unser  Be- 
wußtsein von  unserem  Wesen  und  seinen  Zuständen  affiziert  wird, 
und  für  die  Form  der  Synthesis  dieses  inneren  Sinnes  erklärt 
Kant  in  einer  weiterhin  zu  besprechenden  Weise  die  Zeit.  Nimmt 
man  dies  hinzu,  so  ergibt  sich,  daß  die  ganze  Welt  der  Erfahrung 
nur  die  Erscheinung  und  nicht  das  Wesen  der  Dinge  an  sich  uns 
offenbart.  Die  Welt  der  Erfahrung  ist  der  mundus  sensilibus, 
zusammengesetzt  aus  den  Empfindungen  und  beherrscht  von  den 
Gesetzen  der  reinen  Anschauung,  Kaum  und  Zeit.  Von  diesen 
gibt  die  Mathematik  eine  notwendige  und  allgemeingültige  Er- 
kenntnis, weil  wir  imstande  sein  müssen,  die  Formen,  in  denen 
wir  anzuschauen  durch  unsere  eigene  Natur  genötigt  werden,  und 
welche  deshalb  in  aller  Anschauung  als  bestimmendes  Gesetz  wieder- 
kehren, uns  zum  klaren  und  deutlichen  Bewußtsein  zu  bringen.  Daher 
kann  mit  Hilfe  der  Mathematik  durch  eine  diskursiv  begriffliche 
Verarbeitung  der  sinnlichen  Erfahrungsdaten  die  theoretische  Natur- 
wissenschaft gewonnen  werden,  wie  sie  in  Newtons  »Naturalis 
philosophiae  principia  mathematica«  vorliegt.  Diese  Newtonsche 
Theorie,  deren  Geltung  für  Kant  durch  seine  ganze  Entwicklung 
hindurch  felsenfest  beharrte,  erschien  jetzt  philosophisch  als  eine 


40  Kants  Entwicklung. 

apriorische  Erkenntnis  der  Erscheinungswelt  (apparentia)  begründet, 
und  damit  war  ein  Ziel  erreicht,  das  Kant,  für  den  immerdar 
»Wissenschaft«  im  Sinne  dieser  Newtonschen  Theorie  gegolten 
hat,  bei  allen  seinen  Wandlungen  des  erkenn tnis theoretischen 
Standpunkts  mit  zäher  Stetigkeit  im  Auge  behalten  hatte. 

In  solcher  Schöpfung  der  mathematischen  Theorie  der  Er- 
scheinungswelt war  der  »Verstand«  nur  auf  den  »usus  logicus« 
beschränkt:  daneben  aber  nimmt  der  Philosoph  für  denselben 
spontanen  Verstand  auch  noch  einen  »usus  realis«  von  meta- 
physischer Geltung  in  Anspruch.  Denn  der  sinnhchen  Welt  stellt 
er  als  ein  toto  genere  Verschiedenes  die  intelligible  Welt  gegen- 
über, die  Welt  der  Dinge  an  sich,  auf  welche  die  Bestimmungen 
unserer  Sinnlichkeit  keinerlei  Anwendung  finden,  und  deren  Wesen 
wir  nur  durch  die  reinen  Formen  der  Verstandeserkenntnis  zu  be- 
greifen imstande  sind.  In  der  Ausführung  der  letzteren  Lehre  ist 
Kant  verhältnismäßig  kurz;  sie  war  ja  nur  eine  Eeproduktion  der 
Leibnizischen  Ansicht,  deren  Übertragung  mutatis  mutandis  auf 
die  sinnliche  Welt  und  auf  die  Mathematik  die  eigentliche  Absicht 
seiner  Schrift  war.  Schärfer  aber  und  weit  energischer  als  Leibniz, 
und  in  vermutlich  unbewußter  totaler  Übereinstimmung  mit 
Piaton,  betont  Kant  den  unüberbrückbaren  Gegensatz  zwischen 
der  sinnlichen  Welt  der  Erscheinungen  und  der  intelhgiblen  Welt 
der  Dinge  an  sich.  Über  das  Verhältnis  der  Wissenschaften  und 
speziell  der  Metaphysik  zu  diesen  beiden  Welten  haben  sich  Kants 
Ansichten  noch  mannigiach  geändert:  aber  dieser  platonisierenden 
Weltanschauung,  welche  sich  durch  die  schroffe  Scheidung  der 
sinnlichen  und  der  übersinnlichen  Welt  charakterisiert,  ist  er  treu 
geblieben,  —  so  treu,  daß  er  damit  selbst  die  Konsequenz  seines 
wissenschaftlichen  Denkens  durchbrochen  hat.  In  diesem  Sinne, 
mit  Rücksicht  auf  den  Durchbruch  der  persönlichen  Weltanschauung, 
ist  die  Inauguraldissertation  wirldich  der  Beginn  der  Kantischen 
Selbständigkeit;  sie  ist  es,  wie  der  scharfe  Bruch  mit  der  sen- 
sualistischen  Moralphilosophie  bekundet,  nicht  minder  hinsichtlich 
der  gleichmäßigen  Anwendung  des  Gegensatzes  von  Vernunft  und 
Sinnlichkeit  auf  die  theoretische  und  die  praktische  Philosophie.  Aber 
von  dem  geheimsten  Tief  sinn  der  Kantischen  Erkenntnistheorie 
und  damit  von  der  bahnbrechenden  Kraft  des  Kantischen  Denkens 
zeigt  sie  noch  keine  Spur.    Die  Lehre  der  transzendentalen  Ästhetik 


ÜhüigHUK  zur  Krilik.  41 

enthält  öiü  bereits  völliir;  aber  diese  betrifft  nur  jene  neue  Dur- 
stellung  tler  JMiitoniHchen  Weltansicht,  in  der  Kants  persönliehe 
Überzeu^aui«^^  sicli  ausprägt,  und  in  der  seine  wahre  philosophische 
Orij^inahtät  nicht  zu  suchen  ist.  Allein  der  Inauj^iiraldissertation 
fehlt  noch  die  eigenste  Tiefe  des  Kantischen  Denkenfy  sie  hat 
noch  keine  Ahnung  von  der  transzendi^ntalen   Analytik. 

Für  den  Weg  bis  zu  deren  Veröffentlichung  hat  Kant  bekannt- 
lich ein  Jahrzehnt  gebraucht,  und  was  wir  von  den  Eta}>pen 
dieses  dornenvollen  Weges  durch  die  letzten  Geheimnisse  des 
menschlichen  Denkens  wissen,  besteht  in  so  abgerissenen  Brief- 
stellen und  so  schwer  datierbaren  Notizen,  daß  schon  die  hypo- 
thetische Ökizzierung  dieser  Entwicklung  auf  große  Schwierigkeiten 
stößt.  Allein  die  Vergleichung  der  Kritik  der  reinen  Vernunft 
mit  jenem  Stande  des  Kautischen  Denkens,  dessen  Umriß  die 
Inauguraldissertation  darbietet,  gibt  doch  wenigstens  einige  An- 
deutungen, aus  denen  man  die  Hauptzüge  der  Entwicklung  zu 
ahnen  vermag.  Den  Schwerpunkt  bildet  wieder  unverkennbar  das 
Verhältnis  der  Mathematik  zur  Metaphysik.  In  der  Inaugural- 
dissertation ist  jene  die  apriorische  Erkenntnis  der  Sinnen  weit 
auf  Grund  der  reinen  Anschauungen  Raum  und  Zeit,  ist  diese 
die  apriorische  Wissenschaft  von  der  intelligiblen  Welt  auf  Grund 
der  reinen  Formen  des  Denkens.  Darin  besteht  ihr  Parallelismus. 
Aber  zugleich  ist  die  Mathematik  eine  notwendige  und  allgemeine 
Erkenntnis  der  Erscheinungen,  ist  dagegen  die  Metaphysik  eine 
notwendige  und  allgemeine  Erkenntnis  der  Dinge  an  sich,  weil 
die  eine  auf  die  Formen  der  sinnhchen  Empf änghchkeit ,  die 
andere  auf  die  Formen  des  Denkens  reflektiert.  Darin  besteht 
ihre  Verschiedenheit.  Zahkeiche,  z.  T.  auf  persönlichen  Über- 
zeugungen beruhende  Vermittlungen  waren  es,  infolge  deren  Kant 
diesen  verschiedenen  Wert  der  Formen  der  Sinnlichkeit  imd  des 
Verstandes  auch  für  die  Erkenntnis  aufrecht  erhalten  zu  sollen 
glaubte:  der  Vorgang  von  Leibniz,  das  praktische  Bedürfnis, 
sinnliche  und  übersinnliche  Welt  scharf  zu  scheiden,  endlich  die 
sachlichen  Schwierigkeiten,  welche  der  antinomische  Charakter 
einer  räumlichen  und  zeitlichen  Welt,  wenn  sie  in  metaphysischer 
Realität  gedacht  werden  sollte,  ihm  darzubieten  schien.  Aber 
wie  das  System  der  Inauguraldissertation  so  vor  ihm  lag,  da 
mußte   doch  die   rein  theoretische  Frage   ihn  ergreifen,   welches 


42  Kants  Entwicklung. 

denn  die  Berechtigimg  für  eine  so  verschiedene  Behandlung  beider 
Elemente  des  menschlichen  Erkennens  sei.  Raum  und  Zeit  auf 
der  einen  Seite  und  die  Verstandesbegriffe  auf  der  andern  Seite 
galten  ihm  gleichmäßig  als  die  reinen  Formen  der  menschlichen 
Vorstellungstätigkeit,  jene  des  Anschauens,  diese  des  Denkens. 
Warum  sollten  die  einen  mehr  realen  Wert  haben  als  die  andern? 
Wenn  die  Formen  der  Anschauung  nur  eine  menschliche  Vor- 
stellungsweise der  Dinge  an  sich  bilden  —  und  das  war  zur 
unzerstörbaren  Gewißheit  für  Kant  geworden  — ,  warum  sollten 
die  Formen  des  Denkens  die  Dinge  an  sich  begreifen  ?  Auch  das 
Denken  mit  allen  seinen  Formen  und  Gesetzen  ist  doch  zunächst 
nur  ein  subjektiver,  eben  ein  menschlicher  Vorstellungsprozeß: 
wenn  die  menschliche  Anschauung  nur  subjektiv  ist,  gilt  nicht 
dasselbe  aus  demselben  Grunde  auch  für  das  menschliche  Denken  ? 
In  der  Inauguraldissertation  hatte  Kant  bei  der  kurzen  Behand- 
lung der  rationalistischen  Metaphysik  das  Recht  des  logischen 
Denkens,  Dinge  an  sich  zu  begreifen,  darauf  zurückgeführt,  daß 
die  Welt  der  Dinge  an  sich  eben  die  intelligible  sei,  daß  sie  ihren 
Ursprung  in  demselben  göttlichen  Geiste  habe,  aus  dem  auch 
der  menschliche  Geist  mit  seiner  ganzen  inneren  Gesetzmäßigkeit 
des  Denkens  hervorgegangen  sei.  Er  hatte  auf  Malebranche  und 
dessen  Lehre,  daß  die  Erkenntnis  Gottes  diejenige  der  Welt  in 
sich  enthalte,  als  die  seiner  Auffassung  am  nächsten  liegende 
hingewiesen.  Aber  dagegen  ließ  sich  zweierlei  einwenden.  So 
gut  wie  die  Gesetze  des  Denkens,  sind  auch  die  reinen  Formen  der 
Anschauung  ursprüngliche  Besitztümer  des  menschlichen  Geistes, 
wie  er  aus  der  Hand  der  Gottheit  hervorgegangen  ist,  Besitz- 
tümer, deren  wir  uns  als  der  gesetzmäßigen  Funktionen  unserer 
eigenen  Intelligenz  erst  bei  Gelegenheit  der  Erfahrung  gerade  so 
wie  der  Formen  des  Denkens  bewußt  werden.  Galten  deshalb 
diese  als  Erkenntnis  des  Wesens  der  Wirklichkeit,  warum  nicht 
auch  jene,  über  deren  bloße  Phänomenalität  Kant  in  sich  keinen 
Zweifel  mehr  duldete  ?  Zweitens  aber  setzte  diese  ganze  Auf- 
fassung zwischen  den  Formen  des  menschlichen  Denkens  und 
dem  Wesen  der  Dinge  eine  durch  die  gemeinsame  Abstammung 
aus  der  Gottheit  erklärte  »prästabilierte  Harmonie«  voraus.  In 
diesem  Sinne  war  die  Inauguraldissertation  durchaus  von  Leib- 
nizischem   Geiste    beseelt.     Aber   zu   tief   wurzelte    in   Kant    die 


(legonstand  (l(;r  KrkfMintniH.  4.'i 

Abneigung  gc<j;cn  die  Aniiahiiic  der  piä.stabilicrtcri  Ifarnioiiic  (eine 
Abneigung,  die  in  ihm  diiicli  Martin  Knutzen  befestigt  war),  als 
daß  er  sich  bei  dieser  Erklärung  hätte  beruhigen  sollen,  und  so 
stieß  er  auf  den  Kern  aller  erkenntnistheoretischen  Untersuchungen 
mit  der  Frage,  wie  denn  überhaupt  das  menschliche  Denken 
dazu  komme,  mit  seinem  Inhalte  so  gut  wie  mit  seinen  reinen 
Formen  die  Wirkliclikeit  als  seinen  Gegenstand  zu  erfassen.  In 
dieser  Frage  und  ihrer  Beantwortung  nach  den  gegebenen  Prämissen 
des  Kantischen  Denkens,  in  dieser  Frage,  welche  der  Philosoph 
am  klarsten  in  seinem  Briefe  an  Marcus  Herz  vom  21.  Februar 
1772  formuliert  hat,  liegt  der  wahre  Ausgangspunkt  und  die 
Größe  der  Kantischen  Philosophie  auf  erkenntnistheoretischem 
Gebiete.  Mit  dieser  Frage  steht  er  auf  dem  Pmikte,  den  »naiven 
Realismus  <<  in  seiner  ganzen  Tragweite  zu  durchschauen  und  zu 
durchbrechen,  vmd  damit  erst  an  der  Schwelle  der  kritischen 
Philosophie. 

Der  naive  Realismus  des  gemeinen  Denkens  macht  sich  mit 
dieser  Frage  nicht  viel  zu  schaffen ;  er  meint,  die  Dinge  spazierten 
so  in  den  erkennenden  Geist  hinein,  drückten  sich  in  ihm  ab, 
spiegelten  sich  in  ihm,  würden  von  ihm  erfaßt,  oder  wie  sonst 
das  sinnliche  Bild  ist,  mit  dem  man  dem  Erkenntnisprozeß  einen 
Namen  gibt.  Der  RationaHsmus  macht  diese  Frage  vollständig 
überflüssig,  indem  er  von  vornherein  das  Postulat  aufstellt,  daß, 
was  '^  notwendig  gedacht  wird ,  auch  ist.  Wo  ihm  einmal  das 
Problem  aufstößt,  wie  man  denn  dessen  gewiß  sein  könnte,  da 
hilft  er  sich  in  der  Richtung,  wie  es  Kant  selbst  in  HinbHck 
aut  Leibniz  und  Malebranche  in  der  Inauguraldissertation  ver- 
suchte. Am  schw^ersten  wiegt  jene  Frage  für  den  Empirismus 
und  Sensualismus.  Selbst  wenn  dieser  annimmt,  die  einzelnen 
Erfahrungen  seien  Abbilder  der  Dinge,  so  wird  es  für  ihn  um 
so  schwieriger,  zu  begreifen,  wie  es  kommen  soll,  daß  die  Be- 
ziehungen, welche  das  Denken  zwischen  dem  Inhalte  der  Wahr- 
nehmungen aufstellt,  ebenfalls  Abbilder  der  Realität  seien.  Wo 
daher  der  Empirismus  ganz  konsequent  durchgeführt  wurde,  da 
mußte  er  notwendig  in  den  terministischen  Subjektivismus  und 
Skeptizimus  umschlagen,  da  büeb  nichts  weiter  übrig  (selbst 
wenn  man  von  der  Phänomenalität  der  Sinnesempfindungen  ab- 
sehen   wollte),    als    den    ganzen    Prozeß    des    Denkens    für    ein 


44  Kants  Entwicklung. 

subjektives  Gebilde  zu  erklären,  dessen  reale  Bedeutung  niemals 
erwiesen  werden  könne.  So  weit  war  der  Scharfsinn  und  die 
spekulative  Energie  von  David  Hume  gedrungen.  Das  Humesche 
Argument  galt  aber,  wie  sich  Kant  überzeugen  mußte,  schließ- 
lich auch  für  den  Rationalismus  und  Apriorismus.  Konstruierte 
dieser  seine  notwendigen  Wahrheiten,  sei  es  in  der  Mathematik, 
sei  es  in  der  Metaphysik,  durch  Reflexion  auf  die  gesetzmäßigen 
Funktionsformen  der  Vorstellungsfähigkeit,  so  lag  nirgends  ein 
Punkt  vor,  von  dem  aus  sich  die  metaphysische  Realität  dieser 
Formen  behaupten  ließ.  Die  Phänomenalität  der  in  der  Mathe- 
matik zu  erkennenden  Formen  der  Sinnlichkeit  hatte  Kant  bereits 
anerkannt:  weshalb  sträubte  er  sich,  das  gleiche  von  den  Formen 
des  Denkens  zu  sagen? 

Aber  so  einfach  ist  der  Kantische  Gedanken prozeß  nicht 
gewesen:  er  verwickelte  sich  noch  viel  mehr  durch  die  weitere 
Frage,  in  welcher  Weise  wir  denn  überhaupt  veranlaßt  mid  be- 
rechtigt sind,  unsere  Vorstellungen  auf  außer  uns  befindliche 
>>  Gegenstände «  zu  beziehen.  Alle  unsere  Vorstellungen  von  Dingen 
sind  Synthesen  jener  einfachen  Empfindungen,  in  denen  wir  uns 
durch  die  Außenwelt  affiziert  glauben.  Betrachteten  wir  nun  diese 
Verbindungen  eben  lediglich  als  in  unserm  Bewußtsein  sich  voll- 
ziehende Gebilde,  so  existierte  gar  keine  erkenntnistheoretische 
Schwierigkeit.  Allein  wir  sehen  diese  Synthesen  nicht  als  sub- 
jektiv und  willkürlich,  sondern  als  objektiv  und  notwendig  an. 
Soll  untersucht  werden,  mit  welchem  Rechte  das  geschieht,  so 
hat  Kant  nach  dem  Vorgange  des  gesamten  XVIII.  Jahrhunderts 
zunächst  nur  die  psychologische  Methode,  den  Ursprung  unserer 
Vorstellungen  von  Gegenständen  ins  Auge  zu  fassen.  In  dieser 
Hinsicht  stand  nun  Hume  unter  dem  Prinzip  der  Assoziations- 
psychologie und  meinte  jene  Synthesen  lediglich  als  Produkte  des 
psychischen  Mechanismus  auffassen  zu  müssen,  in  welchem  nichts 
weiter  als  der  ursprüngliche  Inhalt  der  in  der  Synthesis  zu- 
sammengefaßten Vorstellungen  tätig  wäre.  Hierin  aber  stand 
Kant  umgekehrt  auf  dem  Standpunkte  von  Leibniz  und  war 
sich  darüber  klar,  daß  eine  jede  solcher  Synthesen  durch  eine 
geistige  Funktion  vonstatten  geht,  deren  Form  wir  uns  als  einen 
reinen  Begriff  zum  Bewußtsein  bringen  können.  Wenn  daher 
irgendwo  ein  Grund  dafür  vorliegen  soll,  daß  unseren  subjektiven 


JitMhili/.  und   ITtimo.  IT) 

V<)rstcllunpfrtV(M'kniipfun<^foii  ohjivlvtivo  Orllim;^  zukommt,  ho  irtt  er 
nur  hei  der  Funktion  jener  reinen  Begriffe  zu  suchen.  In  dicHem 
Zusammenhanij^e  der  Gedanken  er<^'aben  sich  für  Kant  zwei  Auf- 
gaben: zuer.st  jene  reinen  Begriffe  systematisch  zu  suchen  und 
zweitens  sich  khir  zu  machen,  wie  dadurch  unsere  «ubjektiven 
VorsteUungsgebilde  den  Wert  der  Objektivität  annehmen.  Was 
das  erste  anbetrifft,  so  wurde  Kant  auf  den  Umstand  aufmerksam, 
daß  nach  der  Auffassung  der  Logik  Vorstellungsverbindungen, 
deren  Objektivität  ausgesprochen  werden  soll,  in  der  Form  des 
Urteils  auftreten:  dies  benutzte  er,  um  aus  den  Arten  des  Urteils, 
wie  er  sie  in  dem  Lehrvortrage  der  Logik  darzustellen  pflegte, 
sein  System  der  Stammbegriffe  des  Verstandes,  der  »Kategorien« 
zu  entwickeln.  In  der  Lösung  der  zweiten  Aufgabe  dagegen  gibt 
er  nun  dem  Leibnizischen  Rationalismus  der  Nouveaux  essais  die 
größte  Vertiefung,  die  innerhalb  der  Untersuchungen  über  das 
Wesen  der  menschlichen  Erkenntnis  je  erreicht  worden  ist.  Er 
sah  nämlicb  ein,  daß  dasjenige,  was  wir  "Erfahrung"  nennen,  und 
was  der  Empirismus  als  ein  Gegebenes  zu  betrachten  pflegt, 
bereits  eine  Verarbeitung  des  Materials  der  sinnlichen  Qualitäten 
durch  die  Kategorien  enthält,  und  daß  nur  darauf  die  Notwen- 
digkeit und  Allgemeingültigkeit  beruht,  womit  diese  Synthesen 
im  Bewußtsein  des  Individuums  auftreten.  Für  ihn  sind  deshalb 
die  Kategorien  nicht  etwas  Fremdes,  das  willkürlich  an  die  Er- 
fahrung herangebracht  würde,  sondern  vielmehr  die  organisierende 
Kraft,  ohne  welche  die  Erfahrung  gar  nicht  zustande  kommen 
und  noch  weniger  in  ihrer  notwendigen  Geltung  begründet  würde. 
Indem  die  Ausführung  dieser  Theorie  der  folgenden  Darstellung 
der  kritischen  Philosophie  selbst  überlassen  bleibt,  mußten  hier 
nur  ihre  Grundzüge  angedeutet  werden,  um  die  Stellung  Kants 
zu  Leibniz  und  Hume  auf  diesem  entscheidenden  Wendepunkte 
seines  Denkens  zur  völligen  Klarheit  zu  bringen.  Kant  führte 
das  Leibnizische  Prinzip  des  »virtuellen  Eingeborenseins«  der 
Ideen  in  der  umfassendsten  Weise  durch,  und  in  diesem  Sinne 
hatte  er  recht,  wenn  er  später  einmal  erklärt  hat,  es  möchte 
wohl  die  Kritik  der  reinen  Vernunft  die  eigenthche  Apologie  für 
Leibniz  selbst  wider  seine  Anhänger  sein.  Aber  er  unterscheidet 
sich  von  Leibniz  wesentlich  darin,  daß  die  die  Erfahrung  kon- 
stituierenden »Ideen«   bei  ihm  nicht  sowohl  die  logischen  als  die 


4ß  Kants  Entwicklung. 

erkenntnistheoretisclien  Formen  des  Denkens  sind,  und  so  be- 
gründet er  neben  der  formalen  die  transzendentale  Logik.  Mit 
dieser  Ausbildung  der  Leibnizschen  Gedanken  überwindet  Kant 
den  Humeschen  Skeptizismus,  und  die  erkenn tnistbeoretiseben 
Formen,  unter  denen  ihm  in  dieser  Hinsicht  die  Kausalität  die 
wichtigste  war,  gelten  ihm  nicht  als  zufällige  Produkte  des 
psychischen  Mechanismus,  sondern  vielmehr  als  die  konstituieren- 
den Prinzipien  des  Erkenntnisprozesses,  die  deshalb  für  den 
gesamten  Inhalt  des  Denkens  dieselbe  apriorische  Geltung  haben, 
wie  die  reinen  sinnHchen  Formen  Kaum  und  Zeit  für  den  ge- 
samten Inhalt  der  Anschauung.  Aber  wenn  damit  die  Apriorität 
der  Formen  des  Denkens  gegen  Hume  gerettet  ist,  so  hat  es 
nur  in  der  Weise  geschehen  können,  daß  Kant  mit  Hume  ihre 
Phänomenalität  anerkennt. 

Denn'  nach  dieser  Untersuchung  treten  nun  die  reinen  Formen 
des  Verstandes  mit  denjenigen  der  Sinnlichkeit  in  einen  voll- 
kommenen und  durchgängigen  Parallelismus.  Erst  aus  beiden 
zusammen  besteht  die  synthetische  Funktion,  vermöge  deren  die 
Empfindungen  für  uns  zu  der  Vorstellung  von  Dingen  und  ihren 
notwendigen  Beziehungen  zusammenschießen.  Beide  sind  Funk- 
tionsgesetze unserer  Erkenntnistätigkeit,  die  erst  bei  Gelegenheit 
ihrer  Anwendung  uns  zum  Bewußtsein  kommen.  Von  beiden 
gibt  es  deshalb  eine  allgemeine  und  notwendige  Erkenntnis,  aber 
beide  gelten  auch  nur  für  die  notwendige  Vorstellungsweise,  in 
welcher  wir  nach  den  Gesetzen  unseres  »Gemüts«  die  Welt  an- 
zuschauen und  zu  denken  genötigt  sind.  Jetzt  erscheint  an  dem 
Horizonte  des  Kantischen  Denkens  wiederum  eine  der  Mathematik 
an  Apodiktizität  ebenbürtige  Metaphysik.  Aber  es  ist  nicht  mehr 
eine  Metaphysik  der  "Dinge  an  sich^  sondern  eine  Metaphysik 
der  ^Erscheinungen.  Es  ist  eine  Lehre  von  den  notwendigen 
Begriffen  und  Grundsätzen,  nach  denen  wir  die  Welt  denken 
müssen,  weil  schon  unsere  Erfahrung  nur  durch  sie  zustande 
kommt. 

Es  darf  angenommen  werden,  daß  Kant  in  der  Mitte  der 
siebziger  Jahre  diese  Entwicklung  durchgemacht  hatte.  Wenn 
er  sie  noch  nicht  zum  Abschluß  brachte,  so  geschah  es,  weil  in 
diesem  Gedankenzusammenhange  (der  ja  unendlich  viel  tiefer 
war,  als  die  im  Resultat  scheinbar  ähnliche  Lehre  von  den  »sub- 


Metaphysik  <lrr  Ernchoinungcii.  47 

jokiivisclicn  NolvvcMuli^^koitcii«,  wozu  um  die.  i^hiclu'-  Zeit  'I'ctonH 
nicht  olmo  Anrosj^un^  von  Kants  Injuif^iiraldisHcrtation  ^elan^tr.) 
das  Problem  der  lieziehun;^'  unserer  Vorstcllunf^en  auf  Din^e, 
weit  davon  entfernt,  <:rel(")st  zu  werden,  sich  nur  noch  mehr  ver- 
wickelt hatte.  Denn  stellte  sich  nun  heraus,  daß  aHes,  was  wir 
in  Anschauung  und  Denken  für  Gegenstände  anzusehen  gewohnt 
sind,  ein  immanentes  Produkt  unserer  Vorstellungstätigkeit  bildet, 
daß  mathematische  und  metaphysische  Erkeimtnis,  wenn  auch 
mit  Notwendigkeit  und  Allgemeingültigkeit,  so  doch  immer  nur 
auf  die  Erscheinung  \md  nicht  auf  die  Dinge  an  sich  geht,  so 
mußte  unser  Denken  derartig  in  sich  selbst  geschlossen  und  von 
der  absoluten  Realität  so  vollständig  getrennt  erscheinen,  wie 
nie  zuvor  in  einem  anderen  philosophischen  System.  Und  zog 
Kant  diese  Konsequenz,  so  mußte  sie  sich  sogleich  auch  weiter 
erstrecken  und  zuletzt  gegen  sich  selber  wenden.  Denn  wenn 
weder  der  Weg  des  Anschauens  noch  derjenige  des  Denkens  zur 
Erkenntnis  der  Dinge  an  sich  führt,  so  ist  zimächst  gar  nicht 
zu  verstehen,  wie  wir  überhaupt  zu  Vorstellungen  von  Dingen 
an  sich  kommen  sollen.  Ist  das  Ding  an  sich  ein  Unbekanntes, 
das  jenseits  der  Grenze  aller  unserer  Erkenntnisfähigkeit  liegt, 
welche  Veranlassung  haben  wir,  eine  solche  Grenze  und  ein  jenseits 
davon  liegendes  Etwas  überhaupt  anzunehmen?  Jedenfalls  ist 
dieser  Gegensatz  von  Vorstellung  und  Ding  an  sich,  welcher  die 
allgemeine  Grundlage  des  naiven  Realismus  ausmacht,  nicht  mehr 
etwas  so  selbstverständliches,  wie  es  der  gemeinen  Meinung  er- 
scheint, sondern  er  ist  selbst  eins  der  höchsten  und  letzten 
Probleme  der  erkenntnistheoretischen  Kritik.  Wenn  man  sich 
nur  auf  diesem  Gebiete  hält  und  sich  aller  unwillkürHchen  Vor- 
urteile entschlägt,  so  sieht  man  bald  ein,  daß  es  für  die  Er- 
kenntnistätigkeit weder  ein  Bedürfnis  ist,  noch  einen  Sinn  hat, 
ein  außer  ihr  befindliches  X  anzunehmen,  das  sie  weder  anzu- 
schauen noch  zu  erkennen  imstande  wäre,  und  auf  welches  sich 
selbst  die  Ajiwendung  der  Kategorien  der  Dinghaftigkeit  und 
des  kausalen  Verhältnisses  hinsichtlich  unserer  Empfindungen 
verbietet. 

Aber  selbst  angenommen,  es  lägen  andere  Motive  vor  —  und 
es  wird  sich  zeigen,  welche  für  Kant  vorlagen  — ,  an  der  Realität 
unerkennbarer^ Dinge   an   sich   festzuhalten,    so    ergibt   sich    von 


43  Kants  Entwicklung. 

vornherein,  daß  diese  Annahme  nicht  mehr  als  Voraussetzung 
der  erkenntnistheoretischen  Kritik  zugrunde  gelegt  werden  darf. 
Nun  beruhten  aber  alle  die  psychologischen  Theorien  über  den 
Ursprung  der  Erkenntnis,  welche  die  Philosophie  vor  Kant  und 
welche  Kant  in  ihrer  ganzen  Ausdehnung  und  in  ihren  fundamen- 
talen Gegensätzen  auch  durchgemacht  hatte,  nun  beruhte  vor 
allem  die  Fragestellung,  wie  kommt  es,  daß  subjektive  Denk- 
prozesse objektive  Geltung  haben  sollen,  selbst  auf  dieser  Voraus- 
setzung des  naiven  Eealismus,  daß  der  Geist  den  Dingen  an 
sich  gegenüberstehe.  Jetzt  mußte  Kant  sich  klar  machen,  daß 
schon  der  Gegensatz  von  Subjekt  und  Objekt  eine  in  ihrem  Er- 
kenntniswerte erst  zu  prüfende  Voraussetzung  ist,  daß  also  das 
erkenntnistheoretische  Problem  anders  formuliert  werden  muß, 
um  jene  Voraussetzung  nicht  von  vornherein  mitzumachen.  Dabei 
gaben  ihm  die  Untersuchungen  über  die  Genesis  unserer  Vor- 
stellungen von  Gegenständen  die  neue  Fassung  des  Problems 
unmittelbar  an  die  Hand.  Sie  hatten  gelehrt,  daß  es  für  den  ein- 
zelnen Geist  ein  Gegenständliches  gibt,  sobald  durch  die  Funktion 
der  reinen  Formen  sich  in  ihm  eine  notwendige  und  allgemein- 
gültige Synthesis  vollzogen  hat.  Der  Begriff  de^Sj-nthesis, 
d.  h.  der  spontanen  Vereinheitlichung  einer  gegebenen  Mannig- 
faltigkeit, der  sachlich  bereits  in  der  Inauguraldissertation  sich 
ankündigte,  wurde  nun  zum  Zentralbegriff  der  Kantischen  Philo- 
sophie: mit  ihm  beginnt  die  »transzendentale  Analytik«,  der 
entscheidende  Teil  der  Kritik  der  reinen  Vernunft,  von  welchem 
aber  damit  das  Licht  einer  völlig  neuen  Auffassung  auf  die 
»transzendentale  Ästhetik«  zurückfällt.  Wenn  diese  noch  im 
Sinne  der  Inauguraldissertation  das  Verhältnis  von  Sinnlichkeit 
und  Verstand  nach  dem  psychologischen  Schema  des  naiven 
Kealismus  als  den  Gegensatz  von  Rezeptivität  und  Spontaneität 
zugrunde  legt,  so  wird  in  der  Lehre  von  der  Synthesis  ge- 
zeigt, daß  in  beiden  Erkenntnisweisen  gleichmäßig  die  Beziehung 
auf  den  Gegenstand  erst  durch  die  synthetischen  Fimktionen 
der  reinen  Formen,  d.  h.  der  Anschauungen  und  der  Be- 
griffe zustande  kommt.  Gegenständlichkeit  heißt  für  den  mensch- 
lichen Geist  Notwendigkeit  und  Allgemeingültigkeit  seiner  syn- 
thetischen Funktion.  Die  erste  Vorbedingung  für  das  Verständnis 
der  kritischen  Philosophie  ist  deshalb  die  Einsicht  in  den  Unter- 


liegrifT  der  Synthosii.  49 

Hcliiod,  (l(Mi  Kanl.  hier  zwisclicn  OKjrlvlivitiit  und  Kraliliit  im 
Sinno  (Ics  <i,o\V()lmIi('li(Mi  l)(^iik(Mi.s  nuicht.  Seine  KriveiintuiMtho.Driji 
jfolit.  nicht  mehr  auf  die  Fnij^o  liiniius,  wie  das  J)cnkcn  die 
Koalitiit  erfasse,  sondern  viclinelir  auf  die  andere,  welche  Pro- 
zesse des  Deidcens  objektiv,  d.  h.  nolwcndi«^'  und  allj^cincingülti^ 
sind.  Das  ist  der  Sinn  jener  b'ra;^!»  nach  dem  Ikgriffe  der  »syn- 
thetischen Urteile  a  priori«,  die  Kants  Kritik  eniffnet.  Und 
nacli  der  ganzen  Entwickhmg,  welche  sein  Denken  genommen 
hatte,  ist  es  von  vornherein  klar,  daß  diese  Apriorität,  diese 
-Notwendigkeit  und  Allgcmeingiiltigkeit  überall  nur  da  gesucht 
werden  kann,  wo  es  sich  um  eine  Anwendung  der  reinen  Formen 
der  Vernunft  llandelt. 

Ist  es  auf  diese  Weise  klar,  daß  die  Erkenntnistheorie,  so 
gefaßt  und  durchgeführt,  es  nur  mit  dem  Umkreise  der  mensch- 
lichen Erfahrung  und  ihrer  Verarbeitung  durch  die  reinen  Formen 
der  Vernunft,  daß  sie  es  also  mit  dem  Begriffe  des  Dinges  an 
sich  überhaupt  gar  nicht  zu  tun  hat,  so  mußte  für  Kant  die 
wissenschaftliche  Erkenntnis  wiederum  in  ein  ganz  anderes  Ver- 
hältnis zu  seiner  persönlichen  Weltanschauung  treten.  Es  hatte 
sich  für  ihn  herausgestellt,  daß  auch  die  reinen  Formen  des 
Denkens  nur  innerhalb  der  von  der  sinnlichen  Anschauung  ge- 
gebenen Materialien  eine  Erkenntniskraft  besitzen.  Die  Welt  der 
menschlichen  Erkenntnis  ist,  in  der  Sprache  der  Inauguraldisser- 
tation zu  reden,  der  mundus  sensibilis.  Wären  wir  nur  er- 
kennende Wesen,  so  wüßten  wir  von  der  übersinnlichen  Welt 
ebensoviel  wie  von  den  Dingen  an  sich  —  d.  h.  nichts.  Aber 
Kants  moralphilosophische  Überzeugung  war  ja  schon  vorher 
völlig  in  sich  befestigt.  Für  sie  war  es  das  Gewisseste,  daß  der 
Mensch  als  ^moralisch  frei  handelndes  Wesen  der  übersinnlichen 
Welt  an<2;ehört.  Mochte  daher  auch  die  theoretische  Vernunft 
den   Bemff   einer   intellio;iblen   Welt   als   etwas   ihr   vollkommen 

o  o 

Fremdes  und  Gleichgültiges  beiseite  schieben,  —  in  dem  sittlichen 
Bewußtsein,  in  der  prakt^chen  Vernunft  ruhte  für  Kant  eine  voll- 
kommen gewisse  Überzeugung  von  der  Kealität  einer  intelligiblen 
Welt  von  Dingen  an  sich.  Mochten  alle  Formen  der  Erkenntnis 
nicht  ausreichen,  sie  auch  nur  als  möglich  zu  denken,  —  die 
praktische  Überzeugung  lebte  in  ihm:  sie  ist.  So  erwies  sich 
noch  jetzt  für  Kant   die   frühere  Unterscheidung  der  Moral  und 

Windelband,  Gesch.  d.  n.  Philos.    U.  4 


50  Antagonistische  Gedankenströmungen. 

der  Religiosität  von  ihrer  metaphysischen  Begründung  außer- 
ordentlich folgenreich  und  entscheidend  Er  vermochte  seine 
persönliche  Weltanschauung  mit  ihrem  ganzen  Rigorismus  des 
Gegensatzes  von  sinnlicher  und  sittlicher  Welt  gerade  jetzt  auf 
dem  Grunde  eines  moralischen  Glaubens  aufzubauen,  wo  er  die 
Metaphysik  aus  dem  Reiche  des  Übersinnlichen  verwiesen  und 
für  eine  apriorische  Wissenschaft  der  Erscheinungen  erklärt  hatte. 
So  fand  die  Annahme  von  Dingen  an  sich,  nachdem  sie  theore- 
tisch unterwühlt  worden  war,  bei  Kant  ihre  Basis  in  der  prak- 
tischen Überzeugung,  und  in  diesem  Sinne  konnte  er  später  mit 
Recht  erklären,  es  sei  ihm  nie  in  den  Sinn  gekommen,  an  der 
Realität  der  Dinge  zu  zweifeln.  Diese  seine  Überzeugung  deckte 
sich  aber  völlig  mit  der  Annahme  des  naiven  Realismus,  und 
so  kam  es,  daß  Kant  zu  derselben  Zeit  und  in  demselben  Werke, 
wo  er  den  naiven  Realismus  als  eine  für  die  wissenschaftliche 
Kritik  der  Erkenntnistheorie  unbrauchbare  Voraussetzung  ver- 
warf, in  seiner  gesamten  Weltanschauung  mit  um  so  größerer 
Energie  daran  festhielt. 

Aus  diesem  Ineinander  antagonistischer  Gedanken- 
strömungen ist  schließlich  die  Kritik  der  reinen  Vernunft  imd 
mit  ihr  die  gesamte  kritische  Philosophie  hervorgegangen.  In 
jenem  Grundwerke  sind  alle  die  Schlußreihen  und  alle  die  Auf- 
fassungen, welche  sich  in  Kants  Geist  um  diese  Zeit  kreuzten, 
gleichmäßig  niedergelegt.  Darin  besteht  der  eigentümliche  Charakter 
dieses  Werkes,  welches  so  unsäglich  mannigfachen  Beurteilungen 
unterlegen  ist.  Will  man  diese  Gegensätze  an  einem  Punkte 
und  auf  einen  Begriff  konzentriert  finden,  so  ist  es  derjenige 
der  Sinnlichkeit.  Von  dem  rein  erkenntnistheoretischen  Stand- 
punkte dürfte  Kant  »Sinnlichkeit«  nur  als  das  Gebiet  der  Emp- 
findungen und  ihrer  zeitlich-räumlichen  Anordnung  bestimmen, 
und  dürfte  er  nur  von  unserer  Erfahrung  und  ihren  notwendigen 
Formen  sprechen.  Weil  er  aber  wegen  seiner  praktischen  Über- 
zeugung an  der  Realität  der  Dinge  an  sich  festhielt,  so  konnte 
er  seine  frühere,  aus  der  Psychologie  des  naiven  Realismus  er- 
wachsene Begriffsbestimmung,  die  Sinnlichkeit  sei  das  Vermögen 
des  Geistes,^,  affizicrt  zu  werden^  und  seine  Bezeichnung,  die  Welt 
der  menschlichen  Vorstellungen  sei  diejenige  der  Erscheinungen, 
auch   in  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  stehen  lassen.     Die  er- 


KAnti  thoorctischo  Philonophio.  51 

konn(nisth(MH(»tis(|jo  Koi  imilicnni;^  isl  voraiiKsolzun^HloH  ^^ewonlen, 
aber  die  psychologischen  nestirnimin/^cn  Hetzen  noch  den  naiven 
Realismus  voraus.  Damit  aber  war  in  die  Darstellung^  der 
Kantisclicn  Kritik  selbst  ein  innerer  An<a,t,'onismuH  verlegt,  welcher 
der  Polemik  eine  willkommene  Handhabe  bot,  welcher  aber  zu- 
jj;Ieicli  auch  das  kräftijjjste  Ferment  in  der  weiteren  Ausbildung 
des  Kantischen  Gedankenkreises  gebildet  hat.  Diesen  nun  in 
seiner  ganzen  Ausdehnung  und  in  der  Mannigfaltigkeit  seiner 
Bestandteile  auseinanderzulegen,  ist  die  nächste  Aufgabe  dieser 
Darstellung. 

§  59.     Kants  theoretische   Philosophie. 

Kant  selbst  hat  stets  das  größte  Gewicht  darauf  gelegt,  daß 
der  unterscheidende  Charakter  seiner  Philosophie  in  jener  neuen 
Methode  zu  suchen  sei,  welche  er  die  kritische  oder  die  transzen- 
dentale genannt  hat.  Um  so  merkwürdiger  ist  es,  daß  über  das 
Wesen  dieser  Methode  unter  den  historischen  Forschern  eine  fast 
noch  geringere  Übereinstimmung  besteht,  als  über  den  Entwick- 
lungsgang des  Philosophen.  Während  Kant  sich  schmeichelte,  es 
werde  das  Ende  des  Jahrhunderts  nicht  vergehen,  ohne  daß  der 
von  ihm  durch  unbetretenes  Dickicht  gebahnte  Fußsteig  sich  in 
eine  breite  Heeresstraße  verwandelte,  so  herrscht  über  die  Ge- 
samtrichtung und  die  einzelnen  Windungen  dieses  Fußsteigs  noch 
heute  Streit.  Diese  Tatsache  macht  es  wahrscheinlich,  daß  ebenso 
wie  Kants  Entwicklungsgang  und  ebenso  wie  der  Grundstock  seiner 
Ansichten  auch  seine  Methode  sich  nicht  in  eine  einfache  Formel 
brmgen,  sondern  als  eine  Verdichtung  mannigfacher  methodischer 
Gesichtspunkte  ebenso  vielfache  Deutungen  möglich  erscheinen 
läßt  wie  jene. 

Als  »transzendental«  setzt  Kant  seine  Philosophie  dem 
»transzendenten«  Bestreben  der  früheren  Metaphysik,  die  Dinge 
an  sich  zu  erkennen,  in  dem  Sinne  entgegen,  daß  er  es  für  ihre 
Aufgabe  erklärt,  die  Bedingungen  apriorischer  Erkenntnis  auf 
allen  Gebieten  des  menschlichen  Denkens  festzustellen,  und  tran- 
_szendental  will  er  in  diesem  Sinne  alles  dasjenige  nennen,  was 
sich  auf  die  Möglichkeit  allgemeinen  und  notwendigen  Bewußt- 
seinsinhaltes bezieht.  Aber  die  bei  Kants  sonstiger  Pedanterie 
außerordentlich  merkwürdige  Erscheinung  seines  höchst  laxen  und 

4* 


/ 


52  Kants  theoretische  Philosophie. 

imbestimmten  Sprachgebrauches,  welche  zu  der  Dunkelheit  seiner 
Schriften  ebensoviel  wie  die  Schwerfälligkeit  seines  Periodenbaues 
beiträtet  und  ein  deutliches  Bild  seines  steten  Ringens  mit  dem 
Gedanken  gibt,  —  dieser  sein  Schreibgebrauch  läßt  ihn  an  jener 
Bestimmung  des  Unterschiedes  von  ^transzendent"  und  transzen- 
dental durchaus  nicht  festhalten  und  sehr  häufig  nach  der  alten 
Sitte  'transzendental  da  brauchen ,  wo  er  "^transzendent  meint. 
Sicherer  deshalb  und  weniger  Verwirrungen  ausgesetzt  scheint  die 
Bezeichnung  seiner  Methode  als  der  kritischen,  um  so  mehr, 
als  dieser  Terminus  in  einem  greifbaren  und  deutlichen  Gegensatz 
erscheint.  Dogmatisch  nennt  Kant  alle  Philosophie,  welche  ohne 
Prüfung  der  Erkenntnistätigkeit  und  ihrer  Grenzen  von  irgend- 
welchen Voraussetzungen  und  Vorurteilen  her  gleich  unmittelbar 
an  die  Erkenntnis  der  Dinge  gehen  will,  und  darunter  fällt  ihm 
der  Empirismus  so  gut  wie  der  Rationalismus  seiner  nächsten 
Vorgänger.  Nicht  minder  verwerflich  aber  erscheint  ihm  der 
Skeptizismus,  insofern  dieser  den  Nachweis  liefern  will,  daß  das 
menschliche  Denken  den  Anforderungen,  die  man  von  irgend- 
welchen dogmatischen  Voraussetzungen  her  daran  gestellt  hat, 
nicht  genügen  kann,  und  darauf  dann  eine  Art  von  Verzweiflung 
an  der  Erkenntnisfähigkeit  des  Menschen  überhaupt  gründet. 
Nicht  also  insofern  er  eine  Kritik  der  Erkenntnis  gibt,  sondern 
insofern  er  diese  Kritik  unter  dogmatischen  Vorurteilen  ausführt, 
wird  der  Skeptizismus  von  Kant  bekämpft.  Für  die  kritische 
Philosophie  aber  setzt  er  die  Aufgabe,  zunächst  den  Begriff  der 
Erkenntnis  neu,  d.  h.  ohne  dogmatische,  metaphysische  oder 
psychologische  Voraussetzungen  zu  formulieren  und  dann  zu  unter- 
suchen, inwieweit  das  menschliche  Denken  ihn  zu  realisieren  ver- 
mag. So  wurzelt  der  Begriff  der  kritischen  Philosophie  in  ihrer 
erkenntnistheoretischen  Aufgabe;  aber  er  überträgt  sich  dann, 
wenn  auch  mit  einigen  durch  die  Gegenstände  gebotenen  Ver- 
änderungen, auf  die  übrigen  Gebiete  der  Philosophie.  In  diesem 
Sinne  gilt  es,  daß  durch  Kant  der  erkenntnistheoretische 
Gesichtspunkt  zum  maßgebenden  für  die  Philosophie  überhaupt 
gemacht  worden  ist.  Nun  gab  es  Ansätze  zur  erkenntniskritischen 
Behandlung  genug  auch  in  der  vorkantischen  Lehre.  Bei  Locke, 
bei  Leibniz,  bei  Hume  sind  sie  unverkennbar  vorhanden;  aber 
die  Voraussetzung,  daß  das  Urteil  über  den  Erkenntniswert  der 


SynthotiHclirt  ITrtoilo  a  priori.  53 

Vorstollun^on  von  dor  Einsicht  in  ihron  Ursprung  abhiingo,  ver- 
quickte vor  Kant  überall  diese  Untersuchung  mit  psychologischen 
Theorien.  Kant  wunh»  erst  dadurch  originell,  daß  er  sich  klar 
machte,  es  sei  für  den  Erkenntniswert  des  Denkens  ganz  gleich- 
gültig, wie  es  zustande  gekommen  ist.  Dicf  Erkenntnistheorie 
soll  weder  besclireibende  noch  erklärende  Psychologie  sein;  sie 
ist  eine  kritische,  den  Wert  prüfende  Wissenschaft,  und  sie  muß 
deshalb  statt  von  Voraussetzungen  über  das  Wesen  der  Seele  und 
den  Ursprung  der  Vorstellungen,  vielmehr  von  einem  Idealbegriffe 
der  Erkenntnis  ausgehen,  der  sich  lediglich  auf  immanente 
Unterschiede  im  Werte  der  Vorstellungen  bezieht.  In 
dieser  Rücksicht  nun  stellt  Kant  an  die  Spitze  seines  syste- 
matischen Lehrvortrages  der  kritischen  Untersuchungen  das  Ideal 
der  synthetischen  Urteile  a  priori.  Erkenntnisse  sind  Ur- 
teile, aber  Urteile,  in  denen  Vorstellungen  miteinander  in  eine 
Verknüpfung  gebracht  werden,  die  nicht  durch  bloß  logische 
Analyse  ihres  Inhaltes  begründet  ist,  d.  h.  synthetische  Urteile, 
aber  solche,  welche  auf *^Allgemeingültigkeit  und  Notwendigkeit^ 
Anspruch  machen.  Man  hat  den  Unterschied  analytischer  und 
synthetischer  Urteile,  von  dem  die  Kritik  der  reinen  Vernunft 
ausgeht,  vielfach  dadurch  bemängelt,  daß  man  auf  die  psycho- 
logische Tatsache  hinwies,  es  könne  dasselbe  Urteil  für  den  einen 
Menschen  synthetisch  sein,  welches  für  den  andern  analytisch  sei. 
Dieser  Einwurf  ist  ebenso  wohlfeil,  wie  er  den  Sinn  der  Kantischen 
Unterscheiduno;  völlio-  mißversteht.  Kants  Unterschied  analvtischer 
und  synthetischer  Urteile  will  nicht  ein  solcher  der  psychologischen 
Genesis,  sondern  der  erkenntnistheoretischen  Begründung  sein. 
Die  analytischen  Urteile  haben  keinen  Erkenntniswert ,  weil  die 
formal-logische  Begründung  nur  dem  Inhalte  der  Prämissen  eine 
neue  Form  gibt.  Der  wahre  Erkenntnis  wert  gebührt  erst  den- 
jenigen Urteilen,  welche  Vorstellungen  in  Beziehungen  zueinander 
setzen,  die  nicht  durch  das  logische  Verhältnis  ihres  Inhaltes 
begründet  sind.  Dieser  Wert  gebührt  in  der  ersten  Linie  allen 
tatsächlichen  Vorstellungs verknüpf ungen ,  die  durch  die  Wahr- 
nehmung gewonnen  werden.  Der  Grund  der  Svnthesis  ist  aber 
in  diesem  Falle  ein  Akt  der  Erfahrung.  Deshalb  nennt  Kant 
diese  Urteile  synthetische  Urteile  a  posteriori.  Nun  kommt  der 
rationalistische    Charakter    seines    Denkens    mit    voller    Klarheit 


54  Kants  theoretische  Philosophie. 

darin  zutage,  daß  er  diese  Urteile  zwar  als  zu  Recht  bestehend 
und  als  die  Grundlage  aller  Erkenntnistätigkeit  anerkennt,  daß 
sich  aber  seine  Erkenntnistheorie  mit  ihrer  Kritik  prinzipiell  nicht 
befaßt.  Wenn  man  Kants  Lehre  eine  Theorie  oder  Kritik  der 
Erfahrung  genannt  hat,  so  darf  man  darunter  im  Prinzip  nicht 
eine  Untersuchung  über  den  Wert  derjenigen  einzelnen  Urteile 
vermuten,  welche,  wie  man  sich  gewöhnlich  ausdrückt,  durch  die 
Erfahrung  gewonnen  sind.  Alle  diese  Urteile  bilden  vielmehr  für 
Kant  keinen  Gegenstand  der  philosophischen  Kritik:  diese  richtet 
sich  auf  den  ganz  neuen  Begriff  von  Erkenntnissen,  welchen  Kant 
in  den  synthetischen  Urteilen  a  priori  aufstellt.  Die  Leibnizische 
Theorie  hatte  den  verites  de  fait  nur  die  verites  eternelles,  d.  h. 
die  logischen  Grundsätze  des  analytischen  Verfahrens  gegenüber- 
zustellen gewußt.  Kant  aber  fand,  daß  es  ursprüngliche  Begriffs- 
verknüpfungen gibt,  die  nicht  logischen  Charakters  und  doch  all- 
gemein und  notwendig  sind.  Gibt  es  solche,  so  muß  es  sich  fragen, 
worin  in  diesem  Falle  der  Grund  der  Synthesis  liegt.  Damit  ist 
die  Aufgabe  der  Kantischen  Philosophie  und  die  kritische  Methode 
ihrer  Lösung  bestimmt. 

Auf  allen  Gebieten  des  menschlichen  Bewußtseins,  (nicht  nur 
auf  demjenigen  des  Erkennens, )  forscht  Kant  nach  der  Existenz 
^synthetischer  Urteile  a  priori,^  d.  h.  ursprüngHcher,  nicht  logisch 
begründeter  Begriffsverknüpfungen  von  ^^  allgemeiner  und  not- 
wendiger Geltung.  Aber  mit  ihrer  Konstatierung  ist  es  nicht 
abgetan,  sondern  darauf  folgt  erst  die  wichtigere  Frage  nach  dem 
Grunde  ihrer  Synthesis;  und  erst  die  Einsicht  in  diesen  kann  für 
die  Kritik  den  Maßstab  abgeben,  nach  welchem  sie  beurteilt,  ob 
der  Anspruch  auf ,  Allgemeingültigkeit  und  Notwendigkeit  im 
einzelnen  Falle  berechtigt  sei  oder  nicht.  Man  hat  die  kritische 
Methode  so  aufgefaßt,  als  schlösse  sie  von  den  konstatierten  syn- 
thetischen Urteilen  a  priori  auf  die  Bedingungen  ihrer  Möglich- 
keit und  lehrte  dann,  daß  diese  Bedingungen  im  menschlichen 
Geiste  wirklich  vorhanden  seien,  weil  ja  ihre  Wirkungen  kon- 
statiert seien.  Wäre  dies  das  Schluß  verfahren  Kants,  so  müßte 
er  aus  der  von  ihm  konstatierten  Tatsache  synthetischer  Urteile 
a  priori  in  der  Metaphysik  des  Übersinnlichen  haben  erschheßen 
müssen,  daß  die  von  ihm  deduzierte  Bedingung  dafür,  die,  in- 
tellektuelle Anschauung,  dem  menschlichen  Geiste  angehöre:  denn 


Kritiiohe  Methode.  56 

es  wilro  sonst  ^anz  willkiirlicli  von  ihiii,  den  Anspruch  (l»«,r  vÄwn 
Wissonscliaft  andors  als  denjenigen  der  andern  zu  bi^handelri*). 
Aber  Kants  Selduliweise  ist  eine  j^anz  andere.  Er  konstatiert 
die  synthetischen  Urteile  a  priori  nicht  als  Hewcismaterial,  sondern 
als  Objekt  der  Kritik.  Er  untersucht  bei^einer  jeden  Art,  unter 
welchen  Bedin«i;un»j;en  allein  sie  bercchti<^t  sein  könne,  und  fra^t 
dann,  ob  diese  Bedingungen  sachlich  in  dem  Iidialte  der  Urteile 
selbst  erfüllt  sind  oder  nicht.  Je  nachdem  diese  Frage  bejaht 
oder  verneint  wird,  entscheidet  sich  dann  das  Urteil  über  die 
Berechtigung  der  synthetischen  Urteile  a  priori.  Wenn  dies  die 
eigentliche  Anlage  der  kritischen  Methode  ist,  so  kann  es  ander- 
seits nicht  zwieifelhaft  sein,  daß  sie  aus  den  verwickelten  Deduk- 
tionen der  Kantischen  Lehre  erst  herausgeschält  werden  muß. 
Namentlich  auf  dem  Gebiete  der  praktischen  Philosophie  wird 
sie,  wie  sich  zeigen  wird,  durch  einen  anderen  Gedanken  der- 
artig gekreuzt,  daß  sie  fast  bis  zur  UnkenntUchkeit  entstellt  ist. 
Hauptsächlich  aber  ist  ihre  Klarheit  durch  die  Nötigung  getrübt, 
in  welche  sich  Kant  versetzt  sah,  zu  ihrer  Durchführung  wiederum 
psychologische  Voraussetzungen  und  Untersuchungen  anzuwenden. 
Denn  wenn  die  Frage  nach  der  Berechtigung  des  Anspruchs  der 
synthetischen  Urteile  auf  Allgemeingültigkeit  und  Notwendigkeit 
danach  entschieden  wurde,  daß  die  Bedingungen  dazu  im  Er- 
kenntnisinhalt entweder  vorhanden  sind  oder  fehlen,  so  liegt  ja 
die  Entscheidung  der  erkenntnistheoretischen  Fragen  zuletzt  doch 


*)  Die  im  Text  abgelehnte  Auffassimg  der  kritischen  Methode  ist  wesent- 
lich auf  einseitigen  Anschluß  an  die  »Prolegomenac  zurückzuführen.  In  diesem 
Werke  gibt  Kant  nicht  das  System,  sondern  eine  Einführung  dazu,  die  seinen 
eigenen  findenden  Gedankengang  wiederholt:  darum  darf  er  hier  überall  die 
apodiktische  Gewißheit  der  Mathematik  (und  sogar  der  reinen  Naturwissen- 
schaft) als  etwas  Zugestandenes  und  Selbstverständliches  voraussetzen  und 
dies  dann  zum  Richtpunkt  seiner  Untersuchung  machen,  indem  nach  diesem 
Prinzip  auch  die  Kritik  der  für  problematisch  angesehenen  Metaphysik  durch- 
geführt wird.  Hier  heißt  es:  »Mathematik  besteht  zu  Recht.  "Weshalb? 
Nur,  weil  ihre  synthetischen  Urteile  a  priori  in  den  reinen  Anschauungen 
Raum  und  Zeit  begründet  sind.  Gibt  es  etwas  ähnliches  für  die  Meta- 
physik?  Nein.  Also  besteht  sie  zu  Unrecht.«  Diese  persönliche  Behandlung 
der  Sache  in  den  P-^le^^omena  ist  sehr  eindrucksvoll;  aber  sie  darf  nicht 
mit  dem  objektiven  Verfahren  in  der  Kriti^  selbst  gleichgesetzt  werden. 
Denn  diese  darf  für  keinen  der  Ansprüche  auf  Apriorität  voreingenommen 
sein,  sondern  muß  alle  gleichmäßig  auf  ihre  Berechtigung  prüfen. 


56  Kants  theoretische  Philosophie. 

immer  wieder  bei  einer  psychologischen  Einsicht,  wenn  auch  nicht 
in  den  Ursprung  der  Vorstellungen,  so  doch  in  die  Eigenschaften 
der  menschlichen  Intelligenz  oder,  wie  Kant  mit  der  empirischen 
Psychologie  seiner  Zeit  sagt,  in  die^yermögen  des  menschlichen 
Gemüts.  So  kommt  es,  daß  die  Erkenntnistheorie,  wenn  sie  auch 
ihre  Aufgabe  ohne  jede  Rücksicht  auf  psychologische  Voraus- 
setzungen formuliert  hat,  doch  zu  deren  Lösung  überall  auf  psycho- 
logische Tatsachen  und  Theorien  rekurrieren  muß,  und  dieses  Ver- 
hältnis rechtfertigt  sich  von  selbst,  sobald  man  bedenkt,  daß  es 
sich  um  die  Kritik  nicht  irgend  einer  anderen,  sondern  eben  der 
menschlichen  Erkenntnisfähigkeit  handelt.  Aber  Kant  hat  nun 
in  seiner  Durcheinanderarbeitung  des  ungeheuren  Stoffs  es  ver- 
säumt, diese  verschiedenen,  im  ganzen  sich  gegenseitig  ergänzen- 
den und  tragenden  Gedankenreihen  auseinanderzuhalten  und  ihre 
Gliederung  überall  klarzulegen,  und  er  hat  dadurch  nicht  zum 
wenigsten  das  Verständnis  seines  gesamten  philosophischen  Werkes 
erschwert. 

Es  ist  aber  hieraus  klar,  daß  dem  ganzen  Umfange  der  Kanti- 
schen Kritik  eine  nicht  minder  umfangreiche  Transzendental- 
psychologie zugrunde  liegt,  und  es  wird  das  um  so  merkwürdiger 
dadurch,  daß  Kant  im  Verlaufe  seiner  Kritik  der  Wissenschaften 
die  »rationale«  Psychologie  für  unmöglich  erklärt  und  der  »em- 
pirischen« Psychologie  den  Charakter  exakter  Wissenschaftlichkeit 
abgesprochen  hat.  In  dem  energischen  Hinblick  auf  die  Kritik 
des  Wertes  bedachte  er  nicht  die  große  Anzahl  von  psychologischen 
Voraussetzungen,  mit  denen  er  selbst  nicht  nur  bei  der  Lösung 
jedes  einzelnen  Problems  verfuhr  und  der  Natur  der  Sache  nach 
verfahren  mußte,  sondern  auch  den  ganzen  Aufbau  seiner  neuen 
Lehre  ghederte.  So  enthält  seine  Lehre  zwar  die  vollkommene 
Unterordnung  des  psychologischen  Moments  unter  das  erkenntnis- 
theoretische, aber  doch  auch  zugleich  den  Beweis,  daß  ohne  die 
Aufnahme  des  ersteren  die  kritische  Aufgabe  durchaus  nicht 
gelöst  werden  kann. 

Von  der  psychologischen  Grundlage  seines  gesamten  Systems 
hat  Kant  den  klarsten  Ausdruck  teils  in  der  Einleitung  in  die 
Kritik  der  Urteilskraft,  teils  besonders  in  einem  kleinen  Aufsatze 
gegeben,  welcher  anfänglich  für  diese  Einleitung  bestimmt  war, 
später   von   S.  Beck   am  Schlüsse   seines  »Erläuternden  Auszuges 


VorhültniH  zur  Psycholoprio. "  57 

aus  (Ion  kritischon  Schriften  dos  Jlorrn  ProfcH.sor  Kant«  mit 
Aulorisalion  dos  IMiilosoplion  iiuszu«^sw(Mso  voröffontliclit  wurde 
und  unter  doni  'Pitol  »  ul)or  IMiilosoplnc^  ühorluiuptc  in  dioSanunlun^ 
seiner  Sehrilien  iiber<i;ef^an}^on  ist.  Kant,  iiherninunt  hier  die  Drei- 
teilun<jj  der  psychischen  Funktionen,  welc4ie  in  der  enij)irischen 
Psychologie  seiner  Zeit  durcl»  Sulzer,  Mendels.«ohn  und  Tetens 
geläufig  geworden  war  und  neben  dem  Erkenntnis-  und  dem 
Begehrungsvermögen  ein  Gefühlsvermögen  ansetzte.  Er  fügt  dann 
liinzu,  daß  allen  tlrei  Vermögen  gewisse  synthetische  Urteile  a 
priori  eigen  seien,  und  daß  deren  Imtische  Untersuchung  das 
ganze  Geschäft  seiner  Transzendentalpliilosopliie  ausmache.  Im 
Erkenntnisvermögen  bestehen  die  apriorischen  Synthesen  in  einer 
Eeihe  von  Urteilen,  welche  ohne  formal-logische  Verknüpfung  die 
Grundbegriffe  unserer  Weltauffassung  in  notwendiger  und  all- 
gemeingültiger Weise  miteinander  verbinden*).  Auf  dem  Gebiete 
des  Begehrung-svermögens  bestehen  die  apriorischen  Synthesen 
darin,  daß  einerseits  dem  Willen  eine  allgemein  und  notwendig 
geltende  Beziehung  auf  gewisse  Gegenstände  zugemutet  wird,  ander- 
seits gewissen  Willensbetätigungen  die  moralischen  Prädikate^ gut" 
oder"  böse  in,  notwendiger  und  allgemeingültiger  Weise  zugesprochen 
werden:  die  praktischen  Synthesen  a  priori  sind  "Pflichten  oder 
Wertbeurteilungen  von  allgemeiner  und  notwendiger  Geltung.  Auf 
dem  Gebiete  des  Gefühls  Vermögens  bestehen  die  synthetischen 
Urteile  a  priori  darin,  daß  es  gewissen  Gegenständen  gegenüber 
allgemeingültige  imd  notwendige  Gefühle  der  Lust  oder  Unlust 
gibt,  w^elche  sich  durch  die  Prädikate  der'  Schönheit  oder  Häß- 
lichkeit, der  Zweckmäßigkeit  oder  Unzweckmäßigkeit  zu  erkennen 
geben:  die  apriorischen  Synthesen  des  Gefühls  Vermögens  sind, 
a  potiori  benannt,  die  ästhetischen**)  Urteile.  Hiernach  ghedert 
sich  die  kritische  Philosophie  in  die  drei  Hauptteile  einer  Kritik 

*)  Man  übersieht  von  hier  aus  vielleicht  am  einfachsten  Kants  Stellung 
zu  der  schottischen  Schule.  Diese  behauptete  gegen  Locke  und  die  Asso- 
ziationspsychologie die  Existenz  und  Evidenz  »ursprünglicher  LTteile«,  welche 
sie  auf  empirisch-psychologischem  Wege  konstatieren  wollte.  In  gewissem 
Sinne  decken  sich  diese  mit  Kants  synthetischen  Urteilen  a  priori;  nur  mit 
dem  Unterschiede,  daß  die  Schotten  diese  Urteile  als  absolute  "Wahrheit  des 
Commonsense  anerkannten,  während  Kant  ihre  Berechtigung  in  Frage  stellte. 
Kant  fängt  also  genau  dajin,  wo  die  Schotten  aufhörten. 

**)  Über  den  Terminus  >ästhetisch«  vgl.  Bd.  1,  §  50,  S.  535. 


58  Kants  theoretische  Philosophie. 

der  theoretischen,  der  praktischen  und  der  ästhetischen  syn- 
thetischen Urteile  a  priori,  und  das  ganze  Kantische  System  in 
seine  theoretische,  praktische  und  ästhetische  Lehre.  Den  Grund- 
stock der  kritischen  Werke  Kants  bilden  deshalb  die  sogenannten 
drei  großen  Kritiken,  von  denen  jede  das  Grundwerk  für  einen 
dieser  drei  Teile  bildet:  die  Kritik  der  reinen  Vernunft,  die  Kritik 
der  praktischen  Vernunft  und  die  Kritik  der  Urteilskraft,  —  die 
drei  Werke,  um  welche  sich  alle  übrigen  Kantischen  Schriften 
mit  mehr  oder  minder  naher  Beziehung  gruppieren. 

Wenn  man  unter  theoretischer  Philosophie  bei  den  früheren 
Philosophen  in  erster  Linie  ihre  wissenschaftliche  Begründung  der 
Weltanschauung,  m.  a.  W.  ihre  Metaphysik  versteht,  so  bezieht 
sich  bei  Kant  dieser  Name  im  wesentlichen  auf  seine  Theorie  der 
menschlichen  Erkenntnis,  d.  h.  also  eigentlich  auf  die  Theorie  der 
Theorie.  Es  ist  seine ^ Wissenschaftslehre,  welche  diesen  Namen 
verdient,  und  nur  ihr  besonderer  Charakter  gibt,  wie  sich  ent- 
wickeln wird,  die  Berechtigung,  seine  Naturphilosophie  in  diesen 
Kreis  seiner  Betrachtungen  hineinzuziehen. 

Die  Grundfrage  dieses  Teiles  der  Kantischen  Lehre  ist  also 
diejenige  nach  der  Berechtigung  solcher  Wissenschaften,  welche 
'synthetische  Urteile  a  priori  enthalten.  Kant  konstatiert  nach 
dem  Schema,  das  am  deutlichsten  die  Prolegomena  darbieten, 
I)  deren  drei.  In  erster  Linie  steht  die  Mathematik.  Die  Sätze, 
welche  diese  entwickelt,  sind  zweifellos  als  allgemeingültig  und 
notwendig  anerkannt :  daß  sie  zugleich  synthetisch  sind,  behauptete 
Kant  auf  Grund  seiner  Einsicht  in  den  anschaulichen  Charakter 
des  mathematischen  Denkens.    In  zweiter  Linie  kommt  die  »reine 

L)  Naturwissenschaft«  in  Betracht.  Unter  diesem  Namen  begreift 
Kant  die  Gesamtheit  der  Grundsätze,  die  aller  Naturanffassung 
und  Naturforschung  zugrunde  liegen;  er  fand  sie  allerdings  nicht 
als  ein  gegebenes  System  vor,  sondern  schuf  sie  selber  erst  in 
der  ersten  Auflage  der  Kritik  der  reinen  Vernunft.    Drittens  aber 

3\  beansprucht  die  Metaphysik  mit  ihrer  Seelen-,  Welt- und  Gottes- 
lehre die  Notwendigkeit  und  die  Allgemeingültigkeit  von  Sätzen, 
die  nur  scheinbar  durch  bloß  logische  Analyse,  in  Wahrheit  aber 
durch  synthetische  Akte  begründet  sind. 

Die  Aufgabe  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  ist  die  Prüfung 
der  Berechtigung  dieser  drei  Wissenschaften,  und  sie  vollzieht  sich 


lOintoilunpf  der  VornuDfikriiik.  69 

wiederum  naeli  einer  pHy('h()l<);4iscben  ScheinatiHierun^.  Der  Clegcn- 
siitz  von  Sinnlichkeit  und  Denken  j^liedert  die  trauHzendentale 
»Elenienlailehre«  in  die  transzendentale  Ästhetik  und  die  tran- 
szendentale Logik,  von  denen  die  erstere  die  Kritik  der  Mathe- 
matik zu  ihrem  Cregenstaude  hat.  i)ie  letztere  teilt  sich  danach, 
daß  das  Denken  als  Verstand  eine  rationale  Eikenntnis  der  Sinnen- 
weit, als  Vernunft  dagegen  eine  solche  der  übersinnlichen  Welt 
zu  finden  sucht,  in  transzendentale  Analytik  und  transzendentale 
Dialektik,  von  denen  der  ersteren  die  Kritik  der  reinen  Natur- 
wissenschaft,   der  letzteren  diejenige  der  Metaphysik  anheimfällt. 

Der  gesamten  erkenntnistheoretischen  Kritik  Kants  hegt  die 
transzendental -psychologische  Auffassung  bestimmend  zugrunde, 
daß  Sinnlichkeit  imd  Verstand  die  beiden  vielleicht  in  ihrer  letzten 
Wurzel  vereinigten,  in  unserem  Bewußtsein  jedoch  vollkommen 
gesondert  und  verschieden  funktionierenden  Stämme  der  Erkenntnis 
seien,  daß  aber  anderseits  jede  objektive,  d.  h.  notwendige  und 
allgemeingültige  Erkenntnis  nicht  an  einem  dieser  beiden  Stämme 
allein  reife,  sondern  vielmehr  stets  die  Frucht  von  beiden  sei. 
Spielt  dabei  die  Sinnlichkeit  die  weibliche  Rolle  der  Em^fan^Uchkeit,- 
so  gebührt  dem  Verstände  die  befruchtende  Funktion  der  Spon- 
taneität. Erweisen  sich  nun  in  dem  Kantischen  System  alle 
'Arten  der  Erkenntnis  a  priori  durch  die  verschiedenen  Verhält- 
nisse bedingt,  worin  diese  beiden  Faktoren  unseres  Denkens  mit- 
einander treten,  so  läßt  sich  in  dem  systematischen  Aufbau  der 
Kritik  der  reinen  Vernunft  eine  allmähliche  Verschiebung  dieses 
Grund  Verhältnisses  nicht  verkennen.  Erst  in  der  transzendentalen 
Analytik  wird  es  klar,  daß  die  »SinnUchkeit«,  i.die  in  der  tran- 
szendentalen Ästhetik  noch  wie  dereinst  in  der  Inauguraldisser- 
tation als  Vermögen  der  ^Empfänglichkeit  auf  tritt,,  in  Wahrheit 
schon  auch  ein  aktives  Prinzip  darstellt,  dessen  synthetische 
Funktion  in  den  genauesten  Beziehungen  zu  denen  des  »Ver- 
standes« steht.  Hier  liegt  ein  Hauptgrund  für  die  Schwierigkeit, 
die  das  Verständnis  des  Werkes  darbietet. 

Wenn  zimächst  Kant  die  Mathematik  als  eine  anschauliche 
Wissenschaft  bezeichnet,  so  ist  das  nicht  so  zu  verstehen  als  ob 
damit  aus  ihr  die  Verstandestätigkeit  überhaupt  ehminiert  werden 
sollte.  Begriffsbildung,  Urteil  und  Schluß  gehören  selbstverständ- 
lich zu  ihrem  Apparate  ebenso  wie  zu  demjenigen  aller  anderen 


.V 


AO  Kants  theoretische  Philosophie. 

Wissenschaften.  Was  Kant  der  früheren  Auffassung  gegenüber  be- 
hauptet, ist  vielmehr  nur  dies,  daß  der  Grund  für  die  Begriffe  und 
die  Axiome*),  mit  denen  die  Mathematik  operiert,  nicht  in  rein 
lo<7ischen  Prozessen,  sondern  vielmehr  in  Akten  der  Anschauung 
zu  suchen  sei.  Daß  die  gerade  Linie  die  kürzeste  zwischen  zwei 
Punkten,  daß  die  Summe  von  5  und  7  gleich  12  ist,  sind  Sätze, 
welche  durch  logische  Analyse  ihrer  Subjektbegriffe  nicht  gefunden 
werden  können.  Im  Begriff  der  Geradheit  liegt  kein  Merkmal  der 
Entfernungsgröße,  im  Begriff  der  Summe  zweier  Zahlen  Hegt  nicht 
eine  andere  Zahl  als  ihr  Merkmal.  Diese  Sätze  müssen  also  in 
einer  Synthesis  begründet,  und  diese  Synthesis  kann  nicht  die- 
jenige einer  zufälligen  Erfahrung  sein,  denn  sonst  wäre  die  All- 
gemeingültigkeit und  Notwendigkeit  jener  Sätze  nicht  erklärt..^ 
Das  ein-  oder  mehrmaHge  Ausmessen,  das  ein-  oder  mehrmahge 
Zusammenzählen  ist  kein  Beweis  für  jene  Sätze.  Aber  sie  leuchten 
sofort  und  unmittelbar  ein,  sobald  man  ihren  Inhalt  in  der  An- 
schauung konstruiert.  Indem  man  die  gerade  Linie  zwischen  zwei 
Punkten  zieht,  ergibt  es  sich  in  der  Anschauung  als  unmittelbar 
selbstverständUch,  daß  es  keine  kürzere  geben  kann,  und  indem 
man  den  Akt  des  Summierens  in  der  Zahlenreihe  ausführt,  bleibt 
auch  nicht  der  Schatten  eines  Zweifels  darüber  bestehen,  daß 
das  Resultat  unter  allen  Umständen  dasselbe  sein  muß.  Liegt 
somit  der  Grund  der  Synthesis  in  der  Anschauung,  so  ist  es  nicht 
eine  einzelne  oder  die  Summe  mehrerer  einzelner  Erfahrungen, 
sondern  vielmehr  die  Notwendigkeit  und  Allgemeingültigkeit  des 
Aktes  als  solchen,  denen  jene  Sätze  ihre  Apodiktizität  verdanken. 
Diese  Apodiktizität  gilt  also  nur,  wenn  es  allgemeingültige  und 
notwendige  Anschauungsakte^  gibt.  Nun  ist  aber  in  der  Anschauung 
alles,  was  die  sinnliche  QuaUtät  der  einzelnen  Gegenstände  der 
Wahrnehmung  bildet,  Farben,  Töne  usw.,  von  subjektiver,  indi- 
vidueller Wandelbarkeit.  Allgemein  und  notwendig  können  des- 
halb nur  die  räumlichen  und  zeitlichen  Formen  sein;  imd  auch 


*)  Daß  auch  die  Beweisführung  der  Mathematik  niclit  in  der  Form  des 
Syllogismus  stattfinde,  sondern  auf  anschaulichen  Überfülirungen  beruhe,  hat 
Kant  niemals  behauptet.  Diese  Konsequenz  hat  erst  Schopenhauer  zu  ziehen 
gesucht,  während  für  Kant  sich  die  Anschaulichkeit  des  mathematischen 
Verfahrens  auf  die  Konstruktion   der  Begriffe   und   die   der  Beweisführung 


zugrunde  liegenden  Axiome  beschränkt. 


TranBzc»n«lonliilo  Änthotilc,  (\] 

mir  für  diese  «^ilt  ja  die  inatliomatiHche  Gcsetzrnäüi^keit.  Die 
liediii^iin;^  also,  unter  welcher  allein  der  Anspruch  der  Mathe- 
matik auf  All;jjeniein!4Ülti;^keit  uiul  Notwendi^^keit  berechtiget  sein 
kann,  ist  diejenige,  daß  sie  eine  Reflexion  auf  die  notwendigen 
und  allgemeingültigen  Formen  aller  i\nschauungen  überhaupt  bildet, 
und  daß  die  beiden  Elemente  der  mathematischen  Konstruktion, 
Raum  und  Zeit,  solche  Formen,  d.  h.  Anschauungen  a  priori 
sind.  Die  Untersuchung  dieser  Frage  gibt  also  eine  transzen- 
dentale Anschauungslehre,  d.  h.  (nach  dem  etymologischen  Sinne 
des  Wortes)  Ästhetik. 

Den  Beweis  für  die  Apriorität  von  Raum  und  Zeit  führt  Kant 
auf  vier  Wegen.  Die  Vorstellmigen  von  Raum  und  Zeit  können 
nicht  erst  auf  dem  Wege  der  Abstraktion  aus  denjenigen  von  ^/ 
einzelnen  Räumen  und  einzchien  Zeiten  begründet  werden,  sondern 
die  letzteren  tragen  bereits  in  den  Merkmalen  des  Nebeneinander 
und  Nacheinander  das  allgemeine  Merkmal  der  Räumlichkeit  und 
der  Zeitlichkeit  in  sich.  Haben  sie  auf  diese  Weise  keine  em- 
pirisclie  Begründung,  so  sind  sie  zweitens  dennoch  durchaus  not-  O 
wendige  Vorstellungen,  da  man  zwar  alle  Gegenstände  aus  ihnen, 
nicht  aber  sie  selbst  fortzudenken  imstande  ist.  Drittens  sind  3^ 
Raum  und  Zeit  überhaupt  nicht  Begriffe  in  dem  logischen  Sinne 
des  Wortes  (diskursive  Begriffe).  Denn  es  gibt  eben  nur  den 
einen  allgemeinen  Raum  und  die  eine  allgemeine  Zeit,  und  eine 
Vorstellung,  der  nur  ein  einziges  Objekt  entsprechen  kann,  ist 
kein  Gattungsbegriff,  sondern  eine  Anschauung.  Das  Verhältnis  des 
Raumes  zu  den  einzelnen  Räumen  und  der  Zeit  zu  den  einzelnen 
Zeiten  ist  ein  gänzlich  anderes  als  dasjenige  eines  Gattungsbegriffes 
zu  seinen  Arten  bzw.  Exemplaren.  Einzelne  Räume  oder  Zeiten  sind 
realiter  Teile  des  allgemeinen  Raumes  oder  der  allgemeinen  Zeit; 
aber  ein  einzelner  Tisch  ist  durchaus  nicht  realiter  ein  Teil  des  all- 
gemeinen Tisches,  sondern  hier  ist  umgekehrt  die  allgemeine  Vor- 
stellung Tisch  nur  ein  Teil  der  Vorstellung  des  einzelnen  Tisches. 
Endlich  würde  viertens  ein  Begriff  niemals  so  gedacht  werden  können,  vj 
daß  sein  Gegenstand  eine  imendliche  Menge  einzelner  Gegenstände 
in  sich  als  reale  Teile  enthielte.  Da  nun  Raum  und  Zeit  das  letztere 
tun,  so  folgt  daraus,  daß  sie  nur  in  der  Unbegrenztheit  einer 
anschaulichen  Funktion  begründet  sind.  So  findet  Kant  durch 
eine  Untersuchung  des  Verhältnisses,  worin  sich  die  Vorstellungen 

^A^,^^     ,-/.-*^      ^:.**#^     .«^^^t^M^     ^?n,/<i^^     .^^>  -    ^*'  '     '^^         ^^^^-    ^ 


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ß2  Kants  theoretische  Philosophie. 

von  Eaum  und  Zeit  zu  unseren  einzelnen  Anschauungen  befinden, 
daß  die  letzteren  überhaupt  erst  darauf  allein  beruhen,  daß  ihnen 
Raum  und  Zeit  als  notwendige  undallgemeineAnschauungs- 
formen,  als  Anschauungen  a  priori  zugrunde  liegen.  Ist 
aber  dies  erwiesen,  so  ergibt  sich  daraus,  daß  die  Reflexion  auf 
die  innere  Gesetzmäßigkeit  dieser  reinen  Anschauungen  —  und 
nichts  anderes  enthält  die  Mathematik  —  notwendige  und  all- 
gemeine Geltung  mit  vollem  Rechte  beansprucht. 

Die  Apodiktizität  der  Mathematik  griiadet  sich  also  darauf, 
daß  Raum  und  Zeit  die  apriorischen  Formen  der  sinnlichen  An- 
schauung sind.  Man  muß  den  Begriff  der^Apriorität  ganz  scharf 
verstehen,  um  nicht  die  Kantische  Lehre  von  vornherein  miß- 
zudeuten.  Sein  Begriff  von  Apriorität  hat  mit  der  psychologischen 
Priorität  nichts  zu  tun,  so  sehr  es  bei  Kants  vieldeutiger  und 
unsicherer  Ausdrucksweise  manchmal  den  Anschein  haben  mag.  Es 
ist  Kant  auch  nicht  im  entferntesten  eingefallen,  jemals  zu  be- 
haupten, daß  Raum  und  Zeit^^eingeborene  Ideen  etwa  im  Sinne 
der  Cartesianer  seien;  er  hat  niemals  daran  gedacht,  zu  meinen, 
daß  der  Mensch  die  Vorstellung  des  allgemeinen  Raumes  und  der 
allgemeinen  Zeit  mit  auf  die  Welt  brächte  und  in  diese  nun  die 
einzelnen  sinnlichen  Anschauungen  an  passende  Stellen  einfügte. 
Sein  Begriff  der  Apriorität  will  eben  nur  sagen,  daß  Raum  und 
Zeit  die  immanente,  dem  Wesen  der  Anschauunastätiokeit  eigene 
GgsetztBäte:keit  bilden,  die  nicht  etwa  erst  durch  die  einzelnen 
Erfahrungen  erzeugt  wird,  sondern  vielmehr  ihrerseits  zu  den 
konstitutiven  Prinzipien  jeder  einzelnen  Wahrnehmung  gehört. 
Lösen  wir  daher  in  der  Abstraktion  die  räumliche  und  die  zeit- 
liche Form  von  ihrem  besonderen  sinnlichen  Inhalt  ab,  so  bringen 
wir  uns  nur  die  Gesetzmäßigkeit  zum  Bewußtsein,  welche  bei  der 
Genesis  der  Wahrnehmimg  ohne  unser  bewußtes  Zutun  in  uns 
schon  wirksam  war.  Mit  der  psychologischen  Frage  wie  wir  dazu 
kommen,  uns  diese  unbewußt  in  uns  tätige  Gesetzmäßigkeit  zum 
Bewußtsein  zu  bringen,  hat  sich  Kant  niemals  eingehender  be- 
schäftigt; wo  er  sie  jedoch  streift,  hat  er  stets  seine  Ansicht 
dahin  ausgesprochen,  daß  diese  Gesetzmäßigkeit  uns  nicht  anders 
zum  Bewußtsein  kommen  kann,  als  indem  wir  sie  in  den  be- 
sonderen, einzelnen  Wahrnehmungen  anwenden.  In  dem  Streite 
der   modernen  Physiologen  und  Psychologen  über  den  Ursprung 


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AnHcbnmmprii  a  priori.  08 


der  Haumvorstolhm«};  würde  Kant  zweifellos  imf  Seite  der  Em- 
piristen  stehen;  aber  seiiu»  Lehre  von  der  Aprioritiit  hat  iiher- 
luinpt  mit  der  {ganzen  Streitfra«^e  niehls  zn  tun  und  ist  daher 
am  aUerfalscliesten  gedeutet  worden,  wenn  man  sie  mit  dem 
physi()h)gischen  Nativismus  verglciclien  zu  dürfen  meinte. 

Mit  der  (lültigkeit  der  mathematischen  Apodiktizitüt  ist  aber 
dureh  die  Lehre  von  der  Aprioritiit  von  Raum  und  Zeit  jene 
phänomenal  istische  Konsequenz  verbunden,  die  in  Kants  Ent- 
wicklung eine  so  bedeutsame  Rolle  spielte.  Waren  Raum  und  Zeit 
die  Formen  unserer  sinnlichen  Anschauung,  mid  zwar  ihre  not- 
wendigen und  allgemeingültigen  Formen,  so  galt  die  mathematische 
Gesetzmäßigkeit  ausnahmslos  für  den  gesamten  Umfang  unserer 
sinnlichen  Vorstellimgswelt.  Aber  diese  Konsequenz  reichte  nur 
so  weit,  als  es  sich  eben  um  unsere  Vorstellungswelt  handelt. 
Müßten  wir  räumliche  und  zeitliche  Verhältnisse  erst  durch  die 
Einwirkung  wirklicher  räumlicher  und  zeitlicher  Dinge  auf  unseren 
Geist  erfahren,  so  könnten  wir  niemals  sicher  sein,  daß  nicht  eine 
spätere  Erfahrung  unsere  bisherige  Erkenntnis  der  mathematischen 
Gesetzmäßigkeit  rektifizierte.  Ihre  absolute  Apodiktizität  ist  da- 
gegen begreiflich,  sobald  wir  in  ihr  nur  unsere  eigene  Funktions- 
weise erkennen.  Dann  sind  wir  sicher,  daß  diese  selbe  Funktions- 
weise sich  in  allen  ihren  späteren  Anwendungen  mit  derselben 
Notwendigkeit  und  Allgemeinheit  wiederfindet.  So  ist  die  Apriorität 
der  Mathematik  nur  zu  begreifen,  wenn  alles,  was  wir  anschauen, 
das  Produkt  eben  unserer  Anschauungsweise  und  ganz  originaHter 
in  uns  entsprungen  ist.  Die  Rätselfrage,  welche  Kant  durch  die 
Newtonsche  Naturphilosophie  nahe  gelegt  war,  wie  es  denn  kommen 
könne,  daß  die  mathematischen  Gesetze,  die  wir  aus  dem  eigenen 
Geiste  heraus  zu  entwickeln  vermögen,  sich  als  bestimmende 
Mächte  des  Naturgeschehens  zu  erkennen  geben,  diese  Rätselfrage 
nach  der,  realen  Geltung  der  Mathematik,  welche  noch  viel  weiter 
greift,  als  diejenige  nach  ihrer,, Apodiktizität,  löste  sich  nur,  aber 
sie  löste  sich  auch  vollständig  unter  dem  phänomenalistischen 
Gesichtspunkte.  Wenn  die  Sinnen  weit  nur  unsere  Vorstellungs- 
weise von  den  Dingen  ist,  so  gelten  die  Formen  unserer  sinn- 
lichen Anschauung,  d.  h.  die  mathematischen  Gesetze,  für  ihren 
ganzen  Umfang,  aber  es  ist  in  keiner  Weise  abzusehen,  wie  sie 
weiter  reichen   sollen.     In   diesem   Sinne   spricht   Kant   von  der 


54  Kants  theoretische  Philosophie. 

empirischen  Realität  und  der  transzendentalen  Idealität 
von  Raum  und  Zeit. 

Auf  den  ersten  Blick  sieht  diese  Lehre  Kants  wie  eine  ein- 
fache Erweiterung  der  allgemeinen  phänomenaHstischen  Lehre  aus, 
welche  schon  vor  ihm  in  der  modernen  Philosophie  herrschte. 
Bei  Locke,  der  die  Theorien  von  Descartes  und  Hobbes  in  seiner 
Weise  verknüpfte,  hatten  alle  Qualitäten  der  einzelnen  Sinne  für 
subjektiv,  dagegen  die  räumhchen  und  zeitlichen  Bestimmungen 
für  primäre  Qualitäten  oder  reale  Eigenschaften  der  Dinge  ge- 
golten —  ganz  so,  wie  es  die  moderne  Naturwissenschaft  lehrt. 
Was  scheint  nun  Kant  anders  getan  zu  haben,  als  die  räumlichen 
und  zeitlichen  Eigenschaften  auch  für  subjektiv  zu  erklären?  Gegen 
eine  solche  Auffassung  hat  Kant  mit  vollem  Rechte  auf  das  stärkste 
protestiert.  Ihm  gelten  Raum  und  Zeit  in  ganz  anderem  Sinne 
für  subjektiv  als  die  sinnlichen  Qualitäten.  Die  letzteren  sind 
es  in  der  Weise,  daß  sie  von  einer  Beziehung  des  Gegenstandes 
auf  die  Sinne  der  wahrnehmenden  Organismen  abhängen,  daß  sie 
also  durch  die  wechselnde  Funktion  dieser  Sinne  sogar  individuell 
different  auftreten.  Derselbe  räumlich-zeitliche  Gegenstand  erscheint 
deshalb  verschiedenen  wahrnehmenden  Organismen  und  wiederum 
den  verschiedenen  Sinnen  desselben  Organismus,  ja  sogar  dem- 
selben Sinn  unter  verschiedenen  Umständen  verschieden,  und  die 
naturwissenschaftliche  Theorie  selbst  liefert,  wie  es  schon  Descartes 
gelehrt  hatte,  den  Beweis,  daß  wir  alle  diese  sinnlichen  Qualitäten 
von  dem  Gegenstande  fortdenken  und  doch,  oder  vielmehr  erst 
gerade  dadurch  einen  deutlichen  und  klaren  Begriff  von  ihm 
haben  können.  Die  räumlichen  und  zeitlichen  Bestimmungen 
der  Wahrnehmungsgegenstände  dagegen  sind  nicht  nur  den  ver- 
schiedenen Auffassungen  der  verschiedenen  Sinne  gemeinsam, 
sondern  sie  konstituieren  das  Wesen  der  Gegenstände  derartig, 
daß  ohne  sie  solche  überhaupt  nicht  mehr  gedacht  werden  können. 
Sie  bilden  daher  eine  allgemeine  und  notwendige  Vorstellungs- 
form^  der  Gegenstände,  während  die  sinnlichen  Qualitäten  nur 
besondere  und  zufällige  Wahrnehmungsweisen  davon  darstellen. 
Die  Subjektivität  der  sinnlichen  Qualitäten  ist  individuell  und 
zufällig,  diejenige  von  Raum  und  Zeit^ist  allgemein  und  not- 
wendig. Indem  Kant  diese  allgemeine  und  notwendige 
gesetzmäßige   Subjektivität   als  t)bjektivität    bezeichnet. 


Kaum  und  Zeit  nln  F«>rn>on  drr  I''r8cheiniinp.  (if) 

gelten  ihm  llauin  und  Zeit  alM"  ()])jektivc*  lkstiiniiiun;^en  der  Kr- 
^scheinuiiuen;  aber  diese  ihre. Objektivität,  lehrt  er,  »ei  weit  ent- 
fernt von  /Realität  im  Sinne  der  alten  metaphysischen  Auf- 
fassung. 

Gegen  diese  Wendung  des  Kantischen  Gedankens  ist  friili 
(zuerst  wohl  von  Platner)  eingeworfen  worden,  es  sei  damit  zwar 
vielleicht  bewiesen,  daß  die  ganze  Vorstellung,  welche  wir  von 
der  Erfahrungswelt  haben,  in  unseren  gesetzmäßigen  Funktionen 
ihren  Grund  habe,  aber  es  sei  nicht  widerlegt,  daß  sie  trotzdem 
ein  vollkommenes  Abbild  der  absoluten  Wirklichkeit  sein  könne. 
Die  Möglichkeit  bleibe  offen,  daß  diese  unsere  gesetzmäßige  Funktion 
von  vornherein  so  eingerichtet  sei,  daß  das  in  uns  nach  den  Ge- 
setzen unserer  Sinnlichkeit  durchaus  neu  entspringende  Welt- 
bild dennoch  der  wirklichen  Welt  entpreche.  Es  ist  richtig,  daß 
Kants  Veröffentlichungen  eine  ausdrückliche  Widerlegung  dieses 
Einwurfes  nicht  enthalten.  Seine  Briefe  und  Notizen  dagegen 
bezeugen,  daß  er  diese  »prä formierte«  Harmonie  zwischen  den 
Formen  der  InteUigenz  und  der  wirklichen  Welt,  welche  er  selbst 
noch  in  der  Inauguraldissertation  hinsichtlich  der  Verstandesbegriffe 
vertreten  hatte,  in  seiner  kritischen  Periode  für  den  seichtesten 
aller  Auswege  hielt,  auf  dem  die  Erkenntnistheorie  sich  ihren 
schweren  Fragen  entziehen  könne.  Gewiß  hat  er  damit  recht, 
daß  eine  solche  prästabilierte  Harmonie  ein  rein  problematischer 
Gedanke  ist,  für  dessen  Annahme  sich  ebensowenig  wie  für  seine 
Ablehnung  irgendwie  die  geringsten  Handhaben  aufweisen  lassen, 
und  der  deshalb  für  eine  erkenntnistheoretische  Untersuchung 
gänzlich  außerhalb  ihres  Horizontes  bleiben  muß.  Aber  er  würde 
den  Gedanken  an  die  Möglichkeit,  daß  Raum  und  Zeit  zugleich 
apriorische  Formen  unserer  Sinnlichkeit  und  reale  Formen  der 
wirklichen  Welt  seien,  nicht  so  völUg  absprechend  behandelt  haben, 
wenn  er  nicht  einerseits  in  den  »Antinomien«  einen  direkten  Beweis 
dagegen  zu  besitzen  geglaubt  hätte,  und  wenn  nicht  anderseits 
seine  persönKche  Überzeugung  vollständig  in  der  Richtung  be- 
festigt gewesen  wäre,  daß  die  Welt  der'^Dinge  an  sich  den  mo- 
ralischen Wert  der  Übersinnlichkeit  besitze,  und  daß  eben  die 
gesamte  sinnliche  Welt  nur  eine  mit  dem  wahren  Wesen  inkon- 
gruente Erscheinungsform'  davon  sei.  Es  ist  unrichtig,  in  dieser 
Überzeugung  Kants   philosophische   Originahtät   zu   suchen.     Die 

Windelband,  Gesch.  d.  n.  Philos.    H.  5 


ßß  Kants  theoretische  Philosophie. 

Lehre,  daß  die  Sinnenwelt  nur  der  scliwaclie  Abglanz  einer  höheren 
Welt  sei,  ist  so  alt  wie  das  metaphysische  Denken  überhaupt. 
Sie  ist  weder  dem  Grübelsinn  der  indischen  noch  der  begrifflichen 
Klarheit  der  griechischen  Philosophie  fremd,  sie  ist  in  der  mittel- 
alterlichen und  in  der  neueren  Philosophie  an  mehr  als  einer 
Stelle  und  in  mannigfachen  Verhältnissen  aufgetreten,  und  sie 
trägt  bei  Kant  zunächst  nur  den  eigentümlichen  Zug,  daß  sie  in 
der  transzendentalen  Ästhetik  durch  ledighch  erkenntnistheoretische 
Überlegungen  begründet  erscheint  und  ihren  Nerv  bei  ihm  das 
Prinzip  bildet:  eine '^allgemeingültige  imd  notwendige^,Erkenntnis 
sei  nur  so  weit  möglich,  als  der  menschliche  Geist  nach  seinen 
eigenen  Bewegungsgesetzen  sich  das  Bild  der  Welt  entwerfe,  und 
zu  diesen  Formen,  nach  denen  er  es  zu  entwerfen  genötigt  sei, 
gehörten   in   erster   Linie   diejenigen   der   sinnHchen   Synthese  in 

l  Raum  und  Zeit. 

Dagegen  gibt  es  noch  einen  anderen  Gesichtspunkt,  hinsicht- 
lich dessen  Kants  Vertretung  des  PhänomenaHsmus  eine  neue 
Phase  innerhalb  dieser  Lehre  bedeutet:  das  ist  seine  prinzipielle 
Ausdehnung  der  phänomenalistischen  Ansicht  auch  auf  die  Zeit. 
Daß  die  Körperwelt  mit  ihrer  ganzen  sinnlichen  und  räumlichen 
Gestaltung  nur  ein  subjektives  Bild  im  Geiste  des  Menschen  sei, 
ist  eine  vielfach  aufgestellte  und  verfochtene  Ansicht:  daß  aber 
auch  der  zeitliche  Charakter  unserer  ganzen  Vorstellungswelt  nicht 
eine  der  absoluten  Wirklichkeit  realiter  zukommende  Bestimmung, 
sondern  auch  nur  eine  menschliche  Auffassungsweise  sei,  ist  vor 
Kant  zwar  gelegentlich  in  mystisch-religiösen  Phantasien  gestreift, 
von  der  wissenschaftlichen  Philosophie  dagegen  nur  selten  und 
auch  in  gewissem  Sinne  nur  schüchtern  behauptet  worden.  Haupt- 
sächlich nur  bei  den  Eleaten,  bei  Piaton  und  bei  Spinoza  finden 
sich  Anklänge  der  Kantischen  Auffassung.  Die  große  Schwierig- 
keit für  die  Betrachtung  der  Zeit  unter  dem  phänomenalistischen 
Gesichtspunkte  besteht  nämlich  darin,  daß  wir  ohne  zeitliche 
Sukzession  uns  einen  Prozeß  des  Geschehens,  der  Tätigkeit  oder 
der  Veränderung  überhaupt  nicht  vorzustellen  imstande  sind, 
imd  daß  deshalb  eine  phänomenalistische  Auffassung  der  Zeit, 
sobald  sie  sich  mit  einer  positiven  Metaphysik  verbinden  will, 
zu  der  Annahme  eines  absolut  starren,  in  sich  veränderungslosen 

'^ein^ hindrängt.     Eine  Welt,  in  der  es  keine  Zeit  gibt,  ist  auch 


rhüiionu'imlitüt  der  Zt;it.  ()7 

eine  solche,  in  der  nichts,  «geschieht.  Diese  »Schwieri^^keiton  sind 
bei  Kant  (hulurch  verdeckt,  daß  sein  IMiänonienaliHmus  eine 
Metapliysik  der  Erkenntnis  überhaupt  ablehnt  und  nui-  eine 
solche  des  ethischen  Ikwußtseins  anerkennt ;  aber  es  wird  sich 
zeigen,  daß  sie  auch  in  seiner  Freiheitslehre  nicht  überwunden 
sind.  Zur  Annahme  dieser  K{)nse(|uenz  ist  Kant  wohl  haupt- 
sächlich dadurch  «geführt  worden,  daß  er  infolge  des  Newtonschen 
Vorganges  Zeit  und  Raum  völlig  parallel  als  die  absoluten  Be- 
dingungen für  den  gesamten  Tnlialt  der  Erfahrung  behandelte. 
In  seiner  psychologischen  Schematisierung  faßte  er  das  Verhältnis 
dieser  beiden  Bedingungen  ( unter  Benutzung  der  Lockeschen 
Unterscheidung  von  äußerem  und  innerem  Sinne)  derartig  auf, 
daß  er  den  Raum  als  die  reine  Anschauungsform  des  äußeren, 
die  Zeit  als  diejenige  des  inneren  Sinnes  bestimmte.  Da  nun 
alle  Vorstellungen  als  Funktionen  unseres  Geistes  überhaupt  unter 
den  Begriff  des.  inneren  Sinnes  fallen,  so  gilt  die  Zeit  ausnahmslos 
für  alle,  und  imter  ihnen  bilden  den  äußeren  Sinn  nur  diejenigen, 
welche  zu  jener  allgemeinen  Bedingung  der  Zeit  noch  die  weitere 
des  Raumes  hinzufügen.  Kants  völlig  konsequenter  Phänomenalis- 
mus lehrt  also,  daß  der  äußere  Sinn  mit  seiner  allgemeinen 
räumlichen  Bestimmtheit  nur  eine  »Provinz«  des  inneren  Sinnes,  ' 
d.  h.  imseres  Wissens  von  unseren  eigenen  psychischen  Zuständen 
ist.  Die  Zeit  ist  die  Form,  in  welcher  wir  uns  selbst  und  alle 
anderen  Dinge,  der  Raum  nur  diejenige,  unter  welcher  wir  jene 
anderen  Dinare  anschauen. 

Vermöge  dieser  Ausdehnung  des  Phänomenalismus  auf  den 
inneren  Sinn  erklärte  nun  Kant,  daß  das  Wahrnehmungsmaterial 
unseres  gesamten  Wissens  "^Erscheinung'  sei,  von  deren  Ver- 
hältnis zum^Ding  an  sich"  nichts  behauptet  werden  darf.  Nicht 
nur  unsere  Vorstellung  von  den  Körpern,  sondern  auch  die  von 
uns  selbst  und  unseren  eigenen  Tätigkeiten  und  Zuständen  ist 
eben  nur  die  Art,  wie  wir  vorstellen,  und  durchgängig  von  der 
gesetzmäßigen  Form  unserer  Anschauung  abhängig.  Indem  so 
der  innere  Sinn  in  den  phänomenalen  Bereich  der  Sinnlichkeit 
hineingezogen  wird,  entsteht  bei  Kant  eine  Doj)pelbedeutung  des 
Terminus_>>sinnlich«,  welche  dem  ganzen  Zusammenhange  seiner 
Lehre  große  Schwierigkeiten  bereitet  und  ihre  Auffassung  be- 
deutend erschwert  hat.     Hatte  Kant  aus  einem  zum  großen  Teile 


/ 


gg  Kants  theoretische  Philosophie. 

ethischen  Interesse  sich  die  scharfe  Sondening  der  sinnlichen  und 
der  übersinnlichen  Welt  zur  Lebensaufgabe  gemacht,  so  war  dabei 
der  Begriff  des  »Sinnlichen«  in  metaphysischer  Bedeutung  und 
in  dem  populären  Sinne  genommen,  der  unter  »sinnlich«  das 
Materielle  oder  das  auf  materiellen  Veranlassungen  Beruhende 
versteht.  Mit  der  Aufnahme  der  Lehre  vom  inneren  Sinne  gewann 
das  Wort  »sinnlich«  die  erkenntnistheoretische  Bedeutung,  alles 
zu  umfassen,  was  durch  Wahrnehmung,  äußere  oder  innere, 
uns  zum  Bewußtsein  kommt,  und  dabei  fallen  unter  diesen  Be- 
griff, wie  unter  den  platonischen  Begriff  der  ^evsoic,  auch  alle 
die  psychischen  Tätigkeiten,  welche  nach  der  metaphysischen 
Terminologie  als  übersinnlich  bezeichnet  zu  werden  pflegten  und 
pflegen.  Auf  diese  Weise  schillern  die  metaphysische  und  die 
erkenntnistheoretische  Bedeutung  der  »Sinnlichkeit«  bei  Kant  fort- 
während ineinander,  und  das  außerordentlich  schwierige  Verhältnis 
seiner  theoretischen  und  seiner  praktischen  Lehre  ist  nicht  zum 
mindesten  durch  diese  Unsicherheit  bedingt. 

Kants  Phänomenalismus  ist  aber  mit  der  Lehre  von  Raum 
und  Zeit  noch  keineswegs  erschöpft,  sondern  erfährt  seine  wahre 
Vertiefung  erst  durch  den  Fortgang  der  erkenntnistheoretischen 
Untersuchung.  Konnten  nämlich  auch  Raum  und  Zeit  als  die 
objektiven,  d.  h.  allgemeinen  und  notwendigen  Anschauungsfor- 
men betrachtet  werden,  so  würden  sie  doch  allein  noch  nicht 
genügen,  um  unseren  Vorstellungen  den  wahren  Charakter  der 
Objektivität,  d.  h.  der  Gegenständlichkeit  aufzuprägen.  Wenn 
die  sinnlichen  Empfindungen  nach  räumlichen  und  zeitlichen  Ge- 
setzen angeordnet  sind,  so  bedeuten  sie  zwar  Anschauungsbilder; 
aber  diese  würden  als  bloße  Vorstellungen  in  unbestimmter 
Schwebe  bleiben,  wenn  nicht  zu  der  räumlichen  und  zeitlichen 
noch  eine  andere  Synthese  hinzukäme,  um  diese  Bilder  zu  ob- 
jektivieren. Erst  dadurch,  daß  die  Empfindungen,  welche  die 
Elemente  unserer  Anschauungsbilder  sind,  bei  der  räumlichen  und 
zeitlichen  Synthese  zugleich  als  Eigenschaften  und  Zustände  von 
Dingen  aufgefaßt,  imd  daß  zwischen  diesen  Dingen  bestimmte 
Beziehungen  als  notwendig  gedacht  werden,  verwandelt  sich  der 
Inhalt  unserer  Vorstellungen  in  das  Bild  einer  Welt  von  Dingen, 
die  miteinander  in  Verhältnissen  stehen.  Diese  Verwandlung  ist 
nicht  mehr  eine  Sache  der  Sinnüchkeit,  so  sehr  auch  das  gewöhn- 


Bogrifl'  (1i;m  QepfoiistandoB.  69 

liclio  BewußtHcMii  von  oinor  unmittolharen  Walirneliinun«^  von 
I)in«^on  und  ihren  Voiliältnissen  sprechen  maj^'.  Die  reine  Wahr- 
nehmung enthält  niclits  als  Kinpfindungen  in  räumlicher  und 
zeitlicher  Anordnung;  das  reine  Wahrnehmungsurteil  ist,  wie  es 
Hume  charakterisiert  hatte,  nur  das  Bewußtwerden  einer  räum- 
lichen Koordination  und  einer  zeitlichen  Koexistenz  oder  Sukzession 
von  Empfindungen.  Alles  was  darüber  hinausgeht,  enthält  eine 
Deutung \ler  Wahrnehmungen,  welche  nur  durch  die  Anwendung 
gewisser  begrifflicher  Bezieliungen  auf  das  Material  der  Empfin- 
dungen zustande  kommt.  Begriffliche  Beziehungen  aber  sind 
die  Funktion  nicht  mehr  der  Sinnlichkeit,  sondern  des  Verstan- 
des. Wenn  also  das  gemeine  Bewußtsein  davon  spricht,  daß  es 
Dinge  mit  ihren  Eigenschaften  und  Verhältnissen  »erfahre«,  so 
ist  diese  Erfahrung  eine  Tätigkeit,  welche  sich  aus  dem  Zusam- 
menwirken der  Sinnlichkeit  und  des  Verstandes  ergibt,  und  die 
Erkenntnistheorie  hat  die  Aufgabe,  den  Anteil,  den  jeder  dieser 
Faktoren  an  dem  Produkte  hat,  genau  festzustellen.  Kants  scharfe 
Sonderung  der  Sinnlichkeit  und  des  Denkens  führt  ihn  daher  zu 
der  weittragenden  Einsicht,  daß  in  allem,  was  wir "lErf ahrung 
nennen,  irnsere  Wahrnehmung  bereits  mit  einer  großen  Anzahl 
von  Funktionen  des  Denkens  durchsetzt  und  dadurch  verarbeitet 
ist.  Offenbar  ist  dies  nun  aber  eine  ganz  andere  Art  der  Ver- 
arbeitung des  Empfindungsmaterials  als  diejenige,  welche  man 
im  eigentlichen  Sinne  als  die  logische  bezeichnet.  Die  logische 
Funktion  des  Verstandes,  Begriffe,  Urteile  und  Schlüsse  zu  bilden, 
setzt  bereits  ein  Material  von  Vorstellungen  voraus,  an  welchem 
sich  jene  Objektivierung  der  sinnlichen  Bilder  durch  verstandes- 
mäßige Beziehungen  betätigt  hat.  Es  muß  also  neben  den 
logischen  Formen  der  Verstandestätigkeit  noch  andere  geben, 
w^elche  von  einem  viel  tieferen  Gebrauche  und  von  einer  viel 
innigeren  Beziehung  zu  der  Anschauungstätigkeit,  obwohl  von 
der  letzteren  durchaus  verschieden  sind. 

x\n  diesem  Punkte  liegt  die  eigenste  Bedeutung,  die  Kant 
für  die  Erkenntnistheorie  hat.  Sinnliche  Anschauungen  und 
logische  Formen  ihrer  Verarbeitung,  das  waren  die  beiden  ein- 
zigen Elemente  der  Erkenntnistätigkeit,  welche  man  vor  ihm 
kannte,  und  wenn  den  Inhalt  aller  menschlichen  Erkenntnis  die 


•^Q  Kants  theoretische  Philosophie. 

notwendif^en  Beziehungen  des  Vorstellungsinhaltes  bilden,  so 
suchte  den  Grund  dafür  der  Rationahsmus  in  den  logischen  For- 
men, der  Empirismus  in  dem  ursprünglichen  Inhalte  der  Wahr- 
nehmungen. Nun  hatte  sich  Kant  davon  überzeugt,  daß  mit 
den  logischen  Formen  eine  sachlich  neue  Erkenntnis  niemals 
gewonnen  werden  kann;  er  hatte  aber  auch  durch  die  Kon- 
sequenz des  Humeschen  Gedankens  erfahren,  daß  die  wichtigste 
aller  Notwendigkeitsbeziehungen,  diejenige  der  Kausalität,  in  der 
Wahrnehmung  selbst  nicht  enthalten  ist.  Sollte  es  daher  all- 
gemeingültige und  notwendige  Erkenntnis  von  den  Verknüpfungen 
des  Anschauungsinhaltes  geben,  so  war  sie  weder  durch  die  An- 
schauungen selbst  noch  durch  die  logischen  Formen,  noch  durch 
die  Verbindung  von  beiden  zu  gewinnen.  Diese  Folgerung  hatte 
Hume  gezogen,  und  im  Hinblick  auf  sie  gilt  es,  daß  der  größte 
der  englischen  den  größten  der  deutschen  Philosophen  »aus  dem 
dogmatischen  Schlummer  gerüttelt«  hat.  Denn  im  Gegensatz 
dazu  erhob  sich  nun  Kant  gleichzeitig  über  den  empiristischen 
Skeptizismus  und  über  den  logisch-formalistischen  Rationalismus 
durch  die  größte  seiner  theoretischen  Entdeckungen,  diejenige 
nämlich,  daß  es  neben  den  logischen  noch  ^jajadere  Formen  der 
Verstandestätigkeit  gibt,  und  daß  in  ihnen  der  Grund  für  alle 
notsvendigo  und  allgemeingültige  Erkenntnis  der  Erfahrungswelt 
zu  suchen  ist.  Diese  Formen,  welche  im  Gegensatz  zu  den  rein 
logischen  die  erkenntnistheoretischen  genannt  werden  dürfen,  be- 
zeichnete Kant   als  Kategorien. 

Aus  diesen  Prämissen  ergibt  sich  Kants  durchaus  neue  und 
schöpferische  Stellung  zur  Wissenschaft  der  Logik.  Von  ihrer 
alten  Gestalt,  worin  sie  eine  Theorie  des  Begriffs,  des  Urteils 
und  des  Schlusses  sein  will,  behauptete  er  mit  Recht,  daß  sie 
seit  Aristoteles  keinen  wesentlichen  Fortschritt  gemacht  habe. 
Aber  der  Erkenntniswert  dieser  analytischen  Formen  des  Denkens 
hatte  sich  für  Kant  dahin  herabgesetzt,  daß  sie  lediglich  eine 
formale  Umbildung  und  Verdeutlichung  eines  schon  gegebenen 
Stoffes  zu  gewähren  imstande  sind.  So  betrachtet,  können  die 
logischen  Funktionen  nicht  mehr  als  Erkenntnisformen  im  eigent- 
lichsten Sinne  des  Wortes  gelten,  und  dann  ist  die  Logik  nicht 
mehr  eine  Theorie  der  Erkenntnis,  sondern  vielmehr  eine  Lehre 
von  den  Formen  des   richtigen  Denkens,   soweit  es   sich  auf  die 


Forinalü  und  IraDHZoadoDtule  Jjogik.  71 

aiuily tische  JichancUuiiji^  eines  irgendwie  «onat  Bchon  feHlHtehendeu 
Vc)rstellun<;sinlialtes  beschränkt.  Mit  dieser  Auffussuni^  wurde; 
Kant  zum  Vertreter  der  formalen  Logik  im  modernen  Sinne 
des  Wortes.  Er  ielirte,  (hiü  für  die  wissenschaftliche  J5«;trachtung 
dieser  Denkformen  jede  l^erücksitlitigung  des  Denkinhaltes  fort- 
zufallen und  lediglich  die  Form  des  (Jedankenfortschrittes  die 
Untersuchung  zu  beschäftigen  habe.  Die  scharfe  Scheidung,  die 
er  zwischen  dem  Inhalt  und  der  Form  des  Denkens  gemacht 
hatte,  erwies  sich  für  seine  Bestimmung  der  Aufgabe  der  Logik 
entscheidend,  und  unter  diesem  Gesichtspunkte  behandelte  er  sie 
in  seinen  Vorlesungen,  deren  Grundzüge  auf  seine  Veranlassung 
von  Jäsche  (1800)  herausgegeben  wurden.  Aber  dieser  formalen 
Logik  setzte  Kant  nun  eine  erkenntnistheoretische  Logik  "0 
entgegen,  welche  sich  zwar  auch  mit  Formen  des  Derikens,  aber 
nicht  mit  den  »logischen«,  sondern  mit  den  erkenntnistheore- 
tischen, die  er  neu  entdeckt  hatte,  beschäftigte  und  die  Frage 
zu  beantworten  hatte,  wie  aus  diesen  Kategorien  eine  allgemeine 
und  notwendige  Erkenntnis  hervorzugehen  imstande  sei.  Das  ist 
Kants  Begriff  der  »transzendentalen  Logik«,  welche  sich 
also  zum  Denken  ebenso  verhält,  wie  die  transzendentale  Ästhetik 
zum  Anschauen.  Kant  suchte  nun  zwar  formale  und  transzen- 
dentale Logik  als  vollkommen  gesonderte  Wissenschaften  zu  be- 
handeln. Wenn  sich  aber  doch  zeigte,  daß  sie  in  der  Lehre 
vom  Urteil  nicht  nur  sich  flüchtig  berührten,  sondern  viel- 
mehr auf  das  innigste  verwachsen  waren,  so  ergab  sich  daraus 
als  eine  Aufgabe  der  Zukunft  eine  neue  Gesamtbehandlung  der 
Logik  vermittels  einer  Ineinanderarbeitung  des  formalen  und  des 
erkenntnistheoretischen  Gesichtspunktes.  Auf  diese  Weise  ist  in 
der  Tat  dmch  Kant  nach  iVristoteles  der  erste  große  Schritt  zu 
einer  Umbildung  der  Logik  geschehen. 

Die  transzendentale  Logik  entwickelt  Kant  nun  im  Anschluß 
an  ein  zu  seiner  Zeit  gebräuchliches  Schema  der  Behandlung  und 
Bezeichnung;  die  Kritik  der  berechtigten  Anwendung  der  Kate- 
gorien ist  die  Analytik,  diejenige  ihrer  unberechtigten  Anwendung 
die  Dialektik. 

Die  Frage  der  transzendentalen  Analytik  geht  auf  die  Berech- 
tigung derjenigen  s}aithetischen  Urteile  a  priori,  aus  denen  sich 
die  reine  Naturwissenschaft  konstituiert.     An  der  Spitze  der 


Y2  Kants  theoretische  Philosophie. 

empirischen  Naturforschung  figurieren  ausgesprochen  oder  unaus- 
gesprochen eine  Anzahl  von  Axiomen,  welche  durch  die  einzelnen 
Tatsachen  zwar  bestätigt,  aber  in  der  Allgemeingültigkeit  und 
Notwendigkeit,  mit  der  wir  von  ihnen  überzeugt  sind,  niemals 
durch  die  Erfahrung  begründet  werden  können.  Sätze,  wie  der- 
jenige, daß  die  Substanz  in  der  Natur  sich  weder  vermehrt  noch 
vermindert,  oder  derjenige,  daß  %lles  Geschehen  in  der  Natur 
seine  Ursache  habe;  sind  unmöglich  durch  Erfahrung  zu  begrün- 
den. Daß  sie  nur  durch  die  Erfahrung  uns  erst  allmählich  zum 
Bewußtsein  gekommen  sind,  würde  Kant  gern  zugegeben  und 
nicht  als  einen  Einwurf  gegen  ihre  Apriorität  angesehen  haben, 
da  ja  die  letztere  keine  psychologische,  sondern  eine  erkenntnis- 
theoretische Bestimmung  ist.  Zugleich  sind  diese  Sätze  syn- 
thetisch: denn  es  liegt  weder  im  Begriff  der  Substanz,  daß  sie 
quantitativ  unveränderlich,  noch  in  demjenigen  des  Geschehens, 
daß  es  ursächlich  bedingt  sei.  Sind  nun  diese  Synthesen  nicht 
durch  Erfahrung  begründbar,  worin  besteht  ihre  Berechtigung? 
Sie  alle  enthalten  den  Anspruch,  die  allgemeine  Gesetzmäßigkeit 
der  Natur  zum  Ausdruck  zu  bringen.  Wäre  nun  die  Natur, 
um  die  es  sich  dabei  handelt,  ein  realer  Zusammenhang  von 
Dingen,  so  könnte  unser  Geist  von  der  Gesetzmäßigkeit  dieses 
Zusammenhanges  eine  Erkenntnis  nur  auf  zwei  Wegen  gewinnen: 
entweder  indem  er  den  Zusammenhang  durch  die  Wahrnehmung 
erführe,  oder  indem  er  ihn  aus  seiner  eigenen  Gesetzmäßigkeit 
konstruierte,  dabei  aber  so  eingerichtet  wäre,  daß  er  damit  die 
Realität  wirklich  begriffe.  Die  letztere  Annahme  setzt  wieder 
jene  präformierte  Harmonie  voraus,  welche  Kant  ein  für  allemal 
aus  der  Erkenntnistheorie  verbannt  hatte.  Die  erstere  dagegen 
würde,  selbst  wenn  man  zugäbe,  daß  wir  in  der  bloßen  Wahr- 
nehmung noch  einen  anderen  als  den  räumlich -zeitlichen  Zu- 
sammenhang erleben  (was  Kant  leugnet),  doch  niemals  die  All- 
gemeingültigkeit und  Notwendigkeit,  welche  wir  für  unsere 
allgemeine  theoretische  Naturerkenntnis  in  Anspruch  nehmen, 
berechtigt  erscheinen  lassen.  Dagegen  wird  es  möglich,  diese 
Berechtigung  zu  begreifen,  sobald  man  sich  auf  den  phänome- 
nalistischen  Standpunkt  begibt.  Daß  der  Wahrnehmungsinhalt 
sowohl  in  seiner  sinnlichen  Qualität  als  auch  in  seiner  räumlich- 
zeitlichen   Formung   subjektiven    Charakters    ist,    gilt    durch   die 


Natur  uIh   Krsclioinuiig.  73 

transzeiulonlalc  Astliclik  für  IjcwicHcn.  Auf  alle  Fälle  i.st  also, 
was  wii>Nat\ii^^ nennen,  iinnier  dodi  mii-  ein  /^'OKctzniäüi;^<'r  /u- 
saninienhang  von  Kisclieinun;j;en.  Eh  gibt  nnii  einen  crkenntni«- 
theoretisclien  Standpunkt,  der  dies  ziigil)!.  inul  dabei  doch  be- 
hauptet, daß  (Um*  ^edaehte  Zusammenhang  der  PJrscheinungen, 
(1.  h.  die  Formen  der  Oesctzmäßij^keit,  welche  das  Denken  als 
die  Verliiiltnis.se  der  Erscheinun^^'U  auffaßt,  nui^^cn  die  letzteren 
selbst  auch  nur  phänomenalen  Charakters  sein,  dennoch  eine 
Erkenntnis  der  Realität  bilden.  CJenau  so  verhielt  sich  die  Leib- 
nizische  Lehre.  Aber  für  Kant  war  diese  prästabilierte  Harmonie 
unannehmbar,  und  so  stieß  er  auf  die  Frage,  ob  vielleicht  diese 
Formen  auch  nur  phänomenalen  Charakters  seien.  Wenn  sie  die 
Gesetze  darstellen,  nach  denen  die  Vernunft  vermöge  ihrer  eigenen 
Ofganisation  den  Zusammenhang  der  Erscheinungen  denken  piuß, 
(gleichviel  ob  er  in  dieser  Gestalt  real  ist  oder  nicht,jso  ist  jede 
aieser  Formen  für  uns  ein  Natiurgesetz  von  allgemeiner  und  not- 
wendit2;er  Geltung.  Schriebe  eine  außer  uns  bestehende  Natur 
dem  erkennenden  Geiste  seine  Erkenntnis  vor,  so  könnten  wir 
nie  wissen,  ob  wir  diese  Vorschriften  schon  in  dem  Umfange 
kennen  gelernt  haben,  um  zu  bestimmen,  mit  welchem  Grade 
von  Allgemeinheit  die  einzelnen  gelten :  dagegen  ist  diese  Apriorität 
sogleich  begründet,  wenn  umgekehrt  der  Verstand,  es  ist, 
welcher  der  Natur  die  Gesetze  vorschreibt.  Die  Paradoxie 
dieses  Satzes  besteht  nur  so  lange,  als  man  dabei  an  eine  will- 
kürliche Tätigkeit  des  individuellen  Verstandes  oder  anderseits 
an  eine  objektiv-reale  »natura  rerum«  denld;:  was  Kant  meint, 
ist  vielmehr ,  daß  wir  von  einer  allgemeinen  und  notwendigen 
Erkenntnis  der  Natur  nur  unter  der  Bedingung  sprechen  dürfen, 
wenn  das,  was  wir  Natur  nennen,  nicht  eine  Welt  von  Dingen 
an  siclf^,  sondern  vielmehr  der  nach_den  allgemeinen  Gesetzen 
des  Geistes  g:edachte  Zusammenhang  von '^Erscheinungen^  ist. 
Apriorische  Naturerkenntnis  ist  nur  möglich  unter  dem  phäno- 
menalistischen  Gesichtspunkte,  nur  möglich,  w^enn  alles,  was  wir 
von  einer  wirklichen  Welt  zu  erfahren  glauben,  ein  Produkt 
nicht  nur  unserer  Empfindungs-  und  Anschauungs-,  sondern  auch 
unserer  Denkweise  ist.  Danach  kann  unsere  apriorische  Natur- 
erkenntnis nur  darin  bestehen ,  daß  wir  uns  die  Gesetze  zum 
Bewußtsein     bringen,     nach     denen    die     Organisation     unserer 


74  Kants  theoretische  Philosophie. 

Intelligenz  schon  ohne  unser  bewußtes  Zutun  die  Vorstellung  der 
Natur  in  uns  produziert.  Die  Entscheidung  der  Frage  nach  der 
Berechtigung  einer  reinen  Naturwissenschaft  hängt  also  daran, 
ob  sich  solche  ^  reine  Formen^  des  Denkens  als  konstituierende 
Kräfte  für  unsere  Erfahrung  von  der  Natur  ebenso  nachweisen 
lassen  wie  die  reinen  Anschauungen  für  unsere  Auffassung  der 
sinnlichen  Bilder. 

In  der  Aufsuchung  dieser  Formen  nun  lehnt  sich  die  tran- 
szendentale Logik  an  die  formale  an.  Wenn  es  solche  reine 
Formen  der  Denktätigkeit  geben  soll,  so  können  sie  nur  die 
Arten  der  Verknüpfung  darstellen,  unter  denen  die  Vorstellungen 
im  Denken  auftreten.  Die  Vorstellungsverknüpfung  aber  hat, 
sobald  sie  den  Anspruch  nicht  nur  auf  subjektive,  sondern  auch 
auf  objektive,  d.  h.  allgemeine  und  notwendige  Geltung  macht, 
stets  die  Form  des  Urteils.  Gegenständliches  Denken  ist 
Urteilen.  Die  Aufgabe,  die  verschiedenen  Verknüpfungsweisen, 
welche  das  Denken  anzuwenden  imstande  ist,  systematisch  zu 
finden,  muß  deshalb  zu  ihrer  Lösung  sich  des  Leitfadens  be- 
dienen, den  eben  die  formale  Logik  in  der  Lehre  von  der  Ein- 
teilung der  Urteile  darbietet.  Es  gibt  so  viel  »Kategorien«,  als 
es  ursprüngliche  Verknüpfungsarten  von  Vorstellungen  gibt,  und 
es  gibt  der  letzteren  so  viele,  als  es  Formen  des  Urteils  gibt. 
Wenn  man  bei  jeder  dieser  Formen  auf  die  eigenartige  Beziehung 
achtet,  welche  das  Urteil  zwischen  Subjekt  imd  Prädikat  ansetzt 
und  worin  seine  spezifische  Eigentümlichkeit  besteht,  so  wird 
man  in  diesem^  Verhältnisbegriffe  eine  der  Grundfunktionen  des 
Denkens  erkennen  müssen.  In  dieser  Auffassung  der  Urteilsformen 
besteht,  prinzipiell  betrachtet,  die  entscheidende  logische  Tat 
Kants.  Mit  ihr  erhebt  er  sich  über  die  schematische  Behand- 
lung, welche  die  Lehre  vom  Urteil  in  der  Logik  bis  zu  ihm  hin 
deshalb  gefunden  hatte,  weil  man  dabei  lediglich  auf  die*^ub- 
sumtionäverhältnisse  zwischen  Subjekt  und  Prädikat  seine  Auf- 
merksamkeit richtete.  Kant  hatte  eingesehen,  daß  das  Urteil 
weder  stets  eine  Gleichsetzung  von  Subjekt  und  Prädikat  besagen 
noch  den  Ausdruck  für  das  Verhältnis  des  Umfangs  dieser  beiden 
Begriffe  geben  will,  sondern  vielmehr  zwischen  Subjekt  und  Prä- 
dikat eine  begriffliche  Beziehung,  eine  Art  der  »Aussage«  stiftet, 
welche  sich  in  der  Abstraktion  als   einer  der  reinen  Verstandes- 


Urteile  un«l  Kategorien.  7Ö 

begriffe  versellmtäiidi'.^en  lüLH.  (  Das  Urteil:  Zucker  iht  büß,  will 
weder  die  beiden  Begiiffe  Zucker  und  süß  einander  gleichsetzen 
noch  den  einen  unter  den  anderen*  subsumieren,  sondern  viel- 
melir  aussagen,  daß  das  Ding  Zucker  zu  seinen  Eigenscliaften 
aucli  diejenige  habe,  .süß  zu  setn.  Das  Wesen  des  Urteils  Ije- 
steht  also  darin,  die  beiden  V^orstellungen  »Zucker«  und  *süß« 
in  das  begriffliche  Verliältnis  von  Dinj^  und  Eigeiiachaft  mit- 
einander zu  setzen,  und  der  verbindende  Akt,  der  in  diesem 
Urteile  die  Synthesis  von  Subjekt  und  Prädikat  vollzieht,  spricht 
sich,  wenn  er  gesondert  zum  Bewußtsein  gebracht  werden  soll, 
als  das  Verhältnis  von  Ding  und  Eigenschaft,  als  die  Kategorie 
der  Substantialität  oder  der  Inhärenz  aus.  Dies  Beispiel  mag 
genügen,  um  die  Absicht  zu  er4äutern,  die  Kant  bei  seiner  Be- 
handlung des  Urteils  vorschwebte^  Die  transzendentale  Logik 
will  nicht  mehr  wie  die  formale  eine  Logik  des  ümfangs  der 
Begriffe  sein,  sondern  vielmehr  die  sachlichen  Beziehungen 
untersuchen,  welche  durch  die  verschiedenen  Formen  der  Urteils- 
tätigkeit zwischen  den  Begriffen  angesetzt  werden.  Jene  ein- 
seitige Berücksichtigung  des  Umfangs  der  Begriffe  war  der  alten 
Logik  dadurch  aufgenötigt  worden,  daß  ihre  wesentliche  Aufgabe 
auf  eine  Theorie  des  wissenschaftlichen  Beweis  Verfahrens ,  auf 
eine  Lehre  vom  Schluß  hinauslief.  Erst  von  dem  erkenntnis- 
theoretischen  Gesichtspunkte  Kants  her  konnte  es  entdeckt  wer- 
den, daß  den  Formen  des  Urteils  ebenso  viele  Verhältnisse 
zwischen  den  Begriffen  entsprechen.  Mit  dieser  Entdeckung  hat 
Kant  das  Problem  der  »unauflöslichen«  Begriffe  gelöst,  an  dem 
sich  z.  B.  Lambert  ergebnislos  bemüht  hatte,  imd  damit  jene 
große  Umwälzung  der  Logik  begonnen,  welche  heute  noch  nicht 
vollendet  ist.  Und  diese  Bedeutung  seines  neuen  Prinzips  wird 
dadurch  nicht  geschmälert,  daß  Kant  sich  in  der  Ausführung 
des  neuen  Gedankens  offenbar  vergriffen  hat. 

Denn  es  ist  bei  der  klaren  Vorstellung,  welche  Kant  von  der 
Verschiedenheit  der  Aufgaben  der  formalen  und  der  erkenntnis- 
theoretischen Logik  gehabt  hat,  höchst  merkwürdig,  daß  er 
dennoch  meinte,  das  von  der  formalen  Logik  aufgestellte  System 
der  Urteile  als  Leitfaden  für  die  Aufsuchung  der  erkenntnis- 
theoretischen Funktionen  benutzen  zu  können.  Mit  seiner  Über- 
zeugung von  der  Unanfechtbarkeit  der  formalen  Logik  legte  er, 


76  Kants  theoretische  Philosophie. 

obwohl   ihm  doch  die  Verschiedenheit,   die  in  dem  Vortrage  der 
Urteilslehre  selbst  unter   den  Schulphilosophen   obwaltete,   kaum 
hat  entgehen  können,  dennoch  seiner  Aufsuchung  der  Kategorien 
die  >> Tafel  der  Urteile«,  wie  er  sie  vorzutragen  pflegte,  zugrunde. 
Diese  Tafel  zeigte  vier  Gesichtspunkte,  denen  jedes  Urteil  unter- 
worfen  werden   müsse,   diejenigen  der   Quantität,    der    Qualität, 
der  Kelation  und  der  Modalität,   und   für  jeden  dieser  Gesichts- 
punkte drei  verschiedene  Formen,  von  denen  eine  in  jedem  Urteil 
enthalten  sein  müsse.    Der  Quantit;^t  nach  ist  das  Urteil  entweder 
ein   allgemeines   oder   ein   partikulares   oder   ein   singulares,    der 
QuaÜtät   nach    entweder    ein   bejahendes   oder   ein    verneinendes 
oder  ein  unendliches,  der  Relation  nach  entweder  ein  kategorisches 
oder  ein  hypothetisches  oder  ein  disjunktives,  der  Modali;^t  nach 
ein  problematisches  oder  ein  assertorisches  oder  ein  apodiktisches. 
Aus  der  Reflexion  auf  diese  zwölf  möglichen  Formen  des  Urteils 
entwickelt    nun   Kant    seine    Tafel    der   zwölf   Kategorien.     Die 
Kategorien  der   Quantität   sind:    Einheit,   Vielheit,   Allheit;   die- 
jenigen  der  Qualität   sind:   ReaHtät,   Negation,   Limitation;   die- 
jenigen der  Relation  sind:   Inhärenz   und  Subsistenz    (substantia 
et  accidens),  KausaHtät  und  Dependenz  (Ursache  und  Wirkung), 
Gemeinschaft  (Wechselwirkung  zwischen  Handelndem  und  Leiden- 
dem);  diejenigen   der  .Modalität  sind:   Möglichkeit   und   Unmög- 
lichkeit,  Dasein   und  Nichtsein,   Notwendigkeit  und  Zufälligkeit. 
Es  ist  klar,  daß  der  Zusammenhang  zwischen  jenen*^Urteilsformen^ 
(selbst   deren   System   als  richtig  zugegeben)   und   diesen 'reinen 
Verstandesbegriffen,'  welche   die  darin   wirksamen  Verknüpfungs- 
funktionen  enthalten   sollen,   zum  großen  Teile   nur   ein   äußerst^ 
loser,  willkürlicher  und  zufälliger  ist.     Und  von  allen  Teilen  der 
Kantischen  Philosophie  ist  diese  Ausführung  eines  seiner  bedeu- 
tendsten  und   fruchtbarsten   Gedanken   offenbar  der  schwächste. 
Leider  ist  die  Wirkung  davon   nicht  auf  diesen  Teil  beschränkt, 
sondern  Kant  fand  vielmehr  sonderbarerweise  an  diesem  Schema 
der  Kategorien  so  viel  Freude,  daß  er  es  in  der  Folgezeit  überall 
zugrunde  legte,  wo  es  ihm  um  die  erschöpfende  Behandlung  eines 
Problems  zu  tun  war.     Seine  zunehmende  Pedanterie  trat  nicht 
am    wenigsten    darin    zutage,    daß   er   meinte,    jeder   Gegenstand 
müsse  nach   Quantität,    Qualität,   Relation   und  Modalität  geson- 
dert   abgehandelt    werden,    und   daß   er   in   dieses   Schema   seine 


'Piifel  (lor  rrtoilr   und  dor  Kfitop^orirn.  77 

spiltiM(Mi   lTnt(M'snclnm;^on    nicht   zu    ihrem  Vorteil  künstlich    »wie 
in  oin   Prokrustosbrtt«   hinoinpreßtc. 

J)as  sind  also  dic'^rcincii  Verstandosbegriffc,  deren  durcJiauH 
j)arallcle  liohandlunjj;  mit  dvn  reinen  Anschauungsformen  "  den 
ei<^entlic'lien  Charakter  von  Kants  kritischer  Erkenntnistheorie 
bildet,  indem  er  von  ihnen  mit  einer  anah);_fen  Beweisführung  und 
mit  den  gleichen  phänomenalistischen  Konsequenzen  die  Apriorität 
behauptet.  Auch  hier  gilt  diese  nicht  in  dem  psychologischen 
Sinne,  daß  etwa  l^cgriffe,  wie  diejenigen  der  Substantialität  und 
Kausalität  von  vornherein  im  Bewußtsein  des  Menschen  vorhanden 
seien  und  dann  erst  ziu:  Anordnung  des  similichen  Vorstellungs- 
materials ausdrückhch  verwendet  werden  sollten.  Für  Kant  ist 
vielmehr  auch  das  Bewußtsein  von  diesen  reinen  Formen  des 
Denkens  in  derselben  Weise  wie  dasjenige  der  räumlichen  und 
zeitlichen  Gesetze  niu'  eine  Reflexion  auf  die  Arten  der  Syn- 
thesis,  welche  das  Denken  unwillkürlich  in  seiner  Erfahrungs- 
tätigkeit anwendet.  Den  Beweis  davon  führt  Kant  in  demjenigen 
Abschnitt  der  Kritik  der  reinen  Vernunft,  welchei  von  allen  am 
tiefsten  geht,  aber  eben  deshalb  auch  von  jeher  als  der  dunkelste 
und  schwierigste  gegolten  hat.  Will  man  sich  den  darin  ent- 
haltenen Beweisgang  ohne  die  zum  Teil  sehr  künsthche  und  ver- 
wickelte Terminologie,  welche  Kant  dafür  konstruiert  hat,  klar 
machen,  so  muß  man  als  Ausgangspunkt  die  für  Kants  eigene 
Ent\vicklung  so  bedeutungsvolle  Frage  nach  dem  Grunde  der 
Gegenständlichkeit  unserer  sinnlichen  Wahrnehmungsbilder 
nehmen.  Versteht  man  unter  Wahrnehmung  die  nach  dem  Schema 
von  Raum  und  Zeit  angeordneten  Zusammenfassungen  von  Emp- 
findmigen,  w^elche  in  dem  individuellen  Bewußtsein  entstehen,  unter 
^Erfahrung"  dagegen  das  Bewußtsein  des  Individuums,  eine  not- 
wendige und  allgemeingültige  Vorstellungsverbindung  bei  dieser 
sinnUchen  Wahrnehmung  vollzogen  zu  haben,  so  lautet  die  Frage 
der  transzendentalen  Deduktion  der  reinen  Verstandes- 
begriffe: wie  wird  aus  Wahrnehmung  Erfahrung?  oder  schärfer 
im  Geiste  der  kritischen  Methode  ausgedrückt:  aus  welchem  Grunde 
kann  aus  Wahrnehmmigen  Erfahrung  werden?  Erfahrung  setzt  das 
Verhältnis  eines  subjektiven  Vorstelliuigsgebildes  zu  einem  Gegen- 
stande voraus;  und  so  läßt  sich  die  Frage  auch  so  formu- 
lieren: worin   besteht  und  worauf   beruht  die  Beziehung  unserer 


7^  Kants  theoretische  Philosophie. 

Wahrnelimungen  auf  Gegenstände?  Um  aber  in  der  Beantwortung 
dieser  Frage  nicht  von  vornherein  fehlzugehen,  muß  man  sich 
klar  machen,  daß  Gegenständlichkeit  im  Sinne  des  Kantischen 
Kritizismus  nicht  mit  '^Eealität  nach  altem  und  gewöhnlichem 
Sprachgebrauch,  sondern  vielmehr  lediglich  mit , Notwendigkeit  und 
Allgemeingültigkeit  identisch  ist.  Daraufhin  formt  sich  jene  Frage 
in  die  weitere  um:  aus  welchen  Gründen  können  wir  überzeugt 
sein,  daß  die  in  der  Wahrnehmung  des  einzelnen  Subjektes  sich 
vollziehenden  räumlich  -  zeitlichen  Synthesen  von  Empfindungen 
notwendige  und  allgemeine  Geltung  haben?  In  der  Beantwortung 
dieser  Frage  entwickelt  Kant  die  größte  Energie  seines  Denkens, 
und  es  ist  dies  der  Punkt,  wo  er  sich  über  das  Vorurteil  des 
naiven  Kealismus  weit  emporhebt.  Den  Nerv  aber  der  gesamten 
Deduktion  der  reinen  Verstandesbegriffe  muß  man  in  Kants  Nach- 
weise sehen,  daß  schon  die  Allgemeingültigkeit  und  Notwendigkeit, 
welche  in  der  Wahrnehmung  dem  räumlichen  und  zeitlichen  Schema 
der  Empfindungen  beiwohnt,  nicht  durch  die  bloße  Anschauungs- 
tätigkeit, sondern  bereits  durch  begriffliche  Beziehungen  oder,  wie 
Kant  sich  ausdrückt,  durch  Kegeln  des  Verstandes  bestimmt  ist. 
Man  sagt  gewöhnlich,  Kant  habe  sich  nur  um  die  Apriorität 
von  Raum  und  Zeit  und  den  Kategorien,  niemals  aber  um  den 
Erkenntnis  wert  der  einzelnen  Erfahrungen  gekümmert,  und  Jacobi 
und  Herbart  haben  gleichmäßig  diesen  Einwurf  gegen  die  Vernunft- 
kritik gemacht.  Die  transzendentale  Deduktion  lehrt  das  Gegen- 
teil; sie  sucht  zu  zeigen,  daß  räumliche  und  zeitliche  Anordnung 
von  Empfindungen  nur  dann  einen^ objektiven,  d.  h.  notwendigen 
und  allgemeinen  Wert  haben,  wenn  sie  durch  eine  begriffliche 
Funktion  in  ihrer  Anwendung  bestimmt  sind.  Zwei  Empfindungen 
A  und  B,  welche  in  demselben  individuellen  Bewußtsein  hinter- 
einander aufgetreten  sind,  können  innerhalb  desselben  nach  den 
Gesetzen  der  empirischen  Reproduktion  und  Assoziation  in  be- 
liebiger Weise  und  von  jedem  Individuum  in  anderer  Weise  räumhch 
und  zeitlich  in  Beziehung  gesetzt  werden.  Sollen  sie  aber  in  die 
allgemeine  und  notwendige  Beziehung  treten,  daß  immer  B  auf  A 
folge,  so  ist  das  nur  dadurch  mögHch,  daß  A  die  Ursache  von  B 
ist.  In  ähnUcher  Weise,  meint  Kant,  seien  alle  räumlichen  und 
zeitlichen  Verhältnisse  in  der  »Einbildungskraft«  individuell  ver- 
schiebbar und  würden  zur  Notwendigkeit  und  Allgemeingültigkeit 


Transzondontiilt'   Doduktion  (]ov  roinon  Vcratandeftbopfrino.  7!* 

erst  dadiiirli  fixiert,  daß  sie  nach  den  begrifflichen  Vcrhältninsen 
geregelt  werden. 

Nun  liegt  aber  eine  solche  Notwendigkeit  und  Allgemeingültigkeit 
in  dem,  was  wir  Erfahrung  nennen,  tatsäclilich  vor.  Wir  haben 
ein  zweifelloses  Bewußtsein  davon,  *daß  die  räumliche  und  zeitliche 
Anordnung,  in  welche  wir  bei  der  Wahrnehmung  die  Empfindimgen 
versetzen,  allgemein  und  notwendig  gilt.  Und  doch  ist  in  den 
bloßen  Empfindungen  kein  Grund  für  eine  solche  bestimmte  An- 
ordnung enthalten.  Wenn  wir  z.  B.  unsere  Augen  über  die 
einzelnen  Teile  eines  großen  Gegenstandes  wandern  lassen  und  uns 
diese  Teile  sukzessive  zum  Bewußtsein  bringen,  so  bleiben  wir 
doch  davon  überzeugt,  daß  diese  sukzessive  in  uns  aufgetretenen 
Empfindungen  als  gleichzeitig  im  Kaume  koordiniert  gedacht 
werden  müssen,  während  wir  in  anderen  Fällen  nicht  minder 
sicher  davon  überzeugt  sind,  daß  der  Sukzession  unserer  Emp- 
findungen (z.  B.  bei  der  Bewegung  eines  Gegenstandes)  auch  eine 
objektive  Sukzession  in  der  Zeit  entspreche.  Nichts  anderes 
können  wir  nun  aber  meinen,  wenn  wir  den  subjektiven  Vor- 
stellungsbewegungen gegenüber  von  »Gegenständen«  sprechen, 
welche  die  Eichtschnur  für  die  Richtigkeit  der  ersteren  bilden. 
Gegenständlichkeit  ist  eine  Regel  für  die  räumlich-zeitliche  An- 
ordnung der  Empfindungen,  eine  Regel,  die  nach  dem  obigen 
jedesmal  die  Anwendung  einer  der  Funktionen  des  reinen  Ver- 
standes enthält,  und  wodurch  der  subjektiven  Vorstellungs- 
verknüpfung objektive  Geltung  verschafft  werden  soll.  Von  der 
erkenntnistheoretischen  Analyse  aus  gesehen,  ist  also  Erfahrung 
nur-not wendige  und  allgemeingültige  Wahrnehmungstätigkeit,"  und 
ist  der  gegenständ  'der  Wahrnehmung  nur  diese  Bestimmtheit  der 
räumlich-zeitlichen  Sjrnthese  durch  einen  Verstandesbegriff.  Die 
"Gegenstände  also  sind  nicht  an  sich  bestehende  Dinge,  sondern 
sie  sind  der  individuellen  Assoziation  gegenüber  lediglich  die  all- 
gemeinen und  notvrendigen  Empfindungsverknüpfungen.  ^^ 

Nun  treten  aber  diese  objektiven  Synthesen  gleichfalls  in  dem 
individuellen  Bewußtsein  auf.  Sie  zeichnen  sich  nur  dadurch  aus, 
daß  ihnen  ein  Gefühl  von  Notwendigkeit  und  Allgemeingültigkeit 
beiwohnt,  welches  aus  der  empirischen  Assoziationstätigkeit  des 
individuellen  Geistes  nicht  erklärbar  ist.  Deshalb  kann  der  Grund 
der  Objektivität  nur  darin  gesucht  werden,  daß  im  tiefsten  Grunde 


gQ  Kants  theoretische  Philosophie. 

des  individuellen  Bewußtseins  eine  allgemeine  Organisation  tätig 
ist,  die  nicht  sowohl  in  ihrer  Funktion  selbst,  als  vielmehr  in 
ihren  Produkten,  d.  h.  als  sachlich  gegebene  Gegenständlichkeit 
vor  das  individuelle  Bewußtsein  tritt.  Das  letztere  findet  des- 
halb die  Vorstellung  der  Gegenstände  als  ein  Fertiges  und  Ge- 
gegebenes vor  und  betrachtet  sie  als  etwas  ihm  Fremdes  und 
Äußerliches,  während  sie  in  Wahrheit  in  der  innersten  Werk- 
stätte seines  eigenen  Lebens  erzeugt  worden  sind.  Das  Gegen- 
ständliche also  in  unserem  Denken  beruht  auf  einer  über- 
individuellen Funktion,  welche  gleichmäßig  den  gegenständ- 
lichen Untergrund  aller  individuellen  Vorstellungstätigkeit  bildet, 
auf  dem  »Bewußtsein  überhaupt«.  fMan  darf  unter  diesem 
viel  mißverstandenen  Ausdruck  nicht  ein  von  dem  individuellen 
Bewußtsein  verschiedenes  psychisches  Wesen  oder  Subjekt  ver- 
stehen wollen:  eine  solche  metaphysische  Deutung  ist  eben  da- 
durch ausgeschlossen,  daß  es  sich  bei  allen  diesen  Kantischen 
Untersuchungen  nicht  um  psychologische  Prozesse,  sondern  um 
dasjenige  handelt,  was  als  allgemein  und  notwendig  geltende 
Funktion  in  dem,  was  wir  Erfahrung  nennen,  enthalten  ist.^  In- 
dem Kant  daran  geht,  die  in  den  » Prolegomena «  zuerst  so  be- 
zeichnete Funktion  des  Bewußtseins  überhaupt  zu  bestimmen, 
ergibt  sich  zunächst,  daß  ihr  innerster  Charakter  in  der  Einheit 
des  Denkaktes  bestehen  muß.  Alle  Gegenstände  sind  Synthesen 
von  Empfindungen,  aber  sie  sind  als  solche  stets  eine  Verein- 
heitlichung des  Mannigfaltigen.  Wenn  nun  dies  Mannigfaltige  in 
den  Empfindungen  besteht,  so  ist  anderseits  die  Vereinheitlichung 
eine  Funktion  der  reinen  Formen  der  Intelligenz.  Raum  und 
Zeit  einerseits  und  die  Kategorien  anderseits  bilden  also  die 
Formen  der  notwendigen  und  allgemeingültigen  Vereinheitlichung 
für  die  Mannigfaltigkeit  der  Empfindungen,  d.  h.  sie  sind  in 
ihrer  Verbindung  die  konstituierenden  Prinzipien  der  Objektivität. 
Diese  ganze  »transzendentale  Synthesis  des  Mannigfaltigen«  ist 
aber  nur  so  denkbar,  daß  ihr  eine  absolute  Einheit  zugrunde 
liegt,  in  welcher  und  an  welcher  das  Verschiedene  als  solches 
erkannt  und  miteinander  in  Beziehungen  gesetzt  wird.  Diese 
absolute  Einheit  kann  natürlich  weder  in  einem  bestimmten  Denk- 
inhalte noch  in  einer  der  besonderen  Denkformen,  sondern  nur 
in  jener  allgemeinsten  Form  bestehen,   welche  als  der  stets  sich 


»Bowiißtsein  Uborliatipt«,  H] 

jjjleichbliMbeiKlc  Akt  »ich  denke«  alle  V'orstellungf'n  iilxTliaiipt 
nicht  mir  bcjj;loitet,  soiKh'rn  erst  nio;_'lich  macht.  Den  tiefsten 
Crund  jener  überindivitluellcn  Orfjjanisation  bildet  also  dieses 
»reine  Selbstbewußtsein«,  vda.^  Kant  mit  dem  Namen  der 
»transzendentalen  Apperzeption«   bezeichnet.\ 

In  diesem  »Bewußtsein  überliaupt«  liej^t  also  der  Grund  für 
die  Allgcmeingültigkeit  \md  Notwendigkeit  der  Erfahrung.  Die 
Katcjgorien  sind  nichts  als  die  besonderen  Formen  der  Synthesis, 
welche  die  transzendentale  Apperzeption  anwendet,  um  die  Mannig- 
faltigkeit der  Empfindungen  in  die  begriffliche  Einheit  zu  bringen, 
worin  allein  auch  die ""  Notwendigkeit  und  Allgemeingültigkeit 
der  räumlich-zeitlichen  Anordnung  begründet  ist.  Die  Welt  der 
Gegenstände  ist  also  ein  Produkt  der  überindividuellen  Funktion, 
die  als  Erfahrung  in  uns  einzelnen  tätig  ist.  Bildet  sich  das 
Individuum  willkürlich  oder  nach  den  Gesetzen  der  Assoziation 
aus  dem  Material  seiner  Wahrnehmungen  neue  Zusammenstellungen, 
so  bezeichnet  man  diese  Tätigkeit  als  Einbildungskraft,  welche  im 
Individuum  stets  reproduktiver  Natur  ist.  Indem  nun  die  tran- 
szendentale Apperzeption  aus  den  Empfindungen  mit  Hilfe  des 
Schemas  von  Raum  und  Zeit  durch  die  Einheitsfunktion  der 
Kategorien  originaliter  die  Gegenstände  erzeugt,  verdient  sie  den 
Namen  der  produktiven  Einbildungskraft. 

Dies  ist  nun  der  »Kopernikanische  Standpunkt«,  den  Kant 
gewonnen  zu  haben  glaubte,  um  das  Verhältnis  unserer  Vor- 
stellungen zu  einer  gegenständlichen  Welt  begreiflich  zu  machen. 
Die  einzige  Bedingung,  unter  der  es  Begriffe  a  priori  von  den 
Gegenständen  geben  kann,  ist  die,  daß  die  Gegenstände  unserer 
Erkenntnis  nicht  Dinge  an  sich ,  sondern  Erscheinungen  sind. 
Hätte  unsere  Erkenntnistätigkeit  es  mit  Dingen  an  sich  zu  tun, 
so  würden  unsere  Begriffe  dafür  niemals  allgemeine  und  not- 
wendige Bedeutung  haben  können.  Von  den  Dingen  selbst,  durch 
Erfahrung  im  gewöhnlichen  Sinne  des  Wortes  gewonnen,  würden 
sie  a  posteriori  sein;  aus  uns  als  eingeborene  Ideen  genommen, 
würden  sie  ihre  reale  Gültigkeit  niemals  erweisen  können.  Em- 
pirismus und  Rationalismus  sind  gleich  unfähig,  apriorische  Er- 
kenntnis von  Gegenständen  zu  erklären;  nur  die  Transzendental- 
philosophie vermag  dies,  indem  sie  zeigt,  daß  die  Kategorien 
allgemein  und  notwendig  für  alle  Erfahrung  gelten,  weil  diese 

Windelband,  Gesch.  d,  n,  Philos.    II.  6 


g2  Kants  theoretische  Philosophie. 

Erfahrunc:  erst  durch  sie  »zustande  kommt«,  d.  h.  in  ihrer  All- 
gemeingültigkeit  notwendig  begründet  ist.  Was  aber  dadurch 
zustande  kommt,  sind  nicht  Gegenstände  an  sich,  sondern  Gegen- 
stände, die  in  jenem  »Bewußtsein  überhaupt«  als  Vorstellungs- 
synthesen entsprungen  sind,  d.  h.  Erscheinungen.  Wenn  es  nur 
Erscheinungen  sind,  mit  denen  die  menschliche  Erkenntnis  zu 
tun  hat,  so  folgt  eben  daraus,  daß  es  für  sie  Begriffe  a  priori 
gibt.  Denn  als  Erscheinungen  sind  die  Dinge  nur  in  uns  vor- 
handen, und  die  Art,  wie  das  Mannigfaltige  der  Empfindung  in 
unserem  Bewußtsein  vereinigt  erscheint,  geht  dann  den  Er- 
scheinungen selbst  als  ihre  intellektuelle  Form  vorher*).  Eine 
Natur  als  System  von  Dingen  an  sich  könnte  in  eine  allgemeine 
und  notwendige  Erkenntnis  nie  eingehen;  aber  eine  Natur,  die 
ein  Produkt  unserer  Organisation  ist,  d.  h.  eine  Erscheinungs- 
welt, ist  in  ihren  allgemeinen  Gesetzen  a  priori  zu  begreifen,  weil 
diese  Gesetze  nichts  anderes  sind  als  die  reinen  Formen  unserer 
Organisation. 

Diese  Lehre  Kants  ist  Kationalismus,  insofern  sie  eine  aprio- 
rische Erkenntnis  mit  den  Formen  des  menschlichen  Geistes  be- 
hauptet und  begründet;  sie  ist  Empirismus,  insofern  sie  diese 
Erkenntnis  nur  auf  die  Erfahrung  und  die  darin  gegebenen  Er- 
scheinungen beschränkt;  sie  ist  Idealismus,  insofern  sie  lehrt,  daß 
es  nur  unsere  Vorstellungswelt  ist,  welche  wir  erkennen;  .sie  ist 
Realismus,  indem  sie  behauptet,  daß  diese  unsere  Vorstellungs- 
welt Erscheinimg,  d.  h.  die  Auffassung  unseres  Geistes  von  einer 
wirklich  bestehenden  Welt,  obwohl  njcht  deren  Abbild  ist.  Sie 
faßt  alle  diese  Charakteristiken  zusammen  als  transzendentaler 
Phänomenalismus,  indem  sie  zeigt,  daß  die  Welt  der  Objekte 
für  den  individuellen  Geist  das  Produkt  einer  überindividuellen 
Organisation  ist,  die  ihm  nicht  fremd  gegenüber  steht,  sondern 
den  Grund  seines  eigenen  Lebens  bildet.  Auch  für  Kant  gilt 
deshalb  die  populäre  Bezeichnung,  daß  die  Wahrheit  des  Denkens 
in  seiner  Übereinstimmung  mit  Gegenständen  besteht :  aber  diese 
''Gegenstände ^können  nicht  Dinge  im  Sinne  des  naiven  Realismus, 
sondern   nur  Vorstellungen  höherer  Art  sein.     Wahrheit  für  den 

*)  Doch  muß  man  dabei  immer  im  Auge  haben,  daß  dies  »Vorhergehen« 
kein  psychologisch -zeitliches,  sondern  ein  logisch -sachliches  Verhältnis  be- 
deutet. 


Tranazondontnlor  PliilnomcnalisTnu».  H3 

.suhjoklivcii  Ooist  ist  ÜlxMciiistinmiun«^  der  individuellen  mit  der 
üheriiulividiielleii   Vorstellung. 

Es  ist  vorzeihlieli,  daß  dies  Resultat  des  Kritizismus  bei  seinem 
Erscheinen  mit  der  Lehre  von  Berkeley  verwechselt  worden  ist; 
aber  es  ist  ebenso  berechtijj^t,  daß  Kant  sich  gep^en  diese  Ver- 
wechslung energisch  verwahrt  hat.  Denn  während  Berkeley  jede 
Realität  der  Körperwelt  überhaupt  aufhob,  hält  Kant  daran  ab- 
solut fest  und  beliauptet  seinerseits  nur,  daß  alles,  was  wir  von 
diesen  Körpern  durch  Wahrnelimung  imd  Denken  wissen,  in  der 
Organisation  unseres  Geistes  begründet  und  deshalb  nur  ihre  Er- 
scheinungsweise sei :  und  während  Berkeley  eine  metaphysische 
Substantialität  der  individuellen  Geister  und  infolgedessen  eine 
Mitteilung  des  göttlichen  Vorstellungsprozesses  an  die  einzelnen 
Geister  annahm,  entschlägt  sich  Kant/vermöge  seiner  Ausdehnung 
des  Phänomenalismus  auch  auf  den  inneren  Sinn  ,  dieses  meta- 
physischen Spiritualismus  vollständig  und  betrachtet  das  »Be- 
wußtsein überhaupt«  nicht  etwa  als  ein  metaphysisches  Subjekt, 
sondern  nur  als  eine  allgemeingültige  Funktion  unü  ebenso  auch 
das  empirische  Subjekt  nicht  als  eine  reale  Wesenheit,  sondern 
als  eine  Erscheinung.  In  diesem  Sinne  gab  er  in  der  zweiten 
Auflage  der  Vernunftkritik  eine  seiner  gesamten  Lehre  vollkommen 
entsprechende  »Widerlegung  des  Idealismus«,  indem  er  zeigte, 
daß  das  individuelle  Selbstbewußtsein,  statt  der  Vorstellung  der 
Außenwelt,  wie  Descartes  und  Berkeley  meinten,  zugrunde  zu 
liegen,  vielmehr  umgekehrt  erst  auf  Grund  einer  entwickelten 
Vorstellung  von  äußeren  Gegenständen  zustande  kommt,  daß  also 
mit  Rücksicht  sowohl  auf  die  psychologische  Genesis,  als  auch 
auf  die  erkenntnistheoretische  Begründung  die  Funktion  des 
äußeren  Sinnes  derjenigen  des  inneren  Sinnes  vorhergeht. 

So  erweist  sich  die  transzendentale  Ästhetik  nur  als  Vorspiel 
zur  Analytik.  Dort  handelt  es  sich  um  die  von  der  reinen  Mathe- 
matik zu  erkennenden  räumhchen  und  zeitlichen  Gesetze,  insofern 
sie  in  sich  apodiktisch  und  von  allgemeiner  Geltung  für  die  ge- 
samte Sinnenwelt  sind.  Hier  dagegen  zeigt  es  sich,  daß  die  ganze 
Welt  unserer  Erfahrung  erst  durch  die  Zusammenwirkung  der 
SinnHchkeit  und  des  Verstandes  zustande  kommt,  und  daß  jede 
besondere  Anwendung  der  räumlichen  und  zeitlichen  Synthese  nur 
dadurch  objektiven  Wert  erhält,  daß  sie  durch  eine  Funktion  des 


g4  Kants  theoretische  Philosophie. 

reinen  Verstandes,  durch  eine  Kategorie  geregelt  wird.  Die  beiden 
Erkenntnisquellen,  Sinnlichkeit  und  Verstand,  welche  Kant  so 
scharf  gesondert  hat,  lassen  ihre  innere  Zusammengehörigkeit  und 
ihre  gemeinsame  Abstammung  aus  der  uns  unbekannten  Wurzel 
darin  erkennen,  daß  sie  sich  an  demselben  Material  der  Emp- 
findungen in  engster  Verknüpfung  betätigen,  und  daß  die  Ver- 
hältnisse der  sinnlichen  Synthese  sich  durch  diejenigen  der 
begrifflichen  S3nathese  bedingt  zeigen.  Indem  Kant  dieser  Ver- 
einbarkeit der  heterogenen  Funktionen  nachgeht,  stellt  er  zwischen 
beiden  als  psychologisches  Zwischenglied  eine  Analogie  zwischen 
den  kategorialen  Verhältnissen  und  gewissen  zeitlichen  Beziehungen 
auf,  die  er  als  den  »Schematismus  der  reinen  Verstandes- 
begriffe« bezeichnet.  Die  stetige  Gleichzeitigkeit  z.  B.  von 
Empfindungen  steht  mit  der  Kategorie  der  Inhärenz,  die  stetige 
Sukzession  mit  derjenigen  der  Kausalität  in  einer  ursprünglich 
unserem  Denken  einleuchtenden  Beziehung.  Während  nun  Hume, 
der  diese  Beziehungen  wenigstens  an  den  eben  gewählten  Bei- 
spielen zuerst  entdeckte,  sie  lediglich  als  Produkte  des  individuellen 
Assoziationsmechanismus  auffaßte,  sieht  dagegen  Kant  in  dieser 
Koinzidenz  sinnUcher  und  begrifflicher  Verhältnisse  die  eigentliche 
Funktion  der  transzendentalen  Einbildungskraft,  und  da  das 
zeitliche  Schema  und  die  Formen  des  Denkens  sich  in  der  Tätig- 
keit des  inneren  Sinnes  begegnen,  so  glaubt  er  auf  diese  Weise 
die  Möglichkeit  begriffen  zu  haben,  daß  eine  transzendentale  Ur- 
teilsla*aft  die  räumlich-zeitlichen  Gebilde  unter  reine  Verstandes- 
begriffe subsumiere,  und  daß  dadurch  die  begrifflichen  Regeln  der 
Kategorien  ihre  Anwendung  auf  die  Welt  der  sinnlichen  Wahr- 
nehmung finden.  Kants  Lehre  von  der  Zeit  zeigt  sich  hier  als 
ein  unentbehrliches  Zwischenglied  seiner  gesamten  psychologisch- 
erkenntnistheoretischen  Konstruktion.  Die  Zeit^als  die  reine  Form 
des  inneren  Sinnes)  gilt  einerseits  als  transzendentale  Bedingung 
auch  für  alle  Erscheinungen  des  äußeren  Sinnes  und  anderseits 
als  ein  allgemeines  Schema  für  die  Anwendung  der  Kategorien. 
So  vermittelt  sie  jene  Gemeinsamkeit  der  Funktion  zwischen  Sinn- 
lichkeit und  Verstand  und  läßt  es  begreiflich  erscheinen,  daß  aus 
der  Subsumtion  der  Erscheinungen  unter  die  Kategorien  sich  all- 
gemeine Sätze  ergeben,  welche  für  den  gesamten  Umfang  der 
ersteren  als  apriorische  Gesetze  gelten. 


I 


(IruDclsiltzo  dos  rolncn  Vorstaiulos.  85 

Daraiiflnii  ontwickcli  Kant  die  CJrundHÜtzc  des  reiner» 
V(M'standes.  Sie  ontluiltcii  dasjenige,  was  er  die  reine  Natur- 
wissenschaft nennt,  d.  h.  die  Axiome,  welche,  ohne  durcli  die  Kr- 
falnunü;  begründbar  zu  sein,  aller^Erfahrung  zu<^'runde  lie;^en  und 
alle  besonderen  Naturgesetze  nicht  nur  als  einzelne  Anwendungen 
auf  empirische  Gegenstände  unter  sich  enthalten,  sondern  auch 
allein  wirklicli  zu  begründen  imstande  sind.  Jeder  dieser  Grund- 
sätze enthält  nichts  anderes  als  das  Urteil,  daß  die  betreffende 
Kategorie  oder  Kategorienklasse  auf  jede  Erscheinung  ihre  An- 
wendung zu  finden  habe.  So  ergibt  der  Gesichtspunkt  der 
Quantität  das  allgemeine  Axiom  der  Anschauung,  wonach  alle 
Erscheinungen  ihrer  Anschauung  nach  extensive  Größen  sind. 
So  folgt  aus  dem  Gesichtspunkte  der  Qualität  der  Grundsatz  der 
Antizipation  der  Wahrnehmung,  daß  in  allen  Erscheinungen 
das  Objektive,  welches  den  Gegenstand  der  Empfindung  bildet, 
eine  intensive  Größe  ist,  d.  h.  einen  Grad  hat.  So  begründen  die 
Gesichtspunkte  der  Modalität  als  Postulate  des  empirischen 
Denkens  die  Begriffsbestimmungen:  möglich  sei  dasjenige,  was 
der  Anschauung  und  dem  Begriffe  nach  mit  den  formalen  Be- 
dingungen der  Erfahrung  übereinkommt;  wirklich  dasjenige,  was 
mit  den  materialen  Bedingungen  der  Erfahrung,  d.  h.  der  Emp- 
findung zusammenhängt;  notwendig  endlich  dasjenige,  dessen  Zu- 
sammenhang mit  dem  Wirklichen  nach  allgemeinen  Bedingungen 
der  Erfahrung  bestimmt  ist.  Am  wichtigsten  aber  sind  zweifellos 
unter  diesen  Grundsätzen  des  reinen  Verstandes  die  Analogien 
der  Erfahrung,  welche  aus  der  Unterordnung  aller  Erscheinungen 
unter  die  Kategorien  der  Relation  sich  ergeben.  Die  Anwendung 
der  Kategorie  der  Substantialität  auf  die  Erscheinungen  ergibt 
als  erste  Analogie  den  »Grundsatz  der  Beharrlichkeit  der  Sub- 
stanz«, w^onach  bei  allem  Wechsel  der  Erscheinungen  die  Sub- 
stanz beharrt  und  ihr  Quantum  in  der  Natur  weder  vermehrt  noch 
vermindert  wird.  Aus  der  Subsumtion  aller  Erscheinungen  unter 
die  Kategorie  der  KausaHtät  folgt  als  zweite  Analogie  der  »Grund- 
satz der  Zeitfolge  nach  dem  Gesetze  der  Kausalität«,  daß  alle 
Veränderungen  nach  dem  Gesetze  der  Verknüpfung  von  Ursache 
und  Wirkung  geschehen.  Die  Kategorie  der  Gemeinschaft  be- 
gründet in  ihrer  Anwendung  auf  die  Erscheinungen  als  dritte 
Analogie  den  »Grundsatz  des  Zugieichseins  nach  dem  Gesetze  der 


gß  Kants  theoretische  Philosophie. 

Wechselwirkimg«,  wonach  alle  Substanzen,  insofern  sie  im  Raum 
als  zugleich  wahrgenommen  werden  können,  in  durchgängiger 
Wechselwirkung  stehen.  Diese  Analogien  enthalten  nicht  mehr 
und  nicht  weniger  als  die  Grundzüge  einer  Metaphysik  der 
Natur  als  Erfahrungswelt;  sie  lehren,  daß  nach  den  Gesetzen 
unserer  geistigen  Organisation  sich  alle  Erfahrung  als  ein  System 
von  räumlichen  Substanzen  darstellen  muß,  deren  Zustände  im 
Verhältnis  wechselseitiger  Kausalität  stehen.  In  ihnen  erst  ent- 
wickelt sich  die  besondere  Darstellung  davon,  daß  die  Natur  als 
das  System  von  Ordnung  und  Gesetzmäßigkeit,  welches  wir  wahr- 
zunehmen glauben,  in  Wahrheit  auf  dem  Grundriß  der  gesetz- 
mäßigen Funktion  unseres  Verstandesgebrauches  aufgebaut  ist: 
imd  so  hat  Kant  erwiesen,  daß  wir  die  Welt  in  diesem  ihrem 
Zusammenhange  vermöge  unserer  Organisation  so  wie  es  geschieht 
anschauen  und  denken  müssen,  ganz  unabhängig  davon,  ob  sie  — 
worüber  wir  nichts  entscheiden  können  und  was  uns  auch  gar 
nichts  angeht  —  außerhalb  unseres  Geistes  so  ist  oder  nicht. 

Die  so  gefundenen  und  deduzierten  Grundsätze  des  reinen 
Verstandes  enthalten  also  die  Metaphysik,  d.  h.  die  apriorische 
Verstandeserkenntnis  der  Erscheinungswelt.  Allein  sie  bedürfen 
behufs  ihrer  .Anwendung  auf  die  Erfahrungswissenschaften  noch 
einer  Ergänzung.  Wenn  die  Erfahrung  nur  durch  die  gemeinsame 
Wirkung  der  Sinnlichkeit  und  des  Verstandes  erzeugt  wird,  so 
steht  ihr  Gegenstand,  d.  h.  die  Natur  a  priori,  unter  den  Gesetzen, 
d.  h.  den  reinen  Formen  der  SinnHchkeit  und  des  Verstandes. 
Nun  zeigte  sich  zwar  schon  die  Anwendung  der  letzteren  durch 
die  zeitliche  Schematisierung  bedingt,  und  in  den  Grundsätzen 
des  reinen  Verstandes  liegt  in  dieser  Weise  schon  eine  Verlmüpfung 
der  beiden  Prinzipien  vor.  Allein  da  alle  Erscheinungen  sinn- 
lichen Charakters  sind,  so  muß  sich  in  ihnen  auch  die  besondere 
Gesetzgebung  von  Raum  und  Zeit,  d.  h.  die  mathematische,  als 
maßgebend  erweisen.  Mit  jenen  Grundsätzen  des  reinen  Ver- 
standes ist,  da  die  Tafel  der  Kategorien  als  ein  vollständiges 
System  gilt,  der  Umfang  dessen,  was  man  durch  bloße  Begriffe 
a  priori  von  der  Erfahrung  weiß  und  wissen  kann,  erschöpft. 
Erst  die  mathematische  Erkenntnis  fügt  dieser  apriorischen  Meta- 
physik der  Erscheinungen  das  anschauliche  Element  hinzu.  Ohne 
dieses   Element   ist    eine   Verknüpfung   zwischen    jenen   höchsten 


Naturphilosophie.  87 

Gruiidsiitzcii  und  den  besonderen  Krfuhrun;^cn  nicht  denkbur, 
mithin  auch  eine  Sub.sunition  (Kt  letzteren  unter  die  crsteren 
nicht  vollziehbar.  Die  p.sycholo<;ische  Konstruktion,  die  Kant 
seiner  Erkenntnistheorie  ziii;runde  le^te,  läßt  die  Formen  der 
Sinnlichkeit  als  das  unentbehrliclie  Zwischenglied  zwischen  dem 
Empfindungsmaterial  und  den  reinen  Formen  des  Denkens  er- 
scheinen, und  deshalb  ist  ihm  die  Mathematik  das  einzige  Medium, 
durch  welches  unsere  Erfahrung  von  der  Natur  auf  jene  reinen 
Grundsätze  bezogen  werden  kann.  Darum  erklärt  Kant,  daß  in 
jeder  Naturlehre  sich  nur  so  viel  Wissenschaft  (d.  h.  Wissenschaft 
im  eigentlichsten  Sinne  oder  apriorische  Wissenschaft)  finde,  als 
sie  Mathematik  enthalte.  Hier  zeigt  sich  nun,  wie  Kant  durch 
seine  kritische  Arbeit  sich  die  Möglichkeit  geschaffen  hatte,  die 
mathematischen  Prinzipien  der  Naturphilosophie  ganz  in  dem 
Sinne  von  Newton  durchzuführen,  —  mit  dem  Unterschiede  nur, 
daß  die  Natur  für  Newton  eine  absolute  Realität,  für  Kant^eine 
in  der  Organisation  des  menschlichen  Geistes  begründete  Er- 
scheinung ist,  daß  Raum  und  Zeit  bei  jenem  die  Möglichkeit  der 
realen,  bei  diesem  diejenige  der  Vors tellungs weit  bildete.  Meta- 
physik der  Erscheinungen  oder  Naturphilosophie  reicht  also 
für  Kant  so  weit,  als  es  eine  mathematische  Behandlung 
der  Erscheinungen  gibt;  wo  diese  aufhört,  da  gibt  es  auch 
keine  apriorische  Erkenntnis  mehr,  sondern  nur  noch  eine  Samm- 
limg  von  Tatsachen.  Dieses  Verhältnis  waltet  nun  in  bezug  auf 
die  Erscheinungen  des  inneren  Sinnes  ob.  Es  gibt  für  die 
psychischen  Tatsachen  weder  eine  meßbare  Bestimmung  der 
einzelnen  noch  infolgedessen  eine  mathematisch  formulierbare  Be- 
stimmung ihrer  Verhältnisse  und  Gesetze.  Darum  gibt  es  keine 
Metaphysik  des  Seelenlebens,  selbst  nicht  einmal  in  dem 
bescheidenen  Sinne,  welchen  die  Vernunftkritik  unter  Metaphysik 
versteht.  Da  nun  eine  rationale  Psychologie  im  alten  Sinne, 
eine  Lehre  von  der^Seele  als,  Ding  an  sich  nach  Kants  Ansicht 
erst  recht  nicht  möglich  ist,  so  bleibt  für  die  Psychologie  nur 
der  Charakter  einer  deskriptiven  und  mangelt  ihr  derjenige  einer 
theoretischen  Wissenschaft.  Kants  Ansicht  von  der  Aufgabe  der 
Erfahrungswissenschaften  ist  bei  seiner  aprioristischen  Tendenz 
durchaus  von  dem  Galilei-Newtonschen  Prinzip  beherrscht,  daß 
Exaktheit  und   wahre  Wissenschaftlichkeit  nur  da  zu  finden  sei. 


88  Kants  theoretische  Philosophie. 

wo  es  eine  korrekte  Subsumtion  der  Erfahrung  unter  a  priori 
aufgestellte  Gesetze  gibt.  Diese  Forderung  ist  eben  im  strengsten 
Sinne  nur  da  zu  erfüllen,  wo  das  apriorische  Element  in  mathe- 
matischen Deduktionen  und  das  empirische  in  meßbaren  Größen 
besteht,  so  daß  die  Übereinstimmung  zwischen  beiden  unmittelbar 
anschaidich  und  einleuchtend  gemacht  werden  kann.  Dieses  natur- 
wissenschaftliche Ideal  läßt  sich  an  der  Psychologie  nicht  er- 
füllen: und  deshalb  erklärt  Kant,  sie  werde  niemals  den  Charakter 
der  Exaktheit  erlangen. 

Aus  diesem  Grunde  beziehen  sich  »die  metaphysischen  An- 
fangsgründe der  Naturwissenschaft«  nur  auf  die  äußere  Natur,  auf 
die  Erscheinungen  im  Raum,  auf  die  Körperwelt.  Ihre  Auf- 
gabe ist  deshalb,  zu  untersuchen,  welche  Folgerungen  sich  aus  den 
Grundsätzen  des  reinen  Verstandes  und  aus  der  mathematischen 
Gesetzgebung  für  die  erfahrungsmäßige  Theorie  der  Körperwelt 
ergeben.  Es  wird  sich  also  darum  handeln,  dasjenige,  was  an 
der  Körperwelt  erfahrungsmäßig  ist,  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
jener  apriorischen  Gesetzgebung  zu  unterwerfen.  Nun  beziehen 
sich  alle  besonderen  Naturgesetze,  welche  die  Physik  aufstellt, 
auf  die  gesetzmäßigen  Veränderungen  der  Körperwelt;  jedes  Gesetz 
ist  ein  Gesetz  des  Geschehens.  Da  aber  die  Körper  nichts  als 
Erscheinungen  im  Räume  sind,  so  ist  alles  Geschehen  in  der 
äußeren  Natur  räumliche  Veränderung,  d.  h.  Bewegung.  Die 
Bewegung  erweist  sich  aber  auch  dadurch  als  Zentralbegriff  der 
wissenschaftlichen  Naturlehre,  daß  in  ihrer  Messung  und  mathe- 
matischen Bestimmung  sowohl  das  räumliche  als  auch  das  zeit- 
liche Merkmal  unentbehrlich  ist.  Deshalb  gestaltet  sich  Kants 
Naturphilosophie  als  eine  begriffliche  und  mathematische 
Bewegungslehre  a  priori.  In  der  Ausführung  bedient  sich 
Kant  des  Schemas  der  Kategorientafel,  indem  er  nach  deren  vier 
Gesichtspunkten  seine  Naturphilosophie  einteilt  in  Phoronomie, 
Dynamik,  Mechanik  und  Phänomenologie.  Den  Begriff  der  Be- 
wegung bestimmt  Kant  im  Einklang  mit  seinem  Schriftchen  aus 
dem  Jahre  1758  auch  hier  in  dem  relativen  Sinne  als  die  Ent- 
fernungsveränderung zweier  Punkte.  Er  leitet  daraus  die  ersten 
Grmidsätze  von  der  Zusammensetzbarkeit  der  Bewegungen  oder 
die  Prinzipien  der  Disziphn,  die  man  später  Kinematik  genannt 
hat,  besonders  aber  die  Folgerung  ab,  daß,  sobald  im  Universum 


DynainiHclie  Naturcrklürunpf.  8f) 

sich  ir«^eiKl  etwas  bcwe«;t,  nichts  in  absoluter  itulie  bleiben  kann. 
Was  sich  bewegt,  neinien  wir  die  Materie;  aber  deren  rauin- 
orfüllendes  ])asein  ist  nicht  als  eine  stoffliche  Existenz,  sondern 
vielmehr  als  ein  Produkt  der  urspriini^lichen  Kräfte  zu  betrachten, 
die  einander  in  verschiedenem  JVlaße  das  Cleichj^e wicht  halten. 
Diese  dynamische  Naturerklärun«^  stellt  dem  Atomismus  und 
der  Korpuskularphilosophie  gleich  scharf  gegenüber.  Die  un- 
endliche Teilbarkeit  des  Raumes,  welcher  das  gesamte  Wesen  der 
Körper  beherrscht,  läßt  die  Annahme  der  Atome  als  unzulässig 
erscheinen.  Die  verschiedenen  Aggregatzustände,  zu  deren  Er- 
klärung man  hauptsächhch  die  Annahme  der  Korpuskeln  benutzt, 
begreifen  sich  vielmehr  aus  dem  verschiedenen  quantitativen  Ver- 
hältnis der  beiden  antagonistischen  Kräfte,  die  erst  in  ihrer  Zu- 
sammenwirkung die  Materie  konstituieren,  der  Attraktion  und  der 
Repulsion/  Ist  Kants  Naturauffassung  in  dieser  Hinsicht  dynamisch, 
indem  sie  als  den  eigentlichen  Grund  der  stofflichen  Erscheinung 
ein  Verhältnis  von  Kräften  bezeichnet,  so  ist  sie  in  ihrer  Lehre 
von  den  Ursachen  der  Veränderung  streng  mechanischen  Cha- 
rakters. In  der  Natur  als  räumlicher  Erscheinungswelt  kann  für 
die  Ursache  einer  räumlichen  Bewegung  immer  nur  eine  andere 
räumliche  Bewegung  angesehen  werden.  Jede  Abhängigkeit  einer 
körperlichen  Veränderung  von  nichträumlichen  Prozessen  würde 
dem  gesetzmäßigen  Zusammenhange  der  Natur,  d.  h.  der  Funktion 
unseres  reinen  Verstandes  widersprechen.  Deshalb  sind  in  der 
exakten  Naturwissenschaft  alle  Versuche  teleologischer  Erklärung 
eine  Absurdität.  Nur  die  mechanischen  Gesetze  von  dem  Beharren 
der  Substanz  und  der  Kraft  und  von  der  Gleichheit  der  Wirkung 
und  der  Gegenwirkung  beherrschen  den  ganzen  Ablauf  des  körper- 
lichen Geschehens.  Alle  Vorstellungen,  welche  wir  darüber  haben, 
beruhen  allein  darauf,  daß  wir  imstande  sind,  Bewegungen  als 
Möglich  zu  denken,  als  ^wirklich  zu  konstatieren,  als  notwendig 
zu  begreifen.  Aber  so  sehr  wir  dazu  durch  unsere  Erfahrung  und 
durch  die  mathematisch-physikalische  Gesetzgebung  befähigt  sein 
mögen,  so  zwingt  ims  doch  unser  Begriff  der  Bewegung  dabei 
stets  eine  Voraussetzung  zu  machen,  welche  wir  weder  erfahrungs- 
mäßig konstatieren,  noch  durch  Anschauungen  oder  Begriffe  zu 
beweisen  imstande  sind:  es  ist  diejenige  des  leeren  Raumes.  Die 
Erfahrung   zeigt  nichts  als   erfüllten  Raum.     Denn  wahrnehmen 


90  Kants  theoretische  Philosophie. 

kann  man  nur,  was  auf  unsere  Sinne  wirkt,  und  das  tun  nur 
die  den  Raum  erfüllenden  Kräfte.  Um  uns  aber  gegenüber  dem 
mechanischen  Begriffe  der  Undurchdringhchkeit  die  Möglichkeit 
der  Bewegung  überhaupt  vorzustellen,  bedürfen  wir  der  Annahme 
des  leeren  Raumes,  und  die  Newtonschen  Gesetze  beweisen  sogar, 
daß  die  Größe  dieses  leeren  Raumes  den  entscheidenden  Koeffi- 
zienten für  die  Intensität  der  Kraftwirkung  bildet.  Hier  liegt 
das  alte  Rätsel  von  der  Wirkung  in  die  Ferne  vor,  dem  Leibniz 
und  Newton  so  verschiedene  Lösungen  geben  wollten.  Innerhalb 
der  Naturauffassung  bleibt  Kant  hier  wieder  auf  dem  Standpunkte 
Newtons.  Aber  er  fügt  auch  hinzu,  daß  der  leere  Raum  nur 
eine  notwendige  Voraussetzung  für  alle  besonderen  naturwissen- 
schaftlichen Erklärungen,  niemals  aber  selbst  ein  Objekt  der  Er- 
kenntnis sein  kann.  Der  leere  Raum  ist  das  Ding  an  sich  in 
der  Naturphilosophie,  d.  h.  er  ist  ihr  Grenzbegriff,  er  enthält  das 
Bewußtsein  davon,  daß  für  unsere  Auffassung  der  Natur  noch 
ein  Etwas  vorausgesetzt  werden  muß,  das  wir  nicht  kennen 
und  das  sich  weder  durch  Anschauungen  noch  durch  Begriffe 
umschreiben  läßt. 

So  schließt  Kants  Naturphilosophie  mit  der  Rückkehr  zu  der 
phänomenalistischen  Grundlage,  auf  der  sie  beruht,  und  mit  der 
Einsicht,  daß  in  den  reinen  Formen  der  sinnlichen  und  begriff- 
lichen Erkenntnis,  sobald  sie  auf  einen  empirischen  Gegenstand 
wie  denjenigen  der  Bewegung  angewendet  werden,  sich  eine  Hin- 
deutung auf  jene  unbekannte  Realität  entwickelt,  ohne  welche 
der  gesamte  Inhalt,  den  wir  für  jene  Formen  vorfinden,  uns  un- 
begreiflich wäre.  Die  Stellung  Kants  in  der  Geschichte  des  Phäno- 
menalismus wird  erst  hier  völlig  klar,  aber  zugleich  auch  von  einer 
außerordentlichen  Verwickeltheit.  Die  transzendentale  Analytik  hat 
zu  dem  Resultate  geführt,  daß  nicht  nur  die  sinnlichen  Qualitäten 
und  die  räumlichen  Formen,  wie  das  schon  früher  behauptet  worden 
war,  nicht  nur  die  zeitlichen  Formen,  wie  die  transzendentale 
Ästhetik  bewies,  sondern  auch  die  begrifflichen  Beziehungen,  in 
die  jenes  gesamte  Material  durch  den  Verstand  gesetzt  wird, 
lediglich  Funktionen  des  erkennenden  Geistes  sind.  Das  Weltbild 
in  unserem  Kopfe  mit  seinem  gesamten  Inhalt  und  seinen  gesamten 
Formen  ist  ein  Produkt  imserer  Organisation,  ein  Produkt,  das 
aus  ihr  mit  innerer  Notwendigkeit  und  Allgemeingültigkeit  hervor- 


Absoluter  PhänonionalismuB.  91 

geht,  und  von  dem  daher  ^ar  kein  Schluß  auf  eine  dieser  Organi- 
sation etwa  gegenüberstehende  Welt  nuiglich  ist.  Es  ist  in  dieser 
Entdeckung  Kants,  die  bestehen  bleiben  wird,  auch  wenn  die 
einzehien  Formen  ilirer  Begründung  sich  verändern  und  verschieben 
sollten,  —  es  ist  in  ihr  etwas  von  dem  Ei  des  Kolumbus.  Daß 
alle  Erkenntnis  der  Welt  diese  Welt  nicht  realiter,  sondern  nur 
in  der  Vorstellung  enthalten  und  deshalb  nur  durch  die  Organi- 
sation der  Vorstellungstätigkcit  selbst  bedingt  sein  kann,  ist  eigentlich 
eine  Binsenwahrheit,  und  nur  das  ist  das  Wundersame,  daß  in  der 
Geschichte  der  menschlichen  Wissenschaft  erst  die  Riesenarbeit 
des  Kantischen  Denkens  notwendig  war,  um  sie  zum  Bewußtsein 
zu  bringen. 

In  Kants  Begriffsbestimmungen  und  Formulierungen  begründet 
sich  die  Lehre  vom  absoluten  Phänomenalismus  des  mensch- 
lichen Wissens  gerade  durch  seine  Theorie  der  Erfahrung.  In  der 
Deduktion  der  reinen  Verstandesbegriffe  erwies  sich,  daß  diese 
die  synthetischen  Formen  sind,  in  denen  die  transzendentale  Apper- 
zeption das  Materal  der  sinnlichen  Empfindungen  zu  Gegenständen  ^ 
gestaltet.  Daraus  ergibt  sich  zunächst,  daß  die  Kategorien  nur 
Sinn  haben,  insofern  ein  Material  vorliegt,  dessen  Mannigfaltigkeit 
der  Vereinheithchung  bedarf.  Eine  synthetische  Form  ohne  etwas, 
was  verknüpft  werden  soll,  ist  eine  leere  Abstraktion.  Zweitens 
aber  zeigte  sowohl  die  Deduktion  als  auch  der  Schematismus  der 
reinen  Verstandesbegriffe,  daß  die  begriffliche  Synthese  des  Vor- 
stellungsmaterials nur  durch  Vermittlung  einer  sinnlichen  Synthese 
einzutreten  vermag.  So  ist  bewiesen,  daß  die  Kategorien  nur  als 
Verknüpfungsformen  einer  sich  sinnlich  anordnenden  Vorstellungs- 
welt in  Funktion  treten.  Ohne  Anschauungen  sind  diese  Begriffe 
leer,  wie  anderseits  die  bloßen  Anschauungen  ohne  die  begriff- 
liche Verknüpfung  »blind«,  d.  h.  ohne  Erkemitniswert  sind.  Alle 
Anwendung  der  Kategorien  ist  also  durch  Anschauung  bedingt. 
Weil  nun  aber  wir  Menschen  nur  eine  sinnliche  Anschauung  be- 
sitzen, so  haben  für  uns  die  Kategorien  nur  Sinn,  insofern  sie  auf 
die  Welt  unserer  s^nlichen  Wahrnehmung  bezogen  werden.  Nach 
der  psychologisch-erkenntnis theoretischen  Ansicht  Kants  beruht 
die  Phänomenalität  der  reinen  Formen  des  Verstandes  nicht  so- 
wohl in  ihnen  selbst,  als  vielmehr  darin,  daß  ihre  Anwendung 
stets   als  Bedingung   ein  anschauliches  Material  voraussetzt.    An 


«IP 


92  Kants  theoretische  Philosophie. 

sich  würden  also  die  Kategorien  für  einen  anderen  Vorstellungs- 
inhalt sehr  wohl  verwendbar  sein,  sofern  dieser  nur  anschaulich 
wäre.  Da  wir  Menschen  aber  keine  andere  als  unsere  sinnliche 
Anschauung  haben,  so  wird  dadurch  für  uns  die  Anwendung  der 
Kategorien  auf  die  sinnliche  Welt  —  und  das  ist  nach  der  tran- 
szendentalen Ästhetik  nur  eine  Erscheinungswelt  —  beschränkt. 
Unsere  nur  sinnliche  Anschauungsweise  also  ist  es,  welche  den 
Gebrauch  der  Kategorien  außerhalb  der  Erfahrungswelt  für  uns 
als  unberechtigt  erscheinen  läßt.  Hätten  wir  eine  andere  An- 
schauungsform, so  wäre  es  denkbar,  daß  auch  für  diese  durch 
einen  ähnlichen  Schematismus,  wie  jetzt  den  zeitlichen,  sich  die 
Kategorien  als  anwendbar  erwiesen. 

Eine  solche  andere  als  sinnliche  Anschauungsweise  fehlt  uns. 
Aber  es  ist  gar  kein  Grund,  anzunehmen,  daß  sie  überhaupt  un- 
möglich sei,  daß  es  nicht  andere  Wesen  geben  könnte,  denen  eine 
solche  andere  Art  von  Anschauung  beiwohnte.  Anderseits  aber 
liegen  auf  dem  theoretischen  Gebiete  auch  gar  keine  Veranlassungen 
vor,  die  Existenz  einer  solchen  anderen  Anschauungsweise  bei  anderen 
Wesen  anzunehmen,  und  der  Begriff  einer  nicht  sinnlichen  An- 
schauung ist  daher  rein  problematisch,  d.  h.  es  gibt,  theoretisch 
betrachtet,  weder  Gründe  seine  Existenz  anzunehmen,  noch  solche 
sie  zu  leugnen. 

Mit  diesem  Begriffe  einer  nicht  sinnlichen  Anschauung  steht 
nun  aber  derjenige  des'^Dinges  an  sich^  in  einer  sehr  innigen 
Beziehung,  und  durch  diese  Beziehung  ist  Kants  Lehre  auf  diesem 
Höhepunkte  ihres  theoretischen  Teils  ganz  außerordentlich  schwierig 
geworden.  Denkt  man  zurück  an  das  gemeinsame  Kriterium,  das 
seiner  Begründung  und  Rechtfertigung  der  Apriorität  sowohl  der 
mathematischen  Gesetze  als  auch  der  reinen  Grundsätze  des  Ver- 
standes die  Richtschnur  gab,  so  beruhte  es  darauf,  daß  wir  eine 
allgemeingültige  und  notwendige  Erkenntnis  nur  von  demjenigen 
haben  können,  was  wir  aus  der  inneren  Organisation  unseres  Geistes 
heraus  selbst  erzeugen.  Das  ist  aber  nicht  der  besondere  Emp- 
findungsinhalt, sondern  es  sind  die  allgemeinen  Formen  der  Er- 
fahrung, Raum,  Zeit  und  die  Kategorien.  Wir  erkennen  a  priori 
nur,  was  wir  nach  der  Organisation  unseres  Geistes  selbst  schaffen. 
Wir  würden  daher  Dinge  an  sich  auch  nur  dann  a  priori  erkennen 
können,   wenn  wir  sie  erzeugten.     Eine  Erkenntnis   der  Welt  an 


Pin  Pf- an- «ich.  \K\ 

Hich  ist  a  priori  mir  für  iliicMi  Scluipfor  möglicli.  Der  AiiHpruch 
auf  aprioiisclio  l^lrkonnliÜH  der  I)in«^e  au  sich  wäre  idcnti.sch  mit 
demjenigen,  sie  zu  sclmffen.  Was  wir  schaffen,  ist  unwere  Vor- 
stelhiu»:;swcise  von  den  Diui^en,  d.  h.  ihre  Erscheinung^,  und  von 
dieser  haben  wir  in  (h>r  Tat  eine  apriorisclu»  Erkenntnis.  So  be- 
dingen sich  das  positive  und  das  negative  Resultat  derVernunftkiitik 
gegenseitig.  Der  Apriorismus  ist  lun*  als  Phänomenalismus  miiglidi. 
Allein  wenn  es  eine  Erkenntnis  dei'  Dinge  an  sich'  nicht  gibt, 
wie  kommen  wir  dazu,  sie  überhaupt  vorzustellen  und  mit  Rück- 
sicht auf  ilircr  Annahme  unserer  Vorstellungswelt  als  eine  Welt 
der  Erscheinungen  zu  bezeichnen?  Diese  Frage,  die  von  Kant  auf 
dem  Übergange  von  der  transzendentalen  Analytik  zur  Dialektik 
in  dem  Abschnitte  » Über  den  Grund  der  Unterscheidung  aller 
Gegenstände  in  Phaenomena  und  Noumena«  behandelt  wird,  bildet 
den  Herd  aller  Widersprüche,  welche  man  in  der  Kritik  der  reinen 
Vernunft  und  weiterhin  in  Kants  gesamtem  System  aufzufinden 
vermocht  hat,  und  zwar  deshalb,  weil  es  gerade  diese  Frage  ist, 
in  deren  Lösung  die  verschiedenen  Gedankenströmungen,  die  sich 
bei  Kant  entwickelt  hatten,  sich  kreuzen,  und  weil  Kants  Dar- 
stellung keines  der  ihn  bewegenden  Motive  unterdrückt,  aber  auch 
keine  endgültige  Aussöhnung  zwischen  ihnen  erzielt  hat.  Fixiert 
man  sich  nämhch  auf  dem  rein  erkenntnistheoretischen  Gesichts- 
punkte, so  ist  durch  die  obigen  Ausführungen  begründet,  daß  es 
sich  zwar  nicht  verbietet,  daß  aber  auch  nicht  die  geringste  Ver- 
anlassung vorhanden  ist,  Dinge  an  sich  außerhalb  der  Vorstellungs- 
tätigkeit anzunehmen.  Schon  die  Begriffe,  welche  wir  bei  dieser 
Annahme  anwenden,  z.  B.  diejenigen  des'^inges  und  der'^Realität* 
sind  ja  Kategorien,  gelten  also  im  eigentlichen  Sinne  wiederum 
nur  in  anschauUcher  Vermittlung  für  die  Welt  der  Erfahrung  und 
dürfen  streng  genommen  auf  das  außerhalb  der  Vorstellung  Be- 
findliche gar  nicht  angewendet  werden.  Das  letztere  bleibt  danach 
also  ein  völHg  unbekanntes  X,  für  welches,  wie  keine  unserer 
Anschauungen,  so  auch  keiner  unserer  Begriffe  gilt.  Sowenig  es 
eine  Tür  gibt,  durch  die  eine  Außenwelt,  so  wie  sie  da  ist,  in 
die  Vorstellungen  »hineinspazierte«,  sowenig  gibt  es  eine  Tür,  durch 
welche  die  Vorstellungstätigkeit  ihren  eigenen  Kreis  zu  überschreiten 
und  eine  solche  Außenwelt  zu  erfassen  vermöchte.  Damit  aber 
wird  der  Begriff  dej  Dinges  an  sich  hinfällig.  Für  die  rein  theoretische 


94  Kants  theoretische  Philosophie. 

Analyse  gibt  es  nichts  als  Vorstellungen,  deren  verschiedener 
Inhalt  nach  verschiedenen  Kategorien  geformt  ist,  und  innerhalb 
deren  dasjenige,  was  wir  ein  Ding^  nennen,  nur  eine  allgemein- 
gültige und  notwendige  Verknüpfung  nach  der  Kategorie  der  In- 
härenz  bedeutet.  Ist  dies  die  eine  Tendenz  des  Kantischen  Denkens, 
so  spricht  sie  sich  darin  aus,  daß  er  erklärt,  jene  Unterscheidung 
aller  »Gegenstände«  in  Phaenomena  und  Noumena,  welche  er  im 
Anschluß  an  Leibniz  in  der  Inauguraldissertation  selbst  noch  vor- 
getragen hatte,  sei  völlig  grundlos.  Alles,  was  wir  "-Gegenstände 
nennen,  ist  Erscheinung  in  dem  Sinne,  daß  es  ein  Produkt  unserer 
Vorstellungstätigkeit  bildet,  und  jeder  dieser  Gegenstände  ist  Objekt 
nur  dadurch,  daß  er  durch  die  Anschauung  und  den  Verstand 
zugleich  vorgestellt  wird.  Will  man  die  Art  und  Weise,  wie  wir 
den  Zusammenhang  der  Erfahrung  nach  Begriffen  in  der  wissen- 
schaftlichen Theorie  denken,  als  mtelligible  Welt,  dagegen  die  im- 
mittelbare  Erfahrung  des  gewöhnlichen  Bewußtseins  als  sensible 
Welt  bezeichnen,  so  ist  dagegen  nichts  einzuwenden:  aber  man 
muß  sich  klar  bleiben,  daß  das  Objekt  von  beiden  immer  nur 
die  Erfahrung  ist  und  beide  nur  eine  notwendige  und  gesetz- 
mäßige Vorstellungsweise  darstellen.  'Noumena  dagegen  in  dem 
Sinne  von  "Dingen  an  sich,  die  vom  reinen  Verstand  ohne  An- 
schauung erkannt  werden,  gibt  es  für  uns  nicht.  Die  Vorstellung 
eine.?  Gegenstandes  an  sich  ist  vielmehr  geradezu  ein  innerer  Wider- 
spruch. Gegenstände  gibt  es  nur  in  der  Vorstellungstätigkeit  und 
nicht  außerhalb  derselben.  Jenes  unbekannte  X  wird  nur  so  an- 
genommen, daß  man  die  allgemeine  Funktion  der  Vergegenständ- 
lichung, ohne  die  es  kein  Bewußtsein  gibt,  selbst  für  ein  Ding, 
für  etwas  Bestehendes  außerhalb  der  Vorstellung  ansieht.  Das 
Ding  an  sich  ist  das  hypostasierte  Korrelatum  der  synthetischen 
Funktion,  welche  das  gemeinsame  Wesen  der  Kategorien  ausmacht. 
Die  alte  rationalistische  Metaphysik  besteht  darin,  daß  die  Gesetze 
imseres  Verstandes,  deren  Gültigkeit  für  unsere  Erfahrung  im- 
zweifelhaft,  aber  auch  auf  diese  eingeschränkt  ist,  als  Gesetze 
einer  außer  dem  Verstände  bestehenden  Welt  angesehen  werden; 
aber  die  bloße  Annahme  der  letzteren  ist,  rein  theoretisch  be- 
trachtet, nur  dadurch  möghch,  daß  die  allgemeine  synthetische 
Funktion  der  Gegenständlichkeit  sich  den  Vorstellungen  gegen- 
über zu  einer  Welt  au  sich  hypostasiert. 


Dinpf-ftn-Hinh.  95 

Diesen  t'll)(Mloi;un<;(Mi  liiiifl  nun  jibcr  eine  zweite  'l'endenz  des 
Kantisclion  Denkens  zuwider.  Die  thcoreti.scli  unbcjfiiindbaro  und 
unverwendbare,  aber  aueli  nicht  widerlegbare  Annahme  einer  über- 
sinnlichen und  übererfahrungsnüißigen  Welt  war  für  Kant  selbst 
durch  das  sittliche  Bewußtsein  bej^ründet.  Diesen  praktischen 
Nerv  seiner  Überzeugun<j;  konnte  er  jedoch  in  der  Kritik  der 
reinen  Vernunft  nicht  bloßle(j;en,  sondern  nur  andeuten.  Aber  sie 
machte  sich  natürlich  trotzdem  in  seiner  Auffassung  vom  Ding 
an  sich  geltend.  Von  ihr  erfüllt,  wich  er  von  der  bloß  theoretischen  / 
Konsequenz,  daß  es  für  unser  Wissen  nichts  gibt  als  die  Vor- 
stellungen mit  ihren  immanenten  begrifflichen  Beziehungen,  wieder 
ab  und  identifizierte  sich  mit  jenem  naiven  Realismus,  dem  nichts 
gewisser  ist,  als  die  Annahme  einer  Existenz  von  Dingen  an  sich 
außerhalb  der  Vorstellungen.  Ja,  er  scheute  selbst  gelegentlich 
nicht  vor  der  Benutzung  des  plausibelsten  Arguments  der  ge- 
wöhnlichen Meinung  zurück,  eine  solche  Welt  außerhalb  der  Vor- 
stellungen müsse  als  Ursache  der  Empfindungen,  als  das  was  unsere 
Sinnlichkeit  »affiziert«,  oder  als  das,  was  »der  Erscheinung  ent- 
spricht«,  angenommen  werden,  obwohl  er  sich  doch_ nicht  hätte     X 

verbergen  können,  daß  er  die  Anwendung  der  Kategorien  des 
Seins,  der  Substantialität  und  der  Kausalität  über  die  Erfahrung 
hinaus  soeben  verboten  hatte.  ^ 

Danach  mußte  der  Begriff  des  l)inges  an  sich"  noch  anders 
formuliert  werden,  und  auch  dafür  ließ  sich  das  psychologische 
Schema  seiner  Lehre  benutzen.  Die  Beschränkmig  der  Kategorien 
auf  die  Erfahrung  hatte  ihren  Grund  darin,  daß  die  Anschauung, 
die  ihre  Anwendmig  stets  vermitteln  muß,  beim  Menschen  nur 
die  sinnlich -rezeptive  ist.  Wir  schaffen  nur  Erscheinungen  und 
können  nur  solche  erkennen.  Dinge  an  sich  würden  nur  einem 
(göttlichen)  Geiste  erkennbar  sein,  der  durch  seine  Vorstellungen 
nicht  nur  Erscheinungen,  sondern  eben  diese  Dinge  an  sich  er- 
zeugte. Für  einen  solchen  Geist  müßte  also  der  Gebrauch  der 
Kategorien  diu:ch  eine  Anschauung  vermittelt  sein,  welche  sich 
zu  den  Dingen  an  sich  ebenso  verhielte,  wie  unsere  Anschauung 
zu  den  Erscheinungen,  nämlich  erzeugend.  Eine  solche  Anschauung 
wäre  nicht  mehr  von  sinnlicher  Rezeptivität,  sondern  von  jener 
Spontaneität,  die  nach  Kants  Lehre  nur  dem  Denken  zukommt. 
Es  wäre  ein  »anschauender  Verstand«  oder  eine  intellektuelle 


gß  Kants  theoretische  Philosophie. 

Anschauung.  Sollen  daher  Dinge  an  sich  überhaupt  möglich  sein,  so 
müssen  sie  gedacht  werden  als  die  Objekte  zugleich  der  Erzeugung 
und  der  Erkenntnis  eines  anschauenden  Verstandes,  d.  h.  einer  In- 
telligenz, bei  der  jene  beiden  Stämme  der  Erkenntnis,  welche  im 
menschlichen  Geiste  nur  in  ihrer  Besonderung  auftreten,  von  vorn- 
herein und  in  ihrer  ganzen  Ausdehnung  identisch  sind.  Die  An- 
nahme eines  solchen  Geistes  enthält  keinen  Widerspruch,  und 
danach  erscheint  für  die  theoretische  Vernunft  die  Existenz  von 
Dingen  an  sich  zunächst  als  möglich. 

Aus  dieser  Möglichkeit  folgt  nun  zwar  noch  nicht  die  Wirk- 
lichkeit, und  es  bleibt  in  Kants  Lehre  eben  der  praktischen  Ver- 
nunft vorbehalten,  diese  Möglichkeit  zu  realisieren:  die  theoretische 
muß  sich  damit  begnügen,  nachzuweisen,  daß  die  Annahme  von 
Dingen  an  sich  keinen  Widerspruch  involviert.  Aber  sie  gibt  noch 
eine  weitere  Hindeutung.  Es  ist  zwar  richtig,  daß  sich  die  rein 
theoretische  Erkenntnis  diesen  problematischen  Begriffen  der  Dinge 
an  sich  und  der  intellektuellen  Anschauung  gegenüber  völHg  in- 
different zu  verhalten  hat:  allein  sobald  jemand  behaupten  wollte, 
daß,  weil  sich  kein  Beweis  für  die  Keahtät  dieser  Dinge  auf 
theoretischem  Wege  erbringen  läßt,  sie  gänzlich  geleugnet  werden 
müßten,  so  würde  das  so  viel  heißen,  als  ob  unsere  sinnliche 
Anschauungsweise  die  einzige  und  die  Welt  unserer  erfahrungs- 
mäßigen Vorstellungen  das  einzige  Reale  wäre.  Sofern  wir  daher 
nicht  die  ungeheuerliche  Behauptung  machen  wollen,  daß  es  nicht 
nur  in  Rücksicht  auf  unsere  Erkenntnis,  sondern  überhaupt  und 
an  sich  gar  nichts  weiter  gibt  als  unsere  Vorstellungen,  so  bleibt 
uns  nichts  anderes  übrig,  als  anzunehmen,  daß  es  eine  solche  nicht 
sinnliche,  d.  h.  intellektuelle  Anschauung  und  damit  als  ihre  Objekte 
Noumena,  Dinge  an  sich,  gibt.  Jene  problematischen  Begriffe 
der  intellektuellen  Anschauung  und  des  Dinges  an  sich  erweisen 
sich  daher  als  echt  kritische  Grenzbegriffe,  als  das  Bewußtsein 
davon,  daß  unsere  Sinnenwelt,  auf  welche  wir  mit  unserer  Er- 
kenntnis beschränkt  sind,  nicht  das  einzig  Reale  ist.  Freüich 
auch  dieses  Bewußtsein  ist  theoretisch  nur  in  seiner  Möglichkeit 
zu  deduzieren,  nicht  aber  zu  beweisen,  und  der  entscheidende 
Grund  für  diese  Überzeugung  liegt  in  dem  sittlichen  Bewußtsein, 
daß  unsere  Bestimmung  über  diese  erfahrungsmäßige  Sinnenwelt 
in  ein  Reich  des  »Übersinnlichen«  hinaufreicht. 


Trnnszendentalc  Dialektik.  <I7 

So  VülleiKiot  sich  Kants  thooretischü  Lehre,  indem  «ie  dio 
praktische  als  ihre  unentbehrliche  Ergänzung  verlangt.  Der 
Zusammenhang  zvvisclien  diesen  beiden  Teilen  des  Kantischen 
Systems  ist  der  innigste,  den  es  überhaupt  geben  kann.  Die  Kritik 
der  praktischen  Vernunft  ist  nicht  ein  Anliängsel,  ist  nicht,  wie 
sie  verlästert  worden  ist,  ein  Abfall  des  alternden  Kant  von  dem 
Geiste  der  Kritik  der  reinen  Vernunft,  sondern  sie  enthält  die 
Entwicklung  desjenigen  Gedankens,  ohne  welchen  der  Höhepunkt 
der  Kantischen  Erkenntnistheorie,  die  Lehre  vom  Ding  an  sich, 
die  verworrenste  und  törichteste  Phantasie  wäre,  die  je  in  der 
Philosophie  sich  breit  gemacht  hätte. 

Von  diesem  Höhepunkt  aus  gibt  nun  Kant  seine  berühmte 
Kritik  der  rationalistischen  Metaphysik,  diese  Kritik,  welche  sich 
als  die  »zermalmende«  Analyse  der  Leibniz- Wolf f sehen  und  der 
herrschenden  Popularphilosophie  darstellt.  Er  beginnt  sie  in  dem 
Abschnitt  über  die  »Amphibolie  der  Reflexionsbegriffe«,  indem  er 
zu  zeigen  sucht,  daß  alle  ontologischen  Grundbestimmungen  des 
Leibniz- Wolf f sehen  Systems  eine  rein  verstandesmäßige  Ausdeutung 
der  Kategorien  enthalten,  die  in  W^ahrheit  nur  für  anschauliche 
Gegenstände  gelten,  daß  also  Sätze,  welche  nur  auf  das  Ver- 
hältnis von  "Begriff en  Anwendung  fluiden  dürften,  auf  dasjenige 
von  Gegenständen  bezogen  werden.  Daraus  habe  sich  dann  die 
monadologische  Metaphysik  mit  allen  ihren  einzelnen  Lehrsätzen 
notwendig  ergeben,  und  dadurch  habe  Leibniz  sich  genötigt 
gesehen,  der  sensiblen  Welt  die  intelligible  Welt  von  Substanzen 
gegenüberzustellen,  die  doch  im  Grunde  keine  eigentlich  intelü- 
gible,  sondern  vielmehr  heimlich  mit  sinnlichen  Bestimmungen 
durchsetzt  geblieben  sei. 

Ihre  volle  Energie  aber  entwickelt  Kants  Kritik  erst  in  der 
transzendentalen  Dialektik,  welche  hintereinander  die  ein- 
zelnen metaphysischen  Wissenschaften,  die  rationale  Psychologie, 
Kosmologie  und  Theologie,  als  prinzipiell  verfehlte  nachweist. 
Auch  diese  Wissenschaften  und  ihre  kritische  Betrachtung  kon- 
struiert Kant  in  das  psychologische  Schema  hinein.  Er  geht 
dabei  von  der  Frage  aus,  wie  Metaphysik  (in  der  alten  Termino- 
logie), d.  h.  rationale  Erkenntnis  des  Übersinnlichen  als 
Versuch  oder  als  Bestreben  möglich  sei,  wenn  doch  nachgewiesen 
worden  ist,  daß  keine  Berechtigung  für  sie  existiert.    Synthetische 

Windel  band,  Gesch.  d.  n.  Philos.    11.  7 


98  Kants  theoretische  Philosophie. 

Urteile  a  priori  über  Dinge  an  sich  sind  nur  für  die  intellektuelle 
Anschauung'  möglich,  die  dem  Menschen  versagt  ist.  Wie  kann 
es  nun  kommen,  daß  wir  jemals  glauben,  die  Überschreitung  der 
Grenze  der  Erfahrung  zu  vollziehen,  die  uns  doch  unmöglich  ist? 
Die  Beantwortung  dieser  Fragen  gibt,  wie  man  sieht,  nicht  nur 
die  kritische  Verwerfung,  sondern  zugleich  auch  die  psychologische 
Erklärung  der  bisherigen  Metaphysik.  Kant  hat  diese  Beant- 
wortung ebenso  nach  der  in  der  formalen  Logik  üblichen  Lehre 
vom  Schluß  schematisiert,  wie  die  Kategorienlehre  nach  derjenigen 
vom  Urteil,  —  offenbar  hier  noch  viel  mehr  künstlich  und  äußerlich. 
Was  die  Anwendung  der  Schlußlehre  dabei  sichthch  nahegelegt 
hat,  ist  die  Tatsache,  daß  das  Übersinnliche,  welches  den  Gegen- 
stand der  metaphysischen  Erkenntnis  bilden  soll,  niemals  durch 
Erfahrung  erkannt,  sondern  immer  nur  durch  begriffliche  Operationen 
erschlossen  werden  kann.  Schlüsse  auf  die  Existenz  nicht  un- 
mittelbar erfahrener  Gegenstände  sind  nun  nach  Kants  transzen- 
dentaler Logik  vollkommen  berechtigt,  solange  sie  sich  eben  in 
den  Grenzen  der  sinnlichen  Vorstellung  halten.  Kants  Definitionen 
von  »wirklich«  imd  »notwendig«  in  den  Postulaten  des  empirischen 
Denkens  geben  ja  ausdrücklich  das  Recht,  etwas  als  existierend 
zu  erschließen,  was  selbst  nicht  unmittelbar  wahrgenommen  ist. 
Aber  dies  zu  Erschließende  muß  so  beschaffen  sein,  daß  es  in 
den  immanenten  Zusammenhang  der  Erscheinungen  sich  einreiht. 
Kant  hat  niemals  verlangt,  daß  für  die  wissenschaftliche  Er- 
kenntnis nur  das  als  existierend  gelten  solle,  was  direkt  wahr- 
genommen worden  ist,  sondern  sein  rationaler  Empirismus  verlangt 
durchaus  die  Anerkennung  des  aus  den  Erfahrungen  begrifflich 
Erschlossenen:  nur  darf  dieses  Erschließen  aus  der  Sphäre  des 
Erfahrbaren,  d.  h.  der  sinnlichen  Welt,  lucht  hinausgehen.  Denn 
da  die  Kategorien  für  uns  nur  Verknüpfungsformen  des  an- 
schaulichen Inhaltes  sind,  so  gibt  es  keine  Erkenntnistätigkeit, 
die  einen  "sinnlichen^  mit  einem  übersinnlichen  Inhalt  in  allgemein- 
gültiger und  notwendiger  Weise  zu  verknüpfen  imstande  wäre. 
Allein  die  Vorstellung  der  übersinnlichen  Welt  existiert,  wenn  nicht 
als  Objekt  einer  Erkenntnis,  so  doch  als  eine  tatsächliche  Bildung 
im  menschlichen  Denken.  Auf  diese  Weise  nun  läßt  sich  begreifen, 
wie  es  möglich  ist,  daß  das  ungeschulte  und  unkritische  Denken 
die  kategorialen  Beziehungen  auf  das  Verhältnis  zwischen  einem 


Transzendontaler  Schein.  99 

einnlichen  und  oiiuMii  üborsiiuiliilitMi  Inhalt  anzuwenden  sich  be- 
rechtigt glaubt.  Dii'se  Anwendung  ist  auch  ungefährlich,  solange 
man  sich  bewußt  bleibt,  dabei  die  Gegenstände  der  Erfahrung 
nur  so  zu  betrachten,  als  ob  sie  in  irgend  einer  solchen  Bezicliung 
zu  etwas  Übersinnlichen  und  Unerfahrburen  stünden.  Sobald  man 
aber  eine  solche  Betrachtung  für  eine  Erkenntnis  ausgibt,  so 
überschreitet  man  die  durch  die  transzendentale  Analytik  gesteckten 
Grenzen.  Eine  Erkeimtnis  spräche  in  einem  solchen  Falle  das 
Verhältnis  zweier  Gegenstände  aus.  Nun  sind  aber  nur  die  an- 
schaulichen Begriffe,  niemals  aber  die  übersinnlichen  auf  Gegen- 
stände zu  beziehen.  Die  Umwandlung  also  einer  solchen  Be- 
trachtung in  den  Versuch  einer  metaphysischen  Erkenntnis  setzt 
jedesmal  die  Täuschung  voraus,  als  ob  der  Inhalt  einer  über- 
sinnlichen Vorstellung,  deren  Erzeugung  im  Denken  möglich  ist, 
einen  Gegenstand  der  Erkenntnis  bilden  könnte.  Diese  Täuschung 
nennt  Kant  den  transzendentalen  Schein.  In  ihm  erblickt 
er  das  ttocotov  »^s'jooc  aller  rationalistischen  Metaphysik,  und  in- 
dem er  nachzuweisen  sucht,  daß  dieser  Schein  in  der  mensch- 
lichen Erkenntnistätigkeit  selbst  begründet  ist,  spricht  er  der 
darauf  beruhenden  rationalistischen  Metaphysik  mit  derselben 
Untersuchung,  welche  ihre  erkenntnistheoretische  Unberechtigtheit 
ein  für  allemal  in  der  entscheidendsten  Weise  festgestellt  hat,  eine 
gewisse  psychologische  Berechtigung  zu. 

Die  Veranlassung,  das  Übersinnliche,  das  nicht  erfahren,  nicht 
erkannt  werden  kann,  wenigstens  zu  denken,  ist  für  Kant  freilich 
in  erster  Linie  auf  dem  Gebiete  der  Ethik  zu  suchen.  Allein 
davon  ist  hier  noch  nicht  die  Eede,  und  es  fragt  sich  daher,  ob 
nicht  auch  theoretische  Veranlassungen  vorliegen,  den  Kreis  der 
Erfahrung,  in  den  das  Erkennen  gebannt  ist,  mit  dem  Denken 
zu  überschreiten.  Sollten  sich  solche  aus  gewissen  Aufgaben  der 
Erfahrungswissenschaft  ergeben,  so  würde  sich  dadurch  die  Ansicht 
über  den  Begriff  des  Dinges  an  sich  noch  weiter  ergänzen.  Zu- 
nächst  in  der  Weise,  daß  die  allgemeine  Möglichkeit,  welche  ihm 
als  dem  Grenzbegriffe  der  Erkenntis  beiwohnt,  sich  für  ver- 
schiedene Richtungen  der  Erkenntnis  in  besonderer  Weise  gestaltete, 
und  zweitens  in  der  Weise,  daß  innerhalb  der  theoretischen  Fimktion 
selbst  wenigstens  eine  Tendenz  sich  geltend  machte,  dem  Erkenn- 
baren ein  Unerkennbares  problematisch  gegenüberzustellen. 

7* 


\Q()  Kants  theoretische  Philosophie. 

Im  Grunde  genommen  handelt  es  sicli  also  darum,  zu  unter- 
suchen, ob  der  Erkenntnistrieb  durch  die  Erfahrung,  in  welcher 
allein  er  befriedigt  werden  kann,  wirklich  befriedigt  wird.  Stellt 
sich  heraus,  daß  das  nicht  der  Fall  ist  und  nicht  der  Fall  sein 
kann,  so  muß  die  Erkenntnistätigkeit  selbst  auf  allen  den  Punkten, 
wo  dieses  einleuchtet,  sich  ihre  Grenze  setzen,  aber  es  wird  dann 
auch  begreiflich,  daß,  wo  sie  dieser  kritischen  Vorsicht  entbehrt, 
sie  den  Versuch  machen  wird,  ihre  Aufgabe,  deren  Notwendigkeit 
sie  erweisen  kann,  jenseits  der  Erfahrung  zu  lösen,  und  dadurch 
dem  »transzendentalen  Scheine«  verfallen  muß.  Die  transzenden- 
tale Dialektik  hat  deshalb  die  höchst  interessante  Aufgabe,  einen 
inneren  Widerspruch  in  dem  Wesen  der  menschlichen 
Erkenntnistätigkeit  aufzudecken.  Sie  hat  zu  zeigen,  daß  aus 
dieser  Erkenntnistätigkeit  selbst  mit  Notwendigkeit  Aufgaben  ent- 
stehen, die  dadurch  nicht  zu  lösen  sind.  Sie  hat  die  Unhalt- 
barkeit  jedes  Versuchs  zu  zeigen,  diese  Aufgaben  mit  der  Er- 
kenntnistätigkeit zu  bewältigen,  und  sich  mit  der  Resignation  zu 
bescheiden,  daß  die  Einschränkung  auf  die  Erfahrung,  welche  das 
Wesen  des  Erkennens  konstituiert,  es  zugleich  auf  immer  von  der 
Erreichung  der  Ziele  fernhält,  denen  es  immer  und  immer  wieder 
nachstreben  muß. 

Die  transzendentale  Dialektik  hat  deshalb  zunächst  zu  be- 
stimmen, worin  jener,  Erkennt  nistrieb  besteht,  welcher  das  für  die 
wirkliche  Erkenntnis  unmögliche  Überschreiten  der  Erfahrung  ver- 
langt; sie  hat  das  Bedürfnis  zu  definieren,  aus  dem  alle  Versuche 
hervorgehen,  die  Sinnen  weit  an  eine  übersinnliche  Welt  anzuknüpfen. 
Und  sie  geht  deshalb  von  einer  Beschreibung  desjenigen  aus,  was 
man  später ^das  metaphysische  Bedürfnis^  genannt  hat.  Sie  trifft 
auch  zweifellos  den  Kern  der  Psychologie  der  Metaphysik,  wenn 
sie  sagt,  daß  dieses  Bestreben  immer  darauf  hinausgeht,  den 
ganzen  Zusammenhang  des  Bedingten,  welchen  uns  die  Erfahrung 
darbietet,  auf  ein  »Unbedingtes«  zu  beziehen.  Alle  besonderen 
Aufgaben  der  Erkenntnis  kommen  doch  schließlich  darin  überein, 
die  einzelnen  Gegenstände  der  Erfahrung  miteinander  in  denjenigen 
Beziehungen  zu  denken,  durch  welche  sie  sich  gegenseitig  bedingen. 
Dieser  Prozeß  des  Bedingtseins  geht  aber,  nach  welcher  Kategorie 
man  ihn  auch  zu  denken  beginnt,  stets  in  das  Endlose.  Soll  daher 
die  Erkenntnis  diesen  ganzen  Prozeßvjallständig^^^greifen,  so  ist 

HAEL'Ö 


Dm  UDbedin^te  und  die  Ideen.  101 

sie  Hclbst  zu  einer  endlosen  Funktion  verurteilt.     Sie  würde  jcdocli 
dieser  Endlosigkeit  mit   einem  Schlage  überhoben  sein,  wenn  es 
ihr  mü<j;lich  wäre,  ein  Unbedinj^tea  zu  begreifen,  das  den  Abschluß 
jener  Kette  bildete.    Dies^UnbecJingtc^  ist  in  der  Erfahrung  nicht 
gegeben  und  kann  nicht  in  ihr  gegeben  sein,  da  jeder  ihrer  Gegen- 
stände  unter  den    Bedingungen   der  Kategorien   steht.     Um   die 
Aufgabe   der   Erkenntnis   zu   lösen,   würde   also   ein  Unbedingtes 
erkannt  werden  müssen,   welches   in   der  Erfahrung,   auf  die  das 
Erkennen  beschränkt  ist,  niemals  enthalten  sein  kann.    Das  Un- 
bedingte   ist  also    die  Vorstellung  von   der  Lösung   der  Aufgabe, 
die  durch  das.  Erkennen  wirklich  nie  zu  lösen  ist.    Das  Unbedingte 
ist  das  niemals  zu  realisierende  Ideal  der  Erkenntnis,    und  trotz 
dieser  Unerfüllbarkeit  ist    doch   die  ganze  Arbeit  der  Erkenntnis 
durch  dieses  Ideal  beherrscht  und  bestimmt.    Denn  die  Aufsuchung 
der   einzelnen    Zusammenhänge,    die  Einsicht  in   die  Verhältnisse 
der  Bedingtheit  hat  nur  dadurch  Wert,  daß  sie  in  immer  höheren 
und  tieferen  Zusammenhängen  durchschaut  werden,  und  daß  die 
Erkenntnis  damit  auf  das  Ziel  des  letzten  und  absoluten  Zusammen- 
hanges  hinstrebt,   das   sie  niemals  erreichen   kann.     Das  ist   das 
Erschütternde,    es  ist  das  Tragische  in   dieser  Kantischen  Unter- 
suchung, daß  der  Wert  der  menschlichen  Erkenntnistätigkeit  nur 
in  der  Arbeit  für  ein  Ziel  besteht,  das  seinem  Begriffe  nach  niemals 
erreicht  werden  kann,  daß  ein  imlösbarer  Widerspruch  hervortritt 
zwischen  den  Aufgaben  der  Erkenntnis  und  den  Mitteln,   welche 
sie  zu  ihrer  Lösung  besitzt.    In  diesem  Geiste  verlangt  Kant  von 
der  Erkenntnistätigkeit   dieselbe   klare  und   bewußte  Eesignation 
wie  Lessing.    Bei   beiden  Männern  ist   dieses  Verlangen  der  Aus- 
fluß ihres  sittlichen  Bewußtseins.    Aber  bei  Kant  ist  es  zugleich 
eine    die    verborgenste   Tiefe    des   menschlichen   Denklebens    ent- 
hüllende Theorie.   Wer  nun  diese  Klarheit  und  Resignation  nicht 
besitzt  und  die  Notwendigkeit  jener  Aufgabe  begriffen  hat,    daß 
sich    die   Erkenntnis   des   Bedingten   nur   in   derjenigen   des  Un- 
bedingten vollenden  kann,  der  wird  geneigt  sein,  den  Begriff  der 
Lösung  der  Aufgabe  für  die  Lösung  selbst  zu  halten,  —  der  wird 
versucht  sein,  das"iJnbedingte7  welches  nichts  als  die  ideale  Vor- 
stellung  von   einem  Abschluß   der  Kette   des  Bedingten  enthält, 
als  einen  Gegenstand  möglicher  Erkenntnis  aufzufassen  und  zu 
dem  Bedingten  in   die  Beziehungen   der  Verstandeserkenntnis  zu 


^ 


102  Kants  theoretische  Philosophie. 

setzen.  Da  nun  das  Unbedingte  seinem  Begriffe  nach  außerhalb 
der  sinnlichen  Erfahrung  steht,  so  entspringen  auf  diese  Weise 
Vorstellungen  von^  unbedingten  übersinnlichen'  Gegenständen,  die 
in  ihrem  Wesen  und  in  ihren  Beziehungen  zu  der  sinnlichen  Welt 
erkannt  werden  sollen. 

Ist  nun  die  Aufgabe  des  Verstandes  die  begriffliche  S3nithese 
der  Anschauung,  so  versteht  Kant  unter  Vernunft  im  engeren 
Sinne  des  Wortes  das  Bewußtsein  der  Unterwerfung  aller  Ver- 
standestätigkeiten unter  das  Prinzip  einer  gemeinsamen  Aufgabe, 
und  jene  Vorstellungen  des  Unbedingten,  in  denen  sich  diese 
Aufgaben  erfüllen  müßten,  nennt  er  Ideen.  Idee' ist  also  nach 
Kant  die  notwendige  Vorstellung  von  einer  Aufgabe  der  mensch- 
lichen Erkenntnis*).  Insofern  sind  die  Ideen  a  priori.  Auch  sie 
gehören  zum  Wesen  und  zur  Organisation  der  menschlichen 
Gattungsvernunft.  Aber  diese  Aufgaben  sind  ebenso  unerfüllbar, 
wie  sie  unentf liehbar  sind.  Die  Ideen  bezeichnen  eine  Aufgabe 
der  Erkenntnis,  aber  sie  sind  nicht  selbst  Erkenntnis.  Es  ent- 
spricht ihnen  kein  Gegenstand;  sie  sind  nicht'^gegeben^  son- 
dern nur  'aufgegeben.'  Der  transzendentale  Schein  besteht 
darin,  daß  diese  Ideen  f'dr"  Erkenntnisse,  daß  diese  notwendigen 
Vorstellungen  für  Vorstellungen  von  Gegenständen  gehalten  wer- 
den. Jede  Idee  ist  daher  als  solche  berechtigt;  sie  ist  das  Licht, 
welches  den  erkennenden  Verstand  durch  das  Reich  der  Sinnlich- 

;,.  keit  leitet;  aber  sie  wird  zum  Irrlicht,  sobald  sie  die  Grenzen  der 
Erfahrung  überschreiten  und  in  eine  übersinnliche  Welt  hinüber- 
führen will. 

Dieser  Ideen  sind   nun  nach  Kants  System  drei.     Die  Vor- 
\       Stellung    eines    unbedingten    Substrats    aller    Erscheinungen    des 

'/       inneren   Sinnes   ist   die   Idee   der  Seele.     Die   Vorstellung   eines 
unbedingten    Zusammenhangs    aller    äuQeY^Ji    Erscheinungen    ist 

"l]       die   Idee   der   Welt.     Die   Vorstellung   endlich   des   unbedingten 


*)  Damit  gibt  Kant  dem  Terminus  Idee  eine  neue  Bedeutung,  die  so- 
wohl von  dem  ursprünglichen  Platonischen  Sinne,  als  auch  von  dem  Ge- 
brauche des  Wortes  in  der  scholastischen  und  neueren  Philosophie  genau 
zu  unterscheiden  ist.  Da  aber  auch  für  ihn  die  Ideen  ein  L'berschreiten  der 
sinnlichen  Erfahrung  involvierten,  so  ist  es  begreiflich,  daß  die  Platonische 
und  die  Kantische  Bedeutung  des  Wortes  in  der  Folge  vielfach  ineinander 
griffen. 


l.lci;  (irr  Seulo.  103 

Wesens,    tlas   ülk^n  ErschcMiuin^^cii    überhaupt    zu;^ruiid('    li<'gt,   ist  , 

tlio  Idee  der  Gottheit.  Sobald  man  diese  Ideen  als  Objekte  der  -^ 
Erkenntnis  betrachtet,  entsprinjjjen  daraus  die  drei  metaphysischen 
SpezialWissenschaften,  welche  sich  an  die  Ontolojjjie  anzuschließen 
pflefijen,  die  rationale  Psychologie,  Kosmologie  und  Theologie. 
Aber  zunächst  zeigt  sich  schon  die  Wertlosigkeit  dieser  drei  ver- 
meintlichen Wissenschaften  darin,  daß  es  in  alle  Wege  unmög- 
lich ist,  aus  der  Idee  der  Seele  irgend  eine  Tatsache  des  psychischen 
Lebens,  aus  der  Idee  der  Weif  irgend  ein  Geschehen  in  der  Kör- 
perwelt, aus  der  Idee  der  Gottheit "  irgend  einen  besonderen  Ver- 
lauf des  Weltprozesses  wissenschaftlich  abzuleiten.  Es  gibt  gar 
keine  Beziehungen  zwischen  der  rationalen  Metaphysik  und  der 
empirischen  Erkenntnis,  und  wenn  jene  Ideen  gebildet  worden 
sind,  um  die  Aufgaben  der  Erfahrungserkenntnis  zu  lösen,  so  er- 
füllen sie  diesen  Zweck  offenbar  nicht,  da  die  Erscheinungen 
nicht  unter  die  Ideen  der  Vernunft'  wie  unter  die'  Kategorien 
des  Verstandes^  in  konkreter  Anschaulichkeit  zu  subsumieren  sind. 
Allein  der  tiefere  Grund  dieser  Wertlosigkeit  der  rationalen  Meta- 
physik für  das  empirische  Wissen  liegt  eben  darin,  daß  sie  eine 
nur  scheinbare  und  prinzipiell  unmögliche  Erkenntnis  zu  besitzen 
vorgibt,  und  in  ihrer  Kritik  handelt  es  sich  also  hauptsächlich 
darum,  aufzuzeigen,  daß  der  Grundfehler  jener  Disziplinen  darin 
besteht,  die  notwendige  Idee  als  einen  Gegenstand  möglicher  Er- 
kenntnis zu  betrachten. 

Am  klarsten  tritt  das  bei  der  ersten  hervor,  indem  sich  die 
Kritik  der  rationalen  Psychologie  in  Kants  Lehre  von  den  Para- 
logismen  der  reinen  Vernunft  entwickelt.  Er  sucht  hier 
nämlich  zu  zeigen,  daß  alle  Schlüsse,  mit  denen  man  in  der 
Schul-  und  Popularphilosophie  die "  Substantialität ,  die  Simpli- 
zität, die  Personalität  und  die  erkenntnistbeoretische  Priorität 
der  Seele  zu  beweisen  pflegte,  Fehlschlüsse  seien.  Sie  beruhen 
alle  auf  einer  quaternio  terminorum,  indem  das  Ich,  welches  in 
dem  einen  Satze  als  die  allgemeine  Form  des  Denkens  verwendet 
wird,  in  dem  andern  als  ein  substantiell  bestehendes  Wesen  an- 
gesehen werden  soll.  Kant  führt  zunächst  im  Hinblick  auf  die 
transzendentale  Analytik  aus,  daß  die  Anwendung  der  Kategorie 
der  ^  Substantialitäf  auf  den  äußeren  Sinn  beschränkt  bleiben 
müsse,   daß   infolgedessen  die   Identität  des   empirischen  Selbst- 


«■H 


104  Kants  theoretische  Philosophie. 

bewußtseins  nur  eine  identische  Funktion,  nicht  ein  gleichbleiben- 
des Ding  bedeute,  und  daß  der  cartesianische  Versuch,  das  Selbst- 
bewußtsein zum  Ausgangspunkte  des  Wissens  zu  machen  und 
von  ihm  aus  erst  auf  einem  Umwege  die  Erkenntnis  der  äußeren 
Substanzen,  der  Körper,  zu  gewinnen,  geradezu  umgekehrt  wer- 
den müsse*). 

Erweisbar  also  ist  die  Seele  als  Ding  an  sich^  nicht,  aber  sie 
ist  ebensowenig  widerlegbar.  Dieselbe  Kritik,  welche  sich  gegen 
den  Spiritualismus  richtet,  trifft  auch  den  Materialismus.  Der 
transzendentale  Idealismus  aber  will  auch  nicht  dem  metaphy- 
sischen Dualismus  das  Wort  reden,  der  die  Fra2;e  nach  dem 
Konnex  zwischen  Leib  und  Seele  durch  keine  seiner  drei  For- 
men, weder  durch  den  influxus  physicus  noch  durch  den  Occa- 
sionalismus  noch  durch  die  prästabilierte  Harmonie,  zu  lösen 
vermag.  Aber  Kant  stellt  sich  hier  zunächst  auf  den  Standpunkt 
des  phänomenalistischen  Dualismus.  Statt  des  landläufigen 
Gegensatzes  von  Körperwelt  und  Geisterwelt  tritt  für  ihn  der 
prinzipielle  Unterschied  zwischen  äußerem  und  innerem  Sinn  in 
den  VordergTund,  und  es  gibt  für  ihn  keine  Möghchkeit,  die 
Frage  zu  entscheiden,  ob  das^Ding  an  sich^  welches  im  äußeren 
Sinne,  und  dasjenige,  welches  im  inneren  Sinne ^erscheint^'  viel- 
leicht identisch  seien  oder  nicht.  Auf  dem  transzendentalen 
Standpunkte  verwandelt  sich  die  Frage  nach  dem  Verhältnis  der 
körperlichen  zur  geistigen  Welt  —  diese  wahre  crux  metaphy- 
sica  —  vielmehr  in  die  psychologische  Frage  nach  der  Möglich- 
keit der  Verknüpfung  des  äußeren  und  des  inneren  Sinnes  in 
demselben  Bewußtsein.  Da  nun  zum  inneren  Sinne  dem  Inhalte 
nach  die  Funktionen  des  Denkens  gehören,  so  läßt  sich  die  Frage 
auch  dahin  formulieren:  wie  ist  die  Vereinigung  von  Sinnlichkeit 
und  Verstand  in  demselben  Bewußtsein  möglich?  Diese  Frage 
A. ..     aber   ist   unlösbar;   sie   bildet   die   Grenze  der   Psychologie.     Sie 

*)  Es  ist  zu  bemerken  und  unrichtigen  Deutungen  gegenüber  zu  betonen, 
daß  die  erste  Auflage  der  Vernunftkritik  an  dieser  Stelle  genau  denselben 
Gedanken  ausspricht,  den  die  zweite  Auflage  in  der  obenerwähnten  »Wider- 
legung des  Idealismus«  (vgl.  oben  S.  83)  mit  entschiedener  Polemik  gegen  die 
mißverständliche  Auslegung  des  transzendentalen  Idealismus  ausführte.  Kant 
widerlegt  auch  in  der  zweiten  Auflage  nur  den  »empirischen  Idealismus«, 
und  zwar  tut  er  dies  lediglich  vom  Standpunkte  des  transzendentalen  Idealis- 
mus aus. 


Idee  der  Welt:  Antinomien.  lOf) 

betrifft  niclil  melir  und  nicht  wcni^^cr  als  die  Or^aniHation  unKcrer 
Intelligenz,  und  diese  ist  für  unsero  Erkenntnis  eine  letzte  Tat- 
eacho,  über  welche  die  Forschung  nie  hinausgehen  kann.  Allein 
es  ist  die  Aufgabe  aller  Psychologie,  die  Vereinigung  der  Funk- 
tionen der  Sinnlichkeit  und  des  Verstandes  auf  allen  Gebieten 
des  psychisclien  Lebens  zu  erforschen.  Das  letzte  Ziel  aller 
psychologischen  Erkenntnis  würde  die  Einsicht  in  die  absolute 
Einheit  unserer  gesamten  psychischen  Funktionen  sein.  Nennen 
wir  die  Vorstellimg  dieser  Einheit'^  Seele,  so  bildet  diese  Idee  das 
.xe^ulatiye  Prinzip'  für  alle  psychologische  Erkenntnis,  aber 
sie  selbst  ist  kein,  Gegenstand  mehr,  der  sich  begreifen  ließe. 

Kants  Kritik  der  rationalen  Kosmologie  schlägt  einen  ganz 
anderen  Weg  ein.  Die  Unerkennbarkeit  der  Idee  der  Welt  wird  / 
von  ihm  durch  die  Antinomien  der  reinen  Vernunft  be- 
wiesen. Alles  was  wir  sollen  erkennen  können,  muß  sich  den 
formal  logischen  Gesetzen  unterworfen  zeigen.  Zu  diesen  gehört 
in  erster  Linie  der  Satz  des  Widerspruchs,  daß  von  zwei  kontra- 
diktorisch   entgegengesetzten   Behauptungen    nicht    beide   richtig 

sein  können.     Wenn  man  über  einen  vermeintlichen  Gegenstand 

mit   logischer   Unanfechtbarkeit    das    positive   und   das   negative 

Urteil  gleichen  Inhalts  beweisen  kann,  so  folgt  daraus  unmittel- 
bar, daß  dies  kein  wirklicher^  Gegenstand  sein  kann.  Betrachtet 
man  nun  die  „  Totalität  aller  Gegenstände  des  äußeren  Sinnes, 
d.  h.  die  Welt,  selbst  als  einen  Gegenstand  der  Erkenntnis,  so 
sucht  Kant  in  den  Antinomien  nachzuweisen,  daß  sich  davon  in 
Rücksicht  auf  alle  vier  Gesichtspunkte  der  Kategorien  die  kontra- 
diktorischen Sätze  gleichmäßig  beweisen  lassen.  Hinsichtlich  der 
Quantität  läßt  sich  zeigen ,  daß  die  Welt  in  Raum  und  Zeit  ^ 
begrenzt,  und  daß  sie  in  beiden  unendlich  ist.  Hinsichtlich  der 
Qualität  läßt  sich  beweisen,  daß  die  Welt  aus  Atomen  besteht, 
und  daß  sie  nicht  daraus  bestehen  kann.  Hinsichtlich  der  Relation 
ergibt  sich,  daß  es  in  dem  Prozesse  des  Geschehens  unbedingte, 
selbst  nicht  mehr  kausal  vermittelte  Ursachen  gibt,  und  daß 
solche  nicht  vorhanden  sind.  Hinsichtlich  der  Modalität  endhch 
läßt  sich  die  Annahme  eines  unbedingt  notwendigen  Wesens 
ebenso  begründen  wie  widerlegen.  Den  Beweis  für  diese  vier 
Paare  von  Thesis  und  Antithesis  führt  Kant  (mit  Ausnahme  der 
vierten  These)   apagogisch,   so   daß  schon  darin  die  dialektische 


I ) 


■■■■PI 

IQß  Kants  theoretische  Philosophie. 

Antinomie  zutage  tritt,  indem  stets  die  Thesis  durcli  die  AVider- 
legung  der  Antithesis  und  umgekehrt  bewiesen  wird.  Selbst  wenn 
sich  nun  herausstellen  sollte,  daß  diese  acht  Beweise  nicht  so 
absolut  stringent  und  unanfechtbar  sind,  wie  sie  von  Kant  an- 
gesehen wurden,  so  würde  das  doch  nichts  an  der  wertvollen 
Entdeckung  ändern,  die  Kant  an  diesem  Punkte  gemacht  hat. 
Es  wird  nämlich  dadurch  die  Tatsache  aufgedeckt,  daß  unserer 
gesamten  Weltauffassung  eine  solche,  Antinomie  zugrunde  liegt. 
Es  ist  ein  Bedürfnis  unserer  Verstandeserkenntnis,  die  Totalität 
der  Dinge  als  ein  Fertiges  und  Geschlossenes  zu  betrachten.  Aber 
jeder  Versuch,  dies  in  einer  bestimmten  Vorstellung  zu  tun, 
scheitert  daran,  daß  die  sinnliche  Anschauungsweise  über  jede 
Grenze  hinaus,  welche  wir  im  Räume,  in  der  Zeit,  in  der  Kausal- 
reihe des  Geschehens  ansetzen  wollen,  ihre  konstruktive  Tendenz 
fortführen  muß.  Die  Gegensätze,  die  Kant  hier  behandelt,  sind 
deshalb  so  alt  wie  das  philosophische  Denken  überhaupt.  Räum- 
liche Begrenztheit  und  Unendlichkeit,  Zeitlichkeit  und  Ewigkeit 
der  Welt,  Atomismus  und  Monismus,  Freiheitslehre  und  Mechanis- 
mus, Schöpfungstheorie  und  Naturalismus,  —  diese  Thesen  und 
Antithesen  stehen  sich  notwendig  immer  und  immer  wieder 
o^egenüber. 

Indem  nun  Kant  annimmt,  daß  diese  Antinomien  notwendige 
und  allgemeingültige  Behauptungen  seien,  so  folgt  ihm  daraus, 
daß  der  Gegenstand  dieser  Urteile,  den  ja  in  allen  Fällen  der 
Begriff  der^Welu  repräsentiert,  nicht  ein  Gegenstand  möglicher 
Erkenntnis  sein  kann.  Wenn  Thesis  und  Antithesis  gleich  wahr 
sind,  so  sind  sie  auch  gleich  falsch.  Der  Satz  des  ausgeschlossenen 
Dritten  hat  hier  deshalb  keine  Gültigkeit,  weil  es  überhaupt  von 
vornherein  sinnlos  ist,  den  Begriff  der'^Welt  zum  Subjekt  eines 
Erkenntnisurteils  zu  machen.  Die  Rätselhaftigkeit  eines  den  Ge- 
setzen der  formalen  Logik  so  vollkommen  widersprechenden  und 
doch  mit  Notwendigkeit  aus  der  Vernunft  entspringenden  Ver- 
hältnisses erklärt  Kant  daraus,  daß  Thesis  imd  Antithesis  beide 
auf  der  gleichen  falschen  Voraussetzung  beruhen,  als  sei  die  Welt, 
diese  unerfahrbare  Idee  eines  totalen  Zusammenhangs  der  Er- 
scheinungen, der  Gegenstand  einer  möglichen  Erkenntnis. 

Diese  Betrachtung  wendet  Kant  auf  die  beiden  ersten,  die 
mathematischen  Antinomien  an,    und  bis  zu  diesem  Pimkte  be- 


Kusmoloprisclio  Antitiümicn.  ]  ()7 

wo^t  sich  die  Antiiioinienlehre  durchauH  in  der  gesamten  Tendenz 
der  transzendentalen  Dialektik.  Dadurch  aber,  daß  Kant  nun  noch 
mit  Hilfe  der  transzendentalen  Ästhetik  eine  »kritiöche  AuflÖHunj^« 
des  notwendigen  Widerstreites,  in  welchen  die  Vernunft  mit  sich 
selbst  gerät,  zu  geben  versucht,  beginnen  sich  in  diesem  Ab- 
schnitte gleichfalls  die  verschiedenen  llichtungen  seines  Denkens 
durcheinanderzuschhngen,  und  so  ist  diese  zu  einem  zweiten  Nest 
von  schwer  entwirrbaren  Widersprüchen  geworden.  Ganz  im 
Gegensatz  nämlicli  zu  dem  Resultate  der  transzendentalen  Analytik 
behandelt  Kant  die  beiden  letzten,  die  dynamischen  Antinomien, 
unter  dem  Gesichtspunkte,  daß  möglicherweise  die  Thesen  für 
die^inge  an  sich, ^  die  Antithesen  dagegen  für  die' Erscheinungen 
gelten  sollten.  Für  die  »mathematischen«  Antinomien,  diejenigen 
der  Quantität  und  der  Qualität,  in  denen  es  sich  um  die  räum- 
liche und  zeitliche  Ausdehnung  und  um  die  materielle  Teilbarkeit 
der  äußeren  Welt  handelt,  bot  die  Lösung  des  Widerspruches 
durch  die  transzendentale  Ästhetik  keine  Schwierigkeiten.  Wenn 
die  räumliche  W^elt  nichts  als  Erscheinungen  enthält,  so  sind  jene 
Widersprüche  nicht  real,  sondern  nur  in  unserer  Auffassungs- 
weise der  Dinge  begründet.  Es  ist  die  erwähnte  Antinomie 
zwischen  unserem  Verstandesbegriffe  der  Totalität  und  der  ün- 
aufhörlichkeit  imseres  anschauenden  Prozesses,  welche  sich  darin 
ausspricht.  In  gleicher  Weise  hätte  sich  die  Lehre  der  tran- 
szendalen  Analytik  auf  die  beiden  letzten,  die  »dynamischen« 
Antinomien,  anwenden  lassen,  und  es  wäre  dann  wiederum  die 
Entscheidung  gefallen,  daß,  da  auch  die  begrifflichen  Beziehungen 
nur  phänomenalen  Charakters  sind,  jene  Antinomien  ihre  Wurzel 
in  dem  Widerstreite  haben,  der  zwischen  den  Begriffen  und  der 
als  Bedingung  für  ihre  Anwendung  unerläßlichen  Zeitanschauung 
besteht.  Allein  die  Fragen,  welche  diese  beiden  Antinomien  be- 
handeln, diejenigen  der  Kausalität  durch  Freiheit  und  der 
Existenz  der  Gottheit,  betrafen  gerade  diejenigen  Punkte,  an 
welchen  Kant  überzeugt  war,  mit  dem  sittlichen  Bewußtsein  den 
Bann  der  empirischen  Erkenntnis  durchbrechen  und  eine  Gewiß- 
heit der  übersinnlichen  Welt  gewinnen  zu  können.  Hier  bejahte 
er  also  die  Thesen  aus  ethischen  Gründen.  Wenn  sich  nun  zeigte, 
daß  auch  die  Antithesen  beweisbar  seien,  so  ging  er  der  Möglich- 
keit nach,  ob  nicht  vielleicht  diese  für  die^Erscheinungen  gelten. 


^^■■■B 


;[Qg  Kants  theoretische  Philosophie. 

Dann  war  auch  der  Widersprucli  aufgehoben,  aber  anders  als  in 
dem  ersten  Falle.  In  den  mathema tischen  Antinomien  ver- 
schwindet  die  Kontradiktion  dadurch,  daß  beide  Urteile  falsch 
sind,  weil  sie  auf  derselben  falschen  Voraussetzung  beruhen,  — 
in  den  dynamischen  dadurch,  daß  beide  Urteile  richtig  sind, 
nur  mit  der  Einschränkung,  daß  das  eine  für  Dinge  an  sich,  das 
andere  für  Erscheinungen  gilt.  Dieses  Prinzip  verwendet  Kant, 
um  die  wesentlichsten  Punkte  seiner  praktischen  Philosophie 
schon  in  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  durchschimmern  zu 
lassen.  Die  dritte  und  vierte  Antithese  haben  den  gemeinsamen 
Inhalt,  daß  der  Prozeß  des  Weltgeschehens  eine  anfang-  und 
endlose  Kette  notwendiger  Veränderungen  endlicher  Dinge  dar- 
bietet. Diese  Sätze  sollen  nun  unbedingt  und  ausnahmslos  für 
alle  Erscheinungen  gelten.  Aber  damit,  lehrt  Kant,  sei  nicht 
ausgeschlossen,  daß  das  Geschehen  in  der  Welt  der  Dinge  an 
sich  einen  Akt  ursachloser  Freiheit  bilde,  und  daß  es  unter  den 
Dingen  an  sich  ein  unbedingtes  und  absolut  notwendiges  Wesen 
gebe.  Die  Erscheinungswelt  in  dem  gesamten  kausal  bedingten 
Ablauf  ihres  Geschehens  sei  eben  nur  eine  Erscheinung.  Der  für 
imsere  Erkenntnis  durchaus  bedingte  und  kausal  notwendige  Ent- 
wicklungsgang, den  die  Willensentschließungen  in  dem  erapirischen 
Charakter  eines  einzelnen  Menschen  darstellen,  sei  nichts  weiter 
als  die  durch  Kaum,  Zeit  und  die  Kategorien  bedingte  Er- 
scheinungsform eines  intelligiblen  Charakters,  dessen  Hand- 
lung nicht  unter  dem  Gesetz  der  Kausalität  stehe.  Freilich  ist 
sich  nun  Kant  bewußt,  daß  ein  Beweis,  d.  h.  eine  theoretische 
Begründung  für  die  Kealität  der  Freiheit  und  der  Gottheit  in 
der  Welt  der  Dinge  an  sich  niemals  gefunden  werden  kann.  Aber 
die  Einschränkung  der  menschlichen  Erkenntnis  auf  die  Er- 
scheinungswelt läßt  auch  nicht  das  Gegenteil  behaupten,  und  es 
bleibt  danach  für  die  theoretische  Vernunft  die  Möglichkeit  dafür 
offen.  So  muß  man  es  in  den  Kauf  nehmen,  wenn  jene  Möglich- 
keit, "Dinge  an  sich^  anzunehmen,  die  am  Schlüsse  der  transzen- 
dentalen Analytik  gewonnen  war,  sich  hier  schon  dahin  spezia- 
lisiert, daß  als  diese  Dinge  an  sich  teils  die  intelligiblen  Charaktere, 
teils  die  Gottheit  betrachtet  werden,  daß  also  die  Anwendung 
bestimmter  Kategorien,  wie  derjenigen  von  Wesen  und  ihren 
Handlungen  auf  jenes  unbekannte  Etwas,   welches  dort  Ding  an 


BcwoiBo  für  das  Dasein  GotteR.  1()9 

sich  gonaniit  wurde,  sclit)ii  hier  »uls  inuj^lich  bi.traclilet«  und 
damit  die  VVeltaiisehauung  von  Kants  Inau/^uraldisscrtatiun,  wenn 
auch  unter  veriuukntcn  (lesiehtspunkten  wieder  gestreift  und  als 
»problematisch«  cin<^eführt  wird.  Allein  in  einer  Rücksicht  kehrt 
sich  nun  diese  Auflösung  der  Antinomien  offenkundig  gegen  den 
Beweis.  Denn  indo!u  Kant  annimmt,  daß  die  Antithesen  für 
die  Erkenntnis  der  Erscheinungen  gelten,  und  daß  in  der  Er- 
scheinungswelt das  wissenschaftliche  Bewußtsein  die  Thesen  ver- 
wirft, so  wird  es  um  so  unbegreiflicher,  wie  es  vorher  möglich 
gewesen  ist,  auf  rein  theoretischem  Wege  Thesis  und  Antithesis 
gleichmäßig  zu  beweisen.  Hierin  liegt  also  eine  noch  tiefere_ 
Antin(Mnio  zwischen  Kants  theoretischem  und  graktisciiem  Denken 
vor,  OHIO  Antinomie,  wciciie  wie  diejenige  des  Dinges  an  sich  die 
Weiterentwicklung  der  Philosophie  bestimmt  liat. 

In  der  vierten  Antinomie  ist  nun  auch  schon  der  Gegenstand 
berührt  worden,  welcher  das  letzte  Objekt  der  transzendentalen 
Kritik  bildet:  die  wissenschaftliche  Behandlung  der  Gottesidee. 
Kant  nennt  diese  das^  Ideal  der  reinen  Vernunft,  weil  sie 
die  Idee  des^  Unbedingten  in  Rücksicht  auf  die  Möglichkeit  aller 
Erscheinungen  überhaupt,  der  äußeren  und  der  inneren,  bildet. 
Auch  dieses  Ideal  ist  nun  nach  Kant  eine  notwendige,  es  ist  die 
letzte  und  höchste  ^^ufgabe,  welche  die  Erkenntnistätigkeit  sich 
setzen  kann  und  setzen  muß.    Aber  auch   hier  ist  die  Idee  kein 

^.Gegenstand  der  Erkenntnis,  und  jeder  Versuch,  diese  Notwendigkeit 
des  ITenkens  umzudeuten  in  einen  Beweis  von  der  Notwendigkeit 
der  Existenz  der  Gottheit,  muß  durchaus  verworfen  werden.  In 
diesem  Zusammenhange  der  Gedanken  erscheint  es  selbstver- 
ständlich, daß  für  Kant  den  Nerv  aller  Beweise,  welche  die 
spekulative  Theologie  und  die  Metaphysik  für  das  Dasein  Gottes 
angetreten  haben,  das  Argument  bildet,  welches  man  das  onto- 
logische  nennt,  und  das  ja  gerade  darauf  hinausläuft,  aus  dem 

*^  Begriffe  des  allerrealsten' Wesens  dessen  ^Existenz  zu  erschließen. 
In  der  Kritik  trägt  nun  Kant  mit  schärferer  Formulierung  der 
schon  in  der  vorkritischen  Zeit  von  ihm  entwickelten  Gedanken 
eine  seiner  tiefsten  und  für  die  Erkenntnistheorie  wertvollsten 
Lehren  vor.  Er  zerstört  jenen  ontologischen  Beweis  von  Grund 
aus,  indem  er  zeigt,  daß  »Existenz«  kein  Merkmal  ist,  das 
wie   andere  Merkmale   zum   Inhalt   eines   Begriffes   gehörte   und 


(i) 


1  [0  Kants  praktische  Philosophie. 

deshalb  durch  logische  Analysis  daraus  gewonnen  werden  könnte. 
Ein  Begriff  bleibt  genau  derselbe,  ob  man  ihm  die^Existenz'  zu- 
schreibt oder   nicht.     Die  Existenz    ist    vielmehr    ein  Verhältnis, 
worin  sich   unsere  Erkenntnis  zu  einem  bestimmten  begrifflichen 
Inhalte  befindet:  sie  ist  eine  Kategorie  der  Modalität.     Die  An- 
wendung dieser  Kategorie  aber  ist  nur  durch  die  Anschauung  zu 
vermitteln.     Ein    theoretischer  Beweis    für   die  Existenz    ist  also 
immer  nur  dadurch  zu  gewinnen,    daß  die  Wirklichkeit  des  Be- 
griffes,   d.  h.  seine  Beziehung  auf   einen  Gegenstand  in  der  An- 
^schauung  direkt  oder  indirekt  nachgewiesen  wird.    Existentialsätze 
sind  immer  synthetisch,  und  die  Begründung  der  Synthesis  hegt 
stets  in  der  Anschauung.    Deshalb  ist  es  unmöghch,  den  Begriff 
der  Gottheit  als  das  Subjekt  eines  Existent ialsatzes  theoretisch  zu 
behandeln.     Aus   dem  Begriffe   allein  folgt  niemals   die  Existenz. 
Aber  auch  alle  andern  Versuche,  die  Notwendigkeit  des  Daseins 
Gottes   zu   beweisen,    sind   damit  um  so   mehr  widerlegt,   als  sie 
das   ontologische   noch   mit   anderen   unberechtigten  x^rgumenten 
komplizieren.   Der  kosmologische  Beweis  (eigentlich  schon  durch 
die  vierte  Antinomie  widerlegt)  schließt  von  der  Bedingtheit  und 
Zufälligkeit    der   endlichen   Gegenstände   auf    die   Existenz    eines 
absolut  notwendigen  Wesens.    Er  hat  kein  Recht,  mit  der  Kate- 
gorie   der   Kausalität   die  Erscheinungswelt   zu   überschreiten,    er 
hat  ebensowenig  Recht,    von  den  endlichen  Dingen  auf  eine  un- 
endliche,   von    den   bedingten   auf   eine   unbedingte   Ursache   zu 
schließen  und    damit  eine  [J:-'raßa^t?__£i?_a^^„j5vo?  zu  vollziehen. 
Aber   wenn  man  ihm  all  dies  zugeben  wollte,    so  würde  er  doch 
seine  Behauptung,  daß  diese  letzte  Ursache  aller  Dinge  zugleich 
das  ^  allerrealste    und   absolut   notwendige    Wesen   sei,    d.  h.  dem 
Begriffe  der  Gottheit  entspreche,  immer  wieder  nicht  durch  sich 
selbst,    sondern   nur    durch    das    ontologische  Argument   erhärten 
können.  /Und   wie  so   der   kosmologische  auf   den  ontologischen, 
j'^]    so  führt  der  physikotheologische  auf  den  kosmologischen  Be- 
L        weis  zurück.     Gesetzt,    er  hätte  das  Recht,    als  die  Ursache  der 
Zweckmäßigkeit,  Güte,    Schönheit  imd  Vollkommenheit  der  Weit 
(die  Kant    als  Tatsachen    behandelt,    und  nach  deren  Beweise  er 
gar  nicht  einmal  erst  fragt)  eine  höchste  InteUigenz  anzunehmen, 
so    würde    dieser   Beweis   nur    bis    zu    dem   Begriffe   eines    welt- 
b^l^knden,    nicht    aber   bis    zu    demjenigen    eines  weltschaffeu^ßQ 


Priiniit  (l«T  luiiktiHclien  Vornunft.  1  ]  1 

CJottos  fühlen.  Für  dioson  müßte  iiiinier  wieder  auf  den  ko.snio- 
louischeii  und  in  letzter  Instanz  auf  den  ont{)l();^iselu'n  Jicweis 
zurüelv^eurifien   werden. 

Diese   Widerle^uni;;    richtet    tiicli    wieder    mit   echt    kritischem 
Bewußtsein  nicht  gegen  den  8atz  von  der  Existenz  der  Gottheit        / 
selbst,    sondern    nur    gegen   die  Versuche   einer   theoretischen 
Beweisführung    dafür,    und    der  Scharfsinn    dieser    Kritik,    deren 
Argumentationen  von  den  besonderen  Eigentündichkeiten  der  tran- 
szendentalen Erkenntnistheorie  durchaus  unabhängig  sind  (wie  sie 
ja  auch    von  Kant    im    wesentlichen   schon    im  Jahre  17G3  vor- 
getragen   worden    waren),    hat    damit    jene  Lieblingsgebilde    der 
spekulativen  Theologie  und  der  rationalen  Metaphysik  für  immer 
aus   dem  Sattel  gehoben.     Aber  auch  in   diesem  Falle   trifft  die 
Widerlegung    der    positiven    Behauptung    mit    gleicher    Energie 
ihre  negative  Kehrseite.    Dasselbe  Argument,  welches  den  ^vissen- 
schaftlichen  Beweis  für  die  Existenz  der  Gottheit  verbietet,  schlägt 
auch  jeden  Versuch,  diese  Existenz  zu  leugnen  oder  zu  widerlegen, 
nieder.    Der  Atheismus  ist  wissenschafthch  ebenso  unmöglich  wie 
der  Theismus.    Gerade  wie  die  Kritik  der  rationalen  Psychologie 
gleichmäßig   den   Spiritualismus    und   den  Materialismus  als  An- 
maßung der  Metaphysik  verdammte,  so  sieht  die  Kantische  Kritik 
auch   die  rationale  Theologie  und   den  Atheismus  für  gleich  un- 
bewiesene dogmatische  Behauptungen  an.    Der  eine  überschreitet 
die  Grenze    der  menschlichen  Erkenntnisfähigkeit  so  gut  wie  die 
andere.     Aber   die  rationale  Theologie   unterliegt  nur  in  verzeih- 
lichem Eifer   dem  transzendentalen  Schein,   als  könne   das  Ideal 
der  Vernunft  Gegenstand   einer   objektiven  Erkenntnis  sein:  -der 
Atheismus   macht   den   viel   schlimmeren   Fehler,    dies  Ideal   der 
menschhchen  Erkenntnis  als  eine  Illusion  zerstören  zu  wollen.   Er 
sträubt  sich  daher,  meint  Kant,  gegen  eine  in  der  Organisation 
des  menschlichen  Geistes  selbst  angelegte  Notwendigkeit.     Wenn 
wir  die  Zusammenhänge  der  inneren  und  diejenigen  der  äußeren 
Erscheinungen,  wenn  wir  die  geheimnisvolleren  Zusammenhänge, 
die  zwischen  beiden  obw^alten,  in  der  wissenschaftlichen  Erkenntnis 
zu   begreifen    suchen,    so   schwebt   uns   als   der   Trieb   für   diese 
gesamte  Arbeit  des  Verstandes  die  Idee  der  Vernunft  vor,  einen 
letzten  und  absoluten  Zusammenhang  aller  Erscheinungen  in  einem 
höchsten  Wesen  zu  begreifen.    Dies  Ideal  der  Vernunft  ist  durch 


W2  Kants  praktische  Philosophie. 

den  Verstand  und  seine  Erkenntnis  nie  zu  erreichen.  Aber  aller 
Wert  der  Verstandesarbeit  liegt  in  der  Annäherung  an  das  uner- 
reichbare Ziel. 

Und  woher  denn  nun  —  das  ist  die  letzte  Frage  —  diese 
Wertschätzung  und  jener  ihr  zugrunde  liegende  Trieb?  Woher 
jenes  ^metaphysische  Bedürfnis,  welches  unsere  Erkenntnis  erst 
vollendbar  erscheinen  läßt  in  einem  Unerkennbaren?  Aus  dem 
bloßen  Material  der  Erscheinungen  ergäbe  sich  für  die  Erkenntnis 
nur  der  Trieb,  ihre  endlosen  Ketten  endlos  weiter  zu  verfolgen.  Wenn 
daher  in  unserm  Denken  das  Bedürfnis  auftritt,  aus  dieser  Sinnen- 
welt herauszugehen  und  ein  von  ihr  Verschiedenes  zu  erfassen, 
so  liegt  die  Veranlassung  dafür  nicht  mehr  in  unserm  theoretischen 
Verhalten,  Die  theoretische  Betrachtung  kann  nur  die  Tatsache 
konstatieren,  daß  sie  selbst  in  ihrem  ganzen  Fortschritte  durch 
das  wenn  auch  niemals  zu  erfüllende  Streben  bestimmt  ist,  ihren 
Horizont  zu  überschreiten.  Aber  die  Erklärung  dieser  Tatsache 
liegt  in  einem  tieferen  Bedürfnis,  welches  das  theoretische  Leben 
beherrscht,  und  dieses  tiefere  Bedürfnis  kann  nur  in  dem  sitt- 
li^en  Bewußtsein  von  unserer  Bestimmung  bestehen,  die  über  die 
Welt  unserer  Erkenntnis  hinausreicht.  So  zeigt  sich,  daß  das 
Leben  der  Erkenntnis  in  seiner  ganzen  Ausdehnung  durch  den 
ethischen  Trieb  nach  der  übersinnHchen  Welt  bedingt  ist,  dem 
es  doch  selber  niemals  Genüge  tun  kann.  Das  ist  es,  was  Kant 
den  Primat  der  praktischen  über  die  theoretische  Ver- 
nunft genannt  hat,  und  was  den  innersten  Zusammenhang  seiner 
wissenschaftlichen  so  gut  wie  seiner  persönlichen  Überzeugung  am 
klarsten  hervortreten  läßt. 

§  60.     Kants  praktische  Philosophie. 

Die  Nachfolger  haben  Kants  Philosophie  als  subjektiven  Idealis- 
mus oder  als  Subjektivismus  charakterisiert,  und  in  den  hi- 
storischen Darstellungen  ist  diese  Bezeichnung  vielfach  angenommen 
worden.  Die  wenigsten  wissen,  was  sie  bedeutet.  Sie  will  besagen, 
daß  der  Kritizismus  seinen  Standpunkt  lediglich  in  der  mensch- 
lichen Vernunft  nimmt.  Er  läßt  alle  die  Meinungen  dahingestellt, 
welche,  sei  es  im  populären  Bewußtsein,  sei  es  in  philosophischen 
Versuchen,  vor  ihm  über  das  Verhältnis  dieser  menschlichen 
Vernunft  zu  den  Dingen  aufgestellt  sind,   und  er  sucht  ledighch 


KritiHcluT  SubjuktivisiiiuB.  1  l.'i 

die  notwcndi<i;(Mi  und  allj;cincin;^ültigcn  l*rinzi[)icii  auf,  die  in  den 
Formen  der  Vernunft  seihst  bo;^ründet  sind.  Er  ist  in  dieser 
Hinsicht  nichts  als  eine  Selbsterkenntnis  der  menschlichen 
Vernunft.  Aber  die  Folge  dav4)n  ist  eben  die,  daß  sich  auch 
die  theoretische  Kritik  vollkonnnen  in  den  Umkreis  dieser  Ver- 
nunftformen  <j;ebannt  sieht,  und  daß  ihr  alles,  was  über  die 
Vorstellungen  und  ihre  immanenten  Beziehungen  hinausgeht, 
problematisch  bleiben  muß.  Freilich  ist  jene  Selbsterkenntnis 
zunächst  ein  Wissen  des  Menschen  von  seiner  eignen  Vernunft: 
aber  die  kritische  Untersuchung  streift  dabei  schon  auf  dem 
theoretischen  Fohle  alle  empirisch-anthropologischen  Momente  ab, 
und  das  »Bewußtsein  überhaupt <<  ist  entschieden  etwas  Über- 
greifendes der  spezifisch  menschlichen  Vernunft  gegenüber.  Allein 
trotzdem  bleibt  die  theoretische  Vernunft,  soweit  sie  Erkenntnis 
von  Gegenständen  sein  soll,  doch  vollständig  in  sich  selbst  ge- 
bannt und  gebunden.  Innerhalb  der  Vorstellungsbewegung  gibt 
es  gewisse  gesetzmäßige  Verknüpfungen,  welche  Dinze  genannt 
werden,  und  gibt  es  vor  allem  das  notwendige  Grundverhältnis  von 
Subjekt  und  Objekt,  welche  nur  in  Beziehung  aufeinander  gedacht 
werden  können.  Ob  es  aber  auch  außerhalb  der  Vorstellung 
Dinge  gibt,  ob  dem  Subjekt  und  dem  Objekt  reale  Wesen  ent- 
sprechen, darüber  zu  entscheiden  fehlen  der  theoretischen  Vernunft 
so  sehr  alle  Argumente,  daß  sie  es  weder  bejahen  noch  verneinen 
kann.  Für  die  theoretische  Philosophie  ist  die  Vorstellungs- 
tätigkeit mit  ihren  gesetzmäßigen  Formen  das  Absolute.  Schon 
von  einem  vorstellenden  Subjekte  kann  sie  nicht  als  von  einem 
diese  Tätigkeit  ausführenden  metaphysischen  Wesen,  sondern  nur 
als  von  einem  Inhalte  der  Vorstellungstätigkeit  sprechen.  Die 
Vernunft  also  ist  ein  System  von  Formen,  ist  der  vollständig  in 
sich  geschlossene  Kreis,  aus  dem  die  theoretische  Philosophie 
nicht  heraus  kann.  Der  Kritizismus  fragt  weder  nach  ihrem  Ur- 
sprünge, noch  nach  ihrem  Verhältnis  zu  jener  problematischen 
Reahtät,  die  er  nur  als  ein  völlig  Unbekanntes  jenseits  der  Grenze 
ansieht,  welche  die  Vernunft  sich  selbst  zu  setzen  vermag. 

Betrachtet  man  dies  Resultat  vom  Standpunkte  des  »naiven 
Reahsmus«,  so  heißt  es,  daß  die  Vernunft  nichts  weiter  zu  er- 
kennen vermag  als  sich  selbst.  Und  wer  von  vornherein,  von 
dem  populären  Bewußtsein  ausgehend,  das  Wesen  der  Erkenntnis 

Windelband,  Gesch.  d.  n.  Pliilos.    U.  8 


2^24  Kants  praktische  Philosophie. 

in  der  Übereinstimmung  von  Vorstellungen  und  Dingen  sucht,  dem 
muß  die  Kantische  Kritik  den  Eindruck  hinterlassen,  daß  dieses  Ziel 
der  Erkenntnis  niemals  zu  erreichen  ist.  In  diesem  Sinne  ist 
seine  theoretische  Philosophie  absoluter  Skeptizismus.  Aber 
diese  Skepsis  beweist  ihren  kritischen  Ursprung  dadurch,  daß  sie 
in  vollkommen  präziser  Formulierung  die  Unfähigkeit  der  mensch- 
lichen Vernunft,  von  etwas  anderem  als  von  ihren  eigenen  Formen 
gewiß  zu  sein,  auf  die  theoretische  Funktion  der  Erkenntnis  be- 
schränkt. Kants  Subjektivismus  ist  nur  theoretischer  Natur.  Wenn 
die  Klarheit  seiner  Darstellung  der  Lehre  vom  Ding  an  sich  in 
der  Kritik  der  reinen  Vernunft  durch  seine  felsenfeste  Über- 
zeugung von  dessen  Realität  getrübt  wurde,  so  rührte  das  daher, 
daß  der  Kritizismus  in  seinem  praktischen  Teile  die  selbstgezogene 
Schranke  des  Subjektivismus  siegreich  durchbricht  und  von  der- 
selben Selbsterkenntnis  der  Vernunft  aus  deren  Zusammenhang 
mit  einer  bestehenden  Welt  und  ihre  Unterordnung  imter  deren 
allgemeine  Gesetzgebung  begreift.  Theoretisch  betrachtet,  sieht 
die  Vernunft  sich  auf  sich  selbst  beschränkt,  praktisch  betrachtet, 
glaubt  sie  sich  im  lebendigen  Zusammenhange  mit  einer  höheren 
Welt,  von  der  ihre  ganze  Erkenntnis  nur  den  Schatten  ergreift. 

Und  doch  ist  auch  diese  Überwindung  des  Subjektivismus 
bei  Kant  nur  aus  dem  subjektiven  Gesichtspunkte  selbst  zu  ver- 
stehen. Denn  so  wie  die  Vernunft  auf  dem  theoretischen  Felde 
zu  ihrer  Selbstkritik  nichts  hat  als  sich  selber,  so  kann  auch  die 
praktische  Gewißheit  von  ihrem  Zusammenhange  mit  einer  ab- 
soluten Weltordnung  nur  aus  ihrer  eigenen  Tiefe  geschöpft  sein; 
nur  in  sich  selbst  vermag  sie  das  Motiv  zu  entdecken,  mit  ihrer 
Überzeugung  die  Schranken  ihres  Wissens  zu  überschreiten.  Auch 
der  Glaube,  mit  dem  die  Vernunft  sich  einem  Weltgesetze  unter- 
wirft, gehört  zu  ihren  eigenen  Prinzipien,  und  dieser  Glaube  darf 
deshalb  für  die  kritische  Philosophie  nur  solche  Gestalten  an- 
nehmen, welche  durch  die  allgemeine  und  notwendige  Form  der 
Vernunft  selbst  bestimmt  sind.  Konnte  die  theoretische  Ver- 
nunft in  allgemeiner  und  notwendiger  Weise  nur  das  erkennen, 
was  sie  selbst  erzeugt,  so  kann  die  praktische  Vernunft  sich  nur 
einem  Weltgesetze  unterordnen,  welches  sie  in  allgemeiner  und 
notwendisjer  Weise  sich  selbst  iribt. 

Indem  Kant  an   die  Kritik  des  sittlichen  Bewußtseins   geht. 


Sittliche  Urteile.  Iir3 

fragt  er  auch  hier  nach  dm  iiii^enieinen  und  notwendigen  Be- 
stimmungen, die  darin  anzutreffen  sind.  In  «einer  empiristi.schen 
Periode  hatte  er  sich  mit  den  anthropologischen  »Beobachtungen« 
beschäftigt,  welche  die  psychologische  Verschiedenheit  in  der  Ge- 
staltung des  sittlichen  Lebens  der  Menschheit  zu  ihrem  Gegen- 
stande haben.  Derartige  Fragen  liegen  der  kritischen  Moral- 
philosophie fern;  sie  richtet  vielmehr  ihren  Blick  darauf,  daß  auf 
dem  Grunde  aller  dieser  Verschiedenheiten  eine  gemeinsame  sitt- 
liche Vernunft  ruht,  und  daß  das  ]kwußtsein  davon  sich  in  dem 
Ansprüche  auf  Apodiktizität  zeigt,  mit  dem  die  sittlichen 
Urteile  ausgesprochen  werden.  Diese  aber  sind  zwiefacher  Art. 
Teilweise  bestehen  sie  in  gewissen  Gesetzen,  welche  wir  als  die 
allgemeingültigen  Normen  für  das  sittliche  Leben  ansehen,  teil- 
weise aber  in  Beurteilungen,  welche  auf  Grund  dieser  Normen 
über  Handlungen  und  Willensentscheidungen  der  Menschen  aus- 
gesprochen werden.  Die  letzteren  sind  offenbar  die  Form  des 
sittlichen  Lebens,  welche  dem  populären  Bewußtsein  am  ge- 
läufigsten ist.  Sie  kommt  in  denjenigen  Werturteilen  zur  Geltung, 
welche  ihr  Subjekt  mit  dem  Prädikate"^ gut^oder"bösel)ezeichnen. 
Kant  sucht  nun,  um  aus  diesem  populären  Verhalten  in  das 
moral-philosophische  Problem  hinüberzuführen,  zunächst  die  Eigen- 
tümlichkeit dieser  Urteile  scharf  zu  umgrenzen.  Sie  enthalten 
keine  Erkenntnis  im  theoretischen  Sinne,  sondern  vielmehr  ein 
Verhältnis  der  Beurteilung,  in  welches  sich  der  Beurteilende  zu 
dem  erkannten  oder  für  erkannt  angesehenen  Gegenstande  des 
Urteils  versetzt.  Aber  nicht  alle  Beurteilungen  sind  ethischer 
Natur.  Ein  großer  Teil  davon  hat  die  Tendenz,  den  Gegenstand 
als  etwas  dem  Individuum  Angenehmes  oder  Unangenehmes  zu 
bezeichnen.  Diese  Beurteilung  ist  stets  empirischer  Natur,  sie 
setzt  die  Beziehung  des  Gegenstandes  zu  irgend  einem  Bedürfnis 
des  Individuums,  bestehe  es  nun  in  einem  unmittelbaren  sinnhchen 
Triebe  oder  in  einem  Zweck  des  persönlichen  Interesses,  voraus. 
Solche  Beurteilungen  sind  deshalb  zwar  s}Tithe tisch ,  aber  nicht 
a  priori.  Von  ihnen  gibt  es  infolgedessen  keine  über  das  jedesmalige 
Bedürfnis  des  Individuums  hinausgehende  Notwendigkeit  und  All- 
gemeingültigkeit. Wo  dagegen  etwas  als^gut  oder  böse  bezeichnet 
wird,  da  geschieht  es  stets  mit  dem  Anspruch  auf  Allgemein- 
gültigkeit   und   Notwendigkeit,    und    dieser    charakterisiert    sich 

8* 


115  Kants  praktische  Philosophie. 

dadurch,  daß  er  den  Gegenstand  der  Beurteilung  zu  einem  all- 
gemeinen und  notwendigen  Prinzip  in  Beziehung  setzt.  Hier 
haben  wir  also  ein  Verfahren  unseres  Geistes,  welches  auf  Apriorität 
Anspruch  erhebt,  und  es  fragt  sich  nach  der  Methode  des 
Kritizismus,  ob  die  Bedingungen  erfüllt  sind,  unter  denen  dieser 
Anspruch  gerechtfertigt  ist.  Nun  erhält  jede  sittliche  Beurteilung, 
sofern  sie  sich  ihrer  Berechtigung  bewußt  wird,  die  Subsumtion 
des  betreffenden  Gegenstandes  unter  ein  Prinzip,  welches  wir  ein 
sittliches  Gesetz  nennen,  und  die  Beurteilung  kann  nur  dann  als 
berechtigt  gelten,  wenn  die  Allgemeingültigkeit  und  Notwendig- 
keit dieses  Gesetzes  feststeht.  Alle  sittliche  Beurteilung  setzt 
ein  Sittengesetz  voraus,  das  a  priori  gilt.  Für  die  praktische 
Philosophie  handelt  es  sich  zunächst  darum,  ob  es  ein  solches 
allgemeines  Sittengesetz  gibt,  und  wie  dessen  Allgemeingültigkeit 
und  Notwendigkeit  eingesehen  und  vielleicht  begründet  werden 
kann.  Die  Frage  ist,  ob  es  eine  allgemeine  und  notwendige  Be- 
ziehung des  Willens  auf  Gegenstände  gibt,  und  welches  diese 
Gegenstände  sind. 

Der  Aufsuchung  des  Sittengesetzes  selbst  scheint  nun  die 
Schwierigkeit  im  Wege  zu  stehen,  daß  erfahrungsmäßig  sein  Inhalt 
von  Fall  zu  Fall  wechselt  und  außerdem  während  der  geschicht- 
lichen Entwicklung  des  Menschengeschlechts  offenbar  in  Ver- 
änderung begriffen  ist.  Heute  und  hier  gilt  anderes  für  sittlich 
als  morgen  und  dort,  und  wenn  sich  so  der  Inhalt  der  sittlichen 
Prinzipien  empirisch  bedingt  zeigt,  was  am  allerwenigsten  die 
kritische  Philosophie  leugnet,  so  bleibt  der  letzteren  nur  die 
Möglichkeit,  die  Apriorität  des  Sittengesetzes  in  derselben  Rich- 
tung zu  suchen,  wo  sie  diejenige  der  Erkenntnis  gefunden  hatte : 
in  einer  formalen  Bestimmung. 

Schon  in  den  Vorbereitungen  für  diese  Fundamentalunter- 
ßuchung  sind  von  Kant  fast  unmerklich  die  charakteristischen 
Züge  angelegt,  welche  seine  persönliche  Gesinnung  und  zugleich 
die  Eigentümlichkeit  seiner  Moralphilosophie  ausmachen.  Das 
Prädikat  gut  pflegt  zwar  selbst  in  seinem  sittlichen  Sinne  von 
der  populären  Bezeichnungsweise  auch:  Handlungen  beigelegt  zu 
werden,  welche  den  Anforderungen  des  Sittengesetzes  entsprechen. 
Allein,  meint  Kant,  das  geschieht  doch  nur  im  übertragenen 
Sinne   und   nur  insofern,   als  sie  für  den  Ausdruck   einer  guten 


IjOgalitili  und  Moralität.  117 

Gesinnung  anpjeschen  werden.  Im  schärfsten  Sinne  des  Worte« 
ist  nichts^ gut  als  der  Wille.  Er  bleii)t  gut,  wenn  er  durch  den 
Mcehanisinus  der  äußeren  Natur  an  der  Umsetzung  in  die  Hand- 
lung gehindert  worden  ist,  und. anderseits  verdient  eine  Hand- 
lung, die  dem  Sittengesetze  völlig  konform  ist,  das  Prädikat  gut 
nur  insofern,  als  sie  aus  der  sittlichen  Gesinnung  hervorgegangen 
ist.  Wo  irgend  ein  äußerer  Zwang  den  Menschen  eine  solche 
Handlung  ausführen  läßt,  da  kann  sie  ihm  nicht  als  moralisches 
Verdienst  zugerechnet,  nicht  als  gut  bezeichnet  werden.  Aber 
Kant  geht  sogleich  weiter.  Was  vom  äußeren  Zwange  gilt,  dehnt 
er  auch  auf  den  inneren  aus.  Wenn  der  Mensch  durch  den 
Mechanismus  des  Trieblebens  oder  durch  seine  persönhchen 
Interessen  zu  einer  Handlung  geführt  wird,  welche  den  An- 
forderungen des  Sittengesetzes  entspricht,  so  ist  eine  solche  Hand- 
lung zwar  nicht  böse,  aber  auch  nicht  gut  zu  nennen,  sondern  sie 
ist  moralisch  indifferent.  In  solchem  Falle  hat  das  Individuum 
das  Glück,  daß  seine  Neigungen  es  nicht  mit  dem  Sittengesetz 
in  Konflikt  bringen;  aber  das  ist  ein  Zufall  und  kein  Verdienst. 
Echt  moralisch  ist  deshalb  die  den  Anforderungen  des  Sitten- 
gesetzes entsprechende  Handlung  nur  dann,  wenn  sie  aus  guter 
Gesinnung  hervorgegangen  ist,  d.  h.  wenn  der  Wille,  der  ihre 
Ursache  enthält,  selbst  durch  das  Bewußtsein  des  Sittengesetzes 
bestimmt  war.  Das  Bewußtsein  von  der  Anforderung,  welche 
ein  sittliches  Gesetz  an  unsere  Handlungsweise  stellt,  heißt 
Pflicht,  und  echt  morahsch  sind  daher  nur  diejenigen  Hand- 
limgen,  bei  denen  die  Pflicht  als  Maxime,  d.  h.  als  subjektives 
Prinzip  der  Willensentscheidung  zur  Geltung  gekommen  ist.  In 
der  kritischen  Tendenz  scharfer  Grenzscheidungen  macht  Kant 
jenen  berühmten  prinzipiellen  Unterschied  zwischen  Pflicht  und 
Neigung,  der  sich  durch  seine  ganze  Ethik  hindurchzieht.  Die 
äußere  Konformität  unserer  Handlungen  mit  den  Anforderungen 
des  Sittengesetzes  nennt  er  Legalität.  Alles  was  wir  aus  Neigung 
tun,  ist  im  besten  Falle  nur  legal,  und  von  Moralität  ist  erst 
da  die  Rede,  wo  die  pflichtmäßige  Gesinnung  und  sie  allein  die 
Ursache  der  Handlung  gewesen  ist.  In  dieser  Verinnerlichung 
des  moralischen  Prinzips  liegt  auch  auf  diesem  Gebiete  das  sub- 
jektivistische  Prinzip  der  kritischen  Philosophie;  zugleich  kann 
diese  Begründung  der  Moral  auf  den  Beojiff  des  Pflichtbewußtseins 


118  Kants  praktische  Philosophie. 

als  eine  abstrakt  allgemeine  und  rein  ethische  Formulierung  des- 
jenigen Prinzips  angesehen  werden,  welches  der  Protestantismus 
in  religiöser  Form  von  Anfang  an  bei  seinem  Kampfe  gegen  die 
katholische  Kirche  am  lebhaftesten  betont  hatte. 

Die  Moralität  der  Handlungen  ist  also  nicht  in  ihrer  legalen 
Äußerlichkeit,  sondern  lediglich  in  der  ihr  zugrunde  liegenden 
Gesinnung  zu  suchen,  und  die  Gesinnung  ist  nur  da  gut,  wo  ihre 
Maxime  das  Bewußtsein  der  Pflicht,  wo  daher  das  Motiv  des 
Handelns  kein  anderes  ist  als  die  Achtung  vor  dem  sittlichen 
Gebot.  Die  sittlichen  Gesetze  aber  erscheinen  in  unserem  Be- 
wußtsein als  die  Vorstellung  von  etwas,  was  wir  tun  sollen,  es 
sind  Gesetze  desSollens,  welche  den  sogenannten  Naturgesetzen 
als  denjenigen  des  Müssens  gegenüberstehen.  Ein  Naturgesetz 
ist  eine  Regel,  nach  der  unter  allen  Umständen  etwas  geschehen 
muß  und  wirklich  geschieht;  das  Sittengesetz  ist  eine  Maxime, 
nach  der  unter  allen  Umständen  etwas  geschehen  soll,  aber  nicht 
immer  tatsächlich  geschieht.  Beide  können  nicht  miteinander 
identisch  sein;  denn  es  hätte  gar  keinen  Sinn,  etwas  zu  ver- 
langen, was  mit  naturgesetzlicher  Notwendigkeit  so  wie  so  ge- 
schieht. Das  Sittengesetz  hat  daher  nur  darin  seine  Bedeutung, 
daß  der  Mechanismus  des  natürlichen  Geschehens  vollkommen 
unbestimmt  läßt,  ob  es  erfüllt  wird  oder  nicht.  Die  moralische 
Gesetzrrebunof  ist  also  eine  andere  als  die  natürliche  und  deshalb 
aus  dieser  nicht  abzuleiten.  Moralische  Gesetze  sind  Imperative, 
Aufgaben,  welche  erfüllt  werden  sollen,  ohne  es  zu  müssen  und 
ohne  immer  erfüllt  zu  werden.  In  diesem  Sinne  ist  Kant  der 
klassische  Vertreter  der  Imperativischen  Richtung  in  der 
Ethik,  d.  h.  derjenigen,  welche  die  Aufgabe  dieser  Wissenschaft 
nicht  in  einer  Beschreibung  und  Erklärung  des  wirklichen  sitt- 
lichen Lebens  der  Menschen,  sondern  vielmehr  in  der  Aufstellung 
einer  absoluten  Gesetzgebimg  dafür  sieht. 

Prüft  man  nun,  welcher  Art  die  Imperative  sind,  die  in  der 
praktischen  Betätigung  des  menschlichen  Lebens  auftreten,  so 
zeigt  sich,  daß  der  bei  weitem  größte  Teil  davon  nur  in  be- 
dingter Weise  gelten  kann.  Die  Vorschriften,  welche  wir  uns 
und  anderen  für  bestimmte  einzelne  Tätigkeiten  machen,  sind 
selbstverständlich  von  den  Zwecken  abhängig,  die  jeweils  durch 
diese  Tätigkeiten  erfüllt  werden  sollen,   und  gelten  nur  so  weit 


DegrifT  des  Zwecke«.  ]  \\^ 

wie  diese  Zwecke  iils  eistielx'iisweit  uii^^OHehen  werden.  l)aM 
lieblet  unserer  praktischen  Tätigkeit  ist  dusjenige  der  Zwecke. 
Der  Begriff  des  Zweckes,  den  Kant  aiia  dem  System  der 
Kategorien  ausschloß,  und  tk'r  deshalb  in  seiner  theoretischen 
Phik)soplue  mit  Einschluß  seiner  Naturlehre  keine  Rolle  spielte 
noch  spielen  durfte,  gewinnt  hier  dii^  ßedeutung  einer  Grund- 
bestimmung für  die  praktische  Welt.  Zwecke  sind  die  Be- 
dingungen, unter  denen  die  meisten  Imperative  stehen,  insofern 
sie  die  Handlungen  verlangen,  welche  die  Mittel  zur  Herbei- 
führung dieser  Zwecke  bilden.  Alle  diese  Imperative  sind  somit, 
ausgespr(x?hcn  oder  unausgesprochen,  hypothetischen  Charakters. 
Diese  Reihe  der  hypothetischen  Imperative  oder  der  teleologischen 
Verhältnisse  von  Zweck  und  Mittel  scheint  sich  nun  ähnlich  in  eine 
endlose  Kette  auszudehnen,  wie  diejenige  der  Kausalität  und  der 
Verhältnisse  von  Ursache  und  Wirkung.  Ich  will  eine  bestimmte 
Handlung  tun,  um  einen  Gegenstand  umzugestalten  oder  zu  ver- 
fertigen, aber  ich  will  diesen  Gegenstand  nur  haben,  um  mit  ihm 
irgendwelche  andere  Funktionen  ausführen  zu  könnon,  und  ich  will 
diese  Funktionen  wieder  ausführen,  um  dies  und  jenes  andere 
herbeizuführen,  und  so  fort.  In  dieser  Weise  hängt  jener  erste 
hypothetische  Imperativ  als  Schlußglied  an  einer  langen  Kette 
von  teleologischen  Beziehungen.  Aber  dieser  ganze  Prozeß  ist 
nur  dadurch  möglich,  daß  es  einen  letzten  Zweck  gibt,  der  selbst 
nicht  mehr  Mittel  für  einen  höheren,  sondern  vielmehr  der  be- 
stimmende Grund  für  die  ganze  teleologische  Reihe  ist.  Während 
die  kausalen  Ketten,  diejenigen  der  Erkenntnis,  kein  Anfangs- 
und kein  Endglied  haben,  sind  die  teleologischen  Reihen,  die- 
jenigen des  Willens,  durch  den  unbedingten  oder  absoluten 
Zweck  geschlossen.  Ein  solches  Schlußgiied  des  teleologischen 
Prozesses  bietet  der  natürliche  Mechanismus  der  Motivation  in 
dem  Glückseligkeitstriebe  dar,  welcher  für  den  bloß  natürlichen 
Menschen  den  höchsten  und  letzten  Zweck  aller  seiner  Hand- 
lungen ausmacht.  Aber  das  Glückseligkeitsstreben  ist  ein  Natur- 
gesetz. Es  braucht  nicht  als  ein  höchster  und  abschließender 
Imperativ  ausgesprochen  zu  werden,  sondern  es  regelt  \äelmehr 
das  ganze  System  des  natürlichen  Triebmechanismus  von  selbst. 
Die  sittUche  Gesetzgebung  wäre  daher  von  einer  naturgesetzlichen 
Notwendigkeit  bedingt,  wenn  die  Glückseli2;keit  der  absolute  Zw^eck 


120  Kants  praktische  Philosophie. 

wäre,  um  dessen  willen  sie  alle  ihre  einzelnen  Imperative  auf- 
stellte. Soll  es  also  in  der  sittlichen  Gesetzgebung  einen  höchsten 
Zweck  geben,  um  dessen  willen  alle  übrigen  einzelnen  Gesetze 
da  sind,  so  muß  dieser  an  das  Pflichtbewußtsein  ein  Verlangen 
stellen,  das  dem  menschlichen  Willen  nicht  schon  durch  den 
natürlichen  Mechanismus  eingepflanzt  ist.  Jeder  hypothetische 
Imperativ  appelliert  an  ein  schon  bestehendes  Wollen,  dem  er 
die  Mittel  zu  seiner  Befriedigung  empfiehlt:  die  sittliche  Pflicht 
aber  ist  das  kategorische  Verlangen  eines  Wollens  ohne  jede 
Rücksicht  auFdas  schon  bestehende. 

Nun  beruht  aber  das  Hypothetische  in  den  Imperativen  stets 
darin,  daß  sie  ihre  Vorschrift  von  einem  bestimmten  inhaltlichen 
Zweck  abhängig  machen.  Sollte  daher  das  oberste  Prinzip  der 
Sittenlehre  einen  bestimmten  besonderen  Inhalt  fordern,  so  wäre 
es  von  diesem  abhängig  und  entspräche  nicht  mehr  dem  Begriffe 
eines  absoluten  Zweckes.  Ein  Imperativ,  der  kategorisch,  d.  h. 
ohne  jede  Bedingung  gelten  soll,  kann  also  niemals  eine  einzelne 
bestimmte  Handlung  verlangen,  sondern  nur  eine  foimiale  Be- 
stinmiung  enthalten,  deren  Anwendung  auf  den  einzelnen  Inhalt 
dann  durch  die  besonderen  Verhältnisse  der  Erfahrung  bedingt 
wird.  Das  oberste,  nicht  erfahrungsmäßige,  das  apriorische  Gesetz 
der  Sittlichkeit  kann  deshalb  nur  das  Gesetz  der  Gesetz- 
mäßigkeit sein.  Der  kategorische  Imperativ  verlangt  nichts 
anderes,  als  daß  die  Maxime,  aus  welcher  eine  Handlung  hervor- 
geht, derartig  sei,  daß  sie  ein  allgemeingültiges  und  notwendiges 
Gesetz  für  alle  vernünftigen  Wesen  bilden  kann.  Deshalb  for- 
muliert Kant  den  kategorischen  Imperativ  dahin:  Handle  so,  als 
ob  die  Maxime  deiner  Handlung  durch  deinen  Willen  zum  all- 
gemeinen Naturgesetz  werden  sollte. 

Man  hat  wohl  gemeint,  dieser  ganze  Apparat  von  Begriffs- 
entwicklungen bei  Kant  führe  doch  schließlich  im  Grunde  ge- 
nommen auf  die  triviale  Formel  hinaus:  was  du  nicht  willst,  das 
man  dir  tu*,  das  füg'  auch  keinem  andern  zu.  Nim  würde  es 
nicht  einmal  ein  Vorwurf  sein,  wenn  es  wirklich  so  wäre,  daß 
die  wissenschaftliche  Untersuchung  als  das  Fundamentalprinzip 
der  Ethik  einen  Satz  begründete,  der  dem  allgemeinen  sittlichen 
Bewußtsein  als  der  bestimmende  von  vornherein  einleuchtete. 
Allein  ganz  so  ist  die  Sache  doch  nicht,  sowenig  sich  anderseits 


KRtpporinclior  imperativ.  121 

Icu^iUMi  läßt,  claÜ  Kants  Darstollun;^  für  (Miie  hoIcIic  I)(*utiiii^ 
den  breitesten  Spielraum  f^e^^^ebcn  hat.  Fraj^t  man  nämlich,  auH 
welchen  Gesichtspunkten  denn  luin  beurteilt  werden  kann  oder 
soll,  welche  Maximen  siel»  zu  allf^emeinen  Naturgesetzen  ei^ien 
würden  und  welche  nicht,  so  behauptet  Kant  von  den  strengeren, 
>ninnachläßlichen«  Pflichten,  es  seien  solche,  bei  denen  die  gegen- 
teilige Maxime  als  Natm'gesetz  nicht  einmal  gedacht  werden 
könnte,  so  daß  den  misittlichen  Grundsätzen  die  Fähigkeit,  all- 
gemeines Gesetz  zu  werden,  schon  aus  rein  logischen  mid  theo- 
retischen Gründen  abgesprochen  werden  müsse.  Hieraus  geht 
hervor,  daß  Kant  jene  Deutung  gerade  für  die  wichtigsten  sitt- 
lichen Maximen  nicht  im  Au<^c  hatte.  Allein  schon  hiasichtlich 
des  Egoismus  z.  B.  kann  es  nicht  zweifelhaft  sein,  daß  die  Tat- 
sachen geradezu  beweisen,  wie  diese  unsittliche  Maxime  als  all- 
gemeines Naturgesetz ,' was  sie  ja  in  der  Tat  ist ,A  den  Bestand 
der  organischen  Welt  iiicht  nur  nicht  gefährdet,  sondern  sogar 
in  ihrer  empirischen  Gestalt  erst  mögHch  macht.  Deshalb  sieht 
sich  Kant  genötigt,  hinzuzufügen,  daß  es  Maximen  gibt,  bei  denen 
es  theoretisch  keinen  Widerspruch  involviere,  sie  als  Naturgesetze 
zu  denken,  bei  denen  man  aber  nicht  wollen  könne,  daß  sie 
es  seien.  Das  ist  nun  freihch  sehr  bedenklich:  denn  der  Grund 
des  »Nicht  wollen  Könnens«  ist  doch  in  diesem  Falle  entweder 
ein  sittlicher  —  und  dann  bewegt  sich  die  ganze  Erklärimg  im 
Kreise  —  oder  durch  ein  Interesse  bestimmt  —  und  dann  liegt 
die  Entscheidung  ja  doch  wieder  bei  dem  von  Kant  so  lebhaft 
verworfenen  GlückseUgkeitsbestreben.  Dem  letzteren  Widerspruche 
mit  sich  selbst  ist  er  sogar  in  seinen  Beispielen  zweifellos  zum 
Teil  verfallen.  Aber  die  große  Schwierigkeit  der  Sache  liegt  in 
folgendem:  so  tief  und  groß  der  Kantische  Grundgedanke  ist, 
als  das  absolute  und  oberste  Prinzip  der  Moral  den  kategorischen 
Imperativ  in  der  Form  des  Gesetzes  der  Gesetzmäßigkeit  auf- 
zustellen, so  völlig  unmöglich  ist  es  auf  der  anderen  Seite,  aus 
dieser  rein  formalen  Bestimmung  irgend  eine  empirische  Maxime 
abzuleiten   oder  auch   nur  sie  darunter  zu   subsumieren*).     Das 


♦)  Diese  Andeutung  hat  Kant  in  dem  Abschnitt  der  Kritik  der  prak- 
tischen Vernunft  gegeben,  welcher  von  der  Typik  der  reinen  praktischen 
Urteilskraft  handelt,  indem  er  hier  die  Frage  nach  der  Möglichkeit,  konkrete 
Bestimmungen    unter    die    Anforderung    des    kategorischen    Imperativs    zu 


122  Kants  praktische  Philosophie. 

letztere  gelang  dem  Philosophen  nur  durch  eine  sich  schon  m- 
^altlich  gestaltende  Umformung,  nicht  durch  die  rein  formale 
Fassung  des  kategorischen  Imperativs. 

Prinzipiell  jedoch  benutzt  Kant  gerade  diese  rein  formale 
Fassung  des  kategorischen  Imperativs,  um  seine  Aufstellung  des 
Sittengesetzes  gegen  alle  früheren  energisch  abzugrenzen.  Sobald 
man  die  sittlichen  Handlungen  von  der  Erfüllung  eines  sachlichen 
Zweckes  in  letzter  Instanz  abhängig  macht,  so  betrachtet  man 
die  sittliche  Tätigkeit  als  ein  Mittel  für  diesen  Zweck  und  setzt 
somit  den  kategorischen  zu  einem  hypothetischen  Imperativ  herab. 
Unter  solchen  materialen  Prinzipien  der  ethischen  Gesetzgebung 
sind  neben  anderen  hauptsächlich  zwei  von  wesentlicher  Be- 
deutung, weil  sie  den  größten  Teil  der  in  der  Philosophie  auf- 
gestellten Moralprinzipien  bestimmt  haben:  die  Glückseligkeit  und 
der  göttliche  Wille.  Der  Eudämonismus  betrachtet  die  sittliche 
Handlungsweise  als  das  einzige  oder  das  beste  Mittel,  um  die 
Glückseligkeit,  wenn  er  roh  verfährt,  des  Einzelnen,  wenn  er  ver- 
feinert erscheint,  der  menschlichen  Gesellschaft  herbeizuführen: 
er  ist  also  nur  eine  Klugheitslehre,  die  zeigen  soll,  wie  man  am 
besten  und  sichersten  glücklich  wird;  namentlich  wird  er  dazu 
in  der  gesellschaftlichen  Form,  indem  er  dann  darauf  hinausläuft, 
darzutun,  daß  nach  den  Bestimmungen,  welche  die  Gesamtheit 
nun  einmal  in  Sitte  und  Recht  von  ihren  Gemeininteressen  aus 
getroffen  hat,  das  Individuum  am  klügsten  tut,  sich  in  diese 
Lebensformen  zu  fügen.  Damit  geht  erstens  die  eigentliche  Würde 
und  Selbständigkeit  der  moralischen  Handlung  verloren,  indem 
sie  einem  fremden  Zwecke  dienen  soll;  zweitens  aber  enthält 
dieser  Eudämonismus  einen  inneren  Widerspruch.  Eine  un- 
befangene Prüfung  der  Tatsachen  lehrt,  daß  die  moralischen 
Handlungen,  weit  davon  entfernt,  die  empirische  Glückseligkeit 
zu  ihrer  notwendigen  Folge  zu  haben,  ihr  vielmehr  häufig  ent- 
gegenstehen. Für  das  Individuum  wenigstens  ist  die  Moralität 
unter  allen  Mitteln  zur  Herbeiführung  der  Glückseligkeit  das  un- 


subsumieren,  aufwirft  und  das  Naturgesetz  als  den  Typus  des  Sittengesetzes  in 
demselben  Sinne  bezeichnet,  wie  in  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  die  Zeit 
als  Schema  für  die  Subsumtion  der  Erscheinungen  unter  Kategorien  figurierte, 
—  mit  dem  Unterschiede  nur,  daß  die  Anwendung  dieses  Typus  noch  Wel 
vager  und  unsicherer  ist  als  die  jenes  Schemas. 


Autonomio.  12.'{ 

sit'horstc.  Iliitle  clio  Natur  uns  zur  (i!liickHcli<^keif-  bestimmt,  so 
hätte  sie  nichts  Törichteres  tun  können,  als  neben  den  Trieben 
des  E«;{)ismu8  uns  dies  Bewußtsein  einer  morulischen  Pflicht  ein- 
zupflanzen, das  jenen  immer  im^  Wej^e  steht.  Aus  dem  üliick- 
eeligkeitsstreben  läßt  sich  das  ethische  Leben  daher  niemals 
deduzieren./  Wenn  auf  der  anderen  Seite  die  (iültit^keit  der 
moralischen  Gesetze  aus  einer  «^^öttlichen  Gesetzgebun«^  abgeleitet 
werden  soll,  so  heißt  dies,  das  sittliche  Leben  des  Menschen  einem 
fremden  Willen  unterwerfen.  Die  Unterwerfung  unter  einen 
fremden  Willen  aber  kann  entweder  aus  den  psychologischen 
Triebfedern  der  Fiu-cht  und  der  Hoffnung,  welche  die  Vorstellung 
von  der  Mächtigkeit  dieses  fremden  Willens  mit  sich  bringt,  oder 
aus  der  Überzeugung  von  der  sittlichen  Güte  dieses  Willens 
hervorgehen.  Ist  das  erstere,  wie  bei  dieser  Begründung  der 
Moral  wohl  in  der  Mehrzahl  der  Fälle,  gemeint,  so  wird  die 
moraüsche  Tätiüjkeit  wiederum  als  ein  Mittel  für  ein  wenn  auch 
noch  so  verfeinertes  und  aus  dem  irdischen  in  das  jenseitige  Leben 
übertragenes  Glückseligkeitsbestreben  angesehen,  und  so  fällt  diese 
Form  des  Eudämonismus  imter  dessen  allgemeine  Kritik.  Soll 
aber  der  götthche  Wille  deshalb  befolgt  werden,  weü  man  von 
seiner  sittlichen  Güte  und  Vollkommenheit  überzeugt  ist,  so  kann 
diese  Überzeugung  nur  darauf  beruhen,  daß  der  Inhalt  des  gött- 
lichen W^ülens  vom  Standpunkte  des  sittlichen  Bewußtseins  als 
diesem  durchaus  konform  erkannt  worden  ist.  In  diesem  Falle 
liegt  also  das  letzte  Beurteilmigsprinzip  doch  in  dem  sittlichen 
Bewußtsein  selbst,  und  die  theologische  Begründung  ist  nui"  eine 
scheinbare. 

Der  kategorische  Imperativ  enthält  daher  in  seiner  bloß  for- 
malen Bestimmung  und  in  seiner  ausdrücklichen  Unabhängigkeit 
von  allen  inhaltlichen  Zwecken  der  Willensentscheidung  doch  die 
sehr  wesentliche  Bedeutung,  daß  von  dem  sittlichen  Willen  die 
Befolgung  nur  solcher  Gesetze,  aber  dieser  auch  unbedingt  ver- 
langt wird,  welche  er  sich  selbst  gegeben  hat.  In  diesem  Sinne 
bezeichnet  Kant  den  Grundbegriff  seiner  Moralphilosophie  als  den- 
jenigen der _Autonomie.  Sittlich  gut  ist  der  Wille,  der  das 
selbstgegebene  Gesetz  befolgt.  Die  praktische  Überzeugungstreue 
ist  der  tiefste  Gehalt  des  moralischen  Lebens.  Der  reine  Wille, 
d.  h.   der   allgemeine   und   notwendige  Wille  oder  die  "praktische 


124  Kants  praktische  Philosophie. 

Vernunft  des  Menschen  kann  sich  kein  anderes  Gesetz  als  das 
sittliche  geben;  aber  der  empirische  Wille,  der  wechselnde  Wille 
des  einzelnen  vermag  diese  Gesetze  zu  überschreiten,  weil  er  durch 
anderes  als  durch  sich  selbst,  weil  er  durch  die  sinnlichen  Triebe 
bestimmt  ist.  Jeder  Versuch  deshalb,  die  sittliche  Handlungsweise 
in  den  Dienst  eines  anderen  Zweckes  zu  stellen,  zieht  die  Sitt- 
lichkeit auf  den  Standpunkt  der  Heteronomie  herab.  Mag  es  die 
individuelle  oder  die  allgemeine  Glücksehgkeit,  mag  es  irgend  ein 
empirisches  Gefühl,  mag  es  ein  göttliches  Gebot  oder  ein  meta- 
physischer Begriff  der  Vollkommenheit  sein,  was  man  als  Be- 
stimimungsgrund  für  das  sittliche  Handeln  angibt,  —  immer 
wird  dadurch  das  sittliche  Leben  zu  einem  Mittel  herabgesetzt 
und  hört  auf,  in  sich  selbst  einen  absoluten,  notwendigen  und 
allgemeingültigen  Zweck  zu  bilden. 

Jede  heteronomische  Begründung  widerspricht  nach  Kant  der 
.Würde  des  moralischen  Lebens.  Alles,  was  einem  anderen  Zwecke 
dient,  hat  in  der  Welt  der  Zwecke  nur  einen  Preis.  Würde  da- 
gegen kommt  allein  demjenigen  zu,  was  an  und  für  sich  ein 
Zweck  und  um  dessen  allein  willen  das  übrige  da  ist.  Diese 
Würde  gebührt  im  ersten  und  eigentlichsten  Sinne  des  Wortes 
nur  dem  Sittengesetz  selbst.  Aber  indem  das  Individuum  dieses 
Sittengesetz  sich  selber  gibt,  indem  es  aus  Achtung  vor  diesem 
Gesetz  ohne  alle  Interessen  seiner  Neigung  in  pflichtmäßiger 
Gesinnung  dies  Gesetz  befolgt  und  sich  so  mit  ihm  identifiziert, 
teilt  sich  ihm  jene  Würde  des  Sittengesetzes  mit,  und  in  der 
Welt  der  Erscheinungen  ist  deshalb  die  menschliche  Person,  als 
ein  vernünftiges,  zwecksetzendes  und  sich  selbst  Gesetze  gebendes 
Wesen  der  einzige,  absolute  Selbstzweck,  der  die  Bedingung 
für  die  Geltung  aller  relativen  Zwecke  enthält,  und  dem  gegen- 
über alle  übrigen  Erscheinungen ^Sacheri^  sind.  Mit  dieser  Über- 
legung geht  der  kategorische  Imperativ  aus  der  rein  formalen  in 
eine  inhaltliche  Bestimmung  über,  und  das  Gesetz  der  Gesetz- 
mäßigkeit verwandelt  sich  in  das  Gesetz  von  der  Wahrung 
der  Menschenwürde.  Alle  Sachen  können  als  Mittel  zum  Zweck, 
aber  eine  Person  darf  niemals  nur  als  Mittel  gebraucht,  sondern 
muß  stets  in  ihrer  absoluten  Würde  geachtet  werden,  und  so 
lautet  das  oberste  Prinzip  des  Sittengesetzes:  Handle  so,  daß  du 
die  Würde   der  Menschheit  sowohl  in  deiner  Person  als  auch  in 


Freiheit.  125 

der  rci-SDii  jedos  uiidcron  jodcizrit  arlitcst  und  die  Person  iininoi- 
zugleich  als  Zwetk,  nie   bloß  uLs  iMittel  gebrauclist. 

Der  Beuriff  dci\Autonümio  iat  also  in  ganz  ähnlicher  Weiße 
der  Schlüssel  für  die  Erkenntnis  des  praktischen  Lebens  wie  die 
Kategorien  für  diejenige  des  theoretischen.  Wie  es  apriorische 
Erkenntnis  der  Natur  nur  dadurch  gibt,  daß  ihre  Gesetze  vom 
Verstände  als  seine  eigenen  Funktionsformen  erzeugt  werden,  so 
ist  ein  allgemeingültiges  und  notwendiges  Sittengesetz  nur  dadurch 
möglii'h,  daß  der  reine  Wille  sich  selbst  das  Gesetz  gibt.  Sowenig 
von  einer  gegebenen  Natur  apriorische  Erkenntnis,  sowenig  ist 
wahre  Sittlichkeit  unter  einem  nur  empfangenen  Gesetze  möglich. 
Die  Kriterien  der  theoretischen  und  der  praktischen  Kritik  sind 
genau  parallele  Gedanken.  Allein  während  die  Berechtigung  einer 
apriorischen  Erkenntnis  durch  die  Kategorien  sich  darauf  zurück- 
führen ließ,  daß  ihre  die  Erfahrung  produzierende  Funktion  in 
der  Erfahrung  selbst  nachgewiesen  wurde,  muß  die  Kritik  der 
praktischen  Vernunft  einen  anderen  Weg  einschlagen. 

Allgemeingültigkeit  und  Notwendigkeit  der  synthetischen  Ur- 
teile a  priori,  welche  die  praktische  Vernunft  als  sittliche  Gesetze 
aufstellt,  ist  nur  denkbar  unter  Voraussetzung  der  Autonomie. 
Ein  Wille  aber,  der  lediglich  sich  selbst  das  Gesetz  gibt  und  von 
diesem  aus  die  Handlung  mit  allen  ihren  Folgen  bestimmt,  ist 
ein  Akt,  welcher  zwar  als  Ursache  eine  unabsehbare  Reihe  von 
Wirkungen  hat,  welcher  aber  selbst  nicht  mehr  nach  dem  natur- 
gesetzlichen Prinzip  als  die  Wirkung  einer  Ursache  angesehen 
werden  kann.  Eine  solche  Funktion  nennt  Kant  Kausalität 
durch  Freiheit.  Der  autonome  Wille  ist  derjenige,  welcher 
nicht  durch  einen  empirischen  Triebinhalt,  sondern  ledighch 
durch  das  Vernunftgesetz  bestimmt  ist:  ein  solcher  ist  innerhalb 
der  Kausalkette  der  Erscheinungen  nicht  möglich,  er  ist  vielmehr 
das  Vermögen,  eine  Kausalreihe  von  vom  anzufangen.  Autonomie 
also  gibt  es  nur,  insoweit  es  einen  dem  Kausalnexus  der  Er- 
scheinungen nicht  unterworfenen  freien  Willen  gibt.  Die  Freiheit 
ist  also  das  letzte  Prinzip,  auf  welches  die  Analyse  des  sittlichen 
Lebens  hinausläuft,  und  das  Ergebnis  dieser  Untersuchungen  ist 
dahin  zusammenzufassen,  daß  es  allgemeingültige  und  notwendige 
Sittlichkeit  nur  unter  der  Bedingung  der  Freiheit  gibt.  Nach  dem 
Prinzip  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  würde  nun  die  menschliche 


226  Kants  praktische  Philosophie. 

Willenstätigkeit  daraufhin  untersucht  werden  müssen,  ob  es  in 
ihr  Freiheit  gibt.  Allein  diese  Untersuchung  ist  nicht  möglich, 
und  in  sie  darf  deshalb  gar  nicht  erst  eingetreten  werden.  Denn 
die  Kritik  der  reinen  Vernunft  hat  nachgewiesen,  daß  in  der  Er- 
fahrung und  ihrer  theoretischen  Erkenntnis  niemals  Freiheit  ge- 
funden werden  kann.  Alle  Erscheinungen  sind  unbedingt  dem 
Grundsatze  der  Kausalität  in  der  Weise  unterworfen,  wie  es  die 
zweite  »Analogie  der  Erfahrung«  ausgesprochen  hat,  d.  h.  daß  jede 
Erscheinung  durch  eine  andere  Erscheinung  bedingt  ist.  So  ist 
durch  die  Kritik  der  reinen  Vernunft  festgestellt  worden,  daß 
nach  der  Bedingung  des  sittlichen  Lebens  nicht  wie  nach  den- 
jenigen des  theoretischen  Jn  der  Erfahrung  selbst  gesucht  werden 
kann.  Raum,  Zeit  und  die  Kategorien  sind  in  der  Erfahrung 
selbst  anzutreffen,  denn  sie  bilden  deren  konstituierende  Formen, 
und  die  Transzendentalphilosophie  ist  in  diesem  Falle  nur  die 
Reflexion  auf  Tätigkeiten,  aus  denen  das  Wesen  der  Erfahrung 
selbst  besteht.  Freiheit  aber  ist  in  der  Erfahrung  niemals  an- 
zutreffen. Sollte  deshalb  die  Entscheidung  der  Frage,  ob  die 
Apriorität,  auf  welche  das  Sittengesetz  Anspruch  erhebt,  berechtigt 
sei,  durch  eine  theoretische  Erkenntnis,  wie  es  bei  den  parallelen 
Untersuchungen  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  der  Fall  war, 
gewonnen  werden,  so  müßte  dieser  Anspruch  gerade  so  wie  der- 
jenige der  Metaphysik  zurückgewiesen  werden.  Denn  sowenig  wie 
die'^intellektuelle  Anschauung^"  ist  die^Freiheit  in  dem  erfahrungs- 
mäßigen Bestände  des  menschlichen  Geistes  aufzufinden.  Allein 
schon  die  Kritik  der  reinen  Vernunft  verhielt  sich  doch  beiden 
Begriffen  gegenüber  nicht  ganz  gleichmäßig.  Bei  dem  einen  ergibt 
sich  aus  der  Tatsache  unserer  sinnlichen  Anschauungsweise,  daß 
wir  Menschen  eine  intellektuelle  nicht  haben  können.  Bei  der 
Freiheit  dagegen  wurde  in  der  dritten  Antinomie  die  Möglichkeit 
gewonnen,  daß  der  naturnotwendige  Ablauf  der  Willensent- 
scheidungen, den  die  Erfahrung  zeigt  oder  postulieren  muß, 
nur  die  "^Erscheinung?  eines  intelligiblen  Charakters  sei,  dem 
die  Kausalität  durch  Freiheit  ohne  Widerspruch  als  Merkmal 
zugesprochen  werden  könne.  So  gibt  die  Kritik  der  reinen  Ver- 
nunft die  Jlöglichkeit  der  Freiheit*  für  den  Menschen  als  jntelli- 
gibles  Wesen  zu,  während  sie  diejenige  einer "^ intellektuellen  An- 
schauung für  die  Erkenntnistätigkeit  des  Menschen  ablehnen  muß. 


Der  Olaube  a  priori.  127 

Allcnlin^s  deck«'!!  sich  dcv  koöinolo^Mschc  Freiheitsbc^^rifl  (Irr  tnm- 
yzciKleiitalcii  Dialektik  und  der  et  bische  Freiheitshegriff  der  Kritik 
der  praktischen  Vernunft  nicht  volLständiL! :  jener  bedeutet  den 
inteUigibhui  Charakter,  dem  als  Erscheinung  der  empirische  Mensch 
entspricht  —  dieser  besagt  eine  Fähigkeit  des  Willens,  sich  mit 
Ausschluß  aller  empirischen  Motive  lediglich  durch  das  Sitten- 
gesetz selbst  zu  bestimmen.  Allein  das  gemeinsame  Moment  beider 
Begriffe  liegt  in  der  übersinnlichen  Realität  der  Persönlichkeit: 
sie  wird  theoretisch  als  möglich  erwiesen,  um  dann  praktisch  als 
notwendig  behauptet  zu  werden. 

Die  Kritik  der  praktischen  Vernunft  stützt  sich  also  aus- 
drücklich auf  diejenige  der  theoretischen,  indem  sie  es  als  von 
dieser  erwiesen  ansieht,  daß  über  die  Realität  der^Freiheit,  welche 
als  die  Bedingung  des  sittlichen  Lebens  deduziert  worden  ist,  die 
auf  Erfahrimg  beschränkte  Erkenntnis  nicht  zu  urteilen,  d.  h. 
sie  nicht  zu  bejahen  und  nur  für  den  Umkreis  der  Erscheinungs- 
welt zu  verneinen  imstande  ist.  Damit  ist  innerhalb  der  tran- 
szendentalen Methode  der  Gesichtspunkt  gewonnen,  daß  über  die 
Berechtigung  der  Apriorität,  welche  das  Sittenge ^etz  beansprucht, 
die  theoretische  Erkenntnis  nicht  absprechen  darf,  imd  daß  jeder 
Versuch,  auf  einem  solchen  Wege  diese  Berechtigung  zu  begründen 
ebenso  verfehlt  ist  wie  derjenige,  sie  zu  bestreiten.  Die  prak- 
tische Überzeugung  ist  also  von  dem  theoretischen  Wissen  voll-  / 
ständig  unabhängig;  sie  kann  von  ihm  weder  Unterstützung  hoffen  ^ 
noch  Bestreitung  befürchten.  Hier  gibt  Kant  jener  Scheidung 
der  Moral  von  der  Metaphysik,  welche  vor  ihm  stets  in  der  Weise 
aufgetreten  war,  daß  man  dem  Wissen  gegenüber  das  empirische 
Gefühl  betonte,  eine  Vertiefung  bis  in  die  innerste  Analyse  der 
menschlichen  Vernunft.  Nicht  das  vage  Gefühl  des  einzelnen, 
sondern  die  das  gesamte  menschliche  Leben  erfüllende  und  zu- 
sammenhaltende Überzeugung  von  einer  absolut  verbindenden  Würde 
der  sittUchen  Gesetzgebung  stellt  er  den  metaphysischen  Speku- 
lationen und  der  empirischen  Erkenntnis  gleichmäßig  gegenüber. 
Wenn  sich  gezeigt  hat,  daß  diese  notwendige  und  allgemeingültige 
Überzeugung  vom  Wissen  weder  Bestätigung  noch  Widerlegung  zu 
erwarten  hat,  so  ergibt  sich  für  sie,  daß  sie  lediglich  durch  sich 
selbst  besteht,  und  daß  ihre  Apriorität  niemals  theoretisch  bewiesen, 
aber  auch  niemals  theoretisch  angegriffen,    daß  sie  nur^  geglaubt 


128  Kants  praktische  Philosophie. 

werden  kann,  aber  auch  geglaubt  werden  soll.  Niemand  ist  ein 
sittlicher  Mensch,  der  nicht  von  der  absoluten  Allgemeingültigkeit 
und  Notwendigkeit  einer  sittlichen  Verpflichtung,  mag  sie  in  ihrem 
besonderen  Inhalte  noch  so  sehr  empirisch  bedingt  sein,  der  nicht 
von  der  Apriorität  des  kategorischen  Imperativs  überzeugt  ist, 
und  diese  Überzeugung  ist  ein  integrierender  Bestandteil  der  mensch- 
lichen Vernunft:  sie  ist  der  absolute  Grundsatz  der  reinen  prak- 
tischen Vernunft.  Es  ist  vergebens,  die  Berechtigung  dieser 
sittlichen  Überzeugung  theoretisch  erweisen,  vergebens,  sie  unter- 
graben zu  wollen.  Sie  ist  da  als  die  absolute  Tatsache  des  sitt- 
lichen Bewußtseins,  und  an  ihre  Realität  zu  glauben  ist  eine  all- 
gemeine Notwendigkeit  der  menschlichen  Vernunft.  Wie  es  sich  in  der 
Kritik  der  reinen  Vernunft  um  die  Auf v\^eisung  eines  allgemeinen 
und  notwendigen  Wissens  handelt,  so  in  der  Kritik  der  praktischen 
Vernunft  um  diejenige  eines  allgemeinen  und  notwendigen 
Glaubens.  Dieser  aber  kann  seinem  Begriffe  nach  nicht  auf  ein 
Wissen  gestützt,  sondern  nur  aufgedeckt  und  aus  den  wechselnden 
Verhüllungen  seiner  empirischen  Gestaltung  herausgeschält  werden. 
Ist  nun  der  zentrale  Inhalt  dieses  sittlichen  Glaubens  die 
apriorische  Geltung  des  Sittengesetzes,  so  muß  er  sich  auf  alle 
diejenigen  Bedingungen  erstrecken,  unter  denen  das  letztere  allein 
möglich  ist.  Der  praktische  Glaube  realisiert  danach  alle  die- 
jenigen Ideen,  welche  als  Bedingungen  des  sittlichen  Lebens 
deduziert  werden  können.  Aber  diese  Reahsation  geschieht  nicht 
in  der  Form  des  Wissens,  sondern  in  derjenigen  des  Glaubens. 
Wenn  daher  Kant  auf  diesem  Grunde  eine  ethische  Meta- 
physik des  Übersinnlichen  aufbaut,  so  darf  man  diesen 
»moralischen  Beweis«  niemals  als  einen  Beweis  im  theoretischen 
Sinne  auffassen.  Man  hat  Kant  sehr  bald  so  mißverstanden,  als 
ob  die  Grundzüge  dieses  Teils  seiner  Lehre  etwa  folgende  wären: 
das  sittliche  Leben  ist  eine  Tatsache,  diese  Tatsache  ist  nur 
möglich  unter  den  Bedingungen  der  Freiheit  und  der  übersinn- 
lichen Welt,  folglich  ist  erwiesen,  daß  auch  die  Freiheit  und  die 
übersinnliche  Welt  existieren.  Ein  solcher  »Beweis«  Uefe  allen 
Grundsätzen  der  Transzendentalphilosophie  und  dem  Resultat  der 
Kritik  der  reinen  Vernunft  strikte  zuwider,  und  wer  ihn  der 
Kantischen  Lehre  imputiert,  der  kann  sich  nicht  wundern,  wenn 
er   in   ihr   nur   einen   großen  Widerspruch  zu  erblicken   vermag. 


Dio  l'ostulate.  129 

In  Wahilioit  i.st  Kants  Ai<;unH'ntation  eine  solche  ad  homincm, 
und  sie  spricht:  du  {glaubst  an  dio  Notwendigkeit  und  All<^'cmcin- 
j^ültigkeit  des  Sittcn^esetzes,  du  mußt  also  auch  an  alle  Be- 
din«j;un«^en  glauben,  unter  denen  «diese  allein  möglich  ist.  Diese 
IkHÜngungen  sind  die  Freiheit  und  die  übersinnliche  Welt:  folglich 
mußt  du,  sofern  nicht  deine  ganze  sittliche  Überzeugung  hinfällig 
werden  soll,  notwendig  auch  an  die  Realität  der  Freiheit  und  der 
übersinnlichen  Welt  glauben.  Deshalb  nennt  Kant  die  Ideen,  auf 
welche  sich  die  Wirksamkeit  des  praktischen  Glaubens  erstrecken 
muß,  die  Postulate  der  reinen  praktischen  Vernunft. 
In  diesem  Sinne  gilt  es,  was  Schiller  gesagt  hat,  daß  diese  Lehre 
dem  Menschen,  was  sich  nicht  beweisen  läßt,  »ins  Grewisseii_ 
hineinschiebt  <<. 

Hier  erscheinen  nun  in  der  praktischen  Philosophie  jene  Ideen 
wieder,  welche  die  theoretische  nur  als  die  höchsten,  für  die 
Erkenntnis  unerfüllbaren  Aufgaben  des  Denkens  ansehen  durfte, 
und  so  erklärt  es  sich,  daß  diese  Aufgaben  dort  nicht  sowohl  in 
theoretischen  als  in  praktischen  Motiven  ihre  Wurzeln  haben. 
Aber  sie  erscheinen  in  etwas  veränderter  Reihenfolge  und  Ge- 
stalt. Denn  den  Ausgangspunkt  dieser  Metaphysik  des  sitt- 
lichen Glaubens  muß  die  Idee  der  Freiheit  bilden,  auf  welche 
die  Analyse  des  sittlichen  Bewußtseins  als  auf  ihre  Grundlage 
hingeführt  hatte.  Sofern  wir  an  der  Notwendigkeit  und  All- 
gemeingültigkeit  einer  sittlichen  Verpflichtung  festhalten  wollen, 
müssen  wir  glauben,  daß  unser  Wille  imstande  ist,  sich  selbst 
Gesetze  zu  geben  und  danach  seine  Handlungen  zu  bestimmen, 
d.  h.  daß  er  frei  ist.  Sonst  wiu:de  wohl  vor  Kant  der  Versuch 
gemacht,  theoretisch  zu  beweisen,  daß  es  Willensfreiheit  gibt,  und 
daraus  die  sittliche  Gesetzgebung  abzuleiten,  also  das  Sollen  durch 
das  Können  zu  begründen.  Kants  praktischer  Glaube  geht  den 
umgekehrten  Weg.  Er  geht  von  der  kategorischen,  undiskutier- 
baren  tlberzeugung  des  Sollens  aus  und  gewinnt  aus  ihr  die  sitt- 
liche Gewißheit  des  Könnens.  Für  ihn  gilt  der  praktische  Satz: 
»du  kannst,  denn  du  sollst«. 

Die  Glaubensoewißheit  von  der  Freiheit  hat  aber  ihre  wesent- 
liebste  Bedeutung  gerade  darin,  daß  sie  zugleich  die  Gewißheit 
von  der  Realität  einer  übersinnlichen  Welt  von  Dingen 
an  sich  enthält.     Denn  da  Freiheit  in  dem  Q;esämten  Umkreise 

o 
Windeltand,  Gesch.  ä.  n,  Philos.    H.  9 


130  Kants  praktische  Philosophie. 

der  Sinnenwelt  nicht  angetroffen  werden  kann,  so  muß  sie  einer 
übersinnlichen  Welt  angehören.  Da  alle  Erscheinungen  dem  Gesetz 
der  Kausalität  unterworfen  sind,  so  ist  Freiheit  nur  bei  denlDingen 
an  sich,  zu  suchen.  Unsere  Überzeugung  also  davon,  daß 
unser  Wille  frei  ist,  realisiert  den  für  die  theoretische 
Philosophie  nur  problematischen  Begriff  der^Dinge  an 
sich/  Unser  sittliches  Bewußtsein  zwingt  uns  zu  glauben,  daß 
es  neben  unserer  Erfahrungswelt  noch  jene  andere  Welt  gibt, 
welche  die  Erkenntnis  nur  als  möglich  ansetzen  konnte,  und 
rechtfertigt  es,  daß  unsere  Vorstellungswelt  das  Reich  der  Er- 
scheinungen genannt  wurde.  Im  moralischen  Glauben  müssen  wir 
daran  festhalten,  daß  wir  nicht  nur  Erscheinungen  in  der  Sinnen- 
welt, sondern  zugleich  Personen  in  der  inteliigiblen  Welt  sind. 
Unsere  sittliche  Selbsterkenntnis  zeigt  uns,  daß  wir  Doppelwesen 
sind,  und  daß  unser  Leben  sich  auf  der  Grenze  einer  similichen 
und  einer  übersinnlichen  Welt  bewegt.  Als  Sinnenwesen  sind  wir 
den  Gesetzen  des  Raumes  und  der  Zeit  und  der  Kategorien  imter- 
worfen,  als  intelligible  Wesen  sind  wir  frei  und  geben  uns  selbst 
das  Weltgesetz  der  Pflicht.  Als  empirischer  Charakter  sind  wir 
in  der  gesamten  Entwicklung  unseres  Willenslebens  naturnotwendig 
bedingt;  aber  dieser  empirische  Charakter  ist  lediglich  die  uns 
erkennbare  Erscheinungsform  unseres  inteliigiblen  Charakters, 
der  das  wahre  Wesen  dieser  Erscheinungen  bildet  und  die  Ver- 
antwortung dafür  trägt.  Die  Stimme  dieses  intelHgiblen  Charakters 
wird  im  empirischen  durch  das  Gewissen  laut.  Denn  so  sehr 
unser  Wissen  ims  lehren  mag,  daß  unsere  einzelne  Willensent- 
scheidung nach  unentfliehbaren  Naturgesetzen  erfolgt,  so  sagt  uns 
doch  unser  sittliches  Bewußtsein,  daß  dieser  unser  ganzer  em- 
pirischer Charakter  die  Erscheinung  des  inteliigiblen  ist,  der  ver- 
möge seiner  Freiheit  hätte  anders  sein  können.  Die  Notwendigkeit 
ist  nur  die  dem  Wissen  zugängliche  Erscheinung  unseres  Wesens,  die 
Freiheit  ist  dieses  innere  Wesen  selbst.  So  löst  Kant  die  Anti- 
nomie von  Freiheit  und  Naturnotwendigkeit  durch  den  Phäno- 
menalismus, und  seine  Lehre  vom  inteliigiblen  und  empirischen 
Charakter  ist  eine  tiefsinnige  begriffliche  Formulierung  jenes 
Platonischen  Mythos,  welcher  für  den  notwendigen  Prozeß  der 
Willensentscheidun^en  einen  außerzeitlichen  imd  vorweltlichen  Akt 
der  freien  Wahl  des  Individuums  verantwortlich  machte.    In  der 


Metaphysik  (loa  Übürslnulicbon.  131 

Tat   liegt   beiden    nahe  verwandten   r^ehrcn   das  gemeiasarne  Bc- 
ötieben  zugrunde,    die  wissenschaftliche   Einsicht  in    den   psycho- 
logischen Mechanismus   dea  nieiLschlichen   W  illcuslebeas  mit   dem 
sittlichen  Bewußtsein    der  Verantivortlichkeit  zu  vereinigen.     Bei 
Kant    gelingt   dies,    indem    der  Begriff   der  Freiheit,    welcher    in 
seinem  ethischen  Sinne  die  Bestimmtheit  des  »reinen«  Willens  durch 
die  Form  des  Gesetzen  bedeutet,  zugleich  in  der  Transzendental- 
psycliologie  mit  demSntelligiblen  Charaktet  des  Individuums,  der 
eich  »auch  anders  hätte  entscheiden  können«,  gleichgesetzt  wird. 
Nachdem  so  durcli  den  Glauben  an  das  Sittengesetz  derjenige 
an    die  Freiheit    und  an    die  Realität    einer  übersinnlichen  Welt 
von  Dingen   an   sich    begründet  worden   ist,    meint  Kant,    diese 
praktische   Metaphysik   noch    weiterführen   zu    können.     Aber   er 
benutzt   dazu   ein  Argument,   welches  ihn  über   den  Standpunkt 
seiner  moralphilosophischen  Grundlegung  hinaus  und  teilweise  zu 
früheren  Lehren  zurückführt.    Jene  wunderbare  Verknüpfung  des 
Sinnlichen  mid  des  Übersinnhchen  im  Wesen  des  Menschen  spiegelt 
sich  in     dem  Antagonismus  unseres  natürlichen  und  unseres  sitt- 
lichen Trieblebens.     Jenes   hat  zum  obersten  Prinzip   die  Glück- 
sehgkeit,   dieses  die  Erfüllung  des  Sittengesetzes,  welche  wir  als 
Tugend   bezeichnen.     Aber   die   menschliche    Natur    ist  nur  eine, 
und  diese  Einheit  verlangt  eine  höchste  Synthesis  beider  Seiten 
unseres   Wesens.     Da   aber   nach    dem    Primat    der    praktischen 
Vernunft  diese  Synthesis  nur  in  der  Unterordnung  des  sinnlichen 
unter   das   übersinnliche  Moment    bestehen   kann,    so    ergibt  sich 
daraus  der  synthetische  Satz,  daß  für  unser  sittliches  Bewußtsein 
die  ^ Tugend  '  allein   würdig    ist,    die   Glückseligkeit   zu   erlangen. 
Während  nun  Kant  vorher  den  vollen  Rigorismus  gewahrt  hat,  zu 
lehren,  daß  die  sittliche  Tugend  in  der  bedingungslosen  Unterwerfung 
unter  das  Pflichtgesetz  ohne  jede  Rücksicht  auf  die  Glückseligkeit 
bestehe,  stellte  er  als  den  Begriff  des  höchsten  Gutes  die  For- 
derung hin,  wir  müßten  die  Welt  so  denken,  daß  in  ihr  die  Tugend 
der  Glückseligkeit  nicht  nur  würdig,  sondern  auch  teilhaftig 
sei.  Derselbe  Mann,  der  das  Lebens  ernst  genug  faßte,  um  den  Aus- 
spruch zu  tun,  daß  wir  nicht  da  seien,  urn  glücklich  zu  werden, 
sondern  um  unsere  Schuldigkeit  zu  tun  —  derselbe  konnte  sich  von 
dem  letzten  Rest  des  in  der  Seele  des  Menschen  begründeten  Eudä- 
monismus  so  wenig  losreißen,  daß  er  es  für  einen  integrierenden 
""  9* 


Vi 


132  Kants  praktische  Philosophie. 

Bestandteil  des  allgemeinen  und  notwendigen  sittlichen  Glaubens 
hielt,  davon  überzeugt  zu  sein,  in  letzter  Instanz  müsse  dem 
sittlich  Handelnden  auch  die  höchste  Glücksehgkeit  zufallen. 
Darauf  begründen  sich  dann  die  beiden  anderen  Postulat e  der 
praktischen  Vernunft.  Es  ist  Tatsache,  daß  in  dem  jrdi^chen 
Leben  der  tugendhafte  Mensch  durch  seine  sittliche  Handlungs- 
weise die  Glückseligkeit  nicht  erreicht.  Muß  deshalb  an  die  Realität 
des  höchsten  Gutes  geglaubt  werden,  so  ist  es  nicht  in  der  sinn- 
lichen Erscheinungswelt,  sondern  nur  dadurch  zu  erreichen,  daß 
der  Mensch  eine  über  diese  hinausgehende  außerzeitliche  Existenz 
in  der  übersinnlichen  Welt  führt.  Das  ist  die  kritische  Idee  von 
der  Unsterblichkeit  der  menschlichen  Seele.  Aber  auch  in 
einem  imsterblichen  Leben  ist  die  Realisation  des  höchsten  Gutes 
an  und  für  sich  noch  nicht  gesichert;  denn  es  liegt  nicht  im 
Begriffe  der  kausalen  Naturnotwendigkeit,  daß  durch  sie  die 
Tugend  auch  in  dem  progressus  in  infinitum  die  Glückseligkeit 
herbeiführte.  Der  Verwirklichung  des  höchsten  Gutes  sind  wir 
also  nur  dadurch  sicher,  daß  wir  an  eine  moralische  Welt- 
ordnung glauben,  welche  den  naturnotwendigen  Prozeß  so  ein- 
gerichtet hat,  daß  er  in  letzter  Instanz  die  Tugend  zur  Glück- 
seligkeit führt.  Eine  solche  gemeinsame  Ordnung  und  gegenseitige 
Ergänzung  der  sinnlichen  und  der  übersinnlichen  Welt  ist  nur  durch 
ein  allerhöchstes  und  absolutes  Wesen,  durch  die  Gottheit,  denk^ 
bar.  So  gewiß  daher  der  Glaube  an  die  Realität  des  höchsten  Gutes,^ 
so  gewiß  muß  auch  derjenige  an  die  Existenz  der  Gottheit  sein. 
So  verwandeln  sich  die  drei  Ideen  der  theoretischen  Vermmft, 
die  kosmologische,  psychologische  und  theologische,  in  die  drei 
Postulate  der  praktischen  Vernunft:  Freiheit,  Unsterbhchkeit  und 
Gottheit.  Der  allgemeine  und  notwendige  Glaube  des  sittlichen 
Bewußseins  involviert  für  Kant  eine  Metaphysik  der  übersinnlichen 
Welt,  welche  begrifflich  die  Überzeugung  zum  Ausdruck  bringt, 
daß  wir  freie  und  unsterbliche  Wesen  sind,  die  einer  sittlichen,, 
durch  die  Gottheit  bestimmten  Weltordnung  angehören.  Die 
menschliche  Vernunft  zeigt  sich  in  ihrer  praktischen  Tiefe  an  denj 
Zusammenhang  einer  übersinnlichen  Welt  gebunden,  von  der  das 
theoretische  Bewußtsein  nur  die  Andeutungen  ihrer  Möglichkeit 
und  auch  diese  nur  deshalb  besitzt,  weil  es  seine  Aufgaben  durch 
den  sittlichen  Willen  bestimmt  erhält. 


i 


Voriiuiirtf^'liiube.  13.'i 

Erst  in  diesem  ZusaniinenliHii^e  be<^rcift  man  völli;/  KaiitH 
Stelluiiij;  zur  Metaphysik,  iasofcni  darin  eine  Vorstellung'  von  der 
übersinnlichen  und  unerlahrbaren  Welt  erwartet  wird.  Als  Er- 
kenntnis des  Wissens  ist  sie  unmö;.;Iich,  als  Oberzeu^^un^  de.s 
Gliiubens  ist  sie  nicht  nur  möglich,  sondern  aucli  all^^eniein  und 
notwendig  in  der  sittliclien  Vernunft  des  Menschen  be^^ründet. 
Deshalb  aber  kann  die  Lehre  von  der  letzteren,  die  Ethik,  weder 
auf  irgendwelche  besondere  erfahrungsmiißige  Grundlage,  noch  auf 
irgend  einen  Versuch  wissenschaftlicher  Metaphysik,  sondern  ledig- 
lich auf  das  »transzendentale  Faktum«  des  sittlichen  Bewußtseins 
imd  auf  die  Analyse  seiner  Apriorität  gebaut  werden.  Weit  davon 
entfernt,  aus  einer  theoretisch  gewonnenen  Weltanschauung  ab- 
leitbar zu  sein,  ist  die  Moral  vielmehr  der  einzige  Weg,  auf  dem 
man  eine  Überzeugung  von  dem  übersinnlichen  Wesen  der  Dinge 
erwerben  kann:  diese  aber  kann  niemals  bewiesen,  sondern  immer 
nur  geglaubt  werden. 

In  diesem  Sinne  bezeichnet  Kant  den  Vernunftglauben  als  den 
»orientierenden«  Gesichtspunkt,  welcher  die  kritische  Philosophie 
in  der  »Nacht  des  Übersinnlichen«  leitet  und  allein  davor  be- 
hütet, sich  darin  zu  verirren.  Von  der  wissenschaftlichen  Er- 
kenntnis aus  gibt  es  keinen  Weg,  der  zum  Übersinnlichen  führte. 
Aber  auch  jenes  besondere  mystische  Wahrnehmungsvermögen, 
welches  als  ein  eigenes  Gefühl  die  unmittelbare  Gewißheit  der 
übersinnlichen  Mächte  gewähren  soll,  verwirft  Kant,  weil  in  dem 
Umkreise  der  menschlichen  Erfahrung  ein  solches  nicht  gefunden 
werden  kann.  Mag  man  es  mit  den  positiven  Religionen  eine 
""  übernatürliche  Offenbarung,  mag  man  es  mit  den  Mystikern  und 
Gefühlsphilosophen  eine  ^übersinnliche  Wahrnehmungsfähigkeit" 
nennen,  —  für  Kant  gilt  es  als  Einbildung  und  im  günstigen 
Falle  als  Schwärmerei.  Die  letzte  Entscheidung  darüber,  ob 
derartige  für  Offenbarungen  oder  übersinnliche  Wahrnehmungen 
ausgegebene  Vorstellungen  für  wahr  und  für  göttlich  gelten  sollen, 
kann  in  einer  allgemeingültigen  und  notwendigen  Weise  nur  durch 
die  Vernunft,  aber  freilich  nicht  durch  die  theoretische,  sondern  nur 
durch  die  praktische  gewonnen  werden.  Aller  Inhalt  der  Vorstellung 
von  der  übersinnlichen  Welt  muß  vor  das  sittliche  Forum  gebracht 
und  auf  seine  Übereinstimmung  mit  dem  Vernunftglauben  geprüft 
werden.   Der  autonome  Wille  kann  ein  Gebot  nur  darum  als  göttlich 


2^34  Kants  praktische  Philosophie. 

ansehen,  weil  es  sittlich  ist  und  weil  er  von  dem  Glauben  an  die 
Realität  einer  durch  die  Gottheit  bedingten  moralischen  Weltordnung 
erfüllt  ist.  In  dieser  Hinsicht  gilt  es  von  den  empirischen  Formen 
des  Glaubens:  »an  ihren  Früchten  sollt  ihr  sie  erkennen«.  An  die 
Stelle  der  theologischen  oder  metaphysischen  Moral  setzt  also 
Kant  seinen  Begriff  der  Moraltheologie:  der  apriorische  Glaube 
der  praktischen  Vernunft  bedingt  eine  Metaphysik  des  Übersinn- 
lichen, welche  in  der  Idee  der  Gottheit  gipfelt. 

Die  Religionsphilosophie  würde  jedoch  auf  diese  Postulate 
des  moralischen  Glaubens  beschränkt  bleiben,  wenn  sie  sich  nur 
auf  die  Überzeugungsquelle  der  reinen  praktischen  Vernunft  be- 
schränken wollte.  Das  religiöse  Leben  aber  ist  eine  empirische 
Tatsache.  Es  enthält  die  Beziehungen  des  wirklichen  Menschen 
zu  den  Ideen  der  praktischen  Vernunft.  Religionsphilosophie .  ist 
daher  im  kritischen  System  eine  Betrachtung  des  wirklichen 
religiösen  Lebens  des  Menschen  unter  dem  Wertgesichtspunkte 
jener  Metaphysik  des  Glaubens.  Sie  ist  keine  Beschreibung  des 
so  unendlich  vielspältigen  religiösen  Lebens  der  Menschheit,  sie  ist 
auch  keine  wissenschaftliche  Begründung  irgendwelcher  religiösen 
Lehren,  sondern  sie  hat  festzustellen,  was  innerhalb  des  religiösen 
Lebens  durch  die  bloße  Vernunft,  d.  h.  durch  die  praktischen 
Postulate  bedingt  ist.  Wenn  jede  der  bestehenden  Religionen 
vermöge  ihres  historischen  Ursprungs  mit  empirischen  Elementen 
versetzt  ist,  so  hat  die  Religionsphilosophie  aufzudecken,  welches 
die  Artikel  sind,  die  durch  den  rein  morahschen  Vernunftglauben 
dem  religiösen  Bewußtsein  als  wesentliche  Bestimmungen  auf- 
genötigt werden.  /  In  der  Ausführung  dieser  Aufgabe  geht  dann 
freiHch  der  kritische  Philosoph  auf  die  Lehren  und  Überzeugungen 
der  positiven  Religion,  in  der  sein  eignes  geistiges  Leben  er- 
wachsen war,  des  pietistisch  gefärbten  Protestantismus,  soweit 
wie  irgend  möglich  ein  und  sucht  für  sie  eine  Vereinbarkeit  mit 
seinen  philosophischen  Theorien  zu  gewinnen,  die  z.  T.  weit  über 
das  hinausgeht,  was  er  ohne  diese  Rücksicht  daraus  allein  hätte 
logisch  ableiten  können.  ; 

Wie  es  nun  für  die  M^etaphysik  der  Natur  notwendig  war,  der 
Erfahrung  den  allgemeinen  Begriff  der  Bewegung  zu  entnehmen, 
um  ihn  unter  die  Kategorien  zu  subsumieren,  so  muß  die 
Religionsphilosophie  die  Fundamentaltatsache  des  religiösen 


KeligiunsphiloBopbie.  IHf) 

Leben«  konstatieren,  um  sie  auf  den  nn)ralisch<5n  Glauben  zu 
beziehen.  Bei  dieser  Analyse  ^eht  Kant  von  dem  Grund  Verhältnis 
des  empirischen  Menschen  zum  Sitten^ijcsetz  aus.  Das  Sitten- 
«»esetz  erscheint  in  unserem  Bewußtsein  als  ein  kat<!«^orischer 
Imperativ,  als  eine  Forderung,  Velche  unbedingt  erfüllt  werden 
soll,  aber  es  nicht  ist.  Der  imperative  Charakter  des  Sitten- 
gesetzes  würde  inimöglich  sein,  wenn  der  Mensch  es  voUkonunen 
erfüllte.  Wenn  daher  jenes  »Soll«  für  den  moralischen  Glauben 
die  Überzeugung  des  Könnens  mit  sich  führt,  so  involviert  es 
nicht  weniger  auch  das  Bewußtsein  von  seiner  empirischen  Nicht- 
erfüllung. Es  gibt  für  den  Menschen  kein  sittliches  Bewußtsein 
ohne  dasjenige  der  eigenen  sittlichen  Un Vollkommenheit  und  Un- 
angemessenheit. Daraus  entwickelt  sich  ein  ebenso  notwendiges 
und  allgemeines  Vernunftbedürfnis,  von  dieser  Unvoll- 
kommenheit  frei  zu  werden,  und  da  die  Un  Vollkommenheit  im 
sittlichen  Bewußtsein  selber  als  ein  unentfHehbarer  Bestandteil 
der  menschlichen  Natui  erkannt  wird,  so  gestaltet  es  sich  zu 
dem  Wunsche,  davon  erlöst  zu  werden.  So  erweist  sich  das 
Erlösungsbedürfnis,  in  seinem  moralischen  Sinne  gefaßt,  als 
ein  notwendiger  Bestandteil  der  allgemeinen  menschlichen  Or- 
ganisation, als  ein  Ausfluß  der  praktischen  Vernunft,  und  in  ihm 
sieht  Kant  die  Grundtatsache  des  religiösen  Lebens.  "" 

Hieraus  begreift  sich  die  nahe  und  innige  Beziehung,  in  welcher 
Kants  Religionsphilosophie  zum  Christentum  steht.  Denn  dies 
ist  diejenige  Religion,  welche  jenen  tatsächlichen  Kern  alles  reli- 
giösen Lebens  am  klarsten  und  eindringhchsten  zum  Bewußtsein 
gebracht  und  auch  ihrer  ganzen  dogmatischen  Gestaltung  zugrunde 
gelegt  hat.  Deshalb  entwickelt  sich  Kants  religionsphilosophische 
Lehre  so,  daß  sie  zu  zeigen  sucht,  in  welchem  Sinne  die  Grund- 
lehren des  Christentums  aus  bloßer  Vernunft  aufzufassen  und  als 
Anwendungen  des  rein  moralischen  Glaubens  auf  die  Tatsache  des 
Erlösungsbedürfnisses  zu  begreifen  sind.  Ihren  Ausgangspunkt 
bildet  daher  die  philosophische  Untersuchung  der  Lehre,  welche 
dem  Erlösungsbedürfnis  den  schärfsten  Ausdruck  gibt:  derjenigen 
von  der  Sünde.  Die  Tatsache  der  Erlösungsbedürftigkeit  beruht 
zweifellos  irgendwie  in  der  menschlichen  Doppelnatur,  vermöge 
deren  dem  Sittengesetz  der  natürliche  Mechanismus  mit  seinem 
Glückseligkeitsstreben   antagonistisch   gegenübersteht.     Aber   das 


136  Kants  praktische  Philosophie. 

Glückseligkeitsbestreben  der  sinnlichen  Triebfedern  kann  unmöglich 
als  ein  an  sich  böses  bezeicbnet  werden,  da  böse  ebenso  wie  gut 
ein  moralisches  Kriterium  bedeutet  und  innerhalb  des  Trieb- 
mechanismus der  Erscheinungen  allein  keinen  Sinn  hat.  Die 
Prädikate  gut  und  böse  sind  weder  in  der  intelligiblen  noch  in 
der  sensiblen  Welt  allein  von  Anwendung.  Wo  nur  das  Sitten- 
gesetz und  wo  nur  das  Naturgesetz  gilt,  da  gibt  es  weder  gut 
noch  böse.  Gut  und  böse  setzen  ein  Verhältnis  der  sinnHchen 
und  der  sittlichen  Triebfedern  voraus.  Nun  verlangt  das  Sitten- 
gesetz die  Unterordnung  des  sinnlichen  unter  den  sittlichen  Trieb, 
und  den  Willen,  in  welchem  dieses  Verhältnis  wirklich  obwaltet, 
nennen  wir  gut  oder  heilig.  In  der  Tat  aber  ist  im  Wesen  des 
Menschen  dies  richtige  Verhältnis  der  Triebfedern  von  Anfang 
an  umgekehrt.  Mit  dem  Bewußtsein  des  Sittengesetzes  verbindet 
sich  in  dem  natürlichen  Menschen  doch  eine  Unterordnung  dieses 
/  Gesetzes  unter  seine  sinnlichen  Triebfedern.  Diesen  ursprünglichen 
»Hang«,  das  erkannte  Sittengesetz  beiseite  zu  setzen  und  dem 
sinnlichen  Triebe  zu  folgen,  nennt  Kant  das  Kadikalböse  in 
der  menschlichen  Natur.  Es  gilt  ihm  als  eine  Tatsache,  aber 
eine  unbegreifliche  Tatsache.  Es  ist  weder  aus  dem  empirischen 
Charakter  des  Einzelnen  noch  aus  einem  tatsächlichen  Verhältnis 
^  in  der  Zeit  aufeinanderfolgender  Exemplare  der  menschlichen 
Gattung  zu  erklären.  Der  Sündenfall  ist  weder  als  eine  einmalige 
und  in  ihren  Folgen  sich  vererbende  noch  als  eine  in  jedem 
Individuum  neu  sich  vollziehende  Tatsache  zu  begreifen.  Aber 
die  biblische  Erzählung  davon  ist  als  der  symbolische  Ausdruck 
unseres  Bewußtseins  von  dieser  Tatsache  anzusehen.  Der  moralische 
Glaube,  der  dem  empirischen  Charakter  gegenüber  den  intelligiblen 
kennt,  hat  in  dem  letzteren  das  verantwortliche  Wesen  für  die 
gesamte  böse  Erscheinungsform  des  ersteren  zu  suchen,  und  wenn 
der  Mensch  auch  dieses  Verhältnis  ganz  und  gar  nicht  begreift, 
so  bekommt  doch  dieser  Glaube  dadurch  für  ihn  seine  er- 
Bchüttemde  Gewalt,  daß  er  dadurch  überzeugt  sein  muß,  es  sei 
nicht  die  naturnotwendig  bedingte  Erscheinungsform,  sondern  es 
Bei  sein  innerstes  intelligibles  Wesen  selbst,  welches  die  Schuld 
an  jenem  Radikalbösen  trage. 

Hieraus  ergibt  sich  die  gesamte  Aufgabe  des  religiösen  Lebens 
von   selbst.     Es   ist   der  Kampf    des   guten   und   des   bösen 


VürliiiltniH  zum  (üiribtcntuin.  137 

Prinzips  im  Menschen,  der  zum  endlichen  Sie^e  des  Guten 
fiUiren  soll,  welches  wir  als  das  absolute  Bewußtsein  der  Ver- 
pflichtung in  uns  tragen.  Diese  Aufgabe  läuft  also  darauf  hinau«, 
daß  jenes  böse  Verhältnis  der  Triebfedern  aufgchobt^n  und  das 
entgegengesetzte  hergestellt  werHe.  Aber  jener  Gegensatz  ist 
nicht  graduell,  sondern  prinzipiell.  Die  geforderte  Umkehrung 
kann  daher  nicht  durch  einen  allmählichen  Prozeß,  nicht  durch 
das  empirische  Geschehen  im  empirischen  Charakter  vonstatten 
gehen.  Die  Umkehrung  setzt  vielmehr  voraus,  daß  in  jenem 
intelligiblen  Charakter,  der  den  Grund  des  Radikalbösen  bildete, 
eine  vollkommene  Umlvehrung  und  damit  eine  spontane  Neu- 
schöpfung seines  ganzen  Wesens  stattfinde.  Diese  Tat  des 
intelligiblen  Charakters,  diese  seine  freie  »Wiedergeburt«  ist 
nun  ebensowenig  zu  begreifen  wie  der  Ursprung  des  Bösen.  Eine 
Veränderung  in  der  intelligiblen  Welt  kann  nie  erkannt  werden, 
weil  für  sie  die  Bedingung,  unter  der  allein  Veränderungen  er- 
kannt werden  können,  die  Anschauung  der  Zeit,  fortfällt:  ja, 
eigentlich  ist  sogar  schon  der  Begriff  der  Veränderung,  weil  er 
die  Zeit  voraussetzt,  für  die  intelligible  Welt  inhaltlos.  Aber 
geglaubt  werden  muß  die  Möglichkeit  einer  solchen  Wiedergeburt, 
weil  ohne  sie  eine  Aufhebung  des  Radikalbösen  und  eine  Er- 
füllung des  Erlösungsbedürfnisses  unmöglich  wäre.  Ist  nun  auch 
nie  zu  verstehen,  wie  die  Wiedergeburt  zustande  kommt,  so  sind 
doch  dem  Glauben  die  Bedingungen  davon  zugänglich.  Der 
gesamte  Kampf  gegen  das  Böse  ist  bedingt  durch  die  Idee  des 
Outen  in  uns.  Aber  auch  diese  wäre  unwirksam,  wenn  wir  nicht 
von  ihrer  Realisierbarkeit  überzeugt  wären.  Die  erlösende  Macht 
kann  also  nur  in  der  Lebendigkeit  bestehen,  mit  welcher  das  Ideal 
eines  absolut  guten  und  vollkommenen  Menschen  in  unserem 
Bewußtsein  wirkt.  Diese  Vorstellung  des  sittlichen  Ideal- 
menschen und  der  Glaube  an  seine  Realität  ist  deshalb  die 
wahre  Bedingung  zur  Herbeiführung  der  Wiedergeburt.  Insofern 
als  in  diesem  Ideale  die  göttliche  Weltordnung  zur  vollen  Herr- 
schaft gekommen  ist,  ist  es  die  Vorstellung  eines  götthohen 
Menschen  oder  des  Gottmenschen,  und  insofern  als  dies  Ideal 
eben  dasjenige  unserer  eigenen  praktischen  Vernunft  ist,  bildet 
der  Gottmensch  die  erlösende  Kraft,  durch  welche  die  Wieder- 
geburt herbeigeführt  wird.    In  diesem  sittlichen  Menschheitsideal 


138  Kants  praktische  Philosophie. 

und  in  dem  Streben  nacli  seiner  Herbeiführung  werden  die 
Schwäclien  der  Individuen  versöbnt  und  ibre  Sünde  gesübnt. 
Die  praktische  Liebe  zu  diesem  Ideale  tritt  stellvertretend  ein 
für  die  an  sich  untilgbare  Schuld,  welche  das  Kadikalböse  auf 
sich  geladen  hat. 

In  diesem  Geiste  gibt  Kant  seine  moralphilosophische  Deutung 
der  Grundlehren  des  Christentums.    Er  ist  weit  entfernt  von  jener 
Yerständnislosigkeit,   mit   welcher   der  landläufige   Rationalismus 
ein     paar    metaphysische    Begriffe    zu     populärem    Moralisieren 
ausbeutete.     Mit   dem   ganzen  Ernst  seiner   tief  sittlichen  Natur 
begreift   er   das   Bedürfnis   der   Erlösung   als   einen  notwendigen 
Trieb  der  menschlichen  Vernunft,  begreift  in  tiefsinniger  Weise  die 
Formen,  welche   es   aus  rein  sittlichen  Gründen  annehmen  muß, 
und   zei^t,   daß   gerade   die  Unterscheidun2:slehren   des  Christen- 
tums  mit  diesen  Formen  identisch  sind.    Er  kennt  keine  Natur- 
religion als  rationale  Erkenntnis.   Aber  er  hält  auch  das  religiöse 
Leben  nicht  für  illusionär,   sondern  für  einen  notwendigen  Aus- 
fluß  der   sittlichen  Vernunftbetätigung,   und   er   begreift  im   be- 
sonderen, daß  das  Christentum  als  das  höchste  Produkt  der  Ent- 
wicklung  des   religiösen  Lebens   dessen   wahren  Kern  zu  seinem 
tiefsten  Gehalte  gemacht  und  die  Ideen  des  vernünftigen  Glaubens 
symbolisch  in  seinen  Dogmen  niedergelegt  hat.    In  diesem  Sinne 
steht  Kant,  wie  schon  Lessing,  der  spekulativen  Theologie,  welche 
die  Mystik  des  Mittelalters  und  der  Reformationszeit  zu  entwickeln 
suchte,  verhältnismäßig  sehr  nahe,  nur  daß  es  niemals  theoretische 
Erkenntnisse,  sondern  immer  nur  Bedürfnisse  des  sittlichen  Glaubens 
sind,  die  er  als  den  allgemeinen  und  notwendigen  Inhalt  der  posi- 
tiven Formulierungen   nachzuweisen   suchte.     Deshalb  waren   die 
Rationalisten  über  das  intime  Verhältnis  seiner  Religionsphilosophie 
zum   positiven  Christentum   enttäuscht.     Während   sie  selbst  die 
Mysterien   des  Christentums   verwarfen,   sah   Kant   gerade   darin 
den    symbolischen   Ausdruck    sittlicher  Vernunftbedürfnisse.     Je 
mehr  ihnen  die  Begründung  der  Religion  auf  Moral  sympathisch 
war,  um  so  mehr  scheuten  sie  davor  zurück,  daß  Kant  diese  Be- 
gründung  im   vollen   Ernste   nahm,   daß   er   sich  nicht  mit   den 
Redensarten   von  Gottgefälligkeit   und  Vervollkommnung  im  un- 
sterblichen Leben  begnügte,  sondern  die  unergründlichen  Geheim- 
nisse aufdeckte,    welche  das   sittliche  Bewußtsein  mit  seinen  Be- 


I{»  ^,'riff  der  Kirrhe.  139 

(liirfnissoii  und  seinem  OlauIxMi  in  »ich  trügt,  und  daß  er  diese 
(Vhcimnisso  dann  in  der  positiven  Religion  wiederfand,  die  jene 
abueschütlelt  zu  haben  glaubten,  und  deren  Ernst  sie  in  Walir- 
heit  nie  begriffen  hatten. 

Aber  auch  liier  erhellt  Kants  Stellung  über  den  Parteien  aus 
der  nicht  minder  begründeten  Antipathie,  womit  der  konfessionelle 
Orthodoxisnius  die  »Religion  imierhalb    der  Grenzen   der   bloßen 
Vernunft«   aufnahm    und    verfolgte.     Denn  wie  das  rationale,    so 
wies  der  Philosoph  auch  das  positive  Element  in  seine  Schranken 
zurück.  Weshalb  treten  denn,  mußte  gefragt  werden,  die  Grund- 
sätze des  Vernunftglaubens  nicht  in  der  rein  moralischen,  sondern 
in  der  positiven  Form  der  Dogmen  auf?  Der  Grund  ist,  antwortet 
Kant,  die  sittliche  Schwäche  der  menschlichen  Natur.   Der  Mensch 
ist  unfähig,   dem  sittlichen   Trieb   allein   zu  folgen,   solange  ihm 
dieser   nur  in   der  ehernen  Majestät  des  Sittengesetzes  entgegen- 
tritt.   Er  vermag  es  nicht  zu  befolgen,  solange  er  es  nur  als  das 
selbstgegebene  Gesetz  auffaßt,  was  es  in  Wahrheit  allein  sein  kann. 
Es  wird  für  ihn  erst  dadurch  motivkräftig,  daß  3r  es  sich  in  der 
Form   göttlicher  Gebote  vorstellt.     Nun  ist  diese  Vorstellung  als 
Glaube  berechtigt,  wenn  sich  auch  gezeigt  hat,  daß  für  die  philo- 
sophische  Begründung   Gebote   immer  nur    deshalb   als    göttlich 
gelten  können,  weil  sie  als'^  sittlich  erkannt  sind,  und  niemals  um- 
gekehrt.   Aber  der  Mensch  in  seiner  empirischen  Motivation  und 
in   dem   wirklichen,   geschichtlichen  und   gesellschaftlichen  Leben 
muß    den   Glauben    an  ihren    göttlichen   Ursprung   als   eine    die 
Wirkung   des  Sittengesetzes   unterstützende  Triebfeder   benutzen. 
Hier   liegt   der  Ursprung  und  die  Berechtigung  für  alle  weiteren 
Formen,  welche  unter  Mitwirkung  empirischer  Vorstellungsmomente 
der  reine  Vernunftglaube  in  den  positiven  Religionen  angenommen 
hat.     Allein   dieses  Moment   würde   für   sich  nur  zur  Ausbildung 
individueller  Überzeugungen  auf  dem  Gebiete  des  religiösen  Lebens 
führen.     In   Wahrheit   handelt   es   sich   um   die   Betätigung   des 
praktischen  Glaubens  in  der  menschlichen  Gemeinschaft.    Daraus 
entsteht  das  Vernunftbedürfnis,  daß  diejenigen,  welche  in  diesem 
Glauben  miteinander  einig  sind  und  leben  wollen,  einen  ethischen 
Staat  miteinander  bilden:  die  Kirche.    Dem  Begriffe  nach  oder 
dem  Glaubensideale  nach  ist  diese  eine  allgemeine  und  notwendige 
sittliche   Gemeinschaft   aller   wiedergeborenen  Menschen.     Es   ist. 


-,.<^ 


140  Kants  praktische  Philosophie. 

wie  Kant  sagt,  das  Reich  Gottes  auf  Erden.  Diese  Herrschaft 
der  sittUchen  Weltordnung  im  irdischen,  sinnlichen  Leben  der  Er- 
scheinung ist  das  höchste  Gut  unter  dem  Gesichtspunkte  der 
religiösen  Entwicklung  der  Menschheit  in  der  Geschichte.  Es  ist 
das  höchste  Gut  für  die  Gattung,  und  sein  Begriff  enthält  ebenso 
wie  der  des  höchsten  Gutes  für  das  Individuum,  nämlich  die 
Identität  von  Tugend  und  Glückseligkeit,  das  Ideal  einer  Ver- 
söhnung des  Gegensatzes  der  beiden  Reiche,  der  Freiheit  und  der 
Notwendigkeit,  der  Sittlichkeit  und  der  Natur. 

Allein  dies  ist  das  Ideal,  an  dessen  Realisierbarkeit  geglaubt 
werden  muß,  und  das  doch  in  der  Erfahrung  nicht  realisiert  wird. 
In  der  Erfahrung  gestaltet  sich  die  Idee  der  Kirche  zu  den  em- 
pirisch begründeten  Formen,  die  in  der  Geschichte  aufgetreten 
sind.  Ihr  Verhältnis  und  ihr  Wert  bestimmt  sich  somit  nach  der 
Annäherung,  welche  sie  an  das  Ideal  der  »unsichtbaren  Kirche« 
enthalten.  In  dieser  Beziehung  steht  Kant  durchaus  auf  dem 
historischen  Standpunkte  von  Lessings  Erziehung  des  Menschen- 
geschlechts, nur  mit  dem  Unterschiede,  daß  er  an  die  Stelle  der 
Erziehung  durch  Offenbarung'  die  Entwicklung  des  allgemeinen 
und  notwendigen  Vernunftbedürfnisses  setzt.  Die  Geschichte  der 
Religionen  ist  der  Prozeß  der  sittlichen  Aufklärung,  worin  die 
Menschheit  immer  vollkommener  und  immer  reiner  sich  jenes 
apriorischen  Glaubens  bewußt  wird,  welcher  in  der  Organisation 
der  Vernunft  selbt  begründet  ist.  Diese  Entwicklung  gipfelt  bisher 
im  Christentum,  und  sie  hat  mit  dessen  Grundlehren  das  Ziel  der 
vollen  Selbsterkenntnis  des  praktischen  Glaubens  in  symbolischer 
Form  erreicht.  Aber  dieser  Prozeß  ist  damit  nicht  abgeschlossen. 
Die  unsichtbare  Kirche  ist  nicht  da,  und  wo  die  sichtbaren  Kirchen 
sich  selbst  als  den  Abschluß  dieser  Entwicklung  fixieren  wollen, 
wo  sie  sich  für  mehr  halten  als  für  historisch  bedingte  Erziehungs- 
anstalten zu  der  unsichtbaren  Kirche,  wo  das  »statutarische 
Moment«,  ohne  welches  sie  in  ihrer  empirischen  Organisation  nicht 
möglich  sind,  den  wahrhaft  moralischen  Sinn,  um  deswillen  allein 
es  Wert  und  Bedeutung  hat,  zu  verdrängen  sucht,  wo  aus  der 
Religion  des  sittlichen  Glaubens  der  Kultiisdienst  der  Gunst- 
bewerbung geworden  ist  — :  da,  sagt  Kant,  werden  die  sichtbaren 
Kirchen  zu  Brutstätten  der  Sklaverei  und  der  Heuchelei,  Auch 
Kant  vollzieht  also  wie  der  Rationalismus  eine  Kritik  der   posi- 


Mctnpljysik  dor  Sitten.  141 

tiven  durch  die  »reine«  Uolipirm.  Aber  die  letztere  ißt  für  ihn 
nicht  ein  System  natürlicher  Wahrheiten,  sondern  der  sittliche 
(Jlaiibr,  welcher  mit  dem  apriorischen  Krlösungsbedürfnis  d<*8 
Menschen  auf  notwendi<^^e  und  ^H^'t^'nicingültige  Weise  verknüpft 
ist.  Ob  diese  »reine«  Reli<^i()n  empirisch  existiert  oder  nicht,  ist 
ebenso  gleichgültig^  für  ihre  Geltung,  wie  die  empirische  Realität 
des  sittlichen  Handelns  für  die  Geltung  des  Sittengesetzes.  Beide, 
Sittengesetz  und  Vernunftglaube,  sind  absolute  Ideale,  welche  die 
Entwicklung  des  empirischen  Menschenlebens  bedingen  und  seinen 
Wert  beurteilen,  ohne  jemals  darin  völlig  erreicht  zu  werden. 

Aus  der  Apriorität  des  Sittengesetzes  folgt  also  die  Metaphysik 
des  Glaubens  und  in  ihrer  Anwendung  auf  das  Erlösungsbedürfnis 
des  Menschen  die  Eehgionsphilosophie.  Aber  auch  eine  Meta- 
physik in  dem  kritischen  Sinne  einer  apriorischen  Erfahrungs- 
erkenntnis muß  sich  daraus  ergeben,  eine  Metaphysik  der 
Sitten,  welche  zwar  nicht  wie  diejenige  der  Natur  eine  allge- 
meine und  notwendige  Erkenntnis  eines  wirklichen  Geschehens, 
sondern  eine  allgemeine  und  notwendige  Gesetzgebung  der  sitt- 
lichen Welt  enthalten  wird.  Das  Prinzip  darin  muß  die  Subsumtion 
der  empirischen  Verhältnisse  des  menschhchen  Lebens  unter  das 
Sittengesetz  und  die  daraus  sich  ergebende  Ableitung  besonderer 
Imperative  sein.  Nun  verlangt  das  Sittengesetz  von  uns  Hand- 
lungen, die  aus  einer  bestimmten  Gesinnung  hervorgehen  sollen. 
Vom  sittlichen  Standpunkt  aus  gesehen,  sind  Handlungen  und 
Gesinnungen  insofern  nicht  zu  trennen,  als  aus  der  rechten  Ge- 
sinnimg  die  rechte  Handlung  naturnotwendig  folgt.  Aber  in  dem 
lediglich  äußeren  Zusammenhange  des  menschlichen  Lebens  können 
jene  Handlungen  ausgeführt  werden  aus  persönlichen  Interessen, 
aus  Gewohnheit,  durch  inneren  oder  gar  äußeren  Zwang.  Hier 
ist  also  die  Handlung  möglich  ohne  die  Gesinnung.  Jener  Gegen- 
satz von  Moralität  und  Legalität  teilt  danach  die  Metaphysik 
der  Sitten  in  zwei  Teile.  Wenn  alles,  was  das  Sittengesetz  ver- 
langt, eine  Pflicht  genannt  wird,  so  bezeichnet  Kant  die  von 
demselben  erforderten  Gesinnungen  als  Tugen^ pflichten,  die 
von  ihm  verlangten  äußeren  Handlungen  dagegen  als  Rechts- 
pf lichten  und  behandelt  danach  gesondert  die  metaphysischen 
Anfangsgründe  der  Tugend-  und  der  Rechtslehre. 

Für  die  Ableitung  der  besonderen  sittlichen  Vorschriften  zeigt 


][42  Kants  praktische  Philosophie. 

sich  der  kategorische  Imperativ  nur  in  der  Form  des  Satzes  von 
der  Wahrung  der  Menschenwürde,  aber  in  dieser  auch  völüg 
ausreichend.  Er  bestimmt  positiv  und  negativ  die  Richtung  von 
Kants  Tugendlehre.  Wenn  die  tugendhafte  Gesinnung  in  der 
Wahrung  der  Menschenwürde  besteht,  so  kann  es  PfHchten  ledig- 
lich zwischen  Mensch  und  Mensch  geben.  Deshalb  schließt  die 
Kantische  Lehre  Pflichten  sowohl  gegen  höhere  als  gegen  niedere 
Wesen  aus.  PfHchten  gegen  Tiere  gibt  es  nach  ihm  überhaupt 
nicht:  es  ist  eine  Pflicht  gegen  uns  selbst  und  unsere  Neben- 
menschen, die  Tiere  »  menschlich «  zu  behandeln.  Von  einer  Pflicht 
gegen  Gott  dagegen  kann  nur  in  dem  religiösen  Glauben,  nicht 
aber  in  der  Sittenlehre  die  Rede  sein,  welche  die  Anwendung  des 
kategorischen  Imperativs  auf  die  Erfahrung  zu  ihrer  Aufgabe 
hat.  Auf  der  anderen  Seite  teilen  sich  positiv  die  deduzierbaren 
Pflichten  in  solche  ein,  welche  der  Mensch  gegen  sich  selbst,  und 
solche,  die  er  seinen  Nebenmenschen  gegenüber  hat.  In  der  Aus- 
führung dieses  Systems  kommt  nun  die  Persönlichkeit  Kants  in 
ihren  bewunderungswürdigen  und  in  ihren  durch  das  Alter  schon 
bis  zur  äußersten  Schroffheit  ausgebildeten  Zügen  zur  Geltung. 
Der  ganze  Mann  steht  vor  uns,  wenn  wir  ihn  verlangen  sehen, 
daß  der  Mensch  niemals  sich  selbst  wegwerfe,  daß  er  nie  sein 
Recht  mit  Füßen  treten  lasse,  daß  er  alles  tue,  was  körperlich 
und  geistig  ihn  in  seinem  ganzen  sittlichen  Werte  aufrecht  er- 
halten und  befördern  soll.  Charakteristisch  ist  es  dabei,  daß 
Kant  unter  diese  Pflichten  des  Menschen  gegen  sich  selbst  auch 
die  Wahrhaftigkeit  rechnet.  Nicht  etwa  in  schädlichen  sozialen 
Folgen,  sondern  darin  allein  sucht  er  die  Verwerflichkeit  der 
Lüge,  daß  sie  den  Menschen  vor  sich  selber  schändet,  daß  sie 
in  ihm  das  Gefühl  seiner  sittlichen  Würde  rettungslos  untergräbt. 
Den  Wert  der  Wahrhaftigkeit  schätzte  er  so  hoch,  daß  er  diese 
Pflicht  des  Menschen  gegen  sich  selbst  sogar  über  die  Pflichten 
gegen  andere  zu  stellen  keinen  Anstand  nahm.  In  einem  eigenen 
Schriftchen  entwickelt  er,  daß  es  kein  sittliches  Recht  gäbe,  »aus 
Menschenliebe  zu  lügen«,  daß  selbst  die  Rettung  eines  Freundes 
aus  sicherer  Todesgefahr  nicht  durch  eine  Lüge  erkauft  werden 
dürfe.  Denn  es  sei  besser,  daß  das  sinnliche  Leben  eines  Menschen 
zugrunde  gehe,  als  daß  die  sittliche  Würde  eines  anderen  ver- 
nichtet werde.    Auch  in  seiner  Pädagogik,  bei  deren  Ausführung 


Tuffoudlohro.  14.*{ 

er  im  all<]jcinoiiUMi  den  RousseauHcheii  Unin<lHiitze!i  foI;^te,  oIhkj 
sie  weiter  als  durch  die  feinen  Bemerk un^^en  seiner  tiefen  iVlenschen- 
kenntnis  zu  fördern,  legt  er  ein  llauptj^ewicht  darauf,  daß  das 
Kind  zur  Wahrhaftigkeit  crzogou  und  ihm  von  Anfang  an  der 
sittliche  Widerwille  gegen  die  Lüge  eingepflanzt  werde,  welche 
den  Anfang  aller  Laster  bilde.  Nur,  wo  das  Kind  lügt,  seien  die 
schwersten,  die  persönliche  Würde  beeinträchtigenden  Strafen  am 
Platze;  als  die  Folge  der  Lüge  müsse  das  Kind  es  fühlen,  daß 
es  »nichtswürdig«  sei.  Bezeichnend  ist  ferner  für  den  bis  ans 
Wunderliche  streifenden  Ernst,  mit  dem  Kant  das  gesamte  eigene 
Leben  unter  den  kategorischen  Imperativ  stellte,  daß  er  in  seinen 
kasuistischen  Fragen  sich  damit  abmühte,  festzustellen,  in  welcher 
Weise  und  in  welchen  Grenzen  die  Pflichten  des  Menschen  gegen 
sich  selbst  bei  den  kleinen  Wechselfällen  des  Lebens  aufrecht  zu 
erhalten  seien,  und  daß  er  dabei  bis  zu  den  Regeln  der  Diät, 
der  gesellschaftlichen  Vergnügungen,  der  Höflichkeit  usw.  herab- 
stieg. Aber  so  pedantisch  diese  Betrachtungen  klingen  mögen, 
sie  sind  doch  nur  der  Beweis  davon,  daß  er  selbst  ausführte,  was 
er  als  oberstes  Prinzip  für  das  gesamte  sittliche  Leben  verlangte: 
immer  und  überall  sich  der  Pflicht  bewußt  zu  bleiben,  nur  nach 
ihr  zu  handeln  und  bei  jedem  Schritte  im  praktischen  Leben  die 
ernste  Selbstprüfung  vor  dem  Gewissen  nicht  zu  versäumen. 

In  der  Behandlung  der  Pflichten  gegen  andere  tritt  der  Rigoris- 
mus Kants  noch  viel  stärker  hervor.  Hier  wehrt  er  sich  vor  allem 
dagegen,  denjenigen  Handlungen  einen  sittlichen  Wert  zuzuerkennen, 
welche  aus  einem  natürlichen  Gefühle  hervorgegangen  sind;  die 
»Pathologie  des  Mitleids«  gehört  nicht  in  die  Moral.  Werm  ein 
Mensch  anderen  wohltut,  weil  er  sie  nicht  leiden  sehen  kann,  so 
mag  das  recht  günstige  Folgen  haben  und  in  dem  gemeinsamen 
Leben  recht  hoch  angeschlagen  werden;  einen  sittlichen  Wert  hat 
die  Handlung  nur  dann,  wenn  sie  aus  der  Gesinnung  hervor- 
gegangen ist,  die  das  Wohltun  als  eine  Pfhcht  erkannte  und  es 
im  Gegensatz  zur  eio;enen  Neiguncr  ausführte.  An  dieser  Stelle 
schreitet  Kant  in  der  Tat  bis  zu  der  Konsequenz,  daß  es  aus- 
sieht, als  sei  für  eine  wdrküch  sittliche  Handlung  eine  recht  un- 
sittliche natürliche  Neigung  des  Individuums  die  unentbehrliche 
Bedingung,  und  als  könne  die  Sittlichkeit  gerade  am  meisten  durch 
die  sogenannten  guten  Neigungen  des  Herzens  gefährdet  werden. 


144  Kants  praktische  Philosophie. 

In  dieser  Eichtung  zielten  die  bekannten  Schillerschen  Epi- 
gramme gegen  den  Kantischen  Rigorismus,  und  sie  trafen  wirklich 
dessen  wunde  Stelle.  Kants  Begriffsbestimmung  des  sittlichen 
Lebens  setzt  einen  Sieg  des  sittlichen  Triebes  in  seinem  Kampfe 
mit  dem  sinnlichen  voraus,  und  so  würde  für  ihn  das  Sitten- 
gesetz dadurch  seinen  Wert  verlieren,  daß  das  Naturgesetz  des 
psychologischen  Mechanismus  den  gleichen  Erfolg  vorwegnähme. 
Der  Wert  des  Sittengesetzes  und  der  dadurch  bedingten  freien 
Handlung  besteht  für  Kant  gerade  darin,  daß  es  etwas  anderes 
verlangt,  als  das  Naturgesetz  herbeiführen  würde.  Das  Soll  hat 
nur  Sinn  im  Gegensatz  zum  Muß.  Der  imperativische  Charakter 
der  Kantischen  Ethik  involviert  durchaus  eine  Auffassung  des 
natürlichen  Trieblebens,  wonach  es,  sich  selbst  überlassen,  nicht 
notwendig,  sondern  höchstens  einmal  zufällig  zu  legalen  Resul- 
taten führen,  meistens  aber  dem  Sittengesetz  direkt  in  seinen 
Folgen ,  widersprechen  würde.  Deshalb  ist  Kant  notwendig  der 
Vertreter  eines  ethischen  Pessimismus.  In  dem  unbedingten 
*^Soll  des  Sittengesetzes  liegt  es  als  Voraussetzung,  daß  der  natür- 
liche Trieb  ihm  widerspricht.  Der  Mensch  empfindet  das  Sitten- 
gesetz nur  deshalb  als  eine  Norm,  weil  sein  natürlicher  Trieb 
sich  dagegen  auflehnt.  Dieser  ethische  Pessimismus  kam  in  der 
Lehre  vom  Radikalbösen  zum  Vorschein,  und  er  ist  es,  der  Kant 
prinzipiell  von  Rousseau  trennt,  für  welchen  die  ursprüngliche 
Güte  der  menschlichen  Natur  ein  unerschütterliches  Dogma  ge- 
wesen war. 

In  der  besonderen  Ausführung  teilt  Kant  die  Pflichten  gegen 
andere  in  solche  der  Liebe  und  solche  der  Achtung  ein  und  findet 
schließlich,  daß  sie  sich  beide  in  dem  Verhältnisse  der  Freund- 
schaft  am   vollkommensten   vereinigen,    demjenigen  Verhältnisse, 

.  welchem    er    als    dem    reinsten    und    sittlichsten,    das    zwischen 

Menschen  möglich^  sei,  ein  begeistertes  Lob  spricht.    Indem  er  so 

/  *  ^  die   Pflichten   der    Sittlichkeit   auf   die   persönlichen  Verhältnisse 

^  *'^     der  einzelnen  Menschen  beschränkt,   steht  seine  Moralphilosophie 
.  jy^  ^noch  unter  der  allgemeinen  Tendenz  des  achtzehnten  Jahrhimderts, 

^\  das  den  sittlichen  Eigenwert  des  sozialen  Lebens  prinzipiell  nicht 
zu  begreifen  vermochte.  Auch  seine  Ethik  bleibt  daher  im  letzten 
Sinne  individualistisch:  der  einzelne  Mensch  in  seiner  eigenen 
sittlichen  Arbeit  und  dem  anderen  Menschen  gegenüber  in  seinen 


RechtB])liilo8ophie.  145 

persönliclien  Verbilltiiissen,  —  das  ist  ihm  der  Gc<^eri8tand  der 
sittlichen  Gcsetzj^ebung ;  den  öffentlichen  Institutionen  steht  auch 
Kant  noch  prinzipiell  in  der  Gliederun;^  seiner  Lehre  mit  der 
Vorstellung  gegenüber,  daß  sie  keiye  innere,  im  eigenthchen  Sinne 
sitthche,  sondern  nur  die  »legale«  Gemeinschaft  des  menschlichen 
Lebens  enthalten.  Und  doch  hat  gerade  er  in  seiner  Behandlung 
der  Formen  der  Gemeinschaft  den  kräftigsten  Anfang  gemacht, 
um  den  sittlichen  Zweck,  welchen  sie  zu  erfüllen  haben,  und  die 
sittliche  Grundlage,  auf  der  sie  ruhen,  auch  in  der  wissenschaft- 
lichen Behandlung  zum  Bewußtsein  zu  bringen. 

Dieses  eigentümliche  Verhältnis  tritt  besonders  darin  hervor, 
daß  bei  Kant  die  Beziehungen  zwischen  der  Rechtsphilosophie 
und  der  Ethik  merkwürdig  geteilte  und  kompHzierte  sind.  Ver- 
möge seiner  Scheidung  von  Legalität  und  Moralität  hält  er  an 
der  von  Thomasius  und  nach  diesem  von  Wolff  hervorgehobenen 
Bestimmung  fest,  daß  die  Rechtslehre  es  nur  mit  der  äußeren 
Gestaltung  des  Menschenlebens  zu  tun  habe.  In  ihr  fragt  es 
sich  um  Handlungen  und  gar  nicht  um  Gesinnungen.  Sie  ist 
das  Reich  der  Äußerlichkeit  und  des  Zwanges.  Handlungen 
können  erzwungen  werden,  Gesinnungen  nie.  Anderseits  aber  ist 
doch  auch  für  Kant  das  rechtliche  Zusammenleben  der  Menschen 
eine  Betätigung  ihres  praktischen  Wesens,  und  es  muß  deshalb 
auch  in  ihm  das  allgemeine  Prinzip  der  praktischen  Vernunft 
zur  Geltung  kommen.  Mit  anderer  Begründung,  in  ganz  anderen 
Formen  und  Formeln  tritt  also  Kant  doch  schließlich  dem  Ge- 
danken von  Leibniz  bei,  daß  die  Rechtsphilosophie  nur  einen 
Teil  der  allgemeinen  praktischen  Philosophie  zu  bilden  und  von 
deren  Grundprinzipien  auszugehen  habe,  wenn  er  auch  jede  An- 
knüpfung der  Rechtslehre  an  die  Moral,  d.  h.  an  die  Lehre  von 
den  besonderen  sittlichen  Pf  hebten  des  einzelnen  Menschen  ab- 
lehnt. Ist  es  deshalb  auch  nach  Kants  Ausdrucksweise  kein 
eigentlich  »sittliches«  Verhältnis,  welches  er  prinzipiell  der  philo- 
sophischen Erklärung  des  Rechtslebens  zugrunde  legt,  so  ist  ihm 
doch  auch  dieses  ein  Ausdruck  der  praktischen  Vernunft  und 
aus  deren  Grundgesetz  abzuleiten.  Dies  Grundgesetz  ist  das- 
jenige der  Autonomie  oder  der  Freiheit.  Freiheit  ist  für  Kant 
der  Zentralbegriff  der  praktischen  Philosophie,  sie  ist  die  Grund- 
lage  der    individuellen   Sittlichkeit,    sie   ist   auch    der   richtende 

Windelband,  Gesch.  d.  n.  Philos.    II.  10 


J^46  Kants  praktische  Philosophie. 

Zielbegriff  des  gemeinsamen  Lebens.  Denn  in  dem  letzteren  muß 
die  Betätigung  der  Freiheit  der  Individuen  notwendig  Konflikte 
herbeiführen.  Das  politische  Leben  ist  der  Kampf  der  Menschen 
um  die  Betätigung  ihrer  Freiheit.  Wollte  nun  jeder  die  Freiheit 
nur  benutzen,  um  das  sitthche  Gesetz  durchzuführen,  so  gäbe 
es  keinen  Konfhkt.  Aber  der  Mensch  ist  böse,  seine  Freiheit 
wandelt  er  in  Willkür  um,  und  es  fragt  sich  deshalb,  ob  es  Be- 
dingungen gibt,  unter  denen  die  Willkür  des  einen  gegen  die  der 
anderen  durch  ein  allgemeines  Freiheitsgesetz  abgegrenzt  und  da- 
durch jene  Konflikte  vermieden  werden  können.  Den  Inbegriff 
dieser  Bedingungen  nennt  Kant  Kech t. 

Hieraus  ist  sogleich  abzuleiten,  wie  sich  Kant  zu  jener  Vor- 
stellung verhalten  muß,  welche  das  Naturrecht  mit  dem  Namen 
der 'angeborenen  Rechte  bezeichnete.  Angeboren  ist  dem  Menschen 
nach  Kant  nichts  als  die  Freiheit  und  das  unveräußerliche  Recht 
ihrer  Betätigung,  als  die  Bestimmung  und  die  Kraft,  sich  selbst 
das  Gesetz  zu  geben,  und  das  Recht,  nach  einem  solchen  Gesetz 
zu  handeln.  Alles  andere  muß  auf  Grund  und  vermöge  dieser 
Freiheit  erwQrben  sein.  Aber  auch  nicht  für  sich  allein  kann  das 
Individuum  ein  Rechtsverhältnis  erzeugen,  sondern  ein  solches 
entsteht  erst  dadurch,  daß  es  einen  Gesamtwillen  gibt,  der  die 
Betätigung  der  Freiheit  des  einzelnen  in  gewissen  Grenzen  und  so, 
daß  sie  diejenige  der  anderen  nicht  aufhebt,  sanktioniert  und  da- 
durch die  Ansprüche  des  einzelnen  für  die  Gesamtheit  verbindlich 
macht.  Ein  solcher  Gesamtwille  ist  nur  möglich  durch  den  Staat, 
und  es  gibt  deshalb  für  Kant  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes 
ein"  Recht '  nur  innerhalb  des  Staates  und  durch  den  Staat.  Denn 
es  gehört  zum  Wesen  des  Rechts,  daß  seine  Gesetze,  da  sie  sich 
auf  den  äußeren  Zusammenhang  des  Menschenlebens  beziehen, 
erzwingbar  sein  müssen,  und  das  sind  sie  nur  durch  die  Herr- 
schaft eines  in  gemeinsamen  Institutionen  ausgeprägten  Gesamt- 
willens. Alle  diejenigen  Verhältnisse  daher,  welche  unter  den 
Begriff  des  sogenannten  Privatrechts  gehören  und  die  Beziehung 
des  einzelnen  Menschen  zum  einzelnen  anderen  regeln,  kommen 
zwar  schon  im  Naturzustande  vor,  aber  sie  gelten  in  diesem  nur 
provisorisch  und  werden  erst  im  Staate  » peremtorisch« .  Unter 
diesen  privatrechtlichen  Verhältnissen  behandelt  Kant  neben  dem 
eachlichen  Rechte  des  Eigentums  und  dem   persönlichen  Rechte 


Staatslehre.  147 

des  Vertrages  das  »(liiiglich-persönlichc«  Reclit  dor  EIk;  und  der 
Familie.  Diesen  Verliältuisseii  weiß  Kant  nur  ihre  rechtliche 
Seite  abzugewinnen;  gegen  die  .sittliche  Bedeutung  der  Ehe  hat 
er  sich  in  einer  Weise  unzugänglich  gezeigt,  die  kaum  durch  den 
Mangel  persönlicher  Erfahrung  verzeihlich  erscheinen  kann.  Er 
behandelt  die  Ehe  nur  als  ein  rechtliches  Verhältnis,  und  sie 
kommt  in  seiner  Moral  überhaupt  nicht  vor.  Und  doch  sind  es 
wiederum  sittliche  Gründe,  Ableitungen  aus  dem  kategorinchen 
Imperativ  und  seinem  Verbot,  den  Menschen  jemals  nur  als  Mittel 
zu  gebrauchen,  auf  welche  er  die  Begründung  der  Monogamie  als 
der  einzig  rechtüchen  Form  der  Ehe  zurückführt. 

Für  die  Lehre  vom  Staate  schließt  sich  Kant  mehr  dem  Aus- 
druck als  der  Sache  nach  der  Vertragstheorie  an.  Man  muß  sich 
ganz  auf  das  Wesen  der  kritischen  Methode  besinnen,  um  diese 
Lehre  nicht  mißzuverstehen.  Bei  den  Naturrechtslehrern  erscheint 
die  Lehre  vom  Vertrag  als  Erklärung  des  empirisch-historischen 
Entstehens  des  Staates;  bei  ihnen  enthält  sie  die  Fiktion,  daß  die 
Menschen,  nachdem  sie  die  Unmöglichkeit  des  Naturzustandes 
eingesehen  hatten,  miteinander  den  Vertrag  schlössen,  den  Staat  zu 
bilden,  und  dem  Gesamt  willen  jeder  einzelne  zu  gehorchen.  Für 
Kant  ist  ein  rechtlich  bindender  Vertrat  nur  im  Staate  selbst 
möglich.  Wenn  er  daher  davon  spricht,  daß  der  Staat  auf  einen 
Vertrag  hinauslaufe,  so  kann  das  nur  so  viel  heißen,  daß,  wenn 
man  für  den  Staat  eine  rechtliche  Begründung  suchen  wollte,  sie 
nur  in  einem  Vertrage  gefunden  werden  kann,  der  ihn  selbst 
sehen  voraussetzt.  Der  Staatsvertrag  ist  deshalb  »die  regulative 
Idee«  von  einer  absoluten  Begründung  des  Staatslebens,  welche 
aber  nur  in  diesem  selbst  zu  finden  ist.  Das  Staatsleben  ist  die 
absolute  Tatsache  des  gemeinsamen  Menschenlebens  und  die  selbst 
unbedingte  Bedingung  für  alle  einzelnen  rechtHchen  Formen, 
worin  es  sich  darstellt.  In  der  besonderen  Ausführung  der  Staats- 
lehre sieht  Kant  als  das  Wesen  des  Staates  das  Prinzip  der  Ge- 
rechtigkeit an  und  erwartet  die  Verwirklichimg  der  damit  gestellten 
Aufgabe  von  der  Trennung  der  Gewalten  in  die  gesetzgebende, 
die  ausführende  und  die  richtende.  Nur  bei  dieser  Trennung  ist 
die  Herrschaft  des  Gesetzes  und  der  Ausschluß  der  Ungerechtig- 
keit möglich.  Die  Gesetzgebung  aber  muß  der  adäquate  Aus- 
druck des  Gesamtwillens  sein;  in  der  gesetzgebenden  Tätigkeit 

10* 


148  Kants  praktische  Philosophie. 

muß  deshalb  jeder  Bürger  frei  und  mit  gleichem  Kechte  wie  der 
andere  mitwirken.  Sie  ist  rechtlicli  nur  in  der  »republikanisclien« 
Form  möglich,  aber  diese  ist  mit  einer  monarchiscben  Exekutive 
in  der  konstitutionellen  Monarcbie  nicht  nur  vereinbar,  sondern 
gewährleistet  auch  in  dieser  Verbindung  am  meisten  die  faktische 
Durchführung  des  Allgemeinwillens.  Nur  in  diesem  Sinne  be- 
grüßte Kant  mit  lebhafter  Zustimmung  die  republikanischen 
Tendenzen  der  Neubildung  der  nordamerikanischen  Union  und 
der  französischen  Revolution.  Aber  das  Staatsideal  war  für  ihn 
dasjenige  Lockes  und  Montesquieus,  und  die  Republik  schien  ihm 
die  verdammungswürdigste  aller  Staatsformen  in  dem  Augenbhcke, 
wo  sie  die  absolute  Geltung  der  Gesetze  preisgibt  und  der  Will- 
kür der  Individuen  Spielraum  läßt.  In  der  entgegengesetzten 
Richtung  einer  reinen  Herrschaft  des  Rechts  bewunderte  Kant 
den  Staat  Friedrichs  des  Großen,  in  welchem  ihm  das  Pflicht- 
bewußtsein des  kategorischen  Imperativs  poHtisch  verkörpert 
entgegentrat.  Er  fand  zugleich  in  diesem  Staate  die  Bedingung 
erfüllt,  die  er  für  ausreichend  hielt,  um  die  Mitwirkung  des 
einzelnen  an  der  Gestaltung  des  öffentlichen  Lebens  zu  gewähr- 
leisten: die  Freiheit  der  Meinungsäußerung,  die  unbeschränkte 
Publizität. 

Die  Aufgabe  der  Staatsgewalt  ist  jedoch  mit  der  Durch- 
führung der  Rechtsvorschriften  noch  nicht  erschöpft,  und  ihre 
Befugnis,  in  das  Leben  des  Individuums  einzugreifen,  beschränkt 
sich  nicht  darauf,  daß  die  Befolgung  der  staatlichen  Gebote  und 
Verbote  durch  die  äußere  Macht  erzwungen  wird.  Zu  dem  sitt- 
lichen Begriffe  der  Gerechtigkeit,  den  der  Staat  reahsieren  soll, 
gehört  nach  Kants  Ansicht  auch  ihre  Bewährimg  in  der  Form 
der  Vergeltung.  Damit  begründet  sich  das  Stra frech  t  nicht 
als  ein  Ausfluß  der  empirischen  Bedürfnisse  imd  Nötigungen, 
nicht  als  ein  Mittel,  dem  Gesetze  Achtung  zu  verschaffen  und 
vor  seiner  Verletzimg  abzuschrecken,  auch  nicht  als  ein  päda- 
gogisches Mittel  zur  Besserung,  sondern  als  der  öffentliche  Akt 
der  Vergeltung,  welche  durch  die  Gerechtigkeit,  wie  Kant  meint, 
gefordert  ist.  Das  sittUche  Bewußtsein  verlangt,  daß  das  Ver- 
brechen durch  Leiden  gesühnt  werde,  und  diese  Sühne  muß,  weil 
der  einzelne  dazu  nicht  imstande  ist,  vom  Staate  vollzogen 
werden.    In  diesem  strengen  Sinne  verlangt  Kant  die  Beibehaltung 


GeschiclitsphiloiOphio.  149 

der  Todesstrafe.  Wenn  die  Geiechti«^k'eit  untergeht,  so  hat  es 
keinen  Wert  mehr,  daß  Menschen  leben.  Ohne  jede  Rücksicht 
auf  die  Nützlichkeit  ist  die  Strafe  um  ihrer  sitthchen  Notwendig- 
keit willen  zu  vollziehen.  Kantfi  Strafrechtstheorie,  so  angreifbar 
ihr  Prinzip  sein  mag,  wonach  das  Gefühl  der  Vergeltung  ein 
integrierender  Bestandteil  dos  sittlichen  Bewußtseins  sei,  enthält 
doch  anderseits  den  besten  Beweis  davon,  daß  ihm  der  Staat 
nicht  nur  ein  Mechanismus  für  die  Einrichtung  des  äußeren  Zu- 
sammenlebens der  Menschen,  sondern  im  tiefsten  Sinne  eine 
Institution  der  praktischen  Vernunft,  ein  Produkt  der  Sittlichkeit 
war.  Seine  ganze  Staatslehre  führt  auf  den  Grundgedanken 
hinaus,  daß  das  Rechtsleben  eine  Ordnung  des  äußeren  Zusammen- 
lebens der  Menschen  nach  den  Prinzipien  der  sittlichen  Vernunft 
sein  soll. 

Er  tritt  gerade  damit  in  den  lebhaftesten  Gegensatz  gegen 
alle  früheren  Theorien,  welche  den  Zweck  des  Staates  immer  in 
der  Richtung  des  Eudämonismus  gesucht  hatten,  mochten  sie  die 
individuelle  oder  die  soziale  Glückselio^keit  zur  Richtschnur 
nehmen.  Von  diesem  Gesichtspunkt  aus  vertiefte  sich  aber  zu- 
gleich für  Kant  die  Auffassimg  der  Geschichte.  Und  wenn  nicht 
in  der  Ausführung,  so  hat  er  in  der  prinzipiellen  Grundlegung 
der  Geschichtsphilosophie  die  wichtigste  Förderung  dadurch 
gegeben,  daß  er  die  naturalistische  Auffassung  Herders,  wie  er  sie 
in  ihrer  Einseitigkeit  bekämpfte,  seinerseits  durch  einen  höheren 
Gesichtspunkt  ergänzte.  Auch  Kant  muß  anerkennen,  daß  es  in 
der  Geschichte  sich  um  einen  in  seinen  einzelnen  Fortschritten 
durchaus  naturnotwendig  bedingten  Prozeß  handelt,  daß  also  das 
Prinzip  der  natürlichen  Entwicklung  das  einzige  ist,  nach  welchem 
der  Zusammenhang  der  einzelnen  Tatsachen  erkannt  werden  kann. 
Aber  für  ihn  soll  die  »Philosophie  der  Geschichte«  mehr  leisten 
als  die  bloße  Zergliederung  des  viel  verschlungenen  Gewebes,  das 
ihren  Gegenstand  bildet.  Es  ist  der  Mensch,  der  sich  in  ihr 
entwickelt,  und  der  Mensch  ist  nicht  nur  die  Blüte  der  sinnlichen 
Welt,  sondern  zugleich  ein  Glied  der  übersinnlichen.  Seine  Ent- 
wicklung muß  daher  auch  unter  dem  Gesichtspunkte  des  Zwecks 
betrachtet  werden,  der  die  Grundkategorie  der  sitthchen  Welt 
ausmacht.  Die  Geschichte  ist  philosophisch  nicht  zu  verstehen, 
wenn   man   nicht   ihr   Ziel   kennt.     Erst   aus   der   Kenntnis   der 


150  Kants  praktische  Philosophie. 

Aufgabe,   die  durch   diese  Entwicklung  erreicht  werden  soll,   ist 
die  Möglichkeit  einer  Beurteilung  davon  gegeben,  ob  die  einzelnen 
Bewegungen  wirkliche  Fortschritte  oder  Kückschritte  waren.    Ge- 
schichtsphilosophie als  Beurteilung  des  historischen  Prozesses  gibt 
es  nur  unter  dem  teleologischen  Gesichtspunkte.   Der  Naturalismus 
wendet  ihn  heimlich   an;   aber  sein  teleologischer  Gesichtspunkt 
ist  dabei   die  Glückseligkeit  in  gröberer  oder  feinerer,  in  indivi- 
dueller oder  sozialer  Form:  bei  Kant  ist  der  Zweck  der  Geschichte 
der   sittliche.     Auf   der   anderen  Seite  aber  muß   man  sich   aus 
demselben   Grunde   klar   machen,    daß   von   jenem    allmählichen 
Übergange  aus  der  Natur  in  die  sittliche  Welt,   den  Herder  als 
echter  Leibnizianer  in  seinen  »Ideen«  darzustellen  gesucht  hatte, 
bei   der  Kantischen  Auffassung   des   Gegensatzes   der   sinnlichen 
und   der    übersinnlichen   Welt    keine   Kede    sein    konnte.      Hier 
verlangten  die  Grundbegriffe  seines  Systems  von  ihm  eine  ganz 
andere   Formulierung   der    Fragen   und   der   Antworten,    und   in 
jenen  kleinen  Schriften,  die  diese  Fragen  behandeln,  ist  die  ganze 
Überlegenheit,   mit  welcher  Kant  die  Prinzipien  der  Aufklärung 
zugleich  zu  den  seinigen  machte  und  in  ihre  Schranken  zurück- 
wies,  am   klarsten   erkennbar.     Er  stand  hier  vor  dem  größten 
Problem,   welches  die  Geister  des  XVIH.  Jahrhunderts  bewegte, 
vor    der    Frage    nach    dem    Verhältnis    der    menschlichen 
Kultur   zur  Natur.     Die  Herrschaft   des  Eudämonismus  hatte 
die  Antwort  darauf  immer  in  der  Richtung  ausfallen  lassen,  daß 
die  Bedeutung,  der  Ursprung  und  der  Zweck  der  Kultur  in  der 
Herbeiführung  einer  größeren  Glückseligkeit  bestehen  müsse,    als 
die  Natur  dem  Menschen  als  Sinneswesen  ursprünglich  zu  gewähren 
imstande  sei.     Und  diese  Antwort  hatte  schließhch  in  Rousseau 
zu  der  Einsicht  geführt,    daß  die  Kultur  diesen  Zweck  verfehle, 
daß  sie  schlimmer  sei  als  der  Naturzustand,    und  daß  man  des- 
halb mit  ihr  brechen  müsse,  um  einen  neuen  und  besseren  Weg 
einzuschlagen.    Diese  Gedanken  des  Genfer  Philosophen  hat  Kant 
in  ihrer  ganzen  Energie  aufrecht  erhalten,  und  er  hat  sich  über 
die  Rousseausche  Auffassung  nur  dadurch  erhoben,   daß  er  aus 
seiner  Philosophie  selbst  einen  anderen  Begriff  der  Kultur  mit- 
brachte. 

Kultur  ist  eine  bewußte  Arbeit  des  menschlichen  Willens  und 
hat  daher  ihren  Wert  in  dessen  sittHchem  Charakter.    Wenn  von 


Anfang  und  Ziel  der   Welt^CHcliichte.  151 

einem  KaturzuBtiinde  des  Menachen  die  Rede  sein  soll,  so  hat  das 
nur  insofern  Sinn,  als  man  sich  das  natürliche,  auf  die  Glück- 
seligkeit gerichtete  Trieblebeu  noch  ohne  jedes  Bewußtsein  einer 
sittlichen  Aufgabe  denkt.  Dieser  Zustand  ist  derjenige  der  ab- 
soluten Unschuld,  der  paradiesische  Zustand.  Er  ist  keine  Tat- 
sache der  Erfahrung.  Aber  wenn  man  ihn  —  und  Kant  tut  es 
mit  Rousseau  —  als  der  Kultur  vorhergegangen  denkt,  so  ist  eine 
allmähliche  Entwicklung  des  sittlichen  Bewußtseins  aus  diesem 
natürlichen  Triebzustande  nicht  zu  begreifen.  Die  Erkenntnis  des 
Sittengesetzes  ist  eine  einmalige;  sie  kann  nur  darauf  beruhen, 
daß  es  an  seiner  Übertretung  zum  Bewußtsein  kommt.  Wenn 
das  Radikalböse  in  der  menschlichen  Natur  zumDurchbruch  kommt, 
dann  muß  damit  auch  das  Gewissen  und  das  Bewußtsein  der 
sittlichen  Aufgabe  erwachen.  Der  »mutmaßliche  Anfang«  der 
Weltgeschichte,  d.  h.  die  durch  die  Erfahrungserkenntnis  zwar 
ermöglichte,  aber  nicht  zu  begründende  Idee  eines  solchen  Anfangs 
ist  der  Durchbruch  des  Radikalbösen,  die  Auflehnung  gegen  das 
in  dieser  Auflehnung  selbst  zum  Bewußtsein  kommende  Sitten- 
gesetz, —  es  ist  der  Sündenfall.  Und  nachdem  so  das  sittliche 
Bewußtsein  entsprungen  ist,  bildet  die  ganze  menschliche  Ge- 
schichte nur  die  Arbeit  des  Willens,  diesem  Sittengesetze  an- 
gemessen zu  werden.  Mit  dem  Sündenfall  ist  der  Naturzustand 
verloren,  und  für  immer  verloren.  Denn  das  sittliche  Bewußtsein, 
einmal  vorhanden,  kann  niemals  zugrunde  gehen.  Aber  mit  dem 
Naturzustande  ist  auch  die  unbefangene  Erfüllung  des  Glückselig- 
keitstriebes für  immer  dahin.  Aus  dem  Paradiese  vertrieben,  er- 
fährt der  Mensch  das  Leid  der  Arbeit.  Nun  beginnt  der  Anta- 
gonismus der  Kräfte,  nun  verschränkt  sich  und  drängt  sich  das 
Spiel  des  gesellschaftlichen  Lebens,  nun  wächst  die  Tugend  und 
mit  ihr  das  Laster.  Immer  schärfer  werden  die  Kräfte  ange- 
spannt, aus  der  Lösung  jeder  Aufgabe  entspringt  eine  schwierigere, 
und  während  die  sittliche  Arbeit  ihrem  Ziele,  wenn  auch  unsäg- 
lich langsam  und  dabei  nicht  einmal  stetig  entgegenrückt,  kom- 
plizieren sich  die  äußeren  Verhältnisse  des  Menschenlebens  der- 
artig, daß  das  Glück  des  Individuums  immer  zweifelhafter  und 
immer  seltener  wird.  Jeder  Gewinn  an  der  sittlichen  Kultur  wird 
durch  einen  Verlust  an  der  natürhchen  Glückseligkeit  des  In- 
dividuums  erkauft.     Die   sittliche  Arbeit   des  Menschen  ist  nur 


"L. 


152  Kants  praktische  Philosophie. 

möglich  als  Resignation  auf  seine  natürliche  Glückseligkeit.  Die 
Kultur  mit  ihrer  ganzen  Arbeit  und  dem  ganzen  Leid,  das  not- 
wendig und  in  stets  steigendem  Maße  mit  ihr  verknüpft  ist,  wäre 
darum  in  der  Tat,  wie  sie  für  Rousseau  erschien,  eine  Torheit 
und  ein  Frevel  an  dem  Glück  des  einzelnen,  wenn  die  Glück- 
seligkeit' die  Bestimmung  des  Menschengeschlechts  wäre,  und  wenn 
nicht  mit  diesem  Verzicht  auf  das  paradiesische  Glück  das  höhere, 
das  absolute  Gut  der  Sittlichkeit  gewonnen  würde.  Der  Trost 
dafür,  daß  der  einzelne  bei  dieser  Kulturarbeit  verliert,  kann  nur 
darin  bestehen,  daß  das  Ganze  gewinnt.  Aber  dieser  Gewinn  des 
Ganzen  liegt  nicht  in  der  Glückseligkeit,  sondern  in  der  Herbei- 
führung des  sittlichen  Zwecks.  Denn  von  einem  Wachsen  der 
Gesamtglückseligkeit  bei  steigendem  Unglück  aller  einzelnen  zu 
sprechen,  wie  es  wohl  geschehen,  ist  eine  Absurdität.  Nun  ist  das 
höchste  Prinzip  aller  Sittlichkeit  die  Freiheit.  Wenn  es  daher 
einen  Zweck  geben  soll,  der  die  Kultur  begreiflich  macht  und 
ethisch  so  rechtfertigt,  daß  um  seinetwillen  ihre  notwendigen 
Schäden  ertragen  werden  müssen,  so  ist  es  die  Freiheit.  Die 
menschliche  Geschichte  ist  die  Geschichte  der  Freiheit. 
Aber  die  Geschichte  ist  der  Prozeß  des  äußeren  Zusammenlebens 
vernünftiger  Wesen.  Ihr  Ziel  ist  deshalb  das  politische,  es  ist 
die  Herbeiführung  der  Freiheit  in  der  vollkommensten  Staats- 
verfassung. Dieses  Ziel  würde  nicht  erreicht  sein,  wenn  etwa 
nur  ein  Staat  mit  seinen  Institutionen  dabei  angekommen  wäre. 
Denn  er  stände  dann  jeden  Augenblick  in  Gefahr,  von  anderen 
Staaten  darin  gestört  zu  werden.  Der  gegenwärtige  Zustand,  worin 
sich  die  Staaten  miteinander  befinden,  ist  ein  Naturzustand,  ein 
Naturzustand  des  Kampfes,  in  welchem  alle  Mächte  der  ünsitt- 
lichkeit  ihr  Wesen  treiben.  In  ihm  hat  der  Krieg  nur  insofern 
einen  sittlichen  Rechtsgrund,  als  ein  Volk  in  seiner  staathchen 
Existenz  bedroht  ist  und  diese  verteidigt.  Die  Möglichkeit  solcher 
Bedrohung  wäre  nur  dann  ausgeschlossen,  wenn  es  einen  wirk- 
lichen Rechtszustand  der  Staaten  untereinander  gäbe,  wenn  die 
Idee  des  yölker rechts  verwirklicht  wäre.  Sie  wäre  es  nur  dann, 
wenn  alle  Staaten  miteinander  einen  Bund  bildeten,  der  als  oberster 
Gerichtshof  ihre  Streitigkeiten  entschiede.  An  der  Notwendigkeit 
der  besonderen  Staatenbildung  hält  Kant  den  kosmopolitischen 
Träumereien    einer    Universalrepublik    gegenüber    auf    das    ent- 


Kritik  (li;r  Aufklärung.  15.'{ 

schiedenste  fest,  ohne  jedoch  dafür  eine  nationale  Begründun;^  zu 
suchen.  Für  ihn  beschränkt  sich  das  Weltbürgcrrecht  auf  die 
allgemeine  llospitalilät  und  Freizügigkeit,  und  auch  dieser  Zu- 
stand, worin  der  Bürger  des  einen  Staates  nicht  mehr,  wie  es  im 
Naturzustande  geschieht,  in  dem  andern  als  Feind  angesehen 
werden  soll,  ist  in  seiner  Vollkommenheit  nui-  durch  den  Staaten- 
bund rechtmäßig  herbeizuführen.  In  einen  solchen  Bund  würden  U^^ 
aber  nur  solche  Staaten  eintreten  können,  in  denen  nicht  nur 
über  die  innere  Gesetzgebung,  sondern  auch  über  die  Fragen  der 
äußeren  Politik  lediglich  der  Wille  des  Volkes  entschiede.  Eine 
)>republikanische«  Verfassung  aller  Staaten  und  ein  schiedsrichter- 
licher Bund  derselben  untereinander  würden  deshalb  die  Be- 
dingungen des  »ewigen  Friedens«  sein,  welchen  Kant  als  das 
»höchste  politische  Gut«  in  der  unendlichen  Ferne  des  Endes  der 
Weltgeschichte  sieht.  Weit  entfernt  von  der  utopistischen 
Schwärmerei,  dieses  Ende  in  dem  gegenwärtigen  Zustande  für 
herbeiführbar  zu  halten,  legt  Kaut  diesen  idealen  Zweck  als  den 
Maßstab  an,  nach  dem  allein  der  Wert  der  weUgeschichtlichen 
Begebenheiten  beurteilt  werden  kann.  Es  ist  immer  derselbe 
Lessingsche  Gesichtspunkt,  unter  dem  auch  Kant  die  Geschichte  '^' 
der  Rehgionen,  unter  dem  er  das  sittliche  Leben  des  Individuums 
nnd  unter  dem  er  die  gesamte  Kulturentwicklung  des  mensch- 
lichen Geschlechts  betrachtet.  Die  sittliche  iVufgabe  des  einzelnen 
und  die  historische  Entwicklung  der  Gattung  haben  dasselbe  Ziel: 
die  Realität  der  Freiheit  in  der  Sinnenwelt.  Aber  dies  Ziel  ist 
eine  Idee,  deren  Verwirklichung  in  der  Unendlichkeit  liegt,  und 
welche  die  Erfahrung  nie  realisiert  sehen  kann.  Die  Herrschaft 
der  einen  unsichtbaren  Kirche,  das  Reich  Gottes  auf  Erden,  die 
sitthche  Vollkommenheit  des  Individuums  und  der  ewige  Frieden 
der  Staaten,  sie  liegen  alle  an  ein  und  demselben  Punkte:  an 
dem  Schneidepunkte  der  Parallelen. 

In  dem  ^ttlichen  Maßstabe,  den  er  an  die  Beurteilung  aller 
Entwicklung  legt,  und  in  dem  Prinzip  der  nie  endenden  Arbeit 
für  ein  in  der  Erfahrung  unerreichbares  Ziel  besteht  Kants  Größe 
der  Aufklärung  gegenüber.  Er  teilt  mit  ihr  die  unerschütter- 
liche Überzeugung,  daß  es  keine  Wahrheit  gibt,  an  die  der  Mensch 
glauben  darf,  als  diejenige  der  Vernunft,  und  behauptet  deshalb, 
daß  die   philosophische  Erkenntnis   die   kritische   Norm   für   alle 


154  Kants  ästhetische  Philosophie. 

positiven  Fakultäten  bildet.  Aber  wenn  das  XVIII.  Jahrhundert 
die  Vernunftwahrheit  in  der  theoretischen  Erkenntnis  zu  besitzen 
meinte,  so  zerstört  Kant  diese  Illusion,  und  wenn  die  Männer, 
die  sich  für  die  Aufgeklärten  hielten,  diese  ihre  vermeintliche  Er- 
kenntnis als  ein  neues  Dogma  predigten,  so  tritt  Kant  dieser 
Anmaßung  der  » Auf  klär  er  ei «  auf  das  schärfste  entgegen.  Gerade 
durch  solchen  starren  Kationalismus  beweist  das  Zeitalter,  daß  es 
kein  aufgeklärtes  ist.  Aber  es  enthält  in  sich  die  Anlagen,  es  zu 
werden.  Je  mehr  das  Prinzip  zum  Durchbruch  kommt,  daß  der 
wahre  Besitz  der  Vernunft  nur  der  selbsterworbene  ist,  daß  nicht 
die  Aimahme  sogenannter  freisinniger  Meinungen,  sondern  viel- 
mehr die  selbstprüfende  Arbeit  des  Denkens  das  Wesen  des  sich 
aufklärenden  Geistes  ausmacht,  um  so  mehr  reift  die  mensch- 
liche Vernunft  der  sittlichen  Bestimmung  entgegen,  die  den  tiefsten 
Gehalt  auch  ihres  Erkenntnislebens  bildet.  Nicht  Ansichten  und 
Theoreme,  sondern  Absichten  und  Zwecke  sind  es,  welche  über 
die  Erfahrung  hinaus  dem  Triebe  der  Vernunft  genugtun.  In 
ihnen  sich  einig  zu  wissen,  an  ihrer  Durchführung  mit  dem  vollen 
Bewußtsein  der  Menschenpflichten  zu  arbeiten  und  in  dieser  Arbeit 
sich  mit  einer  höheren  Weltordnung  im  lebendigen  Zusammen- 
hange zu  glauben :  das  und  das  allein  ist  wahre  Aufklärung.  Wenn 
Kant  es  aussprach,  daß  in  diesem  Sinne  sein  Zeitalter  ein  Zeit- 
alter der  Aufklärung  sei,  so  konnte  er  es  nur  insofern  sagen,  als 
er  selbst  mit  seiner  Philosophie  ihm  diesen  Charakter  aufprägte 
und  es  über  sich  selbst  emporhob. 

§  61.     Kants  ästhetische  Philosophie. 

Die  Weltanschauung  des  Kritizismus  charakterisiert  sich  vor 
allen  anderen  dadurch,  daß  ihre  Wurzeln  mit  vollem  und  mit 
wissenschaftlich  sich  b ergründendem  Bewußtsein  nicht  lediirlich  in 
der  theoretischen,  sondern  hauptsächlich  in  der  praktischen  Ver- 
nunft liegen.  Daraus  aber  entspringt  ihr  dualistischer  Charakter. 
Der  Dualismus  von  Ding  an  sich  und  Erscheinung,  von  über- 
sinnlicher und  sinnlicher  Welt,  der  sich  dm^ch  Kants  ganze  Lehre 
hindurchzieht,  ist  derjenige  von  praktischer  und  theoretischer  Ver- 
nunft. Aber  es  wäre  nach  jeder  Kichtung  unrichtig,  zu  behaupten, 
daß  die  Kantische  Lehre  in  diesem  Dualismus  aufgehe.  Seine 
Überzeugung   von  der  innersten  Identität  dieser  beiden  Formen 


Überwindung  des  Dualifimu«.  155 

der  menschlichen  Vcrnunfttätigkoit  tritt  an  allen  Stellen  seiner 
Lehre  hervor.  Die  gesamte  Arbeit  der  theoretischen  Vernunft 
zeigt  sich  zuletzt  durch  die  Aufgaben  bestimmt,  welche  ihr  die 
praktische  setzt,  und  die  Enerfj^ie  der  sittlichen  Aufgabe  findet 
anderseits  ihre  Begründung  gerade  in  dem  Widerspruche,  worin 
sie  zu  der  sinnlichen  Natur  des  Menschen  steht.  So  weisen  in 
allen  ihren  Ausgestaltungen  die  praktische  und  die  theoretische 
Vernunft  stets  aufeinander  hin  und  deuten  miteinander  auf  eine 
Einheit,  die  in  keiner  von  beiden  allein  vollständig  zum  Austrag 
kommt.  In  der  theoretischen  Vernunft  hat  nur  der  sinnliche 
Mensch  seine  volle  Geltung,  nur  er  ist  das  Prinzip  der  Erkenntnis, 
und  der  übersinnliche  erscheint  nur  als  eine  problematische  Grenz- 
bestimmung. In  der  praktischen  Vernunft  gebietet  der  übersinn- 
liche über  den  sinnlichen,  aber  er  findet  in  dem  letzteren  eine 
nur  am  unendlichen  Ziele  zu  überwindende  Schranke  für  die  Er- 
füllung seines  Zwecks.  So  einander  bestimmend  und  beschränkend, 
verlangen  die  theoretische  und  die  praktische  Vernunft  den  Be- 
griff einer  einheitlichen  Funktion,  worin  ihre  ursprüngliche  Iden- 
tität, vermöge  deren  allein  sie  jene  Beziehungen  entwickeln  konnten, 
selbst  zum  Ausdrucke  kommt.  Gäbe  es  nur  theoretische  und 
praktische  Formen  und  Tätigkeiten  der  Vernunft,  so  wäre  deren 
inniges  Ineinandergeflochtensein,  welches  die  Kantische  Lehre  an 
allen  einzelnen  Punkten  aufgedeckt  hat,  die  rätselhafteste  aller 
Tatsachen.  Daher  beruht  der  Abschluß,  den  Kants  Philosophie 
in  der  Kritik  der  Urteilskraft  gefmiden  hat,  nicht  etwa  in  seinem 
persönlichen  Triebe  zum  Systembau,  sondern  der  »systematische 
Faktor«  ist  in  seiner  tief  sachlichen  Begründung  das  eigentlich 
entscheidende  und  vollendende  Prinzip  der  Kantischen  Philosophie, 
ohne  dessen  Verständnis  und  Anerkennung  man  nur  die  disiecta 
membra  philosophi  vor  sich  hat. 

Die  Überwindung  des  Dualismus  ist  nun  aber  nur  in  einer 
Vernunftfunktion  zu  suchen,  an  der  das  theoretische  und  das 
praktische  Leben  gleichmäßig  beteiligt  sind,  und  welche  doch  beiden 
gegenüber  eine  ursprüngliche  Eigenhaftigkeit  behauptet.  Hier  be- 
greift man,  weshalb  Kant  sich  jenen  Bestrebungen  der  empirischen 
Psychologie  anschloß,  die  neben  dem  Vorstellen  und  dem  Begehren 
eine  dritte  Grundfunktion  der  menschlichen  Psyche  unter  dem 
Namen  des  Gefühls  einzuführen  im  Begriffe  war.     Empirisch  zeigt 


150  Kants  ästhetische  Philosophie. 

das  Gefülil  die  erforderte  Doppelbeziehung  auf  die  beiden  anderen 
Tätigkeitsweisen.  Es  enthält  einen  Vorstellungsinhalt  und  setzt 
diesen  in  mehr  oder  minder  ausgesprochener  Weise  mit  einem 
Zweck  in  Beziehung,  der  eine  Form  des  Begehrens  darstellt.  Der 
Dualismus  der  Kantischen  Lehre  war  daher  nur  dadurch  zu  über- 
winden, daß  sich  eine  Vernunftform  des  Gefühls,  d.  h.  eine^^all- 
gemeine  und  notwendige  Gefühlstätigkeit  nachweisen  ließ ,  und 
neben  die  beiden  Fragen:  gibt  es  Erkenntnisse  a  priori,  und 
gibt  es  Begehrungen   a  priori,  trat  die  dritte:  gibt  es  Gefühle 

a  priori?  '-''\  "  ■"' 

Die  Kritik  der  Urteilskraft,  welche  die  Lösung  dieser  Auf-' 
gäbe  zum  Gegenstande  hat,  gibt  ihr  noch  eine  andere  Formulierung, 
die  zu  gleicher  Zeit  ihren  Gegenstand  erweitert.  Zwei  Welten 
stehen  sich  in  der  Kantischen  Weltauffassung  gegenüber,  die  sinn- 
liche und  die  sittliche.  Die  eine  ist  die  Welt  der  Erkenntnis, 
die  andere  diejenige  des  Glaubens.  Die  eine  ist  das  Reich  der 
Natur,  die  andere  ist  das  Reich  der  Freiheit;  in  der  einen  herrscht 
die  Notwendigkeit,  in  der  andern  der  Zweck.  Ein  absoluter  Dua- 
lismus, der  zwischen  beiden  eine  unüberschreitliche  Kluft  be- 
festigte, ist  durch  die  Tatsache  des  menschlichen  Bewußtseins 
widerlegt,  das  mit  seiner  einheitlichen  Funktion  sich  in  beiden 
gleich  heimisch  weiß.  Können  sie  aber  so  unmöglich  beziehungs- 
los einander  koordiniert  werden,  so  ist  zwischen  beiden  nur  da- 
durch eine  Vereinigimg  zu  finden,  daß  die  eine  der  andern  unter- 
geordnet wird.  Nun  kann  in  der  Kantischen  Philosophie  kein 
Zweifel  darüber  sein,  wie  sich  bei  dieser  Unterordnung  die  Rollen 
verteilen  sollen.  Aus  der  Unterordnung  der  praktischen  unter  die 
theoretische  Vernunft  haben  sich  alle  Irrtümer  der  früheren  Philo- 
sophie ergeben.  Aus  ihr  folgte  die  verfehlte  Tendenz,  die  Moral 
auf  eine  Metaphysik  zu  gründen,  die  nicht  mögüch  ist.  Aus  ihr 
folgte  die  fatalistische  Meinung,  daß,  was  man  für  Freiheit  hält, 
nur  eine  Art  der  Notwendigkeit  sei,  —  aus  ihr  der  ganze  Naturalis- 
mus, welcher  die  Welt  der  Zwecke  als  ein  Produkt  der  natür- 
lichen Notwendigkeit  angesehen  haben  will.  In  der  Tat  kann 
man  alle  die  Gegensätze,  welche  in  den  einzelnen  Lehren  zwischen 
Kant  und  z.  B.  Leibniz  oder  Hume  obwalten,  darauf  zurück- 
führen, daß  bei  den  letzteren  die  theoretische,  bei  dem  ersteren 
dagegen   die   praktische  Vernunft    den    Primat   über   die   andere 


llelloktitTümio  UrtoilHkraft.  157 

führt.  Die  A'orlc^^uii;^  {\v>^  [)liil(».s()pliis('hen  StuiidpiinkU'H  jiuh  der 
theoretischen  in  die  tMaktische  Vernunft  ist  vielleicht  der  schürfste 
Ausdruck  für  die  totale  Umwälzun«;,  die  in  der  Geschichte  dea 
modernen  Denkens  an  den  Nansen  Kants  «zekiiüpft  ist. 

Die  Unterordnun<jj  der  sinnlichen  unter  die  sittliche  Welt  ist 
nun  eine  Forderun«j;  der  praktischen  Vernunft,  welche  im  Handeln 
des  Menschen  niemals  vollständig  erreicht  wird.  Es  fragt  sich, 
ob  nicht  auch  unsere  vorstellende  Tätigkeit  dieser  Forderung  ge- 
recht werden  und  wir  damit  zu  einem  unmittelbaren  Bewußtsein 
von  der  Einheitlichkeit  unseres  vernünftigen  Wesens  gelangen 
können.  Es  fragt  sich,  ob  wir  das  Reich  der  Natur  dem 
Reiche  der  Freiheit  untergeordnet  denken  können,  und  ob 
es,  notwendige  und  allgemeingültige  Formen  gibt,  in  denen  dies 
sogar  geschehen  muß.  Von  vornherein  ist  aber  klar,  daß  diese 
Unterordnimi»;  niemals  eine  Funktion  der  Erkenntnis  sein  kann. 
Denn  die  Erkenntnis  reicht  an  die  sittliche  Welt  nicht  heran  und 
kann  deshalb  auch  kein  Verhältnis  der  sinnlichen  zu  ihr  erfassen. 
In  Kants  psychologischem  Schema  wird  die  Unterordnung  all- 
gemein mit  dem  Namen  der  Urteilskraft  bezeichnet.  Insofern 
diese  rein  theoretischen  Charakters  sein  soll,  muß  sie  entweder 
logisch  einen  Begriff  einem  Gattungsbegriffe  oder  transzendental 
eine  sinnliche  Anschauung  einer  Kategorie  subsumieren.  In  beiden 
Fällen  gibt  sie  eine  notwendige  Bestimmung  für  die  Erkenntnis 
des  Gegenstandes.  Dieser  »bestimmenden«  Urteilskraft  gegenüber 
nennt  Kant  die  reflektierende  Urteilskraft  diejenige,  ver- 
möge deren  wir  einen  Gegenstand,  ohne  damit  seine  Erkenntnis 
zu  erweitern,  einem  Gesichtspunkte  der  Betrachtung  unterwerfen, 
deren  Prinzip  wir  nicht  der  Erkenntnis  des  Gegenstandes  ent- 
nehmen, sondern  an  ihn  von  uns  aus  heranbringen.  Die  Er-~ 
kenntnis  bestimmt  den  Begriff  eines  Naturereignisses,  indem  sie 
es  aus  seinen  Ursachen  erklärt  und  allgemeinen  Gesetzen  unter- 
ordnet; wenn  wir  dagegen  dasselbe  Ereignis  als^  angenehm  oder 
-unangenehm  bezeichnen,  so  ist  dies  nur  eine  Art  der  Betrachtung, 
welche  wir  von  imserm  Bedürfnis  aus  an  den  Gegenstand  heran- 
bringen, und  womit  wir  die  theoretische  Auffassung  durch  die 
reflektierende  Urteilskraft  überschreiten.  Es  ist  nun  klar,  daß 
alle  diese  Reflexionen  auf  das  innigste  mit  den  Gefühlen  zu- 
sammenhängen,  die  wir   den  erkannten  Gegenständen  gegenüber 


j[58  Kant8  ästhetische  Philosophie.    * 

haben.  Jedes  Gefühl  ist  ein  Akt  der  Synthesis,  wodurch  wir  die 
Vorstellung  eines  Gegenstandes  auf  unseren  subjektiven  zweck- 
setzenden Zustand  beziehen.  In  diesem  Sinne  ist  die  Kritik  der 
reflektierenden  Urteilskraft  eine  Untersuchung  über  die  apriorischen 
Formen  des  Gefühlslebens. 

Jedes  Gefühl  enthält  entweder  Lust  oder  Unlust.  Dieses  »Ent- 
weder oder«  kann  nur  darauf  beruhen,  daß  der  Gegenstand,  auf 
den  sich  die  mit  dem  Gefühl  verbundene  Vorstellung  bezieht, 
irgend  einem  Bedürfnis  entpricht  oder  nicht  entspricht.  Im  all- 
gemeinsten Sinne  bezeichnen  wir  diese  Bedürfnisse  als  Zwecke, 
und  es  ergibt  sich  daraus,  daß  alles  Zweckmäßige  mit  einem 
Lustgefühl,  alles  Unzweckmäßige  mit  einem  Unlustgefühl  ver- 
knüpft ist.  In  jedem  Gefühl  haben  wir  eine  Unterordnung  des 
vorgestellten  Gegenstandes  imter  einen  Zweck.  Die  reflektierende 
Urteilskraft  also,  in  ihrer  empirischen  Gestalt  zunächst  mit  dem 
Gefühlsleben  identisch,  läßt  uns  die  höhere  Einheit  unseres  geistigen 
Gesamtwesens  darin  erkennen,  daß  sie  einen  Gegenstand  der  Er- 
kenntnis einem  Zwecke  unterordnet.  Aber  diese  empirischen  Re- 
flexionen würden,  als  vollständig  willkürlich  und  subjektiv,  niemals 
notwendigen  und  allgemeingültigen  Charakters  sein  können.  Von 
der  Apriorität  jener  Vernunfteinheit  können  wir  uns  nur  dann 
überzeugen,  wenn  es  notwendige  und  allgemeine  Reflexionen  gibt, 
die  mit  ebenso  notwendigen  und  allgemeinen  Gefühlen  verbunden 
sind. 

In  der  Tat  machen  wir  den  Anspruch,  solche  zu  haben.  Es 
gibt  zwei  Arten  eines  solchen  Verhaltens  unserer  Vernunft,  und 
sie  unterscheiden  sich  dadurch,  daß  in  der  einen  Art  das  Be- 
trachten, in  der  andern  Art  das  Fühlen  überwiegt.  Die  eine  Art 
hat  daher  mehr  Verwandtschaft  mit  unserer  theoretischen  Tätig- 
keit und  ist  in  Gefahr,  für  eine  Erkenntnis  gehalten  zu  werden. 
Erst  in  der  andern  tritt  das  Wesen  des  Gefühls  vollkommen  rein 
hervor. 

Die  ganze  Tätigkeit  der  reflektierenden  Urteilskraft  läuft  darauf 
hinaus,  die  natürlichen  Gegenstände  unter  dem  Gesichtspunkte 
der  Zweckmäßigkeit  zu  betrachten.  Darin  besteht  die  Unter- 
ordnung der  Natur  unter  die  Grundkategorie  des  Reiches  der 
Freiheit.  Aber  diese  Zweckmäßigkeit  stellt  sich  in  unserer  Be- 
trachtung entweder  so  dar,   daß  wir  den  Gegenstand,   abgesehen 


Teleologisclio  und  Usthetisclie  Urteilskrafl.  159 

von  seiner  Wirkung  auf  uns  a('ll).st,^zweikmäßi^  nennen,  oihtt  so, 
daß  wir  seine  Wirkung  auf  uns  als  eine  zweckmäßige  fühlen  und 
ihn  in  diesem  Sinne^  schön^"  oder  erhaben 'nennen.  Im  crsteren 
FaUe  handelt  es  sich  uni  objektive,  im  zweiten  um  subjektive 
Zweckmäßigkeit  der  natürlichen  Gegenstände.  Im  erstcren  Falle 
verfährt  die  Urteilskraft  teleologisch,  im  letzteren  Falle  ästhe- 
tisch. Im  erstercn  Falle  liegt  der  Schwerpunkt  des  Verhaltens 
in  der  verstandesmäßigen  Auffassung  der  Beziehungen  des  Gegen- 
standes, den  wir  als  zweckmäßig  beurteilen,  und  das  Gefühl  des 
Wohlgefallens  knüpft  sicli  nur  nebensächlich  daran.  Im  zweiten 
Falle  liegt  das  Ursprüngliche  in  der  Gefühlswirkung  auf  uns,  und 
erst  in  der  analytischen  Untersuchung  kommen  uns  die  Zweck- 
mäßigkeitsverhältnisse ausdrücklich  zum  Bewußtsein.  Offenbar 
aber  funktionieren  wir  in  beiden  Fällen  weder  rein  theoretisch 
noch  rein  praktisch,  sondern  derartig,  daß  wir  die  Gegenstände 
nach  Gesichtspunkten  betrachten,  die  aus  imseren  Bedürfnissen, 
seien  es  auch  allgemeine  und  notwendige,  hervorgehen.  Insofern 
als  wir  jetzt  gewöhnt  sind,  ein  solches  Verfahren  im  allgemeineren 
Sinne  als  ästhetisch  zu  bezeichnen,  darf  dieser  gesamte  Teil  der 
Kantischen  Lehre  den  Namen  seiner  ästhetischen  Philosophie 
tragen,  um  so  mehr,  als  eine  den  beiden  anderen  Teilen  der 
kritischen  Philosophie  ebenbürtige  Selbständigkeit  nur  in  Kants 
Ästhetik  liegt,  während  seine  Lehre  von  der  Teleologie  eine  etwas 
zweifelhafte  Mittelstellung  zwischen  der  theoretischen  und  der  im 
weiteren  Sinne  ^ästhetischen^  Funktion  einnimmt.  Insofern  die 
teleologische  Betrachtung  nur  Betrachtung  und  nicht  Erkenntnis 
enthalten  soll,  bleibt  sie  ästhetische  Funktion.  Insofern  aber,  als 
sie  die  Zweckmäßigkeit  im  Gegenstande  sucht  und  ihre  Objek- 
tivität behauptet,  wird  sie  theoretischen  Charakters  und  ist  nur 
schwer  von  einer  Tätigkeit  der  Erkennens  zu  scheiden. 

Die   Methode   des   Kritizismus   verlangt   für   die    Begründung 
teleologischer  Urteile  a  priori  zunächst  die  Analyse  der  Bi    ""■^^ 
dingungen,  unter  denen  allein  sie  möglich  sind.     Diese  versteheir^— ^    >^ 


sich   am   besten,    wenn   man   wiederum  die  Veranlassuno;en   auf- /  /      / 
sucht,  welche  in  der  Erkenntnistätigkeit  für  eine  teleologische 
Betrachtung  vorhegen.    In  dieser  Hinsicht  entwickelt  die  Kritik 
der  Urteilskraft  zwei  neue  Grenzbeofriff e  der  theoretischen  Ver- 
nunft,  und  wenn  man  mit  Recht  sagen  darf,  daß  Kants  erkenn tnis- 


1QQ  Kants  ästhetische  Philosophie. 

theoretisclie  Untersuchungen  erst  hier  ihren  Abschluß  finden,  so 
zeigt  sich  darin  am  besten,  daß  die  Teleologie  ein  Grenzgebiet 
zwischen  dem  theoretischen  und  dem  ästhetischen  Verhalten  der 
Vernunft  darstellt. 

Der  eine  dieser  beiden  Grenzbegriffe  entwickelt  sich  aus  der 
Keflexion  auf  die  Schranken,  welche  der  apriorischen  Natur- 
erkenntnis durch  ihre  Form  der  Gesetzmäßigkeit  selbst  gezogen 
werden.  Eine  allgemeine  und  notwendige  Erkenntnis  des  Natur- 
verlaufs beschränkt  sich  von  selbst  auf  die  Darstellung  der  Gesetze, 
die  darin  herrschen.  Der  besondere  Inhalt  jeder  einzelnen  Natur- 
erscheinung, ihre  spezifische  Eigentümlichkeit  ist  a  priori  nicht 
zu  erkennen.  Sie  ist  aber  eine  Tatsache,  und  auch  sie  bedarf 
nach  dem  Gesetze  der  Kausalität  einer  Erklärung.  Es  gehört  zu 
den  tiefsten  Einsichten  Kants,  daß  er  dieses  Bedürfnis  der  Wissen^ 
Schaft  klar  formuliert  hat.  Es  erwies  sich  als  ein  fundamentaler 
Fehler  der  Aufklärungsphilosophie,  daß  sie  in  ihrer  Bewimderung 
der  großen  Gesetzmäßigkeit  der  Natur  den  Wert  der  individuellen 
Erscheinung  vernachlässigte,  und  daß  nur  hie  und  da  die  historische 
Betrachtung  oder  die  Gefühlsphilosophie  darauf  aufmerksam  wurde. 
Kant  widerlegt  hier  zum  zweiten  Male  die  Meinung  derjenigen, 
welche  die  Tendenz  seiner  Kritik  nur  in  der  Erklärung  von  Ge- 
setzen sehen.  Er  konstatiert,  daß  die  »Spezifikation«  der  Natur 
nur  durch  Erfahrung  uns  zum  Bewußtsein  kommt  und  deshalb 
für  die  apriorische  Erkenntnis  »zufällig«  bleibt.  Zwar  vermögen 
wir  den  spezifischen  Charakter  der  einzelnen  Erscheinungen  nach 
dem  Prinzip  der  Kausalität  aus  anderen  Erscheinungen  gesetz- 
mäßig abzuleiten:  aber  deren  spezifischer  Eigentümlichkeit  gegen- 
über befinden  wir  uns  wieder  in  derselben  Lage,  und  dieser  Prozeß 
geht  für  die  Erkenntnis  bis  ins  Endlose.  Wie  schon  Nicolaus  von 
Cues  und  Spinoza,  so  sieht  auch  Kant  ein,  daß  vom  Unendlichen 
und  Unbedingten  kein  Weg  zu  einem  einzelnen  Endlichen  und  Be- 
dingten führt,  daß  vielmehr  nur  die  anfangs-  und  endlose  Reihe 
des  Endlichen  als  Erscheinung  des  Unendlichen  aufgefaßt  werden 
kann.  Der  Weltlauf  in  seiner  kausalen  Notwendigkeit  ist  ein  Ge- 
webe von  zahllosen  Fäden,  die  sich  fortwährend  kreuzen  und  zu 
immer  neuen  Gebilden  verschlingen.  Vermöchten  wir  es  auch, 
den  naturnotwendigen  Verlauf  jedes  dieser  Fäden,  vermöchten 
wir  es,   die  notwendigen  Folgen,    die   jedesmal  das  selbst  wieder 


(loch  dies  ganze  »System    der    (^  j 
klärte   Tatsache   bleiben.     Jeder       ^ 


Spezifikation  der  Natur.  161 

kausalnotwondigc  Zusamnicntieffeii  der  Fäden  haben  muß,  voll- 
kt)mmen  zu  verfolgen,  so  winde 
Krfahrung<<  für  uns  eine  unerl 
Weltzustand  sei  in  seiner  ganzei\  Ausdehnung  als  die  kausal  not- 
wendige Wirkung  des  nächst  vorhergehenden  nach  Naturgesetzen 
erklärt,  —  so  würde  doch  dieser  ganze  Prozeß  nur  dadurch  er- 
klärlich sein,  daß  irgend  ein  Anfangszustand  den  ganzen  folgenden 
Verlauf  bedingt  hätte.  Es  ist  unmöglich,  nach  imserer  Zeit- 
anschauung einen  solchen  zu  denken,  geschweige  ihn  zu  erkennen. 
Und  selbst  wenn  wir  ihn  erkennen  könnten,  so  würde  eben  dieser 
Anfangszustand  für  uns  bloß  ein  Gegebenes,  eine  unbegriffene 
Tatsache  sein.  Ja,  wir  müssen  es  überhaupt  schon  als  eine  glück- 
liche, obschon  für  unsere  Einsicht  völlig  zufällige  Tatsache  an- 
sehen, daß  der  gegebene  Inhalt  der  Wahrnehmung  sich  unserer 
Organisation  wenigstens  so  weit  angemessen  erweist,  daß  ^vir 
unsere  logischen  und  transzendentalen  Vernunftformen  darauf  an- 
zuwenden imstande  sind.  Unsere  Fähigkeit,  in  der  unendlichen 
Mannigfaltigkeit  der  Erscheinungen  uns  mit  unsern  Begriffen  zu 
orientieren,  beruht  darauf,  daß  die  Dinge,  die  wdr  erleben,  sich 
nach  Arten,  Gattungen  und  Geschlechtern  anordnen  und  daß  die 
Reo;elmäßigkeiten  des  zwischen  ihnen  stattfindenden  Geschehens 
sich  zu  besonderen,  allgemeineren  und  allgemeinsten  Gesetzen  zu- 
sammenfassen lassen.  Dieses  Zw^eckmäßigkeitsverhältnis  zwischen 
unseren  Denkformen  und  dem  für  sie  gegebenen  Inhalt  ist  für 
unsere  Erkenntnis  durchaus  unableitbar,  also  »zufälHg<<.  Das  ist 
eben  darin  begründet,  daß  der  besondere  Inhalt  der  Erfahrung 
von  uns  nicht  wie  ihre  Formen  erzeugt,  sondern  in  uns  vorge- 
funden wird.  Eine  allgemeine  und  notwendige  Erkenntnis  auch 
dieses  besonderen  Inhaltes  der  Erfahrung  und  des  Grundes  seiner 
Angemessenheit  zu  den  Formen  wäre  nur  für  einen  Geist  möghch, 
der  auch  den  Inhalt  durch  seine  Anschauung  erzeugte.  Der 
Begriff  eines  solchen  Geistes  ist  in  der  Kritik  der  reinen  Vernunft 
schon  aufgestellt  worden:  es  ist  der  der  intellektuellen  Anschauung 
oder  des  intuitiven  Verstandes*).  Für  ihn  würde  auch  die 
Spezifikation  der  Natur  a  priori  erkannt  sein;   denn  es  wäre  ihr 

*)  Kant  braucht  hier  und  auch  sonst,  namentlich  schon  in  dem  Briefe 
an  M.  Herz  (vgl.  oben  S.  43;  für  diesen  Begriff  gern  den  älteren  Xamen  des 
Intellectus  archetypus. 

Windelband,  Gesch.  d.  n.  Philos.    II.  11 


252  Kants  ästhetische  Philosophie. 

Urlieber*).  Es  ist  nun  konstatiert,  daß  wir  Menschen  diesen 
intuitiven  Verstand  nicht  haben,  daß  wir  ihn  auch  nicht  zu  er- 
kennen und  deshalb  nicht  einzusehen  vermögen,  wie  er  den  ge- 
samten Weltlauf  auch  seinem  spezifischen  Inhalte  nach  hervor- 
bringe; aber  es  ist  ebenso  konstatiert,  daß  die  Eeahtät  eines 
solchen  intuitiven  Verstandes  theoretisch  auch  nicht  geleugnet 
werden  kann,  daß  wir  vielmehr  im  sittlichen  Bewußtsein  den 
apriorischen  Grund  haben,  an  die  Realität  eines  gemeinsamen 
Schöpfers  der  sinnlichen  und  der  übersinnlichen  Welt  zu  glauben. 
Wenn  es  deshalb  ein  allgemeines  und  notwendiges  Bedürfnis 
unseres  Verstandes  ist,  eine^letzte  Ursache  für  das  gesamte  System 
der  Erfahrung  mit  ihrem  uns  nur  gegebenen  Inhalte  zu  denken, 
welchem  gegenüber  sich  doch  unsere  ganze  Organisation  der  Denk- 
tätigkeit als  zweckmäßig  angepaßt  erweist,  so  ergibt  sich  daraus 
das  allgemeine  und  notwendige  Bedürfnis,  die  Natur  so  zu  be- 
trachten, als  ob  sie  das  Produkt  eines  intuitiven,  d.  h.  eines 
göttlichen  Verstandes  wäre. 

Erzeugung  aber  durch  den  Verstand  und  ^zweckmäßige  Er- 
zeugung sind  miteinander  identisch.  Denn  der  Verstand  operiert 
von  Begriffen  aus;  wenn  der  Verstand  etwas  erzeugt,  so  erzeugt 
er  es  als  das  seinem  Begriffe  Angemessene.  Die  Betrachtung  der 
Natur  als  des,^ Werkes  eines  göttlichen  Verstandes  ist  deshalb  die 
Betrachtung  der  Natur  als  eines^^  zweckmäßigen  Systems  der  Er- 
fahrung. Soweit  als  das  Bedürfnis,  einen  Grund  für  die  Spezi- 
fikation der  Natur  zu  denken,  und  als  der  moralische  Glaube  an 
die  Realität  eines  göttlichen  intuitiven  Verstandes  allgemein  und 
notwendig   sind,   soweit   ist   die  Vernunft   auch   a  priori  genötigt 


*J  Kant  verfolgt  hier  in  seinen  Formeln  und  philosophischen  Interessen 
genau  denselben  Gedankengang,  der  bei  Leibniz  sich  dahin  ausgesprochen 
hatte,  daß  die  > tatsächlichen  Wahrheiten«,  welche  sich  für  die  menschliche 
Erkenntnis  nicht  auf  die  ewigen  "Wahrheiten  zurückführen  lassen,  im  gött- 
lichen Verstände  aus  den  letzteren  müßten  abgeleitet  werden  können.  Der 
Unterschied  zwischen  beiden  Denkern  ist  dabei  wesentlich  der,  daß  für 
Leibniz,  seinem  dogmatischen  Charakter  gemäß,  sich  daraus  eine  meta- 
physische Erkenntnis  des  Gegensatzes  der  ewigen  und  der  tatsächlichen  Welt 
und  weiterhin  derjenige  der  möglichen  Welten  und  der  von  der  göttlichen 
Güte  ausgewälilten  und  geschaffenen  Welt  ergab,  während  der  Kritizismus 
diesen  Gegensatz  in  den  subjektiven  Gegensatz  der  Erkenntnis  und  der  Be- 
trachtung umwandelte.     Vgl.  Bd.  I  d,  Werkes,  §  48. 


I 


Zw0okin!ißip:keit  der  Welt.  103 

und  berecht iijt,  den  gesamten  Kau.salzusainnienJian^  dos 
Weltlaufes  unter  dem  teleolo^^iachen  Gesichtapunktc  zu 
^/betrachten,  als  ob  seine '^weckruaßi<^'keit*  in  seinem  Ur- 
sprung aus  der  S^Mittlicherw  Schöpfertätigkeit  beruhe. 
Diese  Betrachtung  ist  keine  ^Erkenntnis.  Der  physiko-theologische 
Beweis  für  das  Dasein  Lottes  ist  unmöglich,  inid  man  muß  deshalb 
diesen  kritischen  Gedankengang  Kants  durchaus  von  dem  Newton- 
schen  unterscheiden,  den  auch  er  noch  in  der  »Naturgeschichte 
des  Himmels«  vorgetragen  hatte.  Gab  es  dort  den  kausalen 
Schluß  von  der  vollkommensten  Maschine  auf  den  intelligenten 
Urheber,  so  wird  jetzt  ein  solcher  Schluß  theoretisch  geradezu 
verworfen,  dabei  aber  doch  an  dem  Unbeweisbaren  in  der  Gestalt 
einer  vernunftnotwendigen^ Betrachtungsweise  festgehalten. 
Für  die  persönliche  Gewißheit  läuft  freilich  beides  auf  dasselbe 
hinaus:  aber  die  Begründung  ist  prinzipiell  durchaus  verschieden. 
Die  Teleologie  wird  auf  eine  Betrachtungsweise,  auf  ein  moralisch- 
ästhetisches Verhalten  reduziert  und  aus  der  Wissenschaft  ver- 
wiesen. Jeder  Versuch,  die  einzelne  Naturerscheinung  für  die 
wissenschafthche  Erkenntnis  aus  einem^^Zweck,^  den  sie  erfüllen 
solle,  zu  erklären,  ist  verfehlt;  in  der  Erkenntnis  kann  jedes  Ding 
und  jedes  Geschehen  der  Natur  immer  nur  aus  seinen  Ursachen" 

abgeleitet  werden,  und  es  ist  der  »Tod«  aller  Naturwissenschaft,  für 

.  .  .  ' 

die   Erklärung   der   einzelnen   Erscheinungen .  zwecktätige   Kräfte 

anzunehmen.  Die  Ursachen,  die  \vir  erkennen  können,  wirken 
mit  mechanischer  Notwendigkeit.  Wenn  sich  zeigt,  daß  wir  aus 
dieser  mechanischen  Notwendigkeit  das  Ganze  der  Natur  nicht 
begreifen  können,  so  stehen  wir  eben  damit  an  der  Grenze  des 
kausalen  Begreifens,  und  es  ist  dann  eine  zwar  notwendige 
und  allgemeingültige  Betrachtungsweise,  aber  auch  nur  eine^Be- 
trachtungsweise,  wenn  wir  den  gesamten  Zusammenhang  der  Natur 
so  ansehen,  als  ob  er  die  Erscheinungsform  für  die  Verwirklich img 
einer  göttlicTien  Zwecktätigkeit  sei.  Diese  Betrachtimgsweise  ist 
aber  nicht  etwa  nur  eine  Annahme,  die  wegen  ihrer  Brauchbarkeit 
für  intellektuelle  oder  praktische  Zwecke  trotz  ihrer  wissenschaft- 
lichen Unrichtigkeit  zugelassen  würde,  also  keine  Fiktion,  sondern 
sie  ist  eine  vernunftnotwendige  Ansicht,  von  deren  Wahrheit  nach 
Kant  der  Intellekt  geradeso  sicher  überzeugt  ist  wie  von  den 
Einsichten     der    Wissenschaft:     der    Unterschied    zwischen    den 

11* 


\Q^  Kants  ästhetische  Philosophie. 

Wahrheiten  der  theoretischen  Erkenntnis  und  den  Betrachtungen 
»als  ob«  von  Seiten  der  praktischen  und  der  ästhetischen  Vernunft 
besteht  nicht  in  dem  Maße,  sondern  in  der  Art  ihrer  Geltung. 
Deshalb  ist  diese  Lehre  vom  »Als -ob«  der  typische  Ausdruck  der 
Stellung  Kants  zum  Rationalen  und  zum  Irrationalen. 

Fragen  wir  jedoch  nach  dem  Inhalte,  welchen  der  göttliche 
Zweck  haben  kann,  dem  wir  den  Kausalmechanismus  in  unserer 
Betrachtung^^  zu  unterwerfen  genötigt  sind ,  so  ist  auch  dieser 
natürlich  nicht  theoretisch  erkennbar,  sondern  nur  ein  Gegenstand 
des  praktischen  Glaubens.  Grund  verfehlt  ist  daher  jeder  Versuch, 
nachzuweisen,  wie  die  Kräfte  der  Natur  ineinandergreifen,  um 
Glücksehgkeit  herbeizuführen  und  die  Fimktion  der  einen  Wesen 
in  den  Dienst  des  Nutzens  der  andern  zu  stellen,  und  in  diesem 
Sinne  »mißlingt  jeder  Versuch  der  Theodicee«  nicht  minder  als 
die  Nützlichkeitskrämerei,  aus  welcher  die  Aufklärungsphilosophie 
ihre  erbaulichen  Betrachtungen  machte.  Es  gibt  nach  Kant  keine 
»physische  Teleologie <<.  Der  einzige  göttliche  Zweck,  an  dessen 
Realität  wir  ^glauben  können,  ist  der,  welchen  uns  die  praktische 
Vernunft  lehrt:  die  Erfüllung  des  Sittengesetzes.  An  dieser 
Stelle  überwindet  die  Kritik  der  Urteilskraft  den  Rigorismus  der 
ethischen  Auffassung  durch  diese  selbst  und  den  Dualismus  der 
Kritik  der  praktischen  Vernunft  durch  den  moralischen  Glauben. 
Wenn  es  dort  hieß,  daß  die  natürliche  Notwendigkeit  den  Anta- 
gonismus gegen  das  Sittengesetz  unbedingt  involviere,  so  wird 
diese  Auffassung  hier  auf  das  individuelle  Triebleben  beschränkt, 
und  es  tritt  ihr  der  höhere  Gedanke  entgegen,  daß  der  gesamte 
Kausalmechanismus  des  Weltlaufes  in  letzter  Instanz  doch  als 
der  Realisierung  des  Sittengesetzes  unterworfen  und  ihr  allein 
dienend  notwendig  betrachtet  werden  müsse.  Es  ist  für  die 
Naturauffassung  ganz  dieselbe  Versöhnung  der  Gegensätze,  wie 
sie  die  Kantische  Geschichtsphilosophie  für  die  Auffassung  des 
empirischen  Menschenlebens  anstrebte:  lehrte  die  Geschichtsphilo- 
sophie, daß  das  letzte  Ziel  der  historischen  Entwicklung  die  Ver- 
wirklichung der  Freiheit  in  der  sinnlichen  Welt  sei,  so  lehrt  die 
Teleologie,  daß  nur  unter  dem  Gesichtspunkte  dieses  Zwecks  auch 
der  gesamte  Mechanismus  des  allgemeinen  Naturlebens  betrachtet 
werden  muß,  daß  die  Herstellung  des  Reiches  Gottes  auf  Erden 
der  letzte  Sinn  alles  empirischen  Daseins  ist.    Immer  weisen  die 


Kthische  'l'elcologrie.  165 

Bedürfiussc  unseres  Erkenncns  in  dw  Unendlichkeit:  diese  selbst 
aber  kann  nicht  erkannt  werden,  sie  ist  ein,  Postulat  dea'^tjjaubena 
oder  ein  Gesichtspunkt  der*  Betrachtung. 

Kants  Teleologie  ist  also  nicjit  nur  in  ihrer  Begründung  und 
in  dem  Ansprüche,  den  sie  erhebt,  nicht  sowohl  eine  Erkenntnis, 
als  vielmehr  eine  vernunftnotwendige  ^Batrachtungi^weise  zu  sein, 
sondern  sie  ist  auch  in  ihrem  ganzen  Inhalte  von  der  früheren 
wesentlich  verschieden.  Sie  erklärt  ausdrücklich,  daß  der' Nutzen' 
in  keiner  Weise  ein  teleologisches  Prinzip  sei,  und  sie  läßt  die 
Nützlichkeitsverhältnisse  zwischen  den  verschiedenen  Dingen,  welche 
überdies  für  die  Erkenntnis  nur  kausal  zu  begreifen  sind,  in  der 
teleologischen  Betrachtung  höchstens  als  Mittel  gelten,  die  man 
dem  einzigen  absoluten  Zwecke,  dem  Sittengesetze,  untergeordnet 
denken  kann.  Aber  niemals  ergeben  sich  aus  dieser  allgemeinen  \ 
teleologischen  Beziehung  des  Naturmechanismus  auf  einen  gött- 
lichen Weltzweck  einzelne  teleologische  Urteile  über  die  Zweck- 
^mäßigkeit  besonderer  Vorgänge.  Denn  jeder  Vorgang  ist  nur  ein 
Glied  in  der  miendlichen  Kette  des  Kausalmechanismus,  und 
welche  teleologische  Bedeutung  darin  einem  einzelnen  Vorgange 
zukommt,  würden  wir  nur  dann  verstehen  können,  wenn  wir  den 
ganzen  Kausalnexus  bis  in  seine  feinste  GHederung  durchschauten 
und  die  Art  und  Weise,  wie  er  sich  dem  sittlichen  Endzweck 
unterordnet,  uns  vorzustellen  vermöchten.  Da  beides  nicht  der 
Fall  ist ,  so  liefert  der  Grenzbegriff  der  Spezifikation  und  des 
-^Systems  der  Erfahrung  in  Verbindung  mit  dem  praktischen 
Glauben  nur  die  Berechtigung  für  eine  ganz  allgemeine  Be- 
trachtung'^  der  Natur  als  eines  in  letzter  Instanz  zweckmäßigen 
Zusammenhanges  der  Erscheinungen. 

Besondere  teleologische  Urteile  bedürfen  deshalb  vor  der  Kritik 
der  Urteilskraft  noch  einer  anderen  Rechtfertigung.  Sie  werden 
nur  dann  möglich  sein,  wenn  es  Erscheinungen  gibt,  die  in  sich 
selbst  ohne  Rücksicht  auf  irgend  etwas  anderes,  sogar  ohne  Rück- 
sicht auf  den  sittlichen  Zweck,  sich  unserer  Betrachtung  als  zweck- 
mäßig darstellen  und  der  kausalen  Erklärung  unübersteigliche 
Hindernisse  darbieten.  Derartige  Erscheinungen  müßten  also  für 
zweckmäßig  gelten  ohne  Beziehung  auf  irgend  etwas,  was  durch 
sie  erreicht  werden  sollte:  ihr  Zweck  müßte  nicht  außerhalb, 
sondern  in  ihnen  selbst  liegen.    Das  ist  nur  dadurch  möghch, 


166  Kants  ästhetische  Philosophie. 

daß  wir  uns  für  berechtigt  halten,  in  gewissem  Sinne  sie  sowohl 
als  Ursache,  als  auch  als  Wirkung  ihrer  selbst  anzusehen.  Eine 
solche  Identität  liegt  überall  da  vor,  wo  etwas  aus  bewußter 
A  Absicht  zweckmäßig  erzeugt  worden  ist.  Die  Ursache  der  Arte- 
fakten des  Menschen  bildet  die  Idee  der  Wirkung,  welche  sie 
hervorbringen  sollen.  Nun  ist  aber  die  bewußte  Absicht  niemals 
als  eine  Ursache  in  der  uns  als  Natur  gegebenen  Erscheinungs- 
welt anzuerkennen;  die  Natur  kennt  nur  mechanische  Wirksam- 
keit. Wenn  jedoch  gewisse  ihrer  Erscheinungen  den  Eindruck 
machen,  als  ob  auch  bei  ihnen  die^Idee  des  Ganzen' die  Oenesis 
der  einzelnen  "Teile  und  ihre  Wirksamkeit  bestimmte,  und  wenn 
zur  Erklärung  dieses  Verhältnisses  unsere  kausale  Einsicht  nicht 
ausreicht,  so  sind  wir  genötigt,  diese  Gebilde  so  zu  betrachten,  als 
ab  sie  aus  dem  Gedanken  ihres '"Zwecks  hervorgegangen  wären. 
Alle  diese  Bedingungen  nun  treffen  zu  bei  den  Organismen. 
Der  Lebenszusammenhang  eines  Organismus  ist  derartig,  daß  dieser 
nur  aus  seinen  bestimmten  Teilen  zusammengesetzt  gedacht  werden 
kann.  Aber  diese  Teile  sind  nicht  etwa  vor  ihm  und  unabhängig 
von  ihm  vorhanden,  so  daß  er  erst  aus  ihnen  entstünde,  sondern 
umgekehrt  sind  diese  Teile  wieder  mit  ihrer  ganz  bestimmten  Ge- 
stalt und  Funktion  nur  in  diesem  Organismus  möglich.  Sowenig 
wie  das  Ganze  ohne  die  Teile,  sowenig  sind  die  Teile  ohne  das 
Ganze  möglich.  Darin  besteht  die  Zweckmäßigkeit  der  Orga- 
nismen, daß  ihre  Organe  gerade  so  gebildet  sind  und  gerade  so 
funktionieren,  wie  es  für  die  Lebenstätigkeit  des  Ganzen  not- 
wendig ist,  und  daß  umgekehrt  erst  der  Zusammenhang  des  ganzen 
Organismus  nötig  ist,  um  der  Gestalt  und  der  Funktion  des  ein- 
zelnen Gliedes  Sinn  und  Bedeutung  zu  geben.  Diese  Zweckmäßig- 
keit der  Organismen  aber  ist,  wie  Kant  lehrt,  ganz  auf  sie  selbst 
beschränkt,  sie  gilt  ohne  Eücksicht  auf  dasjenige,  was  ein  Orga- 
nismus etwa  in  der  sonstigen  Welt  für  Wirkungen  ausübt.  Das 
Wechsel  Verhältnis  zwischen  dem  Ganzen  und  den  Teilen  trägt  die 
Zweckmäßigkeit  insofern  an  sich,  als  beide  nur  durcheinander  zu 
existieren  vermögen.  Aber  diese  Tatsache  des  Lebens  ist  zu- 
gleich ein  großes  Rätsel  für  unsere  Erkenntnis,  (^erade  dieses 
Wechsel  Verhältnis  des  Ganzen  zu  seinen  Teilen  ist  für  die  mecha- 
nische Naturerklärung  ein  undurchdringliches  Geheimnis:  diese 
kann  immer  nur  das  Ganze  als  das  Produkt  der  Teile  und  ihrer 


Das  Lülien  al«  Ctrenz))epfri<V.  1(>7 

jjjasetzmäßi^oii  Bewegungen  uuffatüsen,   von  einer  Hestimmung  der 
Teile  durch  das  Ganze  gewährt  sie  keine  Erkenntnis,    Wir  kfinnea 
niemals   verstehen,   weshalb  dies  organische  Ganze  gerade  diese 
Teile  notwendig  verlangt.     Kant   sucht  hier  die  Behauptung   zu 
begründen,  welche  er  in  der  »Naturgeschichte  des  Hinimels^<   auf- 
gestellt hatte,   daß  die  Organisation  eine  unerkennbare  Tatsache 
sei.    Er  gibt  nicht  nur  zu,  sondern  er  verlangt  ausdrücklich,  daß 
die   wissenschaftliche   Erkenntnis,   soweit   sie   irgend    zu   dringen 
vermag,  die  kausalen  Notwendigkeiten  aufdecke,   welche   sich  in 
dem  Prozesse  des  J^ebens  abspielen.    Aber  verfolgt  man  diese  an 
dem  einzelnen  Organismus,   so  wird  man  immer  finden,   daß  sie        ^ 
nicht  nur  durch  die  Einflüsse  der  umgebenden  Welt,   sondern  in^'-'^^*^ 
erster  Linie  durch  die  ursprüngliche  Anlage  bedingt  sind,  die  UuU^"^ 
der  Organismus  vermöge  seiner  Abstammung  von  einem  anderen   '^^f**^ 
Organismus  anfänglich  besaß.    Die  physiologische  Erkenntnis  des    ^ 
kausalen  Mechanismus  im  organischen  Leben  endigt  bei   dem  Be- 
griffe des  Embryo ,    in   dessen  ursprünglicher  Anlage   die   Bedin- 
gung  für   alle   mechanischen  Reaktionen    auf    die   Einflüsse    der 
Außenwelt  zu  suchen  ist.    Den  Ursprung  des  Embryo  kann  aber 
die  Erkenntnis  immer  nur  wieder  in  einem  anderen  Organismus 
suchen;  die    »generatio  aequivoca«   ist   eine  unerwiesene   und  zu 
gleicher  Zeit  aller  kausalen  Erklärung  widersprechende  Hypothese, 
und  so  setzt  die  Erklärung  des  organischen  Lebens  das  letztere 
selbst  immer  wieder  voraus.     Sie  tut  das  auch,  wenn  sie  weiter- 
gehend die  Entstehung  der   verschiedenen   Spielarten  und  selbst 
die  der  Arten  auf  mechanischem  Wege  aus  ursprünglicheren  Or- 
ganisationen   herzuleiten   versucht.     Kant  hat   diesen   Gedanken 
namentlich  an  dem  für  seine  anthropologischen  Studien  wichtigen 
Begriffe  der  Menschenrasse  entwickelt.     Er  suchte   zu  zeigen, 
daß  die  verschiedenen  Rassen,  deren  er  vier  annahm,  dm'ch  ihre 
Fähigkeit  der   fruchtbaren  Kreuzung  ihre  x4.bstammung  von   ein 
und  derselben  Gattung  beweisen,   und  daß  sie  sich  daraus  unter 
der  Einwirkung  klimatischer  Verhältnisse  im  Laufe  der  Zeit  ent- 
wickelt hätten.     Aber  er  machte  darauf  aufmerksam,    daß  diese 
Hypothese  eben  die  Entwicklungsfähigkeit,  wie  man  heute  sagen 
würde,  die  Variationsfähigkeit  oder  Anpassungsfähigkeit,  d.  h.  eine 
ursj)rüngliche  Anlage  in  der  menschlichen  Gattung,  auf  verschie- 
dene klimatische  Einflüsse  verschieden   zu   reagieren,   notwendig 


\ßS  Kants  ästhetische  Philosophie. 

voraussetze,  und  daß  diese  Voraussetzung  selbst  sich  jeder  kau- 
salen Erklärung  entziehe.  Allein  der  Blick  unseres  Philosophen 
in  die  Wissenschaft  des  organischen  Lebens  reicht  weiter.  Er 
sieht  ein,  daß  die  Betrachtungsweise,  welche  auf  die  Rassen  in 
ihrer  Beziehung  zu  der  gemeinsamen  Art  angewendet  werden 
konnte,  möglicherweise  auch  für  die  Arten  selbst  gilt,  und  ob- 
wohl noch  genaue  empirische  Versuche  und  Nachweise  dafür 
fehlten,  hält  er  die  Kühnheit  eines  »Archäologen  der  Natur«  für 
möglich,  erlaubt  und  berechtigt,  welcher  nach  den  Spuren  der 
ältesten  Revolutionen  die  ganze  große  Familie  von  Geschöpfen 
nach  mechanischen  Gesetzen  in  immer  zweckmäßigerer  Gestaltung 
aus  einer  ursprünglichen  Organisation  durch  den  Prozeß  der  Gene- 
rationen hervorgehen  ließe.  Möglich  und  sogar  wahrscheinlich, 
daß  Kant  mit  den  entwicklungsgeschichtlichen  Theorien  der  fran- 
zösischen Denker,  welche  freilich  erst  nach  dem  Erscheinen  der 
Kritik  der  Urteilskraft  durch  Lamarck  eine  sichere  Fassung  er- 
hielten, bekannt  war,  daß  sie  ihm  namenthch  durch  den  in 
Deutschland  viel  gelesenen  Bonnet  näher  gelegt  waren:  —  er 
steht  vor  ihnen  als  vor  einem  »gewagten  Abenteuer«  der  er- 
kennenden Vernunft,  dessen  Durchführbarkeit  seinem  naturwissen- 
schaftlichen Geiste  prinzipiell  nicht  unmöglich  erscheint.  Aber 
gesetzt,  es  wäre  durchgeführt,  so  wäre  damit  das  Problem  des 
Lebens  nicht  gelöst,  sondern  nur  zurückgeschoben :  denn  jene 
ursprüngliche  Organisation  der  Hypothese  wäre  genau  so 
unbegreiflich  wie  jede  besondere  Organisation  der  Tatsachen. 
Das  LebeiS  ist  der  Grenzbegriff  der  mechanischen  Natur-. 
erkTärung.  Kant  meint,  die  Entstehung  der  Organisation  aus 
dem  unorganischen  Leben  sei  für  uns  unerkennbar.  Es  ist 
möglich  und  nicht  zu  widerlegen,  daß  sie  aus  dem  unorganischen 
Dasein  nach  lediglich  mechanischer  Kausalität  hervorgegangen  sei. 
Aber  wir  werden  diesen  Prozeß  nie  begreifen  und  ihn  niemals 
beweisen  können.  Denn  —  das  ist  das  alte  Grundkriterium  der 
Kantischen  Erkenntnistheorie  —  dann  könnten  wir  ihn  auch  selbst 
herbeiführen :  wir*"erk^imenj  was  wir  selbstj^haf f en^^  ^^^,, Z weck- 
mäßige  steht  für  unsere  Erkenntnis  wie  ein  Fremdling  in  dem 
mechanischen  Naturzusammenhange,  den  wir  verstehen  können, 
und  wir  sind  deshalb  berechtigt  und  genötigt,  ihn  als  einen  Gast 
aus  einer  höheren  Welt,  aus  der  Welt  der  Zwecke,  zu  betrachten. 


Tolcolügio  als  huuristinohes  Prinzip.  109 

ßo  ordnen  sich  die  besonderen  teleologischen  Urteile,  mit  d«'n<»n 
wir  berechtigt  sind  die  kausal  unerklärlichen  Tatsachen  des 
orj^anischen  Lebens  zu  betrachten,  von  selbst  jener  allgemeinen 
teleologischen  Naturbetrachtung  durch  die  Tatsache  unter,  daß 
der  zweckmäßigste  und  vollendetste  aller  Organismen,  der  mensch- 
liche, dasjenige  Leben  enthält,  in  welchem  die  Natur  mit  der 
sittlichen  Welt  vereinigt  und  als  ein  ihr  zwar  widerstiebendes, 
aber  in  letzter  Instanz  dennoch  sich  ihr  unterordnendes  Mittel 
erscheint. 

Der  »Gebrauch  der  teleologischen  Prinzipien  in  der  Philosophie« 
ist  also  der,  daß  sie  niemals  als^^konstitutive  Prinzipien 
der  Naturerkenntnis  gelten  dürfen.  Die  Naturerklärung  hat  mit 
ihnen  gar  nichts  zu  tun.  Deren  Aufgabe  ist  vielmehr,  den  Prozeß 
des  Lebens  in  den  Individuen  und  in  den  Gattungen  gleichmäßig 
als  einen  großen  Ablauf  kausal  notwendiger  Entwicklungen  zu 
verstehen.  Aber  wenn  sie  konsequent  kritisch  und  ehrlich  ist, 
so  muß  sie  zugestehen,  daß  dasXeben"  selbst,  daß  die  *\irsprüng- 
liche  Organisation^  für  sie  einen  Grenzbegriff,  eiae  unerklärliche 
Tatsache  darbietet,  und  daß  sie  die  Betrachtung  nicht  widerlegen 
kann,  mit  der  ein  vernunftnotwendiges  Bedürfnis  diese  Tatsache 
mit  ihrer  ganzen  unabsehbaren  Folge  von  zweckmäßigen  Gestal- 
tungen auf  eine^^zwecktätige  Ursache  zurückführt.  Die  Betrach- 
tung der  einzelnen  Zweckmäßigkeiten  aber  hat  für  die  Natur- 
forschung den  wertvollen  Sinn,  daß  sie  stets  die  Frage  herv^orruft, 
durch  welchen  kausalen  Mechanismus  die  besondere  Zweckmäßig- 
keit zustande  gekommen  ist.  Muß  dann  auch  in  der  Lösung 
dieser  Aufgabe  immer  der  Best  bleiben,  daß  die  ^  ursprüngliche 
organische  Anlage^  als  ein  unentbehrliches  Glied  in  dem  so  er- 
kannten Kausalnexus  auftritt,  so  hat  doch  gerade  die  Beobach- 
tung der  Zweckmäßigkeit  das  Problem  und  die  Veranlassung  ge- 
bildet, wodurch  die  kausale  Erkeniitnis  eine  wertvolle  Bereicherung 
und  Erweiterung  gefunden  hat.  /Man  darf  wohl  sagen,  daß  diese 
Behandlung  des  teleologischen  'Problems,  wie  sie  Kant  hier  ge- 
geben hat,  das  Reifste  ist,  was  darüber  von  jeher  und  bis  heute 
gesagt  worden  ist.  Es  gibt  eine  »faule  <<  Teleologie,  welche  den 
kausalen  Zusammenhang  der  Dinge  nicht  mehr  erforschen  zu 
brauchen  meint,  wenn  sie  den  Eindruck  ihres  "^zweckmäßigen  In- 
einanderoreifens    konstatiert    hat.     Dieser    tritt    Kant    auf    das 


170  Kants  ästhetische  Philosophie. 

schärfste  entgegen.  Zweckmäßigkeit  ist  kein  Prinzip  der  Natur- 
erklärung. Aber  es  gibt  eine  echte,  die  Kantische  Teleologie, 
welche  in  dem  Eindrucke  der  Zweckmäßigkeit,  den  das  orga- 
nische Leben  der  Vernunftbetrachtung  notwendig  macht,  nur  die 
Aufgabe  sieht,  sich  den  kausalen  Konnex  klar  zu  machen,  durch 
den  dieses^  zweckmäßige  Ineinandergreifen  zustande  kommt.  Alles 
Zweckmäßige  in  der  Natur  ist  ein  Wunder.  Die  faule  Teleologie 
—  wie  sie  sich  auch  sonst  nenne  —  begnügt  sich  mit  dem 
»admirari«;  der  echten  ist  die  Verwunderung  nur  ein  Stachel, 
um  die  kausale  Vermittlung  des  zweckmäßigen  Zusammenhanges 
zu  erforschen.  Die  teleologische  Betrachtung  ist  kein  konstitutive:^ 
^y'^  Prinzip  der  Erkenntnis,  sondern  ein  heuristisches  Prinzip 
^^  der  Forschung,  und  sie  ist  in  der  Erkenntnis  des  organischen 
Lebens  das  vornehmste  von  allen.  Der  Charakter  und  die  Auf- 
gabe der  organischen  Naturforschung  sind  niemals  tiefer  und 
niemals  großartiger  formuliert  worden,  als  in  Kants  Kritik  der 
teleologischen  Urteilskraft. 

9  Die   teleologischen  Prinzipien  bleiben  also   für   die   objektive 

Erkenntnis  problematisch  und  erweisen  sich  nur  als  subjektive 
Notwendigkeiten  der  Betrachtung.  Noch  stärker  aber  kommt 
//  /, /Kants  Subjektivismus  in  seiner  Ästhetik  zum  Austrage.  Schon 
^  ^^mit  der  Formulierung  des  ästhetischen  Problems  verlegt  er  diese 
Untersuchungen  völlig  auf  den  subjektiven  Standpunkt.  Er  fragt 
nicht,  was^schön'ist,  sondern  worin  der  subjektive  Zustand  be- 
steht, in  welchem  wir  von  einem  Gegenstande  so  berührt  werden, 
daß  wir  ihn  „schön  nennen,  und  worauf  die  Notwendigkeit  und 
allgemeine  Mitteilbarkeit  dieses  Zustandes  beruht.  Das  ästhetische 
Urteil  mit  seinem  Anspruch  auf  Apriorität  ist  der  Gegenstand  der 
Kritik  der  ästhetischen  Urteilskraft.  Es  gilt  zunächst,  diesen 
Gegenstand  ganz  scharf  abzugrenzen,  da  er  sowohl  in  der  empi- 
rischen Betätigung,  als  auch  in  der  populären  Bezeichnungsweise 
gegen  die  angrenzenden  Gebiete  nur  sehr  unbestimmt  abgeschlossen 
ist.  Sowohl  von  dem  Angenehmen  und  Nützlichen,  als  auch  ander- 
seits von  dem  Guten  (den  beiden  Gegensätzen,  zwischen  denen 
die  Ästhetik  der  AVolffschen  Schule  das  Schöne  als  einen  all- 
mählich vermittelnden  Übergang  auffaßte)  sucht  Kant  den  Be- 
griff der  Schönheit  scharf  zu  sondern.  Wenn  er  auch  der  Urteils- 
kraft eine  ähnlich  vermittelnde  Stellimo:  zwischen  Sinnlichkeit  und 


Dum  Schöne.  171 

Vernunft  anwies,    so   ist    ihm  doch    diese  Vennittlunj^    nicht  die- 
jonigc  eines  allniähiichen  t^berj^an^es,  sondern  vielmehr  eine  Syn- 
thesis   prinzipiell    verschiedener    l^'unktionen.      Angenehm    nennen 
wir   alles,    was   unseren  Sinnen    und    ihren  Bedürfnissen  wohltut, 
"^nützlich,    was   einem    auf   diese  Annehndichkeit    gerichteten  Be- 
streben entspricht; 'gut  nennen  wir,  was  einer  sittlichen  Aufgabe 
genügt.     So  verschieden  diese  Tätigkeiten  sein  mögen,  so  haben 
sie    doch    den    gemeinsamen   Charakter,    daß    das   Wohlgefallen, 
welches  uns  dem  Angenehmen  und  dem  Guten  gegenüber  ergreift, 
auf  der  Erfüllung  eines  Bedürfnisses,  eines  Interesses  beruht.    In 
dem   einen   Falle   sind   dies   die   sini^lichien   Interessen   des   Indi- 
viduums, in  dem  andern  Falle  ist  es  das  sitt|iQhe  Vernunftinter- 
esse der  Gattung.    Aber  in  beiden  Fällen  muß  das  Interesse  demlp^^^^ 
Wohlgefallen  als  seine  Bedingung  vorhergehen.     Diese  Arten  des  * 
Wohlgefallens  beruhen  daher,  um  in  Kants  Formel  zu  sprechen, 
auf  der  Übereinstimmung   des  Gegenstandes   mit  einem  Begriffe, 
den  wir  uns  als  gedanlvlichen  Ausdruck  des  darin  erfüllten  Inter- 
esses bilden  oder  bilden  können.    Und  gerade  darin  besteht  nun 
das  Wesen  des  Schönen,  daß  ein  solches  Interesse  bei  ihm  nicht 
vorliegt.    Weder  sinnhche  noch  sitthche  Bedürfnisse  sollen  durch 
das  Schöne  erfüllt  werden.    Alles  was  uns  als  schön  gefallen  soll, 
muß  von  jeder  Beziehung  auf  eine  Absicht  frei  sein.    Das  spezi- 
fische Wohlgefallen,  welches  wir  das  ästhetische  nennen,   ist  ein        ^   ^ 
Wohlgefallen  ohne  Interesse  und  ohne  Begriff.  Die  Wohl-        •    * 
gefälligkeit  des  Angenehmen  hängt  von  sinnlichen  Bedürfnissen, 
Stimmungen  und  Verhältnissen   des  Individuums   ab.     In  diesen 
gibt  es  keine  Allgemeingültigkeit  imd  Notwendigkeit.    Darum  ist 
eine  philosophische  Hedonik  unmöglich.    Die  Wohlgefälligkeit  des 
Guten  hängt  von  dem  sittHchen  Vernunftinteresse  ab.    Dieses  ist     c  ) 
a  priori,  und  darum  gibt  es  eine  philosophische  Moral.    Während 
aber  niemand  verlangt,  daß,  was  ihm  angenehm  und  nützlich  ist, 
es  auch   jedem  andern  sei,   erheben   wir   den  Anspruch,   unsere     ^ 
ästhetischen  Urteile   als  notwendig  und  allgemein   anerkannt  zu     . 
sehen,  wenn  wir  darauf  auch  vielleicht  nicht  ebensoviel  Gewicht 
zu  legen  pflegen  wie  bei  den  ethischen  Urteilen.    Die  Prinzipien 
einer    philosophischen   Ästhetik   werden   somit    nur   dadurch   ge- 
funden werden  können,  daß  die  Wohlgefälligkeit  des  Schönen  auf       . 
einen  allgemeingültigen    und    notwendigen   Grund    zurückgeführt 


L^^/    172  Kants  ästhetische  Philosophie. 

wird.  Wenn  dieser  aber  weder  in  einem  sinnlichen  noch  in  einem 
ßittlichen,  wenn  er  überhaupt  in  keinem  Interesse  gesucht  werden 
kann,  so  muß  er  in  einem  Gefühle  liegen,  das  unabhängig  von 
jedem  Interesse  einen  notwendigen  und  allgemeingültigen  Grund 
hat.  Ästhetische  Urteile  also  sind  nur  durch  ein  »Gefühl  a  priori« 
möglich,  und  es  fragt  sich,  ob  es  ein  solches  gibt. 

Jedes  ästhetische  Urteil  setzt  einen  in  der  Anschauung  gegebenen 
Gegenstand  voraus,  auf  welchen  das  Prädikat  schön  angewendet 
werden  soll.  Diese  Prädizierung  ist  nur  möglich  in  einer  voll- 
kommen interesselosen  Betrachtung.  Der  ästhetische  Zu- 
stand des  Menschen  kann  in  nichts  weiterem,  als  in  dieser  reinen 
Betrachtungstätigkeit,  die  von  jedem  Interesse  frei  ist,  bestehen. 
Indem  Kant  diesen  Begriff  fixiert,  ist  er  weit  davon  entfernt, 
eine  Behauptung  darüber  aussprechen  zu  wollen,  ob  überhaupt 
und  in  welchem  Sinne  ein  solcher  Zustand  in  dem  Gefühlsleben 
des  empirischen  Menschen  vöUig  rein  vorkommt.  Die  naturnot- 
wendige Erregung  sinijlicher  Bedürfnisse  und  die  sittlich  not- 
wendige Erweckung  des  Vernunftinteresses  werden  jeden  Augen- 
blick in  die  äs^thetische  Funktion  hinübergreifen.  Und  völlig  rein 
ist  diese  eben  nur  da,  wo  die  beiden  anderen  schweigen.  Dieser 
Zustand  der  Bedürfnislosigkeit  und  der  praktischen  Indifferenz 
ist  derjenige  des  Spiels.  Die  reine  spielende  Betrachtung  ist 
aber  von  der  empirischen  Wirklichkeit  ihres  Gegenstandes  völlig 
unabhängig.  Die  Interessen  des  sinnlichen  Gefühls  imd  diejenigen 
des  sittlichen  Wohlgefallens  beziehen  sich  gleichmäßig  auf  die 
empirische  ReaHtät  des  Gegenstandes,  welche  von  dem  einen  vor- 
ausgesetzt, von  dem  andern  verlangt  wird.  Die  interesselose  Be- 
trachtung wendet  sich  nur  an  die  Vorstellung  des  Gegen- 
standes ohne  Rücksicht  darauf,  ob  er  in  der  Erfahrung  wirklich 
ist  oder  nicht.  Sie  bezieht  sich  deshalb  nicht  auf  den  erfalirungs- 
mäßig  gegebenen  Inhalt  der  Vorstellung,  sondern  nur  auf  die  Vor- 
stellungsform, und  so  muß  ihr  Wesen  in  einem  Verhältnis 
der  Vorstellungsfunktionen  und  nicht  in  einer  Beziehunu  auf 
die  empirische  Wirklichkeit  zu  suchen  sein. 

Nun  setzt  alles  Wohlgefallen,  folglich  auch  das  ästhetische, 
eine  Zweckmäßigkeit  des  Gegenstandes  voraus,  auf  den  es  sich 
bezieht.  In  dem  spielenden  Zustande  also,  der  jede  Absicht  aus- 
schließt, muß   doch  irgendwo  ein  Verhältnis  aufgefunden  werden 


Harmonie  von  Sinnlichkeit  und  Verbland.  173 

können,  vennögc  dos8en  die  Zwe('kniiißi<^keit  eines  Gegenstandes 
beurteilt  werden  kann.  In  der  reinen  Betrachtung  muß  es  eine 
Zweckmäßigkeit  der  Gegenstände  ohne  Beziehung  auf  einen  dem 
Bewußtsein  gegenwärtigen  Zweck  ^eben  können.  Zweckmäßigkeit 
ohne  Zweck  oder,  genauer  gesagt,  ohne  Absicht  ist  also  das  Wesen 
der  Schönheit.  Jede  Absichthchkeit  stört  den  ästhetischen  Ein- 
druck. Der  Gegenstand,  der  schön  genannt  sein  soll,  muß  in 
vollendeter  Zweckmäßigkeit  sich  vor  einer  Betrachtung  darstellen, 
in  der  auch  nicht  eine  Spur  von  Absicht  zum  Bewußtsein  kommt. 
Damit  ist  das  Wesen  der  Schönheit  bestimmt,  aber  auch  die  ganze 
Schwierigkeit  des  Problems  aufgedeckt.  Denn  worin  kann  eine 
solche  absichtslose  Zweckmäßigkeit  gesucht  werden?  Im 
Gegenstande  selbst  nicht:  denn  jede  objektive,  in  der  Materie  der 
Anschaumig  begründete  Zweckmäßigkeit  ist  immer  nur  auf  ein 
Interesse  zu  beziehen.  Deshalb  kann  die  Zweckmäßigkeit  des 
schönen  Gegenstandes  nur  darin  beruhen,  daß  seine  Betrachtung 
uns  in  einen  Zustand  versetzt,  der  ohne  ein  anderes  Interesse  als 
das  der  Betrachtung  selbst  zweckmäßig  erscheint.  Nun  hat  die 
Kritik  der  reinen  Vernunft  gelehrt,  daß  in  der  Vorstellung  eines 
jeden  Gegenstandes  die  beiden  Grundfunktionen  der  sinnlichen 
Anschauung  und  des  verstandesmäßigen  Denkens  sich  miteinander 
vereinigen.  Aber  diese  Vereinigung  gelingt  nicht  immer  gleich 
gut.  Es  wird  Gegenstände  geben,  bei  denen  mit  der  Fülle  der 
sinnhchen  Anschauung  die  Klarheit  der  verstandesmäßigen  Durch- 
dringung nicht  Schritt  halten  kann,  bei  denen  deshalb  die  Energie 
der  sinnlichen  Funktion  überwiegt  und  die  Erregung  der  sinn- 
lichen Gefühle  im  Vordergrunde  des  Bewußtseins  steht.  Es  wird 
andere  Gegenstände  geben,  in  denen  das  verstandesmäßig  Gedachte 
nicht  seine  volle  sinnliche  Anschaulichkeit  finden  kann,  bei  denen 
also  das  Element  des  Denkens  überwiegt  und  seine  Interessen, 
gerade  weil  sie  anschaulich  sich  noch  nicht  verwirklicht  haben, 
die  Aufmerksamkeit  auf  sich  ziehen.  Der  ästhetische  Zustand 
reiner  interesseloser  Betrachtung  wird  dagegen  nur  da  eintreten 
können,  wo  in  der  Auffassung  des  Gegenstandes  Sinnlichkeit  und 
Verstand  mit  harmonischer  Gleichmäßigkeit  funktionieren,  wo  die 
KJarheit  der  Anschauung  und  die  DeutHchkeit  der  Begriffe  ein- 
ander die  Wage  halten.  Dies  Verhältnis  der  Harmonie  zwischen 
Sinnlichkeit     und    Verstand     ist     offenbar    für     die     reine 


174  Kants  ästhetische  Philosophie. 

Betrachtung  das  denkbar  zweckmäßigste,  und  diese  Zweckmäßigkeit 
empfinden  wir  in  demjenigen  Gefühle,  womit  wir  den  Gregenstand 
schön  nennen.  Die  Verknüpfung  von  anschaulicher  und  ver- 
standesmäßiger Funktion  ist  aber,  wie  gleichfalls  die  Kritik  der 
reinen  Vernunft  in  der  transzendentalen  Analytik  gezeigt  hat,  eine 
Sache  der  »Einbildungskraft«,  und  diese  enthält  daher  den  Boden, 
auf  welchem  allein  sich  jenes  harmonische  Verhältnis  entwickeln 
kann.  Schönheit  entspringt  aus  derjenigen  Funktion  der  Ein- 
bildungskraft, in  welcher  die  Anschauung  und  das  Denken  völlig 
miteinander  harmonieren. 

Die  Zweckmäßigkeit  des  schönen  Gegenstandes  liegt  also  nicht 
in  ihm  selber,  sondern  in  seiner  Wirkung  auf  unsere  Betrachtung. 
Schönheit  ist  kein  Prädikat  der  Dinge,  welches  wir  wie  andere 
Eigenschaften  daran  wahrzunehmen  und  deshalb  in  einem  analy- 
tischen Urteile  aus  ihrem  Begriffe  abzuleiten  vermöchten.  Wäre 
sie  das,  so  gäbe  es  nur  empirische  Begriffe  von  Schönheit  und 
keine  notwendigen  und  allgemeingültigen  ästhetischen  Urteile. 
Diese  sind  —  darin  besteht  der  Parallelismus  in  dem  Gedanken- 
gange aller  drei  großen  Kritiken  Kants  —  nur  durch  den  »Idealis- 
mus der  Zweckmäßigkeit«  möglich:  die  Zweckmäßigkeit  muß 
lediglich  in  unsere  Betrachtungsweise  der  Gegenstände  verlegt 
werden.  Denn  jene  Harmonie  in  der  Funktion  von  Sinnlichkeit 
und  Verstand  ist  keine  zufällige  und  individuell  bedingte.  Die 
Auffassung  eines  Gegenstandes  und  die  verschiedene  Energie,  wo- 
mit Sinnlichkeit  und  Verstand  daran  beteiligt  sind,  gehören  der 
überindividuellen  Organisation  der  menschhchen  Vernunft,  dem 
»Bewußtsein  überhaupt«,  dem  »übersinnlichen  Substrat  der 
Menschheit«  an.  Deshalb  ist  auch  das  Gefühl  des  Wohlgefallens, 
welches  diese  Harmonie  für  die  reine  Betrachtung  mit  sich  bringt, 
ein  allgemeingültiges  und  notwendiges:  es  ist  ein  »Gefühl  a  priori«, 
und  darauf  beruht  die  apriorische  Geltung  der  ästhetischen  Ur- 
teile. Damit  löst  sich  auch  die  logische  Schwierigkeit,  unter  der 
sich  Kant,  wie  es  scheint,  das  kritische  Problem  der  Ästhetik 
zuerst  dargestellt  hatte:  die  Frage,  wie  singulare  Urteile  —  denn 
das  sind  alle  ursprüngHchen  Behauptungen  über  Schönheit  und 
Erhabenheit  —  allgemeine  und  notwendige  Geltunoj  nicht  nur  be- 
anspruchoT!,  sondern  auch  de  jure  haben  können. 

Es  ist  verfehlt,   diese   Theorie  Kants   durch   den  Hinweis  auf 


Freie  tiud  uiiliüngeiidü  Schönheit.  175 

die  empirische  VerschicMlciilieit  der  üstbct Ischen  Urteil«'  zu  bo- 
kiimpfon.  Das  Auftreten  tlcs  ästlictischcn  Urteils  in  dem  einzelnen 
Individuum  nuiÜ  psycholoj^iseh  dudureh  bedingt  sein,  daß  es  nicht 
unter  der  Herrschaft  ])es()nderer  l]iteressen  steht,  sondern  für  die 
^interesselose  Betrachtung,  für  den , spielenden  Zusttind  zugänglich 
ist.  Diese  Bedingung  ist,  wenn  je,  äußerst  selten  erfüllt,  und  so 
wird  empirisch  das  reine  ästhetische  Urteil  fortwährend  durch 
individuelle  Neigungen  uiul  Stlinniungen  gekreuzt  werden.  Daher 
der  stetige  Streit  über  ästhetische  Gegenstände.  Und  dieser  Streit 
ist  dem  Wesen  der  Sache  nach  nicht  durch  Beweisführungen  zu 
schlichten.  Beweisführung  muß  in  Begriffen  vonstatten  gehen. 
Jemandem  beweisen,  daß  ein  Gegenstand  schön  sei,  hieße  zeigen, 
daß  er  einem  Begriffe  entspräche.  Aber  das  Schöne  ist  ja  das 
betriff  los  Zweckmäßige.  Es  läßt  sich  nur  fühlen.  Dieses  Gefühl 
ist  zwar  allgemein  mitteilbar,  indem  jeder,  bei  welchem  nicht 
die  reine  Betrachtung  durch  individuelle  Verhältnisse  unmöglich 
gemacht  oder  gestört  wird,  durch  die  Anschauung  des  Gegen- 
standes in  den  ästhetischen  Zustand  jener  Harmonie  von  Sinn- 
lichkeit imd  Verstand  emporgehoben  wird.  Aber  beweisbar  ist 
dies  Gefühl  nicht.  Deshalb  gibt  es,  wie  Kant  sagt,  keine  ästhe- 
tische Doktrin,  sondern  nur  eine  allgemeine  Kritik  der  Ästhetik, 
d.  h.  eine  transzendentale  Untersuchung  über  die  Möglichkeit 
ästhetischer  Urteile  a  priori  überhaupt. 

Diese  bahnbrechenden  Untersuchungen  Kants  beschränken  nun 
freilich  sogleich  den  Umfang  der  Gegenstände,  welche  in  diesem 
reinen  Sinne '^chöu'^  zu  nennen  sind,  auf  sehr  enge  Grenzen.  Die 
reine  Schönheit,  die  dem  Kantischen  Begriffe  völlig  entspricht, 
ist  nur  die  bedeutungslose.  Alles,  was  für  uns  eine  Bedeutimg 
hat,  besitzt  diese  nur  durch  seine  Beziehung  auf  ein  Interesse. 
Die  reine,  oder  wie  Kant  sie  nennt,  die  freie  Schönheit  ist 
deshalb  nur  da  zu  suchen,  wo  es  gar  keine  Zwecke  zu  erfüllen 
gibt.  In  der  idyllischen  Natur,  in  Blumen,  in  Arabesken,  da, 
wo  es  nur  ein  Spiel  der  Formen  gibt,  welches  die  Sinnlichkeit 
in  harmonische  Beziehung  zum  Denken  setzt,  da  allein  ist  die 
beziehmigslose ,  die  reine  Schönheit  zu  finden.  Anders  schon 
stehen  wir  denjenigen  Naturerscheinungen  gegenüber,  bei  denen 
bereits  für  die  theoretische  Betrachtung  das  teleologische  Moment 
zur  Geltung  kommt.    Kant  macht  hier  sehr  fein  auf  den  Unter- 


i 


a 


176  Kants  ästhetische  Philosophie. 

schied  aufmerksam,  daß  nur  bei  den  höheren  animalischen  Wesen 
uns  eine  Idee  der  Gattung  vorschwebt,  an  der  wir  die  einzelnen 
Exemplare  prüfen  und,  je  nachdem  sie  ihm  mehr  oder  minder 
angemessen  sind,  mehr  oder  minder  schön  finden.  Diese  »an- 
hängende Schönheit«  ist  also  von  einem  Gattungsbegriffe  ab- 
hängig, obwohl  dieser  nicht  eigentlich  als  formulierter  Begriff, 
sondern  als  ein  Typus  der  Anschauungsgewöhnung  unbewußt  imser 
ästhetisches  Verhalten  beherrscht.  Der  höchste  dieser  Gattungs- 
typen ist  nun  derjenige  des  Menschen.  Er  ist  derjenige,  in 
welchem  sich  die  Organisation  der  Erscheinungswelt  für  uns  voll- 
endet: die  menschliche  Gestalt  ist  das  Ideal  der  ästhe- 
tischen Vernunft.  Darin  zeigt  sich,  daß  das  ästhetische  Ver- 
halten eine  charakteristische  Eigentümlichkeit  des  Menschen  ist. 
Das  harmonische  Verhältnis  von  Sinnhchkeit  und  Verstand  ist 
das  Objekt  des  ästhetischen  Wohlgefallens.  Dies  Verhältnis  ist 
spezifisch  menschlich.  Nur  ein  Wesen,  welches  wie  der  Mensch 
zugleich  der  sinnlichen  und  der  übersinnlichen  Welt  angehört, 
kann  die  Harmonie  dieser  beiden  Eichtungen  seiner  Tätigkeit  als 
Schönheit  empfinden.  Weder  unter  ihm  in  der  Sinnenwelt,  noch 
über  ihm  in  der  vernünftigen  Welt  gibt  es  Schönheit.  Er  selbst 
in  der  sinnlichen  Erscheinung  seines  vernünftigen  Wesens  ist  des- 
halb auch  das  Ideal  der  ästhetischen  Betrachtuno;. 

Zeigt  sich  nun  schon  in  dieser  Lehre  von  der^  anhängenden 
Schönheit,^  daß  Kants  Begriff  einer  Interesse-  und  begriffslosen 
Betrachtung  das  ästhetische  Leben  des  Menschen  in  dem  empi- 
rischen Umfange  des  Begriffs  nicht  vollständig  erschöpft,  so  tritt 
das  noch  mehr  in  seiner  Lehre  vom  Erhabenen  hervor.  Das 
Erhabene  pflegte  dem  Schönen  in  der  englischen  und  deutschen 
Literatur,  aus  der  Kant  für  seine  systematische  Lehre  mancher- 
lei Anregungen  empfangen  hat,  als  eine  andere  Art  des  ästhe- 
tischen Verhaltens  koordiniert  zu  werden.  Kant  aber  hatte  den 
Begriff  der  ästhetischen  Funktion  so  sehr  auf  das  Schöne  kon- 
zentriert, daß  er  in  dem  Erhabenen  nicht  mehr  eine  rein  ästhe- 
tische, sondern  nur  noch  eine  zugleich  morahsche  Funktion  er- 
blicken konnte.  Seine  Begriffsbestimmung  des  Erhabenen  läßt 
die  ästhetische  Tätigkeit  unnuttelbar  mit  dem  moralischen  Be- 
wußtsein verwachsen  erscheinen.  Auch  sie  zeigt  dieselbe  subjek- 
tive Tendenz  wie  diejenige  des  Schönen.      Wie  er  das  Prädikat 


Das  Erhabene.  177 

der  Schönheit  nicht  in  dem  Gegenstände,  sondern  in  der  Wirkung 
auf  uns  begründet  fand,  so  sind  ihm  auch  die  Gegenstände  nur 
erhebend,  und  erst  der  Zustand,  in  den  sie  uns  versetzen 
können,  ist  erhaben.  Auch  hier  ist  es  das  Verhältnis  von  Sinn- 
lichkeit und  Verstand,  worauf  das  Wesen  des  ästhetischen  Zu- 
standes  beruht.  Aber  es  ist  nicht  mehr  die  harmonische  Ruhe 
der  Betrachtung,  sondern  vielmehr  eine  durch  den  Kampf  hin- 
durchgegangene Erhebung  des  menschlichen  Bewußtseins,  worauf 
in  diesem  Falle  der  »ästhetische«  Eindruck  beruht.  Gegenstände 
sind  selbst  nicht  erhaben,  aber  sie  werden  erhaben  genannt,  wo 
ihre  Auffassung  einen  Zustand  des  Bewußtseins  hervorruft,  der 
dem  moralischen  Zwecke  gegenüber  als  zweckmäßig  erscheint.  Es 
gibt  Gegenstände,  welche  entweder  als  »mathematisch-erhabene« 
durch  ihre  unfaßbare  Größe  oder  als  »dynamisch-erhabene«  durch 
ihre  alles  Maß  übersteigende  Kraft  unserer  Vorstellungstätigkeit 
die  unerfüllbare  Aufgabe  setzen,  die  Unendlichkeit,  welche  wir  in 
ihnen  zu  denlcen  vermögen,  mit  unseren  Sinnen  anzuschauen. 
Aus  dieser  Unangemessenheit  der  Sinnlichkeit  zu  den  An- 
forderungen des  Denkens  entspricht  notwendig  ein  Gefühl  der 
Unlust;  aber  diese  Unlust  wird  durch  das  Bewußtsein  überwunden, 
daß  unsere  übersinnliche  Funktion  des  Denkens  der  sinnüchen 
Funktion  des  Anschauens  sich  überlegen  erweist,  daß  wir  als  über- 
sinnliche Wesen  mehr  verlangen,  als  wir  als  sinnliche  zu  leisten 
vermögen.  Alles  Erhabene  wirft  uns  als  Sinnenwesen  zu  Boden, 
um  uns  als  Vernunftwesen  desto  höher  aufzurichten,  es  hat  stets 
etwas  von  dem  »gigantischen  Schicksal,  welches  den  Menschen 
erhebt,  wenn  es  den  Menschen  zermalmt «.  Dies  Verhältnis  ist 
vom  sittlichen  Standpunkt  aus  das  richtige,  und  der  erhebende 
Gegenstand  versetzt  uns  daher  in  einen  Zustand,  in  welchem  wir 
den  Triumph  unseres  übersinnlichen  über  das  sinnliche 
Wiesen  als  einen  Gegenstand  des  Wohlgefallens  vom  sittlichen 
Standpunkt  aus  empfinden.  Ein  solches  Wohlgefallen  ist  mora- 
,^sch,  wo  es  sich  um  den  in  der  wirklichen  praktischen  Tätigkeit 
des  Willens  bewährten  Triumph  unseres  übersinnlichen  Wesens 
oder  desjenigen  eines  anderen  Menschen  über  die  sinnliche  Natur 
handelt:  es  ist  ästhetisch,  wenn  es  ganz  unabhängig  von  dem 
wirklichen  Geschehen  in  der  bloßen  Betrachtung  des  Gegenstandes 
sich  vollzieht.     Aber  es   ist  auch   in   diesem  Falle   von   unserem 

Wi ndelb an d  ,  Gesch.  d.  n.  Philos.    11.  12 


r  \y        V     f 


]^78  Kants  ästhetische  Philosophie. 

sittlichen  Interesse  an  der  Unterwerfung  des  sinnlichen  unter  den 
übersinnlichen  Menschen  abhängig.  Es  ist  somit  durch  den  sitt- 
lichen Zweck  bedingt  und  empfängt  durch  diesen  einen  Teil  seiner 
Notwendigkeit  und  Allgemeingültigkeit,  wenn  auch  anderseits  die 
Apriorität  seines  ästhetischen  Moments  darauf  beruht,  daß  das 
in  dem  Eindruck  des  Erhebenden  entspringende  Gefühl  von  der 
Unangemessenheit  unseres  sinnlichen  zu  unserem  übersinnHchen 
Wesen  und  von  der  Erhabenheit  des  letzteren  über  das  erster e 
in  derselben  Weise  und  in  demselben  Sinne  allgemeingültig  und 
notwendig,  unbeweisbar  und  doch  allgemein  mitteilbar  ist,  wie 
das  harmonische  Gefühl  der  Schönheit.  Das  letztere  also  zeigt 
die  beiden  Seiten  unseres  Wesens  in  harmonischer  Vereinigung 
und  ist  deshalb  ein  reines  Lustgefühl:  das  Erhabene  wühlt  den 
tiefen  Gegensatz  jener  beiden  Seiten  auf  und  läßt  das  Unlustge- 
fühl  dieses  Widerstreites  untergehen  in  dem  Siegesgefühl  unseres 
wertvolleren  Teiles,  der  über  den  niederen  triumphiert.  Im  Er- 
habenen bewundern  wir  unsere  eigene  übersinnüche  Bestimmung 
—  im  Schönen  genießen  wir  die  harmonische  Einheit  unseres  ge- 
samten sinnlich-übersinnlichen  Wesens. 

So  geht  Kant  mit  den  einander  parallelen  Begriffsbestimmungen 
des  Schönen  und  des  Erhabenen  auf  das  Verhältnis  der  ver- 
schiedenen Funktionen  des  menschlichen  Wesens  zurück,  wie  er 
sie  ursprünglich  in  der  Erkenntnistheorie  aufgestellt  hatte.  Auch 
hier  liegt  das  psychologische  Schema  zugrunde,  das  bereits  in  der 
Kritik  der  reinen  Vernunft  bestimmend  hervortrat;  aber  vielleicht 
an  keinem  anderen  Punkte  der  Kantischen  Lehre  führt  es  zu  so 
überraschend  großartigen  Resultaten  wie  hier,  wo  das  Senkblei 
der  Kritik  bis  in  die  äußerste  Tiefe  des  ästhetischen  Lebens  hinab- 
reicht. Aus  "den  gewonnenen  Grundbestimmungen  entwickeln  sich 
sodann  eine  Reihe  weiterer  Definitionen  ästhetischer  Begriffe  wie 
diejenigen  des  Witzes,  des  Lächerlichen  usw.  Feinsinniger  noch 
und  tiefer  jedenfalls  als  die  ein  Viertel  jähr  hundert  vorher  ge- 
schriebenen »Beobachtungen«,  haben  nur  alle  diese  Untersuchungen 
ein  ihrem  Gegenstande  nicht  völlig  entsprechendes  Gewand  da- 
durch angelegt,  daß  die  Kritik  der  Urteilskraft  sich  ebenso 
gliedern  muß,  wie  es  das  Schema  der  Kritik  der  reinen  Vernunft 
verlangt.  So  sind  in  ein  schulmäßiges  System  alle  jene  leben- 
digen Gedanken  eingekerkert,  welche  sich  in   der  Weiterentwick- 


Kunst  und  Künste.  179 

lunü:  der  deutschen  Ästhetik  als  ebenso  viele  fruchtbarr  Keime 
erwiesen  haben.  Es  gehöit  dazu  unter  anderem  auch  Kants  Ver- 
such, aus  einem  der  allgemeinen  Prinzipien  der  Ästhetik  schließ- 
lich das  System  der  Künste  \l\\  entwickeln.  Er  selbst  hat 
diesen  von  den  späteren  Ästhetikern  stets  wiederholten  Versuch 
eben  nur  als  einen  solchen  an^^esehen.  Aber  das  Prinzip,  das  er 
dabei  verfolgt,  bleibt  trotz  seiner  Angreifbarkeit  höchst  interessant. 
Er  geht  nämlich  von  dem  Gedanken  aus,  daß  die  Kunst  als  die- 
jenige menschliche  Tätigkeit,  welche  schön  wirkende  Gegenstände 
erzeugen  soll,  und  welche  deshalb  von  den  Künsten  der  Annehm- 
lichkeit und  der  Nützlichkeitstechnik  als  »schöne  Kunst«  genau 
zu  sondern  ist^  zu  ihrem  Ideale  eben  nichts  weiter  haben  könne, 
als  die  sinnliche  Erscheinung  des  Menschen  in  ihrer  ganzen  Aus- 
dehnung und  mit  allem,  was  zu  ihr  gehört.  Nun  ist  die  Art, 
wie  der  Mensch  sein  Wesen  in  der  siimlichen  Welt  äußert,  die 
dreifache  des  Wortes,  der  Gebärde  und  des  Tones,  und  danach 
zeigt  das  System  der  »schönen  Künste«  die  Trichotomie  der 
redenden  Kunst,  der  bildenden  Kunst  und  der  Musik.  In  der 
zweiten  Klasse  mußten  dann  neben  der  Plastik  imd  der  Malerei 
in  etwas  gezwungener  Weise  auch  die  Architektur,  die  Tektonik, 
die  Gartenkunst  untergebracht  werden.  Die  Palme  unter  den 
Künsten  reicht  Kant  der  Poesie,  weil  sie  die  freieste  und  viel- 
seitigste Entfaltung  der  Phantasie  ermögliche,  in  der  die  ästhe- 
tischen Verhältnisse  der  Schönheit  und  der  Erhabenheit  durch 
das  Spiel  der  Vorstellungskräfte  zustande  kommen  können. 

Bedeutsamer  jedoch  als  diese  Einteilung  der  Künste  ist  Kants 
Lehre  von  der  Kunst  im  allgemeinen.  Alle  Kunst  ist  eine  be- 
wußte, also  absichtliche  Erzeusuno^,  und  ihre  Aufgabe  ist  die  Er- 
Zeugung "  schönef  Gegenstände.  Schön  aber  ist  das  absichtslos 
Zweckmäßige.  Dieser  Widerspruch  ist  nur  dadurch  zu  lösen,  daß 
die  Werke  der  Kunst  so  erzeugt  werden,  daß  sie  auf  den  OcQ-f^i^- 
nießenden  den  Eindruck  machen,  als  seien  sie  Produkte  der  ab-  \,^,X 
sichtslos  schaffenden  Natm\  Alle  Kunst  muß  als  Natur  an- 
gesehen werden  können,  und  darin  besteht  das  Geheimnis  des 
Künstlers,  daß  er  in  der  vollendeten  Zweckmäßigkeit  seines  Werkes 
jede  Spur  der  Arbeit  verbirgt,  durch  die  es  erzeugt  worden  ist. 
Das  Kunstwerk  ist  verfehlt,  sobald  man  ihm  die  bewußte  Er- 
zeugung anmerkt,  aus  der  es  hervorgegangen  istT^  Keine  Spur  der 


>y--^y^^>'.  ^    ^^-   4ant.  ästhetische 'äiioiief^^^'^    ^    *^    ^^^ 

Absicht,  keinen  »Zeugen  menschlicher  Bedürftigkeit«,  wie  es  nach 
Kant  der  Dichter  genannt  hat,  darf  es  an  sich  tragen.  Es  muß 
vor  uns  stehen  wie  eine  Gabe  der  Natur,  bei  der  wir  nicht  fragen, 
woher  sie  kommt  und  wohin  sie  zielt. 

Diese  Tätigkeit  des  Künstlers  ist  in  der  Tat  ein  Geheimnis, 
imd  es  existiert,  um  sie  hervorzubringen,  ein  eigenes,  von  allen 
übrigen  verschiedenes// Vermögen  des  menschlichen  Geistes.  So  wie 
der  Geschmack  die  Fähigkeit  der  interesselosen  Betrachtung  und 
der  Boden  für  die  Entfaltung  des  apriorischen  ästhetischen  Ge- 
fühls, wie  er  das  Vermögen  des  ästhetischen  Genusses  ist,  so  ist 
das  Genie  das  Vermögen  der  ästhetischen  Erzeug-ung.  Die  Er- 
zeugung des  künstlerischen  Produkts  durch  das  Genie  ist  stets 
"^riginelL  Sie  verfährt  nicht  nach  begrifflich  vorherbestimmten 
Regeln,  sondern  sie  gibt  vielmehr  selbst  in  der  Produktion  und 
mit  ihr  die  ästhetischen  Regeln,  nach  denen  die  hinterherkommende 
Theorie  ihre  Kritik  vollzieht.  Das  Genie  ist  exemplarisch.  Es 
erzeugt  seine  Werke  nicht  aus  bewußter  Reflexion,  sondern  völlig 
naiv  und  in  der  natürlichen  Entfaltung  seines  eigenen  Wesens. 
Es  arbeitet  bewußt,  und  doch  arbeitet  in  ihm  etwas  so  notwendig 
und  so  absichtslos  wie  eine  Naturgewalt.  Soll  die  Kunst  wie 
eine  Natur  angesehen  werden  können,  so  ist  das  nur  dadurch 
möglich,  daß  das  sie  erzeugende  Genie  eine  Intelligenz  ist, 
die  als  Natur  wirkt.  Dieser  Charakter  des  Genies,  diese  seine 
naive  und  absichtslose,  naturnotwendige  Wirkung  eines  intelligenten 
Wesens  ist  eine  Tatsache;  aber  sie  ist  unbegreiflich.  Die  Funktion 
l  des  Genies   bewundern  wir,   aber  wir  verstehen  sie  nicht.    Die 

^  Tätigkeit  des  Genies  ist  deshalb,  wie  Kant  meint,  auf  die  Kunst 

-t  beschränkt;  er  will  sie  vor  allem  aus  der  Wissenschaft  verwiesen 

sehen.     In  ihr   gelte  nur  der  »große  Kopf«.     Aber  dieser  unter- 
scheide sich  von  dem  gewöhnlichen  Menschen  nur  quantitativ  und 
nicht   wie   das   Genie   prinzipiell.     Während   die   Produktion   des 
Künstlers   mit   jedem  Schritte   ein   neues   unlernbares  Geheimnis 
enthalte,  sei  in  den  Werken  eines  Newton  nichts,  was  nicht  der 
^        gewöhnliche  Verstand  nachrechnend  begreifen  könnte.    Die  wissen- 
J        schaftliche  Größe  ist  erwerbbar,  die  künstlerische  nie.    Sie  ist  eine 
''^        Gabe  der  Natur. 

Für  die  Behauptung,  daß  das  Genie  in  der  Wissenschaft  keinen 
Platz  habe,  gibt  es  keine  glänzendere  Widerlegung  als  Kant  selbst 


yy.  ^    ^'.M      -/    y      ,     .    i      Wesen  des  (Jenics.  ,      y   ,        >  ».^    181 

und  seine  iistholisthe  Lrhro.  Er  hat  recht,  daß  aucli  in  den 
größten  wissenschaftliclicn  Taten  nichts  ist,  was,  wenn  sie  einmal 
geschehen  sind,  nicht  für  jeden  be«^^reiflich  gemacht  werden  könnte. 
Aber  eben  sie  zu  tun  und  das  zu  finden,  was  nachher  jeder  ein- 
sehen kann,  das  ist  selbst  nicht  mehr  eine  Sache  des  Erlernenfl 
und  Erwerbens,  sondern  vielmehr  der  genialen  Intuition.  In  der 
^beweisenden""  Darstellung  der  Wissenschaft  —  darin  hat  Kant 
zweifellos  recht  —  hat  die  geniale  Behauptung  auch  nicht  die 
Spur  eines  Bürgerrechts.  Aber  in  der  Erforschung  muß  der  große 
Blick  des  Genies  dasjenige  unmittelbar  erfassen,  was  erst  nach- 
her durch  die  strenge  Arbeit  des  Verstandes  bewiesen  werden 
kann.  Oder  war  es  etwa  nicht  eine  geniale  Intuition,  mit  der 
ein  Newton  die  Identität  der  Naturwirkung  in  dem  Falle  des 
Apfels  und  in  der  Bewegung  der  Gestirne  erfaßte?  Und  ebenso 
war  es  nicht  erworben  und  nicht  erlernt,  wenn  Kant  in  der  Kritik 
der  ästhetischen  Urteilskraft  das  Wesen  der  Schönheit  und  des 
Genies  in  seiner  letzten  Tiefe  erfaßte  und  in  den  Begriffen  seiner 
Philosophie  formulierte. 

Aber  unter  allen  philosophischen  Taten  Kants  ist  dies  persön- 
lich gewiß  die  bewunderungswürdigste.  Mancherlei  einzelne  Ge- 
danken und  Formulienmgen  seiner  ästhetischen  Lehre  mag  er  in 
der  englischen  und  der  deutschen  Literatur,  die  er  auch  in  dieser 
Hinsicht  fleißig  verfolgte,  vorgefunden  und  schon  in  seiner  vor- 
kritischen Zeit  schriftlich  oder  mündlich  vorgetragen  haben;  ins- 
besondere haben  von  den  Deutschen  Winckelmann  und  von  den 
Engländern  Gerard  bedeutsam  mit  ihren  Gedanken  und  Formeln 
auf  ihn  eingewirkt:  aber  die  einheitliche  Energie,  mit  der  sie  in 
der  Kritik  der  Urteilskraft  entwickelt  werden,  ist  sein  eigenstes 
Werk.  Eben  hier  erweist  sich  der  »systematische  Faktor«,  der 
in  seinem  Denken  eine  so  große  und  häufig  entscheidende  Rolle 
gespielt  hat,  geradezu  als  schöpferisch.  Und  dabei  wirkt  die 
Größe  seiner  Leistung  auf  diesem  Gebiete  um  so  eindrucksvoller, 
je  mehr  man  bedenkt,  wie  wenig  er  dem  Gegenstande  persönlich 
nahe  stand.  Im  kimmerischen  Norden,  wo  die  Natur  ihre  Reize 
sparsam  ausgestreut  hat,  den  engen  Mauern  seiner  heimatlichen 
Feste  kaum  jemals  entronnen,  von  der  Anschauung  nennenswerter 
Werke  der  bildenden  Kunst  vöUi«^  absfeschlossen,  mit  dem  pe- 
dantischen  Geschmack  des  Aufklärungszeitalters  in  die  Werke  von 


ILL^ 


fd 


1Q2  Kauts  ästhetische  Philosophie. 

Dichtern  wie  Pope  und  Haller  eingelebt  und  von  dem  gewaltigen 
Aufschwünge  der  deutschen  Poesie  verhältnismäßig  wenig  berührt, 
—  so  entwirft  dieser  Mann  in  seiner  Einsamkeit  aus  der  philo- 
sophischen Überlegung  heraus  eine  Lehre  vom  Ursprünge  des 
ästhetischen  Gefühls  und  von  der  Produktionsweise  des  künstle- 
rischen Genies,  welche  in  ihrer  Einfachheit  bis  auf  den  heutigen 
Tag  das  Tiefste  ist,  was  darüber  geschrieben  wurde,  und  dringt 
in  das  innerste  Wesen  dieser  ihm  völlig  heterogenen  Tätigkeit  so 
mächtig  ein,  daß  unsere  beiden  großen  Dichter,  sonst  zurück- 
gestoßen von  der  schulmäßigen  Strenge  seiner  theoretischen  Unter- 
suchungen und  von  der  rigoristischen  Einseitigkeit  seiner  sittlich ea 
Überzeugung,  in  diesem  seinen  Werke  das  Geheimnis  ihrer  eigenen 
Schöpfungen  ausgesprochen  finden  und  es  ausdrücklich  bekennen: 
so  ist  es  und  nicht  anders. 

Die  Kritik  der  Urteilskraft  ist  der  Schlußstein  des  Kantischen 
Gedankenbaues :  aber  sie  ist  zugleich  der  mächtigste  Eckstein  für 
den  Weiterbau  der  Nachfolger  geworden.  Denn  die  glücklichste 
aller  Fügungen  wollte  es,  daß,  was  Kant  in  ihr  begrifflich  er- 
kannte, in  der  unmittelbaren  Gegenwart  lebendig  wirkte.  Für 
den  gesamten  Zusanomenhang  des  deutschen  Geisteslebens  am  Ende 
des  XVIII.  Jahrhunderts  ist  kein  Werk  bedeutsamer  geworden  als 
dies.  Es  enthält  in  sich  den  größten  und  einflußreichsten  Moment 
unserer  Kultm^geschichte :  der  große  Philosoph  denkt  den  großen 
Künstler  —  Kant  konstruiert  den  Begiiff  der  Goetheschen  Dichtung. 


III.  Teil. 
Die  nachkantischc  Philosopliie. 


Kants  Lehre  macht  in  der  Geschichte  des  modenien  Denkens 
die  grollte  Epoche  aus,  die  es  erfahren  hat.  Aber  mannigfache 
Umstände  vereinigten  sich,  imi  ihre  Wirkungen  zunächst  auf  die 
deutsche  Geistesbewegung  zu  beschränken.  Die  anderen  Nationen, 
überdies  nicht  gewohnt,  aus  Deutschland  Anregungen  für  das  philo- 
sophische Denken  zu  empfangen  und  sich  mit  der  deutschen  Lite- 
ratur eingehend  zu  beschäftigen,  waren  zugleich  aus  verschiedenen 
Gründen  nicht  dazu  angetan,  den  Kantischen  Gedanken  Folge 
imd  Ausbildimg  zu  geben.  In  England  war  die  philosophische 
Energie  mit  der  großen  Bewegimg  von  Locke  zu  Hume  erschöpft. 
Die  schottische  Schule  mit  ihren  bequemen  psychologistischen 
Untersuchungen  des  Commonsense  beherrschte  so  gut  wie  aus- 
schließlich alles,  was  sich  von  philosophischen  Tendenzen  noch 
regte.  In  Frankreich  dagegen  trat  für  alle  bedeutenderen  Geister 
mit  dem  Beginne  der  Revolution  und  allen  ihren  großartigen  Folge- 
erscheinungen das  theoretische  Interesse  hinter  das  politische  und 
soziale  noch  mehr  zurück  als  früher,  und  die  Franzosen  hatten 
damals  am  wenigsten  Zeit,  sich  mit  den  tiefsinnigen  Untersuchungen 
eines  Kant  zu  beschäftigen.  Auch  ihre  philosophische  Bewegung 
war  bei  den  letzten  Resultaten  angelangt,  die  in  ihrer  anfänglichen 
Tendenz  angelegt  gewesen  waren,  und  nachdem  das  letzte  Wort 
des  Systeme  de  la  nature  einerseits  und  Rousseaus  anderseits  aus- 
gesprochen worden  war,  gab  es  auch  in  der  französischen  Auf- 
klärung zunächst  keine  Veranlassung  mehr  zu  weiterer  selbständiger 
Bewegung,  Für  Italien  dauerte  die  Unselbständigkeit  des  philo- 
sophischen Interesses,  welche  es  seit  der  Gegenreformation  des 
XVI.  Jahrhunderts   im  ganzen  gezeigt  hatte,  noch  fort,  und  die 


184  I^ie  nachkantische  Philosophie. 

Verwicklung  in  die  große  politische  Bewegung,  bei  der  die  ersten 
Regungen  seines  nationalen  Selbstgefühls  wieder  zutage  traten, 
war  eben  auch  nicht  geeignet,  eine  besondere  philosophische  Leistung 
hervorzurufen. 

Um  so  günstiger  lagen  die  Verhältnisse  in  Deutschland.  Erst 
seit  einem  halben  Jahrhundert  waren  hier  die  bürgerlichen  Klassen 
in  die  geistige  Bewegung  der  Aufklärung  eingetreten  und  hatten 
jetzt  erst  recht  das  brennende  Interesse  gewonnen,  in  einer  geistigen 
Gemeinschaft  die  nationale  Zusammengehörigkeit  zu  finden,  die 
ihnen  politisch  abging.  War  ihnen  die  Sehnsucht  danach  durch 
die  gewaltige  Erscheinung  Friedrichs  des  Großen  neu  erweckt 
worden,  so  zeigte  sich  der  zerrissene  und  kleinliche  Zustand  der 
politischen  Verhältnisse  so  wenig  kräftig,  das  Interesse  der  be- 
deutenderen Geister  auf  sich  zu  ziehen,  daß  diese  vielmehr  nur 
in  ihrem  intellektuellen  und  ästhetischen  Leben  die  nationale  Ge- 
meinschaft finden  zu  sollen  glaubten.  Diese  Abwendung  des  Inter- 
esses der  Gebildeten  von  dem  öffentlichen  Leben  ist  vielleicht 
neben  den  alten  Sünden  einer  jahrhundertelangen  politischen  Zer- 
fahrenheit eine  Veranlassung  dafür  geworden,  daß  der  ganze  po- 
litische Bau  der  deutschen  Nation  wie  ein  Kartenhaus  über  den 
Haufen  geworfen  wurde.  Aber  die  Konzentrierimg  dieses  Inter- 
esses auf  eine  gemeinsame  wissenschaftliche  und  künstlerische  Arbeit 
hat  mitten  in  dem  Untergange  der  alten  politischen  Institutionen 
eine  nationale  Bildung  aufgerichtet,  aus  der  dann  als  aus  ihrer 
kräftigsten  Wurzel  und  zugleich  mit  der  sittlich  größten  Berech- 
tigung im  XIX.  Jahrhundert  die  Neubegründung  der  deutschen 
Nationalität  hervorgegangen  ist. 

An  dieser  nationalen  Bildung,  die  das  wahre  Fundament  der 
heutigen  Zustände  bildet,  haben  zwei  Mächte  des  geistigen  Lebens 
gleichen  Anteil:  die  Dichtung  und  die  Philosophie.  Wenn  aber 
die  deutsche  Aufklärung,  sich  selbst  überlassen  und  nachdem  sie 
die  ausländischen  Anregungen  vollständig  in  sich  aufgesogen  hatte, 
schließlich  doch  derselben  trostlosen  Versandung  des  philosophischen 
Denkens  verfiel  wie  das  Ausland,  so  ist  die  Stellung  Kants  in 
der  Geschichte  der  deutschen  Nation  dadurch  in  ihrer  ganzen 
eminenten  Bedeutung  bezeichnet,  daß  es  seine  Lehre  war,  welche 
dem  philosophischen  Interesse  einen  neuen  Inhalt  und  eine  uner- 
schöpflich fruchtbare  Energie  verschaffte,  vermöge  deren  sie  jähr- 


lOiiiteilung  dur  iiaühkantiiichen  Philosopliio.  185 

zohntelang  zu  oincin  Gcsamtintorosso  (h  r  nationalen  Bildung  und 
ihre  Fortentwicklung  zu  einem  Sammelplatz  der  lieivorragendsten 
C^eister  werden  konnte. 

So  kam  es  durch  die  Gunst  der  Verhältnisse  und  durch  die 
Macht  des  Gedankens,  daß  sich  an  Kant  unmittelbar  in  Deutsch- 
land eine  der  lebhaftesten  und  rapidesten  philosophischen  Be- 
wegungen anschloß,  welche  die  Geschichte  je  gesehen  hat.  Die 
große  Mannigfaltigkeit  der  in  seiner  Lehre  verarbeiteten  Prin- 
zipien gab  den  Kaum  für  einen  nicht  minder  großen  Reichtum 
von  Systemen  der  Philosophie,  die  sich  in  rascher  Folge  aus  dem 
eeinigen  entwickelten.  Die  Darstellung  der  nachkanti sehen  Philo- 
sophie hat  daher  in  erster  Linie  diese  systematische  Entwicklung 
zu  ihrem  Gegenstande  zu  machen,  worin  die  Kantische  Philosophie 
alle  ihre  Anlagen  zu  selbständiger  Gestaltung  herausbildete.  Diese 
Zeit  reicht  bis  in  die  dreißiger  Jahre  des  XIX.  Jahrhunderts.  Nach 
ihr  tritt  in  Deutschland  jene  Erschlaffung  ein,  welche  den  Zeiten 
bedeutender  Produktion  zu  folgen  pflegt.  Von  hier  aus  muß  sich 
der  Blick  der  Geschichte  auf  die  Beweoun^en  des  ausländischen 
Denkens  zurücklenken,  um  zu  sehen,  wie  inzwischen  die  anderen 
Nationen  allmählich  wieder  teils  mit  originelleren  Schöpfungen, 
teils  besonders  durch  die  Anregungen  von  Seiten  Kants  und  der 
übrigen  deutschen  Denker  in  die  philosophische  Bewegung  ein- 
treten und  bis  in  die  neueste  Zeit  hinein  mit  steigendem  Liter- 
esse und  steigendem  Erfolge  sich  daran  beteiligen.  Endlich  ver- 
langt die  frischere  Bewegung,  welche  etwa  seit  der  Mitte  des 
Jahrhunderts  auch  in  Deutschland  wieder  eingetreten  ist,  und 
welche  teilweise  auch  auf  Rückströmungen  aus  England  und  Frank- 
reich hinweist,  die  Darstellung  der  neuesten  deutschen  Philosophie, 
mit  der  die  Geschichte  von  selbst  in  die  kritische  Betrachtuns 
der  Gegenwart  ausläuft.  In  dieser  Weise  wird  die  Geschichte  der 
nachkantischen  Philosophie  in  vier  Kapiteln  darzustellen  sein. 
Das  erste  behandelt  die  systematische  Entwicklung  der  deutschen 
Philosophie  nach  Kant,  das  zweite  die  französische,  das  dritte  die 
englische  Philosophie  des  XIX.  Jahrhunderts.  Das  vierte  Kapitel 
wird  der  Darstellung  der  neuesten  Philosophie  in  Deutschland  ge- 
widmet sein*). 

*)  Von  diesen  vier  Kapiteln  enthält  dieser  Band  nur  noch  das  erste. 
Vgl.  das  Vorwort  zur  ersten  Auflage. 


186 


I.  Kapitel. 

Die  systematische  Entwicklung  der  deutschen  Philosophie 

nach  Kant. 

Die  Entwicklung  der  deutschen  Philosophie  nach  Kant  ist  an 
dem  Sternenhimmel  der  Geschichte  der  Philosophie  die  dichtest 
besetzte  und  leuchtendste  Stelle.  Zu  keiner  anderen  Zeit  drängen 
sich  Sterne  erster  Größe  so  nahe  wie  hier  zusammen,  und  nirgends 
sind  sie  von  einer  solchen  Fülle  mitleuchtender  kleinerer  Genossen 
umgeben.  Wohl  mag  es  manche  Zeiten  in  der  Geschichte  geben, 
welche  ein  ähnlich  intensives  Interesse  einer  ganzen  Nation  an 
philosophischen  Fortschritten  erkennen  lassen.  Die  griechische 
Bildung  in  der  Zeit  um  Sokrates  und  das  französische  Geistes- 
leben um  die  Mitte  des  XVIII.  Jahrhunderts  zeigen  eine  ähnliche 
Breite  des  nationalen  Interesses  an  der  Philosophie  wie  die  deutsche 
Bewegung  nach  Kant.  Aber  so  dicht  beieinander,  so  in  unmittel- 
barer Folge  von  kaum  mehr  als  drei  Jahrzehnten  hat  selbst  die 
attische  Philosophie  nicht  ihre  großen  Systeme  erzeugt,  wie  die 
deutsche.  Die  letztere  zeigt  eben  darin,  daß  sie  mit  der  lauge 
zurückgestauten  Hochflut  der  deutschen  Geistesbewegung  wächst 
und  einen  ihrer  wesentlichsten  Teile  ausmacht.  Die  Kantische 
Philosophie  mit  ihrem  unerschöpflichen  Ideenreichtum  und  mit 
ihrer  nach  allen  Eichtungen  fruchtbar  auszubildenden  Methode 
wurde  sehr  bald  von  der  gesamten  nationalen  Bildung  als  ein  ge- 
waltiges Mittel  ergriffen,  um  den  Kulturstoff  durchzuarbeiten  und 
abzuklären,  der  gleichzeitig  dem  deutschen  Geiste  neuen  Inhalt 
und  neue  Aufgaben  gegeben  hatte.  Die  kritische  Philosophie  fiel 
in  die  Zeit  der  zweiten,  der  gereiften  Renaissance,  welche  Deutsch- 
land erlebt  hat,  und  welche  den  in  der  Mitte  abgebrochenen 
Prozeß  der  ersten  zu  Ende  zu  führen  bestimmt  war.  Es  war  die 
Zeit,  in  der  die  deutsche  Kirnst  und  die  deutsche  Dichtung  neu 
in  die  Schule  der  Alten  gingen  und  in  der  auch  die  Wissenschaft 
mit  reinerem  und  vollerem  Verständnis  zu  den  ewigen  Quellen 
menschlicher  Kultur  zurückstieg,  die  in  Hellas  fließen.  Es  war 
die  Zeit,  wo  der  deutsche  Geist  der  Einwirkungen  der  beiden  west- 
lichen Nationen,  die  ihn  zuerst  wieder  aus  dumpfem  Schlafe  ge- 
weckt, Herr  zu  werden  und  sich  in  seiner  eigenen  Selbständigkeit 


DüulBchlundH  /.weite  Renaiittnco.  187 

zu  fiihlon  bo«;ann.  Es  war  mit  ciuem  Worlc  die  Zeil,  wo  dcT 
deutsche  Geist  sich  anschii  kto,  in  (Ut  «ganzen  Allseitigkcit  seiiicä 
Wesens  das  Fazit  zu  ziehen  aus  zwei  ^roüeii  Kultwrperioden  und 
damit  die  Bewegung  abzuschließen,  die  in  der  Renaissance  be- 
gonnen hatte.  Wenn  Kants  rhilosophie  als  das  reife  Resultat 
aller  der  phÜDSophisehen  Bewegungen  angesehen  werden  muß,  deren 
Beginn  wir  in  den  zerstreuten  Anfängen  des  modernen  Denkens 
verfolgt  haben,  so  begreift  .<ich,  weslialb  gerade  seine  PhilüS()[)hie 
geeignet  war,  den  philosopliischen  Keim  zu  bilden,  der  in  meinem 
Wachstum  die  ganzt^  reiche  Ideenwelt  dieser  zweiten  Renaissance 
zu  assimiheren  vermochte  und  so  zu  einem  Baume  heranwuclis, 
in  dessen  Schatten  ein  Jahrhundert  wohnen  sollte. 

Es  kann  hier  nicht  ausgefülirt  w^erden,  wie  sich  genau  der- 
selbe Prozeß  um  dieselbe  Zeit  in  der  poetischen  Literatur  der 
Deutschen  vollzog,  wie  auch  hier  die  modernen  Ideen  mid  Formen 
in  eine  kongeniale  Erneuerung  des  klassischen  Geistes  einschmolzen, 
und  wie  es  auch  hier  eine  große  dominierende  Persönlichkeit  war, 
in  der  alle  Fäden  dieser  Bewegung  zusammenliefen.  Die  Parallel- 
stellung Kants  und  Goethes  hat  in  dieser  Richtung  jener  ganzen 
unvergleichlichen  Zeit  ihren  Charakter  aufgeprägt.  Sie  sind  die 
beiden  königlichen  Geister,  um  welche  sich  alle  übrigen,  die  einen 
dem  einen,  die  andern  dem  andern  näher,  gruppieren.  Sie  sind 
die  beiden  Pole,  um  welche  die  ganze  Bewegung  der  Geister  sich 
dreht.  Ihre  Verwandtschaft  und  noch  mehr  ihr  Gegensatz  ist  das 
treibende  Moment  der  folgenden  Entwicklung. 

Deshalb  zeichnet  sich  diese  höchste  Blütezeit  des  deutschen 
Kulturlebens  vor  allen  anderen  Epochen  der  Geschichte  durch  eine 
so  innige  Gemeinsamkeit  der  philosophischen  und  der  poetischen 
Bewegung  aus,  wie  sie  niemals  vorher  dagewesen  ist.  Zu  keiner 
Zeit  waren  die  Dichter  philosophischer,  zu  keiner  Zeit  standen 
die  Philosophen  so  immittelbar  unter  dem  Einflüsse  der  Poesie. 
Zu  keiner  Zeit  war  die  Bildung  einer  Nation  so  gleichmäßig 
poetischen  und  philosophischen  Charakters  wie  zu  dieser.  Die 
äußere  Veranlassung  dazu  lag  eben  darin,  daß  beide  und  beide 
allein  die  geistige  Grmidlage  der  nationalen  Einheit  bildeten.  Die 
innere  lag  darin,  daß  die  Philosophie  aus  ihrem  eigensten  Be- 
dürfnis heraus  Fühlung  mit  dem  künstlerischen  Leben  suchte  imd 
suchen  mußte.     Die  letzte   Synthese  der   kritischen   Philosophie 


188  Philosophie  und  Dichtung. 

bildete  der  Begriff  des  künstlerisclieii  Genies.  Darin  lag  eine  not- 
wendige Gedankenverbindung  zwischen  Philosophie  und  Dichtung, 
welche  beide  Teile  zueinander  hinziehen  und  schließlich  zu  dem 
Versuche  voller  Verschmelzung  zwischen  ihnen  führen  mußte. 

Eine  besondere  äußere  Veranlassung  trat  hinzu,  um  das,  was 
die  geistige  Verwandtschaft  notwendig  machte,  in  kürzester  Zeit 
zur  wirklichen  Erscheinung  werden  zu  lassen.  Durch  eine  Anzahl 
von  persönlichen  Beziehungen  wurde  seit  der  Mitte  des  neunten 
Jahrzehnts  des  XVIII.  Jahrhunderts  die  Universität  Jena  »die 
zweite  Heimat«  der  kritischen  Philosophie.  Damit  trat  der  Ge- 
danke Kants  aus  der  Einsamkeit  seines  Urhebers  mitten  in  eine 
lebhafte  Bewegung  ein,  die  wesentlich  poetischen  Charakters  war. 
Es  ist  das  nie  genug  zu  rühmende  Verdienst  Karl  Augusts  von 
Sachsen- Weimar,  daß  er  die  Träger  der  poetischen  und  ebenso 
diejenigen  der  philosophischen  Entwicklung  so  miteinander  ver- 
einigt hat,  daß  sie  in  stetiger  persönlicher  Berührung  jene  große 
Verschmelzung  der  Ideen  herbeiführen  konnten.  Weimar  und 
Jena  wurden  in  wenigen  Jahren  und  für  mehr  als  ein  Jahrzehnt 
die  Hauptstädte  des  geistigen  Deutschlands.  Sie  büdeten  in  der 
politisch  zerrissenen  Nation  einen  Mittelpunkt,  nach  welchem  alles 
hinstrebte,  was  in  die  Bildung  der  Zeit  eintreten  und  sie  fördern 
wollte.  Hier  fand  eine  Berührung  und  eine  rapide  Gesamtent- 
wicklung der  Geister  statt,  ähnlich  wie  diejenige  in  Paris  während 
der  Mitte  des  XVIII.  Jahrhunderts,  nur  mit  dem  Unterschiede, 
daß  der  Inhalt  dieser  Entwicklung  und  deshalb  auch  ihr  Resultat 
ungleich  bedeutender  war  als  dort. 

Die  Jenenser  Universität  ist  deshalb  der  Mittelpunkt,  an  welchem 
die  philosophische  Seite  dieser  Bewegung,  soweit  sie  von  der  poe- 
tischen trennbar  ist,  verfolgt  werden  muß.  Hier  folgen  sich  Schlag 
auf  Schlag  die  großen  Systeme  der  deutschen  Philosophie.  Sie 
entstehen  im  Uni versitätsleben ;  aus  dem  Haupte  ihrer  Schöpfer 
setzen  sie  sich  sogleich  in  die  Überzeugungen  lernbegieriger  Männer 
und  Jünglinge  um  und  werden  hinausgetragen  in  alle  Schichten 
des  Volkes,  um  in  kürzester  Zeit  das  geistige  Leben  der  Nation 
zu  durchdringen  und  ihm  einen  neuen  Inhalt  zu  geben.  Zu  der- 
selben Zeit,  wo  der  europäische  Staatenbau  aus  den  Fugen  geht 
und  das  Deutsche  Reich  zusammenbricht,  reichen  sich  Dichtung 
imd  Philosophie  die  Hände,  um  die  eherne  Schlange  einer  natio- 


Jena  und   Weimar.  189 

iialeii  Bildung  zu  criiclitcn,    in  der  die*  Zukunft   ihr  JL  ii   finden 
sollte. 

Aber  aucli  den  Tiägern  des  philoso|)hisclien  Gedankens  erwies 
sich  ihre  Wirlc^^andvcit  an  der  Univei^ilät  als  ein  mächti;.^er  Anreiz 
für  die  Weiterentwicklung.  Sie  sind  die  leuchtenden  Typen  für 
jenes  »docendo  discitur«,  welches  die  Signatur  des  akademischen 
Lebens  in  Deutschland  bildet.  Genötigt,  den  philosophischen  Ge- 
danken vor  einer  in  die  liöchste  Bildung  eingolebten  oder  zu  ihr 
aufstrebenden  Zuhörerschaft  immer  neu  zu  produzieren,  müssen 
sie  auf  die  geheimsten  Beziehungen  und  Wendungen  darin  auf- 
merksam werden  und  befinden  sich  aus  diesem  Grunde  in  einer 
stetigen  Umbildung  zunächst  der  Form  und  dann  auch  des  In- 
halten der  Philosophie.  In  dieser  rastlosen  Arbeit  kommen  dann 
alle  die  zahlreichen  Motive  des  Kantischen  Systems  nacheinander 
zu  überwiegender  Geltung  und  verbinden  sich  je  nach  ihrem  In- 
halte mehr  oder  minder  fest  mit  den  übrigen  Elementen  der 
nationalen  Bildung.  So  sind  es  gerade  die  Vielseitigkeit  und  der 
innere  Antagonismus  der  Teile  der  Kantischen  Lehre,  welche  in 
Verbindimg  mit  der  Reichhaltigkeit  des  übrigen  Bildungsmaterials 
die  Vielgestaltigkeit  der  folgenden  Philosophie  und  die  verhältnis- 
mäßig große  Anzahl  bedeutender  Systeme  ermöglicht  haben,  worin 
sich  diese  ausprägte. 

Den  Grundstock  dieser  Entwicklung  bilden  somit  die  Systeme, 
die  in  Jena  selbst  erzeugt  worden  sind;  an  sie  schUeßt  sich  alles 
an,  was  auch  außerhalb  und  teilweise  im  Gegensatze  zu  ihnen 
mit  wirklich  fruchtbarer  Originalität  zutage  getreten  ist.  Aber 
auch  hier  wie  in  dem  Paris  des  XVIII.  Jahrhunderts  hat  man 
es  mit  einer  Gesamtentwicklung  zu  tun.  Auch  hier  ist  der  Gang, 
welchen  der  einzelne  Denker  nimmt,  durch  die  gemeinsame  Arbeit 
bestimmt.  Auch  hier  ist  es  oft  schwer,  den  Anteil,  den  der  ein- 
zelne daran  hat,  genau  gegen  denjenigen  des  anderen  abzugrenzen. 
Auch  hier  sind  bei  aller  persönlichen  Initiative  die  einzelnen  Werke 
nur  die  Etappen  eines  gemeinsamen  Fortschrittes.  Die  führenden 
Persönhchkeiten  unterHegen  zum  Teil  selbst  den  Wandlungen, 
welche  durch  das  Zusammenströmen  der  verschiedenen  Tendenzen 
in  der  Atmosphäre  dieser  Bildung  entstehen,  und  sie  begegnen 
uns  deshalb  in  verschiedener  Gestalt  an  verschiedenen  Punkten 
der  Gesamtentwicklung. 


■■ 


190  Erste  Wirkungen  der  kritischen  Philosophie. 

§  62.     Die  ersten  Wirkungen  der  kritischen  Philosophie. 

Der  erste   Erfolg  der  Kritik   der  reinen  Vernunft   entsprach 
einerseits   der  Schwierigkeit   ihrer  Untersuchungen   und  der  voll- 
kommenen  Neuheit    ihres   erkenntnistheoretischen   Standpunktes, 
anderseits  dem  Umstände,  daß  das  System  Kants  darin  nur  zur 
Hälfte  niedergelegt  war  und  seiner  Ergänzung  noch  bedurfte.    Sie 
wurde  in  den  ersten  Jahren  wenig  beachtet  und,  wo  man  sie  las, 
mißverstanden.     Wenn  später  einmal  von  Seiten  der  preußischen 
Zensur  das  Imprimatur  für  eine  der  religionsphilosophischen  Ab- 
handlungen Kants  mit  der  Begründung  erteilt  wurde,  »daß  doch 
nur  tiefdenkende  Gelehrte   die  Schriften  des  Herrn  Kant  läsen«, 
so  waren   solche    tiefdenkenden  Gelehrten   die  Häupter   der  zeit- 
genössischen Popularphilosophie  nicht.    Sie,  die  mit  ihren  dogma- 
tischen Begriffen  oder  mit  ihreno,,  gesunden  Menschenverstände '  am 
Ende  des  Wissens  angekommen  waren,  hatten  kein  Organ  mehr, 
um  auch  nur  die  Probleme  zu  verstehen,   an  welchen  der  große 
Denker  sich  abmühte.     Sie   fanden   in  der  Kritik  nur  dasjenige 
wieder,    was  sie  selbst   oder  ihre  Gegner  gesagt  hatten,   und  sie 
waren  auf  das  äußerste  darüber  entrüstet,   daß  nun  doch  dieses 
Werk  ihre  sauberen  Beweise   für  das  Dasein  Gottes  und  für  die 
Unsterblichkeit   der  Seele   als   eitel   Schein   und   Sophisterei    zer- 
störte.    Die  einen   hielten  Kant   für  einen  Leibnizianer,   weil   er 
die  Möglichkeit   apriorischer  Erkenntnis   behauptete;    die   andern 
stellten  ihn   zu  Locke,    weil  er  das  menschliche  Wissen   auf   die 
Erfahrung  beschränkte:  die  meisten  sahen  in  ihm  eine  der  vielen 
Verschmelzungen   von   Leibniz   und   Locke,    welche   die  deutsche 
Philosophie  versucht  hatte.  Den  Kern  der  Sache  verstand  niemand. 
Und  doch  bemächtigte  sich  vieler  ein  gewisses  unbehagliches  Ge- 
fühl davon,  daß  man  es  mit  einem  großen  Ereignis  zu  tun  habe, 
das   man   nur  noch   nicht  recht   zu  fassen    vermöchte,    und   daß 
man  sich   gegen   diese  neue  Lehre   auf  Tod   und  Leben   zu  ver- 
teidigen haben  würde.    Ein  Nicolai  freilich  meinte  noch  spät,  als 
der    Sieg    bereits  entschieden   war,  die   »vonvornige<<   Philosophie 
durch  seine  albernen  Satiren,    wie   die   »Geschichte   eines  dicken 
Mannes«   (1794)  und   »Leben   und  Meinungen  Sempronius  Gundi- 
berts«  (1798)  abgetan  zu  haben.    Aber  ein  Mendelssohn  gab  schon 
seine  »Morgenstunden«  (1785)  mit  den  alten  Beweisen  vom  Dasein 


Eindruck  der   Kritik.  191 

Gt)ttes  in  einer  Art   von  wohniiitig(Mn  ({cfühl  Heiner   Überlebt iieit 
dem    »alles  zermalmenden«   Kant   ^ej^enüber  heraus. 

Immerhin  <;ini>;en  die  ersten  breitereu  Wirkim<i;en  der  Kantischen 
Philosophie  nicht  von  der  Kritik»  der  reinen  Vernunft,  sondern 
von  anderweitigen  Darstellungen  aus.  Das  Ha\iptwerk  selbst  fand 
nur  sehr  wenige  und  äußerst  unbedeutende  Besprecliungen ,  die 
hauptsächlichste  noch  in  den  »Göttinger  gelehrten  Anzeigen«.  Von 
Garve  ursprünglich  verfaßt  (sie  ist  später  in  dieser  Gestalt  mit 
mancherlei  Zusätzen  in  Nicolais  »allgemeiner  deutscher  Bibliothek« 
reproduziert  worden)  und  von  Feder  redaktionsmäßig  zusammen- 
geschnitten und  überarbeitet,  zeigt  sie  durch  die  Behauptung, 
Kant  stehe  etwa  in  der  Nähe  von  Berkeley,  eine  so  völhge  Un- 
fähigkeit, die  neuen  Untersuchungen  zu  verstehen,  daß  Kant  ihr 
in  den  » Prolegomena «  eine  scharfe  Zurechtweisung  erteilte.  Aber 
auch  die  Absicht  dieser  Schrift,  die  kritische  Lehre  dem  allgemeinen 
Verständnis  näher  zu  bringen,  hatte  wenig  Erfolg,  und  erst  Kants 
Freund  und  Kollege,  der  Hofprediger  und  Professor  der  Mathe- 
matik Johann  Schulze  (1739 — 1805,  auch  Schultz  geschrieben), 
erwarb  sich  durch  seine  »Erläuterungen  über  des  Herrn  Prof.  Kant 
Kritik  der  reinen  Vernunft<<  (1784)  das  Verdienst,  der  neuen 
Philosophie  Freunde  zu  werben.  Er  zielte  darin,  wie  auch  später 
in  der  »Prüfung  der  Kantischen  Kritik  der  reinen  Vernunft« 
(2  Bde.,  1789  und  1792)  hauptsächlich  auf  den  Nachweis  der 
religiösen  Ungefährlichkeit  des  kritischen  Systems.  Seine  Dar- 
stellung, viel  elementarer  als  die  Kantische,  führte  dem  Kriti- 
zismus viele  Jünger  zu.  Von  noch  größerer  Wichtigkeit  aber 
wurde  es,  daß  die  beiden  Herausgeber  der  Jenenser  »Allge- 
meinen Literaturzeitung«  (seit  1785),  Schütz  und  Hufe- 
land, sich  auf  den  Kantischen  Standpunkt  stellten  und  dieses 
Journal  geradezu  als  Organ  der  kritischen  Philosophie  behandelten. 
Damit  begann  die  Einströmung  der  Kantischen  Lehren  in  die 
besonderen  Wissenschaften.  NamentHch  gewann  durch  Hufeknd 
selbst  die  Jurisprudenz  Fühlung  mit  den  Kantischen  Prinzipien, 
mid  Rehberg,  der  bekannte  Staatsmann  und  Publizist,  gab 
später  seine  geistreiche  Beurteilung  der  Literatur  über  die  fran- 
zösische Revolution  ganz  von  den  Gesichtspunkten  der  kritischen 
Rechts-  imd  Geschichtsphilosophie  aus.  An  der  allgemeineren 
philosophischen   Verteidigung    Kants    beteiligte   sich    neben    den 


292  Erste  WirkuDgen  der  kritischen  Philosophie. 

beiden  Herausgebern  in  diesem  Journal  besonders  Kraus  (1753 
bis  1807),  Kants  Spezialkollege  in  Königsberg,  obwohl  er  in  seinen 
ei^^enen  Ansichten  skeptischer  war.  Die  entscheidende  Tat  aber 
für  den  Durchbruch  der  kritischen  Philosophie  geschah  durch 
K.  L.  Reinhold.  Seine  »Briefe  über  die  Kantische  Philosophie« 
(1786  und  1787  in  Wielands  »Deutschem  Merkur«  erschienen  und 
darauf  besonders  gedruckt)  haben  das  Interesse  der  gebildeten 
Welt  in  Deutschland  wie  mit  einem  Schlage  für  Kant  erobert. 
Es  gelang  ihnen  deshalb,  weil  sie  mit  glühender  Begeisterung  und 
in  beredter,  schöner  Sprache  diese  Lehre  so  schilderten,  wie  sie 
auf  den  Verfasser  selbst  gewirkt  hatte :  als  eine  neue  sittlich- 
religiöse Überzeugung,  welche  mit  der  höchsten  Klarheit  des 
Denkens  die  wertvollsten  Gegenstände  des  Glaubens  umfaßte. 
Nicht  mehr  die  religiöse  Ungefährlichkeit  des  Kritizismus  wollte 
er  dartun,  sondern  dieser  galt  ihm  selbst  als  eine  neue  Religion. 
Als  dann  Reinhold  1787  auf  die  Jenenser  Professur  berufen  wurde, 
als  neben  ihm  mit  Wort  und  Schrift  der  unermüdliche  Erhard 
Schmid  (1761 — 1812)  für  die  Ausbreitung  des  Kantianismus  wirkte, 
da  war  der  Bann  gebrochen,  und  mit  rapider  Geschwindigkeit 
^Yurde  die  kritische  Philosophie  zu  einem  Gegenstande  des  lebhaf- 
testen Interesses  in  ganz  Deutschland. 

Inzwischen  waren  nun  auch  Kants  moralphilosophische  Werke 
erschienen,  und  1790  kam  die  Kritik  der  Urteilskraft.  Immer 
allseitiger  offenbarte  sich  die  Revolution,  welche  der  große  Mann 
in  das  philosophische  Denken  brachte,  immer  breiter  wurde  die 
Berührung,  die  seine  Lehre  mit  den  allgemeinen  wie  mit  den 
besonderen  Interessen  der  wissenschaftlichen  und  der  literarischen 
Bildung  gewann,  immer  stattHcher  wuchs  die  Zahl  der  Anhänger; 
aber  desto  lebhafter  und  eifriger  regte  sich  auch  der  Widerspruch 
der  Gegner.  Schon  im  Jahre  1791  war  die  Bewegung  so  groß 
geworden,  daß  die  Berliner  Akademie,  in  welcher  die  Wolffsche 
Schule  und  die  Popularphilosophie  in  Eintracht  herrschten,  sie 
nicht  mehr  ignorieren  konnte  und  im  Hinblick  auf  sie  die  Preis- 
frage stellte,  »welche  Fortschritte  die  Metaphysik  seit  Leibnizens 
imd  Wolffs  Zeiten  in  Deutschland  gemacht  habe«,  worauf  sie 
dann  einige  Jahre  nachher  die  Antwort  eines  Wolffianers  strenger 
Observanz,  Schwab  in  Stuttgart,  krönte,  weil  diese  dahin  lautete: 
die  Metaphysik  habe  keine  Fortschritte  seit  Wolff  gemacht,  und 


Freunde  und  Feinde.  193 

nie  bedürfe  ilersolben  auch  nic'bt .  Abor  nchon  vorher  hagelten  die 
(Jcgenscbvifton  dicht.  Von  der  Ausdebmni«;  der  Bewegung  gibt 
jianicntlicli  die  Fülle  von  Broschüren  und  akademischen  DisHcr- 
tationen  Zeugnis,  welche  sich  nnt  den  Kantischen  Problemen, 
wenn  auch  noch  so  ablehnend,  beschäftijj^ien.  Am  absprechendsten 
urteilten  die  Popularphilosophen.  Die  »all};emeinc  deutsche 
Bibliothek«  eröffnete  mit  den  Waffen  des  Ernstes  und  des  »Scherzes 
einen  langjährigen  Krieg  gegen  den  Kritizismus,  Meiners  erklärte 
in  seinem  »Grundriß  der  Geschichte  der  Weltweisheit«  (Lemgo  1786) 
Kant  für  einen  modernen  Sophisten,  Feder  schrieb  eine  triviale 
Schrift  »über  Raum  und  Kausalität,  zur  Prüfung  der  Kantischen 
Philosophie«  (Göttingen  1787),  deren  spärliche  Gedanken  von 
seinen  Anhängern  Weishaupt  und  Tittel  in  Büchern  und  Re- 
zensionen ausgetreten  wurden;  die  beiden  ersteren  gaben  schließ- 
lich sogar  eine  »Philosophische  Bibliothek«  zur  Bekämpfung 
Kants  heraus.  Stellte  sich  die  Popularphilosophie  bei  ihren  An- 
griffen meist  auf  den  Standpunkt  des  Empirismus,  worin  sie  bei 
Empiristen  niederen  Ranges  wie  Seile,  Ouvrier  u.  a.  Unter- 
.stützung  fand,  so  machte  anderseits  der  schulmäßige  Ratio- 
nalismus Kant  den  Vorwurf,  Leibniz  und  AVolff  verlassen  und 
dafür  teils  zu  Locke,  teils  zu  Hume  gegriffen  zu  haben.  Das 
große  Wort  führte  hier  Eberhard  in  Halle,  der  gegen  den  Kriti- 
zismus zwei  Zeitschriften  hintereinander,  das  »Philosophische 
Magazin«  (1789 — 1792)  und  das  »Philosophische  Archiv« 
(1792 — 1795)  gründete.  Im  ersteren  führte  er  selbst  den  Angriff, 
den  Kant  in  seiner  Rephk  ȟber  eine  Entdeckung,  nach  der  alle 
neue  Kritik  der  reinen  Vernunft  durch  eine  ältere  entbehrhch 
gemacht  werden  soll«  (Königsberg  1790)  vorzüglich  parierte.  An 
dem  letzteren  wirkte  hauptsächlich  auch  Schwab  mit,  der  außer- 
dem eine  Anzahl  eigener  Schriften  gegen  die  Kantischen  Lehren 
verfaßte.  In  dieselbe  Posaune  stieß  mit  dem  Brustton  Wolff scher 
Orthodoxie  Flatt  in  Tübingen,  der  zwar  auch  die  übrigen  Teile  der 
kritischen  Philosophie,  vorzügUch  aber  Kants  Moraltheologie  (1788) 
angriff.  Besonders  eifrig  tat  sich  auch  als  Gegner  der  neuen  Philo- 
sophie in  dieser  Richtung  J.G.E.Ma  aß  in  Halle  (1766 — 1823)  hervor, 
der  unter  anderem  seine  scharfsinnigen  »Briefe  über  die  Antinomie 
der  Vernunft«  (1788)  brachte  und  später  sich  ganz  der  empirischen 
Psychologie  mit  zahlreichen  beachtenswerten  Schriften  gewidmet  hat. 

WindeUand,  Gesch.  d.  n.  Philos.    H.  13 


2^94  Erste  Wirkungen  der  kritischen  Philosophie. 

Während  aber  bei  all  diesen  Männern  der  Angriff  wesentlich 
darin  bestand,  daß  sie  zeigten,  wie  wenig  sich  Kant  an  das  ihnen 
Feststehende  gehalten  hatte,  und  daß  sie  die  Lehren  der  früheren 
Richtungen  gegen  ihn  ins  Feld  führten,  erfuhr  der  Kritizismus 
verständnisvollere  und  tiefere  Einwürfe  von  selten  der  Gefühls- 
und  Glaubensphilosophie.  Hamann  zwar  veröffentlichte  aus 
persönlichen  Gründen  weder  seine  » Rezension  <<  (1781  geschrieben 
und  erst  1801  in  Reinholds  »Beiträgen«  gedruckt)  noch  die  »Meta- 
kritik über  den  Purismum  der  Vernunft«  (1784):  aber  er  hatte 
darin  vor  allem  den  Gedanken  ausgesprochen,  daß  die  Kritik  der 
reinen  Vernunft  an  der  Trennung  von  Sinnlichkeit  und  Verstand 
leide;  daß  diese  beiden  Stämme  der  menschlichen  Erkenntnis  ver- 
dorren müßten,  wenn  man  sie  von  ihrer  »gemeinsamen  Wurzel« 
ablöse.  Er  hatte  hier  wie  sonst  darauf  hingewiesen,  daß  in  der 
Sprache  diese  konkrete  Einheit  zutage  trete,  und  daß  es  falsch 
sei,  sie  in  der  Abstraktion  auseinanderzureißen.  Jener  Gedanke, 
daß  die  »Vermögen«,  die  Kant  analysierte,  auf  ihre  Grimdeinheit 
zurückgeführt  werden  müßten,  hat  in  der  Tat  später  die  auf  Kant 
folgende  Entwicklung  nach  mehr  als  einer  Richtung  beherrscht, 
aber  freilich  in  ganz  anderer  Weise,  als  es  Hamann  dachte. 

Schwieg  Hamann,  so  sprach  Herder  um  so  lauter  imd  um  so 
gereizter.  Ihn  hatte  die  Rezension,  welche  Kant  im  ersten  Hefte 
der  »allgemeinen  Literaturzeitung«  von  seinen  »Ideen«  gab,  er- 
bittert. Er  fühlte,  abgesehen  von  allen  persönlichen  Beziehungen, 
daß  sein  Prinzip  der  Geschichtsphilosophie  dem  Kantischen  gegen- 
über berechtigt  sei.  Aber  wie  es  zu  gehen  pflegt,  sahen  die  beiden 
Standpunkte,  die  sich  zu  ergänzen  berufen  waren,  zunächst  nur 
ihren  Gegensatz.  Herder  hatte  für  die  Auffassung  der  Geschichte 
den  Gesichtspunkt  der  natürhchen  Entwicklung  geltend  gemacht: 
Kant  betonte,  daß  die  Beurteilung  der  Fortschritte  der  historischen 
Entwicklung  nur  unter  Voraussetzung  ihres  Ziels  und  Plans  möglich 
sei.  Aber  der  tiefere  Gegensatz  lag  allerdings  vor,  daß  der  Leib- 
nizianer  Herder  die  Kluft  zwischerf  Natur"*  und  ^tthcher  Willens- 
tätigkeit", die  Kant  statuierte  und  auch  auf  die  Geschichtsphilo- 
sophie anwendete,  nicht  annehmen  konnte.  Sein  in  der  Geschichts- 
philosophie entwickeltes  Prinzip,  die  menschliche  Kultur  und  die 
in  ihr  sich  stufenweise  vervollkommnende  »Humanität«  als  das 
gesetzmäßig  entwickelte  Schlußergebnis  des  Naturlebens  verstehen 


llaiuaiin,  llonler,  Jacobi.  19:") 

zu  wollen,  stand  mit  den  Grundlehrou  Kants  in  i-Äiwin  für  ihn 
nicht  lösbaren  Widerspruche.  So  richtete  sich  denn  auch  Herders 
unwürdi<];  gereizte  und  nörüclnde  Schrift  »Verstand  und  Erfahrung, 
eine  Metakritik  zur  Kritik  der  Feinen  Vernunft«  (1799)  auf  die 
Ausführunii  des  Haniannschen  dedankens,  daß  alle  die  schroffen 
Gei;ensätze  in  der  Kantischen  Lehre,  Sinnlichkeit  und  Verstand, 
Erfahrung  und  reine  Begriffe,  Inhalt  und  Form  des  Denkens, 
Natur  und  Freiheit,  Neigung  und  Pflicht  —  lauter  Gegensätze, 
die  ja  alle  auf  demselben  Grunde  beruhen  —  falsch  seien,  daß 
die  »Physiologie  der  menschlichen  Erkenntnis«  ihren  allmählichen 
Übergang  ineinander  erkennen  und  ihre  Einheit  zum  Prinzip 
machen  müsse  — -eine  Aufgabe,  die  freilich,  als  die  »Metakritik« 
erschien,  schon  von  ganz  anderen  Männern  und  in  ganz  anderer 
Weise  gelöst  war.  Noch  schwächer  endlich  fiel  Herders  Be- 
streitung der  Kantischen  Ästhetik  in  seiner  »Kalligone«  (1800) 
aus,  obgleich  er  sachlich  auch  hier  mit  seiner  Betonung  der  »Be- 
deutsamkeit« des  Schönen  gegen  den  Formalismus,  der  in  der 
Kantischen  Lehre  lag  und  besonders  in  ihrem  Wortlaut  zunächst 
aufgefaßt  wurde,  nicht  so  ganz  im  Unrecht  sein  mochte. 

Bestimmter  und  einschneidender  waren  die  Einwürfe,  welche  /l  / 
Jacobi  gegen  die  Kantische  Erkenntnistheorie  in  seiner  Schrift  lA^^ 
»David  Hume  über  den  Glauben  oder  Idealismus  und  Realismus </ 
(1787)  machte  und  später  in  der  Abhandlung  »über  das  Unter- 
nehmen des  Kritizismus,  die  Vernunft  zu  Verstände  zu  bringen« 
(1801)  und  in  der  »Einleitung  in  seine  sämtlichen  philosophischen 
Schriften«  (1815)  über  den  gesamten  nachkantischen  Idealismus 
ausdehnte.  Er  sah  diese  Entwicklung  teilweise  prophetisch  voraus. 
Die  Tiefe  seines  Einblicks  in  den  Antagonismus  der  Kantischen 
Gedankengänge  beweist  am  besten  die  Energie,  womit  er  seine 
Kritik  auf  die  Achillesferse  der  kritischen  Erkenntnistheorie 
richtete:  auf  den  Begriff  des  "Dinges  an  sich?  Er  zeigte  zuerst, 
daß  Kant  in  der  Begriffsbestimmung  der  Sinnlichkeit  von  der 
naiven  Voraussetzung  der  Dinge  an  sich  ausgeht,  und  daß  die 
spätere  Untersuchung  nicht  nur  diese  Voraussetzung  in  Frage 
stellt,  sondern  eben  damit  den  Begriff  der  Sinnlichkeit  wieder 
aufhebt.  Die  Sinnlichkeit  ist  das  »Vermögen  affiziert  zu  werden«, 
und  zwar  soll  sie  durch  ^Dinge  an  sich"'  affiziert  werden;  aber 
»affiziert  werden«  ist  jedenfalls  ein  kausales  Verhältnis,   und  die 

18* 


][96  Erste  Wirkungen  der  kritischen  Philosophie. 

transzendentale  Analytik  verbietet,  das  Ding  an  sict  in  irgend  welche 
kategoriale,  also  auch  in  kausale  Relation  zu  setzen.  Die  Kritik 
der  reinen  Vernunft  lehrt,  daß  unsere  ganze  Vorstellungswelt  ohne 
Beziehung  zu  den  Dingen  an  sich  betrachtet  werden  muß,  während 
sie  anfänglich  allen  Inhalt  unseres  Vorstellens  aus  einer  Einwirkung 
eben  dieser  Dinge  ableitet.  Man  kann  ohne  die  Voraussetzung  des 
Realismus  in  Kants  Lehre  nicht  hineinkommen  und  mit  derselben 
nicht  darin  bleiben.  Der  transzendentale  Idealist  wird  daher  den 
Mut  haben  müssen,  den  stärksten  Idealismus  zu  behaupten,  der 
je  behauptet  worden  ist:  er  wird  den  Begriff  des  Dinges  an  sich 
aufheben  müssen.  Das  war  die  Antezipation  der  Fichteschen  Lehre. 
Aber  wenn  das  geschieht,  so  ist  die  ganze  Vorstellungswelt  zu 
einem  sinnlosen  Traume  geworden.  In  einem  zwiefachen  Hexen- 
raume,  Raum  und  Zeit  genannt,  spuken  Erscheinungen,  in  denen 
nichts  erscheint.  Kant  redet  von  Erscheinungen  und  behauptet, 
daß  in  ihnen  nichts  von  dem  wahrhaft  Wirklichen  und  wirkUch 
Wahren  erscheint.  Die  Seele  stellt  vor,  aber  nicht  sich  selbst 
noch  andere  Dinge,  sondern  was  weder  sie  selbst  noch  andere 
Dinge  sind.  Kants  Vernunft  nimmt  nur  sich  selbst  wahr,  wie 
ein  Auge,  das  nur  sich  sehen,  wie  ein  Ohr,  das  nur  sich  hören 
wollte.  Das  Erkenntnisvermögen  schwebt  zwischen  einem  pro- 
blematischen X  des  Subjekts  und  einem  gleich  problematischen  X 
des  Objekts:  die  Sinnlichkeit  hat  nichts  vor  sich,  und  der  Verstand 
hat  nichts  hinter  sich.  So  ist  Jacobi  unermüdlich,  die  Wider- 
sprüche dieser  »positiven  Unwissenheit«  in  geistreichen  Antithesen 
auszudrücken. 

Während  aber  diese  Einwürfe  der  zukünftigen  Entwicklung 
unverloren  blieben,  hielten  sie  zunächst  den  Siegeszug  der  Kan- 
tischen Philosophie  nicht  auf.  Einmal  durchgedrungen,  ergriff 
diese  unwiderstehlich  die  junge  Generation,  und  im  letzten  Jahr- 
zehnt des  XVIII.  Jahrhunderts  eroberte  sie  nach  und  nach  fast  alle 
deutschen  Katheder,  so  daß  sie  auf  jeder  Universität  eine  lebendige 
Vertretung  fand.  Die  Männer  dieser  Kantischen  Schule,  deren 
Namen  in  den  Handbüchern  aufbewahrt  sind,  waren  nun  freilich 
zum  größten  Teile  auch  nicht  fähig,  dem  Meister  bis  in  die  innerste 
Tiefe  seiner  Gedanken  zu  folgen,  und  sie  bewiesen  dies  sehr  bald 
dadurch,  daß,  als  Reinhold  die  Kantische  Lehre  in  eine  gröbere 
und  populärere  Form  brachte,  sie  in  hellen  Haufen  zu  ihm  über- 


Kuiitiauor.  197 

^ini>iMi.  Xhvr  schon  dincl»  ilnc  lit'hitilti;^lvoit  sickerten  doch  all- 
iniihlieh  die  Prinzij)ien  der  niMien  I*hih)sophie  in  das  allgemeine 
Bewußtsein  durch,  und  nicht  ndnder  wirkte  dafür  die  >;Kärrner- 
arheit<<  ihrer  teilweise  nehr  zahh-^'ichen  Schriften,  in  denen  sie 
Kant  umschrieben,  erläuterten  und  verteidi;;ton,  sowie  d^e  Zeit- 
schriften, die  sie  für  denselben  Zweck  im  Ge^^ensatze  zu  den  anti- 
kantisehen  gründeten,  z.  B.  das>>Neue  })hilosophische  Magazin 
zur  Erläuterung  des  Kantischen  Systems«,  welches  Abicht 
und  Born,  der  Übersetzer  der  Kritik  ins  Lateinische,  1789 — 1791 
herausgaben,  otler  die  von  dem  Hallenser  Jacob  redigierten 
»Annalen  der  Philosophie  und  des  philosophischen 
Geistes«  (1795 — 97).  Auf  diese  Weise  strömten  Kants  Lehren 
auch  in  die  besonderen  Wissenschaften  ein.  Ani  wenigsten  wurde 
davon  um  diese  Zeit  verhältnismäßig  die  Naturforschung  berührt; 
denn  alle  Regungen,  die  sich  namentlich  in  betreff  der  dyna- 
mischen Naturauffassung  zeigten,  wm'den  sehr  schnell  von  Schellings 
Naturphilosophie  (vgl.  §  64)  aufgenommen.  Wichtiger  wurden 
Kants  Lehren  für  die  Jurisprudenz  und  die  historische  Gesanit- 
auffassung.  Nach  Hufeland  und  Rehberg  sind  hier  Schmalz, 
Pölitz,  Zachariae,  besonders  aber  der  bekannte  Kriminalist 
und  Strafrechtstheoretiker  Anselm  v.  Feuerbach  zu  nennen:  sie 
führten  die  Gedanken  der  Kantischen  Rechtsphilosophie  in  die 
Behandlung  der  juristischen  Probleme  ein.  In  der  Geschichts- 
wissenschaft dürfen  K.  v.  Rotteck  und  im  weiteren  Sinne  auch 
Schlosser,  der  berühmte  Historiker  des  XVIII.  Jahrhunderts, 
als  Kants  Schüler  gelten.  Am  tiefsten  empfand  den  Einfluß  der 
kritischen  Philosophie  die  protestantische  Theologie.  An- 
fangs freilich  wurde  Kants  ReHgionsphilosophie  sowohl  von  dem 
orthodoxen  Supranatm:alismus  als  auch  von  dem  aufklärerischen 
Rationahsmus  lebhaft  genug  bekämpft:  jenem  mißfiel  seine  mo- 
ralische Deutung,  diesem  seine  spekulative  Anerkennung  der  posi- 
tiven Lehren  des  Christentums.  Neue  Gedanken  brachten  aber 
beide  in  ihren  Dogmatismus  eingesponnenen  Teile  nicht  hervor, 
und  je  mehr  die  philosophische  Büdung,  welche  die  Theologen 
auf  den  Universitäten  erhielten,  unter  den  Einfluß  Kants  trat, 
imi  so  größer  wurde  die  Ausdehnung,  worin  bald  jene  beiden  Gegner 
die  Waffen  ihres  fortdauernden  Streites  aus  der  kritischen  Rüst- 
kammer   holten.     Kants   Zwischenstellung    erlaubte   ähnlich   wie 


198  Erste  Wirkungen  der  kritischen  Philosophie. 

einst  die  Doppellehre  Wolffs,  daß  innerhalb  des  Eahmens  seiner 
philosophischen    Grundlehren    alle    theologischen    Parteien    Platz 
fanden.     Männer   wie   Süskind,   Ammon,    Tieftrunk   konnten 
leicht  die  negativen  Resultate  der  Vernunftlcritik  mit  einer  Offen- 
barungslehre verknüpfen  und   gaben   dem  »moralischen  Beweise« 
eine   immer   mehr   dogmatische,   damit   freilich   von  Kants  Geist 
entschieden    abführende     Form.      Rationalisten    anderseits,    wie 
Röhr,  Gesenius,   Paulus  u.  a.  brauchten  nur  die  »Vernünftig- 
keit«, die  Kant  überall  für  den  Glauben  in  Anspruch  nahm,  und 
seinen   Gegensatz   gegen   das  »Statutarische«   der   positiven  Reli- 
gionen schärfer   hervorzuheben,   um  zu  ihrer   theoretischen  Über- 
zeugung und  ihrem  negativen  Verhalten   gegen  die  Dogmen  eine 
neue,    scheinbar    tiefere    philosophische    Begründung    zu    finden. 
Langsamer  und  der  Natur  der  Sache  nach  auch  weniger  nachhaltig 
war   der  Einfluß  Kants   auf   die   katholische  Theologie,   von 
der   seine  Lehre   teils   ignoriert,   teils  a   limine  abgelehnt  wurde. 
Und   wenn   später   Hermes   (1775 — 1831)   den   Versuch   machte, 
mit  eingehender  Benutzung  der  Kantischen  Erkenntnistheorie  und 
namentlich  der  Lehre  von  den  praktischen  Postulaten  den  rationalen 
Teil  der  katholischen  Theologie  zu  reformieren,  zu  welchem  Zwecke 
er   den  ersten  Band  seiner  »Einleitung   in   die   christkatholische 
Theologie«  (1819)  schrieb,  so  bildete  er  damit  zwar  zunächst  eine 
stattliche   Schule;    allein  einerseits   war   doch   seine   Umformung 
und  Abänderung  der  Kantischen  Lehren  nicht  bedeutend  genng, 
als   daß   sich  eine  nennenswerte   philosophische  Bewegung   daran 
angeschlossen  hätte,    anderseits   genügte  bald  nach   seinem  Tode 
die  gegen  seine  Lehre  von  der  kirchlichen  Macht  ausgesprochene 
Zensur,  um  diesen  Versuch  auch  innerhalb  seines  Gebietes  keine 
größere  Ausdehnung  gewinnen  zu  lassen. 

Drang  so  der  Kritizismus  wenigstens  teilweise  in  die  besonderen 
Wissenschaften  ein,  so  konnte  es  inzwischen  nicht  ausbleiben,  daß 
er  sich  auch  auf  dem  philosophischen  Gebiete  mehr  oder  minder 
glücklich  mit  den  älteren  bestehenden  Lehrmeinungen  vermischte. 
Die  Anhänger  Kants  kamen  ja  meistens  von  irgend  einem  der 
früheren  Systeme  her  und  suchten  von  diesem  so  viel  wie  mög- 
lich mit  der  neuen  Überzeugung  zusammen  festzuhalten.  Deshalb 
ist  die  Grenzscheide  zwischen  den  Kantianern  und  den  sogenannten 
Halbkantianern    so   flüssig   und   schwer   zu  bestimmen.     Aber 


lU'iuhüld.  WJ 

auch  die  letzt crcn  hahon  rs  zu  koinerlci  bedoiitciKlcien  oder  fruchfc- 
barorcn  LoiiStuiigon  gebracht-  und  sind  Hchbeßlich  alle  durch  die 
große  Bewegung  fortgeschwemmt  worden,  iu  welcher  «ich  die 
kritisclie  Philosopliie  den  gesamten  allgemeinen  Bildungsstoff  der 
Nation  assimilierte.  Die  Träger  dieser  Bewegung  aber  sehen  wir 
in  der  Reihe  der  IMännei-,  die  in  Jena  die  Kantische  Lehre  fort- 
bildeten. An  ihrer  Spitze  steht  derselbe  Mann,  der  auch  weit 
über  den  akademischen  Wirkungskreis  liinaus  die  meisten  Schüler 
für  das  neue  System  gesammelt  hatte. 

Karl  Leonhard  Reinhold,  1758  in  Wien  geboren  und  in 
einem  Jesnitenkloster  erzogen,  trat  nach  dei-  Aufhebung  des  Ordens 
unter  Clemens  XIV.  in  das  BarnabitenkoUegium  ein,  wo  er  bald 
seiner  hervorragenden  Begabung  nach  zum  Lehrer  der  Philosophie 
gemacht  wurde.  Aber  er  atmete  zu  sehr  die  Luft  des  Josephi- 
nischen  Zeitalters  ein,  als  daß  er  in  dieser  Stellung  lange  hätte 
bleiben  können,  und  entfloh  1783,  um  bei  Wieland,  an  den  er 
empfohlen  war,  eine  Zuflucht  zu  finden.  Er  wurde  später  dessen 
Schwiegersohn  und  dankte  es  seiner  Vermittlung,  daß,  nachdem 
er  die  erwähnten  »Briefe  über  die  Kantische  Philosophie«  heraus- 
gegeben hatte,  er  in  Jena  Professor  wurde.  Hier  eröffnete  er  die 
Reihe  jener  glänzenden  Lehrer,  welche  auf  dem  Katheder  für  die 
Kantische  Lehre  und  ihre  Weiterentwicklung  eintraten.  1794  ging 
er  von  dort  nach  Kiel,  wo  er  bis  zu  seinem  Tode  1823  in  wissen- 
schaftlicher Hinsicht  allmählich  verkümmert  ist.  Reinhold  war 
kein  schöpferischer  Philosoph:  er  war  eine  Natur  von  großer 
Empfänglichkeit,  aber  auch  von  ebenso  großer  Unselbständigkeit, 
Er  hat  nacheinander  die  Standpunkte  von  Kant,  Fichte,  Schelling 
imd  Jacobi  geteilt,  er  hat  schießlich  sein  Heil  in  Bardili  und 
sogar  in  den  etymologischen  Spielereien  seines  Freundes  Thorild 
gefimden.  Seine  Bedeutung  beruht  nur  auf  den  Jahren  seiner 
Jenenser  Wirksamkeit:  aber  sie  beschränkt  sich  nicht  auf  die 
mächtige  Anregmig,  die  seine  glänzende  Redegabe  für  die  An- 
erkennung der  kritischen  Philosophie  gegeben  hat,  sondern  erstreckt 
sich  auch  auf  einen  Versuch  der  Neubegründung  der  Kantischen 
Lehre,  welcher  zwar  ihrem  tiefsten  Sinn  in  keiner  Weise  gerecht 
wurde,  aber  durch  seine  scharfe  Formulierung  in  negativer  und 
in  positiver  Richtung  die  nächste  Veranlassung  zu  ihrer  Weiter- 
entwicklung gegeben  hat. 


200  Erste  Wirkungen  der  kritischen  Philosophie. 

Es  ist  merkwürdig,  daß  Reinhold  zwar  persönlich,  wie  es  gerade 
die  »Briefe«  bestätigen,  von  der  sittlich -religiösen  Seite  her  für 
die  Kantische  Lehre  gewonnen  worden  war,  daß  er  aber  von  dem 
wahren  Zusammenhange,  worin  die  kritische  Moral  mit  der  kri- 
tischen Erkenntnistheorie  steht,  so  gut  wie  gar  keine  Vorstellung 
gehabt  hat.  Er  glaubte  vielmehr,  die  Grundlehren  von  Kants 
Philosophie  auf  eine  rein  theoretische  Weise  entwickeln  zu  können, 
und  brachte  gerade  dadurch  die  Lehre  vom  Ding  an  sich  in  eine 
so  verfehlte  und  so  widerspruchsvolle  Position,  daß  sie  zum  Haupt- 
angriffspunkte der  Gegner  und  zum  Hauptprobleme  der  Anhänger 
der  Kantischen  Lehre  gemacht  wurde.  Es  war  offenbar  seine 
genauere  Vertrautheit  mit  der  früheren  Philosophie,  welche  ihn, 
ohne  daß  er  die  Tragweite  davon  ahnte,  zu  dem  theoretischen 
Rationalismus  zurückführte  und  ihn  an  den  ganzen  Umfang  der 
Kantischen  Kritik  eine  neue  und  sehr  folgereiche  Forderung  heran- 
bringen ließ.  Kant  hat  die  verschiedenen  Funktionen  der  mensch- 
lichen Vernunft  untersucht,  von  jeder  die  Bedingungen  festgestellt, 
jeder  die  Grenze  ihrer  Anwendung  zugewiesen.  Warum  haben 
alle  diese  nach  Reinhold  unwiderleglichen  Untersuchungen  nicht 
die  allgemeine  Anerkennung  gefunden,  warum  nicht  das  Bedürfnis 
erfüllt,  daß  endlich  einmal  die  Philosophie  aus  der  Mannigfaltigkeit 
persönHcher  Meinungen  auf  den  Boden  einer  gemeinsamen  wissen- 
schaftlichen Arbeit  geführt  wurde,  daß  aus  den  vielen  Philosophien 
die  Philosophie,  die  Philosophie  ohne  Beinamen  wurde?  Der 
Grund  ist  der,  daß  es  der  Kantischen  Philosophie  an  der  aus- 
drücklichen Aufstellung  des  zentralen  Satzes  mangelt,  der  allen 
ihren  besonderen  Untersuchungen  als  letzter  und  höchster  zu- 
grunde liegt.  Reinhold  ist  überzeugt,  daß  es  einen  solchen  gibt, 
daß  Kant  es  nur  unterlassen  hat,  ihn  wissenschaftlich  zu  formu- 
lieren, und  daß  es  die  Aufgabe  einer  Fundamentalphilosophie, 
Philosophia  prima  oder  einer  Elementarphilosophie  sei,  diesen 
Satz  über  allen  Zweifel  zu  erheben  und  zu  zeigen,  wie  sich  aus 
ihm  alle  Lehren  der  kritischen  Philosophie  mit  Notwendigkeit  er- 
geben. Es  ist  Descartes'  Forderung  eines  Universalprinzips  für 
alles  philosophische  Wissen,  welche  Reinhold  für  die  deutsche 
Philosophie  erneuert.  Es  gilt,  das  was  Kant  mit  seiner  induk- 
tiven Analyse  von  der  Peripherie  aus  gefunden  hat,  aus  dem 
Zentrum  her  zu  deduzieren.     Das  ist  nur  möglich,  wenn  es  eine 


Roinholtla  Kloincntari)hilo80phie.  201 

ztMitrale  Funktion  aller  Verniinfttätij^keit  ^ibt,  deifii  wesentliche 
JVk'rkmalo  .sich  in  allen  besonderen  Funktionen  wiederfinden  miiü.sen. 
liuleni  Reiidiold  als  diese  die  Vürst<.'llungstiitigkeit  bezeichnet, 
merkt  er  nicht,  daß  er  Kants  Prinuit  der  praktischen  über  die 
theoretische  Vernui\l't  damit  aufgibt  und  zu  dem  psychülo;^if":chen 
Prinzip  des  dogmatischen  llationalismus  zurückkchit.  Seine  beiden 
bedeutendsten  Schriften  sind  der  »Versuch  einer  neaen  Theorie 
des  monschlichtui  Vorstellungsvermögens«  (1789)  und  »das  Fun- 
dament des  philosophischen  Wissens«  (1791);  auch  die  »Beiträge 
zurBeiichtiuuug  bisheriger  Mißverständnisse  der  Philosophie«  (1790) 
bringen  wichtige  Ergänzungen  dazu.  In  der  Hauptsache  lehrt 
Keinhold,  daß  der  verlangte  Fundamentalsatz  seinem  Begriffe 
nach  nicht  beweisbar,  sondern  unmittelbar  evident  sein  müsse:  des- 
halb könne  er  nur  ein  »Faktum«,  aber  ein  allgemeines  und  not- 
wendiges Faktum,  das  absolute  Faktum  aller  Vernunfttätigkeit 
enthalten,  während  er  eben  dadurch  vollständig  in  sich  selbst  be- 
stimmt sei.  Dieses  »Faktum«  sei  das  Bewußtsein  als  das  »Ver- 
mögen« aller  Vorstellungstätigkeit  überhaupt.  Nuii  enthalte  jede 
Vorstellung  das  BewußtseinAron  einem  Subjekt,  das  sie  ausführe, 
und^-on  einem  Objekt,  worauf  sie  sich  beziehe,  und  von  beiden 
werdej^die  Vorstellungstätigkeit  als  solche  imterschieden.  Der  Fun- 
damentalsatz, durch  den  alle  Lehren  der  kritischen  Philosophie 
bedingt  seien,  laute  daher:  Im  Bewußtsein  wird  die  Vorstellung 
durch  das  Subjekt  vom  Subjekt  und  Objekt  unterschieden  und 
auf  beide  bezogen.  Reinhold  berührt  hier  wirklich  die  letzte  Tat- 
sache aller  psychologischen  Analyse  des  Vorstellungsprozesses, 
jene  geheimnisvolle  Verschmelzung  des  Vorstellungsinhaltes  mit  der 
Position  des  Seins.  Aber  er  benutzt  diese  Analyse  nur,  um  dar- 
aus gerade  die  Ansicht  des  naiven  Realismus  von  einer  zwischen 
Subjekt  und  Objekt  schwebenden  Vorstellungstätigkeit  als  tatsäch- 
liche imd  in  sich  selbst  evidente  Wahrheit  abzuleiten,  —  gerade 
das  also,  worin  die  theoretische  Kritik  Kants  das  Problem  aller 
Probleme  gesehen  hat. 

Von  diesem  Satze  her  ist  es  dann  natürlich  leicht,  den  Kan- 
tischen Gegensatz  von  Form  und  Inhalt  des  Denkens  zu  be- 
gründen. Muß  in  der  Vorstellung  etwas  sein,  was  sich  auf  das 
Subjekt,  und  etwas,  was  sich  auf  das  Objekt  bezieht,  so  ist  klar, 
daß    der    Inhalt    von    den    Objekten,    die    Form    vom    Subjekt 


202  Erste  Wirkungen  der  kritischen  Philosophie. 

herstammt.    Dabei  ist  natürlich  der  Stoff  das  Gegebene,  die  Form 
das  aus  dem  Wesen  des  Geistes  her  Produzierte.     Der  Kantische 
Gegensatz  von  SinnHchkeit  und  Verstand  in  Beziehung  auf  den- 
jenigen von  Kezeptivität  und  Spontaneität  erscheint   danach  als 
das  Selbstverständlichste  von  der  Welt.     Um  unsere  Vorstellungen 
zu  erklären,  müssen  wir  annehmen,   daß  ihr  gjgf|  aus  der  Affi- 
zierung  unserer  Sinnlichkeit  durch  die  Dinge  entspringt,  und  daß 
wir  von  uns   aus  die  Form  hinzutun.     Aber  die  Wirkungen  der 
Dinge  auf  uns  sind  nicht  die  Dinge  selbst;   die  »Dinge  an  sich« 
lassen  sich  also  denken,  müssen  gedacht  werden,  sind  aber  selbst 
nicht  zu  erkennen.     Es  ist  klar,   daß  Keinhold   damit   aus  dem 
Kantischen  in  den  Lockeschen  Phänomenalismus  dem  Prinzip  nach 
zurückfällt,  wenn  er  auch  hinsichtUch  der  Lehren  von  Raum  und 
Zeit   (oder  der   primären  Qualitäten)  durchaus  auf  seilen  Kants 
steht.     Es  ist   deshalb  unnötig,   zu  verfolgen,   wie  Reinhold  aus 
dem  so  aufgestellten  Prinzip  die  einzelnen  Teile  der  Kantischen 
Lehre  systematisch  abzuleiten  versuchte.    Er  zeigt  seine  Verwandt- 
schaft mit  der  vorkantischen  Philosophie  auch  darin,  daß  er  auf 
diese  theoretischen  Bestimmungen  weiterhin  die  praktischen  gründete 
und  den  Kantischen  Gegensatz  von  sinnlichen  und  Vernunfttrieben 
als    denjenigen   von  »Stoff trieb«    und    »Formtrieb«    bezeichnete, 
woraus  sich  sovfohl  die  Autonomie  der  ihr  eigenes  Formgesetz  be- 
folgenden Vernunft  als  auch  die  Heteronomie  jedes  auf  einen  sinn- 
lichen Gegenstand  gerichteten  Wollens  ergab.    Kants  Lehre  war 
unter  den  Händen  Reinholds  scheinbar  einfacher  und  durchsichtiger 
geworden.     Aber  sie  hatte  dabei  mit  ihren  Schwierigkeiten  einen 
großen  Teil  ihrer  Tiefe  verloren.     Reinhold  war  der  praktischen 
Überzeugung  Kants  allerdings  darin  gefolgt,   daß  er  den  darauf 
begründeten  Dualismus  in  schroffster  Form  auch  zum  Prinzip  der 
theoretischen  Philosophie  machte.     Aber  er  meinte  diesen  theo- 
retischen Dualismus  auch   durch   theoretische  Gründe  stützen  zu 
können  und  knüpfte  infolgedessen  den  Kantischen  Phänomenalis- 
mus an  die  Weltanschauung  des  naiven  Realismus  an.     So  machte 
er  die  Kantische  Lehre  genau  zu  dem  Ungetüm,  als  welches  Ja- 
cobi  den  kritischen  Idealismus  geschildert  hatte.    Bei  ihm  schwebte 
in  der  Tat  die  Erscheinungswelt  auf  unerklärliche  Weise  zwischen 
einem  unerkennbaren  X  von  Ding  an  sich  und  einem  ebenso  un- 
erkennbaren X  von  Subjekt. 


Acru'BidcTnus  -  Schulze.  2()'i 

In  dieser  Forniiilieruii<,^   der  kritiHchcii  Philosophie  waren    die 
( Gegensätze  der  verschiedenen  Kantisrlien  Gedankengänge  und  da- 
mit die  Widersprüclie,  welche  die  Kritik  der  reinen  Vernunft  ent- 
hält, wenn  man  sie  als  ein  für  sich^  bestehendes  Ganzes  betrachtet, 
gewissermaßen   handgreiflicher  geworden,   \md   gegen   sie  richtete 
sich  deshalb  auch  der  Hauptangriff  von  seiten  des  Skeptizismus. 
Während  andere  Skeptiker,  wie  Tiedemannes  schon  1784  in  den 
»Hessischen    Beiträgen   zur   Gelehrsamkeit«   aussprach,    die   Ver- 
nichtung der  rationalistischen  Metaphysik  mit  Freuden  begrüßten, 
aber  hinsichtlicli   der  a])riorischen  Vernunfterkenntnis  Kant  vor- 
warfen, nicht  skeptisch  genug  verfahren  zu  sein,   gab  Gott  lieb 
Ernst  S_chulze  (1761—1833,   erst  Dozent  in  Wittenberg,   dann  J^^ 
Professor  in  Helmstädt,  seit  1810  in  Göttingen)  in  seinem  »Aene- 
sidemus«  (anonym  1792)  eine  vernichtende  Kritik  der  Reinhold- 
schen  Elementarphilosophie.     Er  hat  den  glänzenden  Scharfsinn, 
der  diese  einflußreiche  Schrift  auszeichnet,  später  noch  einmal  in 
seiner    allgemeineren     »Kritik    der     theoretischen     Philosophie« 
(2  Bände,   Hamburg   1801)    betätigt,   in  der  Folgezeit   aber  sich 
mehr  der  Jacobischen  Lehre  und  der  empirischen  Psychologie  an- 
geschlossen.   Sein  Hauptwerk  sucht  zu  zeigen,  daß  auch  die  kri- 
tische Philosophie,  die  gegen  den  Eationalismus  so  vornehm  tue, 
mit  einer  Reihe  von  dogmatischen  Voraussetzungen  weiter  operiere, 
ohne  auf  die  unwiderlegten  Einwürfe  der  Skeptiker,  insbesondere 
Humes,  Rücksicht  zu  nehmen.     Der  »Satz  des  Bewußtseins«  sta- 
tuiere  für   die  Möglichkeit   der  Vorstellungen   die  vermeintlichen 
Bedingungen  nach  dem  Grundsatze,  daß,  was  nicht  anders  gedacht 
werden  kann,  auch  so  sei,  wie  es  gedacht  werden  muß.    Reinholds 
Theorie  des  Vorstellungsvermögens  setze  für  alle  Vorstellungstätig- 
keiten ein  gemeinsames  Vorstellungsvermögen  voraus.     Aber  dies 
könne  sie  nur  dadurch  erschließen  und  seine  Existenz  nur  darauf 
begründen,   daß  sie  für   die  gleichartigen  Vorstellungsfunktionen 
den  Begriff  einer  sie  alle  erzeugenden  Kraft  hypostasiere,  welche 
wieder  nicht  anders  zu  definieren  sei,  als  durch  die  aus  ihr  her- 
vorgehenden  Wirkungen    selbst.     Das  ^ Vorstellungsvermögen    ist 
selbst   keine  Tatsache.    Die  Lehre   davon   schließt   also  über  die 
Erfahrung   hinaus   mit  dem  Begriffe  der  Kausalität.     Allein   ein 
solcher  Schluß  ist  wertlos,  selbst  wenn  er  berechtigt  wäre:  denn 
es  ist  keine  Vermehrung  und  Erweiterung   der  Erkenntnis  und 


204  Erste  Wirkungen  der  kritischen  Philosophie. 

Einsicht,  sondern  lediglich  ein  formales  Postulat,  wenn  man  als 
Ursache  einer  Anzahl  einander  ähnlicher  Tätigkeiten  eine  Ejraft 
ansetzt,  die  man  selbst  wieder  nur  durch  eben  diese  Tätigkeiten 
bzw.  ihre  Gattungsmerkmale  bestimmen  kann.  Das  ist  nur  eine 
Übersetzung  des  Assertorischen  in  das  Problematische.  Insbesondere 
gilt  dies  —  und  hierin  liegt  eine  wertvolle,  später  von  Herbart 
prinzipiell  ausgeführte  Einsicht  Schulzes  —  für  alle  die  »Ver-^ 
mögen«,  mit  denen  die  empirische  Psychologie  jener  Tage  die 
Seele  ausstattete:  sie  alle  sind  nur  Gattungsbegriffe,  die  durch 
das  leere  Anhängsel  des  Ej:aftmerkmals  metaphysischen  Wert  er- 
halten sollen. 

Diese  Widerlegung  trifft  nun  aber  auch  die  Kritik  der  reinen 
Vernunft.  Auch  diese  will  ja  nur  die  Bedingungen  der  Erfahrung 
imtersuchen  und  findet  sie  nach  der  Auffassung  des  >>Aenesidemus« 
nicht  innerhalb,  sondern  außerhalb  der  Erfahrung.  Auch  sie 
lehrt  wie  Reinhold,  daß  die  Bedingung  für  die  sinnlichen  Emp- 
findungen in  der  /Einwirkung  der  iDinge  an  siclT  liege.  Auch  sie 
statuiert  in  den  reinen  Formen  der  Yernunfttätigkeit  allgemeine 
»Vermögen«,  welche  der  Erfahrung  zugnmde  liegen  sollen.  Die 
Vernunft  ist  in  Kants  Kritik  selbst  ein  Ding  an  sich,  und  doch 
will  die  Kritik  gerade  von  diesem  Ding  an  sich  die  allergenaueste 
Kenntnis  haben.  Die  Kritik  der  reinen  Vernunft  behauptet,  daß 
nicht  nur  die  Vernunft  vermögen,  sondern  auch  die  Dinge  an  sich 
als  Bedingungen,  d.  h.  doch  wohl  als  Ursachen,  und  zwar  außer- 
halb der  Erfahrung  liegende  Ursachen  der  Erfahrung  angenommen 
werden  müssen,  und  sie  tut  das  in  einem  Atem  mit  ihrem  Haupt- 
satze, daß  man  mit  den  Kategorien,  also  auch  derjenigen  der 
Kausalität,  über  die  Erfahrung  nicht  hinausschließen  dürfe.  Diese 
Einwürfe  waren  zum  Teil  schon  auch  von  den  Wolffianern,  z.  B. 
von  Schwab  in  dem  Eberhardschen  »Magazin«  und  von  Flatt 
in  den  »Tübinger  Anzeigen«,  hinsichtlich  der  Lehre  vom  Ding  an 
sich  und  ihres  Verhältnisses  zu  Kants  Theorie  der  Sinnlichkeit 
gemacht  worden:  bei  Aenesidemus-Schulze  treten  sie  als  eine  ge- 
schlossene und  unwiderstehliche  Phalanx  auf,  und  darin  besteht 
die  auch  von  Fichte  sogleich  erkannte  Bedeutung  dieses  Werkes. 
In  ihm  kommt  der  geheime  Antagonismus  ans  Tageslicht,  der 
zwischen  der  transzendentalen  Ästhetik  imd  der  transzendentalen 
Analytik  besteht,  und  der  sich  historisch  daraus  erklärt,  daß  jene 


Ding  an  sich.  205 

noch  unter  Voranssctzun«;  dos  Standpunktes  der  Inanj^uraldisser- 
tation  entworfen  und  znni  «großen  Teil  auch  auH^'eführt,  diese  da- 
<^egen,  die  Analytik,  diircli  die  kritit^che  jjelire  von  der  Synthcsifl 
bestimmt  ist.  Innerlialb  der  Ktgitisclien  Erkenntnistheorie,  wie 
sie  min  einmal  in  den  verschiedenen  Teilen  der  Kritik  der  reinen 
Vernunft  vorliegt,  ist  es  in  der  Tat  der  schreiendste  aller  Wider- 
sprüche, die  »Ursache«  der  Erfalirung  in^Dingen  an  sich  imd  in 
transzendentalen  ^Vermögen  zu  suchen.  Wenn  die  Kritik  der 
reinen  Vernunft  die  Bedingungen  der  Erfahnmg,  d.  h.  etwas, 
was  der  Möglichkeit  der  Erfahrung  »vorhergeht  <^,  analysieren  und 
erweisen  soll,  so  setzt  sie  sich  eine  Aufgabe,  deren  Lösung  sie 
selbst  für  unmöglich  erklärt.  Und  wenn  darin  kein  Widerspruch 
wäre,  so  bliebe  es  doch  eine  vollständig  nutzlose  Theorie:  denn 
eine  Ableitung  des  Erkennbaren  aus  dem  Unerkennbaren  macht 
das  Erkennbare  in  keiner  Weise  begreiflicher.  Namentlich  aber 
zeige  Kants  und  Reinholds  Behandlung  des  Kausalitätsbegriffs 
und  ihre  widerspruchsvolle  Anwendung  dieser  Kategorie,  daß 
durch  sie  die  Humesche  Skepsis  nicht  im  mindesten  überwunde^^^^ 
sei,  sondern  noch  immer  in  voller  Energie  bestehe. 

Man  muß  bei  allen  diesen  Bewegungen  noch  besonders  be- 
denken, daß  sie  sich  durchaus  nur  auf  die  Kritik  der  reinen  Ver- 
nunft bezogen,  und  daß  von  keinem  dieser  Männer  der  letzte 
Zusammenhang  der  Kantischen  Kritiken  auch  nm*  annähernd 
verstanden  war.  Eben  deshalb  wurde  der  Begriff  des  ^Dinges 
an  sich^,  welcher  bei  Kant  das  Bindeglied  zwischen  der  theore- 
tischen Philosophie  und  der  praktischen  enthält,  hier  zunächst 
ledidich  in  seiner  theoretischen  Bedeutung;  und  Be^ründuns  auf- 
gefaßt  und  in  dieser  mit  Kecht  als  unhaltbar  erfunden.  Da- 
durch  aber  ist  es  gekommen,  daß  dieser  Begriff,  der  für  das 
eigentliche  Interesse  von  Kants  Erkenntnistheorie  weit  hinter 
demjenigen  der  apriorischen  Erkenntnis  zurückstand,  bei  der 
Weiterentwicklung  in  den  Vordergrund  trat,  und  daß  man  all- 
gemein die  Absicht  der  Kritik  der  reinen  Vernunft,  die  in  Wahr- 
heit  auf  die  Begründung  einer  apriorischen  Erkenntnis  hinzielte, 
in  ihrer  Lehre  vom  Ding  an  sich  suchte.  Diese  Wendung  konnte 
dadurch  nur  gefördert  werden,  daß  die  gToße  Masse  der  Gegner 
aus  solchen  Schul-  und  Popularphilosophen  bestand,  denen  es  in 
erster  Linie   darum   zu  tun  sein  mußte,   Kants  Widerlegung  der 


206  Erste  Wirkungen  der  kritischen  Philosophie. 

nationalen  Erkenntnis  von  Dingen  an  sich  als  unberechtigt  zurück- 
zuweisen. Indem  diese  Einwürfe  auf  die  Anhänger  der  Kantischen 
Lehre  zurückwirkten,  mußte  unter  diesen  das  Bestreben  entstehen, 
den  Begriff  des  Dinges  an  sich,  der  in  der  Eeinholdschen  Fassung 
gewiß  unhaltbar  war,  von  seinen  offenbaren  Widersprüchen  zu 
befreien.  So  lange  aber,  als  man  dabei  nicht  die  praktische 
Tendenz  der  Kantischen  Lehre  in  ihrer  Beziehung  zu  der  theore- 
tischen aufzufassen  wußte  und  den  Begriff  des  "^Dinges  an  sich 
noch  ebenso  wie  die  Gegner  von  selten  der  rein  theoretischen 
Begründung  nahm,  bedurfte  es,  um  deren  Angriffen  zu  entgehen, 
in  der  Tat  einer  wesentlichen  Umbildung  der  Lehre  vom  Ding 
an  sich.  Infolgedessen  vollzog  sich  die  Weiterentwicklung  der 
kritischen  Philosophie  zimächst  an  der  Zersetzung  des  Be- 
griffes des*l)inges  an  sich.^ 

Den  ersten  Schritt  dazu  tat  Salomon  Maimon.  Ein  pol- 
nischer Jude,  1757  in  Littauen  geboren,  hat  sich  dieser  Mann  mit 
einer  seltenen  Begabung  und  mit  eiserner  Zähigkeit  aus  den 
elenden  Verhältnissen  seiner  Jugend  auf  die  Höhe  der  deutschen 
philosophischen  Bildung  emporgearbeitet.  Als  er  sich  aus  den 
verrotteten  Zuständen  seiner  Heimat,  von  tiefstem  Wissensdurst 
getrieben,  herausriß,  mußte  er  zeitweise  die  letzte  Neige  der  Not 
und  der  Entwürdigung  kosten.  Erst  die  Gunst,  welche  ihm 
Mendelssohn  zuwandte,  gab  ihm  ein  menschenwürdiges  Dasein 
und  ließ  die  Kräfte  seines  Geistes  in  dem  Studium  der  Philosophie 
mit  staunenswerter  Geschwindigkeit  sich  entwickeln.  Aber  wieder 
rissen  ihn  die  Beste  seiner  jugendlichen  Verwahrlosung  in  das 
Elend  eines  vagabundierenden  Lebens  hinein,  und  erst  im  letzten 
Jahrzehnt  seines  1800  endenden  Lebens  verdankte  er  der  Pro- 
tektion eines  Grafen  Kaikreuth  eine  ruhige  Existenz,  worin  er 
nach  dem  Studium  Kants  eine  originelle  Umbildung  der  kritischen 
Erkenntnistheorie  in  seinen  Schriften  ausführen  und  sich  neben 
der  »grenzenlosen  Achtung«  Fichtes  und  Schellings  das  Wort 
Kants  verdienen  konnte,  daß  keiner  seiner  Gegner  ihn  besser  ver- 
standen habe  als  er.  Von  den  darauf  bezüglichen  Schriften  sind 
hervorzuheben:  der  »Versuch  über  die  Transzendentalphilosophie << 
(1790),  »Über  die  Progressen  der  Philosophie«  (1793),  die 
»Kathegorien  des  Aristoteles«  (1791)  und  der  »Versuch  einer 
neuen  Logik  oder  Theorie  des  Denkens«  (1798). 


Maiinon.  207 

Auf  dem  Standpunkte  der  theoretischen  Venuinft,  den  Maimon 
allein  einnimmt,  ist  das  I)in<;  an  sich  der  absolute  Widerspruch. 
Jedes  Merkmal  eines  Begriffes  existiert  als  Vorstellung  im  Bewußt- 
sein, ist  also  vom  Bewußtsein  sdbst  abhängig  und  hat  nur  inner- 
halb desselben  Sinn.  J3ie  Vorstellung  eines  vom  Bewußtsein  un- 
abhängigen, mcrkmallosen  (denn  das  heißt  unerkennbaren)  Dingo 
an  sicK  ist  deshalb  undenkbar  und  völlig  unmöglich.  Das  Din;: 
an  sich  ist  nicht  nur  nicht  zu  erkennen,  es  ist  nicht  einmal  zu 
denken.  Für  die  Kritik  der  Erkenntnis  gibt  es  nur  das  Bewußt- 
sein mit  seinen  Vorstellungen.  Maimon  zuerst  hat  den  Mut,  sich 
zu  jenem  strengsten  Idealismus  zu  bekennen,  den  Jacobi  als  die 
notwendige  Konsequenz  des  transzendentalen  behauptet  hatte. 
Alle  Erkenntnis  ist  deshalb  nur  aus  dem  Bewußtsein  abzuleiten 
und  reicht  nur  so  weit  als  dieses  selbst.  Aber  die  Täuschung, 
das  ^Ding  an  sich  sei  wenigstens  denkbar,  besteht,  und  wie  sie 
entstanden  ist,  begreift  man  am  besten,  wenn  man  verfolgt,  wie 
Reinhold  sie  begründet.  Er  glaubt  zur  Annahme  von  Dingen 
an  sich  genötigt  zu  sein,  um  den,  Stoff  der  Vorstellimgen  ihren 
Formen  gegenüber  zu  erklären.  Darin  ist  das  richtig,  daß  dieser 
Stoff  aus  dem  Bewußtsein  nicht  abgeleitet  werden  kann.  Das 
Bewußtsein  findet  ihn  vielmehr  in  sich  als  ein  nicht  von  ihm 
Produziertes,  als  ein  »Gegebenes«  vor.  Wenn  sich  nun  jedoch 
die  Erklärung  dieses  Gegebenen  aus  einer  Affizierung  durch  Dinge 
an  sich  von  selbst  verbietet,  weil  darin  der  oben  dargelegte  Wider- 
spruch liegt,  so  bleibt  nur  übrig,  dem  Begriffe  des  Stoffes  unserer 
Voirstellungen  eine  andere  Formulierung  zu  geben.  Indem  er 
dieses  versucht,  führt  Maimon  eine  der  wesentlichsten  Lehren  von 
Leibniz  neu  und  fruchtbar  in  die  kritische  Erkenntnistheorie  ein, 
ohne  davor  zurückzuschrecken,  daß  er  damit  der  psychologischen 
Annahme  eines  prinzipiellen  Gegensatzes  von  Sinnlichkeit  und 
Denken,  der  Kant  in  seiner  Entwicklung  so  viel  verdankte,  wieder 
durchaus  entgegentrat.  Wie  Leibniz  machte  er  nämhch  darauf 
aufmerksam,  daß  wir  ein  »vollständiges«  Bewußtsein  nur  von 
demjenigen  haben,  was  das  Bewußtsein  aus  sich  selbst  erzeugt. 
In  jedem  Falle  also,  wo  wir  in  unserm  Bewußtsein  etwas  vor- 
finden, von  dem  wir  nicht  wissen,  wie  es  zustande  gekommen 
ist,  und  das  wir  deshalb  als'^gegeben  oder 'empfangen  zu  bezeichnen 
pflegen,  haben  wir  von  dem  Gegenstande  nur,  ein  unvollständiges 


208  Erste  Wirkungen  der  kritischen  Philosophie. 

Bewußtsein.  Es  sind  die  »petites  perceptions«  von  Leibniz,  welche 
Maimon  für  die  kritische  Lehre  fruchtbar  macht.  Diese  Ver- 
wandtschaft kommt  auch  im  Ausdruck  zutage:  Maimon  nennt 
das  Gegebene  »die  Differentiale  des  Bewußtseins«*).  Kants 
Gegensatz  von  Rezeptivität  und  Spontaneität  ist  nach  Maimon 
in  Wahrheit  derjenige  von  unvollständigem  und  vollständigem 
Bewußtsein.  Dieser  aber  ist  nicht  mehr  prinzipieller,  sondern 
gradueller  Art.  Von  dem  vollständigen  Bewußtsein  her,  welches 
seine  eigenen  reinen  Formgesetze  zum  Inhalt  hat,  bis  zu  dem 
unvollständigen  Bewußtsein  der  bloß  gegebenen  Empfindung  ist 
eine  stetige  Abnahme  der  Vollständigkeit  des  Bewußtseins  in 
unserer  Erfahrung  aufzuweisen.  Und  die  Idee  eines  nur  Gegebenen, 
die  Idee  eines  von  dem  Bewußtsein  gar  nicht  produzierten  Be- 
wußtseinsinhaltes ist  deshalb  nach  Kantischem  Prinzip  nur  der 
Grenzbegriff  für  diese  unendliche  Reihe,  in  der  die  Vollständig- 
keit des  Bewußtseins  abnimmt.  Das  Gegebene  also,  der  Stoff  der 
Vorstellung  ist  dasjenige,  dessen  Genesis  im  Bewußtsein  dem  Be- 
wußtsein selber  unbekannt  ist;  es  ist  das  im  Bewußtsein  selbst 
unbewußt  Produzierte,  und  der  Begriff  des 'Dinges  an  sich  ist 
der  Grenzbegriff  für  das  vollständige  Bewußtsein.  Für  die  Kantisch- 
Reinholdsche  Fassung  ist  er  nicht  ein  unbekanntes  X,  sondern, 
um  in  der  mathematischen  Formel  zu  bleiben,  eine  gänzlich  ima- 

Lanäre  Größe  wie  V —  1 :  für  Maimon  ist  er  der  Grenzbegriff  einer 
unendlichen  Reihe  oder  die  Bestimmung  einer  unlösbaren  Aufgabe, 

eine  irrationale  Größe  wie  )/2.  Der  Begriff  des  Dinges  an  sich 
bezeichnet  lediglich  das  Bewußtsein  davon,  daß  es  eine  Grenze 
gibt,  an  der  unser  Bewußtsein  seinen  Inhalt  nicht  mehr  voll- 
ständig zu  durchdringen  vermag.  Er  ist  das  Bewußtsein  von 
einer  irrationalen  Grenze  der  rationalen  Erkenntnis. 
So  vollzieht  Maimon  mit  voller  Konsequenz  diejenige  Betrachtung 
des  Ding-an-sich-Begriffes,  welche  auf  dem  Standpunkte  der  bloß 
theoretischen  Vernunft  die  allein  folgerichtige  ist,  und  welche  auch 
bei  Kant  angeschlagen  worden  war,  ohne  zum  vollen  Austrag  zu 
kommen,  da  für  den  Kritizismus  diese  irrationale  Größe  der  theo- 
retischen Vernunft  zugleich  ein  Objekt  der  praktischen  Vernunft 
darstellte.      Jetzt  erst,    bei  Maimon,   ist   das  Ding  an   siel?  zum 


*;  Vgl.  Bd.  I  dieses  Werkes,  S.  485  f. 


Maimons  kritischer  Skoi)tizinmu9.  209 

wahren  und  reinen  Grenzbegriffe  geworden,  indem  es  jede  meta- 
physische Realität  abj^estreift   hat. 

Auf  diesem  Standpunkte  hat  nun  natürlich  auch  di<^  Frage 
nach  der  Erkenntnis  der  Dinge  an  sich  gar  keinen  Sinn  mehr, 
sondern  die  erkenntnistheoretische  Untersuchung  hat  nur  auf  den 
Umkreis  der  Vorstellungen  das  kritische  Prinzip  der  größeren  oder 
geringeren  Vollständigkeit  des  Bewußtseins  anzuwenden.  Denn 
es  ist  klar,  daß  von  demjenigen,  wovon  wir  nur  ein  unvollständiges 
Bewußtsein  haben,  wir  auch  immer  nur  eine  unvollständige  Er- 
kenntnis behalten  müssen.  Das  kritische  Kardinalprinzip,  daß- 
wir  nur  vollständig  erkennen,  was  wir  selbst  erzeugen,  stellt  sich 
bei  Maimon  in  dieser  neuen  Form  dar,  daß  nur  die  Gegenstände 
des  vollständigen  Bewußtseins  auch  solche  der  vollständigen  Er- 
kenntnis sein  können.  Nun  ist  aber  jeder  Inhalt  der  Erfahrung 
nur  ein  Gegenstand  des  unvollständigen  Bewußtseins.  Alle  wahr- 
hafte, vollständige  Erkenntnis  ist  also  auf  die  Formen  des  Be- 
wußtseins beschränkt.  Somit  gibt  es  nur  zwei  absolut  evidente 
Wissenschaften:  die  Mathematik  und  die  Transzendentalphiloso- 
phie, jene  die  Lehre  von  den  Formen  der  Anschauung,  diese  von 
denjenigen  des  Denkens.  Von  der  »gegebenen  Erfahrung«  da- 
gegen gibt  es  immer  nur  unvollständige,  niemals  notwendige  und 
allgemeine  Erkenntnis,  da  die  Empfindung  stets  Gegenstand  des 
unvollständigen  Bewußtseins  ist.  Dieser  kritische  Skeptizis- 
mus nimmt  den  Zweifel  an  der  Apodiktizität  der  Erfahrung  in 
den  transzendentalen  Apriorismus  hinein  und  schränkt  die  Grenze 
der  notwendigen  und  allgemeingültigen  Erkenntnisse  noch  mehr 
ein.  Jener  Zweifel  aber  ist  von  dem  Humeschen  grundverschieden. 
Er  bezieht  sich  nicht  auf  die  Notwendigkeits  Verknüpfungen 
zwischen  den  einzelnen  Elementen  der  Erfahrung,  sondern  er  be- 
hauptet die  Unvollständigkeit  des  Bewußtseins  schon  hinsichtlich 
des  einzelnen  tatsächlichen  Empfindungsinhaltes,  während  Humes 
Empirismus  gerade  die  reine  und  nackte  Konstatierung  von  Tat- 
sachen als  die  zweifelloseste  Funktion  unserer  Erkenntnis  bezeichnet 
hatte.  Dieser  Unterschied  des  empiristischen  und  des  kritischen 
Skeptizismus  hat  aber  zuletzt  darin  seinen  Grund,  daß  für  jenen 
auf  dem  dogmatischen  Standpunkte  des  naiven  Realismus  das 
»Gegebensein«  der  Empfindung  gar  kein  Problem  bildete,  während 
es  für   die   kritische  Erkenntnistheorie   zu   dem   schwersten   aller 

Windelband,  Gesch.  d.  n.  Pliilos.   IL  14 


y 


210  Fichte. 

Probleme  werden  mußte,  sobald  der  problematische  Charakter  des 
Ding-an-sich-Begriffes  zum  klaren  Bewußtsein  gelangte.  Kant 
noch  hatte  dies  Problem  nur  gestreift.  Teils  war  es  in  der  pro- 
duktiven Einbildungskraft  der  transzendentalen  Analytik  berührt, 
teils  in  den  Paralogismen  dahin  angedeutet  worden,  daß  die  Ver- 
knüpfung des  spontanen  Denkens  mit  der  sinnlichen  Rezeptivität 
in  demselben  Bewußtsein  die  unlösbare  Grenzfrage  der  Psychologie 
bilde.  Es  ist  Maimons  großes  Verdienst,  den  skeptischen  An- 
griffen gegenüber  dies  Problem  in  seiner  Reinheit  herausgestellt 
zu  haben.  Aber  was  seine  Lehre  gibt,  ist  auch  nur  die  Stellung 
der  Frage  und  nicht  die  Lösung.  Denn  wie  das  Bewußtsein  zu 
jenen  Funktionen  der  »Unvollständigkeit«  kommt,  welche  sich 
in  der  Empfindungstätigkeit  darstellen,  das  blieb  für  ihn  eine  aus 
dem  Wesen  des  Bewußtseins  selbst  unableitbare  Tatsache.  Maimon 
hatte  die  Grenze  der  theoretischen  Vernunft  erreicht;  die  Lösung 
seines  Problems  war  nur  dadurch  möglich,  daß  der  Primat  der 
praktischen  Vernunft  in  seiner  ganzen  auch  erkenntnistheoretischen 
Bedeutung  erfaßt  und  systematisch  zur  Lösung  der  kritischen  Ge- 
samtaufgabe verwandt  wurde.  In  dieser  Einsicht  liegt  die  große 
und  entscheidende  Bedeutung  Fichtes. 

§  63.     Der  ethische  Idealismus. 

Fichte. 

Johann  Gottlieb  Fichte  war  1762  in  dem  Dörfchen  Rammenau 
in  der  Oberlausitz  als  der  Sohn  eines  Leinewebers  geboren  und 
wurde  durch  die  Unterstützung  des  Freiherrn  von  Miltitz  in  Schul- 
pforta  und  später  im  theologischen  Studium  zu  Jena  und  Leipzig 
ausgebildet.  Nach  Beendigung  der  Universitätszeit  hatte  er  lange 
mit  Not  und  Armut  zu  kämpfen,  war  an  verschiedenen  Orten 
Hauslehrer  und  fand  nur  eine  Zeitlang  in  Zürich  eine  freundliche 
Existenz.  Im  Jahre  1790  lebte  er  sich  in  Leipzig  auf  äußere 
Anregung  schnell  in  die  Kantische  Philosophie  ein,  fand  in  ihr 
und  gerade  in  ihrem  praktischen  Teile  die  Erhebung  über  die 
schweren  Zweifel,  in  welche  er  durch  den  überwältigenden  Ein- 
druck des  Spinozistischen  Determinismus  gestürzt  worden  war, 
und  beherrschte  ihre  Gedankenwelt  imd  ihre  jMethode  bald  der- 
artig, daß,  als  er  kurz  darauf  nach  Königsberg  verschlagen  wurde, 
er  dort  dem   großen  Meister  sein  schnell  geschriebenes  Erstlings- 


Leboü.  211 

werk,  die  »Kritik  aller  Offonburuii'^«  vorlegen  konnte  und  dessen 
vollen  Beifall  damit  erwarb.  Kant  sorgte  für  ihn  in  zartfühlender 
Weise  nicht  nur  dadurch,  daß  er  ihm  eine  angenehme  Stellung 
verschaffte,  sondern  indem  er  j^^ner  Schrift  zum  Druck  verhalf. 
Der  Zufall  wollte  es,  daß  der  Name  des  Verfassers  auf  dem  Titel 
fortbheb,  daß  infolgedessen  alle  Welt  in  diesem  Buche  die  mit 
äußerster  Spannung  erwartete  Religionsphilosophie  Kants  sehen 
zu  dürfen  glaubte,  und  daß,  als  Kant  den  Namen  des  wahren 
Verfassers  öffentHch  verkündete,  sein  Ruhm  mit  einem  Schlage 
begründet  war.  1793  wiederum  nach  Zürich  zurückgekehrt,  trat 
Fichte  dort  mit  Pestalozzi  und  Baggesen  in  fruchtbare  Berührung, 
veröffentlichte  seine  »Beiträge  zur  Berichtigung  der  Urteile  des 
Publikums  über  die  französische  Revolution«  und  seine  »Zurück- 
f orderung  der  Denldreiheit  von  den  Fürsten  Europas«,  und  hielt 
vor  einem  auserlesenen  Kreise  Vorträge  über  die  Kantische  Philo- 
sophie und  deren  in  seinem  Kopfe  sich  bereits  gestaltende  Um- 
bildung. Im  folgenden  Jahre  ward  er  bei  Reinholds  Abgang  auf 
die  Jenenser  Professur  berufen  und  begann  nun  nier  eine  glück- 
liche imd  großartige  akademische  Tätigkeit,  welche  mehr  durch 
seine  eigene  Hartnäckigkeit  als  durch  den  AViderstand  feindKcher 
Elemente  getrübt  und  schließlich  in  traurigster  Weise  beendet 
wurde.  Fichte  war  ein  Charakter  von  stählerner  Energie,  aber 
auch  von  jener  Rücksichtslosigkeit,  welche,  indem  sie  der  Welt 
ihr  Gesetz  vorschreiben  will,  an  dem  Widerstände  der  Welt  zu 
scheitern  in  Gefahr  ist.  Er  war  getragen  von  tiefem  reforma- 
torischen Bedürfnis;  es  war  ein  Prophetengeist  in  ihm.  Ihm 
war  es  völlig  Ernst  damit,  daß  die  neue  Philosophie  ein  Ideal 
der  Überzeugimg  aufstelle,  das  berufen  sei,  die  im  argen  liegende 
Welt  von  Grund  aus  umzugestalten,  und  er  besaß  die  Kantische 
Hingebung  an  dies  Ideal,  er  rang  dafür,  ohne  nach  rechts  und 
links  zu  schauen,  und  verkündete  das  Evangelium  des  katego- 
rischen Imperativs,  ohne  darum  zu  fragen,  ob  seine  eigene,  ob 
irgend  eine  andere  Existenz  darüber  zugrunde  ging.  Er  war  der 
Mann  der  Pflicht,  wie  sie  Kant  aufgestellt  hatte,  der  eiserne 
Wille,  der  nur  selbst  sich  das  Gesetz  gibt.  Aber  er  war  unfähig, 
mit  den  Verhältnissen  der  Wirklichkeit  zu  paktieren,  und  er 
schadete  mit  seiner  Starrköpfigkeit  nicht  nur  sich  selbst,  sondern 
am  meisten  der  guten  Sache,  die  er  vertrat.  Ein  geborener  Redner^ 

14* 


212  i'ichte. 

entwickelte  er  eine  mächtige  Wirkung  auf  die  studierende  Jugend 
und  bec^ann  sogleich  an  der  Umgestaltung  des  Studentenlebens 
zu  arbeiten,  welches  er  in  das  wüste  Wesen  der  Landsmannschaften 
versunken  vorfand.  Trotz  des  großen  Erfolges  ergaben  sich  daraus 
bald  Konflikte  mit  den  Kirchenbehörden  und  mit  der  Studenten- 
schaft, welche  ihn  veranlaßten,  den  Sommer  1795  in  Osmannstädt 
zuzubringen.  Am  schärfsten  aber  trat  seine  ganze  weltfremde 
Rücksichtslosigkeit  in  dem  Atheismusstreite  zutage.  In  einem 
von  ihm  imd  Niethammer  herausgegebenen  »philosophischen 
Joumal<<  hatte  sein  Schüler  Forberg  eine  »Entwicklung  des  Be- 
griffs der  Eeligion<<  gegeben,  welcher  Fichte  selbst  einen  Auf- 
satz »Über  den  Grund  unseres  Glaubens  an  eine  göttliche  Welt- 
regierung <<  beifügte.  Eine  anonyme  Denunziation,  die  vielleicht 
seinen  akademischen  Feinden  nicht  fern  stand,  brachte  es  dahin, 
daß  das  Journal  wegen  des  »Atheismus«  seines  Inhaltes  von  der 
kursächsischen  Regierung  konfisziert  und  von  derselben  die 
Weimarische  Regierung  zu  einem  Vorgehen  gegen  Fichte  gedrängt 
wurde.  Goethe  gab  sich  alle  erdenkliche  Mühe,  die  Sache  auf 
diplomatischem  Wege  beizulegen.  Aber  Fichte  machte  die  gute 
Absicht  zunichte:  einerseits  gab  er  seiner  begründeten  Entrüstung 
über  die  niederträchtigen  Verdächtigungen  in  seiner  »Appellation 
an  das  Publikum  wegen  der  Anklage  des  Atheismus«  und  in  der 
darauf  an  die  Behörden  eingereichten  »gerichtlichen  Verant- 
wortungsschrift« den  schärfsten  und  zugespitztesten  Ausdruck, 
anderseits  ließ  er  sich  in  dem  naiven  Vertrauen,  die  Kollegen 
würden  das  Versprechen,  mit  ihm  aus  Jena  wegzugehen,  im  Falle 
der  Entscheidung  halten,  dazu  hinreißen,  daß  er  der  Regierung 
mit  seinem  und  vieler  anderen  Professoren  Abgang  drohte,  sobald 
er  auch  nur  einen  Verweis  erhielte.  Eine  solche  Sprache  konnte 
die  Regierung,  sowenig  sie  es  gewollt  hatte,  nur  mit  dem  Ver- 
weise beantworten,  und  Fichte  ging  1799  von  Jena  fort  —  allein. 
Er  wandte  sich  nach  Berlin,  wo  er  in  den  Kreisen  der  Roman- 
tiker einen  für  die  Umwandlung  seiner  Anschauungen  wichtigen 
Umgang  fand  und  in  den  nächsten  Jahren  private  Vorlesungen 
hielt.  1805  folgte  er  einem  Ruf  an  die  damals  preußische  Uni- 
versität Erlangen  mit  der  Erlaubnis,  im  Winter  in  Berlin  seine 
privaten  Vorlesungen  fortzusetzen.  Aber  das  folgende  Jahr  riß 
s^uch    seine    äußere   Existenz    zu   Boden.      Als    Preußen    nieder- 


Lebrn  und   Wirken.  213 

j;eworfen  und  Berlin  in  die  Hände  dos  Feindes  gefallen  war,  suchte 
er  im  Otiten  eine  Stätte  freien  Wirkens,  hielt  vorübergehend  in 
Königsberg  Vorlesungen  und  inuüto  .chließiich  über  Memel  und 
Kopenhagen  fliehen.  Trotzdenfu  kehrte  er  nach  Bcrhn  zurück  und 
liielt  hier  mitten  in  der  Napoleonischen  Herrschaft  unangefochten 
jene  gewaltigen  »Reden  an  die  deutsche  Nation«  (1808),  welche 
das  lebendige  Denkmal  seiner  feurigen  Überzeugung  bleiben  und 
in  der  Geschichte  der  Erweckung  des  deutschen  Nationalgefühls 
einen  der  ersten  Plätze  einnehmen.  Sie  enthalten  in  populärer 
Form  und  in  ergreifender  Rhetorik  den  Ausdruck  für  jene  größte 
Tatsache  der  deutschen  Geschichte,  daß  unsere  Nation  die  Existenz, 
die  sie  in  der  äußeren  Welt  durch  ihre  Schuld  verloren,  nur  durch 
eine  Wiedergeburt  der  Gesinnung  und  der  Bildung  zurückgewinnen 
konnte.  Als  aus  diesem  Geiste  heraus  die  Berliner  Universität 
gegründet  wurde,  geschah  das  zwar  nicht  nach  dem  völlig  un- 
durchführbaren Plane  Fichtes,  sondern  mehr  nach  dem  Schleier- 
machers.  Aber  Fichte  wurde  nicht  nur  der  erste  Professor  der 
Philosophie,  sondern  auch  der  erste  gewählte  Rektor  der  neuen 
Hochschule;  freilich  sah  er  sich  durch  Konflikte,  in  die  er  wegen 
der  akademischen  Disziplin  mit  seinen  Kollegen  kam,  zur  Nieder- 
legung des  Amtes  genötigt.  Als  dann  die  deutsche  Nation  in 
neu  entflammter  Gesinnung  und  mit  dem  ganzen  Ernste  einer 
sittlichen  Überzeugung  auszog,  um  sich  von  der  äußeren  Knecht- 
schaft zu  befreien,  als  es  sich  Fichte  versagt  sah,  in  den  Reihen 
der  Kämpfer  selbst  aufzutreten,  da  ließ  er  sein  mächtiges  W^ort 
»über  den  wahren  Krieg«  erschallen  imd  widmete  sich  mit  seiner 
Gattin  der  Pflege  der  verwundeten  Krieger.  In  dieser  hingebenden 
Pflichterfüllung  fand  er  seinen  Tod,  indem  ihn  das  Lazarettfieber 
1814  dahinraffte. 

Fichtes  Stellung  zur  Kantischen  Philosophie  war  diejenige, 
daß  er  vermochte,  was  Reinhold  forderte:  die  methodische  Ab- 
leitung aller  ihrer  Lehren  aus  einem  Prinzip.  W^enn  Reinhold 
mit  der  Aufstellung  dieser  Forderung  seine  Bedeutung  erschöpft 
hatte,  so  kam  das  daher,  daß  er  ein  viel  zuwenig  systematischer 
Kopf  war,  um  für  diese  Ableitung  eine  Methode  zu  finden.  Bei 
Fichte  liegt  deshalb  die  Hauptsache  in  dem  methodischen  Prinzip. 
Die  stetigen  Umarbeitungen,  denen  er  seine  » W'issenschaf tslehre « 
unterzogen  hat,   und   die   sogar  eine  Veränderimg   seiner  philo- 


214  Fichte. 

sophischen  Weltanschauung  mitgemacht  haben,  bewegen  sich  doch 
sämtlich  innerhalb  derselben  Methode,  welche  er  seit  1794  in  seinen 
Schriften  wie  auf  dem  Katheder  anwandte.  Wenn  es  sich  darum 
handelt,  die  einzelnen  Funktionen  der  Vernunft,  die  Kant  aus 
den  einzelnen  Problemen  heraus  analysiert  hat,  als  die  notwen- 
digen Ausgestaltungen  einer  allgemeinen  Grund tätigkeit  zu  ent- 
wickeln, so  ist  es  nur  eine  äußerliche  Lösung  dieser  Aufgabe,  daß 
Reinhold  einen  zentralen  Satz  aufgestellt  und  aus  dessen  formaler 
Anwendung  auf  die  verschiedenen  empirischen  Tätigkeiten  die  be- 
sonderen Lehren  abgeleitet  hat.  Was  Fichte  verlangt,  ist  die 
Einsicht  in  die  innere  Notwendigkeit,  womit  sich  die  allgemeine 
Vemunf tfunktion  gerade  in  diese  bestimmten,  aus  der  Erfahrung 
bekannten  besonderen  Funktionsarten  ghedert.  Diese  Erkenntnis 
aber  ist  nicht  selbst  aus  der  Erfahrung  zu  gewinnen.  Sie  kann 
nur  dadurch  zustande  kommen,  daß  man  die  Vernunfttätigkeit 
selbst  auf  ihre  immanenten  Notwendigkeiten  hin  untersucht.  Allein 
diese  Notwendigkeiten  können  keine  von  vornherein  gegebenen 
und  damit  in  letzter  Instanz  irgendwo  anders  herstammenden 
sein.  Denn  die  Vernunft  kennt  theoretisch  wie  praktisch  nichts 
als  sich  selbst.  War  daher  Kants  Kritik  überall  bei  der  Orga- 
S^^  nisation  der  Vernunft,  bei  dem  »Bewußtsein  überhaupt«  als  bei 
dem  Letzten  und  Höchsten  stehen  geblieben,  so  stellt  die  Fichtesche 
Philosophie  sich  die  Aufgabe,  diese  Organisation  zu  begreifen :  aber 
sie  kann  nach  Kantischem  Prinzip  aus  nichts  anderem  als  aus 
sich  selbst  begriffen  werden.  Sie  ist  autonom:  sie  selbst,  diese 
Organisation,  muß  als  ein  System  gedacht  werden,  das  in  allen 
seinen  besonderen  Funktionen  durch  die  Idee  des  Ganzen  be- 
dingt ist.  Soll  der  Zusammenhang  der  Vernunfttätigkeiten  ver- 
standen werden,  so  ist  er  nicht  durch  naturgesetzliche  Notwen- 
digkeit aus  irgend  etwas  anderem  abzuleiten;  denn  von  dieser 
naturgesetzUchen  Notwendigkeit  hat  die  Kritik  der  reinen  Ver- 
nunft bewiesen,  daß  sie  selbst  nur  eine  Vernunftform  der  Er- 
scheinungswelt ist.  Der  Zusammenhang  der  Vernunfttätigkeiten 
ist  nur  aus  einem  absoluten  Prinzip  der  Vernunft  selbst  abzu- 
leiten. Ein  solches  absolutes  Prinzip  aber  ist  nur  der  Zweck. 
Will  man  die  Organisation  der  Vernunft  deduzieren,  so  ist  das 
nur  dadurch  möglich,  daß  man  alle  ihre  einzelnen  Funktionen 
als    die    notwendig    zu   ergreifenden   IJlIittel   entwickelt,    die   dem 


Dus  Syatom  der  Vernunft.  215 

lotztx^n  Zwocke  der  Veniunfttäti^^'keit  dienen  raü.sscn.  Das  isfc 
der  Fichtesche  (Jriind^^edanke.  Es  ist  die  vollige  JJurclifüluung 
des  Primats  der  praktischen  über  die  theoretische  Vernuaft,  und 
dies  ist  der  Grund  für  die  aufc^schließlich  teleologische  (iestalt, 
welche  die  Fiehtesche  Lehre  bis  in  ihre  einzelnen  Teile  hinein 
trägt.  Die  Deduktion  der  Wissenschaffcslehre  hat  nur  die  Auf- 
gäbe,  aus  dem  höchsten  Zwecke  der  Vernunft  das  System  aller 
der  Tätigkeiten  zu  entwickeln,  mit  denen  sie  diesen  Zweck  reali- 
siert. In  diesem  Sinne  nennt  sich  Fichtes  Lehre  eine  »Geschichte 
des  Bewußtseins«.  Aber  diese  Geschichte  ist  keine  Erzählung 
kausal  notwendiger,  sondern  eine  Entwicklung  teleologisch  not- 
wendiger Prozesse.  Alles,  was  Kant  von  reinen  Formen  der 
Vernunftorganisation  gefunden  hat,  findet  darin  eine  Stelle,  an 
der  es  als  die  notwendige  Lösung  einer  notwendigen  Aufgabe  er- 
scheint. Alle  Vernunftformen  bilden  ein  teleologisches  System, 
welches  durch  eine  letzte  und  höchste  Aufgabe  bedingt  ist. 

Ein  solches  System  ist  nur  dadurch  möglich,  daß  das  gesamte 
Wesen  der  Vernunft  in  einer  Tätigkeit  gesucht  wird,  die  um  eines 
in  ihr  selbst  begründeten  Zweckes  willen  sich  vollzieht.  Die 
Fichtesche  Lehre  muß  so  in  ihren  Begriff  der  Vernunft  einen 
ursprünglichen  Gegensatz  zwischen  der  ihr  durch  sie  selbst  ge- 
setzten Aufgabe  und  ihrer  Tätigkeit  aufnehmen,  und  sie  muß 
diesen  Gegensatz  als  einen  der  Vernunft  wesentlichen  betrachten, 
weil  sich  nur  aus  ihm  jede  besondere  Vernunftfunktion  erklärt. 
Der  Gegensatz  einer  Aufgabe  und  eines  in  unendlicher  Annähe- 
rung auf  deren  Realisierung  gerichteten  Strebens  bestimmt  des- 
halb den  Fichteschen  Begriff  der  Vernunft.  Jener  sittliche  Ge- 
sichtspunkt, den  Lessing  und  Kant  aufgestellt  hatten,  wird  von 
Fichte  zum  Kardinalprinzip  der  Philosophie  gemacht,  und  die 
Überzeugung,  daß  der  Grund  aller  "Wirklichkeit  in  dem  Ideal  zu 
suchen  sei,  das  sie  erfüllen  soll,  diese  Grundüberzeugung  prägt 
seiner  Lehre  den  Charakter  des  ethischen  Idealismus  auf. 

Daraus  ergibt  sich  aber  auch  unmittelbar  die  so  folgenreiche 
Methode  der  »V^issenschaftslehre«.  Gelten  alle  Vernunfthandlungen 
als  das  System  von  Mitteln  für  die  Erfüllung  einer  Aufgabe,  so 
muß  innerhalb  der  Vernunft  selbst  ein  Widerspruch  existieren 
zwischen  dieser  Aufgabe  und  ihrem  Tim.  Denn  die  völlige  Über- 
einstimmung beider   müßte  das  ganze  Wesen   dieser  Funktionen 


216  Fichte. 

ebenso  hinfällig  machen,  wie  für  Kant  das  Sittengesetz  gegen- 
standslos erschien,  sobald  seine  völlige  Verwirklichung  gesichert 
war.  Der  Begriff  des^SoUensJ  der  nun  von  Fichte  zum  Zentral- 
begriff der  gesamten  Philosophie  gemacht  wird,  verlangt  den 
Widerspruch  zwischen  der  Aufgabe  und  dem  wirklichen  Tun,  und 
diesen  Widerspruch  verlegt  die  Wissenschaftslehre  in  das  Wesen  der 
Vernunft.  Ihre  teleologische  Deduktion  der  Vernunfthandlungen 
läuft  darauf  hinaus,  daß  gezeigt  wird,  wie  durch  den  Widerspruch 
zwischen  der  Aufgabe  und  dem  ersten  Tun  sich  die  Notwendig- 
keit eines  zweiten  ergibt,  wie  auch  dieses  sich  als  unzulänglich 
erweist  und  dadurch  ein  drittes  bedingt  usf.,  bis  entweder  ein 
Processus  in  infinitum  sich  darstellt  oder  durch  die  Rückkehr  zu 
der  ersten  Tätigkeit  der  gesamte  Kreis  der  Vernunfthandlungen 
sich  systematisch  abschließt.  In  diesem  Sinne  ist  Fichtes  Methode 
diejenige  der  Widersprüche,  und  seine  Entwicklung  der  Vernunft- 
formen aus  dem  Grundprinzip  ist  deshalb  Dialektik.  Auf  eine 
solche  dialektische  Methode,  welche  sich  am  liebsten  in  der 
trichotomischen  Einteilung  und  in  dem  Verhältnis  vonjhesis, 
Antithesis  und  Synthesis  bewegt,  hatte  gelegentlich  schon  Kant 
hingewiesen;  ja,  die  ganze  Dreiteilung  seines  Systems  beruhte  ja 
darauf,  daß  zwischen  theoretischer  und  praktischer  Philosophie 
ein  Gegensatz  obwaltete,  aus  welchem  sich  die  Aufgaben  der 
ästhetischen  entwickelten.  Hatte  Kant  als  Grundverhältnis  hier 
gelehrt,  daß  die  zunächst  einander  fremden  Funktionen  des  Wissens 
und  des  Begehrens  in  der  Form  des  Gefühls  eine  Synthesis  zu 
finden  vermögen,  hatte  z.  B.  auch  seine  theoretische  Philosophie 
in  bezug  auf  den  Gegensatz  von  Sinnlichkeit  und  Verstand  in 
der  Einbildungs-  oder  der  Urteilskraft  eine  iVndeutung  von  der 
gemeinsamen  Wurzel  beider  Funktionen  hervortreten  lassen,  so 
macht  Fichte  dies  Verhältnis  zu  einer  dialektischen  Methode, 
womit  er  das  ganze  System  der  Vemunfthandlungen  aus  ihrer 
letzten  Aufgabe  zu  entwickeln  unternimmt. 

Ist  damit  der  Grundcharakter  von  Fichtes  Philosophie  ge- 
kennzeichnet, so  hatte  sie  diese  ihre  Aufgabe  erst  aus  dem  ge- 
gebenen Standpunkte  der  philosophischen  Forschung  heraus  und 
anderseits  aus  dem  allgemeinen  Denken  zu  entwickeln.  Die 
häufigen  Umarbeitungen  der  Wissenschaftslehre  beweisen,  daß 
Fichte   sich   damit    immer    nicht    genug   tat,    und    doch    mögen 


WissenscliartHlchro.  217 

manche  der  anfiln;j;liclu'n  I)arstt'llun«^en  die  bcHten  «geblieben  nein. 
Die  un<^owöhnliclic  Höbe  der  Abstraktion,  auf  der  sich  diese 
Untersuchungen  bewegen,  und  die  vollkommene  Neuheit  der  «ich 
darin  entwickelnden  Ansichten  l^ildetcn  für  die  sprachliche  Dar- 
stellung außerordentlich  große  Schwierigkeiten,  und  so  sehr  es 
dem  Denker  an  gewissen  Punkten  gelang,  darüber  Herr  zu  werden, 
so  gewalttätig  mußte  er  an  andern  der  gewöhnlichen  Sprache 
gegenüber  verfahren.  Für  den  modernen  Geschmack,  der  es  liebt, 
die  Gedanken  so  platt  ausgedrückt  zu  finden,  daß  er  selbst  so 
wenig  wie  möglich  Arbeit  daran  hat,  werden  daher  alle  jene  Be- 
arbeitungen Fichtes  ungenießbar  bleiben.  Um  so  unberechtigter 
ist  die  Keckheit,  mit  der  lange  Zeit  solche,  die  nie  einen  Satz 
von  ihm  verstanden  hatten,  über  ihn  abzusprechen  pflegten.  Für 
die  Einführung  in  den  Standpunkt  der  Wissenschaftslehre  dürften 
die  beiden  Einleitungen  dazu  (1797),  eine  Meisterleistung  von 
dialektischer  Entwicklung,  für  die  Vertiefung  in  das  Ganze  die 
»Grundlage  der  gesamten  Wissenschaftslehre«  (1794)  das  Geeig- 
netste sein.  Die  populärste  Darstellung  des  Zusammenhanges 
seiner  theoretischen  und  seiner  ethischen  Lehre  hat  er  in  der 
»Bestimmung  des  Menschen«  (Berlin  1800)  gegeben,  wobei  jedoch 
nicht  zu  übersehen  ist,  daß  sich  in  dieser  Schrift  schon  die  An- 
fänge seiner  später  (§  67)  zu  berührenden  Umwandlung  der  meta- 
physischen Ansicht  zeigen. 

Wenn  Fichte  der  Philosophie  den  deutschen  Namen  der  Wissen- 
schaftslehre  gab,  so  bezeichnete  er  damit  die  volle  Geltung, 
die  durch  Kant  der  erkenntnistheoretische  Standpunkt  im  Mttel- 
punkte  des  philosophischen  Denkens  gewonnen  hatte.  Sind  die 
übrigen  Tatsachen  gruppenweise  auf  die  anderen  Wissenschaften 
verteilt,  so  ist  es  die  Erklärung  des  Wissens,  welche  der  Philo- 
sophie eine  besondere  Aufgabe  gibt  und  eine  besondere  Methode 
aufnötigt.  Zu  dieser  Erklärung  hat  das  naive  Bewußtsein  den 
Gegensatz  von  Subjekt  und  Objekt.  Der  Dogmatismus  erklärt  das 
Bewußtsein  aus  Dingen  an  sich,  der  Idealismus  erklärt  die  Dinge 
aus  dem  Bewußtsein,  der  Synkretismus  versucht  mehr  oder  minder 
geschickte  Verschmelzungen  von  beiden  und  ist  als  Halbheit  für 
Fichte  von  vornherein  verdammt.  Der  Dogmatismus,  als  dessen 
Typus  er  die  Lehre  Spinozas  betrachtet,  ist  unfähig,  aus  dem 
Sern  die  Vorstellung  abzuleiten.     So  konsequent   er  in  sich  sein 


218  Fichte. 

mas:,  er  scheitert  an  dem  Problem  des  Ich,  des  Selbstbewußtseins. 
Deshalb  bleibt  nur  die  andere  volle  Konsequenz  übrig,  den  Idea- 
lismus so  auszubilden,  daß  aus  dem  Subjekt  das  Objekt,  aus  der 


Vorstellung  das  Sein  erklärt  wird.     Dieser  Idealismus   EaFdarinr 
auch  seinen   besonderen  Grund,    daß,   wie  es  auch    metaphysisch 
um  die  Dinge  bestellt  sein  möge,  das  Bewußtsein  jedenfalls  sich 
selbst  das  Nächste  ist  und  nur  von  sich  aus  auch  zur  Vorstellung 
des  Seins  gelangen  kann. 

Der  Begriff  des"^ Wissens  kann  deshalb  auch  bei  Fichte  nicht 
in  der  Übereinstimmung  von  Gegenständen  und  Vorstellungen  ge- 
sucht werden,  sondern  setzt  die  immanente  Bestimmung  voraus, 
daß  es  innerhalb  der  Vorstellungen  solche  gibt,  welche  mit  dem 
Gefühle  der  Notwendigkeit  auftreten.  Kant  hat  diese  einzeln  auf- 
gesucht, aber  Keinhold  hat  mit  Recht  gelehrt,  daß  das  Wissen 
nur  als  System  mögüch  ist.  Wenn  es  ein  Wissen  als  kritisches 
System  geben  soll,  so  kann  es  nur  in  einem  System  notwen- 
diger Handlungen  der  Intelligenz  gesucht  werden.  Aber 
zu  dieser  Aufsuchung  muß  die  Philosophie  von  einem  Satze  aus- 
gehen, der  in  Form  und  Inhalt  durch  sich  selbst  notwendig  be- 
stimmt ist.  Allein  dieser  Satz  darf  nicht  der  Reinholdsche  sein. 
Er  darf  nicht  ein  totes  Wissen  von  irgendwelchen  Verhältnissen 
und  Beziehungen  enthalten  wollen,  sondern  er  muß  notwendig 
die  voraussetzimgslose  Urhandlung  aller  Vernunft,  er  muß  den 
ursprünglichen  Prozeß  des  Denkens  in  sich  tragen.  Er  darf  nicht 
der  Ausdruck  einer  Tatsache  sein,  sondern  derjenige  einer  Funk- 
tion, einer  Handlung,  welche  nichts  voraussetzt  und  alles  zu  ihrer 
Folge  hat,  welche  deshalb  eine  freie  Tat  im  eigentlichsten  Sinne 
des  Wortes  ist  —  der  Ausdruck  einer  »Tathandlung«.  Diese  ur- 
sprünglichste und  allgemeinste,  durch  keinen  weiteren  Inhalt  und 
durch  keine  Formbeziehung  oder  Kategorie  bedingte  Tathandlung 
besteht  darin,  daß  das  Bewußtsein  sich  selbst  denkt.  Die  rätsel- 
hafte Rückbeziehung  auf  sich  selber,  welche  darin  hegt,  bezeichnet 
die  Sprache  mit  dem  Worte  Ich.  In  diesem  Sinne,  nicht  als  das 
empirische  Selbstbewußtsein  einer  einzelnen  Persönlichkeit,  sondern 
als  das  allgemeinste  und  ursprünglichste  Handeln  des  vernünftigen 
Denkens  ist  das  Ich  oder  das  reine  Selbstbewußtsein  das 
Prinzip  der  Philosophie. 

»Das  Ich"  setzt  sich  selbst.«    Dieser  Satz  soll  im  Beginne  der 


Da«  Icl..  219 

Fichtcschcii  Phil()S()j)hi('  nicht  eine  Tatsache  behaupten,  ein  '/Fak- 
tum« wie  Keinholds  Satz  des  BewiiütHcins,  sondern  er  soll  viel- 
mehr die  Funktion  aussprechen,  durch  welche_alles  Denken  be-_ 
dingt  ist.  Die  Philosophie  soll  ijicht  mit  einer  Behauptung  be- 
ginnen. Behauptungen  sind  immer  anfechtbar  und  niemals  ein 
absolutes  Prinzip.  Den  Anfanu'  der  Philosophie  bilde  nicht  irgend 
ein  Satz,  über  den  sich  streiten  läßt  oder  der  Voraussetzungen 
enthält,  sondern  vielmehr  eine  Forderung,  die  Urhandlung  alles 
vernünftigen  Denlcens  auszuführen.  Wie  der  Geometer  damit  be- 
ginnt, daß  er  verlangt:  Stelle  den  Raum  vor,  —  so  der  Philosoph 
der  Wissenschaftslehre  mit  dem  Postulate:  Denke  dich  selbst. 
Mit  diesem  Akte  des  Selbstdenkens  wird  die  Vernunft  erzeugt. 
Sie  ist  nur  durch  diesen  Akt.  Sie  ist  deshalb  nicht  etwas  von 
irgendwo  andcrsher  Gegebenes  oder  Ableitbares.  Sie  entsteht  nur 
durch  diesen  rätselhaften  Akt  des  Sich- sei  ber-Denkens.  Die  Ver- 
nunft ist  die  sich  selbst  schaffende  Handlung,  das  sich  selbst  er- 
zeugende Tun,  und  die  Philosophie  fordert  jeden  auf,  dieses  Tun 
in  sich  zu  erzeugen.  Fichtes  Verhältnis  zu  Kant  laßt  sich  hierbei 
am  besten  übersehen.  Für  Kant  war  die  Vernunft  mit  ihren 
Formen  eine  gegebene  Organisation,  welche  in  der  kritischen 
Reflexion  sich  als  allgemeine  überindividuelle  Tatsache  offenbarte. 
Für  Fichte  besteht  diese  Organisation  nur  in  der  Selbsterzeugung 
der  Vernunft.  Seine  Lehre  enthält  die  Ausdehnung  des  Begriffes 
der  Autonomie  über  die  gesamte  und  speziell  über  die  theoretische 
Vernunft.  Er  will  zeigen,  daß  jene  überindividuelle  Organisation, 
in  welcher  Kant  den  Grund  aller  Apriorität  suchte,  überall,  an 
welchem  Inhalte  sie  sich  auch  entwickle,  eine  sich  selbst  er- 
zeugende Tat  des  vernünftigen  Denkens  enthalte.  Kant  hatte 
diesen  Gedanken  in  der  Lehre  von  der  transzendentalen  Apper- 
zeption'berührt,  er  hatte  darin  gezeigt,  daß  die  Kategorien  nur 
die  Funktionsformen  des  reinen  Selbstbewußtseins  sind,  und  dieser 
dunkelste  Teil  seiner  Lehre  wurde  hier  zu  dem  Lichte,  welches 
den  Nachfolgern  den  Weg  zeigte.  Der  Akt  des  Selbstbewußtseins, 
das  ist  die  Summe  der  Fichteschen  Erkenntnistheorie,  ist  die  ur- 
sprüngliche Handlung,  aus  der  die  gesamte  Vorstellungswelt  mit 
ihrem  Inhalte  und  ihrer  Form  sich  ableitet.  Nur  wenn  man  von 
diesem  Standpunkt  aus  die  K^ntische  Lehre  betrachtet,  ver- 
schwinden  die  Widersprüche,   welche  sich   aus   der  realistischen 


220  Becks  Standpunktslehre. 

Fassung  vom '  Ding  an  sicH  ergeben  haben.  Es  ist  unmöglich, 
die  Vorstellung  durch  Dinge  bestimmt  zu  denken.  Aber  es  ist 
möglich,  in  den  notwendigen  Handlungen  der  Intelligenz  diejenige 
aufzudecken,  durch  welche  die  Vorstellung  von  Dingen  und  ihrer 
Realität  hervorgebracht  und  begründet,  d.  h.  als  notwendig  ver- 
langt wird.  Wenn  es  unter  den  Funktionen  des  empirischen 
Bewußtseins  keine  solche  gibt,  so  muß  der  Grund  für  die  Vor- 
stellung von  Dingen  in  einem  ursprünglichen  Vorstellen,  in  jenem 
reinen  Selbstbewußtsein  gesucht  werden,  ohne  welches  auch  nach 
Kant  kein  empirisches  möglich  ist.  In  diesem  Sinne  erkläite 
Fichte  auch  gegen  den  ausdrücklichen  Widerspruch  von  Kant, 
daß  seine  Lehre  nichts  als  der_  wohlverstandene  und  konsequent 
durchgeführte  Kritizismus  sei,  und  in  diesem  Sinne  stimmte  ihm 
hinsichtlich  der  theoretischen  Deduktionen  Sigismund  Beck 
(1761  — 1842,  später  Professor  in  Rostock)  bei,  welcher  unter 
Billigung  des  Meisters  einen  »erläuternden  Auszug  aus  den  Schriften 
des  Herrn  Professor  Kant«  herausgegeben  hatte  und  nun,  vielleicht 
schon  unter  dem  Einfluß  der  Wissenschaftslehre,  einen  dritten 
Band  unter  dem  Titel:  »Einzig  möglicher  Standpunkt,  aus 
welchem  die  kritische  Philosophie  beurteilt  werden  muß«  (1796) 
hinzufügte.  Der  Idealismus,  den  diese  interessante  »Standpunkts- 
lehre« vertrat,  wendet  sich  namentlich  gegen  Reinhold,  welcher 
Kant  durch  seine  Fassung  der  Lehre  vom  Ding  an  sich  zum 
Dogmatiker  gemacht  habe,  und  sucht  den  wahren  Schlüssel  zum 
Verständnis  Kants  in  der  Lehre  von  der  transzendentalen  Apper- 
zeption. Es  gibt  kein  Band  zwischen  Vorstellungen  und  Dingen 
an  sich.  Gegenstände,  die  als  Norm  der  Richtigkeit  dem  indi- 
viduellen Bewußtsein  gegenübergestellt  werden  sollen,  sind  mit 
den  Vorstellungen  des  letzteren  nur  dann  vergleichbar,  wenn  sie 
selbst  Vorstellungen  sind,  und  sie  können  als  solche  nur  dadurch 
aufgefaßt  werden,  daß  sie  als  Produkte  eines  »ursprünglichen 
Vorstellens«  gelten,  das  allem  individuellen  Bewußtsein  vorher- 
geht. Es  ist  nicht  zu  leugnen,  daß  zwischen  diesem  Beckschen 
Standpunkte  und  dem  Berkeleyschen  nur  äußerst  schwierig  die 
Grenzen  zu  ziehen  sein  würden.  Aber  auf  ihm  standen  auch 
weder  Kant  noch  Fichte;  Kant  nicht,  insofern  er  an  der  Realität 
der  Dinge  an  sich  festhielt,  Fichte  nicht,  insofern  er  der  spiri- 
tualistischen  Grundlage  des  englischen  Denkers  gänzlich  fern  stand. 


Das  urs|irünf(liche  N'oretellen.  221 

namontlich  aber  iusoftMii  or  die  V()i}iiisHotzun<,'('n  für  jenes  ur- 
{5[)rüii<^li('lie  Vorstollen  in  dci  praktischen  Venninft  suchte.  Auch 
Beck  hat  die  Lehre  vom  J)ing  an  si(;h  ledi^jlich  als  ein  theo- 
retisches Problem  behandelt,  und  ^leshalb  könnt»'  auch  sein  Stand- 
punkt nicht  der  abschließende  sein.  Aber  in  seiner  Auffassung 
tritt  deutlich  die  Tendenz  zutage,  Kants  »Bewußtsein  über- 
haupt« metaphysisch  zu  deuten  und  das  »ursprüngliche  Vorstellen« 
als  ein  überindividuelles  Subjekt  zu  behandeln,  —  eine  Vorstellungs- 
weise, welche  in  der  theoretischen  Entwicklung  der  Kantischen 
Prinzipien  keine  Stelle  hatte. 

Aus  jenem  Grundprinzip  der  Fichteschen  Lehre  ergibt  sich 
aber  sogleich  eine  Foli2;erunc; ,  welche  sie  mit  allen  ihren  dialek- 
tischen  Konsequenzen  in  einen  unversöhnlichen  Gegensatz  zu  der 
gewöhnlichen  Weltauffassung  versetzte.  Es  ist  besser,  diesen  Gegen- 
satz ganz  scharf  herauszuheben,  als  ihn  zu  verdecken:  er  enthält 
den  letzten  Grund  für  alles  dasjenige,  was  in  der  idealistischen 
Philosophie  als  Paradoxie  erschienen  ist  und  noch  heute  erscheint. 
Das  naive  Bewußtsein  kami  sich  eine.  Funktion  nur  denken  als  den 
Zustand  oder  die  Tätiojkeit  eines  funktionierenden  Wesens.  Wie 
man  sich  auch  dies  Verhältnis  vorstellen  mag,  immer  denkt  das 
nach  den  gewöhnlichen  Kategorien  sich  vollziehende  Denken  zuerst 
Dinge  und  dann  erst  Funktionen,  welche  diese  ausführen.  Die 
Fichtesche  Lehre  stellt  dies  Verhältnis  auf  den  Kopf.  Was  wir 
Dinge  nennen,  betrachtet  sie  als  Produkte  von  Tätigkeiten.  Wenn 
man  sonst  die  Tätigkeiten  als  etwas  ansieht,  was  ein  Sein  voraus- 
setzt, so  ist  für  Fichte  alles  Sein  nur  ein  Produkt  des 
ursprünglichen  Tuns.  Die'Funktion  ohne  ein  funktionierendes 
Sein^  ist  für  ihn  das  metaphysische  Urprinzip.  Für  das  gewöhn- 
liche Bewußtsein  scheint  eine  solche  Funktion  in  der  Luft  zu 
schweben  und  unvorstellbar  zu  sein.  In  der  Natur,  um  es  am 
besonderen  Beispiel  zu  erläutern,  denkt  das  naive  Bewußtsein  die 
Kräfte  und  die  Bewegungen  an  existierende  Stoffe  oder  an  seiende 
Atome  gebunden :  schon  Kants  dynamische  Naturphilosophie  lehrte, 
daß,  was  als  Stoff  erscheint,  nur  ein  Kraftprodukt  sei.  Bei  Fichte 
führt  die  konsequente  Erweiterung  dieses  Gedankens  zur  Zer- 
trümmerung des  "Ding-an-sich-Begriffes :  für  ihn  ist  alle  Realität 
nur  ein  Produkt  des  Tuns. 

Hier  sieht  man  am  deutlichsten  den  weiten  Abstand,  der  den 


222  Fichte. 

deutschen  Idealismus  von  demjenigen  eines  Descartes  oder  eines 
Berkeley  trennt.  Diese  mochten  wohl  die  Körper  weit  zum  Teil 
oder  ganz  in  Vorstellungen  auflösen,  aber  die  Vorstell imgen  selbst 
betrachteten  sie  mit  der  naiven  Weltauffassung  als  Funktionen 
denkender  Substanzen.  Für  Fichte  ist  das  Selbstbewußtsein  eine 
Tathandlung,  die,  statt  eine  denkende  Substanz  vorauszusetzen, 
vielmehr  ihrerseits  erst  eine  solche  Substanz  erzeugt.  Der  denkende 
Geist  »ist«  nicht  erst  und  kommt  dann  hinterher  durch  irgend- 
welche Veranlassungen  zum  Selbstbewußtsein,  sondern  er  kommt 
erst  durch  den  unableitbaren,  unerklärlichen  Akt  des  Selbst- 
bewußtseins zustande.  Die  wahre  Geburtsstunde  des  Menschen 
ist  der  Moment,  wo  er  zum  ersten  Male  »ich«  sagt. 

Beginnt  also  die  Philosophie  damit,  daß  sie  jeden  auffordert, 
die  schöpferische  Tätigkeit  des  Selbstbewußtseins  zu  ^vollziehen, 
so  besteht  ihr  Fortschritt  lediglich  in  der  Reflexion  auf  dasjenige, 
was  in  dieser  Handlung  geschieht,  und  was  notwendig  mit  ihr 
als  weitere  Funktion  verbunden  ist.  Dazu  gehört  nun  in  erster 
Linie,  daß  das  Ich,  um  sich  selbst  zu  bestimmen,  sich  von  allem 
anderen  unterscheiden,  daß  es  sich  ein  »Nichtich«  gegenübersetzen 
muß.  Aber  dieses  Nichtich  ist  doch  selbst  immer  wieder  etwas 
Vorgestelltes,  es  ist  also  vom  Bewußtsein  und  im  Bewußtsein 
gesetzt.  »Das  Ich  setzt  das  Nichtich  im  Ich.«  Somit  entsteht 
durch  den  Akt  des  Selbstbewußtseins  in  diesem  ein  doppelter 
Inhalt,  und,  im  Bewußtsein  vereinigt,  heben _Ich  und  Nichtich 
einander  teilweise  auf  und  beschränken  sich  gegenseitig.  Keines 
von  beiden  nimmt  das  ganze  Selbstbewußtsein  ein,  und  jedes  ist 
nur  in  Beziehung  auf  das  andere  gesetzt  und  durch  dies  andere 
bestimmt.  Subjekt  und  Objekt  —  wenn  man  diese  populären 
Bezeichnungsweisen  mit  der  Vorsicht  anwenden  will,  daß  die 
Kategorie  der  Substantialität  von  beiden  noch  fern  gehalten 
wird  —  sind  die  beiden  notwendigen  Urgegensätze ,  welche  im 
Akte  des  Selbstbewußtseins  enthalten  sind,  und  welche  nur  in 
Beziehung  aufeinander  gedacht  werden  können.  Sowenig  wie  ein 
Subjekt  an  sich  ohne  Objekt,  sowenig  ist  ein  Objekt  an  sich  ohne 
Subjekt  zu  denken.  ])iese  gegenseitige  Beziehung  entwickelt  sich 
in  der  Kategorie  der  Wechselwirkung  und  führt  so  zu  dem  Grund- 
satze, daß  das  Ich  und  das  Nichtich  einander  wechselseitig  be- 
stimmen.   Denkt  man  die  beiden  Verhältnisse,  die  darin  vereinigt 


Das  Hewuütlosi!  im  Ich.  22'{ 

blind,  gesüiulert,  so  zoi<;t  sicli  iiuf  der  einen  Suite  eine  Jiesiiinnit- 
licit  des  Ich  durch  das  Niclitich,  auf  der  andern  eine  Bestimmtheit 
des  Nichtich  durch  das  Ich.  Wird  im  Selbstbewußtsein  das  Subjekt 
durch  das  Ohjekt  1  estimmt,  so  ist  die  KausaHtät  diejenige  des 
(Jrundes,  und  das  Ich  verhält  sich  theoretisch:  wird  umgekehrt 
das  Objekt  durcli  das  Subjekt  bestimmt,  so  ist  die  Kausalität 
diejenige  des  Zwecks  und  der  Tat,  und  das  Ich  verhält  sich 
praktisch.  So  teilt  sich  nach  diesen  allgemeinsten  Begriffsbe- 
stimmungen die  Wisseuschaftölchre,  die  Fichtesche  Philosophie, 
in  einen  theoretischen  und  einen  praktischen  Teil. 

Die  Aufgabe  des  ersteren  besteht  also  in  der  Entwicklung  der- 
jenigen notwendigen  Vernunfthandlungen,  welche  sich  aus  der  Be- 
stimmtheit des  Ich  durch  das  Nichtich  ergeben.  Es  ist  klar,  daß, 
wenn  das  Nichtich  als  Objekt  des  Ich  erscheint,  es  nur  von  diesem 
produziert  sein  kann.  Es  ist  ebenso  klar,  daß,  wenn  es  nichts 
gibt  als  das  Ich  und  seinen  selbstgeschaffenen  Inhalt,  das  eigent- 
liche Problem  darin  zu  suchen  ist,  daß  die  an  sich  unendliche 
und  unbeschränkte  Tätigkeit  des  Ich  sich  bei  jedem  besonderen 
Bewußtseinsakte,  der  irgend  ein  Nichtich  zum  Inhalt  hat,  selbst 
beschränkt.  Das  Nichtich  beschränkt  die  Tätigkeit  des  Ich,  aber 
es  ist  ja  selbst  nur  eine  Funktion  im  Ich.  Es  ist  also  diejenige 
Funktion,  durch  welche  das  Ich  sich  selbst  beschränkt.  Der  ein- 
zelne Inhalt  des  Bewußtseins  also  in  der  ganzen  Notwendigkeit, 
womit  er  darin  sich  geltend  macht,  kann  nicht  aus  einer  Abhängig- 
keit des  Bewußtseins  von  irgendwelchen  Dingen  an  sich,  sondern 
nur  aus  dem  Ich  selbst  erklärt  werden.  Nun  ist  aber  alles  be- 
woißte  Produzieren  durch  Gründe  bestimmt  und  setzt  deshalb 
immer  wieder  besonderen  Vorstellungsinhalt  voraus.  Das  ur- 
sprüngliche Produzieren,  wodurch  zu  allererst  das  Nichtich  im  Ich 
gewonnen  wird,  kann  nicht  bewußt,  sondern  nur  bewußtlos  sein. 
Es  ist  auch  nicht  durch  Gründe  bestimmt,  sondern  absolut  fiei 
und  grundlos.  Die  Funktionen  also,  welche  Beck  als  das  »ur- 
sprüngliche Vorstellen«  bezeichnete,  sind  für  Fichte  grundlos  freie 
Akte,  die  eben  deshalb  nicht  als  solche,  sondern  erst  in  ihren 
Produkten  zum  Bewußtsein  kommen.  Dem  empirischen  Bewußt- 
sein, für  welches  der  Reinholdsche  Satz  von  dem  Verhältnis  der 
Vorstellung  zum  Subjekt  und  zum  Objekt  gilt,  muß  ein  unbe- 
wußtes Vorstellen  vorhergehen,  welches,  selbst  frei  und  grundlos. 


wm 


224  Fichte. 

den  Grund  für  die  Notwendigkeit  enthält,   womit  der  besondere 
Inhalt  dem  Bewußtsein  sich  aufnötigt. 

Dies  ist  der  wichtigste  Schritt,  den  Fichte  über  Kant  hinaus 
tut.  Es  leuchtet  ein,  daß  dieses .  bewußtlose,  grundlos  freie  Vor- 
stellen als  eine  Funktion  eben  derselben  überindividuellen  Ver- 
nunfteinheit gedacht  wird,  welche  Kant  als  transzendentale  Apper- 
zeption bezeichnete.  Während  aber  Kant  auf  diese  nur  die  for- 
malen synthetischen  Verknüpfungen  des  Empfindungsmaterials 
zurückführte,  ohne  sich  um  die  Begründung  des  letzteren  zu 
kümmern  (da  er  vielmehr  dessen  Notwendigkeit  und  Allgemein- 
gültigkeit leugnete),  sucht  Fichte  in  der  produktiven  Ein- 
bildungskraft den  Ursprung  der  Empfindung.  Die  Besonderheit 
der  einzelnen  Empfindung  ist  allerdings  auch  auf  diesem  Stand- 
punkt nicht  zu  begründen:  aus  dem  empirischen  Bewußtsein  nicht, 
weil  dieses  nicht  weiß,  wie  es  dazu  kommt;  durch  Dinge  an  sich 
nicht,  weil  diese  überhaupt  nicht  gedacht  werden  können;  durch 
die  Vereinigung  von  beiden  erst  recht  nicht.  So  bleibt  nur  übrig, 
sie  als  eine  absolute  Urposition  zu  betrachten  und  als  das  Produkt 
einer  vollkommen  freien,  grundlosen  Handlung  anzusehen,  deren 
Ursprung  in  dem  überindividuellen  Ich  zu  suchen  ist. 

Diese  Lehre  Fichtes  hat,  recht  verstanden  und  von  den  Formeln 
der  Wissenschaftslehre  befreit,  eine  enorme  Tragweite.  Ihr  tiefster 
Gehalt  ist  der,  daß  alles  Bewußtsein  sekundärer  Natur  ist  und 
auf  ein  Bewußtloses  hinweist,  welches  ihm  den  Inhalt  gibt.  Alle 
Versuche  des  Rationalismus,  aus  dem  Wesen  des  Bewußtseins, 
aus  seinen  Formen  und  Gesetzen  auch  den  Inhalt  des  Denkens 
herauszuklauben,  werden  hier  an  einer  noch  viel  tieferen  Wurzel 
abgeschnitten  als  bei  Kant.  Das  empirische  Bewußtsein  ist  nur 
möglich,  wenn  sein  Inhalt  gegeben  ist.  Der  Empirismus  war 
schnell  mit  der  Behauptung  bereit,  daß  es  eben  die  Dinge  an 
sich  seien,  von  denen  dieser  Inhalt  des  Bewußtseins  stamme.  Aber 
die  Kantische  Kritik,  wie  Fichte  sie  auffaßt,  hat  die  Möglichkeit 
dieser  Erklärung  vernichtet.  Auch  Dinge  an  sich  sind  Vor- 
stellungen. Deshalb  sieht  Fichte  den  einzigen  Ausweg  für  die  Er- 
klärung des  gegebenen  Bewußtseinsinhaltes  darin,  daß  dieser  aus 
einem  Vorstellen  höherer  Art,  einem  freien  unbewußten  Vorstellen 
herstamme.  Zum  zweiten  Male  wird  hier  in  der  deutschen  Philo- 
sophie der  Begriff  einer  unbewußten  Vorstellungstätigkeit 


ThoorotiHcheH  Ich.  226 

ontdorkt,  abor  mit  pjanz  andormi  Sinno  inid  in  panz  anderem  Zn- 
samfnonhan^o  als  bei  Leibniz.  Dort  handelte  eH  Hich  (und  Mai- 
mon  hatte  diesen  Gedanken  innerhalb  deHKritizismiisernenert)umdie 
♦illmähbehe  Abnahi\)e  (Ut  I5ewiißts*^insener<^Me  bis  zu  verschwindend 
kleiner  Größe,  liier  ist  es  eine  toto  coelo  verschiedene  Funktion, 
als  welche  das  unbewußte  dem  bewußten  Vorstellen  j^e;^'eniiber- 
tritt.  Jenes  ist  grundlos  und  frei,  dieses  ist  begründet  und  not- 
wendig; jenes  ist  ursprünglich  und  originell,  dieses  ist  abgeleitet 
und  abbildlich.  Damit  rundet  sich  die  idealistische  Erkenntnis- 
theorie zu  dem  geschlossensten  System  ab',  das  sie  je  gefunden 
hat  und  finden  kann.  Was  das  naive  Bewußtsein  als  eine  fremde 
Welt  von  Dingen  an  sich  ansieht,  ist  das  Produkt  einer  unbe- 
wußten Vorstelhingstiitigkeit,  welche  als  die  ursprünglichste 
theoretische  Funktion  allem  empirischen  Bewußtsein  zugrunde 
liegt. 

Ist  so  die  Empfindung  als  allgemeine  Funktion  aus  dem  über- 
individuellen Ich  deduziert  worden,  so  enthält  sie  einen  Wider- 
spruch im  Wesen  des  Ich  und  damit  eine  Aufgabe,  welche  die 
Reihe  der  notwendigen  Formen  bedingt,  in  denen  sich  die  theo- 
retische Vernunft  entwickelt.  Bei  der  Konstruktion  dieser  Reihe, 
welche  im  wesentlichen  darauf  hinausläuft,  alle  die  Vernunft- 
formen darzustellen,  die  Kants  Erkenntnistheorie  analysiert  hatte, 
bewegt  sich  Fichte  mehr  oder  minder  ausgesprochen  in  einem 
räumlichen,  teilweise  an  optische  Verhältnisse  erinnernden  Bilde. 
Die  an  sich  unendliche  Tätigkeit  des  Ich  setzt  sich  durch  die 
freien  Handlungen  der  produktiven  Einbildungskraft  überall 
Schranken.  Aber  sie  ist  infolgedessen  bei  jeder  solchen  Handlung 
begrenzt  und  unbegrenzt  zugleich,  und  sie  kann  das  nur  dadurch 
sein,  daß  sie,  indem  sie  sich  diese  Schranke  setzt,  zugleich  auch 
darüber  wieder  hinausgeht.  Dies  Darüberhinausgehen  aber  ist 
selbst  nur  wieder  eine  Tätigkeit  des  Ich,  also  ein  Vorstellen,  und 
muß  darin  bestehen,  daß  das  Ich  sich  die  Schranke,  welche  es 
sich  selbst  gesetzt  hat,  zum  Objekt  des  Bewußtseins  macht.  Die 
Reflexion  auf  die  Empfindung  ist  die  »Anschauung«,  in  der  eben 
deshalb  die  Empfindung  als  ein  dem  Bewußtsein  Fremdes,  Äußer- 
liches und  Gegebenes  erscheint,  und  dieser  Prozeß  wiederholt  sich 
immer  wieder.  Über  die  Anschauung  hinaus  geht  die  Tätigkeit 
des  Ich  zu  der  »Einbildungskraft«   über:  hier  wird  der  Inhalt  der 

Windelband,  Gesch.  d.  n.  Philos.    U.  lÖ 


w^ 


226  Fichte. 

Anschauung  als  ein  Bild  mit  der  synthetischen  Anordnung  seiner 
Bestandteile  betrachtet,  welche  durch  die  Kategorien  bestimmt 
wird.  So  erscheinen  bei  Fichte  die  Kategorien  und  mit  ihnen 
auch  die  sinnlichen  Formen  von  Raum  und  Zeit  als  Funktionen 
der  Einbildungskraft,  die  bei  Kant  die  Beziehung  beider  vermittelt 
hatte.  Aber  auch  über  das  Bild  hinaus  muß  das  Ich  seine  Tätig- 
keit entwickeln,  indem  es  als  »Verstand«  das  Bild  für  einen 
realen  Gegenstand  erklärt,  der  die  Ursache  der  Empfindungstätigkeit 
enthalte.  Deshalb  stellt  sich  bei  Fichte  die  Kategorie  der  Kau- 
salität als  Grundform  der  Verstandestätigkeit  dar.  Diese  Ver- 
standesreflexion aber  weist  ihrerseits  auf  die  Fähigkeit  des  Be- 
wußtseins zurück,  sich  seinem  eigenen  Inhalte  in  freier  Abstraktion 
gegenüberzustellen,  und  wenn  diese  Fähigkeit  die  »Urteilskraft« 
genannt  wird,  so  wurzelt  sie  wieder  in  jenem  allgemeinsten  Ver- 
mögen, mit  dem  das  Ich  über  jede  beliebige  Schranke  hinaus- 
gehen, sie  in  der  Abstraktion  fixieren  und  auf  sie  als  sein  eigenes 
Objekt  reflektieren  karm.  Indem  Fichte  dieses  allgemeinste  Ver- 
mögen im  engeren  Sinne  als  »Vernunft«  bezeichnet  und  dabei 
auf  den  Kantischen  Wortgebrauch  zurückweist,  betrachtet  er  da- 
mit die  theoretische  Reihe  der  Handlungen  des  Ich  als  ge- 
schlossen; denn  als  der  tiefste  Grund  aller  dieser  Funktionen  ist 
dieselbe  allgemeine  Tätigkeit  gefunden  worden,  die  anfänglich  das 
Problem  bildete.  Damit  aber  ist  zugleich  erkannt,  daß  die  theo- 
retische Wissenschaftslehre  zwar  ein  in  sich  vollständig  geschlossenes 
System  bildet,  aber  ein  Grundproblem  enthält,  welches  sie  selbst 
zu  lösen  nicht  imstande  ist. 

Es  ist  keine  Frage,  daß  die  Konstruktion,  deren  Grundzüge 
hier  nur  angedeutet  wurden,  neben  den  vielen  geistreichen  Wen- 
dungen und  feinen  Beobachtungen,  welche  sie  enthält,  im  ganzen 
doch  durchaus  künstlich  und  zum  Teil  überaus  willkürlich  ist. 
In  dem  Aufbau  der  Vernunftformen  spielen  dabei  namentlich  die 
Kategorien  die  sonderbare  Rolle,  daß  sie  an  verschiedenen  Punkten 
wiederkehren,  und  daß  somit  ihre  völlig  systematische  Ableitung 
nicht  als  gelungen  betrachtet  werden  kann.  Es  kommt  hinzu, 
daß  das  Grundprinzip,  wonach  jede  der  deduzierten  Handlungen 
erst  durch  das  System  der  folgenden  begründet  erscheinen  soll, 
zwar  eine  gewisse  Berechtigung  dafür  gibt,  daß  die  späteren  Funk- 
tionen  unvermerkt   schon    in  den  früheren  mitspielen,    daß  aber 


PraktiHrhcH  Ich.  227 

dadurch  v'm  DurcheinanderKcliillcrn  ullor  dieser  Tätipkriton  zu- 
wep;o  gebracht  wird,  welches  pe^en  die  Bor^samo  Scheidung,  die 
Mch  Kant  überall  zur  Auf^nibe  gemacht  hutU;,  wenig  vorteilhaft 
wirkt.  Es  zeigt  sich  scliun  hier%  die  (iofährlichkeit  des  dialek- 
tischen Prinzips,  wonach  die  verschiedenen  Funktionen  unter  der 
treibenden  Macht  einer  gemeinsamen  Aufi^abc  auseinander  hervor- 
gehen  und  ineinander  umschlagen  sollen.  Aber  es  tritt  auf  der 
anderen  Seite  auch  die  ganze  Großartigkeit  des  Gedankens  her- 
vor, die  gesamten  Formen  der  Intelligenz  als  ein  System  aus  einem 
Guß  zu  begreifen  und  dessen  Grundaufgabe  in  allen  einzelnen 
Formen  wiederzuerkennen. 

Dies  ganze  System  enthält  also  nichts  als  die  Reihe  der  Hand- 
lungen, mit  denen  die  Vernunft  über  jede  selbstgesetzte  Schranke 
immer  wieder  hinausstrebt:  das  Wesen  der  theoretischen  Vernunft 
ist  diese  Bewegung,  sich  selbst  Grenzen  zu  setzen  und  diese  immer 
wieder  zu  überschreiten.  Sie  hängt  also  an  der  Empfindung  als 
der  ersten  grundlosen  und  deshalb  theoretisch  unbegi-eif liehen 
Schranke,  welche  das  Ich  sich  setzt.  Den  Gegensatz  der  unbe- 
schränkten und  der  beschränkten  Tätigkeit  findet  das  theoretische 
Ich  als  den  Grund  seiner  ganzen  Entwicklung  vor,  ohne  ihn  ver- 
stehen zu  können.  Jener  erste  Anstoß  für  die  Entwicklung  der 
ganzen  Reihe,  der  in  der  Empfindung  gesucht  werden  muß,  macht 
die  ganze  theoretische  Vernunft  erst  möglich  und  ist  deshalb  aus 
ihr  nicht  abzuleiten.  Die  theoretische  Vernunft  kann  keine  Rechen- 
schaft darüber  geben,  weshalb  das  Ich  seine  unendliche  Tätigkeit 
durch  die  freien  und  grundlosen  Handlungen  beschränkt  und  da- 
mit den  ganzen  Prozeß  veranlaßt,  der  von  da  aus  notwendig 
durch  alle  die  deduzierten  Formen  hindurch  sich  entwickelt.  Der 
Grund  dieses  Anstoßes  kann  deshalb  nur  darin  gesucht  werden, 
daß  das  Ich  seinem  tiefsten  Wesen  nach  praktischer  Natur  ist. 
Die  unendliche  Tätigkeit,  welche  das  reine  Ich  ausmacht,  würde 
inhaltlos  sein,  wenn  es  für  sie  nichts  zu  tun  gäbe.  Eine  Kraft 
kann  sich  nur  dadurch  wirksam  erweisen,  daß  sie  einen  Widerstand 
überwindet.  Eine  unendliche  Tätigkeit  ist  nur  dadurch  möglich, 
daß  es  immer  wieder  eine  Schranke  gibt,  welche  sie  zu  überwinden 
hat.  Um  daher  unendliche  Tätigkeit  zu  bleiben,  muß  das  Ich 
sich  Schranken  setzen,  die  es  zu  überwinden  hat.  Der  Anstoß 
für    die    ganze    theoretische    Reihe,     die    ursprünghche    Selbst- 

15* 


mmmmm 


228  Fichte. 

beschränkung  des  Ich  in  der  Empfindung,  geht  daraus  hervor,  daß 
das  Ich  eine  unendliche  Tätigkeit  sein  soll  und  als  solche  eines 
Widerstandes  bedarf,  um  sich  an  ihm  zu  entfalten.  Das  Ich  setzt 
sich  die  Schranke,  um  sie  zu  überwinden:  es  ist  theoretisch, 
um  praktisch  zu  sein. 

Den  tiefsten  Charakter  des  Ich  bildet  also  die  UnendHchkeit 
seiner  Funktion;  aber  es  ist  das  keine  Unendlichkeit  des  Seins, 
denn  das  wäre  eine  fertige  Unendlichkeit,  sondern  eine  Unend- 
lichkeit des  Tuns  und  des  Streben s.  Es  liegt  im  Wesen  der  un- 
endlichen Tätigkeit,  daß  sie  ihr  Ziel  nicht  erreichen  kann.  Sie 
wäre  nicht  mehr  unendlich,  sobald  das  Streben  erfüllt  wäre  und 
darin  sein  Ende  hätte.  Die  Tätigkeit  des  Ich  kann  daher  nur 
darin  bestehen,  daß  sie  notwendig  durch  die  Setzung  der  Schranken 
sich  immer  neue  Aufgaben  steckt  und  über  deren  Lösung  zu  neuen 
Aufgaben  fortschreitet.  Der  empirische  Wille  findet  den  Wider- 
stand, an  dem  er  sich  betätigen  soll,  im  Nichtich  vor:  das  un- 
endliche Streben  des  reinen  Ich  findet  keinen  Widerstand  vor  und 
muß  deshalb  selbst  ihn  sich  setzen.  Daher  seine  Selbstbeschränkung 
in  der  unbewußten  Vorstellung,  deren  Produkt  die'Hlmpfindung' 
und  das 'Nichtich  ist.  Auch  aus  der  praktischen  Vernunft  kann 
nicht  deduziert  werden,  weshalb  deren  einzelner  Inhalt  gerade 
so  und  nicht  anders  bestimmt  ist,  wie  er  im  Bewußtsein  als  ge- 
geben erscheint;  denn  es  sind^ freie,  grundlose  Tätigkeiten,  um 
welche  es  sich  dabei  handelt;  aber  es  läßt  sich  im  allgemeinen 
feststellen,  welches  der  Zweck  ist,  um  deswillen  alle  diese  grund- 
losen Akte  des  unbewußten  Vorstellens  geschehen,  aus  denen  die 
objektive  Welt  hervorgeht. 

Die  Grundbestimmungen  der  Wissenschaftslehre  sind  danach 
folgende.  Das  reine  oder  absolute  Ich  ist  die  unendliche,  nur  auf 
sich  selbst  gerichtete  Tätigkeit  (das  Tun  des  Tuns,  wie  es  Jacobi 
ausdrückte).  Diese  unendliche  Tätigkeit,  die  keinen  anderen  Gegen- 
stand hat  als  sich  selbst,  ist  aber  keine  Tatsache;  es  widerspricht 
ihrem  Begriffe,  fertig  zu  sein,  und  sie  existiert  daher  nur  als  un- 
endliches Streben  oder  Trieb.  Um  der  VerwirkHchung  dieses 
Triebes  willen  setzt  das  reine  Ich  durch  freie  Handlungen  sich 
selbst  Gegenstände,  an  denen  sich  besondere  endliche  Tätigkeiten 
entwickeln  können,  und  erzeugt  auf  diese  Weise  die  Welt  der  Vor- 
stellung  oder  die  objektive  Welt.     Der  Grund  der  Welt  also  ist 


Slaiulpunkt  der  LleutitUt.  229 

nicht  eine  Ursache,  die  sio  mit  Notwendigkeit  erzeugte,  wie  im 
Spiiiüzistischen  System,  somlern  ein  Zweck,  der  durch  Hie  ver- 
wirklicht werden  soll.  Dieser  Zweck  ist  die  Tätigkeit,  und  zwar 
die  Tätigkeit,  die  um  ihrer  selbst»  willen  und  nicht  zur  Herbei- 
führung irgend  anderer  Zwecke  da  sein  soll,  die  Tätigkeit  als 
Selbstzweck.  Das  reine  Ich  ist  also  nicht  gegeben,  sondern  viel- 
mehr aufgegeben.  Die  unendliche  Tätigkeit  ist  die  Aufgabe,  die 
selbst  niemals  erfüllt  wird,  und  um  derenwillen  alle  besonderen 
Tätigkeiten  mit  allen  ihren  Produkten,  d.  h.  mit  der  ganzen  ob- 
jektiven Welt  da  sind.  Die  Tätigkeit  als  Selbstzweck  ist  aber 
nichts  anderes  als  die  absolut  autonome,  nach  Kantischer  Be- 
stimmung die  sittliche  Tätigkeit.  Wie  der  kategorische  Im- 
perativ das  Gesetz  der  Gesetzmäßigkeit,  so  ist  das  unendliche 
Streben  der  Trieb,  Trieb  zu  sein,  der  nur  auf  sich  selbst  ge- 
richtete Trieb  oder  der  Selbstzweck.  Das  Sittengesetz  also, 
d.  h.  die  Forderung  eines  Handelns,  das  lediglich  sich  selbst  zum 
Zwecke  hat,  ist  der  die  Welt  erzeugende  Trieb  des  absoluten  Ich. 
Auf  diesem  ihren  Höhepunkte  zeigt  sich  nun  die  Fichtesche 
Lehre  zugleich  in  ihrer  ganzen  Abhängigkeit  mid  in  ihrer  ganzen 
Verschiedenheit  von  der  Kantischen.  Der  Primat  der  praktischen 
Vernunft  über  die  theoretische  ist  vollständig  durchgeführt:  die 
letztere  gilt  nur  noch  als  ein  Ausfluß  der  ersteren,  und  die  Um- 
legung des  metaphysischen  Standpunktes  aus  der  theoretischen 
in  die  praktische  Vernunft  ist  so  vollständig  vollzogen,  daß  die 
letztere  als  der  Urgrund  der  gesamten  Wirklichkeit  betrachtet 
wird.  Zugleich  aber  gilt  die  Analyse  der  notwendigen  Vernunft- 
tätigkeiten nicht  mehr  bloß  als  solche,  sondern  als  die  meta- 
physische Erkenntnis.  Die  Wissenschaftslehre  ist  nickt  nur  Er- 
kenntnistheorie, sondern  zugleich  Metaphysik,  weil  es  zu  ihren 
ersten  Prinzipien  gehört,  daß*Dinge  an  sich^  überhaupt  undenkbar 
sind,  und  daß  es  nichts  weiter  geben  kann,  als  die  Vernunft  und 
ihre  notwendigen  Produkte.  Geht  man  von  der  landläufigen  Be- 
trachtungsweise aus,  \velche  Denken  und  Sein  einander  gegen- 
überstellt, so  lehrt  diese  Konsequenz  des  transzendentalen  Idealis- 
mus die  absolute  Identität  des  Seins  mit  den  notwendigen 
Handlungen  der  Vernunft,  und  in  diesem  Sinne  pflegt  die  von 
Fichte  begonnene  Kichtung  als  Identitätsphilosophie  be- 
zeichnet  zu  werden.     Sie   charakterisiert   sich   in  bezuo;   auf   die 


230  Fichte. 

philosophischen  Disziplinen  durch  die  Identifizierung  von  Logik 
und  Metaphysik  und  hat  in  dieser  Hinsicht  ihre  Wurzeln  in 
Kants  transzendentaler  Logik  insofern,  als  schon  in  dieser  die 
synthetischen  Formen  der  Denktätigkeit  als  die  bestimmenden 
Gesetze  der  objektiven  Welt  erkannt  wurden.  Die  Restriktion 
jedoch,  welche  Kant  durch  seine  Lehre  vomtDing  an  sich  gemacht 
hatte,  fiel  schon  bei  Fichte  fort,  und  aus  der  Metaphysik  der 
Erscheinungen  wurde  wieder  eine  absolute  Metaphysik.  Diese 
Umänderung  kam  sogleich  an  der  Behandlung  desjenigen  Be- 
griffes zutage,  der  bei  Kant  das  Kriterium  für  die  Möglichkeit 
einer  absoluten  Metaphysik  gebildet  hatte,  der  intellektuellen 
Anschauung.  Mit  diesem  Ausdruck  hatte  Kant  den  höchsten 
Grenzbegriff  seiner  »Metaphysik  des  Wissens«  bezeichnet:  die  An- 
nahme eines  schöpferischen  Geistes,  der  mit  den  Formen  seines 
Denkens  zugleich  auch  deren  Inhalt,  die  Noumena,  die  Dinge  an 
sich  erzeugt.  Diese  Bedeutung  des  Begriffs  wurde  für  Fichte  mit 
dem  des  Dinges  an  sich  gegenstandslos  und  hinfällig.  Er  ver- 
stand vielmehr  unter  intellektueller  Anschauung  nur  die  sich 
selbst  und  ihren  Tätigkeiten  zuschauende  Funktion  des  Intellekts, 
worin  eben  für  ihn  das  ganze  Geschäft  der  Wissenschaftslehre 
bestand.  Aber  eben  diese  Selbstanschauuno  des  Bewußtseins 
sollte  nun  in  sich  jene  grundlos  freien,  aus  der  praktischen  Auf- 
gabe des  Ich  stammenden  Handlungen  der  Empfindung  entdecken, 
deren  Inhalt  den  Bestand  der  empirischen  Wirklichkeit  ausmacht. 
So  unbegreiflich  der  Inhalt  dieser  Urtätigkeit  des  theoretischen 
Ich  blieb,  so  deutlich  lag  der  Sinn  und  der  Zweck  der  Tätigkeit 
selbst  vor  jener  Selbstanschauung  da.  Und  damit  wurde  die 
Reflexion,  womit  in  der  Wissenschaftslehre  das  philosophierende 
Bewußtsein  sich  selbst  zuschaut,  zu  einem  Verständnis  des  Zu- 
sammenhanges der  Dinge,  das  an  die  Stelle  derjenigen  Unter- 
suchungen trat,  welche  man  früher  als  Metaphysik  im  dogmatischen 
Sinne  getrieben  hatte.  Doch  darf  dabei  nicht  übersehen  werden, 
daß  diese  auf  der  intellektuellen  Selbstanschauung  des  Ich  be- 
gründete Metaphysik  zu  ihrem  Inhalte  schließlich  auch  eben  nur, 
genau  wie  die  Kantische  Vernunftkritik,  das  System  der  Ver- 
nunftformen  hat:  Fichte  hat  niemals  verkannt,  mit  der  Zeit  aber 
immer  mehr  betont,  daß  seine  idealistische  Deduktion  bis  zu  den 
besonderen  Inhalten  der  Empfindung  und  Erfahrung  nicht  hinab- 


Dua  Sollen.  2'\\ 

reich(Mi  kcinnc.  Wenn  or  einmal  im  »Naturrecht«  so  weit  ^'ing, 
das  organisiho  Leben  als  Mittel  für  die  sitt liehe  Pflichterfüllung 
zu  konstruieren ,  so  hat  er  sehr  bald  danaeh  um  ho  deutlicher 
darauf  lnn»^ewiesen ,  daß  aller  l)e}*on(lei(^  Inhalt  der  Wirklichkeit 
nach  seinem  Sein  wie  nach  seinem  Werte  niemals  aus  den  all- 
<;emeincn  Formen  der  Vernunft  zu  bestimmen,  sondern  immer 
nur  zu  er_ltiben  sei. 

Das  reine' Icli,  welches  den  letzten  Punkt  dieser  ganzen  Kon- 
struktion der  Vernunftformen  bildet,  ist  also  kein  Sein,  sondern 
eine  Tätigkeit  und  nicht  einmal  eine  wirkliche  Tätigkeit,  sondern 
die  Aufgabe  einer  solchen.  Der  letzte  Grund  aller  Wirklichkeit 
liegt  im  Sollen.  Das  Ich  soll  unendlich  tätig  sein.  Darum  er- 
zeugt es  die  Welt  seiner  Vorstellungen  als  das  Objekt  für  diese 
Tätigkeit.  Das  praktische  Ich  ist  der  Trieb  zum  Handeln.  In 
dem  einzelnen  empirischen  Ich  ist  somit  das  Sittengesetz  nur  das 
Bewußtsein  davon,  daß  das  Ich  reines  Ich,  d.  h.  unendliche,  auf 
sich  selbst  gerichtete  Tätigkeit  sein  soll  und  es  nicht  ist.  Aus 
diesem  Widerspruche  geht  in  ewiger  Erzeugung  die  wirkliche  Welt 
hervor.  Nicht  aus  dem  Bewußtsein  der  wirklichen  Welt  ist  das 
Bedürfnis  des  Handelns  abzuleiten,  denn  sonst  wäre  es  heteronom 
und  imsittlich:  sondern  umgekehrt  der  Trieb  zur  Tätiokeit  schafft 
die  wirkliche  Welt.  Er  schafft  sie  nur  als  ein  Objekt  der  Tätig- 
keit: die^Natur^hat  Sinn  nur  als  Material  unserer  Pflichterfüllung. 
Deshalb  gibt  es  für  die  Fichtesche  Lehre  keine  Naturphilosophie 
im  sonstigen  Sinne  des  Wortes.  Er  hätte  sie  nicht  geben  können, 
weil  ihm,  wie  es  scheint,  bei  der  Einseitigkeit  seiner  Jugend- 
bildung genaue  und  spezielle  naturwissenschaftliche  Kenntnisse 
mangelten.  Aber  die  Prinzipien  seiner  Philo3ophie  erlaubten  sie 
ihm  gar  nicht.  Als  einen  in  sich  bestehenden  ^ausalmechanismus 
konnte  die  Wissenschaftslehre  die  Natur  nicht  betrachten.  Von 
einer '^immanenten  Zweckmäßigkeit  der  Natur  zu  sprechen,  war 
Fichte  ein  Greuel.  Seine  teleologische  Natuiauffassung  besteht 
nur  darin,  daß  er  deduzieren  will,  die  Natur,  wie  sie  da  ist,  habe 
erzeugt  werden  müssen,  um  als  ein  Widerstand  die  Verwirk- 
lichung der  sittlichen  Aufgabe  möglich  zu  machen.  So  überträot 
sich  auch  in  Fichtes  Naturauffassung  der  Widerspruch,  bei  dem 
Kant  stehen  geblieben  war.  Beiden  Denkern  gilt  das  natürliche 
Wesen  und  vor  allem  das  dazu  gehörige  sinnliche  Trieblebeu  des 


i 


232  Fichte. 

Menschen  als  etwas  dem  Sittengesetze  Widerstrebendes  und  seine 
Erfüllung  Hemmendes.  Aber  beiden  erscheint  doch  anderseits 
dieses  selbe  natürliche  Wesen  notwendig,  um  das  sittliche  Handeln 
überhaupt  zur  Entfaltung  zu  bringen,  und  beide  betrachten  des- 
halb diesen  Widerstand  als  einen  für  die  sittliche  Aufgabe  zweck- 
mäßig eingerichteten,  der  ihre  Erfüllung  nicht  nur  hemmt,  sondern 
vielmehr  anderseits  nur  um  ihretwillen  da  ist  und  durch  sie  in 
seinem  ganzen  Wesen  bestimmt  wird.  Eben  deshalb  ist  dje_Welt 
für  Fichte  der^gesetzte  Widerspruch 'und  die  Dialektik  die  Methode 
ihrer  Erkenntnis. 

In  der  besonderen  Ausführung  der  praktischen  Philosophie 
(System  der  Sittenlehre  1798)  geht  somit  auch  Fichte  von  dem 
Gegensatz  des  Sinnlichen  und  des  Sittlichen  oder  des  sinnHchen 
imd  des  reinen  Triebes  aus,  und  dieser  Gegensatz  bestimmt  für 
ihn  auch  die  Auffassung  dessen,  was  Kant  das  "^Radikalböse  in 
der  menschHchen  Natur  genannt  hat.  Wie  der  eigene  rastlos 
tätige  Charakter  imd  das  titanische  Streben,  welche  das  Wesen 
von  Fichtes  Persönlichkeit  ausmachen,  sich  positiv  darin  kund- 
geben, daß  für  ihn  das  sittliche  Handeln  die  Tätigkeit  ist,  die 
nur  um  der  Tätigkeit  willen  geschieht,  so  kommen  sie  negativ 
darin  zutage,  daß  für  ihn  das  radikale  Übel  der  menschlichen 
Natur  in  der  Trägheit  besteht.  Der  sinnliche  Trieb  geht  auf 
die  Behaglichkeit,  auf  die  Euhe  und  den  Genuß,  er  ist  die  Schlaff- 
heit des  Fleisches.  Der  sittliche  Trieb  geht  auf  die  Arbeit,  auf 
das  immer  neue  Ringen  und  Kämpfen.  Wer  da  handelt,  um  sich 
des  Fertigen  zu  freuen,  der  handelt  heteronomisch  und  imsittlich. 
Nur  der  ist  der  sittliche  Mensch,  der  eine  Aufgabe  erfüllt  zu  dem 
Zweck,  um  in  ihrer  Lösung  eine  höhere  Aufgabe  zu  finden.  Wie 
das  ewige  Soll  den  Urgrund  aller  Wirklichkeit  bildet,  so  verlangt 
auch  das  Sittengesetz,  daß  jede  menschliche  Handlung  auf  ein 
Ideal  gerichtet  sei,  das,  niemals  vollkommen  erreichbar,  doch  jede 
besondere  Aufgabe  des  Lebens  zu  bestimmen  hat. 

In  der  Formulierung  dieser  Aufgabe  überschreitet  Fichte  den 
subjektiven  Standpunkt  der  Kantischen  Moral  dadurch,  daß  er 
noch  energischer  als  dieser  die  Stellung  des  Menschen  als  eines 
Gliedes  der  sittlichen  Weltordnung  ins  Auge  faßt.  Er  deduziert, 
daß  die  Verwirklichung  des  sittlichen  Endzwecks  die  VieDieit  der 
endlichen  Ich,  der  empirischen  Persönlichkeiten  notwendig  mache. 


Kthik  und  llochtHlehre.  283 

Aber  auch  diese  Vielheit  ist  nicht  als  ein  Aggregat  oder  als  eine 
Masse,  sondern  als  ein  System  zu  denken,  und  sie  kann  dies  nur 
dadurch  sein,  daß  in  dem  großen  Plane  der  Erfüllung  des  sitt- 
lichen Zwecks  jedem  einzelnen  Igli  eine  besondere  Bestimmung 
zugewiesen  ist.  Diese  seine  Bestimmung  hat  das  Individuum  aus 
seiner  empirischen  Existenz  und  aus  seinem  sittlichen  Bewußtsein 
zu  erkennen  und  sie  als  oberste  Maxime  allen  seinen  Lebenstätig- 
keiten zugrunde  zu  legen.  Seiner  Stellung  in  dem  Reiche  ver- 
nünftiger Wesen  macht  sich  der  Mensch  nur  dadurch  würdig,  daß 
er  mit  dieser  seiner  Bestimmung  all  sein  Denken,  Wollen  und 
Handeln  durchleuchtet,  daß  er  sich  ihrer  in  jedem  Augenblicke 
bewußt  bleibt  und  aus  ihr  heraus  sein  ganzes  Leben  gestaltet. 
Er  weiß  sich  eben  dadurch  als  ein  Glied  der  gesamten  sitthchen 
Weltordnung  und  findet  seinen  Wert  darin,  sie  an  seinem  Teile 
zu  verwirklichen.  Er  denkt  nicht  an  sich,  er  lebt  für  das  Ganze, 
für  die  Gattung:  er  opfert  sich  und  seine  Glücksehgke^t  dem 
Ideal  seiner  Aufgabe,  die  in  der  sittlichen  Gemeinschaft  der  Gat- 
tung wurzelt.  Für  Fichte  nimmt  daher  der  kategorische  Impe- 
rativ die  inhalthche  Form  an:  Handle  stets  nach  deiner  Bestim- 
mung. Deshalb  war  er  imstande,  in  viel  tieferer  Weise  als  Kant 
die  sitthche  Bedeutung  der  wirklichen  Lebensverhältnisse,  vor 
allem  z.  B.  der  Ehe,  aufzufassen  und  viel  inniger  die  großen  In- 
stitutionen der  menschlichen  Gesellschaft  in  ihrem  ethischen  Werte 
zu  begreifen. 

In  hervorragender  Weise  hat  sich  diese  hohe  sittliche  Lebens- 
auffassung bei  Fichte  selbst  in  der  Umwandlung  seiner  Auffassung 
vom  Wesen  des  Staates  betätigt.  Als  er  seine  »Grundlage  des 
Naturrechts«  (1796)  herausgab,  stand  er  noch  völlig  imter  der 
äußerlichen  Auffassung  des  XVIII.  Jahrhunderts.  Er  konstruierte 
zwar  hier  aus  dem  Prinzip  der  Wissenschaftslehre  die  Vielheit 
der  leibhch  organisierten  PersönUchkeiten  und  fand,  daß  in  deren 
äußerem  Zusammenleben  die  Freiheit  jeder  einzelnen  durch  die- 
jenige aller  anderen  eingeschränkt  werden  müsse.  Aber  wenn  er 
den.  Staat  als  das  Mittel  dazu  betrachtete,  so  bezog  er  dessen 
Funktionen  eben  nur  auf  den  äußeren  Zusammenhang  und  nicht 
auf  sittliche  Zwecke.  Im  besonderen  stellte  er  sich  ganz  auf  den 
Rousseauschen  Standpunkt  des  Staatsvertrages  und  der  Volks- 
souveränität,   fand    jedoch,     daß    die    letztere    nicht    in    einer 


234  Fichte. 

demokratischen  Verfassung  zum  Ausdruck  komme,  sondern  ver- 
langte, daß  die  monarchische  Exekutive  in  ihrer  Ausführung  des  allein 
gesetzgebenden  Volkswillens  durch  ein  Ephorat  kontrolliert  werden 
solle.  Im  wesentlichen  faßte  er  damals  den  Staat  von  seiner 
polizeilichen  Seite  und  als  eine  Kegulierungsmaschine  für  die  ge- 
sellschaftlichen Assoziationen  auf.  Für  sein  nationales  Wesen 
zeigt  Fichte  um  diese  Zeit  bei  einer  ausgesprochenen  Hinneigung 
zu  kosmopolitischen  Vorstellungen  keinerlei  Verständnis.  Von 
einer  Andeutung  ethischer  Aufgaben  des  Staates  finden  sich  nur 
einzelne  Spuren.  Dazu  gehört  seine  Theorie  des  Strafrechts, 
welches  er  auf  einen  Abbüßungsvertrag  gründet,  vermöge  dessen 
der  Schuldige,  um  der  durch  die  Verletzung  der  Staatsgesetze 
verwirkten  Ausschheßung  zu  entgehen,  eine  Buße  freiwillig  über- 
nähme, deren  Charakter  auf  seine  eigene  Besserung  und  auf  die 
Abschreckung  der  übrigen  berechnet  sein  müsse.  Ähnlich  ver- 
hält es  sich  auch  mit  Fichtes  Verlangen,  daß  der  Staat  die  Pflicht 
habe,  jedem  seiner  Bürger  das  sittliche  Grundrecht,  von  seiner 
Arbeit  leben  zu  können,  vollauf  zu  gewährleisten.  Diesem  Grund- 
gedanken des  Sozialismus  hat  Fichte  eine  genaue  und  höchst  inter- 
essante Ausführung  in  dem  »Geschlossenen  Handelsstaat«  (1800) 
gegeben.  Er  entwickelt  hier,  jenes  Verlangen  sei  nur  dadurch  zu 
erfüllen,  daß  der  Staat  nicht  den  Naturmechanismus  der  Kon- 
kurrenz walten  lasse,  sondern  die  gesamte  Organisation  der  Arbeit 
in  seine  Hand  nehme,  daß  er  deshalb  jedem  Bürger  seine  Arbeits- 
tätigkeit anweise  und  ihm  den  Lohn  dafür  in  dem  entsprechenden 
Mitgenuß  an  dem  Gesamterwerbe  des  Staates  zukommen  lasse. 
Diese  Organisation  aber  setzt  voraus,  daß  der  Staat  selbst  alle 
Einfuhr  und  Ausfuhr,  d.  h.  allen  Handel  mit  anderen  Staaten 
in  die  eigene  Hand  nimmt.  So  entwarf  Fichte  mit  seiner  rück- 
sichtslosen Konsequenz  von  jenem  Prinzip  aus  eines  der  frühesten 
und  interessantesten  Bilder  des  sozialistischen  Staatsideals.  Aber 
damit  schon  hörte  der  Staat  für  ihn  auf,  ein  bloßes  Polizeünstitut 
zu  sein  und  wurde  ihm  vielmehr  ein  gesellschaftlicher  Organismus. 
Noch  weiter  aber  gestaltete  sich  seine  Auffassimg  um,  als  der 
Umsturz  der  Polizeistaaten  in  den  Napoleonischen  Kriegen  dem 
Gedanken  einer  sittlichen  Neubegründung  des  politischen  Lebens 
Raum  und  Veranlassung  gab.  Je  mehr  dieser  letzte  Versuch,  ein 
kosmopolitisches  Reich  zu  gründen,   den  Charakter  einer  franzö- 


Reden  un  die  deutsche  Nation.  2)^5 

sischon  Erobcnmjrspolitik  an  sich  trug,  um  so  energischer  wurde 
gerade  dadurch  das  lange  sclilummcrnde  Nationalgefühl  der 
Deutschon  geweckt.  Jndoni  Fichte  von  diesen  Bestrebungen  be- 
rührt wurde,  mußte  er  sie  sogleifh  auf  seinen  ethischen  Grund- 
gedanken beziehen  und  dem  Probleme  nachgehen,  ob  nicht  ebenso 
wie  den  einzelnen  Persönlichkeiten,  auch  den  einzelnen  Nationali- 
täten in  dem  großen  Weltplan  eine  besondere  Bcietimmung '  zu- 
"Eomme,  in  der  niil  der  Pflicht,  sie  zu  erfüllen,  auch  das  sitt- 
liche Recht  ihrer  politischen  Selbständigkeit  beruhe.  Diesen  Ge- 
danken verfolgte  er  dann  mit  lebhafter  Energie,  und  in  der 
konstruktiven  Weise,  die  ihm  eigen  war,  deduzierte  er  in  den 
Reden  an  die  deutsche  Nation  für  diese  eine  so  gewaltige  und 
hohe  Kulturbestimmung,  daß  sie  fast  allein  neben  den  Einseitig- 
keiten der  übrigen  Nationen  zur  Erfüllung  des  Ideals  der  Humanität 
berufen  erschien.  Was  sich  in  dieser  Überschwenglichkeit  von 
Fichtes  Nationalenthusiasmus  ausspricht,  ist  das  Selbstgefühl  der 
Nation,  die  in  ihren  großen  Dichtungen  diesem  Ideal  so  nahe 
gekommen  war.  Es  ist  zugleich  der  radikale,  immer  gleich  bis 
an  die  äußersten  Grenzen  gehende  Charakter  seines  Denkens, 
welcher  Fichte  zu  der  Überzeugung  führt,  daß  allein  aus  der 
Regeneration  des  deutschen  Volkes  das  Heil  für  die  gesamten 
verfahrenen  Zustände  des  Zeitalters  erhofft  werden  könne.  So 
betrachtet  er  die  Selbstbefreiung  des  deutschen  Geistes  als  eine 
Pflicht,  welche  die  Nation  im  Hinblick  auf  ihre  Bestimmung  zu 
erfüllen  hat.  Aber  die  Deutschen  besitzen  keine  politische  Natio- 
nalität, sie  müssen  sie  erst  erwerben.  Nicht  durch  eine  äußere 
Macht,  sondern  nur  durch  eine  sitthche  Überzeugung  kann  der 
deutsche  Nationalstaat  gegründet  werden.  Diese  Überzeugung 
muß  also  geweckt  werden,  imd  die  Aufgabe  der  bestehenden 
Generation  kann  nur  die  sein,  durch  eine  nationale  Erziehung 
den  Boden  für  die  Zukunft  zu  bereiten.  Das  einzige  Mittel,  die 
Freiheit  wieder  zu  gewinnen,  liegt  in  der  Befestigung  der  sitt- 
lichen Überzeugung  und  in  der  Begründung  einer  gemeinsamen 
Bildung.  Diese  allgemeine  Tendenz  der  »Reden«  ist  wertvoller 
als  vielleicht  die  einzelnen  Vorschläge,  die  zum  Teil  auf  Lehren 
Rousseaus,  Pestalozzis  und  des  Philanthropinismus  zurückweisen. 
Die  Nation  soll  zum  Pflichtbewußtsein  erzogen  werden:  das  ist 
das   Alpha    und   Omega    der   Ficht^schen   Predigt.      Es    ist    ein 


236  Fichte. 

unvergeßliches  Verdienst,  daß  Fichte  diese  großen  und  bleibenden 
Wahrheiten  mit  seinem  feurigen  Wort  den  Zeitgenossen  ins  Herz 
geredet  hat.  Die  »Reden«  haben  nicht  zum  wenigsten  die  Be- 
geisterung jener  Freiheitskämpfer  entflammt,  welche  wenige  Jahre 
darauf  auszogen,  um  für  die  Neugründung  der  deutschen  Natio- 
nalität freilich  nur  den  ersten  Kampf  auszukämpfen.  Auf  ihren 
Fahnen  stand  in  der  Tat  der  kategorische  Imperativ.  Der  große 
Korse  mochte  meinen,  daß  er  den  »Ideologen«  ruhig  in  Berlin 
seine  Vorträge  halten  lassen  könne.  Aber  in  der  geistigen  Schlacht, 
die  entbrannte,  war  es  in  erster  Linie  der  sittliche  Mut  der 
Kantischen  und  Fichteschen  Philosophie,  welcher  dem  Genius 
Bonapartes  die  Stirne  bot. 

So  überzeugte  sich  denn  Fichte,  daß  der  Staat  selbst  eines 
der  höchsten  sittlichen  Güter  sei,  und  daß  er  anderseits  wertvolle 
sittliche  Aufgaben  zu  erfüllen  habe.  Denn  von  einer  nationalen 
Erziehung  kann  zuletzt  nur  in  dem  Falle  die  Rede  sein,  daß  der 
Staat  selbst  die  Erziehung  in  die  Hand  nimmt,  und  daß  er  sich 
zum  alleinigen  Herrn  darüber  macht.  Deshalb  stellte  Fichte  in 
seiner  späteren  Zeit  eine  der  Platonischen  sehr  nahe  kommende 
Forderung  von  dem  absoluten  Erziehungsrecht  und  der  absoluten 
Erziehungspflicht  des  Staates  auf,  und  wie  für  Piaton,  so  wurde 
konsequenterweise  auch  für  ihn  der  Stand,  welcher  die  Bildung 
trägt  imd  die  Erziehung  leitet,  nicht  nur  ein  integrierender,  son- 
dern geradezu  der  wichtigste  Bestandteil  der  Verfassung.  Seine 
»Vorlesungen  über  die  Bestimmung  des  Gelehrten«  (zuerst  Jena 
1794)  nahmen  bei  ihrer  Wiederholung  in  Erlangen  und  Berlin 
immer  mehr  die  Tendenz  an,  daß  die  höchste  Aufgabe  des  Ge- 
lehrten die  Leitung  des  Staates  sei.  Darin  drückte  sich  die 
Überzeugung  aus,  daß  der  Staat  kein  Mittel  zu  äußerlichem 
Rechts-  und  Eigentumsschutz,  sondern  vielmehr  eine  Organisation 
sein  solle,  in  der  ein  ganzes  Volk  mit  gemeinsamer  Hingebung 
an  seiner  geistigen  imd  sittlichen  Bildung  arbeite,  um  dadurch 
seiner  Bestimmung  in  der  Gesamtaufgabe  des  menschlichen  Ge- 
schlechts gerecht  zu  werden.  Fichte  hat  sich  durch  sein  ethisches 
Prinzip  zu  der  höchsten  und  edelsten  Auffassung  vom  Wesen  des 
Staates  emporgearbeitet,  wenn  er  sie  auch  nicht  spezifisch  wissen- 
schaftlich formulierte,  sondern  ihr  nur  einen  beredten  Ausdruck 
in  seinen  populären  Vorträgen  gab. 


GeRchichiHphilonophio.  237 

Dio  Tjchro  von  der  Bestimmung  der  einzelnen  Nationen  weißt 
aber  auf  eine  durch  einen  ^gemeinsamen  Plan  bestimmte  GcBamt- 
entwicklimi^'  des  menschlichen  (Geschlechts  hin  und  vollendet  sich 
deshalb  nur  in  einer  <T;eschichtÄj:>}iilosophischen  Auffassunp^.  Es 
^(^hört  zu  den  Eigcntiimlichki'iten  der  von  Kant  abhängigen 
Philosophie,  daß  unter  ihren  notwendigen  Bestandteilen  eine  Ge- 
schichtsphilosophie auftritt,  welche,  statt  wie  die  von  Herder  be- 
gründete Richtung  die  natürliche  Notwendigkeit,  ihrerseits  viel- 
mehr das  ethische  Ziel  des  historischen  Prozesses  als  den  ent- 
scheidenden Gesichtspunkt  betrachtet.  Fichte  zuerst  ist  dem 
Beispiel  Kants  gefolgt  und  hat  in  den  »Grundzügen  des  gegen- 
wärtigen Zeitalters«  (1806)  die  im  Titel  ausgedrückte  Aufgabe  so 
zu  lösen  gesucht,  daß  er  die  Stellung  der  Gegenwart  innerhalb 
der  Reihe  der  notwendigen  Entwicklungsperioden  des  Menschen- 
geschlechts fixieren  wollte.  Er  ist  sich  dabei  sehr  wohl  bewußt, 
daß  eine  solche  Trennung  der  »Zeitalter«  keine  absolute  ist,  daß 
diese  vielmehr,  namentlich  sofern  es  sich  rnn  die  besonderen 
Persönlichkeiten  handelt,  sich  vielfach  ineinanderschieben.  Eine 
philosophische  Geschichtskonstruktion  hat  selbstverständlich  nur 
den  allgemeinen  und  durchschnittlichen  Charakter  der  Zeiten  zu 
ihrem  Gegenstande.  Fichte  entwirft  sie  im  entschiedenen  An- 
schluß an  Kant  als  einen  Entwicklungsprozeß,  der  von  dem  Stande 
der  Unschuld  durch  die  Sünde  hindurch  bis  zur  vollendeten  Ver- 
nunftherrschaft führt.  Da  für  ihn  das  ganze  natürliche  Wesen 
als  ein  Produkt  des  Ich  gilt,  so  bezeichnet  er  den  paradiesischen 
Anfangszustand  als  denjenigen  des  »Vernunftinstinktes«,  in  welchem 
das  Vernünftige  bewußtlos  durch  den  natürlichen  Trieb  vollzogen 
wird.  Wenn  darauf  das  Vernunftgesetz  zum  Bewußtsein  kommen 
soll,  so  tritt  es  dem  Menschen  zunächst  als  ein  fremdes,  als  eine 
äußerhch  gebietende  Macht  entgegen.  Das  Gesetz  des  Ganzen  er- 
scheint als  »Autorität«  dem  Individuum  gegenüber,  als  Autorität, 
der  es  sich  zu  fügen  gewöhnt  ist,  und  gegen  die  es  doch  schon 
sich  aufzulehnen  vermag.  Auf  dieses  »Zeitalter  der  beginnenden 
Sündhaftigkeit«  folgt  durch  die  immer  fortschreitende  Abwerfung 
der  Autorität  die  vollkommene  Entfaltung  der  individuellen  Selb- 
ständigkeit. Aber  das  Individuum,  das  sich  gegen  die  Autorität 
aufgelehnt  hat,  findet  zunächst  nur  in  sich  selbst  den  Maßstab 
seines  Denkens  und  Tuns.    Der  Freiheit  ungewohnt,  verfällt  das 


238  Fichte. 

Geschlecht  der  Willkür,  der  Anarchie  und  dem  Egoismus,  der 
»vollendeten  Sündhaftigkeit«.  Erst  aus  dem  Elend  dieses  Zu- 
standes  heraus  beginnt  das  Individuum  seine  Freiheit  auf  das 
rechte  Ziel  zu  lenken  und  zunächst  seine  Erkenntnis  der  Gattungs- 
vernunft zu  unterwerfen.  Dieses  »Zeitalter  der  beginnenden  Ver- 
nünftigkeit« muß  dann  allmählich  in  das  letzte  überführen,  in 
die  »vollendete  Vernünftigkeit«  oder  die  »Vernunftkunst«,  in  der 
der  Wille  des  Individuums  seine  volle  und  wahre  Freiheit  durch 
bewußte  und  bedingungslose  Unterwerfung  unter  das  Sittengesetz 
findet  und  in  dem  Rahmen  des  allgemeinen  Vernunftlebens  seine 
darin  enthaltene  besondere  Bestimmung  erfüllt. 

Diese  Gedanken  sind  außerordentlich  tief  und  zu  gleicher  Zeit 
außerordentlich  charakteristisch  für  ihren  Urheber.  Sie  kenn- 
zeichnen das  historische  Leben  durch  das  Verhältnis  des  Indivi- 
duums zur  Gattung.  Sie  zeigen,  wie  die  Geschichte  damit  be- 
ginnt, daß  das  Individuum  sich  gegen  die  Gattung  auflehnt,  und 
darauf  hinleitet,  daß  es  aus  eigener  Einsicht  und  eigenem  Willen 
sich  der  Gattungsvernunft  unterordnet,  ohne  darum  seinen  per- 
sönlichen Eigenwert  preiszugeben.  Sie  berühren  jene  wunder- 
barste Tatsache,  daß  von  allen  Wesen,  die  wir  kennen,  der 
Mensch  auf  der  einen  Seite  das  zur  selbständigsten  Ausbildung 
der  Individualität  befähigte  und  zugleich  auf  der  andern  Seite 
das  am  meisten  durch  den  sozialen  Zusammenhang  der  Gattung 
bedingte  ist.  Sie  sind  um  so  interessanter,  als  Fichte  selbst 
eine  überaus  scharf  ausgeprägte,  ihre  Selbständigkeit  bis  auf 
die  äußerste  Grenze  festhaltende  Individuaütät  war,  und  als  es 
anderseits  gerade  in  ihm  die  bedingungslose  Unterwerfung  unter 
das  Sittengesetz  war,  welche  er  zum  innersten  Halt  seiner  Per- 
sönlichkeit machte.  Aber  diese  Gedanken  werfen  noch  weiter 
ein  überraschendes  Licht  um  sich.  Sie  zeigen  in  noch  schärferer 
Formulierung  die  überlegene  und  zugleich  vollendende  Stellung, 
welche  die  neue  Philosophie  zur  Aufklärung  einnimmt.  Denn 
jenes  dritte  Zeitalter,  dasjenige  der  autoritätslosen  Anarchie  und 
des  egoistischen  Glückseligkeitsbestrebens,  dies  »Zeitalter  der 
vollendeten  Sündhaftigkeit«  trägt  an  sich  alle  Züge  der  —  Auf- 
Gärung.  Ihr  dogmatisches  Freigeistertum,  ihr  flacher  Eudä- 
monismus  mit  seiner  Nützlichkeitstheorie,  ihre  ideallose  Selbst- 
gefälligkeit werden  von  Fichte  mit  schonungslos  einschneidender 


RcligionaphiloHOphio.  23!) 

Kritik  gebraiulniavkt,  luul  der  einzige  Woi-t,  den  er  diesem  f^e- 
fährlichen  Abschütteln  der  Autorität  zuerkennt,  ist  der,  daß  es 
scliließlich  doch  die  Vorbedinj^un<^  für  jenes  selbständige  Denken 
bildet,  wodurch  die  individuelle  V'ernunft  in  sich  die  höhere  Ge- 
setzgebung aufzufinden  vermag.  Von  der  Aufklärung,  wie  Kant 
und  Fichte  auf  sie  herabsehen,  gilt  das  Wort:  >>Es  sind  nicht 
alle  frei,  die  ihrer  Ketten  spotten  <<,  und  wenn  Fichte  in  seiner 
Zeit  die  ersten  Anfänge  für  das  Zeitalter  der  beginnenden  Ver- 
nünftigkeit sah,  so  fand  er  sie  nur  in  dem  Sinne,  daß  die  neue 
Philosophie  mit  dem  ganzen  sittlichen  Ernst  ihrer  Denkarbeit 
und  ihrer  Weltansicht  berufen  und  befähigt  sei,  das  Bewußtsein^ 
der  Gattungsvernunft  in  den  Individuen  zu  begründen  und  zu  ^ 
bekräftigen.  In  diesen  geschichtsphilosophischen  Fundamental- 
begriffen von  Kant  und  Fichte  liegt  die  tiefste  Selbsterkenntnis 
der  modernen  Denkbewegung.  Mit  der  Entfesselung  des  Indivi- 
duums, mit  der  Abwerfung  der  Autorität  beginnt  sie,  und  mit 
der  kritischen  Versenkung  in  die  menschliche  Gattungsvernunft 
und  deren  sittlichen  Grundcharakter  vollendet  sie  sich. 

Alle  moral-  und  geschichtsphilosophischen  Untersuchungen 
Fichtes  weisen  durch  den  teleologischen  Grundbegriff  der  »Be- 
stimmung« auf  eine  sittliche  Weltordnung  hin,  und  deren 
Begriff  kann  bei  Fichte  nur  mit  dem  höchsten  philosophischen 
Prinzip,  mit  dem'"absoluten  Ichidentisch  sein.  Der  letzte  Grund 
aller  Wirklichkeit,  das  letzte  Ziel  alles  Geschehens  liegt  in  der 
*^  sittlichen  Weltordnung.  Sie  ist  das"  Absolute  in  Fichtes  Lehre. 
Wie  bei  Spinoza,  den  Fichte  immer  als  seinen  äußersten  Gegen- 
satz betrachtet,  und  von  dem  er  gerade  deshalb  schon  in  seiner 
ersten  Periode  der  Wissenschaftslehre  mehr  abhängig  war  als  er 
glaubte,  wie  bei  Spinoza  die  absolute  Substanz,  die  causa  sui, 
als  natura  naturans  bezeichnet  wurde,  so  wird  von  Fichte  das 
absolute  Ich,  der  Selbstzweck,  der  ordo  ordinans  genannt:  und 
wie  für  Spinoza  die  Naturnotwendigkeit,  so  ist  für  Fichte  die 
sittliche  Weltordnung  —  Gott.  Die  Keligionsphilosophie  ist 
auf  diesem  ersten  Standpunkte  der  Wissenschaftslehre  derjenigen 
Kants  in  der  Begründung  durchaus  verwandt,  in  ihrem  Inhalte 
dagegen  doch  wesentlich  davon  verschieden.  Auch  Fichte  lehrt 
lediglich  eine  Moraltheologie.  Auch  bei  ihm  stützt  sich  der 
Glaube  an  die  Gottheit   durchaus  auf   das   sittliche  Bewußtsein, 


240  Fichte. 

wenn  auch  Fichte  vermöge  des  innigen  Ineinandergreifens,  das 
die  Wissenschaftslehre  zwischen  der  theoretischen  und  der  prak- 
tischen Vernunft  ansetzte,  den  Gegensatz  des  Erkennens  und  des 
Glaubens  nicht  mehr  so  scharf  wie  Kant  betonte.  Für  ihn 
stützt  sich  jedoch  der  Glaube  an  die  sittliche  Weltordnung,  der 
ihm  mit  demjenigen  an  die  Gottheit  identisch  ist,  auch  nur  auf 
die  ethische  Überzeugung,  daß  nicht  nur  der  Wert,  sondern  auch 
die  Wirklichkeit  aller  Dinge  in  dem  sittlichen  Streben  und  in 
ihrer  ethischen  Bestimmung  begründet  ist.  Für  den  populären 
und  konfessionellen  Standpunkt  war  diese  Lehre  freilich  in  der 
Tat  Atheismus.  Auf  dem  Standpunkte  der  Wissenschaftslehre 
kann  die  Gottheit  gar  nicht  als  Sein,  als  ein  existierendes  Wesen 
gedacht  werden.  Denn  sie  wäre  in  diesem  Falle  nicht  ursprüng- 
lich, sondern  abgeleitet,  da  alle  Kealität  für  Fichte  erst  ein  Pro- 
dukt des  Tuns  ist.  Fichte  macht  vielmehr  von  der  allgemeinen 
Gewöhnung  der  Philosophen  Gebrauch,  den  Namen  der"tjrottheit 
für  den  höchsten  metaphysischen  Begriff  in  Anspruch  zu  nehmen, 
und  dieser  ist  eben  bei  ihm  das  Tun  des  reinen  Ich  oder  die 
absolute  Funktion  der  sittlichen  Weltordnung.  Auch  für  Fichte 
hat  deshalb  Gott  die  Merkmale  der  Weltschöpfung  und  Welt- 
regierung. Aber  man  muß  seine  Philosophie  ganz  verstanden 
haben,  um  einzusehen,  weshalb  sein  Gottesbegriff  nicht  die  Merk- 
male der  ^Realität,  der  Substantialität,  der  Persönlichkeit  tragen 
konnte,  die  für  den  populären  Gebrauch  des  Wortes  unerläßlich 
erscheinen.  Für  Fichte  ist  die  Gottheit  das  absolute  sittliche 
Ideal,  welches,  obwohl  selbst  niemals  real,  doch  den  Grund  aller 
Realität  in  sich  trägt.  Unser  Glaube  an  sie  beruht  deshalb 
lediglich  auf  dem  Bewußtsein  dieses  Ideals,  auf  jenem  wahren 
und  höchsten  Selbstbewußtsein,  welches  uns  sagt,  daß  wir  das 
rejn^  Ich  sein  sollen,  und  daß  wir  nur  das  empirische  sind,  auf 
dem  Gewissen,  welches  die  Triebkraft  unserer  ganzen  Existenz 
bildet.  Man  darf  diese  Lehre  als  ethischen  Pantheismus 
bezeichnen:  das  Sv  xat  ttocv  ist  für  sie  das  Sittengesetz.  Fichtes 
viel  verschlungene  Lehre  vom  Selbstbewußtsein  enthält  das  pan- 
theistische  Problem  in  seiner  rein  ethischen  Gestalt.  Den  innersten 
Widerspruch  im  individuellen  Selbst  bildet  das  sittliche  Bewußt- 
sein davon,  daß  dieses  Selbst  bestimmt  ist,  in  das  absolute  Ich 
aufzugehen,  und  daß  es  dieser  Aufgabe  niemals  genügen  kann. 


Sohollingr.  241 

So  zeigt  sich  auch  hier  Ficlitcs  Lohro  in  ihron  (Jnnulziigen  durch 
das  Problem  bedingt,  welche  Stelhmg  das  Individuum  dem  Uni- 
versum gegenüber  hat.  Der  für  die  gesamte  moderne  Phih)sophio 
so  überaus  wichtige  Gegensatz  des  Individuahsmus  und  des  Uni- 
vcrsalismus  tritt  bei  ihm  in  seiner  rein  ethischen  IMeutung  her- 
vor und  ist  deshalb  geradezu  in  das  Gewissen  hineinverlegt. 

Die  Lehre   von   der  Gottheit   als   dem   »ordo   ordinans«    mit 
ihrer  Leugnmig  des^Scins'  der  Gottheit  ist  die  strikte  Konsecjuenz      s^ 
der  »Philosophie  des  Tuns«,   welche  den  ersten  Standpunkt  der  /  j 
Wissenschaftslehre    charakterisiert.      Von   ihr   aus   muß   die    von    ' 
den  Historikern    der   Philosophie    vielfach    erörterte   Frage    ent- 
schieden  werden,    ob    die   Darstellungen    der   Wissenschaftslehre 
nach  1800  ein  zweites,  ein  verändertes  System  zu  ihrem  Inhalte 
haben.    Und  von  diesem  Gesichtspunkt  aus  muß  die  Frage  ent- 
schieden bejaht  werden.     Denn  in  der  zweiten   Lehre  erscheint    ^y 
bei  Fichte  die  Gottheit  als   das  absolute  Sein,  was  sie  auf  dem 
ersten  Standpunkte  gar  nicht  sein  konnte.     Diese  Veränderung 
war   nur   dadurch    möglich,   daß   jener   »Philosophie   des    Tuns«, 
die    Fichte    zuerst    vertrat,    inzwischen    die   Spitze    abgebrochen 
worden  war.    Welche  Veranlassungen  jedoch  dazu  vorlagen,  kann 
erst  an  späterer  Stelle  besprochen  werden;  denn  sie  bestehen  in 
Rückwirkungen,  welche  Fichte  selbst  von  den  Konsequenzen  er- 
fuhr, die  andere  aus  seiner  ersten  Lehre  gezogen  hatten. 

§  64.    Der  physische  Idealismus. 

Schelling  und  die  Waturphilosopbie. 

Die  große  historische  Wirkung  Fichtes  beruht  nicht  auf  der 
Büdung  einer  Schule  im  engeren  und  eigentlichen  Sinne  des 
Wortes.  Die  Wissenschaftslehre  war  ein  viel  zu  sehr  von  der 
Individualität  ihres  Urhebers  bestimmtes  und  getragenes  System, 
als  daß  sie  eine  strenge  Heeresfolge  in  weiterer  Ausdehnung 
hätte  hervorrufen  können,  und  sie  stand  mit  ihrer  abstrakten 
Tendenz  auch  den  übrigen  Wissenschaften  zu  ferne,  um  un- 
mittelbar darauf  zu  wirken.  Dies  war  mittelbar  nur  dadurch 
möglich,  daß  Männer  von  ausgebreiteterer  Kenntnis  und  von 
persönlich  lebhafterer  Berührung  mit  den  übrigen  Wissenschaften 
das  Prinzip  der  Fichteschen  Lehre  für  deren  Behandlung  flüssig 

Windelband,  Gesch.  d.  n.  Philos.   U.  16 


242  Schelling. 

ZU  machen  suchten.  Dabei  erfuhr  es  jedoch  notwendig  mancherlei 
mehr  oder  minder  tief  greifende  Umgestaltungen.  In  diesem 
weiteren  Sinne  darf  der  ganze  Kreis  der  folgenden  Träger  der 
deutschen  Philosophie  als  die  Schule  Fichtes  ebenso  sehr  wie 
als  diejenige  Kants  bezeichnet  werden.  Von  Fichte  sind  per- 
sönlich und  sachlich  alle  die  großen  systematischen  Formen  der 
Philosophie  angeregt,  welche  in  diesem  Kapitel  noch  darzustellen 
sind,  und  dadurch  ist  er  der  entscheidende  Durchgangspunkt  für 
das  Hervorgehen  aller  folgenden  Systeme  aus  Kant  geworden. 
Seine  nächsten  Anhänger,  die  an  der  Wissenschaftslehre  fest- 
zuhalten suchten,  Männer  wie  Niethammer,  Forberg,  Schad, 
Memel,  Schaumann  u.  a.  haben  es  zu  keiner  Bedeutung  ge- 
bracht: um  so  wichtiger  ist  diejenige  positive  Weiterentwicklung 
der  Wissenschaftslehre  geworden,  deren  hervorragendster  Träger 
in  mehreren  Phasen  Schelling  ist. 
JiLt/yi^f        Friedrich  Wilhelm  Joseph  Schelling,  1775  zu  Leonberg 


77 


_  in  Württemberg  geboren,  erhielt  seine  Ausbildung  hauptsächlich 
auf  der  lateinischen  Schule  zu  Nürtingen  und  auf  dem  Seminar 
zu  Bebenhausen  und  bezog  im  Jahre  1790  die  Tübinger  Uni- 
versität, wo  er  als  Schüler  des  Stifts  eine  vertraute  Freundschaft 
mit  Hölderlin  und  Hegel  schloß.  Die  Ideale  des  klassischen 
Altertums,  dessen  Studien  mit  demjenigen  der  Philosophie  an 
dieser  Anstalt  als  Basis  für  das  theologische  Fachstudium  gelten, 
wurden  für  die  Bildung  der  drei  Freunde  in  gleicher  Weise  be- 
deutsam und  entscheidend.  Für  Hölderhn  haben  sie  das  tragische 
Geschick  seines  Geistes  bedingt:  für  die  beiden  Philosophen  da- 
gegen ist  die  griechische  Gedankenwelt  der  fruchtbare  Boden  ge- 
worden, in  welchen  sie  das  junge  Keis  der  neuen  Philosophie  ein- 
pflanzten, um  es  zur  Blüte  und  zur  Frucht  zu  bringen.  Das 
inm'ge  Verständnis,  das  beide  der  klassischen  Bildung  entgegen- 
brachten, hat  sie  —  und  Hegel  freilich  noch  mehr  als  Schelling  — 
dazu  befähigt,  auf  dem  Gebiete  des  philosophischen  Denkens  die- 
selbe Versöhnung  des  deutschen  und  des  griechischen  Genius  her- 
beizuführen, welche  Goethe  und  Schiller  in  ihren  Dichtungen 
darstellen.  /  Schellings  allseitige  Natur  verlangte  jedoch  bald  nach 
einer  Ergänzung  dieser  humanistischen  Bildung  durch  die  moderne 
Naturwissenschaft,  und  nachdem  er  die  theologische  Laufbahn 
aufgegeben  hatte,  benutzte  er  eine  Hofmeisterstellung  in  Leipzig, 


\ 


Leben  und  Entwicklung.  243 

um  sich  eingehend  solchen  Studien  zu  widmen.  Inzwischen  hatte 
er  sich  vollkommen  in  die  Spinozistische,  zugleich  aber  auch  in 
die  Kantische  und  Fichtesche  Leh^c  hineingearbeitet  und  schon 
während  der  Jahre  1794 — 1790  eine  Reihe  von  Schriften  veröffent- 
licht, in  denen  er  die  Prinzipien  des  transzendentalen  Idealismus 
nach  der  Fichteschen  Auffassung  teilweise  glücklicher  und  faßlicher 
entwickelte  als  Fichte  selbst,  indem  er  ihre  metaphysische  Tendenz 
durch  einen  Einschlag  spinozistischer  Gedanken  illustrierte,  und 
er  beherrschte  in  dieser  frühen  Jugend  die  Gedanken  dieser  Lehre 
derartig,  daß  er  bereits  1797  daran  gehen  konnte,  seine  An- 
wendung der  Wissenschaftslehre  auf  die  philosophische  Natur- 
erkenntnis zu  veröffentlichen.  Infolgedessen  wurde  er  1798  als 
außerordentlicher  Professor  nach  Jena  berufen  und  begann  zuerst 
neben  Fichte  eine  nicht  minder  erfolgreiche  akademische  Wirk- 
samkeit. Allein  bald  brachte  seine  Fortbildung  der  Wissenschafts- 
lehre eine  Umgestaltung  dieser  Philosophie  hervor,  die  Fichte 
ebensowenig  anerkannte  wie  Kant  Fichtes  Auffassung  seiner  Lehre. 
Dazu  kam,  daß  der  Umgang  mit  den  Vertretern  der  romantischen 
Schule,  vor  allem  den  beiden  Schlegels,  der  zuerst  in  Dresden 
angesponnen  ward  und  sich  dann  in  Jena  fortsetzte,  Schellings 
Auffassungen  denjenigen  Fichtes  immer  mehr  entfremdete,  und 
,  so  vollzog  sich  allmählich  zwischen  beiden  Männern  ein  Bruch, 
j  der  auch  äußerlich  und  öffentlich  die  bedauerliche  Form  gegen- 
\  seitiger  Beschuldigungen  und  Verdächtigungen  angenommen  hat. 
(Ähnlich  ist  es  später  zwischen  Schelling  und  Hegel  gegangen,  noch 
akuter  und  gereizter  ist  das  Verhältnis,  in  dem  sich  Jacobi  und 
Herbart,  sowie  später  Schopenhauer  gegenüber  der  Identitäts- 
philosophie befanden,  und  so  muß  leider  gesagt  werden,  daß  das 
Bild  jener  großen  Zeit  vielfach  durch  persönliche  Zwistigkeiten 
getrübt  ist.  So  zweischneidig  war  Fichtes  Gedanke,  daß,  was  für 
eine  Philosophie  man  wähle,  davon  abhänge,  was  für  ein  Mensch 
man  sei:  die  Wärme  der  Überzeugung,  mit  der  diese  Männer 
ausnahmslos  von  der  Wahrheit  ihrer  Lehren  durchdrungen  waren, 
machte  sie  in  der  Behandlung  der  Andersdenkenden  rücksichtslos 
und  der  bedeutsame  Kampf  ums  Dasein,  den  hier  die  Weltan- 
schauungen führten,  brachte  teilweise  eine  grobe  und  leidenschaft- 
liche Form  der  Polemik  hervor.^ 

Als  Fichte  Jena  verlassen  hatte,  beherrschte  einige  Jahre  lang 

16* 


mmti 


244  Schelling. 

Schelling  dies  Zentrum  der  philosoplii sehen  Bewegung.  Dann  trat 
Hegel  hinzu,  mit  dem  jener  in  den  ersten  Jahren  des  neuen  Jahr- 
hunderts das  »Kritische  Journal  der  Philosophie«  herausgab.  In- 
zwischen gestalteten  sich  Schellings  persönliche  Verhältnisse  in 
Jena  mit  und  ohne  seine  Schuld  immer  unerfreulicher,  und  er 
folgte  daher  gern  dem  Rufe  nach  Würzburg,  wo  die  neue  bayrische 
Regierung  eine  bedeutende  Universität  zu  schaffen  versprach. 
1806  siedelte  er  dann  an  die  Münchener  Akademie  der  Wissen- 
schaften über,  und  als  wenige  Jahre  darauf  ihm  seine  Frau,  die 
ehemalige  Gattin  Wilhelm  Schlegels,  Karoline,  entrissen  worden 
war,  verfiel  er  für  lange  Zeit  in  literarische  Untätigkeit.  Er  hielt 
gelegentlich  in  Stuttgart  Privatvorlesungen;  er  trat  auch  einmal 
in  ein  freies  Verhältnis  zur  Universität  Erlangen,  vermöge  dessen 
er  an  ihr  Vorlesungen  hielt.  Erst  als  König  Ludwig  die  Uni- 
versität München  gründete,  übernahm  Schelling  1727  dort  die 
Vertretung  der  Philosophie.  Inzwischen  hatte  sich  nach  auswärts 
die  Meinung  verbreitet,  daß  er  in  der  Stille  ein  neues  philo- 
sophisches System  entwickelt  habe,  welches  nicht  nur  den  Hegel- 
schen  Rationalismus  von  Grund  aus  widerlege,  sondern  auch  dem 
religiösen  Bedürfnis  vollkommen  Rechnung  trage.  In  dieser 
Meinung  wurde  er  von  Friedrich  Wilhelm  IV.  bei  dessen  Regierungs- 
antritt an  die  BerHner  Akademie  berufen  und  ging  1841  darauf 
ein.  Aber  die  hochgespannten  Erwartungen,  welche  man  auf 
seinen  Erfolg  gesetzt,  wurden  getäuscht.  Der  Eindruck,  den  er 
anfangs  machte,  verblaßte  sehr  schnell,  und  so  zog  er  sich  nach 
wenigen  Jahren  gänzlich  aus  der  Öffentlichkeit  zurück.  Er  ist 
.     1854  im  Bade  Ragaz  gestorben. 

Schelling  ist  der  Hauptträger  für  die  Entwicklung  der  Iden- 
j.V^  titätsphilosophie.  Er  hat  die  meisten  ihrer  Phasen  nicht  nur 
mitgemacht,  sondern  mit  schöpferischer  Initiative  hervorge- 
rufen. Er  ist  durch  sein  ganzes  Leben  hindurch,  dem  eigenen 
Triebe  und  den  mannigfachsten  Einflüssen  folgend,  in  einer 
stetigen  Umbildung  seiner  Lehre  begriffen  gewesen.  Nur  die  Kon- 
tinuierlichkeit dieser  Umbildung  läßt  es  erklären,  daß  er  selbst 
fortwährend  behauptete,  nur  immer  in  neuer  Form  denselben 
Gedanken  auszuprägen,  und  daß  er  sich  über  die  großen  Gegen- 
sätze täuschte,  die  zwischen  den  Lehren  seiner  verschiedenen 
Perioden  obwalten.   In  der  Tat  könnte  man  ihm  kein  größeres  Un- 


Natuqihiloflophie.  245 

recht  tun,  als  wenn  man  ihn  beim  Worte  nehmen  und  die  ge- 
samten 14  Bände  seiner  gesammelten  Werke  (1856 — 61)  als  ein 
einheitliches  System  interpretieren  wollte.  Sie  zeigen  vielrnelir 
den  Gang,  den  ein  bedeutender  jGeist  vom  Jüngling  bis  zum 
Greise  gegangen  ist,  und  den  die  deutsche  Philosophie  mit  ihm 
mitgemacht  hat.  Eine  gewaltige  und  geniale  Kraft  ist  es,  welche 
diese  Metamorphosen  erlebt  hat,  und  welche  nur  vermöge  der 
ungewöhnlichen  Reichhaltigkeit  ihrer  geistigen  Interessen  hinter- 
einander so  verschiedene  Woge  einzuschlagen  vermocht  hat.  Sieht 
man  von  jenen  Jugendjahren  ab,  in  denen  Schelling  als  ein  zwar 
völlig  reifer  Schüler,  aber  doch  eben  nur  als  ein  Schüler  von 
Spinoza  und  Fichte  erscheint,  so  sind  es  fünf  verschiedene  Perioden, 
die  mit  teilweise  sehr  leisen  und  kaum  merklichen  Übergängen 
sich  in  seiner  Entwicklung  unterscheiden  lassen  und  ihn  mit  allen 
Gedankenströmungen  der  nachkantischen  Bewegung  in  wechseln- 
dem Kontakt  zeigen.  Ungefähr  mit  Jahreszahlen  begrenzt,  können 
sie  folgendermaßen  bezeichnet  werden:  die  Naturphilosophie  1797 
bis  1799,  der  ästhetische  Idealismus  1800  und  1801,  der  absolute 
Idealismus  1801  —  1804,  die  Freiheitslehre  1804  —  1813  und  die 
positive  Philosophie,  der  Standpunkt  seines  Alters. 

Der  Pimkt,  an  welchem  Schelling  die  Fichtesche  Lehre  zu- 
nächst fortzubilden  beabsichtigte  und  dann  unwillkürlich  umzu- 
bilden sich  genötigt  sah,  betraf  die  darin  entschieden  verkümmerte 
Naturerkenntnis.  In  der  Wissenschaftslehre  galt  die  Natur  nur 
als  Mittel  zur  Eealisation  des  sittlichen  Zweckes.  Aber  sie  sollte 
doch  auch  hier  so  betrachtet  werden,  als  ob  sie  eben  um  dieses 
Zweckes  willen  von  der  Vernunft  gesetzt  wäre,  d.  h.  als  ein  Produkt 
der  Vernunft,  welches  deshalb  die  Züge  seines  Ursprunges  an  der 
Stirn  tragen  müsse.  Nun  hatte  zwar  auch  Kant  eine  Abhängigkeit 
der  Natur  von  der  Intelligenz  gelehrt.  In  der  transzendentalen 
Analytik  schrieb  der  Verstand  der  Natur  ihre  Gesetze  vor.  Aber 
diese  Gesetzmäßigkeit  war  bei  Kant  nur  die  mechanische,  und 
die  transzendentalphilosophische  Erkenntnis  beschränkte  sich  für 
ihn  auf  die  allgemeinen,  durch  Kategorien  und  reine  Anschauungen 
begründeten  Formen  der  Gesetzmäßigkeit  für  die  Erscheinungs- 
welt. Die  teleologische  Betrachtung  galt  ihm  daneben  nur  als 
,,  Betrachtung  und  nicht  als  eine  theoretische  Erklärungsweise  des 
Naturzusammenhanges.     Und   gerade   indem  er   die   teleologische 


246  Schelling. 

Betrachtung  für  die  erklärende  Theorie  abwies,  hatte  Kant  auf 
die  wissenschaftliche  Erkenntnis  vom  Ganzen  der  Natur  und  von 
der  Rolle,  welche  darin  die  besondere  Eigentümlichkeit  der  ein- 
zelnen Erscheinung  spiele,  Verzicht  getan.  Fichte  umgekehrt,  der 
Kenntnis  der  kausalen  Gesetzmäßigkeit  fern  stehend,  hatte  die 
Natur  lediglich  in  allgemeinster  Weise  teleologisch  deduziert  oder 
höchstens  gelegentlich  einzelne  ihrer  Formen,  z.  B.  den  menschlichen 
Organismus,  aus  besonderen  Zwecken  erklärt.  Er  war  aber  nicht 
darauf  ausgegangen,  diesen  Gesichtspunkt  bis  in  die  Gliederung 
der  besonderen  Naturerscheinungen  zu  verfolgen.  Er  hatte  nur 
im  allgemeinen  behaupten,  aber  nicht  beweisen  können,  daß  die 
ganze  Natur  ein  zweckmäßiger  Zusammenhang  sei,  der  zur  Lösung 
der  sittlichen  Aufgabe  diene. 

Hierauf  richtet  sich  das  jugendliche  Denken  von  Schelling. 
Diese  Idee  soll  ausgeführt,  die  NaJLur  soll  als  ein  großes  System 
erkannt  werden,  das  aus  der  Vernunft  hervorgegangen  ist,  um 
ihren,  Zweck  zu  erfüllen.  In  der  Wissenschaftslehre  erschien  der 
einzelne  Inhalt  der  Empfindung,  aus  der  wir  unsere  Erfahrung 
von  der  Natur  schöpfen,  als  eine  freie  Handlung  der  produktiven 
Einbildungskraft,  also  der  unbewußten  Intelhgenz,  und  war  des- 
halb nicht  deduzierbar,  d.  h.  aus  der  allgemeinen  Gesetzmäßigkeit 
nicht  ableitbar.  Aus  dem  unbewußten  Wesen  jener  Schöpfer- 
tätigkeit des  Ich  erklärte  sich  der  mechanische  Charakter,  welchen 
der  Naturprozeß  an  sich  trägt,  und  welchen  Kant  hinsichtlich 
der  wissenschaftlichen  Behandlung  hervorgehoben  hatte.  Aber  es 
sollte  doch  Vernimft  sein,  was  dabei  in  der  unbewußten  Form 
wirkte,  und  daraus  erklärte  sich  das  zweckvolle  Ineinandergreifen 
dieses  Kausalmechanismus,  welches  für  Kant  nur  ein  Gegenstand 
der  Betrachtung  gewesen  war.  Soll  aber  die  Natur  als  ein  teleo- 
logisches System  erscheinen,  so  kann  der  Zweck,  urn  deswillen 
das  Ganze  da  ist,  immer  nur  wieder  in  der  Vernunft  gesucht 
werden.  Es  kann  jedoch  nicht  die  sittliche  Handlung  selbst  sein, 
da  diese  Jiiemals  durch  den  natürlichen  Mechanismus,  sondern 
immer  nur  durch  Freiheit  möglich  ist.  Der^weck  der  Natur  kann 
also  nur  darin  bestehen,  eine  Bedingung  zu  realisieren,  unter  der 
die  sittliche  Handlung  allein  möglich  ist.  Diese  Bedingung  ist 
die  bewußte  Intelhgenz,  das  theoretische  Ich,  und  wenn  deshalb 
auf   dem  Standpunkte   der  Wissenschaftslehre   mit   dem  Versuch 


Natur  als  ZweckoiDheit.  247 

einer  tele{)Io«j;ischon  Deduktion  der  Natur  Ernat  gemaclit  werden 
soll,  so  muß  diese  als  ein  System  von  Prozessen  aufgefaßt  werden, 
dessen  höchsten  Zweck  die  Produktion  der' bewußten  Intelligenz' 
bildet.  Die  Jbfatur  muß  als  die  unbewußte  Form  des  Vemunft- 
iebens  aufgefaßt  werden,  die  keinc^  andere  Tendenz  hat,  als  die 
bewußte  zu  erzeugen.  Die  Natur  ist  die  Odyssee,  in  welclier 
nach  mancherlei  Irrwegen  der  Geist  zuletzt  schlafend  seine  Heimat, 
d.  h.  sich  selbst  findet.  Auch  im  System  der  Wissenschaftslehre 
wird  die  Empfindung  nur  produziert,  damit  die  Intelligenz  in  der 
bewußten  Anschauung  darüber  hinausgehe.  Die  Basis  aber,  auf 
der  dieser  Zweck  allein  erfüllt  wird,  ist  das  organische  Leben 
mid  im  besonderen  das  menschhche.  Das  animalische  Leben 
also  ist  jenes  höchste  Produkt  der  unbewußten  Intelligenz,  worin 
ihr  Zw^eck,  das  Bewußtsein,  zur  Verwirklichung  kommt.  Soll  es 
eine  philosophische  Naturerkenntnis  geben,  so  besteht  sie  darin, 
den  gesamten  Naturprozeß  als  ein  zweckmäßiges  Zusammenwirken 
von  Kräften  zu  betrachten,  die  von  den  niedersten  Stufen  aus 
in  immer  höherer  und  feinerer  Potenzierung  zur  Genesis  des  anima- 
lischen Lebens  und  des  Bewußtseins  führen.  Die  Natur  darf  nicht 
als  ein  zufälliges  Nebeneinander  von  Erscheinungen  und  Gesetzen, 
sondern  sie  muß  selbst  als  ein  großer  Organismus  gedacht  werden, 
dessen  gesamte  Teile  nur  dazu  da  sind,  das  Leben  und  das  Be- 
wußtsein zustande  zu  bringen.  Die  Philosophie  der  Natur  ist 
die  Geschichte  des  werdenden  Geistes.  Sollte  bei  Fichte  die  ge- 
samte Wissenscliaftslehre  eine  »Geschichte  des  Bewußtseins«  sein, 
so  wendet  Schelling  diesen  Begriff  auf  die  Natur  als  auf  das 
Produkt  der  Vernunft  an  und  verlangt,  daß  die  verschiedenen 
Stufen  ihres  Lebens  als  die  »Kategorien  der  Natur«,  d.  h.  als  die 
notw^endigen  Formen  begriffen  werden,  in  denen  die  Vernunft  aus 
der  unbewußten  in  die  bewußte  Gestalt  emporstrebt.  Damit 
aber  war  dem  transzendentalen  Idealismus  —  weit  iiber  Kants 
und  Fichtes  Meinung  hinaus  — ,  die  Aufgabe  gestellt,  auch  die 
einzelnen  empirischen  Bestimmimgen  der  natürlichen  Wirklichkeit 
aus  der  allgemeinen  Formgesetzgebung  des  Ich  zu  deduzieren 
oder  zu  »konstruieren«. 

Jener  Grundgedanke  von  Schellings  Naturphilosophie  aber  kam 
in  sehr  glücklicher  Weise  den  Strömungen  entgegen,  die  zu  seiner 
Zeit  in  der  Naturwissenschaft  sich  geltend  machten.    Diese  zeigt 


248  Schelling. 

seit  der  Kenaissance  eine  Art  von  oszillatorischer  Bewegung 
zwischen  der  Vertiefung  in  die  Aufgaben  der  besonderen  Forschung 
und  dem  zusammenfassenden  Überblick  über  die  Einheit  der  von 
ihr  gewonnenen  Naturerkenntnis.  Ist  sie  in  dem  einen  Falle  in 
Gefahr,  sich  in  die  Kuriositäten  der  Detailforschung  zu  verlieren, 
so  hat  sie  in  dem  andern  Falle  darüber  zu  wachen,  daß  sie  den 
Boden  der  tatsächlichen  Begründung  nicht  unter  den  Füßen  ver- 
liert. Jedesmal,  wenn  eine  Zeitlang  eine  dieser  Richtungen  vor- 
wiegend befolgt  worden  ist,  macht  sich  die  entgegengesetzte 
Strömung  wieder  geltend,  und  nur  ein  anderer  Ausdruck  für 
diese  Tatsache  ist  es,  daß  die  moderne  Naturforschung  ab- 
wechselnd bald  die  Philosophie  flieht,  bald  zu  ihr  sich  hinwendet. 
Schellings  Bestrebungen  fielen  in  eine  Zeit,  in  der  wieder  einmal 
das  letztere  der  Fall  war,  und  in  welcher  sich  der  Naturforschung 
selbst  überall  die  Tendenz  bemächtigt  hatte,  den  Zusammenhang 
der  Naturkräfte  ins  Auge  zu  fassen  und  die  Verwandlungen  der 
identischen  Grundkräfte  in  die  scheinbar  spezifisch  verschiedenen 
Erscheinungsformen  zu  beobachten.  Auf  diesem  Bestreben  be- 
ruhte die  große  Bewegung,  die  um  jene  Zeit  sich  der  gesamten 
Naturforschung  bemächtigte  und  durch  eine  Reihe  neuer  Ent- 
deckungen begünstigt  wurde.  Von  besonderer  Wichtigkeit  war 
dabei  die  Elektrizitätslehre,  welche  seit  der  Mitte  des  XVIII.  Jahr- 
hunderts in  rapider  Weise  gefördert  worden  war  und  bereits  zu 
der  für  die  Naturphilosophie  namentlich  wichtigen  Coulombschen 
Theorie  des  Gegensatzes  von  einem  positiven  und  einem  negativen 
elektrischen  Fluidum  geführt  hatte.  Schon  ahnte  man,  daß 
zwischen  dieser  und  der  magnetischen  Polarität  ein  geheimnis- 
voller Zusammenhang  obwalte.  Schon  begann  man  auch  die  Be- 
ziehungen zu  studieren,  in  denen  die  Elektrizität  zum  chemischen 
Prozesse  steht,  und  schon  hörte  infolge  der  Entdeckung  der 
Oxydation  durch  Priestley  und  Lavoisier  die  alte  phlogistische 
Theorie  auf,  die  Anschauungen  der  Chemiker  zu  beherrschen. 
Von  besonderer  Wichtigkeit  aber  war  in  dieser  Bewegung  Galvanis 
Entdeckung  der  sogenannten  tierischen  Elektrizität.  Der  elek- 
trische Prozeß,  der  sich  für  die  Übergänge  in  den  anorganischen 
Erscheinungen,  für  den  Zusammenhang  physikalischer  und  che- 
mischer Vorgänge  so  wichtig  erwies,  sollte  auch  für  die  organische 
Natur    eine    entscheidende   Bedeutung    gewinnen;    er    schien    so 


NaturwiflsenHchaften.  249 

gewisscrniaßoii  den  Übcrf^aiij^  auH  dem  iinorgaii Ischen  in  das 
organisfho  Dasein  zu  vermitteln  mid  eine  Lösung  der  alten 
Rätselfrage  zu  versprechen,  wie  man  sich  den  einhcitliclien 
Charakter  der  Natur  in  dem  Ge«iXMisatzc  dieser  beiden  Reiche 
gewahrt  denken  sollte.  Die  Frage  nach  dem  Verhältnis  der 
Organismen  zu  dem  Mechanismus  der  imorganisclien  Welt  hatte 
das  XVIII.  Jalirhundert  auf  das  lebhafteste  bewegt,  und  auch 
in  Deutscldand  waren  die  Bestrebungen  im  Fluß,  welche  keine 
Kluft  zwisclien  beiden  annehmen  wollten,  welche  aber  gerade 
deshalb  auch  zu  einer  neuen  Auffassung  von  dem  Zusammen- 
hange der  Organismen  untereinander  gedrängt  wurden.  Es  galt 
den  Proteus  des  Lebens  in  der  Identität  zu  erfassen,  die  allen 
seinen  wechselnden  Gestaltungen  zugrunde  liegt.  Schon  1759 
hatte  Kaspar  Friedrich  Wolff  seine  »Theoria  generationis « 
herausgegeben,  welche  die  Identität  der  physiologischen  Grund- 
form im  Tier-  und  Pflanzenreiche  behauptete  und  zum  Staunen 
des  Zeitalters  den  Parallelismus  in  dem  morphologischen  Bau 
der  Fledermaus  und  des  Pflanzenblattes  nachwies.  In  dieselbe 
Richtung  gehören  die  bahnbrechenden  Untersuchungen  Goethes. 
Seine  Entdeckung  des  Zwischen knochens  fügt  den  menschlichen 
Organismus  morphologisch  dem  gemeinsamen  Schema  der  höheren 
Wirbeltiere  ein.  Seine  »Metamorphose  der  Pflanze«  darf  als  der 
erste  Versuch  zur  Ausführung  der  biologischen  Theorie  angesehen 
werden,  die  von  dem  Grundsatz  aus,  daß  jeder  Organismus 
immer  nur  wieder  aus  organischen  Teilen  besteht,  die  Diffe- 
renzierung der  einheitlichen  Grundform  durch  alle  Gebilde  des 
Lebens  hindurch  verfolgt.  So  begann  die  junge  Wissenschaft  der 
vergleichenden  Morphologie,^ die  später  durch  Goethes  und  Okens 
Theorie  von  der  Bedeutung  des  Schädels  als  eines  entwickelten 
Wirbels  lebhaft  gefördert  wurde,"!  die  Täuschung  zu  durchschauen, 
welche  in  dem  gewöhnlichen  Bewußtsein  durch  die  Verschieden- 
heit der  äußeren  Konfiguration  der  Organismen  entsteht,  als  ob 
jede  Art  völlig  unabhängig  von  den  übrigen  auf  einen  besonderen 
Ursprung  zurückgeführt  werden  müsse,  und  es  dämmerten  die 
ersten  Ahnungen  davon  herauf,  daß  das  ganze  organische  Reich 
in  der  Reihenfolge  seiner  Formen  eine  einzige  große  Entwicklung 
darstelle,  einen  Lebensprozeß,  welchem  nicht  nur  die  Individuen, 
sondern  auch  die  Arten  unterworfen  seien,  daß  es  vor  allem  ein 


250  Schelling. 

und  dasselbe  allgemeine  Gesetz  sei,  das  allen  Entwicklungsstufen 
des  Individuums  und  der  gesamten  organischen  Natur  gleich- 
mäßig zugrunde  liege.  Und  schon  fing  man  an,  daran  zu  denken, 
daß  auch  die  abnormen  und  pathologischen  Erscheinungen  auf 
dieselben  Gesetze,  wie  die  normalen,  in  letzter  Instanz  zurück- 
geführt werden  müßten.  Jene  entwicklungsgeschichtliche  Auf- 
fassung des  organischen  Lebens  war  schon  von  den  französischen 
Philosophen  und  Naturforschern  mehrfach  geäußert  worden; 
namentlich  Männer  wie  Robinet  und  Bonnet,  welche  mit  dem 
Leibnizschen  Systeme  vertraut  waren,  hatten  darauf  hingewiesen. 
Auch  Kant  gab  in  der  Kritik  der  Urteilskraft  wenigstens  die 
Möglichkeit  eines  solchen  »kühnen  Abenteuers  der  Vernunft«  zu, 
und  nach  seiner  Anregung  veröffentlichte  1793  Kielmeyer  seine 
bedeutende  Schrift  »über  das  Verhältnis  der  organischen  Kräfte 
in  der  Reihe  der  verschiedenen  Organisationen«.  Es  kam  dabei 
der  Grundgedanke  zutage,  daß  die  Verschiedenheit  der  Organismen 
zuletzt  auf  das  verschiedene  Maßverhältnis  der  organischen  Grund- 
kräfte zurückgeführt  werden  könne,  die,  überall  dieselben,  durch 
ihre  verschiedene  Verteilung  die  Besonderheiten  der  einzelnen 
Arten  und  Individuen  bedingen.  Von  solchen  Vorstellungen  ließ 
sich  leicht  die  pathologische  Hypothese  ableiten,  welche  die 
Genesis  der  anomalen  Zustände  in  eine  Verschiebung  des  normalen 
Gleichgewichts  der  Grundkräfte  versetzte.  In  dieser  Beziehung 
gelangte  namentlich  Hallers  Lehre  von  der  Irritabilität  des 
Nervensystems  und  die  sogenannte  Erregungslehre  von  John 
Brown  zu  großer  Wichtigkeit. 

Alle  diese  Bewegungen  in  einem  Kopfe  vereinigt  und  unter 
den  gemeinsamen  Gesichtspunkt  der  Wissenschaftslehre  gebracht, 
geben  Schellings  Naturphilosophie.  Diese  ist  zuerst  in  seinen 
»Ideen  zur  Philosophie  der  Natur«  (1797),  dann  in  der  Abhand- 
lung »Von  der  Weltseele,  eine  Hypothese  der  höheren  Physik« 
(1798),  weiterhin  in  dem  »Entwurf  eines  Systems  der  Natur- 
philosophie« (1799)  dargestellt.  Außerdem  kommen  die  später 
geschriebenen  Einleitungen  und  Vorreden  zu  diesen  Schriften, 
besonders  aber  eine  Reihe  von  Abhandlungen  in  den  Zeitschriften 
in  Betracht,  welche  Schelling  im  Interesse  der  Naturphilosophie 
herausgab,  auch  als  er  diese  bereits  einem  höheren  Gesichtspunkt 
unterordnete,   der  »Zeitschrift  für  spekulative    Physik«,    die   er 


NaiurphiloHophio.  251 

1800  «^liiudcic,  der  »Neuen  Zeitschrift  für  spekulative  Physik«, 
die  1804  erschien,  und  der  »Jahrbüclier  der  Medizin  als  Wissen- 
schaft« (180G — 1808).  Es  kann  kein  Zweifel  darüber  sein,  daü 
die  Angriffe,  welche  diese  Lehren  später  von  Seiten  der  Natur- 
forscher erfahren  haben,  zum  «großen  Teile  berechtigt  waren. 
Aber  die  Unrichtigkeiten,  denen  Öchelling  verfiel,  wurzelten  zum 
größeren  Teile  in  dem  unvollkommenen  Zustande  der  damaligen 
Naturwissenschaft  selbst.  Für  die  Ausführung  des  Gedankens, 
eiii  »Systeni  der  Natur <<  zu  konstruieren,  war  die  exakte  For- 
schung damals  noch  weniger  reif,  als  sie  es  heute  ist,  und  wo 
in  der  empirischen  Kenntnis  die  Zwischenglieder  fehlten,  da 
glaubte  Schelling  diese  Lücken  durch  Hypothesen  ausfüllen  zu 
dürfen,  die  er  aus  seinem  Grundgedanken  konstruierte.  Wo  er 
damit  fehlgriff,  da  hat  die  spätere  Forschung  von  ihrer  experi- 
mentellen Sicherheit  her  auf  ihn  herablächeln  zu  können  ver- 
meint; wo  er  damit  späteren  Theorien  und  Nachweisen  Vor- 
griff, da  hat  man  von  glücklichen  Zufällen  und  unbewiesenen 
Einfällen  gesprochen.  Aber  man  hat  nicht  bedacht,  wie  oft  es 
gerade  diese  genialen  Konzeptionen  waren,  welche  die  exakte 
Forschung  der  Folgezeit  auf  den  Weg  der  Untersuchungen  ge- 
führt haben,  mit  denen  sie  jene  Einfälle  durch  positive  Er- 
kenntnis widerlegen  oder  beweisen  konnte.  Man  hat  vor  allem 
vergessen,  daß  gerade  für  die  Entwicklung  der  exakten  For- 
schung der  naturphilosophische  Gedanke,  die  Natur  wieder  als 
ein  Ganzes  zu  fassen  und  die  Identität  ihres  Wirkens  in  der 
Mannigfaltigkeit  ihrer  Formen  zu  verstehen,  eine  mächtige  För- 
derung gew^esen  ist.  Wenn  die  Tendenz  einer  einheitlichen  Natur- 
erklärung den  heutigen  Naturforschern  als  selbstverständlich  er- 
scheint, so  mögen  sie  nicht  übersehen,  daß  die  Ausführung  dieser 
Aufgabe  durch  das  Prinzip,  die  Umsetzung  der  Natmkräfte  in- 
einander^ zu  verstehen,  in  universeller  Weise  zuerst  von  Schelling 
versucht  worden  ist. 

Diese  Bedeutung  der  Naturphilosophie  bleibt  bestehen,  auch 
wenn  sich  herausstellen  sollte,  daß  ihr  Versuch,  das  identische 
Wesen  des  ganzen  Naturprozesses  aus  dessen  "allgemeiner  Zweck- 
bestimmtheit* zu  begreifen,  mißlungen  ist.  In  der  Art,  wie 
Schelling  von  der  Wissenschaftslehre  aus  diese  Aufgabe  erfaßte, 
lag  es  begründet,  daß  sein  Versuch  ihrer  Lösung  nur  teleologisch 


252  Schelling. 

ausfallen  konnte.  Die  Natur  ist  die  werdende  Intelligenz. 
Sie  ist  die  bewußtlose  Vernunft,  welche  Ich  werden  will.  Ihr 
Wesen  besteht  daher  in  dem  Triebe,  der  sein  Ziel  im  Bewußt- 
sein hat.  Sie  erreicht  dies  Ziel  im  animalischen  Leben,  und  das 
Leben  ist  deshalb  der  Eichtbegriff  der  gesamten  Naturphilosophie. 
Schelling  geht  dabei  von  dem  Kantischen  Gedanken  aus,  der  für 
den  Standpunkt  der  damaligen  Naturforschung  noch  mehr  als 
heute  berechtigt  war,  daß  aus  einer  Natur,  deren  Prinzipien 
man  von  vornherein  mechanisch  gefaßt  habe,  das  Leben  niemals 
begriffen  werden  könne.  Deshalb  muß  man  die  Sache  umkehren 
und  die  Natur  aus  dem  Zwecke  des  Lebens  begreifen,  welcher 
in  der  Wissenschaftslehre  aus  dem  Wesen  des  Ich  deduziert 
worden  ist.  Somit  sieht  Schelling  als  das  ursprüngliche  und 
einheitliche  Wesen  der  Natur  ihr  Leben  an.  Was  in  ihr  ^tot 
erscheint,  ist  nur  erstarrtes  oder  noch  nicht  vollkommenes  Leben. 
Man  darf  ihre  Erscheinunoen  nicht  in  ihrer  Vereinzeluno  auf- 
fassen;  sie  ist  vielmehr  nichts  als  ein  großer  Lebenszusammen- 
hang, ein  ewiges  Ineinandergreifen  der  Kräfte,  Ibei  welchem  es 
nur  auf  die  Lebendigkeit  des  Ganzen  ankommt.  Das  war  der- 
selbe Gesichtspunkt  der  Naturauffassung,  den  aus  seinem  ästhe- 
tischen Bewußtsein  heraus  Goethe  vertrat,  und  dieser  bildete 
daher  den  ersten  Berührungspunkt  zwischen  Schelling  und  dem 
großen  Dichter.  Eine  merkwürdige  und  höchst  interessante  Be- 
ziehung gewann  diese  Lehre  zu  Spinoza.  Die  Lehre  des  ver- 
gessenen und  geschmähten  Juden  hatte  in  dem  9.  Jahrzehnt  des 
XVIII.  Jahrhunderts  in  Deutschland  plötzHch  eine  neue  Macht 
gewonnen.  Es  ist  das  Verdienst  Lessings,  ihre  Bedeutung  er- 
kannt zu  haben,  und  dazu  trat  ein  ungewolltes  Verdienst  Jacobis. 
Durch  den  Streit,  der  sich  zwischen  ihm  und  Mendelssohn  über 
den  Spinozismus  Lessings  im  Anschluß  an  Jacobis  »Briefe  über 
die  Lehre  Spinozas«  (Berlin  1785)  entwickelte,  wiurde  die  Auf- 
merksamkeit darauf  noch  mehr  gelenkt,  als  durch  seine  eigene 
Behauptung,  der  Spinozismus  sei  die  vollendete  Form  aller  Wissen- 
schaft. Jedenfalls  wurde  Spinozas  Lehre  um  dieselbe  Zeit,  als 
die  Kritik  der  reinen  Vernunft  ihre  ersten  Erfolge  erlangte,  zu 
einem  Gegenstand  eifrigen  Studiums  in  Deutschland,  und  be- 
sonders wirksam  wurde  der  Gegensatz,  in  welchem  sie  zur 
Kantischen   Freiheitslehre    stand.      Daß    dieser   Gegensatz   nicht 


Natur  als  Lebon.  253 

uniibcrbrückbnr  war,  beruhte  auf  Kant«  Anerkennunf^  der  ab- 
soluten kiiusalon  N()twondi«^keit  in  der  Jlirscheinungswclt:  so  er- 
wuchs eine  große  metaphysische  Aufgabe  für  den  tran.szendentah'n 
Idealismus,  und  diese  gestaltete  sich  schon  bei  Fichte  zu  einem 
wichtigen  Moment  in  der  Weiterentwicklung  des  pliilosophLschen 
Geistes.  Für  die  Wirkung  jedoch,  welche  dies  Moment  ausübte, 
war  weniger  der  Spinozisnius  selbst  als  die  Auffassung  entschei- 
dend, welche  Herder  und  Goethe  davon  hatten,  und  welche 
sich  nun  auch  Scholling  mitteilte.  Sie  übersahen  dabei  allerdings 
vollständig  den  Gegensatz,  worin  sie  sich  mit  ihrer  im  tiefsten 
Grimde  vitalistischen  Naturauffassung  zu  der  rein  mechanischen 
Formalität  Spinozas  befanden,  und  sie  bewunderten  an  diesem 
nur  seinen  großen  Gedanken  eines  absolut  einheitlichen,  unend- 
lichen Naturzusammenhangs.  Aucb  Spinoza  freilich  hatte  zwischen 
anorganischer  und  organiscber  Natur  keinen  Sprung  und  keine 
Verschiedenheit  anerkannt,  und  diese  Universalität  des  Prinzips 
zog  Herder,  Goethe  und  Schelling  zu  ihm  hin.  Aber  es  wurde 
dabei  übersehen,  daß  das  Prinzip  der  Natureinheit  bei  Spinoza 
das  mechanische,  hier  das  organische  war. 

Auch  darin  fühlte  sich  die  Naturphilosophie  wie  damals  Goethe 
diesem  poetisierten  Spinozismus  verwandt,  daß  beide  ihren  BHck 
auf  das  allgemeine  Leben  der  gesamten  Natur  richteten. 
Für  beide  galt  deshalb  das  Individuum  nur  als  eine  vorüber- 
gehende Erscheinung  in  dem  Gesamtprozeß.  Auch  für  die  Wissen- 
schaftslehre war  wenigstens  in  gewissem  Sinne  das  individuelle 
Ich  nur  ein  Mittel  für  das  allgemeine,  das  individuelle  Bewußt- 
sein nur  der  notwendige  Durchgangspunkt  für  die  ewige  imd 
unendliche  Realisierung  des  absoluten  Zweckes.  Deshalb  sind 
auch  der  Naturphilosophie  die  Individuen  mit  ihrem  Sonder- 
bewußtsein nicht  die  letzte  Absicht  der  Natur,  aber  ihre  not- 
wendigen Mittel.  Denn  das  Leben,  auf  das  es  allein  ankommt, 
ist,  wie  Fichte  deduziert  hat,  nur  im  Kampf  und  im  Austausch 
der  Kräfte  möglich,  und  das  Individuum  beruht,  wie  schon  sein 
Springpunkt,  die  Empfindung,  nur  darauf,  daß  entgegengesetzte 
Kräfte  einander  hemmen,  binden  und  beschränken.  Alles  indi- 
viduelle Dasein  in  der  Natur  ist  ein  vorübergehendes  Gebilde, 
in  welchem  das  Wechselspiel  der  Kräfte  zum  Stillstand  kommt, 
um  sogleich  wieder  zu  beginnen. 


■I 


254  Schelling. 

Der  Antagonismus  entgegengesetzter  Kräfte  ist  also  das 
eigentliche  Wesen  der  Natur,  worauf  ihr  Leben  ruht.  Dualis- 
mus  und  Polarität  bilden  die  Grundform  alles  natürlichen 
Geschehens,  und  dieses  besteht  immer  in  der  Synthesis  anta- 
gonistischer Momente.  So  wird  das  triadische  System  der 
Wissenschaftslehre  zum  Prinzip  für  die  gesamte  Deduktion  der 
Naturphilosophie,  und  in  diesem  Sinne  wird  für  Schelling  der 
JJagnet  in  seiner  untrennbaren  Vereinigung  polar  entgegengesetzt 
wirkender  Kräfte  zum  Typus  der  gesamten  Naturkonstruktion. 
Alles  Leben  ist  das  Produkt  entgegengesetzter  Kräfte,  und  jede 
einzelne  Naturerscheinung  kommt  nur  als  Synthesis  antithetischer 
Kräfte  zustande.  Damit  betritt  Schelling  den  Boden  von  Kants 
dynamischer  Naturanschauung.  Was  in  der  Natur  als "^ Ding 
erscheint,  was*^  Stoffe  oder 'A^toni  genannt  wird,  ist  nur  das  Pro- 
dukt von  Kräften.  Die  Naturphilosophie  verlangt  dieselbe  Ab- 
straktion von  der  naiven  Weltauffassung  wie  die  Wissenschafts- 
lehre. Was  als^  Seiendes^  erscheint,  ist  ein  Produkt  des  Tuns. 
Auch  in  der  Natur  sind  nicht  zuerst  Dinge  da,  Körper,  Stoffe, 
Atome,  oder  wie  man  sie  sonst  genannt  hat,  welche  Kräfte 
haben  und  mit  ihnen  funktionieren,  sondern  das  Wesen  der 
Natur  ist  der  Trieb  und  die  Kraft,  und  die  physische  Realität 
entspringt  erst  als  deren  Produkt. 

Nur  so  ist  nach  der  Natiurphilosophie  die  Einheit  des  Natur- 
lebens zu  verstehen.  Sie  ist  unbegreiflich,  wenn  lauter  selb- 
ständige Dinge  existieren  sollen,  die  nach  den  Gesetzen,  von 
denen  niemand  weiß,  woher  sie  kommen  und  was  sie  mit  diesen 
Dingen  zu  tun  haben,  in  Zusammenhang  treten.  Sie  ist  aber 
völlig  verständlich,  wenn  diese  Dinge  nur  die  Produkte  von 
Trieben  und  Kräften  sind,  welche  sämtlich  die  Ausgestaltungen 
eines  ürtriebes  bilden,  der  sich  in  die  Gegensätze  spaltet,  um 
zu  leben  und  um  sein  Ziel  zu  erreichen.  Nicht  als  ein  Aggregat 
von  Atomen  in  mechanischen  Beziehungen,  sondern  als  das  ein- 
heitliche Leben  einer  Urkraft,  die  in  immer  wechselnder  Gestal- 
tung ihrem  Ziele  zustrebt,  ist  das  System  der  Natur  zu  begreifen. 
Diese  Ahnung  schwebte  den  Denkern  vor,  welche  von  einer 
>>^Weltseele«  gesprochen  haben,  deren  lebendige  Entfaltung  das 
Universum  sei.  Weltseele  ist  das  Ich,  das  aus  dem  unbewußten 
Triebe  zum  bewußten  Leben  kommen  will  und  durch  alle  Ge- 


Katep;orion  der  Natur.  255 

stalten  der  iinorganischon  und  der  orj^'anischen  Natur  t^'ivh  zu 
dieser  Selhsterfassung  emporrin^t;  es  ist  der  »Uiesengei.st«,  der 
.sich  versteinert  findet,  dvr  sich  wunderlicli  reckt  und  dehnt,  die 
rechte  Form  und  Gestalt  zu  finden,  und  der  endlicli  in  einem 
Zwerge  —  »heißt  in  der  Sprache  Menschenkind«  —  vor  sich 
selber  staunt. 

Hinter  dieser  großartigen  Konzeption  des  Ganz<'n  bleibt  nun 
freilich  die  besondere  Deduktion,  womit  die  Naturphilosophie  die 
notwendige  Umbildung  der  Naturkraft  aus  den  niederen  in  die 
höheren  Formen  zu  konstruieren  unternimmt,  bedeutend  zurück. 
Es  zeigt  sich  dies  vor  allem  darin,  daß  Schelling  selbst  in  den 
verschiedenen  Darstelluncfen  die  »Kategorien  der  Natur«  nicht 
immer  in  der  gleichen  Reihenfolge  und  die  teilweise  sehr  ge- 
künstelten Übergänge  aus  der  einen  in  die  andere  auf  sehr  ver- 
schiedene Weise  entwickelt  hat,  wenn  auch  selbstverständlich  die 
GrundzÜ2[e  des  Systems  dieselben  geblieben  sind. 

Den  Ausgangspunkt  bildet  immer  Kants  dynamischer  Begriff 
von  der  Materie.  Der  Gegensatz  der  zentrifugalen  und  der  zentri- 
petalen Kraft  erschien  um  so  fundamentaler,  als  auch  Fichte  in 
der  Deduktion  der  Empfindung  das  Verhältnis  der  unendlichen 
zu  der  beschränkenden  Tätigkeit  des  Ich  darauf  zurückgeführt 
hatte.  Hatte  dieser  daraus  die  subjektive  Erscheinung  der  Emp- 
findung abgeleitet,  so  deduziert  nun  Schelling  mit  Kant  die  ob- 
jektive Erscheinung  der  Materie  aus  demselben  Gegensatze,  welcher 
in  diesem  Fall  als  derjenige  der  Repulsion  und  der  Attraktion 
auftritt.  Auf  das  Intensitätsverhältnis  dieser  beiden  Kräfte  sucht 
Schelling  mit  Kant  die  Funktionen  der  Schwere,  der  Kohäsion, 
der  Elastizität,  besonders  aber  die  verschiedenen  Aggregatzustände 
und  in  einigen  Darstellungen  sogar  einen  Teil  der  chemischen  Eigen- 
schaften zurückzuführen.  Der  gesamten  ponderablen  Materie  tritt 
aber  sodann  als  der  notwendige  Gegensatz  die  imponderable  oder 
der  Äther  hinzu,  und  aus  der  Synthesis,  aus  der  gegenseitigen 
Hemmung  beider  deduziert  Schelling  das  Licht  und  die  Wärme. 
Erst  auf  der  höheren  Stufe  jedoch  tritt  das  der  Natur  eigentüm- 
liche und  auch  in  dem  Verhältnis  der  ponderablen  zur  impon- 
derablen  Materie  noch  verdeckte  Grundgesetz  der  Dualität  und 
der  Polarität  klar  und  deutlich  hervor.  Diese  höhere  Stufe  be- 
ginnt mit  den  elektrischen  Erscheinungen,   deren  tieferen  Grund 


256  ScheUing. 

Schelling  im  Magnetismus  sucht.  Wenn  die  spätere  Forschung 
das  Verhältnis  geradezu  umgekehrt  hat,  so  ist  doch  nicht  zu  ver- 
gessen, daß  es  wesentlich  auf  Veranlassung  dieses  Schellingschen 
Hinweises  war,  als  die  ersten  experimentellen  Untersuchungen 
über  den  Zusammenhang  der  Elektrizität  und  des  Magnetismus  von 
Oerstedt  gemacht  wurden.  Die  höchste  Form  der  unorganischen 
Polarität  glaubte  endlich  Schelling  in  den  chemischen  Wirkungen 
des  elektrischen  Prozesses  sehen  zu  dürfen,  und  in  dieser  Beziehung 
wurde  die  Entdeckung  der  Voltaschen  Säule  (1800)  für  die 
Naturphilosophie  von  großer  Bedeutung.  Denn  so  bildet  der  Gal- 
vanismus  den  Übergang  in  die  organische  Welt.  In  dieser  hält 
sich  die  Schellingsche  Konstruktion  wesentlich  mit  Kielmeyer  an 
das  Verhältnis  der  drei  Grundkräfte  der  Keproduktionsfähigkeit, 
der  Irritabilität,  d.  h.  der  physiologischen  Reizbarkeit,  und  der 
Sensibilität,  d.  h.  der  animalen  Empfindungsfähigkeit.  Bei  den 
niederen  Organismen  überwiegt  die  Reproduktion  nicht  nur  in 
der  Ungeheuern  Masse  der  Vermehrung,  sondern  auch  darin,  daß 
das  einzelne  Individuum  fast  nichts  anderes  als  ein  Durchgangs- 
punkt in  der  Kontinuität  der  Gattung  ist,  und  daß  seine  selb- 
ständige Funktion  und  noch  mehr  seine  Empfindungstätigkeit  von 
der  allergeringsten  Ausdehnung  ist.  In  dem  Stufenreiche  der  Or- 
ganisation kehrt  sich  dies  Verhältnis  allmählich  um;  die  Repro- 
duktion nimmt  immer  mehr  ab,  sowohl  hinsichtlich  ihrer  Masse, 
als  auch  hinsichtlich  der  Bedeutung,  welche  sie  im  Leben  des  In- 
dividuums einnimmt,  dagegen  wächst  um  so  mehr  die  Verschieden- 
heit in  der  Reaktion  auf  äußere  Einflüsse,  und  die  Fähigkeit  der 
spezifischen  Reaktion  auf  spezifische  Reize  gipfelt  endlich  in  der 
bewußten  Empfindung.  In  den  höchsten  Organismen  überwiegt 
deren  SensibiHtät  derartig,  daß  die  beiden  anderen  Funktionen 
untergeordnet  erscheinen,  und  dabei  erreicht  zugleich  die  Re- 
produktion ihre  vollkommenste,  die  polare  Form:  sie  tritt  als  ge- 
schlechtliche Zeugung  auf.  So  zeigt  sich  das  ganze  Reich  der 
Organismen  als  eine  Variation  des  Verhältnisses  dieser  drei  Funk- 
tionen. Diese  seine  Einheit  tritt  in  dem  gemeinsamen  Typus  der 
Organisation  hervor,  den  die  vergleichende  Anatomie  zutage  ge- 
fördert hat.  Die  Verschiedenheit  dagegen  tritt  in  der  Gestalt 
eines  kontinuierlichen  Fortschritts  auf,  womit  durch  die  feinsten 
und    zartesten  Übergänge    die    niedere   Form   allmählich   in   die 


Kntwiükluiif^Hlehro.  2i)l 

liöluMV  übergeht.  Dieses  Verhältnis  bezeichnet  Schellinf^  als  Ent- 
wickliin«^.  Er  hat  weder  geleugnet  noch  anderseits  ausdriickhcli 
behauptet,  daß  dieser  Übergang  des  Unvollkommenen  in  das  Voll- 
kommenere eine  historische  TatsaclRi,  d.  h.  ein  zeitlicher  Prozeß 
sei,  und  seine  Entwicl<lungslehre  ist  daher  nicht  im  eigentlichsten 
Sinne  als  Deszendenztheorie  aufzufassen.  Die  »Entwicklung«  ist 
für  ihn  ein  ideelles  Verhältnis,  dasselbe  wie  bei  den  großen  Plii- 
losophen  des  Altertums  und  wie  bei  Leibniz;  sie  will  nur  sagen, 
daß  die  Stufenleiter  der  Natur  ein  System  von  Erscheinungen 
bilde,  in  welchem  jede  einen  bestimmten  Platz  im  Verhältnis  zu 
den  übrigen  einnimmt,  und  in  dessen  Zusammenhange  sich  die 
Grundidee  mit  allen  ihren  Beziehungen  ausbreitet.  Diese  Ent- 
wicklunsjslehre  enthält  somit  nicht  sowohl  eine  Theorie  der  kau- 
salen  Erklärung,  als  vielmehr  eine  Deutung  der  Erscheinungen. 
Sie  will  die  Bedeutung  begreifen,  die  im  System  des  Ganzen 
dem  Einzelnen  gebührt;  sie  ist  in  letzter  Instanz  eine  Lehre  von 
dem  Werte,  welcher  den  einzelnen  Erscheinungen  in  bezug  auf 
den  Gesamtzweck  der  Natur  zukommt.  Darum  sind  alle  ihre  De- 
duktionen, alle  ihre  Vermittlungen  und  Übergänge  teleologisch 
gemeint,  und  sie  wird  nur  in  dem  Sinne  auch  zu  einer  Deszendenz- 
theorie, als  sie  von  dem  Gesichtspunkte  der  Wissenschaftslehre 
ausgeht,  daß  der  Ursprung  aller  Dinge  in  dem  Zweck  zu  suchen 
sei,  den  sie  zu  erfüllen  haben.  Der  Übergang  der  Naturformen 
ineinander  ist  bei  Schelling  nicht  mechanisch,  sondern  teleologisch 
bedingt.  Das  war  der  Grund,  weshalb  die  Naturforschung  mit 
seinen  Auffassungen  des  Zusammenhanges  der  einzelnen  Natur- 
kräfte und  insbesondere  der  organischen  Arten  direkt  nichts  an- 
zufangen  wußte.  Er  will  gar  nicht  die  mechanische  Kausalität 
verstehen,  wodurch  diese^ Umwandlung  vollzogen  wird,  sondern 
er  begnügt  sich  damit,  zu  zeigen,  daß  der  allgemeine  Zweck  der 
Natur  diese  Umwandlung  notwendig  mache,  und  er  betrachtet 
diese  teleologische  Notwendigkeit  als  den  zureichenden  Grund  der 
Wirklichkeit.  Darin  liegt  sein  großer  Abstand  von  der  Kantischen 
Teleologie.  Für  Kant  war  die  Betrachtung  der  Zweckmäßigkeit 
das  heuristische  Prinzip  für  die  Aufsuchung  des  kausalen  Mechanismus, 
für  Schelling  ist  sie  ein  metaphysisches  Prinzip  der  Erklärung. 
Dieser  Abstand  ist  gerade  so  weit  wie  derjenige  zwischen  dem 
Kritizismus,  der  die  Metaphysik  auf  die  Erscheinungen  beschränkt, 

Windelband,  Gesch.  d.  n.  Philos.    H.  17 


258  Anhänger  der  Naturphilosophie. 

und  der  Wissenschaf tslehre ,  welche  durch  Aufhebung  des  Ding- 
an-sich-begriffes  den  Boden  für  eine  neue  Metaphysik  gewann. 

In  der  Sensibilität  der  Organismen  gipfelt  das  System  der 
Natur.  Sie  endet  da,  wo  die  bewußte  Intelligenz  anfängt:  bei 
der  Empfindung.  Durch  die  Stufenreihe  der  Kräfte  hindurch  er- 
reicht sie  zum  Schluß  den  Zweck,  auf  den  sie  in  bewußtloser 
Notwendigkeit  hindrängt.  In  dem  ganzen  Formenreiche  ihrer  Er- 
scheinungen ist  sie  nichts  als  werdender  Geist.  Sie  ist  deshalb 
im  eigentlichen  Sinne  die  sichtbar  gewordene  Vernunft.  Die  natür- 
liche und  die  vernünftige  Welt  sind  im  tiefsten  Grund  identisch. 
Die  eine  enthält  unbewußt,  was  die  andere  im  Bewußtsein  hat, 
und  der  ewige  Prozeß  der  Natur  ist  nur  der,  in  ihrem  bewußt- 
losen Triebe  den  Geist  zu  erzeugen.  Mit  dieser  Durchführung 
des  naturphilosophischen  Prinzips  überschritt  SchelHng,  ohne  daß 
er  es  wollte,  den  Standpunkt  der  Kantischen  und  Fichteschen 
Weltauffassung.  Der  ethischen  Metaphysik,  welche  diese  beiden 
lehrten,  war  der  Gegensatz  von  Natur  und  Vernunft  wesentlich 
gewesen.  Aber  sie  waren  freilich  in  mehr  als  eine  Schwierigkeit 
dadurch  verwickelt  worden,  daß  auch  sie  die  Vernunftgesetzgebung 
in  der  Natur  nach  der  einen  oder  der  andern  Richtung  hin  an- 
zuerkennen genötigt  waren.  Indem  Schelling  damit  völlig  Ernst 
machte  und  die  Natur  restlos  in  Vernunft  aufzulösen  suchte, 
gab  er  jenen  Gegensatz  auf,  und  so  wurde  für  ihn  die  Natur 
ein  reines  Vernunftprodukt.  Damit  charakterisiert  sich  diese 
Lehre,  welche  in  der  Natur  nichts  anderes  als  die  bewußtlose 
Erscheinung  der  Vernunft  sehen  will,  als  physischen  Idea- 
lismus. 

Die  Naturphilosophie  hatte  einen  mächtigen  Erfolg  und  gewann 
in  kürzester  Zeit  eine  Reihe  bedeutender  und  begeisterter  An- 
hänger. Ihr  ideenreicher  Versuch,  in  der  Natur  den  Geist  wieder- 
zuerkennen, übte  eine  zündende  Anregung  aus.  Aber  diese  Wirkung 
war  zum  Teil  nicht  so  glücklich,  wie  sie  lebhaft  war.  Schellings 
eigene  Lehre  schon  überschritt  die  rein  wissenschaftliche  Behandlung 
der  Natur  und  betrachtete  ihr  Objekt  vielfach  unter  Analogien 
und  Deutungen,  die,  mochten  sie  noch  so  geistreich  konzipiert 
sein,  doch  schließlich  mehr  der  Phantasie  als  dem  strengen  Denken 
angehörten.     Dies  Verhältnis  trat,  wie  immer,  noch  weit  mehr  bei 


Novaliü.  25ü 

(Ich  SchiiNMii  horvor.  Es  l)einii(h(it;te  nicli  der  ihm  NahcHtchciMlcn 
eine  Art  von  Rausch  der  Nulurspekulation,  und  die  Phantasie 
boj^ann  mit  ihrem  Spiel  von  Deutungen,  Ver^Moichun^en  und  Kom- 
binationen jene  Or<^ncn  zu  feiern,  welche  ihr  später  die  Verachtuii;^ 
der  exakten  Wissenschaft  zum'zoi^en  und  den  Namen  der  Natur- 
philosophie zu  einem  »Schmiiliwort  «gemacht  haben.  Am  meisten 
wirkte  Schellings  Lehre  auf  poetisch  anj;ele<^e  Gemüter.  Seine 
Konstruktion  der  Natur  war  ja  selbst  mehr  ein  großartig  gedachtes 
Gedicht  als  ein  wissenschaftliches  System,  ein  Gedicht  von  reizender 
Schönheit,  für  welches  nur,  wie  bei  Dichtungen  üblich,  die  Be- 
weise fehlten.  Wenn  er  im  Leben  der  Natur  das  leise  Herauf- 
dämmern des  Geistes  schilderte,  so  ist  es  begreiflich,  wie  ihn 
freudig  die  Dichter  begrüßten,  die  in  den  Gestalten  der  Natur, 
in  den  phantastischen  Bildungen  des  äußeren  Daseins  die 
Stimmungen  und  die  Geschicke  der  Seele  wiedergespiegelt  fanden. 
So  sab  sieb  Tieck  von  der  Naturphilosophie  ergriffen,  und  vor 
allem  die  Märchendichtung,  deren  Art  es  ja  ist,  den  Geist  in  die 
Natur  hineinzutragen,  mußte  der  Schellingschen  Lehre  wie  ihrem 
wissenschaftlichen  Zwillingsbruder  entgegenkommen.  Auf  diese 
Weise  begannen  in  der  Naturphilosophie  Poesie  und  Wissenschaft 
ineinander  zu  verschwimmen.  In  der  analogischen  Betrachtung 
der  Natur  verwischten  sich  ihre  Grenzen,  und  die  Phantastik  fing 
an,  sich  für  Wissenschaft  zu  halten.  Als  ein  Typus  dafür  dürfen 
die  abgerissenen  Bemerkungen  gelten,  welche  Novalis  (Friedrich 
von  Hardenberg  1772 — 1801)  in  seinen  »Fragmenten«  niederlegte. 
Sie  beruhen  alle  auf  einer  Grundauffassung,  die  tief  in  Fichtes 
Wissenschaftslehre  und  zugleich  in  des  philosophischen  Dichters 
eigenes  Gemüt  zurückweist.  Sie  betrachten  alle  äußere  Natur  als 
Erscheinung  und  Symbol  des  inneren  Trieblebens,  sie  suchen  hinter 
dem  Mechanismus  ein  geistiges  Gestalten  und  betrachten  so  die 
gesamte  Welt  in  Raum  und  Zeit  unter  dem  Gesichtspunkte  des 
magischen  Idealismus.  Wie  Novalis  selbst  wünschte  und 
hoffte,  von  seinem  Innenleben  des  Willens  her  den  starren  Zu- 
sammenhang der  Naturnotwendigkeit  zu  durchbrechen,  geistige 
Beziehungen  über  den  Tod  hinaus  fortzusetzen,  so  verwandelten 
sich  ihm  die  Geheimnisse  der  Naturerkenntnis  in  phantastische 
Allegorien.  Neben  feinen  und  geistreichen  Wendunsfen  finden  sich 
hier  Sätze,  in  denen  das  empirische  Denken  kaum  mehr  den  Rest 

17* 


260  Steffens. 

eines  Sinnes  zu  entdecken  vermag.  Da  heißt  die  Natur  eine  ver- 
steinerte Zauberstadt  oder  ein  enzyklopädischer  Index  unseres 
Geistes,  da  heißt  aber  auch  der  Raum  ein  Niederschlag  aus  der 
Zeit,  das  Wasser  eine  nasse  Flamme,  heißt  Farbe  das  Bestreben 
des  Stoffes,  Licht  zu  werden  und  umgekehrt,  —  da  ist  Denken 
Galvanisation,  da  soll  im  Schlaf  der  Körper  die  Seele  ver- 
dauen usf. 

Geht  dabei  die  geistreiche  Analogie  in  Phrase  über,  welche 
um  so  gefährlicher  ist,  als  sie  eine  tiefe  Erkenntnis  zu  sein 
glaubt,  so  sind  anderseits  auch  viel  wertvollere  Wirkungen  von 
der  Naturphilosophie  ausgegangen.  Sie  bot  eben  doch  neben 
diesen  spielenden  Deutungen  eine  Eeihe  bedeutender  Gesichts- 
punkte  dar,   welche   sich   für   die  Naturwissenschaften   fruchtbar 

'^fu^v.  erweisen  sollten.  So  wendete  vor  allen  Steffens  (ein  geborener 
Norweger,  1773  geboren,  in  Deutschland  gebildet  und  als  deutscher 
Universitätslehrer  tätig,  in  BerHn  1845  gestorben)  in  seinen 
»Beiträgen  zur  inneren  Naturgeschichte  der  Erde<<  (1801)  das 
Schellingsche  Prinzip  auf  die  in  der  Umwälzung  begriffene  und 
durch  seinen  Lehrer  Werner  in  Freiberg  mächtig  geförderte  Wissen- 
schaft der  Geologie  an  und  stellte  zuerst  auf  Grund  der  Tat- 
sachen die  Idee  einer  »geologischen«  Entwicklungsgeschichte  des 
Planeten  auf,  vermöge  deren  dieser  sich  in  allmählicher  Um- 
bildung zum  Träger  des  organischen  Lebens  gestaltet  und  zu 
dessen  immer  höherer  Ausbildung  befähigt  habe.  So  verfehlt  die 
einzelnen  Hypothesen  gewesen  sein  mögen,  in  denen  er  diesen 
Gedanken  durchführte,  so  groß  bleibt  das  Verdienst  des  letzteren 
selbst,  und  auch  dieser  beruhte  doch  schließlich  auf  dem  teleo- 
logischen Grundprinzip  Schellings,  daß  alles  Leben  auch  der 
sogenannten  unorsjanischen  Natur  in  dem  Zwecke  wurzele,  den 
Geist  zu  erzeugen.  /Am  meisten  jedoch  lassen  sich  selbstver- 
ständlich die  Anregungen  Schellings  auf  dem  Gebiete  der  orga- 
nischen  Naturforschung   verfolgen.      Es    war   ausdrückhch    unter 

\f>y^xxy^  seinem  Einfluß,  daß  Carus  (1789 — 1869)  die  vergleichende  Ana- 
tomie in  Deutschland  einbür<:erte.  Der  Nachweis  der  Identität 
des  Baues  in  der  Fülle  der  Organismen  galt  auch  ihm  nur  als 
ein  Beweis  für  die  Einheitlichkeit  des  Plnnes,  nach  welchem  das 
gesamte  Leben  von  der  unvollkommensten  bis  zur  vollkommensten 
Form  aufgebaut  ist.    Ein  wahrhaft  fruchtbarer  Vertreter  aber  dieses 


ükon.  2V)\ 

rrinzip.s  war  Lokmiz  Okcn  (1779—1851).  Er  int  für  Dcnt«chlan(l  OA* 
der  Bü«^ründer  clt^r  ürL,'anül()»4i. cIkmi  Entwicklunij^sgcscliicbtc;  auch 
er  lehrte  (»Die  liedoutuii^  der  Schiuh'lknochon«  1807),  daß  man 
im  Schädel  nur  eine  höher  cnt'wickelle  Form  des  Wirbels  zu 
sehen  habe;  er  beliauptcte  bereits  au.sdrückbch,  daß  das  ^anze 
Stufeureich  der  Or«;anisnien,  die  Tiere  so  gut  wie  die  Pflanzen, 
durch  allmähliche  Umbildung  aus  einem  organischen  Urschleim'^-' 
entstanden  sei,  der,  in  unendlichen  Formen  differenziert,  den 
Stoff  aller  Organismen  bilde.  Er  gliederte  das  ganze  Tierreich 
nach  dem  teleologischen  Gesichtspunkte,  daß  die  sechs  verschie- 
denen Systeme,  die  er  in  der  physiologischen  Funktion  des 
Menschen  annahm,  in  den  sechs  Grundklasseu  des  Tierreiches  die 
innerhalb  jeder  einzelnen  mannigfach  variierten  Typen  darstellen 
sollen,  so  daß  das  ganze  Tierreich  überall  den  zerstückten  Menschen 
enthält.  Er  betrachtet  ebenso  auch  den  ganzen  Prozeß  der  Organi- 
sation als  einen  Weg  der  Entwicklung,  den  die  Natur  durch  viele 
verfehlte  Bildungen  hindurch  nimmt,  um  zu  der  Erreichung  des 
Zweckes  der  bewußten  Intelligenz  erst  im  Menschenleben  zu  ge- 
langen. Aber  ihm  lösen  sich  diese  Betrachtungen  vollständig  von 
dem  Prinzip  der  Wissenschaftslehre  ab,  ihm  ist  schon  die  Natur 
—  nicht  ohne  Einfluß  Spinozas  —  eine  vollkommen  selbständige 
Existenz,  er  tritt  ganz  zum  physischen  Pantheismus  über  und 
sucht  diesen  in  einer  Weise  zu  begründen,  deren  Formeln  bereits 
auf  Schellings  absolutes  Identitätssystem  (vgl.  unten  §  66)  zurück- 
zuführen sind. 

Aber  das  Prinzip  der  Naturphilosophie  leitete  noch  über  das 
organische  Leben  hinaus  in  die  Psychologie  hinüber.  Galt  die 
Natur  als  bewußtlose  Intelligenz,  so  mußte  der  Übergang  von 
ihr  zum  Bewußtsein  zuletzt  in  jenen  dunklen  Regionen  des 
geistigen  Daseins  gesucht  werden,  welche  dem  bewußten  Vernunft- 
leben in  uns  zugrunde  Hegen.  Vom  Standpimkte  der  Naturphilo- 
sophie aus  mußte  sich  daher  für  die  Psychologie  das  Bestreben 
geltend  machen,  diese  »Nachtseite«  der  menschlichen  Psyche, 
diesen  unbewußten  Untergrund  des  bewußten  Lebens  eingehend 
zu  erforschen  und  ihn  als  den  wahren  Übergang  der  organischen 
Natur  in  das  vernünftige  Dasein  zu  begreifen.  Solche  Tendenzen 
finden  sich  bei  Carus  (»Vorlesungen  über  Psychologie«  1831  und 
»Psyche,  zur  Entwicklungsgeschichte  der  Seele«  1846),  bei  Steffens 


262  Schellings  transzendentaler  Idealisraus. 

(»Anthropologie«,  Breslau  1822),  bei  Burdach  (»Anthropologie« 
1827),  vor  allem  aber  bei  Schubert  (1780—1860),  der  dem  allge- 
meinen Publikum  wie  Oken  als  Verfasser  verbreiteter  Handbücher 
der  Naturgeschichte  bekannt  ist.  Seine  »Ahndungen  einer  allge- 
meinen Geschichte  des  Lebens«  (1806 — 1821),  mehr  noch  seine 
»Geschichte  der  Seele«  stellen  diesen  Gesichtspunkt  in  den  Vorder- 
grund, und  von  demselben  aus  beschäftigte  er  sich  besonders  mit 
der  unbewußten  Grundlage  der  psychischen  Störungen,  mit  den 
geheimnisvollen  Erscheinungen  des  Somnambulismus  und  jenem 
rätselhaften  Ineinandergreifen  bewußter  und  unbewußter  Tätig- 
keiten, welches  die  menschhche  Psyche  auf  der  schwanken  Grenze 
der  natürüchen  und  der  vernünftigen  Welt  erscheinen  läßt. 


§  65.     Der  ästhetische  Idealismus. 

Schiller  und  die  Romantiker. 

Die  "Naturphilosophie,  vom  Prinzip  der  Wissenschaftslehre  aus 
begonnen  und  anfänglich  ihr  untergeordnet,  war  unter  Schellings 
Händen  mehr  und  mehr  zu  einer  selbständigen  Disziphn  gereift. 
Sie  erschien  ihm  jetzt  als  eine  Ergänzung  und  ein  Gegenstück 
der  Wissenschaftslehre.  Zeigte  die  letztere,  wie  das  Ich  um  seines 
praktischen  Zweckes  willen  die  Natur  als  das  Nichtich  setzt, 
zeigte  sie,  wie  das  Ich  Natur  wird,  so  hat  die  Naturphilosophie 
die  umgekehrte  Aufgabe,  zu  entwickeln,  wie  die  Natur  zum  Ich 
wird.  Indem  Schelling  noch  daran  festhält,  sich  mit  Fichte  einig 
wissen  zu  wollen,  faßt  er  dies  Verhältnis  so  auf,  daß  die  Philo- 
sophie oder  Wissenschaftslehre  nach  den  allgemeinsten  Grund- 
bestimmungen sich  in  zwei,  einander  umgekehrt  korrespondierende 
Teile  zerlege,  einen  objektiven,  welcher  als  Naturphilosophie  die 
Entwicklung  der  Natur  zum  Bewußtsein  darstelle,  und  einen  sub- 
jektiven, welcher  die  in  Fichtes  Wissenschaftslehre  behandelte 
»Geschichte  des  Bewußtseins«  zu  seinem  Inhalte  habe.  Diesen 
subjektiven  Teil  der  Philosophie  benannte  Schelling  jetzt  mit 
dem  Namen  der  Transzendentalphilosophie  oder  des  transzen- 
dentalen Idealismus.  Indem  er  aber  an  die  selbständige  Be- 
arbeitung dieser  zweiten  philosophischen  Grundwissenschaft  geht, 
bilden  sich  ihm  unter  der  Hand  die  Fichteschen  Gedanken  der- 
artig um,    daß   das  Gesamtbild   dieses   notwendigen  Systems  der 


BedouiuiiRf  dcir  Anthotik.  203 

Vornuiiftliiiiullun^^cn  ein  wrHentlich  anderes  wird.  Zu  dem  Gegen- 
aatze  der  theoretischen  und  der  praktischen  Wissenschaftslehre, 
welcher  sich  selbstverstiindlich  in  diese  neue  Phase  des  Scheüinj;- 
schen  Denkens  hinüberzieht,  tritJL  der  He^^riff  einer  dritten  Ver- 
nunltfunktion  hinzu,  die  in  der  Versöhnung  des  Gegeiusatzes  den 
Abschhiß  des  Systems  und  die  Krönung  des  Gebäudes  bildet. 
Aus  den  Grundbestimmungen  dov  Kantischen  Philosophie  und  aus 
der  schon  durch  die  Naturphih)8ophie  bekundeten  Einwirkung  der 
Kritik  der  Urteilskraft  auf  das  Schellingsche  Denken  ist  von 
vornherein  abzusehen,  daß  diese  verknüpfende  Funktion  nur  die 
ästhetische  sein  konnte.  Wenn  aber  so  der  ganze  Entwurf,  den 
Schelling  hier  von  der  Transzendentalphilosophie  machte,  auf  die 
Überwindung  des  Gegensatzes  von  theoretischer  und  praktischer 
Vernunft  durch  die  ästhetische  hinausläuft,  so  lagen  die  Prä- 
missen dafür  zwar  vollständig  schon  in  Kants  Philosophie;  allein, 
bevor  Schelling  sich  ihrer  bemächtigte,  hatten  sie  bereits  eine 
Weiterbildung  erfahren,  die  jetzt  für  ihn  bestimmend  wurde.  Diese 
war  nicht  von  allgemein  philosophischem  Interesse,  sondern  von 
spezifisch  ästhetischen  Tendenzen  ausgegangen,  die  durch  Kants 
Werk  eine  mächtige  Anregung  erfahren  hatten.  Ihre  Träger  waren 
daher  Dichter,  welche  sich  in  bezug  auf  die  Theorie  des  ästhe- 
tischen Lebens  mit  der  neuen  Philosophie  auseinanderzusetzen 
suchten  und  dadurch  die  für  die  Weiterentwicklung  entscheidende 
Verschmelzung  der  philosophischen  und  der  poetischen  Bewegung 
herbeiführten.  So  wurde  die  Ästhetik  nicht  nur  das  lebendige 
Zwischenglied  zwischen  beiden,  sondern  auch  auf  der  einen  Seite 
eine  Macht  in  der  poetischen  Produktion,  auf  der  andern  Seite 
ein  wesentliches  Moment  für  die  philosophische  Weltauffassung. 
Nach  beiden  Richtungen  hin  ist  diese  Wirkung  eine  mächtige  ge- 
wesen, aber  sie  hatte  auch  nach  beiden  ebenso  ihre  gefährlichen 
wie  ihre  segensreichen  Folgen.  In  der  Dichtung  gab  sie  zu  einer 
philosophischen  Vertiefung  Anlaß,  welche  die  höchsten  und  wert- 
vollsten Interessen  des  menschhchen  Denkens  zu  Gegenständen 
einer  poetischen  Darstellung  machte,  von  der  Schillers  sogenannte 
philosophische  Gedichte  das  unerreichte  und  unvergleichliche  Muster 
sind.  Aber  sie  führte  zugleich  durch  das  Überwiegen  des  theo- 
retisierenden  und  reflektierenden  Moments  eine  Absichtlichkeit  und 
Gekünsteltheit  herbei,    die   der   poetischen   Produktion   schadete, 


264  Schiller. 

wie  es  namentlich  bei  den  Romantikern  ersichtlich  ist./ Die  Philo- 
sophie anderseits  gewann  dadurch  nicht  nur  einen  Blick  auf  den 
Zusammenhang  des  menschlichen  Kulturlebens,  wie  er  in  dieser 
großartigen  Allseitigkeit  bis  dahin  gemangelt  hatte,  sondern  auch 
für  ihre  Darstellung  eine  viel  lebendigere  Form,  vermöge  deren 
sie  mit  dem  allgemeinen  Bewußtsein  eine  viel  innigere  Fühlung 
erzielen  und  erhalten  konnte  als  in  der  abstrakten  Schulmäßigkeit ; 
aber  es  drang  zugleich  damit  in  sie,  wie  es  schon  bei  der  Natur- 
philosophie der  Fall  war,  die  phantasievolle  Deutung  und  das 
ästhetische  Bedürfnis  überhaupt  in  einer  Ausdehnung  ein,  welche 
der  strikten  Wissenschaftlichkeit  feindselig  war  und  dadurch 
den  Erkenntniswert  ihrer  Konstruktionen  auf  das  lebhafteste  ge- 
schädigt hat. 

Der  Führer  dieser  Bewegung  ist  Schiller.  Als  Dichter  wohl 
hie  und  da  überschätzt,  ist  er  in  seiner  wahrhaft  großartigen 
Bedeutung  für  das  deutsche  Geistesleben  selten  voll  gewürdigt 
worden.  Sie  besteht  eben  darin,  daß  er  die  Bahn  eröffnet  hat, 
auf  der  ein  Jahrzehnt  lang  das  poetische  und  das  phüosophische 
Schaffen  der  deutschen  Nation  Hand  in  Hand  gegangen  sind. 
Und  er  hat  diese  Bedeutung  dadurch  gewonnen,  daß  er  zuerst 
mit  gleich  innigem,  mit  gleich  tiefem  Verständnis  das  Wesen  Kants 
und  dasjenige  Goethes  begriff,  daß  er  ihren  Gegensatz  in  sich  aus- 
zusöhnen und  aus  ihrer  Verknüpfung  das  Ideal  der  höchsten  Bil- 
dung zu  gewinnen  suchte.  Von  allen  den  Geistern,  in  denen  der 
Einfluß  jener  beiden  Genien  sich  kreuzte,  ist  er  der  erste  ge- 
wesen, ist  er  mit  Schelling  der  vornehmste  geblieben.  Er  ist  zur 
vollen  Reife  seines  eigenen  Geistes  und  seiner  poetischen  Schöp- 
fungen erst  dadurch  gediehen,  daß  er  mit  diesen  beiden  Männern, 
die  ihn  merkwürdigerweise  anfangs  beide  abstießen,  die  innigste 
Fühlung  gewonnen  hat.  In  seinem  Wesen  ist  schon  von  Juueiid 
an  eine  wunderbare  Mischung  des  künstlerischen  Geistes,  in  welchem 
er  schließlich  seine  Verwandtschaft  mit  Goethe  fand,  und  des  rin- 
genden Charakters,  worin  er  Fichte  ähnelte,  und  von  dem  aus 
er  wie  dieser  das  Verständnis  Kants  gewann. 

Der  Gegensatz  dieser  Elemente  bedingte  die  stürmischen  Um- 
wälzungen, die  migelösten  Widersprüche  seiner  Jugend,  und  erst 
auf  der  Höhe  seines  Lebens  in  Jena  und  Weimar  klärte  er  sich 
zu  bewunderungswürdiger  Reife  ab.     Es  war  in  ihm  ebenso  viel 


ÄsthetiBohc  AbhttnUluugen.  205 

sprülieiulc  und  spruih  Indc  (Icniaiitiit  wie  sittenstrenger  Ernst  uwd 
Neigun«4  zur  bojArifflichcn  AbHlraktion.  J)er  RigoriBmuH  Kant» 
schlug  in  Briiiom  Cliarakter  niclit  minder  verwandte  Saiten  an 
als  die  schöne  Freiheit  in  der  individueUcn  Iveben.sgestaliung  bei 
Goethe,  und  die  (Jaben  des  Denkers  waren  ihm  ebenso  eigen  wie 
dieieuigen    des  Künstlers.     Er  besaß   die    naive  Kindlichkeit  des 


wahren  Dichters  und  daneben  die  männliche  Reflexion  des  Cha- 
rakters, der  alles  aus  Prinzipien  zu  gestalten  und  zu  begreifen 
denkt.  Es  gibt  unter  seinen  Schöpfungen  solche,  in  denen  das 
eine  oder  das  andere  Element  rein  und  mit  ungeteilter  Kraft 
waltet,  es  gibt  viele  darunter,  in  denen  namentlich  das  letztere 
das  erstere  beeinträchtigt,  und  die  höchsten  sind  die,  in  denen 
beide  einander  die  Wage  halten.  Das  gerade  ist  der  Charakter 
seiner  Abhandlungen,  mit  denen  er  in  die  ästhetisch -philoso- 
phische Bewegung  bedeutsam  eingegriffen  hat.  Sie  behandeln 
zum  Teil  besondere  Gegenstände  der  ästhetischen  Theorie,  sie  be- 
sprechen den  >>  Grund  des  Vergnügens  an  tragischen  Gegenständen  « 
(1792)  oder  »das  Wesen  der  tragischen  Kunst«  (1792),  sie  ent- 
wickeln die  Begriffe  von  »Anmut  und  Würde«  (1793),  den  des 
»Pathetischen«  (1793)  oder  den  des  »Erhabenen«  (1793  und  um- 
gearbeitet 1801);  aber  sie  beziehen  immer  jedes  besondere  Problem 
auf  das  allgemeine,  und  sie  bewegen  sich  alle  um  die  gegen- 
seitigen Beziehungen  des  ästhetischen  und  des  moralischen  Lebens. 
Der  Dichter  Schiller  sah  in  der  ästhetischen  Funktion  die  wert- 
vollste  und  vollkommenste  Ausprägung  des  menschlichen  Wesens, 
der  Charakter  Schiller  unterwarf  mit  strenger  Überzeugung  alles 
menschliche  Tun  dem  sittlichen  Zweck.  Nennt  man  das  eine  das 
Goethesche,  das  andere  das  Kantische  Ideal,  so  war  der  Geist 
Schillers  von  beiden  so  sympathisch  berührt  und  von  beiden  so 
gleichmäßig  erfüllt,  daß  man  vom  Anfang  bis  zum  Ende  in  seiner 
schriftstellerischen  Tätigkeit  beide  Elemente  verfolgen  kann.  Ja, 
oft  in  derselben  Schrift  überwiegt  bald  das  eine  und  bald  das 
andere,  je  nachdem  der  Gegenstand  das  lebhafte  Wiesen  des 
dichterischen  Denkers  nach  der  einen  oder  nach  der  andern  Seite 
mit  sich  reißt.  Dieser  Kampf  der  Elemente  hat  weder  mit  dem 
Siege  des  einen  oder  des  andern,  noch  mit  einer  vollen  und  all- 
seitigen Versöhnung  zwischen  ihnen  geendet,  sondern  er  ist  viel- 
mehr bis  in  die  letzten  Äußerungen  Schillers  hinein  zu  erkennen; 


266  Schiller. 

aber  immer  neue  und  neue  Versuche  hat  er  gemacht,  damit  zum 
Abschluß  zu  kommen. 

Alle  diese  Versuche  bewegen  sich  in  einer  Richtung,  die 
Schillers  Lehre  in  einem  interessanten  Parallelismus  zu  Kants 
Religionsphilosophie  erscheinen  läßt.  Wenn  es  sich  um  die  Auf- 
stellung des  moralischen  Gesetzes  und  um  die  einzelnen  Aufgaben 
handelt,  die  der  vom  Naturtriebe  beherrschte  Mensch  zu  erfüllen 
hat,  so  steht  Schiller  niemals  und  auch  in  seinen  letzten  Schriften 
nicht  an,  dem  vollen  Rigorismus  der  Kantischen  Moral  zu  hul- 
digen; dann  gilt  auch  für  ihn  als  sittlich  nur  eine  bedingungs- 
lose und  durch  die  bewußte  Maxime  herbeigeführte  Unterwerfung 
des  sinnlichen  unter  den  geistigen  Menschen.  Aber  anders  ist 
es,  wenn  man  den  Menschen  in  seiner  gesamten  Entwicklung  be- 
trachtet; hier  ist  er  ein  sinnlich-übersinnliches  Wesen,  hier  wirkt 
in  ihm  die  ganze  imwiderstehliche  und  als  Bestandteil  seines 
Wesens  berechtigte  Gewalt  des  Naturtriebes,  und  hier  wäre  zu 
befürchten,  daß,  wenn  wir  ihm  das  Sittengesetz  nur  im  Gegen- 
satze zu  seinem  natürlichen  Wesen  zeigten,  er  vor  der  Majestät 
des  Gebotes  nur  zurückschreckte,  und  daß  er  in  der  physischen 
Notwendigkeit  unterginge,  ehe  er  sich  zum  sittlichen  Bewußtsein 
erhoben  hätte.  Der  im  Kampfe  begriffene  Mensch  bedarf  einer 
Unterstützung  seiner  sinnlichen  Natur,  um  zum  mora- 
lischen zu  werden.  Auch  Kant  hatte  das  verstanden,  und  er 
hatte  diese  Unterstützung  in  der  Religion  gesucht.  Schiller  hat 
an  vielen  Stellen  seiner  Schriften  darauf  hingedeutet,  daß  neben 
der  Religion  für  diesen  Zweck  ästhetische  Bildung  das  wesent- 
lichste Mittel  sei.  Durch  sie  soll  das  natürliche  Triebleben  ver- 
edelt und  verfeinert  werden,  um  zu  dem  Übergange  in  das  mora- 
lische Leben  fähig  zu  werden. 

Hiernach  gewinnt  es  den  Anschein,  als  solle  nach  Schillers 
Überzeugung  —  ähnlich  wie  es  in  der  aufklärerischen  Ästhetik 
betrachtet  worden  war  —  das  ästhetische  Leben  wesentlich  nur 
das  notwendige  Mittel  sein,  um  den  Menschen  aus  dem  sinnlichen 
in  den  sittlichen  Zustand  überzuführen.  Und  unter  diesem  Ge- 
sichtspunkte entwarf  Schiller  in  der  Tat  seine  großartigen  »Briefe 
über  die  ästhetische  Erziehung  des  Menschen«  (1795 — 1796).  Aber 
die  Ausführung  dieses  Planes  geht  in  mehr  als  einer  Beziehung 
über  den  Kantischen  Standpunkt  der  Ethik   hinaus.     Sie  nimmt 


Wort  und   Wesen  der  äBthotischen  Bildiinpf.  2^)7 

zunächst  schon  ihr  Problem  nicht  in  der  Auf;;abc  des  einzelnen 
Menschen,  sondern  in  derjenij^en  des  ganzen  (ie.H<hlechts.  »Sie  folgt 
in  dieser  Hinsicht  in  entschiedener  Weise  der  Geschichtsphilosopie 
des  Königsber^er  Dcnivcrs.  Sic»  sieht  die  moralische  Ordnung 
oder,  wie  Schiller  sagt,  den  »moralischen  Staat«  als  die  Aufgabe 
an,  zu  welcher  sich  die  Menschheit  aus  dem  Stande  des  »phy- 
sischen Staates«,  der  durch  die  natürliche  Notwendigkeit  herbei- 
geführten Gewaltherrschaft,  entwickeln  soll,  und  sie  konstruiert 
als  das  unumgängliche  Zwischenglied  den  »ästhetischen  Staat«, 
d.  h.  den  Stand  des  veredelten  Naturtriebes,  durch  den  allein  die 
Kluft  zwischen  der  physischen  Wirklichkeit  und  der  moralischen 
Aufgabe  ausgefüllt  werden  kann.  Im  physischen  Zustand  erleidet 
der  Mensch  die  Macht  der  Natur,  er  entledigt  sich  ihrer  im  ästhe- 
tischen, und  er  beherrscht  sie  im  moralischen.  Diese  Klimax  ent- 
wickelt Schiller  noch  in  einem  der  letzten  dieser  Briefe;  aber  in- 
dem er  an  der  Hand  der  Kantischen  Begriffsbestimmung  das 
Wesen  des  ästhetischen  Zustandes  untersucht,  gewinnt  ihm  dieser 
einen  von  seinem  moralischen  Nutzen  völlig  unabhängigen  Wert, 
und  während  er  ursprünglich  eine  durch  das  ästhetische  Element 
sich  vollendende  Erziehung  zur  Moralität  schildern  wollte,  gibt 
er  in  der  Mitte  der  »Briefe«  eine  Theorie  der  Erziehung  zum 
ästhetischen  Leben  selbst. 

Schillers  Auffassung  ist  dabei  wesentlich  durch  die  KantisChe 
bedingt,  und  ihre  Darstellung  bewegt  sich  teilweise  in  den  durch 
Eeinhold  und  Fichte  geschaffenen  Formen.  Die  letzte  Unter- 
scheidung, welche  wir  in  uns  finden,  ist  diejenige  unserer  iden- 
tischen Persönlichkeit  und  ihrer  wechselnden  Zustände;  jene  ist 
die  rein  geistige  Form,  diese  sind  durch  den  gegebenen  Stoff 
unserer  sinnlichen  Natur  bestimmt.  Aus  jener  stammt  daher  der 
»Formtrieb«  als  die  sittliche  Betätigung  unseres  übersinnlichen 
Wesens,  aus  diesen  der  »Stoff trieb«  als  die  naturnotwendige  Ent- 
faltung unserer  sinnlichen  Natur.  In  beiden  Fällen  handeln  w^ir 
um  bestimmter  Zwecke  willen,  gleichviel  ob  wir  diese  autonom 
bestimmen  oder  ob  wir  darin  von  dem  Einfluß  der  sinnlichen 
Reize  abhängig  sind. 

Ein  unmittelbarer  Übergang  nun  aus  der  einen  in  die  andere 
Art  der  Bestimmtheit  ist  nicht  denkbar.  Der  plötzliche  Umschlag 
der  sinnlichen  Bestimmtheit  in  die  sittliche  Selbstbestimmung  des 


268  Schiller. 

Willens  ist  im  psychologischen  Mechanismus  nicht  möglich.  (Auch 
Kant  betrachtete  die  »Wiedergeburt«  als  eine  imerklärbare  Tat 
des  intelligiblen  Charakters.)  Dieser  Übergang  muß  also  dadurch 
vermittelt  werden,  daß  es  einen  Zwischenzustand  gibt,  worin  weder 
der  Stoff  trieb  noch  der  Formtrieb  herrscht  und  der  Wille  weder 
sinnlich  noch  sittlich  bestimmt,  sondern  völlig  unbestim.mt,  d.  li. 
auch  unwirksam  ist.  Dieser  Zwischenzustand  ist  derjenige  der 
interesselosen  Betrachtung,  d.  h.  nach  Kant  der  ästhetische.  Er 
ist  derjenige,  in  welchem  wir  dem  Gegenstande  nur  anschauend, 
d.  h.  weder  mit  sinnlichem  noch  mit  sittlichem  Bedürfnis,  sondern 
lediglich  mit  der  ^Betrachtung  ^gegenüberstehen.  Er  befreit  uns 
deshalb  von  der  Herrschaft  der  sinnlichen  Triebe  und  macht  uns 
gerade  durch  seine  Unbestimmtheit  fähig,  dem  sittlichen  Triebe 
zu  folgen.  Der  ästhetisch  empfindende  Mensch  steht  nicht  mehr 
unter  der  Herrschaft  der  sinnlichen  Natur  und  ist  darum  dem 
sittlichen  Motive  zugänglich  geworden.  Die  Überführung  aus  dem 
natürhchen  in  den  sittlichen  Stand,  für  welche  Kant  die  Mysterien 
des  religiösen  Glaubens  in  Anspruch  nahm,  wird  von  Schiller  in 
der  ästhetischen  Bildung  gesucht.  In  diesem  Zwischen  zustande 
schweift  sowohl  die  sinnliche  Bederde  als  auch  der  Ernst 
des  sittlichen  Strebens.  Er  ist  der  bewußten  Anspannung  des 
Willens  gegenüber  derjenige  des  Spiels;  wir  wollen  nichts  von 
den  Dingen,  wir  spielen  nur  mit  ihnen,  indem  die  Anschauung 
auf  ihnen  ruht.  Diesen  Zustand  herbeizuführen,  gibt  es  in  unserem 
Wesen  eine  ursprüngliche  Tendenz,  das  ästhetische  Bedürfnis  oder 
den  Spieltrieb.  Seine  Tätigkeit  besteht  also  darin,  den  Form- 
trieb  und  den  Stofftrieb  gleichmäßig  zu  paralysieren  und  alle 
unsere  Tätigkeiten  in  einem  absichtslosen  Spiele  zu  entfalten. 

Ist  so  der,  Spieltrieb  ursprünghch  als  das  Mittel  gedacht,  ver- 
möge dessen  der  sinnliche  Mensch  fähig  wird,  dem  sittlichen  Motive 
die  Bestimmung  auf  seinen  Willen  zu  gewähren,  so  erweist  er  sich 
nun  bei  Schiller  in  seinen  Wirkungen  derart,  daß  durch  ihn  erst 
das  gesamte  Wesen  des  Menschen  zur  vollkommensten  Entfaltung 
gelangt.  Ist  der  Mensch  nun  einmal,  was  auch  die  Kantische 
Moral  nicht  leugnen  kann,  ein  zugleich  siimliches  und  übersinn- 
liches Wesen,  so  ist  die  interesselose  Betrachtung  derjenige  Zu- 
stand, in  welchem  keine  der  beiden  Seiten  seines  Wesens  auf 
Kosten    der  anden  n  überwiegt,    in  welchem  er  für  die  Einflüsse 


Spioltricl).  26<) 

von  boidon  Seiten  hvr  L'lcicli  ciiipfäü^licli  ist,  inid  in  welclioin 
(leshalb  Heine  jj;anze,  ihm  Hpezifisch  ei<;one  Natur  als  reinste  und 
vollkoiunienste  Harmonie  zum  Ausdruck  kommt.  »Der  Mensch 
ist  nur  da  wahrhaft  Mensch,  wo  *er  spielt.«  Seine  sinjdi^e  Natur 
teilt  er  mit  den  niederen  Wesen,  seine  sittliche  lieatimmunf^  mit 
höheren  Geistern;  das  ästhetische  Leben,  die  harmonische  Aus- 
gleichung  des  sinnlichen  und  dos  übersinnlichen  Elements  besitzt 
er  allein.  Es  ist  zu  bemerken,  das  Schiller  diesen  Gedanken  völlig 
selbständig  bereits  in  den  »Künstlern«  aussprach,  einem  Gedichte, 
dessen  Gesamttendenz  in  einer  an  Herders  Geschichtsphilosophie 
anklingenden  Weise  auf  die  Herbeiführung  der  höchsten  intellek- 
tuellen und  sittlichen  Kultur  durch  die  Kunst  angelegt  ist.  Der 
Antagonismus  beider  Auffassungen  steckte  in  Schiller  schon,  ehe 
er  von  Kant  einerseits  iind  von  Goethe  anderseits  abhängig  wurde. 
Nur  die  theoretische  Formulierunuf  änderte  sich.  So  erscheint 
denn  in  seinem  Briefwechsel  mit  Körner  und  Humboldt  und  in 
den  Schriften  der  neunziger  Jahre  der  ästhetische  Zustand 
als  der  spezifisch  menschliche  und  zugleich  als  derjenige,  in 
welchem  das  sinnlich  -  übersinnliche  Wesen  des  Menschen  seine 
höchste  Ausojestaltunfif  findet.  Schönheit  ist  Freiheit  und  Z\veck- 
mäßigkeit  in  der  Erscheinung,  ist  die  Harmonie  der  sinnlichen 
und  der  übersinnlichen  Welt  und  damit  die  Vollendung  des  mensch- 
lichen Geistes,  der,  sonst  um  die  Grenze  beider  herüber  und  hin- 
über scliwankend,  hier  die  Ruhe  in  beiden  findet.  Dies  ästhetische 
Ideal  sieht  Schiller  in  den^  olympischen  Göttern  verkörpert,  und 
das  ist  bei  ihm  der  kongeniale  Zug,  der  ihn  zu  den  Griechen,  der 
ihn  zu  Goethe  hinführt. 

Vor  dem  Glänze  dieses  ästhetischen  Ideals  verblaßt,  wo 
sich  Schillers  Betrachtung  darin  versenkt,  das  Kantische  Moral- 
prinzip, dem  der  Dichter  an  anderen  Stellen  bedingungslos  huldigt. 
Aus  solchen  Stimmungen  erklärt  sich  der  Widerspruch  ,  den  er 
schon  früh  gegen  den  Rigorismus  des  Philosophen  in  Ernst  und 
Scherz  äußerte,  und  der  in  seinen  Schriften  bis  zum  Schluß  immer 
wieder  mit  der  Anerkennung  desselben  abwechselt.  Von  diesen 
Gedanken  aus  verwarf  er  dann  auch  auf  dem  rein  ethischen 
Gebiete  die  Notwendigkeit  des  Antagonismus  von  Pflicht  und 
Neigung,  der  bei  Kant  geradezu  als  Merkmal  der  moralischen  Hand- 
lung erscheint.    Er  stellt  dagegen  das  höhere  Ideal  auf,  daß  durch 


270  Schiller. 

die  ästhetische  Gewöhnung  das  natürliche  Triebleben  des  Menschen 
selbst  zu  einer  Veredlung  gelange,  worin  er  nicht  mehr  nötig  hat, 
die  Regungen  der  sinnHchen  Natur  durch  die  sittliche  t 'berzeugung 
in  erhabenem  Ernste  zu  unterdrücken,  sondern  von  selbst  und 
durch  die  Notwendigkeit  seiner  edlen  Natur  tut,  was  das  Gesetz 
verlangt;  er  ist  dann  nicht  mehr  Sklave  der  Pflicht,  sondern  hat 
das  Sittengesetz  zum  Naturgesetz  seines  Wollens  gemacht.  Dabei 
gibt  Schiller  immer  zu,  daß  ein  solches  Handeln  der  »schönen 
Seele  <<,  wenn  es  aus  bloß  natürhcher  Anlage  folgt,  moralisch  in- 
different sei;  aber  er  hält  dem  Kantischen  Rigorismus  gegenüber 
daran  fest,  daß  eine  solche  Veredlung  der  Natur,  wenn  sie  das 
unter  Mitwirkung  des  ästhetischen  Lebens  gewonnene  Resultat 
der  Bildung  und  der  sittHchen  Erziehung  ist,  die  höchste  Voll- 
endung des  menschlichen  Wesens  enthalte,  und  er  begründet  den 
Wert  dieses  höheren  Ideals  namentlich  auch  mit  dem  Hinweise, 
daß  durch  diese  AVirkung  der  veredelten  Natur  der  Zustand  der 
Gesellschaft  aus  der  rohen  Natürlichkeit  in  die  Herrschaft  des 
Vernunftgesetzes  übergeführt  werde.  Er  macht  damit  den  Versuch 
einen  ethischen  Wert  auch  der  Handlungen  als  solcher  zu  be- 
haupten, worauf  sich  ja  schließlich  auch  Kant  in  der  Rechtslehre 
gedrängt  sah,  und  beginnt  somit  die  Bewegung,  welche  den  streng 
subjektiven  Charakter  der  Kantischen  Ethik  wieder  verließ,  um 
ein  objektives  Prinzip  der  praktischen  Philosophie  zu  suchen,  — 
eine  Bewegung,  von  der,  wie  es  sich  zeigte,  auch  Fichte  in  seinen 
späteren  Jahren  mehr  und  mehr  ergriffen  wurde. 

Aus  dieser  verwickelten  Stellung  Schillers  zu  Kant  erklärt  sich 
nun  der  große  Einfluß,  welchen  des  letzteren  Geschichtsphilosophie 
auf  den  ersteren  ausübte.  Dies  Verhältnis  war  außerdem  durch 
die  gemeinsame  Hinneip^ung  zu  Rousseau  bedingt.  Für  beide 
Männer  ist  die  Geschichte  der  Prozeß,  welcher  von  der  Natur 
zur  Freiheit  führt,  aber  für  Schiller  war  auf  diesem  Wege  das 
Wesentlichste  die  ästlietische  Bildun<i.  Schon  ehe  er  mit  der 
Kantischen  Lehre  vertraut  war,  hatte  er  in  den  >>  Künstlern  <<  den 
Gedanken  ausgeführt,  daß  das  ästhetische  Leben  berufen  sei,  das 
verlorene  »Arkadien«  in  höherer  Form,  als  »Elysium«,  wieder 
herbeizuführen  \md  den  Menschen  durch  die  Befreiung  von  der 
sinnlichen  Bedürfti;^keit  zur  Vollendung  seines  Wesens  zu  führen. 
Während   er  so   die  Kunst  zu  einem  wesentlichen  Momente    der 


Naiv  und  nontimcnialigch.  271 

hiatoriHcluMi  I^^iiiwickhin;^'  machte,  führte  er  uni^ckolirt  in  dio 
Ästhetik  (las  Prinzip  der  j^oHchichtsphilosophischcn 
Konstruktion  ein.  Die  reifste  und  bedeutendste  seiner  ästhe- 
tischen Schriften,  diejenige  Ȇb^r  naive  und  sentimen talische 
Dichtung«  (1795— 17%),  ist  für  die  Entwicklung  der  Ästhetik 
nicht  minder  entscheidend  geworden  als  die  Kritik  der  Urteils- 
kraft. Ihr  Schwerpunkt  ist  darin  zu  finden,  daß  j-ie  sowohl  die 
einzelnen  ästhetischen  Grundbegriffe,  als  auch  die  Arten  des  künst- 
lerisclien,  insbesondere  des  dichterischen  Schaffens  aus  dem  ver- 
schiedenen Verhalten  abzuleiten  sucht,  worin  sich  während  der 
Entwicklung  der  menchlichen  Kultur  der  Geist  zu  dem  natür- 
lichen Zustande  des  Menschen  befindet.  Der  große  Gegensatz  des 
Naiven  und  des  »Sentimentalischen«,  aus  dem  dabei  alles  Weitere 
abgeleitet  wird,  läuft  darauf  hinaus,  daß  in  dem  ersteren  das 
geistige  Wesen  noch  einfach  und  unbefangen  in  das  natürliche 
Dasein  eingelebt  ist,  daß  dagegen  die  Wurzel  der  Sentimentalität 
in  dem  Gegensatz  der  geistigen  Kultur  zur  ihrer  natürlichen 
Grundlacfe  beruht.  Ist  einmal  die  unbefanüene  Einheit  der  beiden 
Seiten  der  mcnschHchen  Natur  verloren,  so  ist  das  ganze  Be- 
streben des  ästhetischen  Triebes  darauf  gerichtet,  sie  wieder  zu 
gewinnen.  Während  der  naive  Zustand  sich  dieser  Einheit  nicht 
als  solcher  bewußt  ist,  da  in  ihm  die  Gegensätze  noch  nicht 
hervorgetreten  sind,  empfindet  der  sentimental^  sie  als  ein  ver- 
lorenes Ideal  oder  als  eine  Aufgabe,  die  er  nicht  völlig  zu  er- 
füllen imstande  ist.  Aus  diesem  Grunde  deckt  sich  in  der  Schiller- 
schen  Konstruktion  der  Gegensatz  des  Naiven  und  des  Sentimentalen 
mit  demjenigen  des  Antiken  und  des  Modernen.  Die  antike  Kunst         j 

und  ebenso  das  antike  Leben  gelten  ihm  als  wesentlich  natürlicb"^^ *-7-  ^ 

und  naiv^   Aber  dieser  Zustand,  den  die  Menschheit  verloren  hat,^^^^y^^5^ 
und   der   für   die  moderne  Sentimentalität  als   das  goldene  Zeit- 
alter  erscheint,   ist   als   solcher  nicht  wieder  zu   gewinnen.     Für 
unsere  Kultur  ist   die  Entfremdung  von   der  Natur   ein  Mangel,    /:->,^->5^. 
den   wir   wie   eine  Krankheit   empfinden,   und  alle  Tendenz   des 
modernen   Lebens   läuft   darauf  hinaus,    jenen  Zustand   in   einer 
höheren,  durch  das  Bewußtsein  hindurchgegangenen  Form  durch      w-^^^^ 
die  Kultur   selbst   wiederzufinden.     Die  Erreichung   dieses  Zieles 
ist  für  Schiller  wie  für  Kant  und  Fichte  das  Ende,  das  Ziel  des 
historischen    Prozesses.     Und   das  Streben   danach   wird   deshalb 


272  Schiller. 

erst  in  der  unendliclien  Ferne  enden.  Aber  was  die  wirkliche 
Kultur  des  Menschen  nicht  völlig  erreichen  kann,  das  vermag  die 
Kunst  in  der  Anschauung  zu  leisten.  Im  ästhetischen  Leben  ist 
jene  Zurückführ ung  des  Kulturgeistes  zur  naiven  Natürlichkeit 
möglich,  welche  im  wirklichen  Leben  niemals  ganz  gewonnen 
werden  kann.  In  der  Welt  des  Schönen  ist  die  Aufgabe  erfüllt, 
die  in  dem  Gedränge  der  Wirklichkeit  immer  wieder  in  die  Ferne 
weiter  rückt.  Ist  der  Dichter  von  der  Aufgabe  dieser  Arbeit 
selbst  erfüllt,  und  stellt  er  ihre  niemals  völlige  Erfüllbarkeit  in 
seinen  Werken  dar,  so  ist  er  der  große  Idealist;  hat  er  in  seiner 
ästhetischen  Produktion  die  Aufgabe  gelöst,  hat  er  mitten  aus 
der  modernen  Sentimentalität  heraus  die  antike  Naivität  wieder- 
gefunden, und  vermag  er  den  ganzen  Inhalt  der  mühsam  ar- 
beitenden Kultur  als  ein  harmonisches  Gebilde  natürlicher  Ein- 
fachheit zu  gestalten,  so  ist  er  der  große  Eealist.  Wenn  bei 
dieser  Gegenüberstellung  zweifellos  die  höhere  ästhetische  Voll- 
endung dem  Realisten  zufällt,  und  wenn  bei  der  Zeichnung  dieses 
Gegensatzes  dem  Dichter  auf  der  einen  Seite  die  eigenen,  auf  der 
andern  die  Züge  Goethes  vorgeschwebt  haben,  so  vollzog  er  da- 
mit eines  der  größten  und  edelsten  Selbstbekenntnisse.  Auch  er 
verehrte  in  Goethe  das  Ideal  einer  Bildung,  in  der  das  natür- 
liche und  das  sittliche  Wesen  des  Menschen  aus  ihrer  Entzweiung, 
welche  die  Kultur  mit  sich  gebracht  hat,  zu  ihrer  harmonischen 
Versöhnung  zurückgekehrt  sind,  einer  Bildung,  die  dem  Natur- 
zustand darin  gleich  und  doch  über  ihn  unendlich  erhaben  isl, 
daß  sie  dasselbe,  was  jener  als  Gabe  und  Instinkt  besitzt,  ihrer- 
seits als  ein  Bewußtes  und  Erworbenes  genießt. 

So  nimmt  schon  bei  Schiller  die  Ästhetik  gerade  vermöge  ihrer 
Be^^ründuno;  in  der  Kantischen  Lehre  die  Tendenz,  eine  bewußte 
Zeichnung  des  Goetheschen  Genies  zu  werden  und  zugleich  das 
Ideal  jener  Bildung  aufzustellen,  deren  Typus  eben  Goethe  ist. 
Gerade  im  Bewußtsein  dieser  Bildung  überragten  die  beiden 
großen  Dichter  riesenweit  das  Zeitalter  der  Aufklärung,  aus  dem 
sie  so  gut  wie  Kant  hervorgewachsen  waren,  und  sie  gaben  dieser 
Überlegenheit  in  den  Xenien  den  klassischen  Ausdruck.  Wenn 
später  namentlich  durch  die  Romantiker  die  »Bildung«  geradezu 
das  Stichwort  im  Gegensatz  zur  Aufklärung  wurde,  so  lag  die 
Berechtigung  dazu  eben  in  dem,  was  die  beiden  großen  Dichter 


Zweite  deulRcho  Konaisitnoe.  27.'^ 

erroidii  liatton.  Das  XVIII.  .laiirliundert  vorstand  unter  »Kultur« 
des  (lüistes  eine  nüchttM-no  llieoretische  Erkenntnis  und  eine  nicht 
minder  nüchterne  I\Ioral  der  Gcnieinniitzigkeit.  lli<'r  dagej^en  ist 
Bildung  volle  und   allseitige  EntfaRung  des  nienachlichen  Wesens, 


daß  nichts  in  ihm  verkiunmero,  daß  jede  seiner  Tätigkeiten  und 
Eiihigkeiten  ihre  ungehemmte  Entwicklung  in  der  Harmonie  seiner 
ganzen  Natur  finde.  Dies  Ideal  der  Bildung,  das  schon  in  Shaftes- 
burys  »Virtuosität«  sich  angekündigt  hatte,  erstreckt  sich  haupt- 
sächlich auf  die  gleichmäßige  Entwicklung  der  sinnHchen  und 
der  übersinnlichen  Seite  des  menschlichen  Wesens,  und  es  ist  eben 
darum  in  seiner  tiefsten  Bestimmung  ästhetischen  Charakters. 
So  verstanden,  ist  dies  Bildungsbewußtsein  der  Höhepunkt  der 
modernen  Kulturentwicklung  und  die  wahre  Vertiefung  der 
modernen  Kultur  in  sich  selbst.  Diese  zweite  Renaissance  der 
Deutschen  ist  nicht  nur  die  Vollendung  der  ersten,  die  in  der 
Mitte  unterbrochen  worden  war,  sondern  sie  enthält  auch  erst 
die  Sielbstbewußtwerdung  des  Grundtriebes,  welcher  die  gesamte 
europäische  Renaissance  beseelte.  Hier  erst  wird  man  sich  be- 
wußt, w^elches  der  tiefste  Sinn  aller  Gegensätze  ist,  in  deren  Ver- 
söhnung die  moderne  Kultur  ihre  Aufgabe  findet.  Die  beiden 
Seiten  des  menschlichen  Wesens,  deren  harmonische  Ausgleichung 
den  Inhalt  der  Bildung  darstellt,  haben  in  der  historischen  Be- 
wegung mannigfache  Verhältnisse  angenommen.  In  der  antiken 
Kultur  überwiegt  der  sinnliche,  in  der  christlichen  Kultur  der 
übersinnliche  Mensch.  Die  volle  Versöhnung  dieser  beiden  Ent- 
wicklungen zu  finden,  war  von  Anfang  an  die  Tendenz  der 
modernen  Kultur.  Das  sinnliche  Wesen  des  Menschen  beherrscht 
seine  wissenschaftliche  Erkenntnis,  das  übersinnliche  bedingt  sein 
sittliches  Bewußtsein  und  den  daran  geknüpften  Glauben.  Und 
diese  »zwiefache  Wahrheit«  auszugleichen,  ist  das  stetige  Be- 
streben des  modernen  Denkens.  Aber  die  sinnlich- übersinnliche 
Natur  des  Menschen  offenbart  sich  als  fertige  Totalität  nur  in 
seiner  ästhetischen  Funktion.  Darum  war  die  ganze  Renaissance 
in  erster  Linie  künstlerisch  bewegt.  Und  darum  war  das  Selbst- 
bewußtsein der  modernen  Kultur  in  der  deutschen  »Bildung«, 
dieses  Selbstbewußtsein,  welches  sich  als  die  aussöhnende  Ver- 
schmelzung des  antiken  und  des  christlichen  Prinzips  fühlte,  durch 
die  Einsicht  Kants   bedingt,    daß   die  ästhetische  Funktion   die 

Windelband,  Gesch.  d.  n.  Philos,    U.  18 


274  Wilhelm  von  Humboldt.     Ästhetischer  Humanismus. 

Synthesis  der  theoretisclien  und  der  praktischen  Vernunft  sei. 
Das  eben  war  die  große  Epoche,  daß  zu  gleicher  Zeit  diese  Syn- 
thesis des  sinnlichen  und  des  übersinnlichen  Menschen  in  dem 
modernen  Griechen,  in  Goethe,  lebendig  war,  imd  es  ist  das  un- 
sterbliche Verdienst  Schillers,  diesen  Moment  bis  in  seine  tiefste 
Bedeutung  begriffen  und  seinen  Sinn  nach  allen  Richtungen  hin 
formuliert  zu  haben.  Er  ist  in  Wahrheit  der  Prophet  des  Selbst- 
bewußtseins der  modernen  Kultur. 

Als  einer  der  hauptsächlichsten  Vertreter  dieser  vollbewußten 
.  •  modernen  Bildung  ist  neben  Schiller  Wilhelm  von  Humboldt 
l^islir  zu  nennen.  Auch  ihm  ist  das  Gleichgewicht  des  geistigen  und 
des  sinnlichen  Wesens  das  Ideal  der  menschlichen  Ausbildung, 
auch  für  ihn  gilt  Goethe  als  die  Verkörperung  dieses  Ideals,  auch 
sein  Interesse  breitet  sich  mit  gleichmäßiger  Wärme  über  alle 
Wendungen  des  Kulturlebens  in  der  Geschichte  aus,  und  der 
ästhetische  Humanismus,  der  alle  diese  Bildungsmomente 
mit  künstlerischer  Ausrundung  in  sich  aufgenommen  hat,  macht 
den  Grundcharakter  seines  reichen  und  vielseitigen  Geistes  aus. 
Aber  der  feurigen  Begeisterung  Schillers  gegenüber  erscheint  Hum- 
boldt kühler;  der  ästhetische  Humanismus  wird  bei  ihm  oft  recht 
eigentlich  eine  »interesselose«  Betrachtung,  und  namentlich  kommt 
gelegentlich  bei  ihm  auch  die  Exklusivität  zur  Geltung,  wie  sie 
einem  solchen  Bildungsideal  in  der  Tat  notwendig  eigen  sein  muß. 
Auf  der  anderen  Seite  ist  gerade  Humboldt  theoretisch  und  praktisch 
dafür  eingetreten,  den  großen  Gedanken  Schillers  von  einer  ästhe- 
tischen Erziehung  des  Menschen  zur  Durchführung  zu  bringen. 
Er  machte  in  dieser  Beziehung  eine  ähnliche  Wandlung  durch 
wie  Fichte,  und  während  er  anfangs  versuchte,  die  »Grenzen  der 
Wirksamkeit  des  Staates«  ganz  nach  den  Auffassungen  des 
XVIII.  Jahrhunderts  zu  bestimmen,  hat  ihm  später  die  Erziehung 
des  Volkes  und  als  ihre  Krönung  die  ästhetische  Bildung  für 
eine  der  wichtigsten  Aufgaben  des  Staates  gegolten,  eine  Aufgabe, 
an  deren  Erfüllung  er  selbst  als  preußischer  Minister  besonders 
bei  der  Gründung  der  Berliner  Universität  in  der  segensreichsten 
Weise  gearbeitet  hat.  Derselbe  allgemeine  Begriff  der  »Bildung«, 
in  der  das  ganze  Wesen  der  Menschheit  mit  harmonischer  Aus- 
gleichung sich  zu  entfalten  habe,  weist  endlich  auch  auf  die  Ge- 
danken zurück,  durch  welche  Humboldt  später  neben  Herder  zum 


HiHtorischo  Bildung.  275 

Bc^riiiulrr  der  Spra eil plii lose )pliic  «geworden  iat;  denn  er  sieht 
in  der  Sprache,  als  dem  zentralen  Herde  aller  incn.schlichen  Kultur, 
die  Tiiti«;keit  des  Geistes,  sich  ini  sinnlichen  I^aute  darzustellen. 
Gleich  sehr  physiologisch  und  psychologisch,  ^deich  sehr  durch 
das  Bedürfnis  des  Gedankens  und  durcli  die  Notwendigkeit  des 
leiblichen  Mechanismus  bedingt,  ist  die  Sprache  die  fundamentale 
Lebensform,  worin  das  Gleichgewicht  der  sinnlichen  und  der 
geistigen  Natur  des  Menschen  zum  Ausdruck  kommt,  und  alle 
ihre  Bewegungen  und  Entwicklungen  sind  durch  das  Bestreben 
reguliert,  dies  Gleichgewicht,  welches  sich  stets  nach  der  einen 
oder  andern  Seite  zu  verschieben  droht,  immer  wieder  her- 
zustellen. Hat  er  auf  diese  Weise  für  die  philosophische  Be- 
handlung der  Sprache  eine  neue  Anregung  gegeben,  der  später 
besonders  August  Wilhelm  von  Schlegel  gefolgt  ist,  so  ist  es  auf 
der  anderen  Seite  bekannt,  wie  er  den  ersten  Schritt  zur  Be- 
gründung der  vergleichenden  Sprachwissenschaft  getan  und  da- 
mit die  exakte  Forschung  in  die  Bahnen  gelenkt  hat,  welche  sie 
jetzt  geht. 

Zu  dem  Wesen  dieses  ästhetischen  Humanismus  gehört  in  erst'fer 
Linie  die  Universalität  der  historischen  Bildung;  er  führt 
jenes  von  Herder  begonnene  Bestreben  fort,  die  Entwicklung  der 
menschlichen  Kultur  durch  alle  ihre  Formen  hindurch  zu  ver- 
folgen, die  Stellung  zu  begreifen,  die  innerhalb  des  ganzen  Pro- 
zesses die  einzelnen  Völker  mit  ihrer  Bildung  einnehmen,  imd 
deren  reifste  Früchte  in  das  eigene  geistige  Besitztum  aufzunehmen. 
So  beruht  auf  dieser  Tendenz  der  mächtige  Assimilationsprozeß, 
durch  welchen  um  jene  Zeit  der  deutsche  Geist  in  einer  Reihe 
musterhafter  Übersetzungen  die  größten  Leistungen  fremder 
Literaturen  sich  zu  eioen  machte  und  die  Schriftsteller  anderer 
Völker  geradezu  in  deutsche  Xationalschriftsteller  umwandelte. 
So  wurde  Homer,  so  wurde  bald  darauf  auch  Piaton,  so  Shake- 
speare, so  die  romanischen  Dichter,  so  wurden  schließlich  auch 
die  Schätze  der  älteren  deutschen  Literatur  für  die  deutsche  Bildung 
erobert,  und  so  wurden  die  Lebenssäfte  der  früheren  Kultur  in 
das  Blut  des  deutschen  Geistes  aufgenommen.  Den  Mittelpunkt 
dieser  Bewegung  bildete  die  romantische  Schule.  Ihre  Be- 
strebungen waren  prinzipiell  ebenfalls  durch  den  ästhetischen  Ge- 
sichtspunkt bedingt,  den  Schiller  ausgesprochen  hatte,  daß  nämlich 

18* 


276  ^^®  Romantiker. 

die  ästhetischen  Grundbegiiffe  und  die  poetischen  Ideale  der 
Älenschheit  aus  einer  geschichtsphilosophischen  Auffassung  ge- 
wonnen werden  müßten. 

Der  Kreis  der  Komantiker  ist  eine  der  bedeutsamsten  Er- 
scheinungen in  dieser  großen  Zeit.  So  zufäUig  und  verwickelt 
die  persönlichen  und  die  literarischen  Beziehungen  gewesen  sein 
mögen,  durch  welche  er  zusammengeführt  wurde,  so  sehr 
tritt  doch  in  ihm  die  ganze  Konzentration  eines  Ungeheuern 
Bildungsstoffes,  die  den  Charakter  der  Zeitbewegung  ausmacht, 
in  klarer  Gestalt  hervor:  eine  unendhche  geistige  Regsamkeit, 
eine  unvergleichliche  Fülle  des  Interesses  vereinigt  in  dem  Denken 
dieser  Männer  die  verschiedensten  Richtungen,  um  sie  durchein- 
ander zu  befruchten.  Drei  Hauptgesichtspunkte  sind  es,  welche 
sie  leiten:  der  literarisch-ästhetische,  der  philosophische  und  der 
politische;  und  indem  sie  diese  zu  vereinigen  suchen,  leben  sie 
dem  Ideale,  daß  eine  völlige  Neugestaltung  des  gesamten  mensch- 
lichen Kulturlebens  vor  der  Tür  stehe:  es  gelte,  durch  ein  reifes 
Verständnis  alle  großen  Produkte  des  menschlichen  Geistes  in 
einer  allseitigen  Entwicklung  zu  verbinden  und  die  neue  Periode 
seiner  vollendeten  Entfaltuna;  herbeizuführen.  Nach  allen  drei 
Richtimgen  ist  es  deshalb  die  historische  Erkenntnis,  welche  für 
sie  den  Boden  der  Verständigung  bilden  soll.  Selbst  im  geringen 
Maße  schöpferisch,  zeichnen  sie  sich  durch  die  Feinheit  des 
historischen  Sinnes  und  durch  die  Fähigkeit  aus,  die  Aufgaben 
der  Gegenwart  aus  dem  vollen  Verständnis  der  Leistungen  der 
Vergangenheit  zu  begreifen.  Von  ihnen  ist  deshalb  zweifellos  die 
Bewegung  ausgegangen,  welche  das  historische  Interesse  als  be- 
deutsames Moment  in  die  wissenschaftliche  Bildung  eingeführt 
hat,  und  sie  sind  auch  in  diesem  Sinne  die  äußersten  Gegenfüßler 
der  Aufklärung7  deren  größter  Mangel  in  ihrer  Unfähigkeit  be- 
stand, den  Wert  der  Geschichte  zu  verstehen.  An  Lessing  und 
Herder  sich  anschließend,  sind  sie  die  Schöpfer  der  Literatur- 
geschichte und  der  Kulturgeschichte  geworden.  Durch  sie  vor 
allem  hat  die  historische  Forschung  aufgehört,  eine  Kuriositäten- 
sammlung zu  sein,  und  zwar  deshalb,  weil  sie  daran  den  philo- 
sophischen Maßstab  einer  Gesamtentwicklung  legten,  deren  Fazit 
die  Gegenwart  zu  ziehen  habe.  Es  ist  auch  bei  ihnen  der  Kan- 
tische Gedanke  mächtig,   daß  nur,   wo  von  einem ^ Ziel  der  Ge- 


PliiloHophiHcli-UsthetiHche  Bildung.  277 

schichte  «^esprodicn  wird,  sich  beurteilen  läßt,  was  in  ihr  als 
^"Fortschritt^  charalvtcrisiort  worden  darf.  So  sehr  sie  sich  dabei 
im  cinzehicii  ver<^Tiffen  haben,  so  oft  sie  genöti;;t  gewesen  sein 
niöjijcn,  die  noch  so  «großen  Lücken  ihres  historischen  Wissens 
durch  Konstruktionen  auszufidlon,  welche  sie  ihrer  allgemeinen 
pTiilosophischen  und  iistlietischen  Tendenz  entnahmen,  und  so  Hy- 
pothesen aufzustellen,  welche  die  strenge  Kritik  der  späteren 
Forschung  vorwerfen  mußte,  so  sollte  doch  diese  Kritik  nicht 
vergessen,  daß  der  historische  Geist,  der  ihr  Gewissen  bildet, 
gerade  durch  den  ausgedehnten  Einfluß  der  Romantiker  am  leb- 
haftesten geweckt  worden  ist. 

Als  nach  mancherlei  Vorbereitungen  dieser  Kreis  sich  zuerst 
in  Jena  zusammenfand,  waren  es  drei  große  Interessen,  die  ihn 
belebten:  die  französische  Revolution,  die  Goethesche  Dichtmig 
und  die  Kantisch-Fichtesche  Philosophie.  Aus  ihrer  Vereinigung 
sahen  die  Romantiker  die  Morgenröte  der  neuen  Zeit  herauf- 
dämmern, und  deren  Licht  suchten  sie  in  einer  Bildung,  durch 
welche  diese  drei  »Tendenzen«  sich  gleichmäßig  konzentrieren 
sollten.  Die  Herbeiführunor  eines  vernünftigen  Zustandes  der 
menschlichen  Gesellschaft,  welche  den  Trieb  der  Revolution  bil- 
dete, schien  ihnen  nur  dadurch  möglich,  daß  der  Geist  der 
Vernunftüberzeugung,  den  Fichte  predigte,  zum  Durchbruch 
kommt,  und  ein  allgemeiner  Durchbruch  dieses  Geistes  schien 
ihnen  wiederum  nur  durch  den  Sieg  jener  universellen  und  har- 
monischen Bildung  möglich,  welche  Goethe  repräsentierte.  Die 
Hoffnung  der  Gesellschaft  müsse  deshalb  darauf  gerichtet  sein, 
daß  die  Philosophie  der  Vernunft  und  die  ästhetische  Bildung 
sich  miteinander  vereinigten.  Alle  Linien  der  menschhchen 
Kultur  laufen  an  dem  Punkte  zusammen,  wo  der  Dichter  und 
der  Philosoph  auf  derselben  Stelle  stehen  müssen.  Die  Philo- 
sophie soll  den  ganzen  Gehalt  der  ästhetischen  Bildung  in  sich 
aufnehmen,  und  damit  soll  zugleich  die  ästhetische  Bildung  ihre 
bewußte  Vollendung  finden,  um  die  Macht  des  öffentlichen  Lebens 
und  die  Grundlage  einer  neuen  Form  der  Gesellschaft  zu  werden. 
Der  leitende  Gedanke  der  Romantiker  ist  das  totale  Ineinander- 
auf gehen  von  Dichtung  und  Philosophie.  Sie  waren  weder  große 
Dichter  noch  große  Philosophen.  Darum  konnten  ihnen  die 
Grenzen  beider  Gebiete  sich  verwaschen.    Sie  waren  Männer  von 


278  Novalis. 

universeller  Bildung,  Kritiker  von  bedeutenden  Gesichtspunkten 
und  feinfühlende  Bearbeiter  der  großen  Gedanken,  welche  die 
Zeit  produziert  hatte,  und  welche  sie  mit  einem  einzigen  Griffe 
zusammenzufassen  hofften. 

In  philosophischer  Hinsicht  sind  sie  durchgängig  von  Fichte 
beeinflußt,  unter  dessen  persönlicher  Einwirkung  sie  sich  in 
Jena  befanden,  und  unter  den  Grundbegriffen  seiner  Lehre  ist 
es  hauptsächlich  derjenige  der  ^  produktiven  Einbildungskraft, 
welcher  die  Brücke  zu  den  ästhetischen  Interessen  bildete,  von 
denen  sie  anfangs  herkamen.  Fichte  gründete  im  Sinne  des 
transzendentalen  Idealismus  die  äußere  Welt  auf  eine  Funktion 
der  schöpferischen  Phantasie,'  —  derselben  Phantasie,  schien  es, 
welche  im  Künstler  tätig  ist.  Bei  geringer  Neigung  zu  begriff- 
licher Schärfe  sahen  die  Dichterphilosophen  der  Romantik  darin 
eine  vollkommene  Gleichsetzung  beider  Funktionen,  und  so  ver- 
,JU^3  wandelte  sich  für  Novalis  die  natürliche  Wirklichkeit  in  eine 
traumhafte  Schöpfung  der  Phantasie.  Wie  er  als  Anhänger  der 
Naturphilosophie  sich  ganz  in  ein  spielerisches  Analogisieren  verlor, 
so  nahm  sein  »magischer  Idealismus«  eine  schillernde  Doppel- 
stellung zwischen  Dichtung  und  Philosophie  ein.  Zwar  biUigte 
er  in  persönlicher  Überzeugung  den  ethischen  Idealismus,  mit 
dem  Fichte  die  Welt  als  ein  Material  der  Pfhcht  ansah,  aber  er 
selbst  war  im  Gegensatz  dazu  eine  weiche,  träumerische  Natur, 
und  so  ist  ihm  auch  die  weltschöpferische  Tätigkeit  des  Ich 
nicht  die  ernste  Arbeit  des  sittlichen  Willens,  sondern  vielmehr 
ein  träumerisches,  phantastisches  Walten.  »Die  Welt  wird  Traum, 
der  Traum  wird  Welt.«  Das  JMärchen,  als  die  Dichtungsart,  in 
der  Wirklichkeit  und  Phantasie  am  meisten  ineinander  über- 
gehen, in  der  alle  Gestalten  mit  unbestimmter  Vieldeutigkeit  in- 
einanderfließen, gilt  ihm  recht  eigentlich  als  die  höchste  mensch- 
liche Produktion.  In  Märchen  entwickelt  sich  seine  poetische 
Philosophie,  und  in  ihr  gewinnt  deshalb  die  Welt  selbst  einen 
märchenhaften  Charakter,  vermöge  dessen  alle  bestimmten  Ge- 
stalten in  die  allgemeine  Verwandelbarkeit  untergetaucht  werden. 
Sein  unvollendeter  Roman  »Heinrich  von  Of terdingen «,  der  zugleich 
eine  Philosophie  und  eine  Dichtung  sein  will,  ist  ein  wunderlicher 
Vexierspiegel,  in  welchem  vor  lauter  Gleichnissen,  Verwandlungen 
imd  Allegorien  jeder  faßbare  Inhalt  in  ungreifbare  Ferne  zurückflieht. 


Friedri(^h  voi»  Schlegel.  279 

Wenn  (losluill)  boi  Novalis  die  Diclitun^  und  die  PliiloHophie 
glcic'liniülii^^  sich  in  eine  tniuinhaftc  Diimnicrunp;  auflÜHen,  so 
treten  die  Tendenzen  der  Romantiker  mit  um  so  schärferer  Zu- 
spitzung bei  Friedrich  von  "Schlegel  (1772 — 1820)  h<MV<;r. 
Dieser  merkwürdig  begabte  und  doch  im  letzten  Grunde  pro- 
duktionslose Kritiker  hat  jede  Wendung,  welche  das  romantische 
Denken  in  dem  Jahrzehnt  von  1794  bis  1804  durchgemacht  hat, 
auf  den  schärfsten  Ausdruck  gebracht,  mit  übermütiger  liück- 
sichtslosigkeit  zugespitzt  und  durch  die  Übertreibung  selbst  wieder 
zerstört.  Persönlich  eine  intrigante  und  skandalsüchtige  Natur, 
ist  er  der  Trommelschläger  der  Romantik  gewesen  und  zeigt  nach 
den  guten  und  nach  den  schlechten  Seiten  hin  vielleicht  am  voll- 
kommensten das  merkwürdige  Wesen  dieses  interessanten  Kreises. 
Von  Lessing  und  Schiller  ausgegangen,  an  Goethe  und  Fichte 
emporgerankt,  hat  er  das  Prinzip  der  Romantik  auf  seine  typische 
Form  gebracht  und  hat  schließlich  zu  derselben  Zeit,  als  Sclielhng 
seine  theosophische  Wendung  nahm,  aus  Verzweiflung  an  der 
Durchführung  jenes  romantischen  Ideals  einer  neuen  Gestalt  der 
menschlichen  Kultur  im  Schöße  der  römischen  Kirche  geendet. 
Wie  Schiller  das  Griechentum,  so  idealisierten  die  Romantiker 
das  Mittelalter.  Schon  bei  Novalis  tritt  die  Neigung  hervor, 
jene  inmgeVerschmelzung  der  philosophischen,  literarischen  und 
poHtischen  Bestrebungen,  jene  volle  Dm-chdringmig  aller  mensch- 
lichen Lebenstätigkeiten,  welche  die  Romantik  suchte  und  selbst 
nicht  zu  schaffen  vermochte,  in  einer  ähnlichen  Unterwerfung 
der  gesamten  Kultur  miter  ein  religiöses  Prinzip  zu  finden,  wie 
sie  das  Wesen  des  Mittelalters  ausmacht,  und  Friedrich  Schlegel 
ist  der  erste  von  den  zahlreichen  Vertretern  des  romantischen 
Prinzips  gewesen,  welcher  in  der  radikalen  Art,  die  ihm  bei- 
wohnte, durch  den  Übertritt  zur  katholischen  Kirche  diesen  Weg 
in  der  Tat  einschlug.  Das  lag  weit  ab  von  den  Bahnen,  die  er 
anfangs  gewandelt  w^ar.  Zu  dem  Opfer  der  persönlichen  Über- 
zeugung gelangte  er  erst,  nachdem  er  von  der  schwindelnden 
Höhe  der  äußersten  Subjektivität  herabgestürzt  war. 

Die  Theorie,  womit  er  die  Romantik  zu  begründen  gedachte, 
entwickelte  sich  in  ihm  aus  seiner  Auffassung  Schillerscher  imd 
Fichtescher  Gedanken,  welche  mehr  ein  Mißverständnis  als  eine 
absichtliche   Umdeutung   enthielt;    sie   ist   hauptsächlich   in   den 


fiJüUt 


2g0  Friedrich  von  Schlegel. 

>> Cliarakteristiken  und  Kritiken«  (1801)  und  in  den  Fragmenten 
niedergelegt,  welche  er  in  dem  von  ihm  und  seinem  Bruder  1799 
und  1800  herausgegebenen  »Athenäum«  veröffentlichte.  Den 
Schillerschen  Gegensatz  von  naiv  und  sentimental  führte  er  zu- 
erst sehr  glücklich  namenthch  nach  der  Eichtung  aus,  daß  der 
naive  oder  »klassische  Dichter«  derjenige  sei,  welcher  gewisser- 
maßen in  seinem  Stoff  aufgehe  und  dahinter  verschwinde,  wäh- 
rend bei  dem  sentimentalen  oder  »romantischen«  Dichter  seine 
Persönlichkeit  im  Vordergrunde  stehe  und  auf  den  behandelten 
Stoff  ihr  eigenes  Licht  werfe.  Den  antiken  Dichter  vergessen 
wir  und  versenken  ims  in  die  Welt,  die  er  darstellt;  zu  dem 
modernen  Dichter  haben  wir  ein  persönhchcs  Verhältnis  und 
beziehen  den  von  ihm  behandelten  Stoff  auf  ihn  selbst.  Das 
Wesen  der  modernen  oder  »romantischen«  Dichtung  besteht 
also  in  dem  Vorwalten  der  Subjektivität.  Der  moderne  Künstler 
ist  die  große  bedeutende  Persönlichkeit,  welche  freigestaltend 
über  ihrem  Stoffe  schwebt  und  ihn  aus  ihrer  Phantasie  erzeugt. 
So  erscheint  hier  die  produktive  Einbildungskraft  nicht  mehr 
wie  bei  Fichte  als  allgemeine  Vernunfttätigkeit,  sondern  als  die 
schöpferische  Phantasie  des  Dichters;  diesem  wird  von  Schlegel 
die  absolute,  grundlose  Freiheit  zugeschrieben,  und  die  Vernunft- 
notwendigkeit verwandelt  sich  in  die  Willkür  des  genialen  Indi- 
viduums. Das  gilt  bei  den  Romantikern  zunächst  hinsichtlich 
der  Ästhetik.  Was  man  Gesetze  oder  Regeln  der  Kunst  ge- 
nannt hat,  sind  die  Launen  der  großen  Künstler,  und  der  ästhe- 
tische Genuß  ist  das  kongeniale  Mitleben  in  ihrer  schöpfe- 
rischen Willkür,  ist  die  Bewunderung  der  Größe  und  Freiheit 
ihrer  Persönhchkeit.  So  gestaltet  sich  bei  diesen  Männern  das 
ästhetische  Leben  wesentlich  zu  einem  Kultus  der  Genialität, 
und  ihre  Theorie  enthält  nach  dieser  Seite  hin  die  bewußte 
Vertiefung  jener  ersten  leidenschaftlichen  Bewegung,  welche  als 
»Sturm  und  Drang«  sich  gegen  die  Knechtung  des  künstlerischen 
Triebes  unter  regelrechte  Formen  aufgebäumt  hatte;  sie  wendet 
sich  zugleich,  Herders  Gedanken  fortführend,  mit  verächtlichem 
Hohne  gegen  die  »platte«  Aufklärung,  die  auch  das  Dichten  zu 
einer  verstandesmäßigen  Arbeit  hatte  machen  wollen. 

Aber  Friedrich  Schlegel  führt  dies  Prinzip  mit  kecker  Rück- 
sichtslosigkeit auch  in  die  Moral  hinüber.     Auch   hier  statuierte 


Oonialo  INForrtl.  281 

er  wie  Jacobi  das  Kocht  dos  genialen  Individuums,  sich  selbst 
das  Gesetz  zu  <:;eben  und  sich  über  die  Kej^elii  zu  (Theben,  die 
im  gemeinsamen  Leben  für  den  Philister  mit  seiner  prosaischen 
Nüchternheit  gelten.  Auch  Ficlit«'  war,  damit  Jacobi  sich  nähernd, 
in  seinen  Lehren  um  die  Wende  der  beiden  .lalirliunderte,  mehr 
und  mehr  von  dem  Kantischen  Prinzip  abj^ekommen,  wonach 
alle  ethische  Wcrtbcstimmun^^  von  der  Erfüllun«,'  allgemeiner 
Maximen  abhängig  gemacht  werden  sollte;  auch  er  hatte  mehr 
und  mehr  das  sittliche  Eigenrecht  der  individucllenUestimmung* 
und  den  Freiheitswert  der  Persönlichkeit  anerkannt.  Aber  bei 
den  Romantikern  nahm  nun  der  Kultus  der  Genialität  auf  dem 
moralischen  Gebiete  die  Form  der  bedenkhchsten  Exklusivität 
an.  Es  gehört  zu  den  Eigentümlichkeiten  der  geistigen  Bewegung 
des  XV in.  Jahrhunderts,  daß  sie  sich  auf  enggeschlossenem  ge- 
sellschaftUchen  Boden  abgespielt  hat,  und  dieser  Umstand  ist  bei 
den  Romantikern  zu  einem  bewußten  Gegensatze  zwischen  ihrer 
eigenen  genialen  Freiheit  und  der  großen  Masse  der  Alltags- 
menschen'' geworden.  Wie  sie  sich  in  ihrem  wirklichen  Leben 
nicht  scheuten,  sich  über  die  Regeln  der  allgemeinen  Moral  hin- 
wegzusetzen, so  besaß  Friedrich  Schlegel  den  Übermut,  diese  ge- 
setzlose Willkür  als  ein  Recht  der  genialen  Naturen  in  Anspruch 
zu  nehmen.  Sein  Roman  >>Lucinde«  (1799)  proklamierte  eine  ^  ^j 
geniale  Moral,  der  es  wesentlich  sei,  die  Schranken  der  gewohnten  '' 
Sitte  zu  durchbrechen,  und  entwickelte  diese  hauptsächlich  in 
einer  Polemik  gegen  diejenige  Institution,  an  welcher  die  Roman- 
tiker selbst  am  meisten  sündigten,  gegen  die  Ehe.  Indem  er 
den  ästhetischen  Begriff  einer"^  freien  Liebe^  aufstellte ,  worin  das 
sinnhche  und  das  geistige  Wesen  des  Menschen  gleichmäßig  zur 
Geltung  kommen  sollen,  mochte  er  manchen  prosaischen  und 
hyperspirituellen  Auffassungen  gegenüber  so  weit  im  Rechte  sein, 
daß  Schleiermacher  diesen  im  Grunde  genommen  auf  Schillers 
Ästhetik  zurückweisenden  Gedanken  in  seiner  durchaus  idealen 
Weise  durch  die  »Vertrauten  Briefe  über  die  Lucinde«  (1800) 
verteidigen  konnte.  Aber  die  Durchführung  jenes  Gedankens  in 
Schlegels  Roman  selbst,  weit  entfernt,  eine  harmonische  Ver- 
schmelzung des  sinnlichen  und  des  geistigen  Elementes  der  Liebe 
zur  Darstellung  zu  bringen,  erging  sich  vielmehr  teils  in  Lüstern- 
heit, teils  in  völlig  verfehlter  Phantastik.    Die  geniale  Moral  der 


282  Friedrich  von  Schlegel. 

Lucinde  zeigt  aber  auch  darin  ihren  ästhetisierenden  Charakter, 
daß  sie  die  interesselose  Betrachtung  als  ethischen  Selbstzweck 
ansieht.  Die  sittHche  Funktion  des  Genies  ist  der  Selbstgenuß 
seiner  schöpferischen  Phantasie,  sie  richtet  sich  nicht  auf  irgend- 
welche praktische  Tätigkeit,  sie  dient  weder  dem  eigenen  noch 
_  dem  fremden  Nutzen;  keines  der  Ziele,  welche  man  im  gemeinen 
Leben*^  sittlich  nennt^  hat  sie  zu  ihrem  Gegenstande,  sie  ist  keine 
,  Arbeit,  sondern  der  in  seiner  eigenen  Freiheit  schwelgende  Genuß. 
Der  Müßiggang  ist  das  Ideal  des,  Genies  und  die  Faulheit  die 
romantische  Tugend.  Aus  der  rastlosen  Arbeit  des  ethischen  Ich 
ist  bei  Schlegel  das  ästhetische  Spiel  der  Phantasie  geworden. 
Arbeit  mit  allen  ihren  Zwecken  des  Alltagslebens  bleibe  dem 
Philister:  das  Genie  hat,  wie  die  olympischen  Götter,  in  seiner 
Freiheit  nur  die  Aufgabe,  sich  selbst  auszuleben  und  sich  selbst 
zu  genießen. 

Die  Abhängigkeit  und  die  Verschiedenheit  des  romantischen 
von  dem  Fichteschen  Denken  tritt  hier  in  voller  Klarheit  hervor. 
Auch  das  Fichtesche  Ich '  war  nur  mit  sich  selbst  beschäftigt ; 
aber  in  der  sittlichen  Arbeit,  die  Aufgabe  zu  realisieren,  die  sein 
Wesen  ausmacht,  war  es  unendliches  Streben.  Das  romantische 
Ich  soll  in  seiner  Selbstbeschäftigung  nur  den  Launen  seiner 
Phantasie  folgen,  es  ist  unendliches  Spiel.  Von  diesem  Gegensatz 
V  aus  gewinnt  Schlegel  die  tiefste  Begriffsbestimmung  des  roman- 
^/^v^'  tischen  Prinzips  unter  dem  Namen  der  Ironie.  Er  knüpft  sie 
an  Fichtes  Bestimmung,  daß  das  Ich  über  jede  selbstgesetzte 
Schranke  wieder  hinausgeht,  und  überträgt  diese  Lehre  auf  die 
Phantasie  des  Genies.  Die  Ironie  des  künstlerischen  Schaffens 
besteht  darin,  daß  das  Spiel  der  Phantasie  jedes  ihrer  eigenen 
Produkte  wieder  auflöst,  daß  sich  die  Freiheit  der  Subjektivität 
in  der  Willkür  offenbart,  mit  der  sie  in  keinen  ihrer  Gegenstände 
aufgeht,  sondern,  stets  darüber  herrschend,  ihr  Spiel  beliebig  fort- 
setzt und  diesen  ihren  Triumph  über  den  Stoff  genießt.  Das 
war  die  theoretische  Ansicht,  welche  m  Verbindung  mit  dem 
Mangel  an  wahrer  Gestaltungskraft  den  Produkten  der  Roman- 
tiker, besonders  von  Novalis  und  Friedrich  Schlegel  selbst,  den 
Charakter  der  Formlosigkeit  aufdrückte:  schon  die  Lucinde, 
welclie  das  Muster  dieser  Art  poetischen  Schaffens  sein  sollte, 
war    nach    dem    treffenden   Ausspruch    der    romantischen    Chor- 


Ironie.  283 

fiihrorin  Caroline  ein  totgeborenes  Kind,  das  der  PedantiHmu» 
mit  der  Sünde  statt  mit  der  Pliantasie  Rezeugt  hatte.  Die  iro- 
nische Willkür  läßt  es  zu  keiner  bestimmten  Gestaltung  kommen, 
jeder  Versuch  dazu  wird  wieder  vernichtet,  und  der  an  sich  end- 
lose Prozeß  dieser  Selbstironisierun;^  wird  srhlicüiicli  nur  will- 
kürlich abgebrochen.  Hierin  besteht  der  wahre  Gegensatz  des 
romantischen  ffegen  das  klassische  Prinzip.  Während  nach  dem 
letzteren  jeder  Gegenstand  in  der  künstlerischen  Anschauung  seine 
volle  Ausprägung  findet,  ist  in  der  romantischen  Kunst  alles  nur 
__angedeutet,  oft  nur  allegorisch  versucht,  und  das  ganze  W^erk 
zeigt  ein  unendliches  Ringen,  zu  einem  Abschluß  zu  kommen,  der 
nie  erreicht  wird  —  ein  Ergebnis,  das  auf  einem  anderen  Gebiete 
der  Gegenwart  als  die  »unendliche  Harmonie«  in  der  Zukunfts- 
musik bekannt  ist.  Darin  wieder  zeigt  sich  die  nahe  Verwandt- 
schaft dieses  Prinzips  mit  dem  Fichteschen. 

Aber  der  Begriff  der  stetigen  Beschäftigung  mit  sich  selbst 
führt  Schlegel  noch  weiter:  der  Standpunkt  der  Ironie  verlangt 
von  der  Philosophie,  immer  nur  das  Philosophieren  selbst,  von 
der  Dichtung,  immer  nur  das  Dichten  selbst  zu  ihrem  Gegen- 
stande zu  machen.  Für  die  romantische  Auffassung  wird  des- 
halb der  reale  Inhalt  sowohl  des  phüosophischen  Problems  als 
auch  der  poetischen  Darstellung  gleichgültig.  Sie  philosophiert 
nur,  um  zu  philosophieren,  sie  dichtet  nur,  um  zu  dichten,  und 
ihr  Interesse  liegt  deshalb  nur  bei  der  Form  ihrer  eigenen  Tätig- 
keit, worin  deren  Freiheit  zum  Genüsse  des  künstlerischen  Be- 
wußtseins kommt.  Das  »Tun  des  Tuns«  wird  ernsthch  durch- 
geführt. Das  W^esenthche  der  Philosophie  ist,  sich  mit  den 
Formen  zu  beschäftigen,  welche  sie  schon  entwickelt  hat,  und  in 
der  Zusammenfassung  von  deren  geschichtlichem  Wechselspiel  ihr 
eigenes  Wesen  zu  gestalten,  und  in  den  poetischen  Versuchen  der 
Romantiker  nimmt  das  Wesen  des  Dichtens  und  des  Dichters 
eine  große  Ausdehnung  unter  ihren  Gegenständen  ein.  Damit 
hängt  denn  auch  die  historische  Tendenz  zusammen,  welche  die 
Romantiker  zur  Geschichte  der  Philosophie  und  der  schönen 
Literatur  führte. 

Die  Anschauungen  des  romantischen  Kreises  würden  jedoch 
auf  die  allgemeine  Entwicklung  der  deutschen  Phüosophie  keinen 
so  großen  Einfluß  gewonnen  haben,  wie  es  wirklich  geschehen  ist, 


284  Schelliog. 

wenn  ihm  nicht  der  Hauptträger  dieser  Entwicklung  angehört 
hätte.  Durch  persönliche  Beziehungen  war  Schelling  in  den  letzten 
Jahren  des  Jahrhunderts  mit  den  Romantikern  so  verbunden,  daß 
er  völlig  zu  ihnen  gezählt  werden  muß.  Zu  dem  unendlichen 
Reichtum  seiner  Begabung  gehörte  nicht  nur  die  dichterische 
Produktivität,  sondern  vor  allem  auch  eine  hohe  ästhetische 
Empfänglichkeit.  Die  Bewunderung  Goethes  ist  dabei  ein  wesent- 
liches Bindeghed  zwischen  ihm  und  den  Dichtern,  Kritikern  und 
Rezensenten,  die  sich  um  die  romantische  Fahne  scharten.  Allein, 
was  Schlegel  zwar  immer  geistreich,  aber  meist  paradox  und  oft 
als  unverdauten  Einfall  hinwarf,  das  gestaltete  sich  in  dem  großen 
Sinne  Schellings  zu  einer  klar  gedachten  Theorie,  und  so  sehr 
sich  die  Romantiker  persönHch  von  Schiller  entfernen  mochten, 
so  war  es  doch  die  Aufnahme  des  Schillerschen  Gedankens  in 
die  Transzendentalphilosophie,  vermöge  deren  Schelling  eine  Um- 
wandlung seiner  Lehre  vollzog,  welche  als  die  abgeklärteste  Gestalt 
der  romantischen  Philosophie  und  als  das  vollkommenste  Denkmal 
der  Durchdringung  des  philosophischen  und  des  ästhetischen 
Denkens  angesehen  werden  muß.  Diese  Wandlung  besteht  der 
Hauptsache  nach  in  einer  allgemeinen  philosophischen  Ausbeutung 
der  ästhetischen  Theorie,  die  Schiller  als  echter  Kantianer  auf 
den  subjektiven  Prozeß  der  ästhetischen  Funktion  des  Menschen 
bezogen,  aber  doch  auch  schon  teilweise  in  eine  objektive  Be- 
stimmung umgedeutet  hatte.  Sie  ist  niedergelegt  in  der  Schrift: 
»Der  transzendentale  Idealismus«  (1800)  und  in  den  Vorlesungen 
über  die  Philosophie  der  Kunst,  die  Schelling  zuerst  im  Winter 
1799  auf  1800  in  Jena  hielt,  und  deren  Inhalt,  allerdings  in  der 
Redaktion,  welche  sie  erst  bei  ihrer  Wiederholung  in  Würzburg 
erhielten,  in  seinen  Werken  vorhegt. 

Der  transzendentale  Ideahsmus  soll  die  Lehre  vom  Ich  sein, 
wie  die  Naturphilosophie  die  Lehre  vom  Werden  des  Ich  ist.  Zum 
Wesen  des  Ich  aber  gehört  nach  Fichte  der  Gegensatz  der  be- 
wußtlosen und  der  bewußten  Tätigkeit;  der  Akt,  durch  welchen 
der  Inhalt  des  Bewußtseins  erzeugt  wird,  ist  als  solcher  not- 
wendig immer  bewußtlos.  Aus  dem  gegenseitigen  Verhältnis  dieser 
beiden  Elemente  ergab  sich  die  Disjunktion  der  theoretischen 
imd  der  praktischen  Wissenschaftslehre.  Diese  wird  von  Schelling 
im  wesentlichen   unverändert    übernommen.     Aus   der  Abhängig- 


IMiiloHophio  der  Kuntt.  285 

koit  (1<M'  l)(*\vußl(Mi  von  drr  unhcwiiüton  Täii/^'kelt  cr^'ibt  kJcIi  <Iio 
thoorotisrho  Reihe  dos  Hewuüt.scinH,  die,  von  der  Einjifiiidun^ 
jinhebcnd,  durrh  die  Anschauung'  und  das  Denken  bis  zur  vollen 
Freiheit  des  Selhstbewußlseins  iftifstei«^t,  worin  das  Ich  sich  selbst 
schließlich  als  Wille  begreift  und  verwirklicht.  Aus  der  BcRtirnmt- 
heit  der  bewußtlosen  durcli  die  bewußte  Tätigkeit  ergibt  sich  die 
j)raktische  Reihe  des  Bewußtseins,  die  sich  in  der  gemeinsamen 
Jjebenstätigkeit  der  Individuen  als  die  Entwicklung  der  Freiheit 
durch  die  Oeschichtc  darstellt. 

Nach  diesen  beiden  Richtungen  folgt  Schelling  den  Lehren  von 
Kant  und  Fichte  besonders  in  der  Erkenntnistheorie  und  Geschieh ts- 
philosophie  und  zeigt  dabei  doch  eine  große  Selbständigkeit  teils 
in  der  dialektischen  Anordnung  des  reichen  Stoffes,  teils  in 
der  Auffassung  der  einzelnen  Probleme:  allein  darüber  hinaus 
fügt  er  nun  jenen  beiden  Reihen  eine  abschließende  Synthese  hinzu, 
die  zwar  auf  der  Kritik  der  Urteilskraft  und  auf  der  Schillerschen 
Lehre  vom  Spiel  trieb  prinzipiell  beruht,  aber  doch  in  dieser  Aus- 
führung völhg  originell  ist.  Während  das  Ich  sowohl  in  der  theo- 
retischen als  auch  in  der  praktischen  Reihe  mit  einseitiger  Be- 
stimmtheit auftritt,  muß  eine  höchste  Form  seiner  Entwicklung 
gesucht  werden,  in  welcher  es  zu  seiner  vollendeten  Erscheinung 
kommt.  Bei  Fichte  wie  bei  Kant  ist  der  Gegensatz  des  Theore- 
tischen und  des  Praktischen  derjenige  zweier  Linien,  die  sich  erst 
im  Unendlichen  treffen;  aber  das  Ich  ist  einheitlich,  und  so  muß 
diese  seine  Einheit  des  bewußtlosen  und  des  bewußten  Tuns  auch 
zur  Erscheinung  kommen:  es  muß  neben  dem  theoretischen  und 
dem  praktischen  Ich  eine  Funktion  der  Vernunft  geben,  worin 
der  Gegensatz  jener  beiden  Tätigkeitsformen  aufgehoben  ist.  Diese 
Funktion  ist  die  ästhetische;  denn  das  Genie,  durch  welches  sie 
bedingt  ist,  ist  die  bewußtlos-bewußte  Tätigkeit  des  Ich;  sein  Pro- 
dukt, die  Kunst,  ist  deshalb  die  vollendete  Darstellung  vom  Wesen 
des  Ich.  Die  Wissenschaft  als  das  Produkt  des  theoretischen  Ich 
und  die  Moral  in  ihrer  Entwicklung;  durch  die  Geschichte  als  das 
Produkt  des  praktischen  Ich  enthalten  beide  einen  progressus  in 
infinitum;  nur  die  Kuns^;  als  das  Produkt  des  ästhetischen  Ich 
enthält  die  fertige  Lösung  der  Aufgabe,  an  der  jene  beiden  ar- 
beiten. Soll  in  der  theoretischen  Funktion  das  Bewußte  vollständig 
durch  das  Bewußtlose,  soll  umgekehrt  in  der  praktischen  Funktion 


; 


286  Schclling. 

das  Bewußtlose  vollständig  durch  das  Bewußte  bestimmt  sein, 
80  erreichen  beide  ihr  Ziel  erst  in  der  Unendlichkeit,  d.  h.  in  der 
Erfahrung  niemals.  Die  Kunst  dagegen  zeigt  in  der  Erscheinung 
selbst  das  Gleichgewicht  der  bewußtlosen  und  der  bewußten  Tätig- 
keit, worin  sie  sich  gegenseitig  vollständig  bestimmen,  und  worin 
keine  über  die  andere  überwiegt.  Das  Genie  ist  die  Intelligenz, 
die_als  Natur  wirkt.  In  der  Kunst  allein  decken  sich  die  sinn- 
liche und  die  geistige  Welt,  die  sonst  überall  entweder  aus- 
einander oder  aufeinander  zu  streben.  Das  Kunstwerk  ist  daher 
die  vollkommene  Darstellung  des  Ich  in  der  Erscheinung,  die  Kunst 
ist  daher  das  höchste  Organon  der  Philosophie;  denn  sie  enthält 
die  Lösung  des  Problems,  an  welchem  das  philosophische  Denken 
arbeitet.  Jedes  wahre  Kunstwerk  ist  eine  Welt  in  sich,  eine  zur 
vollkommenen  Ausgestaltung  gelangte  Erscheinung  der  absoluten 
Welteinheit;  in  ihm  ruhen  der  Trieb  des  Denkens  und  der  Trieb 
des  Willens.  Ihr  Gegensatz  ist  aufgehoben,  und  die  Arbeit  des  Ich, 
das  sich  selbst  realisieren  will,  ist  vollendet  in  der  Anschauung,  welche 
die  Tätigkeit  des  Ich  zu  vollkommener  Harmonie  entwickelt  hat. 

Getreu  dem  Zuge  der  idealistischen  Weltanschauung  deutet 
SchelUng  die  psychologischen  Bestimmungen,  unter  denen  Kant 
und  Schiller  die  künstlerische  Produktion  und  den  ästhetischen 
Genuß  begriffen  hatten,  zu  allgemeinen  philosophischen  Auf- 
fassungen um,  und  die  abschließende  und  vollendende  Stelle,  welche 
nach  Schiller  die  Romantiker  dem  ästhetischen  Moment  für  die 
Entwicklung  des  menschlichen  Geistes  zuwiesen,  führt  bei  SchelUng 
dazu,  daß  die  Kunst  als  der  Kulminationsbegriff  in  der  meta- 
physischen Konstruktion  der  Transzendentalphilosophie  erscheint. 
Die  Kunst  ist  die  Vollendung  des  Weltlebens,  sie  ist  die  reifste 
Erscheinung  des  Ich,  das  den  Urgrund  aller  Wirklichkeit  bildet. 
Damit  ist  das  ästhetische  Moment  zu  dem  bestimmenden  der 
Weltauffassung  geworden,  aus  dem  Kantischen  und  Fichtescheu 
hat  sich  der  ästhetische  Idealismus  entwickelt. 

Damit  ist  aber  zugleich  die  Ästhetik  nicht  nur  zu  einer, 
sondern  zu  der  abschließenden  Disziplin  der  Philosophie  geworden. 
Sie  ist  unter  diesem  Gesichtspunkte  wesentlich  eine  metaphysische 
Lehre  von  der  Kunst.  Sie  betrachtet  alles  ästhetische  Leben 
nur  in  Beziehung  auf  die  künstlerische  Tätigkeit.  Der  Genuß 
eines  Naturschönen  gilt  hier   nur  als  abgeleitet  und   analogisch, 


IdeuiifdiBiystcm.  2H7 

und  die  Äsilioiik  entwickelt  »ich  demnach  in  eine  Deduktion  de« 
Systeuia  der  Künste.  Nach  dem  diah^ktiHchen  Schema  werden 
diese  aus  dem  alli^^cmeincn  Wesen  der  Kunst  abgeleitet,  und  es 
wird  schließlich  «;ezeit^t,  daß  jehes  all^jcmeine  Wesen  der  Kunst 
am  reinsten  und  vollkommensten  in  der  Poesie  zur  Darstellun«^ 
kommt.  Mit  icicher  Sachkenntnis  und  feinstem  Geschmack  ent- 
ledigt sich  Schclling  dieser  Auf{j;abc,  und  diese  seine  Vorlesungen 
über  die  Philosophie  der  Kunst  sind,  obwohl  erst  nach  seinem 
Tode  gedruckt,  doch  durch  ihren  persönliclicn  Einfluß  das 
Fundament  geworden,  auf  dem  jahrzehntelang  der  Ausbau  der 
ästhetischen  Theorien  in  Deutschland  erfolgt  ist. 


§  66.     Der  absolute  Idealismus. 

Schellings  Identitätssystem. 

Der  Einfluß  des  ästhetischen  Moments  auf  die  Entwicklung 
der  deutschen  Philosophie  zeigt  sich  nicht  nur  materiell  in  der 
Bedeutung,  welche  die  Kunst  für  die  Weltanschauung  gewann, 
sondern  mit  gleicher  Bedeutsamkeit  auch  formell.  Es  ist 
wesentlich  das  ästhetische  Bedürfnis,  vermöge  dessen  in  jener 
Zeit  von  den  verschiedensten  Seiten  her  verlangt  wurde,  daß  die 
Philosophie  ein  in  sich  geschlossenes  System  absoluter  Totalität 
sein  sollte,  das  aus  seinem  inneren  Wesen  heraus  den  Gegensatz 
aller  seiner  besonderen  Aufgaben  erzeuge  und  sich  in  ihrer  Lösung 
schließlich  zu  einer  harmonischen  Versöhnung  zusammenfasse. 
Diesen  Gedanken,  den  schon  Hamann  in  seiner  mystischen  Un- 
klarheit hingeworfen  hatte,  vertritt  auf  dem  Fichteschen  Stand- 
punkte die  interessante  Abhandlung,  mit  der  Hülsen  die  Preis- 
frage der  BerHner  Akademie  über  die  Fortschritte  der  Metaphysik 
seit  Leibniz  und  Wolff  beantwortet  hatte  (gedruckt  1796).  Derselbe 
Gedanke  bewegte  und  beseelte  die  poetischen,  aber  nicht  zur 
Klarheit  vordringenden  Spekulationen,  mit  denen  sich  Hölderlin, 
Schellings  und  Hegels  Freund,  abmühte  und  später  auf  Hegel 
bedeutungsvoll  einwirkte.  Das  gleiche  Ziel  betont  sowohl  in 
seiner  Korrespondenz  als  auch  in  den  Fragmenten  Friedrich 
Schlegel.  Aber  die  wichtigsten  Folgen,  welche  dies  Prinzip  gehabt 
hat,  zeigen  die  großen  Systeme  Schellings  und  Hegels.  Von  ihm 
aus   erhielt  Ficht  es   dialektische  Methode  eine   neue   Bedeutung. 


288  Schelling. 

Ihre  ^riplizität  mit  dem  Schema  von  Thesis,  Antithesis  und 
Synthesis  brauchte  nur  vollständig  auf  alle  Teile  der  Philosophie 
angewendet  zu  werden,  um  diese  im  ganzen  wie  im  einzelnen 
dem  ästhetischen  Bedürfnis  entsprechend  zu  gestalten.  So  haben 
sich  die  Lehren  der  deutschen  Philosophie  zu  dialektischen  Be- 
griffsdichtungen  entwickelt,  Weltgedichten,  die  mit  künstlerischer 
Komposition  auf  die  Entfaltung  der  Gegensätze  und  ihre  schUeß- 
lich  harmonisch  austönende  Ausgleichung  gerichtet  sind. 

Dies  ästhetisch  -  philosophische  Bedürfnis  wendet  sich  bei 
Schelling  zunächst  dem  Gegensatze  der  Naturphilosophie  und  der 
Transzendentalphilosophie  zu.  Er  hatte  das  Verhältnis  dieser 
Wissenschaften  zueinander  zwar  aus  den  Prinzipien  der  Wissen- 
schaftslehre abgeleitet,  aber  beide  Teile  hatten  sich  ihm  unter 
den  Händen  derartig  umgebildet,  daß  er  sie  nicht  mehr  darauf 
zurückführen  konnte.  Die  Natur  war  ihm  durch  die  philosophische 
Behandlung  selbständig  geworden  und  stand  ebenbürtig  dem 
Ich  gegenüber,  dessen  Funktionen  die  Transzendentalphilosophie 
deduzierte.  Aber  beide  Teile  wiesen  stetig  aufeinander  hin.  Der 
Prozeß  der  Natur  hat  zu  seinem  Ziele  die  Genesis  des  Ich,  und 
dieses  wieder  entfaltet  den  Gegensatz  seiner  theoretischen,  prak- 
tischen und  ästhetischen  Funktionen  nur  durch  die  Verschieden- 
heit der  Beziehungen,  worin  es  sich  zur  Natur  befindet.  Darin 
zeigt  sich,  daß  die  Natur  und  das  Ich  beide  auf  demselben 
Grunde  beruhen,  und  daß  jene  beiden  Teile  der  Philosophie  einer 
höchsten  Begründung  bedürfen,  vermöge  deren  ihre  Gegenstände 
aus  dem  gerr einsamen  Grunde  abgeleitet  werden.  Diesen  aber 
konnte  Schelling  nicht  mehr  wie  Fichte  als  das  reine  oder  ab- 
solute Ich  bezeichnen,  zumal  da  er  sich  mehr  und  mehr  daran 
gewöhnt  hatte,  das  Wort  Ich  in  dem  gewöhnlichen  Sinne  des 
individuellen  Selbstbewußtseins  zu  gebrauchen;  sondern  er  nannte 
ihn  jetzt  schlechthin  das  Absolute  oder  die  absolute  Vernunft. 
Das  hatte  zugleich  seinen  Grund  darin,  daß  diese  Tendenz  den 
romantischen  Denker  immer  energischer  von  Kant  und  Fichte 
zu  Spinoza  zurückzog,  dessen  Einfluß,  wenn  auch  in  jener  von 
Herder  und  Gv-ethe  vermittelten  Form,  bereits  in  den  noch  un- 
entwickelten Darlegungen  seiner  Jugendschriften  und  besonders 
in  dem  pantheistischen  Zuge  der  Naturphilosophie  sich  fühlbar 
gemacht  hatte.    Jetzt  war  Schelling  durch  die  eigene  Entwicklung 


Nü08|)MH>/iHIUUH.  2H'J 

in  (Ion  briiloii  ToIUmi  seiner  Lehre  auf  einen  («cpensatz  von  Natur 
und  deist  gestoßen,  welcher  dem  Spinozistischcn  der  göttlichen 
Attribute  Ausdohnunj'  und  Denken  nahe  verwandt  schien,  urul 
die  Absicht,  für  die  NaturphiIos()i)hie  und  die  Transzendentiil- 
philosophie  eine  geiueinaanie  Begründung  zu  finden,  führte  von 
selbst  zu  einer  Lehre,  welche  in  Natur  und  Geist  die  beiden  Er- 
scheinungsweisen des  Absoluten" sah;  bald  hat  denn  auch  Schelling 
wie  Spinoza  und  mit  gleich  viel  und  gleich  wenig  Kecht  wie 
dieser,  das  Absolute  Gott  genannt.  Mit  dieser  Wendung  Schellings 
beginnt  daher  dasjenige,  was  man  als  Neospinozismus  der 
tieutschen  Philosophie  bezeichnet  hat.  Wenn  man  diese  Eichtung 
mit  Recht  als  eine  Verschmelzung  der  Kantischen  und  der  Spino- 
zistischcn Prinzipien  ansieht,  so  darf  man  doch  eben  nicht  ver- 
gessen, daß  die  Auffassung  Spinozas  dabei  wesentlich  immer  durch 
das  vitalistische  Prinzip  alteriert  war,  das  schon  bei  Herder  aus 
der  Einwirkung  von  Leibniz  herstammte.  Die  Stärke  des  Ein- 
flusses Spinozas  zeigt  sich  aber  auch  äußerlich  darin,  daß  Schelling 
sogar  die  geometrische  Methode  der  Ethik  mit  ihren  Axiomen, 
Lehrsätzen,  Beweisen  und  KoroUarien  in  der  »Darstellung  meines 
Systems  der  Philosophie«  (1801)  nachahmte,  einer  Schrift,  die 
freilich  schon  bei  der  Naturphilosophie  abbrach  und  auch  wesent- 
lich nur  nach  dieser  Seite  in  anderen  gleichzeitigen  Abhandlungen 
ergänzt  wurde.  Sa  veröffentlichte  er  den  Aufsatz  »Über  den 
wahren  Begriff  der  Naturphilosophie«  in  der  »Zeitschrift  für 
spekulative  Physik«  (1801)  und  die  »Ferneren  Darstellungen  aus 
dem  Systeme  der  Philosophie«  in  der  »Neuen  Zeitschrift  für 
spekulative  Physik«  (1802),  so  das  Gespräch  »Über  das  ab- 
solute Identitätssystem«  und  den  Aufsatz  »Über  das  Verhältnis 
der  Naturphilosophie  zur  Philosophie  überhaupt«  in  dem  »Kri- 
tischen Journal  der  Philosophie«,  so  trug  er  endlich  das  »System 
der  gesamten  Philosophie  und  der  Naturphilosophie  insbesondere« 
in  den  AVürzburger  Vorlesungen  vor,  die  erst  aus  dem  hand- 
schriftlichen Nachlaß  herausgegeben  worden  sind. 

Die^ intellektuelle  Anschauung,  von  welcher  der  metaphysische 
Idealismus  nach  Kant  ausgehen  mußte,  ist  bei  Schelling  nicht 
mehr  die  Fichtesche  Selbstanschauung  des  Ich,  sondern  mit  einer 
gewissen  Zurückbiegung  zu  dem  Kantischen  Begriffe,  aber  mit 
einer   metaphysischen   Umbiegung   seines   erkenntnistheoretischen 

Windelband,  Gesch.  d.  n.  Philos.   U.  19 


290  Schelling. 

Sinnes,  die ^^ Anschauung  des  Absoluten.  Diese  kann  nicht 
auf  irgend  einem  Wege  des  Denkens  erworben  und  demonstriert 
werden;  sie  ist  vielmehr  eine  geniale  Intuition,  ohne  welche  für 
diesen  Standpunkt  keine  Philosophie  möglich  ist.  Da  aber  auch 
der  anschauende  endliche  Geist  eine  Funktion  und  Erscheinung 
des  einen  Absoluten  ist,  so  enthält  die  Anschauung,  welche  der 
Philosoph  von  Gott  hat,  doch  zugleich  eine  Selbstanschauimg 
des  Absoluten  selber,  und  es  ergibt  sich  daraus  der  Begriff 
des  "absoluten  ^  als  Jdentität  von  Subjekt  und  Objekt.  Indem 
aber  diese  Identität,  wie  es  der  Begriff  des  Wissens  verlangt, 
vollständig  sein  soll,  ist  das  Absolute  die  vollkommene,  unge- 
schiedene Einheit  von  Subjekt  und  Objekt,  es  ist  keines  von 
beiden,  sondern  die  völlige  Indifferenz  beider.  Der  Gegensatz 
von  Subjekt  und  Objekt  setzt  sich  aber  bei  Schelling  sogleich 
in  denjenigen  von  Ideahtät  und  Realität  oder  in  denjenigen  von 
Geist  und  Natur  um.  Das  Absolute  ist  weder  ideal  noch  real, 
es  ist  weder  Geist  noch  Natur,  sondern  die  absolute  Identität 
oder  die  Indifferenz  beider  Bestimmungen.  Der  Magnet  ist  nicht 
nur  der  naturphilosophische,  sondern  der  allgemeine  metaphysische 
Typus.  Wie  der  ganze  Magnet  weder  Nordmagnetismus  noch 
Südmagnetismus,  sondern  die  Identität  beider  ist  und  in  seinem 
Mittelpunkte  ihre  Indifferenz  enthält,  so  ist  das  Absolute  die 
ungeschiedene  Vereinigung  aller  Gegensätze.  Deshalb  ist  in  ge- 
wissem Sinne  das  Seh elHngsche "Absolute  ebenso  wie  die  Gottheit 
der  Mystiker  und  wie  die  Substanz  Spinozas  —  das  Nichts,  und 
es  erklärt  sich  daraus,  weshalb  einer  seiner  naturphilosophischen 
Schüler,  Oken,  zum  Ausgangspunkte  der  dialektischen  Konstruktion 
das  Zero  (dz  0)  nehmen  konnte.  Dagegen  enthält  das  Absolute 
bei  Schelling  als  Indifferenz  die  Möglichkeit  seiner  Differenzierung, 
vermöge  deren  es  sich  als  Universum  zu  dem  System  der  ver- 
schiedenen Erscheinungen  entwickeln  kann.  Wenn  im  Absoluten 
die  Gegensätze  mit  völliger  Gleichheit  sich  gegenseitig  aufheben, 
so  befinden  sie  sich  an  den  einzelnen  Erscheinungen  in  einer 
Differenz,  vermöge  deren  der  eine  oder  der  andere  Teil  über- 
wiegt. Auch  hier  liegt  das  Schema  des  Magneten  vor;  wie  bei 
diesem  an  jrdcm  Punkte  sowohl  der  Süd-  als  auch  der  Nord- 
magnetisiiuis  tätig  sind,  wie  die  Lage  des  Punktes  zwischen  dem 
Indifferenzpunkt  und  einem  der  Pole  das  größere  oder  geringere 


ItlciititHtfifiyHleni.  291 

t^borwio«»«»!!  (In-  vhwn  üIxt  die  andoro  Knift  bestimmt,  .so  JHt 
aiK'h  in  jodor  der  bcsondorcn  ErHcheinuii^^cn  Subjcktivitilt  und 
Objektivität,  Oeist  und  Natur  ho  enthalten,  daß  in  dem  (juan- 
iitativen  Verhältnis  beider  das  spezifische  Wesen  dicHer  Krsehei- 
nuni^  be«j:riindet  ist.  Der  i^Toße  Weltnui«^Miet,  der  die  Indifferenz 
von  Geist  und  Natur  enthält,  würde,  wenn  man  ihn  zerteilte, 
auch  in  seinem  i^erin^sten  Teile  dieselbe  Polarität  zei^^'en.  Da 
er  aber  ein  einheitliches  Leben  darstellt,  so  besitzt  jeder  Punkt 
in  ihm  ein  besonderes  Verhältnis  der  beiden  Grundbestimmungen, 
deren  Indifferenz  das  Wesen  des  Ganzen  ausmacht. 

Die  Verschiedenheit  der  endlichen  Dinge  besteht  also  in  der 
quantitativen  Differenz  des  natürlichen  und  des  gei- 
stigen Moments,  die  in  allen  enthalten  sind.  Darin  besteht 
der  Unterschied  dieses  Neospinozismus  von  dem  Spinozismus 
selbst;  für  diesen  teilten  sich  die  endlichen  Dinge  in  zwei  große, 
vollkommen  geschiedene  Reiche,  von  denen  das  eine  nur  die 
Natur  und  das  andere  nur  der  Geist  war.  Für  Schelling  ent- 
wickelt sich  die  absolute  Vernunft  in  zwei  Reihen,  welche  sich 
aus  der  Abstufung  in  dem  quantitativen  Verhältnis  des  natür- 
lichen und  des  geistigen  Elements  derartig  konstituieren,  daß 
in  der  einen  die  Natur  oder  das  »reelle  Moment«,  in  der 
andern  der  Geist  oder  das  »ideelle  Moment«  überwiegt.  Jede 
dieser  Reihen  stellt  deshalb  eine  Entwicklung  dar,  die  von  dem 
äußersten  Pole  her,  bei  welchem  das  in  ihr  überwiegende  Mo- 
ment am  selbständigsten  und  von  dem  entgegengesetzten  am 
meisten  frei  ist,  bis  in  die  Nähe  des  Indifferenzpunktes  zu  einer 
Erscheinung  führt,  worin  es  sich  mit  dem  entgegengesetzten 
Moment  am  vollkommensten  identifiziert.  Die  einzelnen  Stufen 
dieser  Entwicklung  bezeichnet  ScheUing  als  die  Potenzen,  und 
deshalb  ist  diese  seine  Lehre  auch  als  Potenzenlehre  charak- 
terisiert worden. 

Das  ganze  System  sollte  also  eine  doppelte  Entwicklung  ent- 
halten, innerhalb  deren  jede  besondere  Erscheinung  ihren  Platz 
durch  das  Verhältnis  angewiesen  erhielte,  welches  in  ihr  zwischen 
dem  geistigen  und  dem  natürlichen  Element  obwaltet.  Ausge- 
führt hat  ScheUing  nur  die  reale  Reihe,  diejenige  der  Natur. 
Die  ideale  Reihe,  diejenige  des  Geistes  oder  der  Geschichte,  hat 
er  nur  angedeutet.     Den  äußersten  Pol  der  realen  Reihe  bildet 

19* 


292  Schelling. 

die  Materie  (oder  in  den  späteren  Darstellungen  der  Raum), 
worin  das  objektive  Element  über  das  subjektive  vollständig 
überwiegt.  Als  zweite  Potenz  folgt  das  Licht,  als  dritte  und 
abschließende  der  Organismus,  in  dessen  höchsten  Formen  und 
Lebensbewegungen  zwar  immer  noch  das  physische  Element  über- 
wiegt, aber  doch  anderseits  das  ideelle  die  größte  Bedeutung 
erreicht  hat,  die  es  innerhalb  der  natürlichen  Reihe  gewinnen 
kann.  Zwischen  diesen  drei  Stufen  sollte  in  einer  Weise,  die 
sich  in  Schellings  Auffassung  mehrfach  variiert  hat,  die  gesamte 
Konstruktion  der  Naturphilosophie  Platz  finden. /Darf  man  an- 
derseits nach  Andeutungen  und  nach  den  Prämissen  des  Schel- 
lingschen  Denkens  die  Gestalt  vermuten,  welche  die  ideelle  Reihe 
gefunden  hätte,  so  würde  hier  der  geistige  Pol  in  dem  sittlichen 
Selbstbewußtsein  geruht  haben,  das  sich  zur  Natur  im  Gegensatz 
weiß,  es  würde  als  zweite  Potenz  die  gesamte  theoretische  Reihe 
mit  ihrer  Unterordnung  unter  das  Bewußtlose  gefolgt  sein,  und 
endHch  würde  sich  diese  Konstruktion  mit  der  ästhetischen  Tätig- 
keit abgeschlossen  haben,  deren  Produkt,  wenn  auch  überwiegend 
ideellen  Charakters,  doch  das  Sinnlichste  und  Natürlichste  ist, 
was  die  Intelligenz  erzeugt. 

Wenn  sich  so  aus  der  Indifferenz  des  Absoluten  die  beiden 
Reihen  der  differenzierten  Erscheinungen  entwickeln,  so  erreicht 
doch  in  keiner  darunter  das  Absolute  selbst  seine  volle  Dar- 
stellung; auch  im  menschlichen  Organismus  überwiegt  das  phy- 
sische, auch  im  besten  Werke  des  Künstlers  überwiegt  das  ideelle 
Moment.  Die  letzte  Synthese,  die  vollkommenste  Entfaltung  der 
absoluten  Vernunft,  ist  in  einer  besonderen  Erscheinung  nicht 
möglich.  Aber  sie  muß  vollzogen  werden,  damit  das  System 
sich  abschließe,  und  sie  kann  deshalb  nur  in  der  Totalität  aller 
Erscheinungen,  d.  h.  im  Universum  gesucht  werden.  Das  Uni- 
versum ist  die  vollendete  Selbst ersch einung  des  Absoluten,  die 
totale  Entwicklung  der  Vernunft,  es  ist  die  Potenz,  worin  das 
Absolute  aus  dem  Indifferenzpunkte'  durch  die  ganze  Fülle  der 
Differenzierungen  hindurch  seine  Identität  wiederherstellt.  Es 
ist  deshalb  der  Punkt,  an  welchem  die  reale  und  die  ideale 
Reihe  sich  treffen  und  zur  absoluten  Einheit  gelangen;  es  ist 
der  vollkommenste  aller  Organismen  und  zugleich  das  vollkom- 
menste Kunstwerk;   es  ist   die   Identität  des   absoluten  Or- 


Pütouzen  und  Ideen.  293 

ganisiniis  und  des  absoluten  Kunstwerkes.  Von  hier  aus 
fiililte  sich  Schclliu;^  zu  der  [^roßartii^^en  Weltdichtuu^  hin<^czogen, 
womit  die  Naturpliilosophie  der  Keiiaissance  das  Universum  als 
einen  Organismus  und  als  ein  iCunstwerk  betrachtet  hatte,  und 
er  legte  diese  Lehren,  in  denen  Wahrheit  und  Schönheit  eins 
geworden  sein  sollen,  dem  größten  der  italienischen  Naturphilo- 
sophen  in  den  Mund.  Sein  Dialog  »Bruno  oder  über  das  gött- 
liche und  natürhche  Prinzip  der  Dinge«  (1802)  bringt  diese  Phase 
seiner  Entwicklung  zur  vollständigsten  Darstellung.  Das  Identitäts- 
system oder  der  absolute  Idealismus  ist  ein  ästhetischer  Pan- 
theismus, der  die  Einheit  des  sinnlichen  und  des  geistigen  Ele- 
ments, welche  die  Ästhetik  bei  Schiller  als  maßgebendes  Prinzip 
gewonnen  hatte,  durch  alle  Erscheinimgen  der  wirklichen  Welt 
hindurch  verfolgt  und  dadurch  die  starren  Linien  des  Spinozi- 
stischen  Naturalismus  in  die  schöne  Wellenbewegung  eines  leben- 
digen Zusammenhanges  verwandelt. 

Aber  bereits  in  die  Darstellung  des  »Bruno«  drängt  sich  ein 
anderer  Einfluß  und  mit  ihm  eine  Veränderung  der  Auffassung 
ein,  wodurch  schon  leise  die  Motive  einer  späteren,  vom  Identitäts- 
system wieder  abführenden  Entwicklung  Schellings  anklingen.  Die 
dialogische  Form  ist  sichtlich  Piaton  nachgebildet  und  von  allen 
modernen  Nachahmungen  des  großen  hellenischen  Vorbildes  sicher 
die  vollkommenste.  Allein  der  Einfluß  Piatons  auf  Schelling  w^ar 
nicht  nur  formell,  sondern  er  wurde  in  den  ersten  Jahren  des 
neuen  Jahrhunderts  auch  sachlich  sehr  bedeutsam.  Das  System 
der  absoluten  Vernunft  kam  aus  eigenem  Bedürfnis  der  Ideenlehre 
entgegen.  Es  ergriff  sie,  zog  sie  in  sich  hinein  und  begann  sich 
dadurch  innerlich  umzubilden.  Der  große  Assimilationsprozeß, 
in  welchem  der  deutsche  Geist  die  Kesultate  aller  früheren  Kultur 
verarbeitete,  warf  sich  nun  auch  auf  die  reifsten  Produkte  der 
griechischen  Philosophie.  Es  ist  höchst  wahrscheinlich,  daß  für 
Schelling  die  Hauptanregung  dazu  von  der  neuen  persönlichen 
Berührung  mit  Hegel  ausging,  welcher  nicht  so  wie  jener  durch 
seine  Entwicklung  auf  das  naturwissenschaftliche  Interesse  ab- 
gelenkt worden  war,  sondern  in  der  Stille  das  antike  Moment 
ihrer  Jugendbildung  zm*  vollen  Kraft  in  sich  hatte  ausreifen  lassen. 
Er  sollte  später  die  Verschmelzung  der  deutschen  und  der  antiken 
Philosophie  auf   den  vollkommensten  Ausdruck  bringen,    und  er 


i 


294  Schellin^. 

war  es  schon  jetzt,  der  in  Schellings  Denken  das  bereits  vor- 
handene Platonische  Element  derartig  verstärkte,  daß  es  in  der 
Darstellung  des  Identitätssystems  immer  mehr  überwog.  Freilich 
wurde  die  Lehre  Piatons  dabei  nicht  in  ihrem  reinen  und  ur- 
sprünglichen Sinne  aufgefaßt,  und  es  ist  erst  ein  Verdienst  von 
Herbart  gewesen,  das  historische  Verständnis  des  großen  attischen 
Philosophen  im  Gegensatz  gegen  die  Identitätsphilosophen  wieder- 
herzustellen. Schelling  und  Hegel  folgten  der  Deutung  des  Pla- 
tonischen Systems,  die  von  den  Neupythagoreern  und  den  Neu- 
platonikern  an  das  ganze  Mittelalter  und  die  neuere  Zeit  hindurch 
geherrscht  hatte:  sie  sahen  in  Piatons  Ideen  nicht  übersinnliche 
Wesenheiten,  sondern^  Gedanken  Gottes^ 

Diese  Auffassung  verband  sich  bei  Schelling  mit  dem  Begriffe 
der  intellektuellen  Anschauung  als  einer  Selbstanschauung  des 
Absoluten.  Soll  sich  nämlich  die  letztere  auch  auf  das  voll  ent- 
wickelte und  durch  die  Differenzierungen  zur  TotaUtät  des  Uni- 
versums hindurchgegangene  Absolute  erstrecken,  so  muß  dieses  auch 
alle  seine  Differenzierungen  in  sich  anschauen.  Jene  Differen- 
zierungen oder  » Potenzen  «  sind  danach  doppelt  vorhanden,  einmal 
als  objektive  Erscheinungen,  d.  h.  als  reale  Entwicklungsformen 
des  Absoluten  und  zweitens  als  die  Formen  der  Selbstanschauung 
des  Absoluten.  In  diesem  zweiten  Sinne  nun  nennt  sie  Schelling 
Ideen,  und  je  mehr  er  diesen  Gedanken  verfolgt,  um  so  mehr 
gewöhnt  er  sich,  das  in  ihnen  sich  selbst  anschauende  Absolute 
Gott  zu  nennen.  Die  Gottheit  schaut  sich  selbst  in  jenen  Ideen 
an  und  realisiert  sie  in  den  objektiven  Erscheinungen  der  Natur 
und  der  Geschichte.  So  ist  aus  der  Potenzenlehre  eine  Ideen- 
lehre geworden;  die  Potenzen  der  empirischen  Wirklichkeit  sind 
nicht  die  unmittelbaren  Differenzierungen  des  Absoluten,  sondern 
die  Veiwirklichungen  und  Verselbständigungen  der  Ideen,  in  welche 
die  Gottheit  sich  bei  ihrer  Selbstanschauuug  differenziert.  Eine 
gewisse  Zweideutigkeit  entstand  dabei  in  der  Anwendung  des 
Terminus  ideal  oder  ideell.  In  den  Potenzen  der  empirischen 
Wirklichkeit  wurden  die  reale  und  die  ideale  Reihe  als  ebenbürtig 
behandelt.  Aber  indem  nun  ihnen  beiden  eine  Ideenwelt  als  Ur- 
bild im  Platonischen  oder  neuplatonischen  Sinne  vorhergehen  sollte, 
erschien  das  ideelle  Moment  als  das  ursprüngliche  und  das  natür- 
liche oder  reelle  als  das  abgeleitete.    Andere  Begriffe  kamen  hinzu, 


SyBtom  dftr  WiBSüiiHnhafton.  295 

um  die  Darstellung  dieser  Phase  der  Schcllin/^scheu  Lehre  eher  zu 
verwiekeln  als  zu  verdeutliehen.  War  nÜFiilieli  das  Absolute  selbst 
als  das  Unendliche  den  endlichen  Erscheinungen  gegenübergestellt 
worden,  so  offenbarte  sich  nun  «das  unendliche  Wesen  der  Gott- 
iieit  in  ihren  Ideen.  Der  Gegensatz  der* Ideen  und  der  Er- 
scheinungen fällt  mit  demjenigen  des  Unendlichen  und  des  End- 
lichen zusammen,  und  die  (;}ottheit  wird  nun  gerade  in  dem  Sinne 
die  absolute  Identität  genannt,  daß  sie  zugleich  unendlich  in  der 
Idee  mid  endlich  in  der  Erscheinung  und  dabei  in  beiden  Formen 
dasselbe  ist. 

Von  diesem  Standpunkt  aus  entwarf  nun  Schclling  das  System 
der  Wissenschaften  in  seinen  »Vorlesungen  über  die  Methode  des 
akademischen  Studiums«.  Ihre  Niederschrift  (1803)  gehört  zu  dem 
Formvollendetsten,  was  in  der  deutschen  Philosophie  je  geschaffen 
worden  ist;  sie  ist  auch  äußerKch  ein  leuchtendes  Denkmal  jener 
Zeit,  welcher  Schönheit  und  Wahrheit  wie  den  Griechen  als  iden- 
tisch galten.  Sie  enthält  \vieder  den  ersten  Versuch,  aus  dem 
philosophischen  Gedanken  heraus  den  gesamten  vielgliedrigen  Or- 
ganismus der  Wissenschaften  zu  entwickeln  imd  damit  jeder  ihre 
Aufgabe  und  ihre  Methode  anzuweisen.  Wenn  dabei  auch  die 
universalistische  Tendenz  verfehlt  sein  mag,  wonach  die  besonderen 
Wissenschaften  bis  in  ihre  einzelne  Arbeit  hinein  von  der  Philo- 
sophie aus  durch  deren  dialektische  Methode  geregelt  erscheinen 
sollen,  so  ist  doch  anderseits  die  gemeinschaftliche  Aufgabe  und 
der  ideelle  Zusammenhang  aller  wissenschaftlichen  Tätigkeiten  nie 
so  glänzend  dargestellt  und  so  tief  begründet  worden  wie  in  diesen 
Vorlesimgen.  Sie  verbinden  damit  den  anderen  Zweck,  ein  ideales 
Bild  von  dem  Wiesen  und  der  Aufgabe  der  deutschen  Universi- 
täten zu  entrollen.  Sie  sehen  darin  diejenige  Institution,  durch 
welche  jener  in  sich  zusammenhängende  Organismus  der  Wissen- 
schaften zum  lebendigen  Ausdruck  kommen  soll.  Die  Universität 
ist  kein  A^orregat  von  Schulen  des  Brotstudiums,  in  denen  man 
lediglich  sich  für  bestimmte  technische  Fertigkeiten  vorbereiten 
soll;  sie  ist  noch  weniger  ein  Sammelplatz  für  Jünglinge,  die  einige 
Jahre  ohne  praktische  Tätigkeit  ihre  Freiheit  genießen  wollen; 
sondern  sie  ist  eine  Schule  der  wissenschaftlichen  Arbeit,  an  der 
alle  Aufgaben  der  menschlichen  Erkenntnis  durch  ihr  stetiges 
Ineinandergreifen  und  durch  die  Gegenseitigkeit  der  persönlichen 


296  Anhänger  des  Identitätssystems. 

und  sachlichen  Unterstützung  zu  immer  höherer  Lösung  gedeihen 
sollen,  und  an  welcher  jeder  einzelne  lernen  muß,  den  Inhalt 
seines  einstigen  praktischen  Berufs  unter  dem  wissenschaftlichen 
Gesichtspunkt  und  in  seinem  innigen  Zusammenhange  mit  dem 
ganzen  übrigen  Kulturleben  zu  verstehen.  Wer  den  vollen  und 
reinen  Idealismus  kennen  lernen  will,  der  den  innersten  Lebens- 
trieb der  deutschen  Universitäten  in  dieser  ihrer  großen  Ver- 
gangenheit gebüdet  hat,  soll  diese  Schrift  lesen;  sie  ist  zugleich 
das  edelste  Zeugnis  von  der  Auffassung,  die  Schelüng  selbst  von 
seinem  akademischen  Berufe  hatte. 

Das  Identitätssystem  war  in  der  Gesamtentwicklung  der  deut- 
schen Philosophie  ein  verhältnismäßig  nur  kurzer  Moment.  Schelling 
selbst  verließ  es  bald  und  geriet  auf  theosophische  Wege  (vgl.  §  69), 
und  die  Aufgabe,  die  er  sich  darin  gestellt  hatte,  wurde  nachher 
in  viel  durchgreifenderer  Weise  von  Hegel  gelöst.  Gleichwohl  ist 
eine  Keihe  von  Abzweigungen  aus  dem  Hauptstamme  der  Ent- 
wicklung von  diesem  Punkte  ausgegangen.  Als  Anhänger  Schellings 
in  dieser  Phase  seines  Philosophierens  köimen  Klein  (»Beiträge 
zum  Studium  der  Philosophie«  1805)  und  Stutzmann  (»Philo- 
sophie des  Universums«  1806)  gelten.  Die  Geschichte  der  Philo- 
sophie behandelte  von  diesem  Standpunkt  aus  Friedrich  Ast 
(»Grundriß  einer  Geschichte  der  Philosophie«  1807);  derselbe  gab 
auch  ein  Handbuch  der  Ästhetik  (1805)  heraus,  und  überhaupt 
wurde  das  Identitätssystem  namentlich  in  seiner  platonisierenden 
Form  für  die  Behandlung  der  Ästhetik  ganz  außerordentlich 
fruchtbar.  Schon  Schiller  konnte  in  der  Lehre  von  dem  "Abso- 
luten als  der  Indifferenz  des  Geistigen  und  des  Natürlichen  seinen 
eigenen  Grundgedanken  wiedererkennen  und  diesen  deshalb  in  dem 
Vorworte  zu  der  »Braut  von  Messina«  auf  Formen  bringen,  die 
sich  durchaus  an  die  Schellingsche  Sprache  anschließen.  In  der 
Folge  aber  wurde  für  die  Ästhetik  namentlich  das  Verhältnis 
der  unendlichen  Idee  zu  der  endlichen  Erscheinung  bestimmend. 
Während  das  ideelle  Wesen  der  Gottheit  in  keiner  wirklichen 
Erscheinung  voll  zur  Entfaltung  kommt,  ist  es  die  Aufgabe  der 
Kunst,  die  Identität  des  UnendHchen  und  des  Endlichen,  welche 
von  der  wissenschaftlichen  Erkenntnis  niemals  vollständig  erreicht 
werden  kann,  in  jedem  Kunstwerke  derartig  darzustellen,  daß  die 
Idee  vollständig  in  die  Erscheinung,  die  Erscheinung  vollständig 


Solger.  297 

in  die  Idee  aufgeht.  Wahrheit  und  Schönheit  «ind  eins,  sie  ent- 
halten beide  nichts  anderes  als  die  Idee  in  der  Erscheinung  und 
sind  in  diesem  Sinne  die  Synthesis  des  Sinnlichen  und  des  Über- 
sinnlichen, des  Natürlichen  und  des  Geistigen.  Mit  diesem  Begriffe 
wird  in  die  Ästhetik  das  Moment  des  i> Bedeutsamen«  aufgenommen, 
das  Herder  in  seiner  Kalligone  (1800)  im  Gegensatz  zu  dem  For- 
malisnms  der  Kantischen  Ästhetik  geltend  machte,  auch  hier  wie 
in  der  Geschichtsphilosophie  mit  Recht,  sofern  es  sich  um  die 
Ergänzung,  mit  Unrecht,  sofern  es  sich  um  die  gereizte  Be- 
streitung des  gegnerischen  Standpunktes  handelte.  Indem  nun 
so  der  Grundsatz  sich  befestigte,  daß  das  Schöne  das  sinnliche 
Erscheinen  der  "Idee"^  sei ,  gestaltete  sich  die  deutsche  Ästhetik 
immer  ausgesprochener  zu  einer  Theorie  der  Kunst  und  wurde 
darin  durch  den  Umstand  bekräftigt,  daß  ihre  Ausbildung  haupt- 
sächlich in  den  Händen  von  Männern  der  literarischen  Kritik  lag, 
welche  in  der  Dichtung  mit  Recht  nach  der  Darstellung  von  Ideen 
zu  fragen  hatten.  Auch  die  geschichtsphilosophisc^he  Tendenz  in 
der  Konstruktion  der  ästhetischen  Grundbegriffe  konnte  dieser 
Wendung  gut  folgen;  bei  der  antiken  oder  klassischen  Kunst  fand 
man  ein  unbefangenes  und  naives  Walten  der  Idee  in  der  sinn- 
lichen Gestaltung;  als  das  Wesen  der  modernen  oder  romantischen 
Kunst  dagegen  begriff  man  ein  Streben  des  Künstlers,  den  zum 
Bewußtsein  gekommenen  Gegensatz  von  Idee  und  Wirklichkeit  cf  ^^ 
wieder  zu  überwinden.  Mit  diesen  Begriffen  hat  später  Solger 
(1780 — 1819)  das  romantische  Prinzip  der  Ironie^auf  eine  neue  "^^2i 
Formel  gebracht,  die  zu  ihrer  Zeit  um  so  origineller  erschien  als 
Schellings  eigene  Philosophie  der  Kunst  noch  nicht  veröffentlicht 
war.  Solgers  »Erwin«  (1815)  und  seine  »Philosophischen  Ge- 
spräche« (1817),  deren  tiefste  Begründung  erst  durch  die  posthum 
(1829)  herausgekommenen  »Vorlesungen  über  Ästhetik«  zur  vollen 
Klarheit  gebracht  wiu:de,  entwickeln  den  romantischen  Grund- 
begriff dahin,  daß  es  sich  in  dem  ironischen  Verfahren  des  mo- 
dernen Künstlers,  bei  welchem  Idee  und  sinnliche  Darstellung  nie 
mehr  zur  vollen  Deckung  gelangen,  sondern  stets  die  erstere  über 
die  letztere  überwiegt,  wesentHch  darum  handelt,  das  EndHche 
dem  Unendlichen,  die  Erscheinung  der  Idee,  das  Individuum  dem 
Absoluten  aufzuopfern,  und  daß  in  dieser  Aufopferung  das  tra- 
gische  Schicksal   des   Schönen    bestehe,  —  eine   Auffassung,    die 


298  Wagner,  Krause. 

ganz  von  selbst  duicli  das  Aufgehen  alles  Besonderen  in  die  Gott- 
heit eine  religiöse  Färbung  der  Ästhetik  mit  sich  brachte. 

Unter  den  Männern,  die  vom  Identitätssystem  aus  eine 
verhältnismäßig  selbständige  Laufbahn  beschrieben,  ist  zuerst 
J.  J.  Wagner   (1775 — 1841)   zu   nennen.     Dieser  war   schon   in 

^''  der  naturphilosophischen  Periode  als  Anhänger  Schellings  mit 
mehreren  Schriften  hervorgetreten  und  machte  auch  die  Phase 
des  absoluten  Idealismus  mit,  trennte  sich  jedoch,  auf  dem  letz- 
teren Standpunkte  prinzipiell  beharrend,  in  seinem  »System  der 
Idealphilosophie«  (1804)  von  der  theosophischen  Richtung,  die 
der  Meister  einzuschlagen  begann.  Später  versuchte  er  das  tri- 
adische Schema  des  Identitätssystems  durch  ein  tetradisches  der 
Kreuzung  von  Gegensätzen  zu  ersetzen  und  verrannte  sich  mit 
seiner  »Mathematischen  Philosophie«  (1811)  und  seinem  »Organon 
der  menschlichen  Erkenntnis«  (1830)  derartig  in  einen  trockenen 
Schematismus  des  Methodisierens,  daß  er  alle  menschlichen  Tätig- 
keiten nach  dieser  vierteiligen  Methode  geregelt  wissen  wollte. 
Die  Überzeugung  der  Identitätsphilosophie,  daß  die  Denkgesetze 
Weltgesetze  seien,  dehnte  er  hauptsächUch  auf  die  mathematische 
Berechnung  aus  und  behauptete,  daß  sich  nach  seiner  tetra- 
dischen  Methode  alles  müsse  rechnungsmäßig  konstruieren  lassen. 
Seine  »Dichterschule«  wendete  diesen  Gedanken  schließlich  sogar 
auf  die  poetische  Produktion  an,  wobei  nur  anzuerkennen  ist, 
daß  er  dafür  keine  Proben  der  Ausführung  veröffentlicht  hat. 
Weit  erhaben  über  diese  Pedanterie,  die  von  dem  tiefen, 
sachlichen   Denken  Schellings   so   weit   abführt,   ist   ein   anderer 

^^^^Fortbildner  des  Identitätssystems:  Friedrich  grause.  1781 
geboren,  1802  als  Privatdozent  in  Jena  habilitiert,  ist  er  nach 
stetigen  Mißerfolgen  in  der  akademischen  Lehrtätigkeit,  die  ihn 
auch  in  Berlin  und  Göttingen  verfolgten,  und  nach  einem  mit 
Not  und  Sorge  durchrungenen  Leben  1832  in  München  gestorben. 
Eine  edle  Natur,  von  reinstem  Eifer  erfüllt,  ist  er  an  dem  un- 
praktischen Idealismus  seines  Wesens  und  an  der  Wunderlichkeit 
seiner  philosophischen  Darstellung  zugrunde  gegangen.  In  der 
an  sich  berechtigten  Absicht,  die  zufällig  zusammengesetzte  Ter- 
minologie der  Philosophie  durch  eine  rein  deutsche  Darstellung 
zu  verdrängen,  hat  er  sich  in  eine  neue,  völlig  willkürhche  und 
individuelle   Terminologie    verirrt,    welche    er   die    Marotte   hatte 


Panentlioismus.  299 

für  echt  deutsch  zu  halten,  und  welche  seine  Schriften  für  den 
uneinjjjeweihten  Deutschen  unlesbar  macht.  Er  hat  damit  zu- 
gleich seine  liistoiische  Stellung  verhüllt,  indem  er  die  Grund- 
gedanken der  deutschen  PhilüSü\)hie,  die  er  Kant,  Ficlite  und 
Schelling  verdankte,  in  seine  Sünderlingssprache  übersetzte  und 
dadurch  aucli  bei  sich  selbst  den  Anschein  erregte,  als  seien  es 
originelle  Schöpfungen.  Als  daher  sein  Schüler  Ahrens  die 
Krausesche  Lehre  durch  Vorträge  und  Schriften  in  das  Fran- 
zösische übersetzte  (z.  B.  Cours  de  philosophie,  Paris  183G  und 
1838),  da  perlten  die  allgemeinen  Grundgedanken  der  deutschen 
Philosophie  reih  aus  der  Krauseschen  Schale  heraus,  und  so  er- 
klärt sich  der  große  Erfolg,  den  sie  dann  im  romanischen  Aus- 
lande hatten,  wo  Krause  lange  Zeit  als  der  größte  deutsche 
Philosoph  gegolten  hat.  Eine  ähnliche  Übersetzung  ins  Deutsche 
steht  noch  aus;  die  wichtigsten  und  verhältnismäßig  lesbarsten 
seiner  Schriften  sind  der  »Entwurf  eines  Systems  der  Philosophie« 
(1804),  das  »Urbüd  der  Menschheit«  (1811),  die  »Vorlesungen 
über  das  System  der  Philosophie«  (1828)  und  diejenigen  »Über 
die  Grundwahrheiten  der  Wissenschaft«  (1829)*).  Was  Krause 
dem  Identitätssystem  hinzugefügt  hat,  besteht  einerseits  in  einer 
größeren  Verselbständigung  des  x4bsoluten  den  Erscheinimgen 
gegenüber,  anderseits  in  einer  neuen  methodischen  Behandlung 
des  Ganzen.  Er  betont  vor  allem,  daß  die  Gottheit  (oder 
»Wesen«,  wie  er  sie  nennt)  in  ihrer  ideellen  Selbstanschauimg 
ajs  Selbstbewußtsein  oder  Persönlichkeit  gedacht  werden  muß, 
und  da  gleichwohl  alle  endhchen  Dinge  nur  den  Prozeß  dar- 
stellen, worin  diese  absolute  Persönlichkeit  sich  selbst  entwickelt, 
mid  so  nur  m  ihr  und  durch  sie  leben  und  subsistieren,  so  be- 
zeichnet Krause  seine  Lehre  nicht  mehr  als  Pantheismus,  sondern 
als  Panentheismus.  Es  ist  der  Versuch,  durch  das  System 
der  Entwicklung  Pantheismus  und  Theismus  zu  verschmelzen. 
Aber  die  intellektuelle  Anschauung,  vermöge  deren  wir  uns  so  als 
Teile  des  göttlichen  Selbstbewußtseins  wissen,  soll  nach  Krause 
nicht  als  ein  Vorzug  begabter  Naturen,  wie  bei  Schelling,   oder 


*)  Auch  die  massenhaften  Veröffentlichungen  aus  Krauses  Nachlaß ,  die 
später  von  unermüdlichen  Schülern  herausgegeben  worden  sindj^.^i^b'yi  ß^ 
dem  Gesamtbilde  seiner  Lehre  nichts  lindern  können.       ^x'"""^'    •^'  ~'^^ 


ri,  .^ 


300  a-'        1^  Krause 


als  ein  bloßes  Postulat  der  Philosophie  gelten,  sondern  wissen- 
schaftHch  gefunden,  erworben  und  einleuchtend  gemacht  werden; 
in  diesem  Verlangen  besteht  die  Verwandtschaft  Krauses  mit 
Hegel.  Wenn  daher  auch  seine  Philosophie  in  ihrem  konstruk- 
tiven Teile  von  der  Gottesanschauung  wie  das  Identitätssystem 
ausgeht,  so  bedarf  sie  doch  eines  vorbereitenden  Teils,  worin 
jene  Anschauung  erst  gefunden  werden  soll.  Infolgedessen  nimmt 
Krauses  Lehre,  wie  es  besonders  in  der  ersten  Abteilung  von 
seinem  »Abriß  des  Systems  der  Philosophie«  (1825)  hervortritt, 
methodisch  eine  Gestalt  an,  die  als  Kopie  des  Cartesianismus 
erscheint.  Sie  bildet  wie  dieser  eine  Parabel,  deren  aufsteigender 
Ast,  der  subjektiv-analytische  Lehrgang,  durch  die  ganze  Keihen- 
folge  der  endlichen  Dinge  und  ihre  sich  immer  höher  poten- 
zierenden Lebensformen  bis  zu  dem  höchsten  Punkte  führt,  von 
dem  aus  der  absteigende  Ast,  der  objektiv-synthetische  Lehr- 
gang, die  Konstruktion  des  Universums  aus  dem  Grundprinzip 
entwickeln  soll;  und  den  Kulminationspunkt  dieser  Parabel  bildet 
nicht  wie  bei  Descartes  das"  Selbstbewußtsein,  sondern  etwa  wie 
bei  Malebranche  die  intellektuelle  Anschauung,  vermöge  deren 
wir  nicht  nur  uns  selbst,  sondern  auch  alle  Dinge  in  Gott 
schauen.  In  diesem  Schema  fanden  dann,  stets  in  Krauses 
eigentümliche  Terminologie  gepreßt,  nicht  nur  alle  die  Grund- 
lehren der  deutschen  Philosophie  ihre  entsprechende  Stelle,  son- 
dern es  ergab  sich  auch  eine  universalistische  Entwicklimg  des 
Systems  der  Wissenschaften.  Von  besonderem  Wert  ist  dabei 
die  Betonung,  welche  Krause  auf  die  Geschichtsphilosophie  legt. 
Von  rechtlichem,  sittlichem  und  religiösem  Idealismus  getragen, 
sucht  er  die  notwendigen  Entwicklungsformen  zu  begreifen,  die 
alles  menschliche  wie  das  organische  Leben  im  Individuum  und 
in  der  Gattung  als  parallele  Prozesse  durchzumachen  hat,  und 
sieht  die  Aufgabe  des  Menschengeschlechts  in  der  durch  äußere 
Zusammengehörigkeit  ebenso  wie  durch  innere  Gemeinschaft  sich 
ausprägenden  Vereinigung  der  Geister.  Jede  derartige  Institution 
schildert  er  —  nicht  ohne  der  Analogie  des  Freimaurerbundes 
zu  folgen  —  als  einen  »Bund«^  der  schließlich  in  den  allgemeinen 
Menschheitsbund  aufzugehen  habe.  Aber  seine  Phantasie  führt 
ihn  weiter  und  hofft,  daß  einmal  auch  dieser  sich  als  Erden- 
menschheit dem  allgemeinen   Bunde  der  Menschen  des  Sonnen- 


\)cr  rolij^iöfto  IdcaÜBinui.  HOl 

syatiMna  oififii«;on  \iiul  so  d'w  Tio})ons^'cinoinHcliiift  nii(  allen  ver- 
nünftigen Cci8tern  nnd  mit  der  (Jottheit,  zu  der  wir  bentimmt 
sind,  erreichen  werde. 


§  07.     Der  religiöse   Idealismus. 

Fichte  und  Schleiermacher. 

Mit  dem  Identitätssystem  liat  die  idealistische  Richtung  eine 
Wendung  gewonnen,  welche  sie  über  den  subjektiven  Charakter 
des  Kantischen  und  Ficliteschen  Denkens  weit  hinausführt.  Der 
Konstruktionspunkt  der  dialektischen  Methode  wird  nicht  mehr 
im  Ich,  sondern  im  Absoluten  genommen,  und  die  Entwicklung_ 
des  Unendlichen  in  die  AVeit  der  endlichen  Dinge  wird  dadurch 
zum  wesentHchsten  Probleme  der  Philosophie  gemaclit.  Dies 
Problem  ist  aber  mit  dem  religiösen  identisch,  und  so 
gewann  der  absolute  Idealismus  die  religiöse  Tendenz,  welche 
sich  in  ScheUings  eigenem  Denken,  bei  vielen  seiner  Schüler,  in 
der  Umbildung  seiner  Lehre  durch  Krause  und  besonders  bei 
den  Romantikern  geltend  machte.  Hier  war  es  zuerst  Schleier- 
macher, der  das  bestimmende  Wort  fand,  und  sodann  wiederum 
Friedrich  Schlegel,  der,  wie  er  äußerlich  durch  seinen  Übertritt 
voranging,  so  auch  in  seinen  Vorlesungen  aus  dem  Jahre  1807 
diese  Wandlung  theoretisch  formulierte  und  das  Verhältnis  des 
Unendlichen  zum  Endlichen  für  das  Grundproblem  der  Philo- 
sophie erklärte. 

Eine  merkwürdige  Rückwirkimg  aber  hat  in  dieser  Beziehung 
Fichte  von  der  allgemeinen  Bewegung,  die  er  selbst  hervor- 
gerufen hatte,  in  seiner  späteren  Zeit  erfahren.  Auch  er  wurde 
von  der  Tendenz  des  absoluten  Idealismus  ergriffen,  und  dadurch 
bildete  sich  ihm,  zum  Teil  im  Gegensatz  gegen  Schelling,  die 
Wissenschaftslehre  zu  einem  neuen  System  um,  in  welchem  ihre 
besonderen  Lehren  sich  um  einen  anderen  Gesichtspunkt  grup- 
pieren sollten.  Mit  den  Jahren  milderte  sich  in  ihm  der  sitt- 
liche Rigorismus  und  die  titanenhafte  Unruhe  des  unendlichen 
Strebens.  Der  Einfluß  Schillers  und  teilweise  auch  der  Roman- 
tiker ist  dabei  unverkennbar.  Immer  wertvoller  erscheint  in  der 
Fichteschen  Darstellung  die  Kunst  und  das  ästhetische  Leben, 
immer  mehr  vertieft  er  sich  in  die  Vorstellung,    daß  auf  diesem 


302  Fichte. 

Wege  und  im  Siime  von  Kants  Kritik  der  Urteilskraft  eine  Er- 
füllung der  Aufgaben  gewonnen  werden  könne,  welche  ihm  an- 
fänglich unmöglich  zu  sein  und  dem  ethischen  Begriffe  selbst  zu 
widersprechen  schien.  Schon  in  der  Abhandlung  ȟber  Geist  und 
Buchstab  in  der  Philosophie«,  die  (1794)  seinem  Verkehr  mit 
Schiller  entstammte  und  ursprünglich  für  dessen  Hören  bestimmt 
war,  klangen  diese  Gedanken  an;  dazu  trat  die  immer  mehr  sich 
Jacobi  und  den  Romantikern  nähernde  Überzeugung  von  der 
Eigenexistenz  und  Eigenwertigkeit  der  Individualität,  wie  sie 
namenthch  in  dem  »Sonnenklaren  Bericht  über  das  Wesen  der 
Philosophie«  (1801)  betont  wurde.  In  der  Geschichtsphilosophie, 
die  in  den  »Grundzügen  des  gegenwärtigen  Zeitalters«  (1805) 
vorgetragen  wurde,  erschien  bereits  als  Ziel  der  Entwicklung  das 
Zeitalter  der  »Vernunftkunst«,  in  welchem  der  vernünftige  Zu- 
stand des  Lebens  als  ein  Produkt  der  Freiheit,  als  das  sittliche 
Kunstwerk  des  individuellen  Menschenlebens  mit  seiner  Einstel- 
lung in  den  zweckvollen  Zusammenhang;  des  Ganzen  erzeugt 
werden  soll.  Aber  diese  Erzeugung  setzt  dabei  ein  Urbild  der 
absoluten  Vernunft  voraus,  und  dieser  Begriff  des  »Urbildes«  ist 
es,  an  welchem  man  die  Veränderung  der  Wissenschaftslehre  viel- 
leicht am  einfachsten  sich  klar  machen  kann.  Das  absolute  Ich 
hatte  in  Fichtes  erster  Periode  als  eine  Aufgabe  gegolten,  die 
erfüllt  werden  soll,  aber  niemals  vollkommen  erfüllt  wird,  und 
dieses  selbst  nie  Reale  sollte  dann  als  der  Grund  aller  Realität 
erkannt  werden.  Aber  der  Trieb  des  Ich,  absolutes  Ich  zu 
werden,  blieb  doch  schließlich  unbegreiflich,  wenn  nicht  sein  Ziel 
irgendwie  real  war.  Es  ist  nicht  zu  verstehen,  wie  das  Ich  sich 
eine  Aufgabe  setzen  kann,  deren  Inhalt  weder  in  ihm  noch  außer 
ihm  wirklich  ist.  Aller  Idealismus  des  unendlichen  Strebens  ge- 
winnt erst  dadurch  Sinn  und  Begreiflichkeit,  daß  das  Ziel  des 
Strebens  eine  höchste  Wirklichkeit  ist,  der  es  sich  annähert. 
Parallele  Überlegungen  waren  auf  dem  theoretischen  Felde  durch 
die  Auffassung  des  Wissens  in  der  Identitätsphilosophie  nahe- 
gelegt. Das  absolute  Wissen  erschien  hier  als  Identität  von 
Denken  und  Sein.  Aber  es  mußte  deshalb  auch  unmöglich  er- 
scheinen, solange  man  wie  Fichte  leugnete,  daß  es  ein  absolutes 
Sein  gebe.  Wenn  Jacobi  bei  seiner  Bekämpfung  des  Idealismus 
sich    in   seiner    [wpulären    Sprache   so   ausdrückte,    die  Wahrheit 


VeräiulertcB  Sy»lfm.  'M)'.i 

des  Wissens  setze  die  »Koalitiit  einer  absoluten  Wahrheit«  vor- 
aus, so  folgte  Fichte  jetzt  demselben  (ledankenzu^^e  und  trat 
damit  in  eine  von  beiden  Seiten  empfundene  Verwandtschaft  n)it 
Jacobi.  Der  Begriff  des  absoluten  Wissens,  von  dein  die  Wisscn- 
schaftslehre  ausgeht,  wird  nun  dahin  definiert,  es  sei  das  abso- 
lute Bild  des  absoluten  Seins.  In  diesem  Begriffe  des  absoluten 
Seins  findet  Fichte  jetzt  den  höchsten  l*unkt  seines  Philoso- 
phierens  und  denjenigen,  welcher  noch  über  dem  früheren  Be- 
griffe des  absoluten  Tui)^^  liegt.  Das  ist  die  entscheidende  Ver- 
änderung seiner  Lehre.  Ebenso  wie  Kant  die  Auflösung  des 
ganzen  Weltinhaltes  im  Vorstellungsprozesse,  die  als  Tendenz  in 
seiner  Erkenntnistheorie  angelegt  war,  nicht  durchfijhrte,  sondern 
mit  dem  Begriffe  des"^ Dinges  an  sich  zu  der  Annahme  einer  ab- 
soluten Wirklichkeit  und  damit  zu  den  Voraussetzungen  des 
naiven  Realismus  zurückkehrte,  ebensowenig  blieb  Fichte  auf  der 
Höhe  der  ursprünglichen  Abstraktion  stehen,  die  alle  Realität  in 
Funktionen  auflöste,  sondern  kehrte  nun  zu  der  Ansicht  des  ge- 
meinen Bewußtseins  zurück,  welche  das  Tun  an  ein  ursprüng- 
liches und  absolutes  Sein  anheftet.  Inwieweit  dabei  die  Selbst- 
kritik mitwirkte,  welche  ihm  durch  die  schweren  Folgen  seines 
Atheismusstreites  aufgenötigt  war,  inwieweit  ferner  der  Einfluß 
des  ästhetischen  Bewußtseins  dabei  maßgebend  wurde,  wonach 
das  unendliche  Werden  und  Tun  der  sinnlichen  Erscheinung  nur 
das  Bild  einer  bleibenden  ideellen  Wirklichkeit  sein  sollte,  in- 
wieweit die  parallelen  und  doch  im  einzelnen  anders  gefärbten 
Gedankenentwicklungen  von  Schellings  Identitätssystem  den  Wider- 
spruch Fichtes  reizten  und  gerade  dadurch  auch  positiv  be- 
stimmten, inwieweit  endlich  die  erneute  Beschäftigung  mit  Spinoza 
die  formelle  Ausführung  dieser  Gedanken  begünstigte  und  be- 
dingte, —  das  kann  hier  nicht  im  besonderen  ausgeführt  werden. 
Aber  alle  diese  Momente  wirkten  zusammen,  um  aus  der 
»Philosophie  des  Tuns«  wieder  eine  »Philosophie  des  Seins«  zu 
machen.  Auch  Fichte  gravitierte  von  Kant  zu  Spinoza  zurück 
und  trat  mit  seiner  zweiten  Lehre  in  die  Bewegung  des  Neo- 
spinozismus  ein. 

Der  ewige  Trieb  des  »reinen«,  »allgemeinen«  Ich,  auf  dem 
sich  erst  das  empirische  und  individuelle  Ich  aufbaut,  muß 
im  Wissen   wie   im   Handeln    ein   Ziel    vor    sich    haben.     Dieses 


304  Fichte. 

Ziel  wurde  früher  im  nie  vollendeten  Werden  als  das  »abso- 
lute« Ich  gedacht,  jetzt  ist  es  für  Fichte  das  absolute 
Sein  oder  die  Gottheit.  Dieses  erzeugt  in  ewiger  Ruhe 
in    sich   sein    Abbild,    das    absolute    Wissen,    welches    nun    die 


Stelle  des  reinen  theoretischen  Ich  einnimmt,  und  dieses  Bild 
sucht  sich  ewig  zu  verwirklichen  in  einem  unendlichen  Stre- 
ben.  das  mit  dem  reinen  praktischen  Ich  zusammenfällt.  In 
der  Konstruktion  dieser  Grundbegriffe  folgt  Fichte  unverkennbar 
der  ümdeutung  der  Trinitätslehre,  die  Lessing  analog  den  alten 
Mystikern  in  der  »Erziehung  des  Menschengeschlechts«  aufge- 
stellt hatte.  Eine  solche  Deutung  ist  aber  bei  Fichte  haupt- 
sächlich in  der  Hinsicht  wichtig,  daß  nun  das  »Bild«  oder  das 
absolute  Anschauen  und  Wissen  sowohl  der  metaphysischen 
Existenz  als  auch  dem  Werte  nach  als  das  Primäre  dem  Han- 
deln gegenüber  erscheint.  Der  Primat  der  praktischen  Vernunft 
hat  wieder  aufgehört.  Wie  bei  Schelling  die^Ideen  der  göttlichen 
Selbstanschauung^  als  die  Urbilder  für  die' Potenzen  der  empi- 
rischen Wirklichkeit  gelten,  so  ist  es  auch  bei  Fichte  das  Abbild 
der  Gottheit,  welches  das  Ziel  aller  Tätigkeit  des  Ich  bilden  soll. 
Nicht  mehr  das  »Tun  um  des  Tuns  willen«,  sondern  die  Reali- 
sierung des  göttlichen  Urbildes  ist  der  höchste  Zweck  des  Lebens, 
ist  der  Inhalt  des  »Reichs«,  dessen  Gestaltung  die  höchste  und 
letzte  Aufgabe  der  menschlichen  Geschichte  bildet.  Das  Tun  ist 
kein  Selbstzweck  mehr,  sondern  es  hat  seinen  Zweck  und  sein 
Maß  in  einem  Ziele,  das  dadurch  erreicht  werden  soll,  und  dies 
besteht  darin,  daß  das  Ich  sich  mit  dem  absoluten  Sein,  mit  der 
Gottheit  eins  weiß  und  in  dieser  Anschauung  das  selige  Leben 
führt.  Der  Zweck  des  Tuns  also  ist  jetzt  die  Ruhe  des  religiösen 
Bewußtseins,  worin  das  Ich  sich  mit  dem  göttlichen  Abbild 
identifiziert.  Darin  besteht  die  Seligkeit  des  Individuums:  das 
Tun  um  des  Tuns  willen  führte  ssine  ewige  Unbefriedigtheit  mit 
sich;  das  Tun  um  der  Gottesanschauung  willen  kann  sein  Ziel 
erreichen,  wenn  die  Gottheit  nicht  mehr  als  die  ewig  werdende 
sittliche  Weltordnung,  sondern  als  das  absolute,  bleibende  und 
ruhende  Sein  gedacht  wird.  So  hat  in  der  Kontemplation  der 
weit  verbessernde  Tatendrang  des  kategorischen  Imperativs  sein 
Ende  gefunden.  Gott  zu  schauen  und  sich  als  sein  Abbild  zu 
wissen,  ist  der  wertvolle  Zweck,  zu  welchem  alles  sittliche  Leben 


Sühleionnachor.  305 

liiiiführcMi  snil.  Der  yiUlichc  Trid)  fiiuL't  sein  Kiido,  wenn  er 
das  Ziel  doH  roli^iösen  ZuHtandcs  circicht  hat.  D<'r  cthiKchn  Idea- 
lismus hat  sich  in  den  roliL^iosen  verwandelt,  und  die  Wisöcnschaftw- 
lehrc  wird  eine   »Anweisuni^^  zum  "seligen  Leben«. 

Wenn  so  das  Fichtesche  Denken  damit  ;^eendet  hat,  daß  die 
ewige  Unruhe  des  sittlichen  Triebes  in  der  Selii^keit  des  religiösen 
Bewußtseins  untergeht,  so  haben  dabei  zweifellos  auch  die  Ein- 
flüsse eines  Mannes  mitgewirkt,  mit  dem  Fichte  durch  die  Ver- 
mittlung der  Romantiker  in  Berlin  in  nahe  persönliche  Berührung 
kam,  und  welcher  innerhalb  der  idealistischen  Denkbewegung  der 
vollkommenste  Vertreter  des  religiösen  Prinzips  ist.  Diese  nach 
allen  Seiten  hoch  bedeutsame  Persönlichkeit  ist  Friedrich  jc/ilt^LeA 
Schleier  mache  r.  Er  war  1768  als  Sohn  eines  reformierten  yy^A^^A^ 
Predigers  in  Breslau  «geboren  und  wurde   unter  dem  Einfluß  der     j^/q. 


Überzeugungen  der  Herrnhuter  Gemeinde,  von  der  er  sich  später 
trennte,  zuerst  auf  dem  Pädagogium  zu  Niesky  und  dann  auf 
dem  Seminar  zu  Barby  für  das  theologische  Studium  vorbereitet, 
das  er  1787  in  Halle  begann,  und  nach  dessen  Vollendung  er 
einige  Jahre  Hauslehrer  wurde.  Nachdem  er  sodann  zwei  Jahre 
lang  Hilfsprediger  in  Landsberg  an  der  Warthe  gewesen  war, 
ging  er  1796  als  Prediger  an  die  Charite  nach  Berlin.  Die  sechs 
Jahre,  die  er  in  dieser  Stellung  zubrachte,  sind  für  seine  Ent- 
wicklung die  wichtigsten  geworden.  In  der  Anknüpfung  zahl- 
reicher, feiner  persönlicher  Beziehungen  entfaltete  sich  die  Reich- 
haltigkeit seiner  mehr  imd  mehr  in  sich  ausreifenden  Persönlich- 
keit, und  von  besonderer  Wichtigkeit  war  dabei  seine  Stellung  zu 
den  Romantikern,  hauptsächlich  seine  Freundschaft  mit  Friedrich 
Schlegel,  der  um  diese  Zeit  wie  sein  Bruder  August  Wilhelm 
einige  Jahre  in  Berlin  zubrachte. 

Nur  in  sehr  bedingter  Weise  freiHch  ist  Schleiermacher  dem 
romantischen  Kreise  beizugesellen;  er  hatte  dazu  auch  in  dieser 
Zeit  eine  freiere  und  selbständigere  Stellung,  in  der  er  ebensoviel 
gab  wie  empfing.  Während  damals  ScheUing  auf  dem  Punkte 
stand,  ganz  in  den  Naturalismus  zu  verfallen,  dem  er  in  dem 
»Epikurisch  Glaubensbekenntnis  Heinz  Widerporstens«  einen  so 
großartig  poetischen  und  teilweise  so  übermütigen  Ausdruck  gab, 
betonte  Schleiermacher  von  der  anderen  Seite  in  seinen  »Reden 
über   die   Religion    an    die   Gebildeten   unter   ihren   Verächtern« 

Windelband,  Gesch.  d.  n.  Philos.    U.  20 


-/i/ 


i 


306  Schlciermacher. 

(1799)  und  in  den  »Monologen«,  der  Neujahrsgabe  von  1800, 
daß  die  allseitige  und  harmonische  »Bildung«,  welche  die  Roman- 
tiker anstrebten,  sich  nur  im  religiösen  Leben  vollenden  könne. 
Jene  innere  Einheit  aller  Lebenstätigkeiten,  welche  die  Romantik 
anstrebte,  war  nach  Schleiermachers  Überzeugung  nur  in  einem 
religiösen  Prinzip  zu  finden:  damit  warf  er  das  entscheidende 
Ferment  in  die  Gärung  der  romantischen  Ideen  hinein.  Freilich 
war  der  Erfolg  anders  als  er  gewollt:  da  die  Romantiker  die 
religiöse  Einheit  alles  Kulturlebens  nicht  neu  zu  schaffen  ver- 
mochten, so  suchten  sie,  ihrem  historischen  Wesen  getreu,  das 
Ideal  in  der  Vergangenheit  und  ideahsierten  in  diesem  Sinne  das 
Mittelalter,  ähnlich  wie  es  Schiller  im  ästhetischen  Interesse  mit 
dem  Griechentum  getan  hatte.  Novalis  sprach  diese  Wendung 
zuerst  in  dem  damals  auf  Goethes  klugen  Rat  nicht  gedruckten 
Aufsatz  »Europa  oder  die  Christenheit«  aus,  und  Friedrich 
Schlegel  zog  mit  seinem  Übertritt  die  praktische  Folgerung.  Auf 
dieic  Weise  geriet  die  deutsche  Romantik  aus  theoretischen 
Bildungsmotiven  auf  dieselben  rückläufigen  Bahnen,  welche  die 
französische  Romantik  von  vornherein  aus  praktisch -pohtischen 
Gründen  eingeschlagen  hatte. 

Diesen  Folgen  seiner  Mahnung  stand  niemand  ferner  als 
Schleiermacher  selbst.  Seine  eigene  religiöse  Überzeugung  war 
um  diese  Zeit  durchweg  außerkonfessionell,  sie  war  individualistischer 
und  mystischer  Art.  In  ihren  theoretischen  Formen  lehnte  sie 
sich  an  Spinoza,  in  ihrem  religiösen  Gehalte  knüpfte  sie  an  das 
Leben  der  Brüdergemeine  und  damit  an  ältere  Traditionen  der 
deutschen  Mystik  an.  Durch  das  Jahrhundert  der  Aufklärung 
hindurch  hören  wir  als  feine  Obertöne  und  Untertöne  die  leisen 
Nachklänge  der  Mystik  zittern:  sie  sind  überall  da  vernehmlich, 
wo  die  Geister  weder  durch  das  konfessionelle  Christentum  noch 
durch  den  Deismus  befriedigt  sind.  So  zeigt  es  sich  bei  den  zahl- 
reichen Sekten,  so  anfänglich  bei  dem  Pietismus,  der  die  Einflüsse 
der  praktischen  Mystik  sehr  stark  erkennen  läßt,  so  in  ver f einer tster 
Form  in  der  Brüdergemeine,  welche  die  reine  Innerlichkeit  des 
christlichen  Glaubens  um  so  lebhafter  betonte,  je  mehr  der 
Pietismus  wieder  ein  orthodox  konfessionelles  Gepräge  angenommen 
hatte.    Durch  Schleiermacher  wurden  nun  diese  bis  in  die  frühesten 


Lrl.cu  mi-l   Wirkrn.  HO? 

Zeiten  dcv  (leutschon  Spekulation  zuriickreichcn-len  Fiiden  des 
mystischen  Lebens  in  die  Entwicklung  der  naclikantischcn  Philo- 
sophie hineingesponnen. 

Mit  diesen  Überzeugungen  aber  befand  er  sich  auch  zu  der 
protestantischen  Kirche  in  solchem  Gegensatze,  daß  er  von  der 
vorgesetzten  Behörde  im  Jahre  1802  als  ITofprediger  nach  Stolpe 
gemaßregelt  wurde.  Aus  dieser  Verbannung  erlöste  ihn  nach 
zwei  Jahren  eine  Berufung  als  außerordentlicher  Professor  der 
Philosophie  und  Theologie  nach  Halle.  Als  dann  die  Universität 
Halle  bei  dem  Zusammensturz  der  preußischen  Monarchie  ge- 
schlossen wurde,  ging  er  nach  Berlin  und  fand  erst  1809  eine 
Anstellung  als  Prediger,  in  der  er  mit  mächtigem  Erfolg  bis  an 
sein  Lebensende  wirkte.  Schon  im  folgenden  Jahre  wurde  er  zu- 
gleich als  Professor  der  Philosophie  an  die  z.  T.  nach  seinem  Ent- 
wurf aeu[ründete  Universität  Berlin  berufen  und  bildete  in  der 
akademischen  Wirksamkeit  bis  zu  seinem  Tode  1834  jene  große 
theologische  Schule,  die  sich  nach  ihm  nennt.  Er  ist  neben  Schelling 
und  Hegel  der  ebenbürtige  Vertreter  der  universalistischen  Bildung, 
die  damals  der  philosophischen  Arbeit  zugrunde  gelegt  wurde. 
Der  größte  Theologe  des  Jahrhunderts,  der  erfolgreiche  Förderer 
der  protestantischen  Union,  war  er  zugleich  ein  hervorragender 
Philologe  und  hat  dies  auch  hinsichtlich  der  Philosophie  durch 
zahlreiche  Arbeiten  über  die  Geschichte  der  gTiechischen  Philo- 
sophie und  durch  seine  meisterhafte  Übersetzung  Piatons  betätigt. 
Er  nimmt  aber  auch  in  der  Entwicklung  der  Philosophie  eine 
höchst  wertvolle  und  interessante  Stelle  ein.  Von  Kant,  Fichte 
imd  Schelling  gleichmäßig  angeregt,  hat  er  die  Prinzipien  der 
deutschen  Philosophie  in  eine  originelle  Verschiebung  gebracht, 
durch  welche  er  von  der  philosophischen  Seite  her  seine  persön- 
liche Überzeugung  als  religiösen  Idealismus  begründete. 

Die  theoretischen  Grundlagen  seiner  Lehre  sind  wesentlich  in 
der  » Dialektik «  niedergelegt ,  die  nach  seinen  Vorlesungen  von 
Jonas  herausgegeben  worden  ist  und  sich  in  der  dritten,  philo- 
sophischen Abteilung  seiner  gesammelten  Werke  (Berlin  1835 — 1864) 
findet.  Auch  er  nimmt  darin  seinen  Ausgangspunkt  vom  Wissen ; 
aber  nicht  wie  Kant  von  der  Tatsache,  sondern  wie  Fichte  von 
dem  Ideal  des  Wissens,  und  er  faßt  dieses  mit  Schelling  als  die 

20* 


308  Schleierraacher. 

absolute  Identität  von  Denken  und  Sein,  welche  deshalb  formell 
dem  Kantischen  Begriff  der  Apriorität  entspricht^  d.  h.^  notwendig 
und  allgemein  gilt?  Aber  dies  absolute  Wissen  ist  im  empirischen 
Bewußtsein  des  Menschen  nirgends  vorhanden;  es  ist  nur  die 
ewige  Idee  des  Wissens,  die  nach  Fichteschem  Prinzip  in  unend- 
licher, nie  sich  vollendender  Verwirklichung  begriffen  ist.  Deshalb 
ist  die  Philosophie  nicht  Wissenschaft,  sondern  Wissenschaftslehre; 
sie  ist  eine  Kunstlehre  des  Denkens,  welche  zeigt,  wie  sich  das 
Denken  als  Erkennen  seinem  Ideale  annähern  soll ;  sie  ist  in 
die-sem  Sinne  Dialektik  und  entsteht  nach  sokratisch-platonischem 
Prinzip  durch  das  gemeinsame  Untersuchen,  worin  wir  uns  der 
Notwendigkeit  und  Allgemeingültigkeit  des  Denkens  bewußt  werden. 
yean  aber  die  Apriorität  nach  dem  Schellingschen  Prinzip  als 
Identität  von  Denken  und  Sein  aufgefaßt  wird,  so  gestaltet  sich 
die  Kunstlehre  des  Denkens,  die  man  sonst,  Xogik  genannt  hat, 
von  selbst  auch  zu  einer  Erkenntnis  der  Realität.  Wie  Kants 
transzendentale  Logik,  so  ist  Schleiermachers  Dialektik  zugleich 
Logik  und  Metaphysik.  Allein  der  Standpunkt  der  Identität,  den 
er  mit  Schelling  einnimmt,  hebt  dabei  innerhalb  gewisser,  sogleich 
näher  zu  bestimmender  Grenzen  die  Kantische  Restriktion  auf, 
wonach  es  nur  eine  Metaphysik  der  Erscheinungen  war,  mit  der 
die  transzendentale  Logik  identisch  sein  sollte. 

Alles  Wissen  setzt  also  Denken  und  Sein  oder  den  Gegensatz 
des  Idealen  und  Realen  voraus,  wie  ihn  Schellinj^  definiert  hat. 
Es  enthält  infolgedessen  von  beiden  etwas,  einen  idealen  und 
einen  realen  Faktor.  In  dem  menschlichen  Wissen  zeigen  sich 
diese  beiden  Faktoren  als  die  intellektuelle  imd  die  organische 
Funktion,  die  stets  aufeinander  bezogen  und  nie  voneinander  ge- 
trennt sind.  Die  intellektuelle  Funktion,  für  sich  betrachtet, 
nennen  wir  Denken,  die  organische,  für  sich  betrachtet.  Wahr- 
nehmen; aber  keine  ist  ohne  die  andere,  es  gibt  weder  reines 
Denken  noch  bloßes  Wahrnehmen;  das  eine  würde,  mit  Kant  zu 
sprechen,  leere  Begriffe,  das  andere  bhnde  Anschauungen  geben. 
Denken  und  Wahrnehmen  verknüpfen  sich  in  der  Anschauung, 
und  wenn  sie  bei  dieser  Verknüpfung  in  vollem  Gleichgewicht 
stehen,  so  ist  diese  Anschauung  die  ästhetische.  Auch  Schleier- 
machers Ästhetik  (von  Lommatsch  herausgegeben)  weist  auf 
Schillers  Lehre   vom  Spieltrieb  und  die  ersten  Theorien  der  Ro- 


Dialektik.  30!l 

iimntikor  zurück,  iiulrin  das  (ik'ichgcwicht  der  Binnliclien  uihI 
der  geiatiijjen  Natur  dc^  Mcusohcii  für  hIo  den  Kiclitbc;^riff  bildet. 
In  dem  wirklichen  Wis.scn  aber  scheiden  sich  die  beiden  Fakton^n 
so,  daß  der  eine  (xler  der  andere  teils  im  Objekt,  teils  in  der 
subjektiven  I^ehandlung  überwiest.  Daraus  erj^ibt  sich  eine  Vier- 
teilung der  besonderen  Wissenschaften.  Das  Wissen  vom  realen 
Faktor  ist  die  Physik,  dasjenige  vom  idealen  Faktor  die  Ethik. 
Von  beiden  aber  gibt  es  eine  wahrnehmende  und  eine  denkende, 
eine  empirische  und  eine  theoretische  Wissenschaft.  So  teilt  sich 
die  Physik  in  Naturgeschichte  und  Naturwissenschaft,  die  Ethik 
in  Geschichte  und  Ethik  in  engerem  Sinne.  Die  beiden  Haupt- 
zweige der  Wissenschaft  aber  müssen  nach  dem  Prinzip  der  Iden- 
tität zuletzt  auf  dasselbe  hinauslaufen.  Die  Erkenntnis  des  Phy- 
sischen vollendet  sich  darin,  daß,  wie  die  Naturphilosophie  gezeigt 
hat,  alles  physische  Dasein  sich  fortwährend  in  Intelligenz  um- 
setzt; die  Erkenntnis  des  Ethischen  begreift  das  Handeln  in 
seiner  steten  Beziehung  auf  das  Physische  und  sucht  dessen  höchste 
Aufgabe  in  der  vollkommenen  Durchdringung  und  Beherrschung 
der  Natur.  Das  letzte  Ziel  aller  ethischen  und  physischen  Er- 
kenntnis liegt  in  der  Ausführung  des  Spinozistischen  Grundsatzes: 
ordo  rerum  idem  est  atque  ordo  idearum.  Aber  innerhalb  der 
endlichen  Dinge,  innerhalb  der'iVIodi  der  unendlichen  Substanz,^ 
wie  Spinoza,  oder  der"  Potenzen  der  göttlichen  Offenbarung,  wie 
Schelling  gesagt  hat,  ist  diese  Erkenntnis  nie  vollständig;  immer 
überwiegt  der  eine  oder  der  andere  Faktor,  und  Physik  und 
Ethik  befinden  sich  deshalb  nur  in  stetiger,  unendlicher  An- 
näherung aneinander.  Das  Wissen  kommt  nie  zu  Ende;  es  ist 
nur  als  Wissenstrieb ,  als  Denken.  Das  wirkliche  Wissen  des 
Menschen  also  steht  für  Schleiermacher  imter  dem  Fichteschen 
Begriffe  des  unendlichen  Strebens.  Aber  es  ist  nur  zu  verstehen 
unter  der  Voraussetzmig ,  daß  es  eine  absolute  Identität  von 
Denken  und  Sein  wirklich  gibt,  unter  der  Voraussetzung  des 
Identitätssystems  und  derjenigen  Spinozas.  Gott  als  die  Identität 
des  Denkens  und  des  Seins,  des  Idealen  und  des  Kealen  ist  das 
unerreichbare  Ziel,  auf  welches  alle  wissenschaftliche  Erkenntnis 
hinstrebt;  aber  dies  Streben  ist  nur  zu  begreifen,  wenn  sein  Ziel, 
die  absolute  Wahrheit,  wenn  die  Identität  von  Denken  und  Sein 
wirklich  ist.  Der  Glaube  an  Gott  ist  die  Voraussetzung  aller  Erkenntnis. 


310  Scbleiermacher. 

Das  ist  eine  viel  durchsichtigere  Darstellung  als  die  schwer- 
fcälligen  Formeln  der  AVissenschaf tslehre ,  in  welche  der  spätere 
Fichte  denselben  Grundgedanken  preßte:  sie  trägt  zugleich  die 
klaren  Züge  der  Kantischen  Erkenntnistheorie  und  ist  die  voll- 
kommenste unter  den  positiven  Synthesen,  welche  der  Kritizismus 
mit  dem  Spinozismus  gefunden  hat.  Der  Gedanke,  der  Kants 
Ideenlehre  zugrunde  lag,  daß  der  Trieb  des  Erkennens  auf  einem 
durch  dieses  selbst  nie  erreichbaren  Ideal  beruhe,  wird  von  Schleier- 
macher mit  den  Besiriffen  der  Fichteschen  und  Schellinojschen 
Lehre  durchgeführt.  Aber  zu  dem  »Ideal  der  reinen  Vernunft« 
verhält  er  sich  ganz  anders  als  Kant:  er  verzichtet  zwar  wie 
dieser  auf  dessen  wissenschaftliche  Erkenntnis;  wenn  er  jedoch 
trotzdem  eine  bestimmte  Vorstellung  von  der  Gottheit  hat,  so 
gründet  er  sie  nicht  wie  Kant  auf  eine  moralische  Überzeugung, 
sondern  auf  ein  Gefühl,  dessen  Vorstellungsinhalt  sich  mit  dem 
Spinozistischen  Gottesbegriffe,  wie  dieser  von  den  deutschen 
Denkern  aufgefaßt  wurde,  vollkommen  deckt.  Darin  besteht  die 
eigentümliche  und  originelle  Stellung,  die  Schleiermacher  in  der 
Keligionsphilo Sophie  einnimmt.  Er  ist  nicht  Offenbarungs- 
theologe; denn  von  einer  offenbarenden  Tätigkeit  der  Gottheit 
können  wir  ebensowenig  etwas  wissen  wie  von  seinem  Wesen. 
Er  ist  ein  Gegner  des  Rationalismus;  denn  die  Gottheit  ist  un- 
erkennbar. Er  bestreitet  aber  auch  die  Kantische  Moraltheologie, 
die  das  religiöse  Leben  zum  Vehikel  des  moralischen  macht.  Er 
will  die  Religion  ebenso  sehr  von  der  Moralität  wie  von  der  Er- 
kenntnis frei  machen.  Seine  Religionsphilosophie  gründet  sich 
nicht  auf  die  theoretische,  nicht  auf  die  praktische,  sondern  auf 
die  ästhetische  Vernunft.  Da  Gott  nicht  gewußt  werden  kann, 
so  ist  die  ReligionsphilosojDhie  nicht  eine  Lehre  von  Gott,  sondern 
eine  Lehre  von  dem  religiösen  Gefühle.  Sie  ist  der  Versuch,  das- 
jenige zum  klaren  Bewußtsein  zu  bringen,  was  in  dem  religiösen 
Gefühl  als  Voraussetzung  enthalten  ist,  —  den  Inhalt  des  sub- 
jektiven Gefühls  sich  objektiv  zu  machen.  Das  Wesen  des  reli- 
giösen Grundgefühls  sieht  nun  Schleiermacher  darin,  daß  wir  uns 
von  einem  absoluten  Weltgrunde,  den  wir  nicht  erkennen  und 
mit  Rücksicht  auf  den  wir  deshalb  auch  unser  Handeln  nicht 
einzurichten  vermögen,  in  unserer  gesamten  Lebensbetätigung  ab- 
hängig   fühlen.     Er  definiert  es  deshalb   als  das   »fromme«    oder 


UolififionHphiloNO]»hio.  }]]] 

das  »schlochthini'^o  Ablu'iii^i;^'keits^rofiilil«,  und  es  kann  sic^h 
nur  auf  jciUMi  absoluten  Wclti^rund,  auf  jene  absolute  Identität 
von  Denken  und  Sein,  von  KealeMi  und  Idealem,  die  Indifferenz 
aller  Ge«j;ensätze  richten.  SchleierniTieher  bestreitet  darum  in  echt 
mystischer  Weise  die  Möglichkeit,  ir<^'endwelche  besonderen  Eigen- 
schaften der  Gottheit  auch  nur  im  Gefühle  zu  behaupten,  und 
ist  in  der  Philosophie  seiner  jungen  Jahre  vollkommen  klar 
darüber,  das  Objekt  des  Abhängigkeitsgefühls  nicht  als  Persön- 
liclikeit^zu  denken.  Erscheint  so  sein  religiöses  Gefüld  durch  die 
gesamte  Tradition  der  Mystik,  besonders  aber  durch  den  Gottes- 
begriff des  von  ihm  gefeierten  Spinoza  bestimmt,  so  ist  doch  ander- 
seits zu  bedenken,  daß  dieser  Begriff  von  ihm  wie  von  dem  ganzen 
deutsclien  Neospinozismus  nicht  sowohl  historisch  korrekt  als  die 
abstrakte  Substanz  der  endlichen  Modi,  sondern  vielmehr  als  der 
Urquell  des  Lebens,  als  die  lebendig  schaffende  Weltkraft  auf- 
gefaßt wird. 

Es  ist  der  Yi^alißtische  Pantheismus,  in  den  Herder,  Goethe 
und  Schelling  die  Lehre  Spinozas  umgedeutet  hatten,  der  auch 
bei  Schleiermacher  den  Inhalt  des  religiösen  Gefühls  bildet.  Nach- 
dem er  so  den  Versuch  durchgeführt  hat,  das  fromme  Gefühl  ob- 
jektiv zu  fassen,  kann  er  von  diesem  Standpunkt  aus  eine  kritische 
Behandlung  der  positiven  Religionen  geben,  bei  welcher  das  Christen- 
tum als  die  reinste  und  vollkommenste  Form  erscheint,  in  der 
sich  jenes  Abhängigkeitsgefühl  ausgeprägt  hat.  Aber  die  ganze 
Auffassung  des  Wesens  der  Religion  wird  durch  diese  Begründung 
eine  neue.  Alle  dogmatischen  Lehren,  die  supranaturalistischen  /; 
gerade  so  gut  wie  die  rationalistischen,  gründen  die  Religion  auf 
eine  Erkenntnis  und  suchen  ihr  Wesen  in  einem  theoretischen 
Fürwahrhalten.  Die  Moraltheologie,  wie  sie  nach  Voltaires  und 
Lessings  Vorgange  Kant  aufgestellt  hat,  gründet  die  Religion  auf 
eine  ethische  Überzeugung  und  sucht  ihr  Wesen  in  der  sittlichen 
Gesinnung  und  Handlung,  die  sie  hervorzurufen  bestimmt  ist. 
Schleiermachers  Gefühlsreligion  —  von  der  nur  gleichnamigen  ^) 
Jacobis  weit  verschieden  —  sieht  in  der  Religion,  um  sie  ganz 
selbständig  zu  machen,  einen  rein  innerlichen  Zustand  des  Grefühls; 
sie  ist  ihm  ein  Durchdrungensein  des  ganzen  Menschen  von  dem 
Gefühle  seiner  Abhängigkeit  dem  Universum  gegenüber.  Dies 
Gefühl    bedarf    keiner    äußerlichen    Gestaltung,     weder    in    der 


312  Schleiermacher. 

Formulierung  einer  Ansicht  noch  in  der  Erzeugung  irgendwelcher 
Handlung.  Es  ist  ein_ Zustand,  vermöge  dessen  der  Mensch  die 
Harmonie  seines  ganzen  Wesens  im  Zusammenhange  mit  dem  Welt- 
leben genießt.  Es  soll  das  gesamte  Leben  des  Menschen  durch- 
leuchten, aber  es  bedarf  keiner  eigenen  und  besonderen  Funktion, 
in  der  es  sich  nach  außen  absichtsvoll  zu  erkennen  gäbe.  Das 
»fromme  Gefühl«  ist  deshalb  durch  und  durch  persönHch  und 
individuell.  Indem  das  Individuum  sein  eigenes  Wesen  in  der 
Tiefe  erfaßt,  fühlt  es  sich  eben  darin  von  dem  Urgründe  aller 
Dinge  und  dem  Gesamtleben  des  Universums  abhängig.  In  dieser 
Hinsicht  ist  Schleiermachers  Religionsphilosophie  eine  der  inter- 
essantesten und  bedeutendsten  Synthesen  der  individualistischen 
und  der  universalistischen  Tendenz,  welche  sich  durch  das  moderne 
Denken  antagonistisch  hindurchziehen.  Der  Gegenstand  des  Ab- 
hängigkeitsgefühls ist  die  absolute  Welteinheit,  in  der  alle  Be- 
stimmtheit untergegangen  ist:  der  Ursprung  dieses  Abhängigkeits- 
gefühls liegt  in  dem  voll  entwickelten  Individuum.  Die  harmo- 
nische Ausbildung  der  Persönlichkeit  vollendet  sich  darin,  daß  es 
sich  in  der  ganzen  Ausdehnung  seines  Wesens  von  dem  göttlichen 
Urgründe  abhängig  fühlt.  Das  fromme  Gefühl  ist  für  Schleier- 
macher der  Schlußstein  in  der  harmonischen  »  Bildung «  des  In- 
dividuums, und  seine  Lehre  bezeichnet  deshalb  den  Punkt,  an 
welchem  das  Bildungsideal  der  Romantiker  sich  als  religiös  be- 
greift. Darum  aber  ist  für  ihn  das  religiöse  Leben  ein  durchaus 
individualistisches,  es  ist  nicht  auf  Satzungen  einer  Konfession 
oder  einer  Vernunfterkenntnis  zu  beschränken,  und  aller  Fort- 
schritt des  religiösen  Lebens  der  Menschheit  geschieht  nur  durch 
bedeutende  Persönlichkeiten,  welche  dem  Abhängigkeitsgefühl  eine 
neue  Gestalt  geben  und  diese  in  ihrer  Umgebimg  erwecken.  Jede 
positive  Religion  ist  durch  die  Persönlichkeit  ihres  Stifters  bedingt, 
und  in  diesem  Sinne  führt  Schleiermacher  das  Christentum  auf 
die  sündlose  Persönlichkeit  Jesu  zurück.  Die  feinere  Beziehung 
zu  der  romantischen  Lehre,  die  sich  bei  Schleiermacher  überall 
durchfühlen  läßt,  zeigt  sich  auch  darin,  daß  es  das  religiöse 
Genie  *)  ist,  worauf  er  die  Epochen  der  Religionsueschichte  gründet, 

*)  Der  IJegritF  des  religiöseü'^Genies^'ist  später  von  Schleiermachers  be- 
deutendstem Schüler  Alexander  Schweizer  am  eingehendsten  und 
glänzendsten  entwickelt  worden. 


Kthik,  313 

und  die  religiöse  Clonialitiit  besteht  in  einer  originellen  AushihJung 
des  Abhängigkeitsgefühls.  Die  wahre  .liingersehaft  dem  Kcligions- 
stifter  gegenüber  ist  die  kongeniale  Versenkung  in  das  fromme 
Gefühl,  in  welchem  er  zuerst  gelebt  hat.  Die  Parallele  zum  Kunst- 
genuß ist  unverkennbar,  und  es  zeigt  sich,  daß  der  religiöse 
Idealismus  seine  Wurzeln  in  dem  ästhetischen  Zuge  des  deutschen 
Denkens  hatte.  Allein  diese  reine  Verinnerlichung,  die  Schleier- 
macher mit  dem  Begriffe  der  Religion  vollzog,  um  alles  Äußer- 
liche von  ihr  abzutun,  hatte  notwendig  eine  gewisse  Unfähigkeit 
zur  Folge,  mit  der  realen  Organisation  des  religiösen  Lebens 
Fühlung  zu  gewinnen,  und  erst  in  seinen  späteren  Jahren  hat 
Schleiermacher  durch  mancherlei  Konzessionen  und  Wendungen, 
die  von  seinem  philosophischen  Standpunkt  aus  als  Inkonsequenzen 
erscheinen  müssen,  dieser  Aufgabe  Genüge  tun  können. 

Mit  der  religionsphilosophischen  geht  die  ethische  Bedeutung 
Schleiermachers  Hand  in  Hand.  Auch  hier  betont  er,  namentlich 
während  der  ersten  Zeit,  in  vollkommenster  Weise  die  Idee  der 
Persönlichkeit  und  spricht  damit  auf  viel  reiferem  Standpunkt 
als  Shaftesbury  das  Geheimnis  seiner  Zeit  aus,  in  der  die  großen 
und  originellen  Individuen  sich  gewissermaßen  drängen.  Gerade 
diese  Jahrzehnte  zeigen  auf  allen  Gebieten  eine  Fülle  bedeutender 
Persönlichkeiten,  von  denen  jede  den  großen  Reichtum  der  ge- 
meinsamen Bildung  in  seiner  selbständigen  Weise  für  sich  aus- 
gestaltete. Von  dieser  Feinheit  der  persönlichen  Kristallisation 
eines  gewaltigen  Bildungsstoffes,  von  dieser  Filigranarbeit  eines 
reichen  inneren  Lebens,  von  diesem  Herausarbeiten  der  Indivi- 
dualität aus  einer  miiversalistiscben  Kultur  haben  wir  Epigonen 
nur  noch  eine  schwache  Vorstellung.  Durchschnittsmenschen,  die 
nur  in  der  Masse  und  dm'ch  die  Einfügung  in  diese  wirken,  finden 
unsere  Zeitgenossen  schwer  den  Maßstab  für  jene  Fülle  eigen- 
artiger und  dabei  doch  unendlich  vielseitiger  Geister.  Was  unsere 
Zeit  ihre  Größen  nennt,  ist  fast  immer  die  einseitige  Entfaltung 
einer  gewaltigen  Kraft,  deren  Züge  unvergleichlich  viel  gröber 
ausfallen,  als  bei  den  Heroen  jener  Zeit.  Der  Triumph  der  In- 
dividualität über  den  ganzen  Reichtum  einer  universalistischen 
Bildung  ist  für  uns  ein  Ideal  der  Vergangenheit  geworden.  ^  Wer 
sich  mitten  darein  versetzen  will,  findet  es  nirgends  besser  aus- 
gesprochen als  in  Schleiermachers  Ethik.    Wir  besitzen  sie  in  den 

^ ^>^    ''^^^*'     >^tfv£*,^  J.:«.*,**«<i/  V 


314  Schleiermacher. 

beiden  posthumen  Ausgaben  von  Schweizer  (1835)  und  Twesten 
(1841).  Sie  ist  schon  formell  ein  sehr  schön  geschlossenes,  liebe- 
voll durchgearbeitetes,  architektonisch  bewunderungswürdiges 
»System  der  Sittenlehre«.  Aber  sie  sucht  auch  namentlich  in 
ihrem  Inhalt  alle  Harten  des  Kantischen  und  Fichteschen  Rigo- 
rismus in  dem  Geiste  abzuschleifen,  den  schon  Schiller  vertrat. 
Auch  sie  wendet  sich  gegen  den  kategorischen  Imperativ  und  vor 
allem  gegen  die  imperativische  Behandlung  der  Moralphilosophie. 
Das  Sittengesetz  gilt  ihr  als  die  innerlich  notwendige  Funktion 
des  intelligenten  Wesens.  Es  steht  deshalb  mit  dem  Naturgesetze 
nicht  in  einem  notwendigen  und  prinzipiellen  Gegensatze.  Es 
geht  vielmehr  eine  Linie  der  Entwicklung  und  Vervollkommnung 
aus  der  Natur  in  die  Geschichte.  Das  Entwicklimgssystem  von 
Leibniz,  Herder  undSchelling  wird  von  Schleiermacher  im  ethischen 
Sinne  gedeutet.  Nur  da,  wo  die  niederen  Triebe  mit  den  höheren 
streiten,  erscheinen  die  letzteren  im  Bewußtsein  als  ein  Gesetz 
des  Sollens.  Aber  das  Ideal  ist  nicht,  daß  jene  durch  diese  ver- 
nichtet werden,  sondern  daß  beide  zu  der  harmonischen  Aus- 
gleichung gelangen,  die  durch  ihr  Wertverhältnis  bestimmt  ist. 
Die  sittliche  Aufgabe  besteht  also  in  der  vollendeten  Ausbildung 
des  Individuums,  welches  in  dem  Gleichgewichte  seiner  ver- 
schiedenen Kräfte  sein  inneres  Wesen  auszuleben  hat.  So  hat 
jeder  Mensch  eine  persönliche  Aufgabe  —  Fichte  hatte  es  die 
^Bestimmung^  des  Menschen  genannt  —  und  erfüllt  sie  in  einer 
persönlichen  Durchbildung,  die  alle  Momente  des  gemeinsamen 
Kulturlebens  auf  den  einheithchen  Zweck  der  individuellen  Voll- 
endung zu  beziehen  hat.  Das  wahre  sittliche  Leben  ist  ein  Kunst- 
werk, welches  die  allgemeinen  Lebensbeziehungen  in  eine  indivi- 
duelle Gestalt  konzentriert.  Deshalb  aber  ist  die  sittliche  Ent- 
wicklung des  Individuums  nur  auf  der  breiten  Basis  des  all- 
gemeinen Kulturlebens  denkbar  und  besteht  lediglich  in  einer  per- 
sönlichen Verarbeitung  aller  der  Momente,  die  den  Gehalt  des 
Ganzen  ausmachen.  Das  reife  sittliche  Individuum  muß  sich  mit 
der  Gesamtheit  eins  wissen,  indem  es  diese  in  sich  zu  einer  per- 
sönlichen Form  gestaltet  hat.  Von  diesem  ethischen  Standpunkt 
her  gewann  Schleiermacher  die  ideale  Schätzung  der  großen  Güter 
des  gemeinsamen  Menschenlebens,  so  begriff  er  den  Staat,  die 
Geselligkeit,  die  Universität   und  die  Kirche,   und  so   gab  er  in 


■■i 


(Jütorlehre.  :\\f} 

seiner  Lehre  das  vollkommene  Rild  seiner  eigenen,  in  sich  ge- 
schlossenen und  doch  überull  mit  dem  (Jesumtlebcn  in  lebendigster 
Fühlung  begriffenen   Persünliehkeit. 

Auf  der  (lüterlchrc  beruht  nun*das  lliiuptinteressc  in  dem  ans- 
geführten  ethischen  System  des  l^hil()so[)hen.  Er  behandelt  darin 
als  »ethische  Organismen«  die  konkreten  Formen  der  menschlichen 
Lebensgemeinschaft,  welche  das  »höchste  Gut«,  d.  h.  die  Ein- 
heit von  Natur  und  Vernunft  zur  geschichtlichen  Erscheinunf; 
bringen.  Die  Grundbegriffe  des  realen  und  des  idealen  Faktors, 
welche  der  Schleiermachcrschen  Dialektik  zugrunde  lagen,  wieder- 
holen sich  hier  in  der  Unterscheidung  der  »organisierenden«  und 
der  »symboHsierenden«  Tätigkeit.  Unter  den  ersteren  Begriff 
fallen  alle  Handlungen  und  Verhältnisse,  durch  welche  die  Ver- 
nunft das  natürliche  Leben  durchdringt  und  für  sich  gestaltet; 
als  symbolisierend  erscheint  die  Intelligenz  überall  da,  wo  sie 
das  von  ihr  durchdrungene  und  gestaltete  Naturgebilde  in  ihr 
eigenes  Leben  aufnimmt  und  als  sich  zugehörig  bezeichnet.  Indem 
mit  dieser  Einteilung  sich  der  Gegensatz  des  Identischen  und  des 
Differenzierten,  d.  h.  des  Allgemeinen  und  des  Individualisierenden 
kreuzt,  entstehen  als  die  vier  Gebiete  des  sittlichen  Lebens  der 
Verkehr  und  das  Eigentum,  das  Denken  und  das  Gefühl.  Auf 
diese  Weise  gestaltet  sich  das  System  des  Ethik  zu  einer  in  großen 
Zügen  entworfenen  Lehre  von  dem  sittlichen  Gesamtleben  der 
Vernunft,  welches  als  allgemeinste  und  höchste  intellektuelle 
Wirklichkeit  den  Untergrund  für  jene  Lebensentfaltung  des  Indi- 
viduums bildet.  Zum  Hauptgegenstande  der  Ethik  wird  damit 
(dasselbe,  was  Hegel  als  den  »objektiven  Geist«  bezeichnet,  nämlich^ 
die  menschliche  Gattungsvernunft  in  ihrer  geschichtlichen  Aus- 
prägung durch  die  Organisationen  des  öffentlichen  Lebens.  Wie 
die  Physik  als  Theorie  neben  die  beschreibende  Naturwissenschaft, 
so  tiitt  die  Ethik  als  Geschichtsphilosophie  neben  die  erforschende 
und  erzählende  Historie. 

Die  Wirkung  Schleiermachers  ist  in  der  Theologie  zweifellos 
umfassender  als  in  der  Philosophie  gewesen,  und  sie  betrifft  auch 
auf  jenem  Gebiete  wesentlich  erst  die  Zeit,  welche  der  späteren 
Darstellung  vorbehalten  bleibt.  In  der  Philosophie  vollends  wurde 
Schleiermacher  zmiächst  beinahe  gänzlich  durch  den  umfassenden 
Erfolg    der    Hegelscher»    Lehre    zurückgedrängt.      Nur    auf    den 


316  Hegel. 

romantisclieii  Kreis  wirkte  seine  Betonung  des  religiösen  Elements 
der  Bildung  unmittelbar  zurück.  Freilich  nur  in  der  allgemeinsten 
Weise.  Denn  auch  die  Bahnen  der  Theosophie,  die  SchelUng  ein- 
schlug, lagen  weit  von  der  Richtung  ab,  in  die  Schleiermacher 
gewiesen  hatte.  Aber  den  Erfolg  darf  man  ihm  sicher  zuschreiben, 
daß  die  Gebildeten  unter  den  Verächtern  der  ReHgion  ihren  Wert 
wieder  zu  schätzen  anfingen,  wenn  sie  ihn  auch  anders  auffaßten 
als  er.  Hauptsächlich  für  die  Naturphilosophie  lag  der  Anschluß 
an  die  Spinozistische  Fassung  des  Gottesbegriffes,  die  Schleier- 
macher gegeben  hatte,  nahe,  und  unter  ihren  Anhängern  war  es 
namentlich  Steffens,  welcher  durch  die  persönliche  Berührung 
in  Halle  zu  Schleiermacher  hinübergezogen  wurde. 


§  68.     Der  logische  Idealismus. 

Hegel. 

Die  Lehre  Schleiermachers  ist  in  gewissem  Sinne  ein  Versuch, 
von  Schellings  Identitätssystem  aus  zu  Kant  zurückzukehren.  Sie 
betrachtet  wie  der  absolute  Idealismus  die  natürliche  und  die 
geschichtliche  Reihe  der  Erscheinungen  als  differenzierte  Selbst- 
objektivierungen des  göttlichen  Urbildes,  aber  sie  hält  das  letztere 
selbst  für  unerkennbar  und  gewinnt  seine  Vorstellung  nur  aus 
dem  religiösen  Gefühle.  Sie  hat  deshalb  auch  nicht  im  ent- 
ferntesten eine  Erkenntnis  davon,  wie  ^  das  Absolute'  dazu  kommt, 
sich  gerade  in  diesen  und  keinen  andern  Erscheinungen  zu  offen- 
baren. Aber  im  Grunde  genommen  fehlte  die  Lösung  dieses 
Problems,  das  Schleiermacher  gar  nicht  erst  aufstellte,  auch  in 
Schellings  Identitätssystem.  Hier  wurde  diese  Differenzierung 
zwar  überall  behauptet,  aber  nicht  begriffen,  und  das  war  die 
selbstverständliche  Folge  davon,  daß  das  Absolute  hier  als  quali- 
tätslose Indifferenz  aller  Erscheinungen  gedacht  war.  Wie  sich 
aus  diesem  bestimmungslosen  Grunde  die  Bestimmtheit  der  ein- 
zelnen Erscheinungen  entwickeln  sollte,  war  ebensowenig  zu  ver- 
stehen wie  die  Verwandlung  der  Spinozistischen  Substanz  und 
ihrer  allgemeinen  Attribute  in  die  einzelnen  Modi. 

Aus  der  »Nacht  des  Absoluten«,  in  der  alle  Unterschiede  ver- 
dämmerten, war  die  feste  Bestimmtheit  der  Gestalten  in  der 
Tageshelle  der  Wirklichkeit  nicht  abzuleiten.    So  entstand  in  der 


■■IHHBBHP 


Der  Geist  als  Entwicklung.  'A\7 

idealistischen  Riclitiiiij;  ihre  letzte  und  iiücliste  Aufgabe,  die  Kr- 
scheinun«;cn  aus  dem  Absoluten  ho  zu  deduzieren,  daß  sich  ein- 
sehen ließe,  weslialb  es  sich  ;^'erade  in  diese  und  keine  andere 
Wirklichkeit  entwickeln  muß:  die  transzendentale  J.ogik  sollte  die 
allgemeine  Form  der  Vernunft  so  fassen  und  so  formulieren,  daß 
sich  daraus  auch  die  wesentlichen  Inlialtsbestimmungen  der  em- 
pirischen Wirklichkeit  ableiten  ließen.  J)iese  Aufgabe  war  nur 
dadurch  zu  lösen,  daß  der  Begriff  des  Absoluten  aus  jener  Un- 
bestimmtheit, worin  er  die  Indifferenz  aller  Besonderheiten  enthielt, 
in  eine  bestimmte  Qualität  übergeführt  wurde,  aus  deren  Wesen 
heraus  alle  seine  Entwicklungsformen  herzuleiten  waren.  Dies 
höchste  Ideal  aller  menschlichen  Wissenschaft,  das  man  als  solches 
verstehen  muß,  auch  wenn  man  es  für  unerreichbar  hält,  bildet 
die  Aufgabe,  die  sich  He^^el  setzte,  und  jene  Bedingung  ihrer 
Lösung  fand  er  darin,  daß  er  das  "^bsolute^als  den  sich 
selbst  entwickelnden  Geist  charakterisierte.   Das  ist  der  Sinn 


seines  Ausspruchs:  die  Substanz  müsse  zum  Subjekt  erhoben 
werden.  Mit  diesem  Bestreben  führt  die  Philosophie  in  einer 
ganz  anderen  Weise  als  bei  Schleiermacher  von  Schelling  zu  Kant 
zurück  und  zugleich  über  ihn  hinaus.  Daß  alle  philosophische 
Erkenntnis  aus  der  Organisation  des  Geistes  stammt,  ist  das 
Grundthema  für  die  ganze  Bewegung  der  deutschen  Philosophie. 
Diese  Organisation  ist  für  Kants  kritische  Methode  diejenige  des 
menschlichen  Geistes,  sie  beschränkt  sich  deshalb  auf  die  Formen 
des  Denkens,  und  in  diesem  Sinne  wird  die  Erscheiuungswelt  von 
dem  wahren  Wesen  der  Dinge  unterschieden.  Aber  schon  Kant 
überschritt  nicht  nur  diesen  Ausgangspunkt  auf  der  theoretischen 
Linie  mit  dem  Begriff  des  »Bewußtseins  überhaupt«,  sondern  er 
sah  sich  auch  in  der  Kritik  der  praktischen  Vernunft  genötigt, 
das  Fundament  jener  Organisation  als  ein  für  alle  vernünftigen 
Wesen  geltendes  Gesetz  zu  betrachten.  So  durchbrochen,  wurde  der 
anfängliche  Subjektivismus  in  der  Weiterentwicklung  Schritt  für 
Schritt  aufgehoben,  und  das  Identitätssystem  betrachtete  wieder 
auch  die  theoretische  Vernunft  als  ein  Weltgesetz.  Die  Identität 
von  Denken  und  Sein,  von  dem  alten  Rationalismus  naiv  an- 
genommen, erschien,  nachdem  sie  bei  Kant  als  problematisch 
beiseite  geschoben  war,  in  diesem  neuen  Rationalismus  als  ein 
bewußtes   und   ausdrückliches    Postulat   wieder.     Sie   wurde  von 


318  Bardili. 

Hegel  gerade  dem  Kritizismuy  gegenüber  als  der  »Mut  der  Wahr- 
heit«, als  »der  Glaube  an  die  Macht  des  Geistes«  proklamiert, 
welcher  die  erste  Bedingung  aller  Philosophie  sei.  Für  diesen 
Standpunkt  ist  die  Kantische  Kritik  der  Erkenntnis  gegenstandslos 
geworden:  für  ihn  ist  der  „Geist,  dessen  Organisation  die  philo- 
sophische Welterkenntnis  bedingen  soll,  nicht  mehr  der  "mensch- 
liche, sondern  der  absolute  Geist.  Nun  bezieht  sich  seine  Or- 
ganisation nicht  mehr  bloß  auf  die  Formen,  sondern  auch  auf 
den  Inhalt  des  Denkens.  Nun  beschränkt  sich  seine  Erkenntnis 
nicht  mehr  auf  subjektive  Erscheinungen,  sondern  sie  umfaßt  die 
objektiven  Entwicklungsformen  des  absoluten  Geistes.  Vom  Stand- 
punkte der  Identität  aus  gesehen,  ist  die  Organisation  des  Geistes 
zugleich  diejenige  der  realen  Welt:  es  ist  Kants  »intuitiver  Ver- 
stand«, den  die  Philosophie  jetzt  sich  zu  eigen  machen  soll. 
Dadurch  wird  von  Seiten  der  metaphysischen  Anschauung  die 
Welt  zu  einer  Entwicklungsgeschichte  des  absoluten 
Geistes;  dadurch  wird  hinsichtlich  der  philcsophischen  Methode 
die  Welterkenntnis  zu  einer  dialektischen  Deduktion  der  not- 
wendigen Selbstent Wicklung  des  Geistes.  Mit  dem  Postulat  der 
Identität  verbunden,  setzt  sich  Kants  transzendentale  Logik  in 
eine  philosophische  Grundwissenschaft  um,  welche  das  System  der 
Kategorien  als  dasjenige  der  absoluten  Wirklichkeit  betrachtet. 
Die  Vereinigung  von  Lo^ik  und  Metaphysik,  die  bei 
Schleiermacher  als  das  Ideal  des  absoluten  Wissens  auftrat,  er- 
scheint in  Hegels  Logik  als  eine  gelöste  Aufgabe. 

Ähnliche  Gedanken  waren  schon  von  anderen  früher  aufgestellt 
/!/'/>  worden.  Namentlich  Bardili  (1761 — 1808)  hatte  von  einem  ver- 
wandten Standpunkt  aus  die  Kantische  Lehre  in  seinem  »Grundriß 
der  ersten  Logik«  (1800)  und  in  der  »Philosophischen  Elementar- 
lehre« (1802 — 1806)  bekämpft,  und  sein  und  Reinholds  »Brief- 
wechsel über  das  Wesen  der  neuesten  Philosophie  und  das  Unwesen 
der  Spekulation«  (1804)  hatte  diese  Gedanken  weiter  ausgeführt. 
Die  Trennung  des  Denkens  vom  Sein,  welche  der  Kritizismus  mit 
sich  führt,  sei  Fein  Grundfehler  und  mache  alle  wissenschaftliche 
Erkenntnis  unmöglich.  Wenn  das  Denken,  auf  sich  selbst  be- 
schränkt, nur  seine  eigenen  Formen  ausspinnt,  so  ist  es  ein  Traum 
und  keine  Erkenntnis,  so  ist  es  haltloser  denn  ein  Spinngewebe, 
weil  es  nichts  hat,  woi-an  es  sich  anheften  kann.    In  dieser  Hin- 


Berpcr.  .'il!l  , 

sieht  synipatliisiorcn  Keinliold  uiul  Hardili  mit  JawbiH  Bcliaiiptun;:, 
daß  der  Kritizisimis  zum  Nihilismus  führe.  Man  muß  sorgfältig;  — 
so  knüpft  diese  Lehre  an  die  »Elemmtarpliilosophie*  an  —  zwischen 
dem  Vorstellen  und  dem  Denken  unterscheiden;  letzteres  ist  das 
notwendige, (^d.  li.  das  mit  der  Realität  identische  Vorstellen.  Was 
notwendig  gedacht  wird,  ist,  und  nur  das  Sein  wird  notwendig 
gedacht.  Deshalb  nennt  sich  dieses  System  rationalen  Realis- 
mus. In  ihm  ist  die  Lehre  vom  Denken  die  Lehre  vom  Sein  und 
die  Logik  gleich  der  Metaphysik  oder  der  Ontologie;  sie  wird  in 
diesem  Sinne  auch  von  Bardili  als  Dialektik  bezeichnet.  Daraus 
folgt  aber  auch  umgekehrt,  daß  alles  Sein  ein  Denken  ist;  denn 
die  Erkenntnis  besteht  nur  darin,  daß  unser  Denken  den  Begriff^ 
welcher  das  Wesen  des  realen  Dinges  ausmacht,  reproduziert. 
Alles  ursprüngliche  Sein  ist  Gedanke  oder  reale  Idee,  und  wir 
erkennen  die  letztere,  indem  wir  sie  subjektiv  in  uns  wiederholen. 
W^enn  sich  auf  diesen  Grundlagen  eine  Metaphysik  aufbauen  soll, 
so  geschieht  es  nach  dem  Prinzip,  daß  alle  Verschiedenheit  des 
Seins  in  der"^  Verschiedenheit  der  Intensität  des  Denkens^  seinen 
Grund  hat.  Damit  greift  Bardili  zu  der  Monadologie  von  Leibniz 
zurück  imd  konstruiert  ein  System  aufsteigender  Formen  des  Seins, 
welches  die  allmähliche  Verdeutlichung  des  Denkens  zum  Maß- 
stabe nimmt.  Zugleich  erinnert  diese  Lehre  an  die  Schellingsche 
Naturphilosophie  und  entnimmt  ihr  hauptsächlich  den  Gedanken, 
welcher  platonisch-aristotelischen  Ursprungs  ist,  daß  in  der  höheren 

Potenz   immer   die   niedere   enthalten   sein  soll.     In   der  Materie 

r  ^ 

sich  passiv  genießend,  erscheint  das  Sein  in  der  Pflanze  vor- 
stellend imd  träumend  und  gelangt  im  Tier  zum  Bewußtsein, 
um  sich  schließlich  im  Menschen  zum  Selbstbewußtsein  zu  steigern. 

Ähnlich    wie    Bardili    ist    diu'ch   Hegel   Erich   von_Ber^r  (ArMaej, 
(1772 — 1833,  geborener  Däne  und  Professor  in  Kiel)  in  Schatten  ^^ 

gestellt  worden.  Er  versuchte  in  seiner  »Philosophischen  Dar- 
stellung der  Harmonie  des  Weltalls«  (1808)  eine  Vermittlung 
der  Wissenschaftslehre  und  des  Identitätssystems,  in  der  viel- 
leicht schon  ein  Einfluß  der  Hegeischen  Phänomenologie  zu  er- 
kennen ist,  und  jedenfalls  lassen  ihn  seine  »allgemeinen  Gnmd- 
züge  der  Wissenschaft«  (4  Bände  1817 — 1827)  bereits  mehr  als 
einen  relativ  selbständigen  Schüler  Hegels  erscheinen.  Er  legt 
das  Postulat  der  Identität  dahin  aus,   daß  die  Wirklichkeit  nur 


320  Hegel. 

erkennbar  ist,  wenn  sie  selbst  reales  Denken  enthält.  Die,^  Ver- 
nünftigkeit der  Welt  ist  die  Voraussetzung  ihrer  vernünftigen 
Erkenntnis.  Nur  eine  Welt,  die  selbst  Vernunft  ist,  kann  von 
der  Vernunft  erkannt  werden,  und  auch  dies  nur  dann,  wenn 
die  erkennende  und  die  zu  erkennende,  wenn  die  subjektive  und 
die  objektive  Vernunft  in  ihrer  Wurzel  und  in  ihrem  Wesen 
identisch  sind.  Die  Natur  ist  nur  erkennbar,  insofern  sie  reales 
Denken  ist.  Dieses  Prinzip  hat  Schelling  durchgeführt.  Aber 
der  Naturphilosophie  muß  deshalb  die  Wissenschaftslehre  oder 
die  Logik  als  die  Selbsterkenntnis  der  Vernunft  vorhergeschickt 
werden.  Hieraus  hat  Berger  später  eine  Dreiteilung  der  Philo- 
sophie abgeleitet.  Der  Geist  erkennt  sich  selbst  in  der  Logik, 
er  erkennt  sich  als  eine  äußere  und  fremd  gewordene  Realität 
in  der  Physik,  und  er  erkennt  sich  als  die  dies  »Andere«  be- 
herrschende Macht  in  der  Ethik.  Das  Absolute  ist  die  Idee, 
welche  in  allem  anderen  erscheint,  und  welche  darin  sich  selbst 
realisiert  und  sich  selbst  erkennt.  Die  volle  Ausführung  und 
systematische  Entwicklung  dieses  Gedankens  war  die  Lebens- 
arbeit Hegels. 
J(oA^  Georg  Wilhelm  Friedrich JLsj^^el  war   1770   in   Stuttgart 

■    -^        geboren  und  studierte  in  den  Jahren  1788 — 1793  auf  dem  Stift 
II  in  Tübingen.     In  der  Freundschaft   mit  Hölderlin  und  Schelling 

"  /  ^3/  erfüllte  sich  sein  Geist  mit  dem  ganzen  Reichtum  der  klassischen 
imd  der  modernen  Bildung.  Das  Griechentum  mit  seiner  har- 
monischen Entfaltung  reiner  Menschlichkeit  war  auch  ihm  die 
geistige  Heimat,  die  er  in  dem  idealen  Lichte  der  Schillerschen 
Darstellung  sah.  Die  Dichter  und  die  Philosophen  von  Hellas 
waren  ihm  durch  das  ganze  Leben  hindurch  vertraute  Freunde, 
und  in  dem  griechischen  Staate  verehrte  er  das  Ideal  eines  ästhe- 
tisch-sittlichen Zustandes  der  Gesellschaft.  Die  französische 
Revolution  und  die  Kantischc  Philosophie,  die  mit  den  faulen 
Zuständen  dort  des  politischen,  hier  des  wissenschaftlichen  Lebens 
aufzuräumen  versprachen,  fanden  in  ihm  die  erste  einen  be- 
geisterten, die  andere  einen  still  verarbeitenden  Jünger.  Als  er 
dann  einige  Jahre  in  Bern  als  Hauslehrer  zubrachte,  vertiefte 
er  sich  in  historische  Studien  und  folgte  zugleich  auf  das  ge- 
naueste der  philosophischen  Entwicklung,  die  einerseits  Fichte, 
anderseits    Schiller    nahm.      In    denselben   Jahren    entstand    ein 


FiOl)on  und   Wc^rko.  321 

MaiuiMkripl    iibor   das  LcIxmi   .Icsii,    wolrhos    ilm   mit  (1<t  liCKwin»^- 
schon  Auffassung  dor  roli^iöson  Entwicklun«^'  auf  dcinsclbcn  SUnd- 
punkto  zeii^t.     Duivli    soiiio    Oboisjodlun«^   nach   Frankfurt  a.  M., 
wo  er  sich  in  dvv  !j;UMc'hni  äußeren  Stelhni^  befand,  wurden  zwar 
die  theologischen  und  die  politischen  Studien  nicht  unterbrochen, 
aber  das  nauptintcrcssc  seiner  Arbeit  fiel  dort  schon  auf  einen 
Entwurf  seines   phih)sop]iisclien   Systems,   den   er  in   einem  aus- 
führliclien    Manuskript    niederleujte    und    teilweise    mit   Hölderlin 
besprach.     Dieser   Entwurf   zci<^t   methodisch    und   inhaltlich    be- 
reits die  Grundzüge  seiner  späteren  Lehre  und  beweist,  daß  sich 
ihr  Grundproblem  unabhängig  von  dem  Identitätssystem  bei  ihm 
aus  der  Kantischen  und  Fichteschen  Philosophie  entwickelt  hat. 
Aber   Hegel    besaß   bei   seinem   kühlen   und  ruhigen,    von  allem 
Übermut    der   Genialität    freien   Wesen    die   Strenge   gegen   sich 
selbst,  daß  er  die  Gedanken  in  der  Stille  ausreifen  ließ  und  mit 
ihnen   nicht   eher    vor   die   Öffentlichkeit   trat,   als   bis   er   ihren 
Abschluß  gefunden  hatte.     Während   Schellings   AVerke,   wie   die 
Dialoge   Piatons,    ihren   Verfasser    in    einer   stetigen   Umbildung 
begriffen  zeigen,  tritt  das  Hegeische  System  schon  in  dem  ersten 
großen  Werke  wie  die  Minerva  aus  dem  Haupte  des  Zeus  fertig 
imd  gepanzert  hervor,  und  in  seinen   Schriften   spricht   deshalb 
von  Anfang  bis  Ende,  wie  es  bei  den  überlieferten  Lehrschriften 
von  Aristoteles   der  Fall  ist,   der  mit  sich   selbst  einige  Denker. 
Diese    geschlossene   Einheit   aber   war   durch   eine   tief   bewegte, 
mit  zähem  Ernst  ringende   und   erstaunlich   vielseitige  Entwick- 
lung  erworben   worden,    in   der   die   ganze   Mannigfaltigkeit   des 
geistigen   Lebens   seiner   Zeit   zur   Geltung   gekommen   war:    die 
Prinzipien   der  zu  Ende   gehenden  Aufklärung   und   die   Motive 
der    aufsteigenden   Romantik   waren    sich   in   Hegels   Geiste   be- 
gegnet.    Über  diesen  hochbedeutsamen   Prozeß  hat  erst  jüngst 
Wilhelm  Dilthey  auf  Grund   der  in  der  BerHner  Bibliothek  auf- 
bewahrten  Manuskripte    ein   reizvolles   Licht    zu   verbreiten    be- 
gonnen. 

Nach  einem  Menschenalter  der  Vorbereitung,  der  Sammlung 
und  der  Verarbeitung  begann  Hegel  im  Jahre  1801  sein  zweites 
Menschenalter,  dasjenige  seiner  Lehrtätigkeit.  Durch  den  Tod 
seines  Vaters  selbständig  geworden,  habilitierte  er  sich  auf 
Schellings  Veranlassung  in  Jena  und  gab  dort  mit  dem  Jugend- 

Windel"band,  Gesch.  d.  n.  Philos.   U.  21 


\ 


322  Hegel. 

freunde  das  »Kritische  Journal  der  Philosophie«  heraus.  Er 
und  Schelling  meinten  damals  in  ihrer  philosophischen  Über- 
zeugung einig  zu  sein,  und  in  den  Abhandlungen,  die  Hegel  in 
diesem  Journal  veröffentlichte,  zeigt  er  sich  so  sehr  als  ein  selb- 
ständiger Genosse  Schellings,  daß  über  einige  dieser  Abhand- 
lungen, besonders  über  diejenige,  welche  von  dem  »Verhältnis 
der  Naturphilosophie  zur  Philosophie  überhaupt«  handelt,  später 
ein  Streit  entstehen  konnte,  welcher  von  beiden  der  Verfasser 
sei.  Von  anderen  Aufsätzen  hat  sich  nachher  herausgestellt, 
daß  die  Freunde  sie  gemeinschaftlich  verfaßt  haben.  Aber  auch 
die  Abhandlung  über  »Glauben  und  Wissen«  und  die  »Differenz 
des  Fichteschen  und  Schellingschen  Standpunktes«  sind  völlig 
im  Geiste  des  Identitätssystems  gehalten.  In  der  Tat  lag  da- 
mals noch  die  MögHchkeit  vor,  daß  die  Schelhngsche  Lehre  in 
die  von  Hegel  bereits  betretene  Bahn  einmündete,  und,  wie 
oben  erwähnt,  zeigen  die  späteren  Darstellungen  im  »Bruno« 
und  in  der  »Methode  des  akademischen  Studiums«  auch  bei 
Schelling  ein  Überwiegen  des  ideellen  Faktors  im  Absoluten, 
welches  ganz  in  der  Richtung  von  Hegels  Grundgedanken  lag, 
das  "Absolute^  sei  der  Geist.  Erst  als  Schelling  auf  andere  An- 
regungen in  Würzburg  die  theosophische  Wendung  nahm,  vollzog 
sich  mit  der  räumlichen  auch  die  geistige  Trennung  der  beiden 
Freunde,  welche  später  zu  einer  bedauerlichen  und  namentlich 
auf  Schellings  Seite  leidenschaftlich  gereizten  Gegnerschaft  ge- 
führt hat.  Diesen  Bruch  mit  dem  Identitätssystem  bekundete 
3  7  0  •  Hegel  durch  seine  »Phänomenologie  des  Geistes«  (Jena  1807), 
das  erste  und  in  gewissem  Sinne  das  großartigste  seiner  Werke. 
Er  war  mit  der  Abfassung  desselben  eben  fertig,  als  der 
preußisch-französische  Krieg  den  geistigen  Kämpfen  in  Jena  für 
einige  Zeit  ein  Ende  machte;  er  verlor  damit  die  außerordent- 
liche Professur,  die  er  1805  erhalten  hatte,  und  sah  sich  ge- 
nötigt, während  der  folgenden  Jahre  in  Bamberg  als  Redakteur 
einer  kleinen  Zeitung  sein  Leben  zu  fristen.  Aus  dieser  Position 
erlöste  ihn  Niethammer,  durch  dessen  Vermittlung  er  zum  Di- 
rektor des  Ägidien- Gymnasiums  in  Nürnberg  berufen  wurde. 
Das  Denkmal  dieser  seiner  Lehrtätigkeit  bildet  die  philosophische 
»Propädeutik«,  welche  er  für  den  Unterricht  in  der  obersten 
Klasse   entwarf;   zugleich   gab  er  in  diesen  Jahren  sein  Grund- 


7? 


Loben  und  Wirken.  323 

work,  die  dreibiiiuiigo  »Wisöcn.scliaft  der  Lo;jik«  (Niiinbor;^  1812 
bis  I81l))  henius.  Als  die  Kriege;  juis;^el()bt  hatten,  erhielt  er 
1810  «^leichzeitij^  Berufungen  nach  Jkrlin,  Erlangen  und  Hcidelber;^ 
und  f()ljj;tc  auf  Daubs  Driin^^'cn  der  letzteren,  um  jedoch  öcIidu 
1818  nach  Berlin  überzusiedeln.  Von  da  bis  zu  seinem  Tode, 
der  1831  durch  die  Cholera  erfolgte,  entwickelte  er  auf  dem  ^  ^  'l 
Berliner  Katheder  eine  ausgebreitete  und  glänzende  Wirksamkeit. 
Er  sah  nicht  nur  die  Scharen  seiner  Jünger  sich  von  Jahr  zu 
.Jahr  mehren  und  die  Spitzen  des  Staates  und  der  Gesellschaft 
sich  in  seine  Vorlesungen  drängen,  sondern  er  fing  namentlich 
durch  Vermittlung  des  Ministers  Altenstein  an,  bei  der  Regie- 
rung solchen  Einfluß  zu  gewinnen,  daß  seine  Lehre  als  die 
»preußische  Staatsphilosophie«  galt,  und  daß  sich  auch  die 
übrigen  Universitäten  mit  seinen  Schülern  bevölkerten.  An  der 
Spitze  dieser  Schule,  deren  Organ  seit  1827  die  Berliner  »Jahr- 
bücher für  wissenschaftliche  Kritik«  bildeten,  wurde  er  zeitweili«; 
eine  Macht  in  dem  geistigen  Leben  Deutschlands,  wie  es  kaum 
Kant  gewesen  war,  und  der  enzyklopädische  Charakter  seiner 
Lehre  brachte  es  mit  sich,  daß  alle  Wissenschaften  in  diese  Be- 
w^egung  hineingezogen  wurden.  Er  wurde  für  Deutschland  genau 
das,  was  ein  Jahrhundert  vorher  Wolff  gewesen  war,  und  zw^ar 
deshalb,  weil  er  die  Nation  in  dieselbe  rationale  Schulung  nahm, 
durch  welche  sie  Wolff  für  die  Zeit  ihrer  großen  Entwicklung^ 
vorbereitet  hatte.  War  Wolffs  logische  Universalität  die  Grund- 
lage für  die  gewaltige  Entwicklung  des  inhaltlichen  Denkens,  die 
seit  Kant  der  Idealismus  entfaltete,  so  ist  Hegels  logische  Uni- 
versalität  die  abschließende  Verarbeitung  dieser  Entwicklung.  * 
Darin  besteht  ihre  Ähnlichkeit,  darin  aber  auch  die  gewaltige 
Überlegenheit,  welche  Hegel  Wolff  gegenüber  besitzt.  Man  kann 
den  Reichtum  der  Entwicklung,  welche  der  deutsche  Geist  in 
jenem  Jahrhundert  durchgemacht  hat,  nicht  besser  beurteilen, 
als  wenn  man  die  Systeme  beider  vergleicht. 

Hegel  selbst  hat  nur  noch  seine  »Enzyklopädie  der  philo- 
sophischen Wissenschaften  im  Grundrisse«  (3  Teile,  Heidelberg 
1817)  und  die  »Grundlinien  der  Philosophie  des  Rechts«  (Berlin  1821) 
herausgegeben.  In  die  ge.-ammelten  Werke  (Berlin  1832—1845) 
aber,  zu  deren  Herausgabe  sich  eine  Reihe  seiner  Schüler  ver- 
banden, sind  außerdem  seine  Vorlesungen  über  Philosophie  der 

21* 


324  Hegel. 

Geschichte,  Ästhetik,  Eeligionsphilosophie  und  Geschichte  der 
Philosophie  nach  seinen  Notizen  und  den  Nachschriften  von  Zu- 
hörern aufgenommen  worden.  Seine  Darstellung  ist  keine  glück- 
liche; nur  an  seltenen  Stellen  kommt  der  Gedanke  in  klarer, 
gelegentlich  auch  in  schöner  und  großartiger  Form  zum  Ausdruck. 
Meist  —  und  das  trifft  zumal  die  Vorlesungen  —  ist  es  das 
Ringen  des  Denkens  mit  sich  .^:elbst,  das  in  einer  schwierigen 
Terminologie  sich  offenbart.  Der  formale  Schematismus,  der  das 
Ganze  beherrscht  und  sich  bis  in  die  fein.-ten  Gliederungen  fort- 
setzt, ist  dem  Verständnis  des  Uneingeweihten  überall  hinderhch, 
und  es  ist  wohl  zu  begreifen,  daß  es  eine  geraume  Zeit  lang  nur 
sehr  wenige  waren,  die  durch  diese  starre  Schale  zu  dem  lebens- 
kräftigen und  unerschöpflich  fruchtbaren  Kerne  des  Ganzen  zu 
dringen  wußten. 

Betrachtet  man  die  großen  idealistischen  Systeme  als  meta- 
physische Weltgedichte,  so  verteilen  sie  sich  nach  dem  Charakter 
ihrer  Urheber  merkwürdig  auf  die  verschiedenen  Diclitungsarten. 
Die  gewaltige,  zur  Tat  drängende  Persönlichkeit  Fichtes  entlädt 
sich  in  dem  dramatischen  Aufbau  der  Wissenschaftslehre.  Der 
umfassende  Weltblick  Schellings  schildert  wie  in  epischer  Aus- 
breitung die  Entwicklungsgeschichte  des  Universums.  Die  zarte 
Religiosität  Schleiermachers  spricht  sich  in  der  lyrischen  Schön- 
heit seiner  Gefühlslehre  aus.  Hegels  System  ist  ein  großes  Lehr- 
gedicht, sein  Grundcharakter  ist  didaktis,ch,  und  mit  der  Lehr- 
haftigkeit,  die  zu  dem  Wesen  seines  Urhebers  gehörte,  erscheint 
es  den  Vorgängern  gegenüber  oft  wie  eine  prosaische  Ernüchterung. 
In  der  Tat  bestand  der  Bruch,  den  Hegel  durch  dieThänomeno- 
logiemit  dem  Schellingschen  System  vollzog,  darin,  daß  er  sich 
gegen  das  »geniale  Philosophieren«  erklärte.  An  Stelle  der 
Intuition,  die  unmittelbar  das  Wesen  des  Absoluten  zu  erfassen 
meinte,  setzt  er  wieder  die  strenge  Arbeit  des  Begriffes.  Die 
Identität  von  Denken  und  Sein  enthält  die  Voraussetzung,  daß 
das  Wesen  aller  Dinge  die  ^Vernunft'  sei.  Alles  was  ist,  ist  ver- 
nünftig, und  nur  das  VernünftTge  ist.  Aber  deshalb  muß  auch 
die  Vernunfterkenntnis  bis  in  das  innerste  Wesen  aller  Dinge  zu 
dringen  und  sie  völlig  aus  der  Notwendigkeit  der  Vernunft  ab- 
zuleiten vermögen.  Was  bisher  durch  geniale  Konzeption,  durch 
Behauptungen  und  Analogien  aufgestellt  worden  ist,   muß   sich 


Ilatiüiiulisnius.  3^25 

als  ein  notwcndi^os  Piotlukt  des  vcniünfti^^cn  Denkens  er<,'ebon. 
Das  lilentitätssystem  soll  sicli  in  einen  neuen  Rationalismus 
verwandeln.  Von  dem  poetischen  P]iil()sopliieren  ^'eht  Hegel  wieder 
auf  das  wissenschaftliche  zurück.  Darum  hat  man  sein  System 
mit  Recht  die  Rationalisierung  der  Romantik  genannt. 

Aber  der  Inhalt  der  Romantik,  den  JJegel  zu  rationalisieren 
vorfand,  war  eine  so  starke  Geistesmacht,  daß  der  neue  Rationa- 

y 

lismus  sich  ihm  fügen  mußte,  und  daß  die^Eegriffswissenschaft, 
welche  Hegel  gab,  das  allerwunderlichste  Durcheinanderschillern 
der  Phantasie  und  des  Verstandes  zeigt.  Gerade  darin  besteht 
die  gefährliche  Eigentümlichkeit  Hegels,  daß  bei  ihm  das  geniale 
Philosophieren  der  Phantasie  und  der  Analogie  in  dem  Kleide 
,,  begrifflicher  Notwendigkeit  auftritt.  Der  rationalistische  Charakter 
seiner  Lehre  ist  deshalb  ganz  andersartig  als  derjenige  des  vor- 
kantischen  Dogmatismus.  Auf  die  Reflexionsphilosopliie  des  Ver- 
standes, welche  sich  streng  an  die  Regeln  der  formalen  Logik 
hält,  eben  deshalb  aber  nichts  Neues  zu  erzeugen  vermag,  sieht 
auch  Hegel  vornehm  herab,  und  er  mutet  dem  »rationalen« 
Denken  zu,  eine  ü^anz  andere  Form  der  bearifflichen  Erkenntnis 
sich  zu  eigen  zu  machen,  welche  er  »Vernunft«  nennt.  Weit  über 
der  Verstand eserkenntnis,  die  nur,  wie  der  Kritizismus  gezeigt 
hat,  mit  der  Anerkennung  ihrer  eigenen  Beschränktheit  und  mit 
dem  Verzicht  auf  das  wahrhaft  wertvolle  Wissen  enden  kann, 
steht  die  dialektische  Methode. 

Die  unmittelbare  Abstammung  des  Hegeischen  Denkens  aus 
der  Fichteschen  Wissenschaftslehre  zeigt  sich  in  der  universellen 
Ausbildung,  die  Hegel  dieser  Methode  gegeben,  und  in  dem  Gegen- 
satz, worin  er  sie  zu  der  gewöhnlichen  formalen  Logik  gebracht 
hat.  Zu  den  schwierigsten  Darstellungen  der  Wissenschaftslehre 
gehörte  diejenige,  welche  ihre  ersten  Sätze  aus  den  Problemen  ent- 
wickelte, die  in  den  Grundsätzen  der  formalen  Logik  enthalten 
sind.  Schon  hier  trat  der  Gedanke  hervor,  daß  die  Konstruktion 
der  Wissenschaftslehre  sich  nicht  jenem  höchsten  Prinzip  unter- 
ordnen könne,  welches  als  der  Satz  des  Widerspruches  an  der 
Spitze  der  formalen  Logik  steht.  Die  Realität  der  Widersprüche 
ina  Ich  war  ja  das  Prinzip,  auf  welches  die  Wissenschaftslehre 
ihre  Entwicklung  der  Geschichte  des  Bewußtseins  gründete.  Diese 
Auffassung  erweiterte  sich  bei  den  Nachfolgern  vom  Ich  aus  über 


■i 


326  Hegel. 

alle  Dinge,  die  ja  als  Produkte  jenes  in  sich  widerspruchsvollen 
Ich  galten.  Die  Naturphilosophie  mit  ihrer  Lehre  von  der 
Polarität  lag  bereits  ganz  in  dieser  Richtung.  Schelling  bezog 
sich  in  der  »Methode  des  akademischen  Studiums«  direkt  auf 
Giordano  Brunos  »coincidentia  oppositorum«.  Die  Romantiker, 
Novalis  und  Friedrich  Schlegel,  sprachen  es  sehr  bald  aus,  daß 
»es  um  den  Satz  des  Widerspruches  unvermeidlich  geschehen  sei« , 
daß  alles  Leben  auf  Widersprüchen  beruhe  und  deshalb  durch 
das  Prinzip  der  formalen  Logik  nicht  begreiflich  sei.  Diese  Sätze 
entsprechen  der  Tatsache,  daß  es  entgegengesetzt  wirkende,  aber  doch 
stets  beiderseits  positive  Kräfte  sind,  aus  deren  Wechselwirkung 
das  Geschehen  hervorgeht.  Aber  sie  verwechselten  diese  »Real- 
repugnanz«  mit  der  logischen  »Kontradiktion«  in  einer  Weise, 
die  Kant  in  seinem  »Verbuch  den  Begriff  der  negativen  Größen 
in  die  Weltweisheit  einzuführen«  längst  aufgedeckt  und  wie  vor- 
ahnend widerlegt  hatte.  Allein  diese  Verwechslung  griff  immer 
mehr  um  sich,  und  sie  führte  im  großartigsten  Maßstabe  schließ- 
lich zu  dem  Hegeischen  System,  in  welchem  die  »Negativität« 
als  die  metaphysische  Macht  der  Entwicklung  betrachtet  wurde. 
Sollten  nämhch  die  Gegensätze  nicht  bloß  als  gegebene  Tatsachen 
anerkannt,  sondern  durch  das  Denken  als  notwendig  erkannt 
werden,  so  war  das  nur  dadurch  möghch,  daß  die  logische  Form 
der  Negation  als  der  reale  AViderspruch  aus  der  ursprünglichen 
Position  entwickelt  wurde.  ^Dies  Prinzip  sprach  Friedrich 
Schleojel  in  seinen  Vorlesunpjen  aus  den  Jahren  1804 — 180G 
(herausgegeben  von  Windischmann  1836 — 1837)  aus.  Auch  er 
hatte  damals  bereits  den  Standpunkt  des  genialen  Philosophierens 
verlassen,  und  wie  er  denn  immer  zwischen  Extremen  oszillierte, 
so  verlangte  er  nun  eine  strenge  Methode  der  Philosophie.  Als 
deren  Form  behauptete  er,  wie  die  Wissenschaftslehre,  die 
Triplizität,  welche  durch  die  Widersprüche  hindurch  zur  höheren 
Einheit  empordringt.  Dabei  folgte  auch  Schlegel  in  diesen  seinen 
späteren  Lehren  demselben  Gedankenzuge  wie  Bardili  und  Berger; 
auch  ihm  galt  dieses  Denken,  welches  sich  durch  den  Widerspruch 
zur  Wahrheit  erhebt,  als  das  göttliche  Denken,  das  zugleich  real 
ist,  und  dessen  Reproduktion  im  menschlichen  Geiste  »Erinnerung« 
ist;  auch  ihm  umfaßt  deshalb  diese  Methode  der  Widersprüche 
zugleich  die  Logik  und  die  Metaphysik.     Der  Gedankengehalt,  den 


Dialoktinchn  Moiliode.  H27 

er  in  dieser  Methode  darstellte,  und  den  spüter  seine  » Philosoph ir 
des  Lebens^  (1828)  und  seine  »Philosophie  der  Geschichte«  (1829) 
aus«>eführt  liaben,  ist  wesentlich  mystisch -rclij^iösen  Charakters. 
Er  sucht  zu  zeigen,  wie  das  Un(.*ndliche  durch  die  dialektische 
Notwendigkeit  sich  in  das  Endliche  verwandelt,  wie  dies  Endliche 
in  dem  sündigen  Menschen  die  volle  Negation  des  Unendlichen 
ausmacht,  und  wie  der  ganze  Prozeß  der  Geschichte  darin  bisteht, 
daß  das  Endliche  wieder  zum  Unendlichen  zurückkehrt  und 
schließlich  darin  aufgeht,  —  eine  Wendung,  die  teils  an  den 
Spinozismus  Schleiermachers,  teils  an  die  letzten  Lehren  von 
ScheUiug  erinnert  und  bei  Schlegel  auch  theoretisch  zu  dem  Ge- 
danken führte,  daß  die  Unterwerfung  des  Individuums  unter  d^ 
positive  göttliche  Gesetz  dessen  höchste  und  letzte  Aufgabe  sei^ 

Den  Abschluß  aller  dieser  Bestrebungen  bildet  Hegels  dia- 
lektische Methode.  Das  Schema  der  »Dreieinigkeiten«,  wie 
es  Schlegel  genannt  hatte,  erscheint  hier  lediglich  als  die  logische 
Triplizität  von  Position,  Negation  und  Aufhebung  des  Wider- 
spruchs; aber  diese  Aufhebung  wird  nicht  etwa  so  gedacht,  daß 
sie  allein  die  Wahrheit  sei  und  die  vorangegangenen  Momente 
der  Thesis  und  Antithesis  widerlege,  sondern  so,  daß  alle  drei 
die  notwendigen  und  realen  Entwicklungsformen  der  Wahrheit 
sind.  Die  Widersprüche  sind  das  Wesen  der  Wirklichkeit,  aber 
die  Wirklichkeit  enthält  zugleich  ihre  Versöhnung.  Jeder  Be- 
griff schlägt  mit  metaphysischer  Notwendigkeit  in  sein  Gegenteil 
um,  aber  aus  der  Syn thesis  der  Gegensätze  ergibt  sich  der  höhere 
Begriff  ihrer  Vereinigmig ;  daran  enfaltet  sich  wieder  derselbe 
Prozeß,  und  dieser  geht  so  lange  fort,  bis  die  abschließende  und"^ 
höchste  Synthese  gewonnen  worden  ist.  Dieser  Prozeß  ist  aber 
nicht  nur  derjenige  des  philosophischen  Denkens,  sondern,  da  der 
"Geist  und  der  "Begriff  das  Wesen  der  Dinge  ausmacht,  so  ist  er 
zugleich  die  reale  Entwicklmig,  worin  der  Geist  aus  sich  selbst 
das  Universum  erzeugt  und  dadurch  zu  sich  selbst  kommt.  Die 
Entwicklung  der  Begriffe  ist  also  zugleich  Logik  und  Metaphysik. 
Die  notwendigen  Formen,  welche  der  Geist  in  dieser  seiner  inneren 
Dialektik  erzeugt,  sind  die  Kategorien  der  Wirklichkeit.  Alle 
Stufen  dieses  Prozesses  gelten  für  Hegel  nicht  mehr  als  subjektive, 
sondern  als  objektive  Erscheinmigen.  Die  Unendlichkeit  der  Dinge 
in   ihrer   dialektischen   Stufenfolge  ist   die  Selbsterscheinung   des 


328  Hegel. 

absoluten  Geistes,  dessen  Wesen  es  ist,  sich  in  sich  selbst  zu  ent- 
zweien und  aus  der  Zerrissenheit  zu  sich  zurückzukehren. 

Trotz  der  Veränderung  der  Terminologie  erweist  sich  doch 
dieser  Grundgedanke  des  Hegeischen  Systems  offenbar  als  eine 
Assimilation  der  aristotelischen  Metaphysik  durch  den  Fichte- 
schen Idealismus.  Der  aristotelische  Begriff  der  Entwicklung 
beherrscht  die  Lehre  Hegels  in  noch  viel  tieferem  Sinne  als 
diejenige  von  Leibniz*).  Der  göttliche  Geist  enthält  in  seinen 
Kategorien  die  ideelle  Möglichkeit  aller  Dinge,  und  der  ganze 
Weltprozeß  besteht  darin,  daß  diese  Möglichkeit  in  den  Gestalten 
von  Natur  mid  Geist  ihre  Verwirklichung  findet,  so  daß  erst 
damit  die  Idee  selbst  zur  vollkommenen  Wirklichkeit  (Entelechie) 
wird.  Aber  diese  Verwirklichung  ist  nun  selbst  wieder  nichts 
anderes  als  das  wahre  und  ursprüngliche  Wesen  des  göttlichen 
Geistes. 

Hierauf  beruht  zunächst  die  dreigliedrige  Haupteinteilung  des 
Hegeischen  Systems.  Die  Erkenntnis  des  absoluten  Geistes,  wie 
er  »an  sich«  ist  (oder  der  »Idee  an  sich«),  und  der  in  ihm  selbst 
liegenden  Notwendigkeit  der  dialektischen  Entwicklung  enthält 
die  Logik,  in  deren  System  selbstverständlich  bereits  alle  die- 
jenig^Si  Entwicklungsformen  eine  entsprechende  Stelle  finden, 
welche  in  den  beiden  anderen  Teilen  besonders  ausgeführt  werden. 
Der  Geist  in  seinem  »Anderssein«,  der  Geist,  wie  er  »für  sich« 
als  ein  Gegebenes  und  Äußerliches  erscheint,  ist  die  Natur.  Neben 
die  Naturphilosophie  tritt  endlich  als  dritter  Teil  die  Geistes- 
philosophie als  die  Lehre  von  den  Formen,  in  welchen  derGeist 
»an  und  für  sich«  sich  selbst  erfaßt  und  seine  notwendige  Ent- 
wicklung  vollendet.  Jeder  dieser  Teile  gliedert  sich  dann  wiederum 
nach  dem  triadischen  Prinzip  der  Dialektik,  und  dies  Schema 
ist  von  Hegel  mit  der  äußersten  Kunst  bis  in  das  einzelnste 
durchgeführt  worden.  Mit  der  äußersten  Kunst:  —  aber  auch 
mit  der  äußersten  Künstlichkeit,  mit  einem  Virtuosentum  der 
begrifflichen  Konstruktion  und  einer  scholastischen  Schematisierung, 
die  hin  und  wieder  sich  in  Nomenklatur  verliert  und  dabei  an 
die  triadischen  Ketten  erinnert,  in  denen  der  letzte  der  Neu- 
platoniker,  Proklos,  die  Gedankenperlen  der  antiken  Philosophie 

♦)  Vgl.  Bd.  I  dieses  Werkes  S.  482  f. 


Prin/ip  der  Kntwioklun^.  329 

aufj^creilit  hat.  Die  (lialoktisclic,  MctlnKlo  lo«^tc  dem  Stoff  der 
Krkoinitiiis  rinen  Zwiiu;^'  auf,  dein  sich  dieser  oft  nur  mit  wcsent- 
hchon  Verlusten  und  iniiner  nur  durch  die  bewunderungswürdige 
Kombinat ionsgabe  Hegels  fügte.  Seine  Voraussetzung,  daß  das 
logische  (Jesetz  der  Dialektik  das  Weltgesetz  sei,  und  daß  der 
menschliche  (Jeist  wie  den  Mut  so  auch  die  Kraft  habe,  die 
logische  Gliederung  des  Weltinhaltes  zu  verstehen,  ließ  ihn  seine 
Gedanken veibindungen  in  den  Stoff  des  menschlichen  Wissens 
hineindenken,  auch  wo  sich  dieser  gegen  die  Schematisierung 
sträubte.  Darum  ist  sein  ganzes  System  wesentlich  konstruktiver 
Natur.  Er  besitzt  geringe  Achtung  vor  dem  empirischen  Wissen 
und  verwendet  es  nur  willkürlich,  um  es  in  das  Fächerwerk  der 
dialektischen  Gliederung  hineinzustecken  und  dann  als  ein  Produkt 
der^  Selbstbewegung  des  Geistes  daraus  hervorspringen  zu  lassen. 
Dadurch  entsteht  der  Schein,  als  erzeuge  die  dialektische  Methode 
all  das  Wissen,  welches  die  besonderen  Wissenschaften  in  ihrer 
Weise  empirisch  gewonnen  haben,  aus  sich  von  neuem,  und  al-5 
drohe  sie,  die  übrigen  Disziplinen  überflüssig  zu  machen  und  in 
die  Philosophie  aufgehen  zu  lassen.  In  W^ahrheit  steht  die  Sache 
ganz  anders.  Nicht  ein  einziger  Inhalt  des  positiven  Wissens 
ist  von  der  dialektischen  Methode  erzeugt  worden,  und  es  konnte 
von  ihr  nichts  erzeugt  werden.  Ihre  scheinbare  Fruchtbarkeit 
beruht  auf  einer  Kryptogamie  mit  dem  empirischen  Wissen.  So 
konnte  es  sich  denn  später  ereignen,  daß  der  eine  oder  andere 
der  näheren  oder  ferneren  Schüler  von  Hegel,  wie  z.  B.  W^eiße, 
den  sachhchen  Gehalt  dieser  Lehre,  mit  dem  Hegel  oft  so  tief 
gedrungen  war,  allein  ohne  die  Methode  darzustellen  versuchte, 
und  daß  der  Gegenstand  dabei  zu  vieler  Erstaunen  nicht  nur 
nichts  verlor,  sondern  eher  noch  gewann.  Der  eigentliche  Sinn  der 
Methode  ist  also  nur  der,  die  gesamte  Welterkenntnis,  welche 
die  übrigen  Wissenschaften  in  ihrer  besonderen  Weise  gewonnen 
haben,  in  ihrem  letzten  logischen  Zusammenhange  und  als  die 
gemeinsame  Entwicklung  des  absoluten  geistigen  Weltgrundes  zu 
verstehen,  und  durch  das  logische  Schema  begreiflich  zu  machen, 
weshalb  der  absolute  Weltgrund  sich  gerade  in  denjenigen  Formen 
entwickelt  hat,  welche  die  Erkenntnis  der  übrigen  Wissenschaften 
als  die  wirklichen  konstatiert  hat.  Die  dialektische  Methode  ver- 
folgt das   absolute  Ideal  alles  menschlichen  Wissens;   sie  ist  der 


330  Hegel. 

Versuch,  zu  begreifen,  weshalb  die  Welt  so  ist,  wie  sie 
sich  vor  unserer  empirischen  Erkenntnis  darstellt,  und 
sie  glaubt  diese  Aufgabe  dadurch  zu  lösen,  daß  sie  die  Welt  als 
die  notwendige  Entwicklung  des  göttlichen  Geistes  betrachtet 
und  die  Stelle  und  den  Wert  angibt,  die  innerhalb  dieser  Ent- 
wicklung jeder  einzelnen  Lebensform  des  Universums  gebühren. 
Es  handelt  sich  darum,  daß  der  Satz,  worin  Philosophie  und 
Religion  einig  sind,  wenn  sie  die  Welt  als  ^'Erzeugnis  des  gött- 
lichen Gcistes'^betrachten,  nicht  bloß  behauptet,  sondern  begriffen 
und  bewiesen  werden  soll.  Die  Grundidee,  daß  ein  spekulatives 
Denken  aus  dem  Begriff  des  Ganzen  diejenigen  seiner  Teile  müsse 
konstruieren  können,  hatte  zur  Handhabung  ihrer  Methode  eben 
nur  die  Momente  der  logischen  Kontradiktion  als  der  einzigen 
rein  formalen  Disjunktion,  und  diesem  Schema  der  Gegensätze 
mußten  deshalb  die  Verschiedenheiten  des  empirischen  Inhalts  als 
ihre  selbstverständlichen  Vertreter  untergeschoben  werden. 

Gewiß,  dieser  Versuch  Hegels  ist  gescheitert,  wie  denn  über- 
haupt dies  Ideal  zu  denjenigen  Kants  und  Fichtes  gehören  möchte, 
deren  Wesen  die  Uneifüllbarkeit  involviert;  aber  es  ist  ebenso 
seicht  wie  billig,  sich,  wie  es  lange  Mode  gewesen  ist,  über  Hegel 
lustig  zu  machen,  der  an  der  Lösung  dieser  Aufgabe  mit  aller 
Kraft  eines  reichen  und  gewaltigen  Geistes  gearbeitet  hat.  Denn 
nur  nüt  einer  universalistischen  Bildung  und  mit  der  lebendigsten 
Verarbeitung  alles  menschlichen  Wissensstoffes  konnte  jemand  sich 
dieser  Aufgabe  unterziehen.  Die  Voraussetzung  für  die  Durch- 
führung der  dialektischen  Methode  war  die  kolossale  Poly- 
historie,  welche  Hegel  in  der  Tat  besaß.  Sie  bezog  sich  zwar 
auch  auf  die  Naturwissenschaften,  aber  in  eminentem  Sinne  auf 
das  historische  Wissen,  und  sie  beschränkte  sich  in  dieser  Richtung 
nicht  auf  die  Massenhaftigkeit  der  gelehrten  Kenntnisse,  sondern 
sie  zeigte  sich  vor  allem  in  der  außerordentlichen  Feinfühligkeit, 
womit  Hegel  das  Wesen  der  historischen  Erscheinungen  auf  allen 
Gebieten  des  menschlichen  Lebens  zu  durchdringen  vermochte. 
Mit  wahrhaft  genialer  Auffassung  verstand  er  es,  die  wesentlichen 
Züge  der  geschichtlichen  Tatsachen  herauszuheben,  und  seine 
historischen  Konstruktionen,  so  sehr  sie  auch  im  einzelnen  manch- 
mal mit  der  Chronologie  im  Hader  leben  mögen,  sind  doch  überall 
durch  das  reifste  Verständnis  für  die  innere  Bedeutung  der  ein;':elneu 


KiiiiRt  dei  SyslcmatiBicrent.  H31 

Erschcinun^'on  ausgezoiclmot  und  jj;oradc  dadurch  hcsc^iidcT«  frucht- 
bar geworden.  Und  iibcr  diesem  ganzen  Stoff  der  KenntniHKe 
waltet  n\in  Hegels  (Jeist  mit  einer  souveränen  Freiheit;  er  weiß 
sie  mit  unnachahmlicher  Sicherheit  seiner  systematischen  Gliederung 
einzufügen  und  die  {Bedeutung  der  empirischen  Erscheinungen 
g(Made  durch  die  Stellung  klar  zu  machen,  die  er  ihnen  in  seiner 
Konstruktion  des  (umzen  anweist.  Das  Bewunderungswürdigste 
an  ihm  ist  die  Beherrschung  seines  eigenen  Wissens  durch  die 
dialektische  Behandlung,  die  zähe  Energie,  die  er  in  der  logischen 
Formulierung  des  empirischen  Details  betätigt,  und  die  unver- 
gleichliche Kunst  der  Systematisierung,  womit  er  den  ganzen 
Uedankeniichalt  seiner  Zeit  aus  einem  Gusse  zu  entwickeln  wußte. 
Hierin  mehr  als  in  der  Originalität  besonderer  Lehren  hat  der 
Zauber  bestanden,  den  seine  Persönlichkeit  auf  die  von  der  uni- 
versalistischen Tendenz  getragene  Bildung  seiner  Zeit,  und  den 
seine  Philosophie  auf  alle  Wissenschaften  und  besonders  auf  die 
Instorischen  ausgeübt  hat.  In  ihm  waltete  siegreich  der  wahrhaft 
philosophische  Geist,  der  alles  Besondere  aus  dem  Ganzen  ver- 
stehen und  in  seinem  Werte  für  das  Ganze  beurteilen  will.  Sein 
System  ist  auf  dem  Gebiete  der  Wissenschaft  das  reife  Produkt 
jener  universalistischen  Bildung,  wie  es  die  Goethesche  Dichtung 
in  der  schönen  Literatur  ist.  Dies  ist  endlich  auch  seine  Stellung 
in  der  Entwicklung  der  idealistischen  Philosophie.  Seine  Lehre 
bildet  ihren  Abschluß,  indem  sie  alles  Bedeutende,  was  von  Kant 
an  darin  erzeugt  worden  ist,  in  ein  großes  System  zusammenfaßt. 
Was  Hegel  in  den  einzelnen  Teilen  seiner  Philosophie  lehrt,  be- 
rührt sich  mehr  oder  minder  mit  den  verschiedenen  Theorien  der 
idealistischen  Richtung ;  was  er  hinzufügt,  ist  überall  die  direkte 
Anknüpfung  an  den  Plan  des  Ganzen  mid  die  Ableitung  durch 
die  einheitliche  Methode.  Er  ist  der  größte  Systematisator,  den 
die  Philosophie  je  gesehen  hat,  und  in  seinem  Systeme  vereinigen 
sich  alle  Grundlehren  des  deutschen  Idealismus  zu  einem  ge- 
schlossenen Ganzen,  das  in  der  Symmetrie  seines  Baues  und  in 
der  Herrschaft  des  methodischen  Gesetzes  über  den  Inhalt  der 
Erkenntnisse  die  vollkommenste  Ausführung  der  ästhetischen 
Forderung  ist,  die  in  der  ideaUstischen  Entwicklung  waltete. 

Diesem  Systeme  selbst  hat  Hegel  ein  Präludium  vorangeschickt, 
durch    welches    er    es    einführen    und    vorbereiten    wollte.      Die 


332 


Hegel. 


dialektische  Methode  setzt  keine  intellektuelle  Anschauung  des  Genies 
voraus,  sie  will  eine  rein  wissenschaftliche  und  deshalb  von  jedem 
zu  erwerbende  Form  der  Erkenntnis  sein.  Aber  sie  bewegt  sich 
auch  nicht  in  der  Art  des  landläufigen  Denkens,  und  ihr  Stand- 
punkt muß  deshalb  erst  aus  diesem  heraus  entwickelt  werden. 
Das  menschliche  Denken  steht  nicht  von  selbst  in  seiner  natür- 
lichen Ursprünglichkeit  auf  dem  philosophischen  Standpunkte;  es 
hat  ihn  erst  in  der  historischen  Entwicklung  gewonnen,  und  es 
muß  jeden  Augenblick  neu  dazu  herangebildet  werden.  Diese 
Entwicklung  des  philosophischen  Standpunktes  aus  dem  gemeinen 
Bewußtsein  ist  für  den  Dialektiker  nur  dadurch  möglich,  daß  die 
Widersprüche  aufgedeckt  werden,  die  in  dem  gemeinen  Bewußt- 
sein enthalten  sind,  und  daß  durch  die  innere  Nötigung  darin 
der  philosophische  Standpunkt  als  der  einzig  übrig  bleibende  dar- 
getan wird.  Es  gibt  eine  philosophische  Vorbereitungs Wissenschaft, 
welche  den  Geist  von  seiner  gewöhnlichen  Gestalt  aus  durch  die 
xlufzeigung  seiner  Widersprüche  von  Stufe  zu  Stufe  drängt  und 
ihn  schließlich  auf  den  philosophischen  Standpunkt  führt.  Diese 
Lehre  von  den  Erscheinungsformen^_wejche_das_Wissen  durch- 
machen muß,  um  vom  gemeinen  Bewußtsein  sich  bis  zur  Philo- 
sophie zu  erheben,  ist  die  Phänomenolofrie  des  Geistes. 
Dies  Werk  verfehlt  nun  freilich  seinen  Zweck,  aus  dem  populären 
in  das  philosophische  Denken  hinüberzuleiten,  so  vollständig  wie 
nur  möglich.  Denn  sein  Verständnis  setzt  nicht  etwa  nur  das 
Interesse  und  die  allgemeine  Fähigkeit  philosophischer  Überlegung 
voraus,  sondern  es  ist  geradezu  das  schwierigste  von  allen  Werken, 
welche  in  der  gesamten  Literatur  der  Philosophie  je  geschrieben 
worden  sind.  Ein  platonischer  Dialog  und  die  Kritik  der  reinen 
Vernunft  sind  eine  leichte  Lektüre  gegenüber  den  Anforderungen, 
welche  diese  Einführung  in  die  Hegeische  Philosophie  an  das  Ver- 
ständnis des  Lesers  stellt.  Fragt  man  nach  dem  Grunde  dieser 
merliwürdigen  Erscheinung,  so  liegt  er  nicht  nur  in  der  formellen 
Schwierigkeit,  welche  dies  Buch  mit  allen  anderen  seines  Ver- 
fassers teilt,  sondern  vor  allem  in  seinem  eigentümlichen  und  ganz 
unvergleichhclien  Inhalte.  Der  Übergang  nämlich  vom  gemeinen 
zum  philosophischen  Bewußtsein  ist  zunächst  als  eine  erkenntnis- 
theoretische Notwendigkeit  aufzufassen,  in  der  die  Motive  ent- 
wickelt   werden   sollen,   durch   welche  das  Denken  von  Stufe   zu 


Phünomenolüßio.  3H3 

Siufo  weitciriu'kon  imiß,  bi«  c«  auf  (l<'iii  pliilosopliisclicn  Süind- 
punktc  «eine  \\\\\ic  findet.  Aber  dieser  l'rozeü  i8t(  nach  Jlc^ela 
Cberzeugunif)  zu^leicli  der  Entwicklun;^^H«^an«^',  den  jedes  indivi- 
duelle Denken  als  eine,  wenn  aueh  nocli  so  unvollkonnncne  Mani- 
festation des  Weltgeiötcs  mit  psychologischer  Notwendigkeit  durch-/ 
niaclit.  Doch  damit  ist  es  nicht  genug.  Für  Hegel  wie  für 
iSchelling  gilt  auch  auf  dem  geistigen  Gebiete  das,  was  die  heutige 
organische  Naturforschung  das  biogenetische  Grundgesetz  nennt, 
die  Annahme  nämlich,  daß  die  Entwicklung  des  Individuums  und 
diejenige  der  Gattung  einen  analogen  Gang  zeigen.  Infolgedessen 
muß  der  Prozeß,  um  dessen  Darstellung  es  sich  in  der  Phänome- 
nologie handelt,  sich  auch  in  der  wissenschaftlichen  Entwicklung 
der  menschlichen  Gattung,  d.  h.  in  der  Geschichte  der  Philosophie/  ]/ 
und  der  besonderen  Wissenschaften  wiederfinden.  Endlich  aber, 
da  alles  geistige  Leben  einheitlich  ist,  enthält  diese  Entwicklung 
auch  den  ideellen  Spiegel  der  allgemeinen  Kulturbewegung,  und{  W 
auch  in  deren  Phasen  müssen  sich  somit  die  Stufen  jenes  Pro-^ 
zesses  wiedererkennen  lassen. /Freilich  ist  das  in  der  Phänome- 
nologie noch  nicht  im  Sinne  cmes  totalen  Parallelismus,  aber  doch 
so  zu  verstehen,  daß  die  dialektisch  und  psychologisch  kon- 
struierten Übergänge  und  Zusammenhänge  ihr  Abbild  und  ihre 
Illustration  in  einzelnen  Gesamterscheinungen  der  Geschichte  und 
in  deren  Beziehungen  finden.  So  erweitern  sich  die  logischen  Ge- 
bilde zu  w^eltgeschichtlichen  Gestalten.  Diese  mehrfache  Analogie 
erweist  sich  nun  als  überaus  fruchtbar,  indem  die  verschiedenen 
Formen,  in  denen  derselbe  Grundprozeß  obwaltet,  einander  er- 
leuchten mid  verständlich  machen,  und  sie  bliebe  auch  vollkommen 
ungefährlich,  wenn  die  verschiedenen  Fäden,  deren  analoger  Ver- 
lauf die  Voraussetzung  bildet,  auseinandergehalten  oder  auch  nur 
in  ihrer  Verschlingung  sorgfältig  verfolgt  und  genau  bezeichnet 
würden.  Aber  das  ist  nun  gerade  nicht  der  Fall;  sondern  Hegel 
bewegt  sich  vielmehr  vollkommen  frei  und  ohne  ausdrückliche  ^ 
Bezeichnung  fortwährend  von  dem  einen  auf  das  andere  Gebiet. 
Unmerkhch  und  unvermittelt  versetzt  er  den  Leser  aus  der  er- 
kenntnistheoretischen bald  in  die  Esj;cholog;ische,  bald  in  die  phi- 
losophiegeschichtliche, bald  in  die  kultuAist()ijsche  Linie,  und 
dieser  Wechsel  der  Betrachtung  wird  nie  sichtbar  gemacht,  sondern 
vielmehr  absichtlich  verdeckt.   So  bildet  die  Phänomenologie  ein  bunt- 


334  Hegel. 

ßchillerndes  Gewebe  dieser  verschiedenen  Fäden,  dessen  Eindruck 
zuerst  derjenige  einer  absoluten  Verwirrung  ist.  Wer  in  dies 
Buch  hineinkommt,  muß  zuerst  glauben,  er  tappe  wie  im  Nebel 
herum;  denn  er  weiß  nie,  auf  welchem  Gebiete  der  Untersuchung 
er  sich  eigentlich  befindet,  und  jede  Gestalt,  die  er  erfaßt  zu 
haben  glaubt,  verwandelt  sich  sogleich  wieder  in  eine  ganz  anders- 
artige und  verquirlt  in  eine  Unbestimmtheit,  in  der  man  nirgends 
festen  Fuß  fassen  kann.  Es  steckt  in  diesem  Buche  ein  geradezu 
unerschöpfHcher  Quell  von  Geist  und  von  Wissen.  Gerade  hier 
betätigt  Hegel  die  Grvoßartigkeit  des  historischen  Blickes,  mit  dem 
er  die  charakteristische  Eigentümlichkeit  der  geschichtlichen  Er- 
scheinungen aufzufassen  wußte ;  aber  diese  tiefe  Weisheit  ist  oft  in 
so  überfeine  Anspielungen  und  Andeutungen  »hineingeheinmisst«, 
daß  die  schärfste  Aufmerksamkeit  und  das  reichste  Wissen  dazu 
gehören  würden,  sie  alle  zu  verstehen.  Das  Geschlecht,  welches 
dem  Reichtum  dieses  Werkes  gewachsen  war,  stirbt  aus,  und 
schon  jetzt  dürften  diejenigen,  die  es  auch  nur  von  Anfang  bis 
zu  Ende  gelesen  haben,  zu  zählen  sein.  Um  so  dankbarer  ist  es 
zu  begrüßen,  daß  Kuno  Fischer  in  seiner  Darstellung  Hegels  eine 
glänzende  und  glückliche  Analyse  der  Phänomenologie  gegeben 
hat,  worin  er  mit  seiner  gewohnten  Klarheit  den  Entwicklungs- 
gang des  Ganzen  deutlich  herausgestellt  und  die  einzelnen  Zu- 
sammenhänge ebenso  wie  die  besonderen  Gestalten  erleuchtet  hat. 
Auf  diese  ausführliche  Entwicklung  muß  der  moderne  Leser  an 
dieser  Stelle  verwiesen  werden. 

Die  Konstruktion  der  Phänomenologie  folgt  dem  Leitfaden, 
daß  die  Reflexion  zeigt,  wie  auf  jeder  Stufe  das  Bewußtsein  in 
Wahrheit  etwas  ganz  anderes  ist,  als  es  zu  sein  glaubte,  daß 
daher  jedesmal  die  folgende  Stufe  das  volle  Bewußtsein  des  wahren 
Inhaltes  der  vorhergehenden  ist,  und  daß  dieser  Prozeß  erst  da 
endet,  wo  in  der  Philosophie  das  Bewußtsein  sich  mit  seinem 
eigenen  Inhalte  vollkommen  identisch  weiß.  Drei  Hauptstufen 
\  werden  in  dieser  Entwicklung  von  Hegel  unterschieden.  Der 
/  /         primitive  Zustand   des   gegenständlichen  Bewußtseins,    welcher 

/  mit  der  Gewißheit  der  sinnlichen  Empfindung  beginnt,  leitet  durch 

den  Prozeß  der  Wahrnehmung  und  der  verstandesmäßigen  Auf- 
fassung der  Dinge  hindurch  bis  zum  individuellen  Selbstbewußt- 

-^1       sein.     Dieses  wirkt  zuerst  im  Gegensatz  zur  Außenwelt  als   das 


riiilnoincnologio.  335 

zcrstörciulo  iiiul  daiui  als  da.s  «^ostaltciRlo  uihI  HolHipferisclic  Selbst; 
OS  ziolit  sk'li  aus  dw  foindlichon  Aulionwolt  in  Hoine  Freiheit,  in 
don  .stoischen  Trotz  seiner  lJnan;;reifharkeit  zurüek,  aber  ch  ver- 
zweifelt scldießlieli  an  sich  selbst  und  unterwirft  sich  der  hi- 
storischen Autorität.  So  «^ewituit  es  den  Übcr;2an<c  zur  Kntwicklun:^ 
der  Vernunft,  die  auf  dem  Ikwußtscin  der  (Jemcinschaft  berulit.  J y 
Diese  höchste  Stufe  entwickelt  Ifejj^el  wieder  in  drei  Formen.  Die 
erste  ist  das  vernünftige  Selbstbewußtsein,  welches  als  L'\j 
beobachtende  Vernunft  Gesetze  der  objektiven  Welt  sucht,  aber 
in  der  Erkenntnis,  daß  es  nur  überall  seine  eigenen  Formen 
wiederfindet,  sich  in  das  praktisclie  Ich  verwandelt.  Dieses  be- 
ginnt damit,  die  Dinge  zu  genießen,  es  lernt  im  Schicksal  ihre 
Eitelkeit  verstehen  und  erhebt  sich  als  Tugend  darüber,  um 
schließlich  einzusehen,  daß  auch  in  jenem  Weltlaufe  die  höchste 
Vernunft  waltet,  und  sich  dieser  objektiven  Macht  unterzuordnen. 
So  verwandelt  sich  das  vernünftige  Selbstbewußtsein  in  den  sitt-  7^^  ~7 
liehen  Geist.  Dessen  reine  Form  ist  das  griechische  Leben  mit 
seinem  Aufgehen  des  Individuums  in  die  staatliche  Gemeinschaft. 
Aber  auch  hier  bricht  der  Konflikt  des  Individuums  mit  der 
Gattung  aus.  Das  Allgemeine  triumphiert  als  das  ungeheure 
Selbstbewußtsein  des  universellen  Eechts ;  und  wieder  bäumt  sich 
das  Individuum  gegen  die  Allgemeinheit  auf:  es  entsteht  der 
Kampf  der  Bildung  und  des  Glaubens,  welcher  das  Bewußtsein 
zerreißt  und  als  Aufklärung  zum  absoluten  Terrorismus  führt,  bis 
die  moralische  Weltanschauung  die  widerspruchsvolle  Dialektik 
der  banalen  Nützlichkeit  und  der  sittlichen  Genialität  entwickelt, 
um  in  der  Religion  ihre  Vollendimg  zu  finden.  Diese  als  die  Z>  J 
dritte  Form  der  Vernunft  verfolgt  die  Phänomenologie  durch  die 
dreifache  Entw'icklung  als  Naturreligion,  Kunstreligion  und  ge- 
offenbarte Religion,  um  schließlich  zu  zeigen,  daß  die  Einheit 
aller  endlichen  Dinge  mit  dem  miendlichen  Geiste,  die  auf  dem 
religiösen  Standpunkte  nur  vorgestellt  w^ird,  in  ihrer  Notwendig- 
keit begriffen  werden  muß,  und  daß  dies  die  Aufgabe  der  Philo- 
sophie ist,  für  deren  kunstvolle  Komposition  die  Phänomenologie 
nur  die  Ouvertüre  bildet. 

Es  konnte  hier  nur  durch  diese  kurzen  Sätze  angedeutet  werden, 
wie  in  der  Phänomenologie  alle  Motive  der  Hegeischen  Lehre  be- 
reits kräftiger  oder  leiser  anklingen,  und  wie  aus  ihr  die  Stimmen 


i 


336  Hegel. 

der  Weltgeschichte  in  wechsehidem  Rhythmus  ertönen.  Sie  er- 
scheinen durchaus  nicht  in  chronologischer  Reihenfolge.  Je  nach 
der  Verwandtschaft,  welche  sie  zu  der  einzelnen  dialektisch  kon- 
struierten Entwicklungsstufe  besitzen,  treten  bunt  durcheinander 
die  Gestalten  der  antiken  Welt,  des  Mittelalters  und  der  modernen 
Kultur  auf,  und  Hegels  Absicht  ist  nur  die,  zu  zeigen,  daß  aus 
der  Fülle  aller  dieser  Gestaltungen  heraus  die  philosophische  Er- 
kenntnis sich  als  die  Selbsterfassung  des  absoluten  Geistes  ent- 
wickeln müsse,  der  in  allen  diesen  Formen  die  verschiedenen 
Seiten  seines  Wesens  ausgelebt  und  den  Reichtum  seiner  Inner- 
lichkeit entfaltet  hat.  Jenes  Bewußtsein,  welches  Schiller  pro- 
klamiert hatte,  daß  die  moderne  Kultur  in  der  Zusammenfassuni]j 
und  Ausgleichung  der  früheren  Lebensformen  der  Menschheit  be- 
stehe, jene  Aufgabe,  welche  die  Goethesche  Dichtung  in  ihren 
reifsten  Erzeugnissen  löste,  erscheint  bei  Hegel  als  das  Problem 
der  Philosophie.  Sie  soll  alles,  was  der  menschliche  Geist  in 
seiner  Entwicklung,  die  auf  sie  hinzielt,  durch  alle  Formen  seiner 
Betätigung  erzeugt  hat,  in  seiner  tiefsten  Bedeutung  verstehen 
und  zu  einem  Systeme  der  Welterkenntnis  dadurch  zusammen- 
fassen, daß  sie  alle  diese  Produkte  als  die  notwendigen  Ent- 
wicklungsformen des  Weltgeistes  begreift.  Wie  Schiller  die  ästhe- 
tischen Begriffe  aus  einer  geschichtsphilosophischen  Konstruktion 
gewann,  so  will  Hegel  in  umfassenderer  Weise  die  gesamte  Philo- 
sophie aus  dem  Zusammenhange  der  historischen  Entwicklung  des 
menschlichen  Geistes  herausbilden.  Das  menschliche  Selbst- 
bewußtsein ist  der  zu  sich  selbst  gekommene  Weltgeist,  die  Ent- 
faltung des  menschlichen  Geistes  ist  die  bewußte  Selbstcrfassung 
des  Weltgeistes,  und  das  Wesen  der  Dinge  ist  aus  dem  Prozeß 
zu  verstehen,  den  der  menschliche  Geist  durchgemacht  hat,  um 
seine  eigene  und  um  damit  die  Organisation  des  Universums  zu 
begreifen.  Die  Hegeische  Philosophie  betrachtet  sich  selbst  als 
das  Selbstbewußtsein  der  gesamten  Kulturentwicklung  der  mensch- 
lichen Gattungsvernunft,  und  sie  sieht  in  dieser  zugleich  das  Selbst- 
bewußtsein des  in  die  Welt  sich  entwickelnden  absoluten  Geistes. 
Damit  wird  diese  Philosophie  auf  der  einen  Seite  zu  einer  durch- 
aus historischen  Weltanschauung,  auf  der  andern  Seite 
aber  gerät  sie  in  eine  vollkommen  anthropozentrische  Welt- 
betrachtung hinein,  indem  sie  die  Entwicklung  des  menschlichen 


^ 


(icistcs  als  (licjciii^c  des  » WoltjjjoiHtos«  ansioht.  So  zieht  Hc^el 
die  letzte  Konsiniueiiz  daraiiH,  daß  das  IV)stulat  der  Identität 
von  Denken  und  Sein  die  Organisation  der  menschlichen  Vernunft, 
die  für  Kant  den  urs[)iünglichen  Gegenstand  der  philosophischen 
biikenntnis  bildet-o,  in  die  Organisation  der  Weltvernunft  um- 
deutete: es  ist  die  äußerste  Folgerung  aus  der  Zertrümmerung 
des~Ding-an-sich-Begriffos,  die  Fichte  gelungen  war. 

Hegels  Logik  vollzieht  die  »Erhebung  der  Substanz  zum  Sub- 
jekt«, indem  sie  von  dem  absoluten  »Sein«  ausgeht,  um  bei  der 
»Idee«  zu  endigen  und  auf  diesem  Wege  das  gesamte  System  der  sj^^ 
Begriffe  durch  den  dialektischen  Fortschritt  zu  entwickeln.  Aber*^^^ 
die  Katogorien  sind  hier  nicht  mehr  die  Verknüpfungsformen  der 
Verstandestätigkeit  wie  bei  Kant,  sondern  vielmehr  die  objektiven 
Gestalten  des  AVeltlebens,  in  welches  sich  die  Idee  durch  ihre 
Selbstentwicklung  entfaltet.  Selbst  wo  jene  Verknüpfungsformen 
mit  denjenigen  der  formalen  Logik  oder  mit  Kants  transzenden- 
talen Begriffen  zusammenfallen,  da  gelten  sie,  wie  bei  Aristoteles, 
zudeich  als  die  realen  Gesetze  des  wirklichen  Geschehens.  So 
wird  diese  Lo^ik  zu  dem  »Schattenreich  der  Wirklichkeit«.  In 
der  Bewegung  des  abstrakten  Gedankens  erzeugen  sich  die  Schemen 
alles  realen  Lebens,  und  in  den  Evolutionen  dieses  Balletts  der 
Begriffe  soll  das  Abbild  des  gesamten  Weltprozesses  gefunden 
werden.  In  das  Element  der  Abstraktion  getaucht,  sollen  die 
reinen  Formen  alles  Daseins  vor  dem  geistigen  Auge  hervor- 
treten 

Der  erste  Teil  oder  die  Lehre  vom  Sein  beginnt  mit  diesem 
abstraktesten  aller  Begriffe,  verwandelt  ihn  in  denjenigen  des 
Nichts  und  findet  ihre  Verknüpfung  in  dem,  was  zugleich 
ist  und  noch  nicht  ist ,  im  Werden :  und  von  da  aus  gewinnt 
Hegel  durch  die  Kategorien  des  Daseins,  der  Qualität,  der  End- 
lichkeit und  Unendlichkeit,  der  Einheit  und  Vielheit,  der  Quan- 
tität und  des  Maßes  schließlich  den  Begriff  des  »Wesens«,  dessen 
Entwicklung  die  Aufgabe  des  zweiten  Teils  bildet.  Auf  diesem 
ganzen  Wege  ergibt  sich  aus  der  Betrachtung  der  Kategorien 
eine  stetige  Rücksicht  auf  die  Probleme  der  Naturphilosophie, 
welche  die  konkrete  Durchführung  dieser  Begriffe  im  empirischen 
Gebiete  zu  ihrer  Aufgabe  hat.  Die  Lehre  vom  Wesen  geht  von 
dem  Gegensatze  des  Wesens  und  des  Scheins  zu  den  Reflexions- 

Windelband,  Gesch.  d.  n.  Philos.   H.  22 


m 


338  Hegel. 

begriffen  über,  durch  die  jener  Gegensatz  aufgehoben  werden  soll, 
und  entwickelt  als  solche  die  Identität,  den  Unterschied,  den 
Widerspruch  und  den  Grund;  sie  erhebt  sich  sodann  durch  das 
Verhältnis  der  Erscheinung  und  der  Wirklichkeit  zum  Absoluten 
und  dadurch  zum  Gegensatze  von  Notwendigkeit  und  Zufällig- 
keit, der  in  die  Kategorien  der  Kausalität  und  der  Wechsel- 
wirkung ausmündet.  Der  dritte  Teil  enthält  die  »subjektive 
Logik«;  er  beginnt  mit  den  Lehren  vom  Begriff,  Urteil  und  Schluß 
und  führt  von  da  zur  Kategorie  der  Objektivität,  die  sich  als 
Mechanismus,  Chemismus  und  organische  Teleologie  entwickelt. 
Darüber  erhebt  sich  die  Idee  in  dem  Prozesse  des  Lebens,  dessen 
höchste  Formen  die  Erkenntnis  und  die  Moralität  bilden,  um  sich 
von  hier  aus  in  der  absoluten  Idee  zu  vollenden.  Es  ist  nicht 
möglich,  in  dieser  kurzen  Übersicht  die  Übergänge  zu  reproduzieren, 
welche  das  eigentliche  Wesen  des  dialektischen  Fortschritts  aus- 
machen; denn  der  Fortgang  des  Ganzen  ist  nicht  sowohl  durch 
begriffliche  Notwendigkeit,  als  vielmehr  durch  willkürliche  Asso- 
ziation und  durch  den  stetigen  Hinblick  darauf  bedingt,  daß 
der  Voraussetzung  nach  diese  Logik  schon  den  gesamten  Inhalt 
der  philosophischen  Erkenntnis  in  nuce  und  in  derselben  An- 
ordnung wie  das  ganze  System  enthalten  soll.  Daraus  ergibt  sich 
für  Hegel  die  Nötigung  oft  sehr  künstlicher  Vermittlungen,  die 
nur  im  ganzen  reproduziert  und  nicht  auf  eine  kurze  Formel 
gebracht  werden  können.  Es  kommt  hinzu,  daß  Hegels  schwierige 
Sprache  gerade  auf  diesem  Gebiete  der  Abstraktion  sich  in  die 
größte  Dunkelheit  verliert,  und  es  kann  dem  deutschen  Leser  von 
heute  nur  empfohlen  werden,  in  Kuno  Fischers  Darstellung  den 
Keichtum,  womit  Hegels  Geist  dies  System  der  Kategorien  ge- 
woben hat,  sich  bis  ins  einzelnste  deutlich  zu  machen;  wir  be- 
sitzen darin  jetzt  eine  Übersetzung  des  Hegeischen  AVerkes  in  das 
Verständnis  der  Gegenwart,  welche  den  zahlreichen  Versuchen 
dazu,  die  schon  früher  in  der  ausländischen,  namentlich  der  eng- 
lischen Literatur  gemacht  worden  waren,  weit  überlegen  ist.  Es 
steht  zu  hoffen,  daß  damit  die  Vorurteile,  unter  denen  Hegels 
Andenken  lange  gelitten  hat,  mehr  und  mehr  zerstreut  werden. 
Denn  sowenig  man  an  der  Konstruktion  des  Ganzen  festhalten 
mag,  so  hat  doch  noch  niemand,  der  diese  Logik  verstand,  es 
verkennen  können,  daß  eine  unendliche  Fülle  feinster  Wendungen 


und  ^ruinier  ^'ork^ii[)f^Illu»  ii  oft  (Irr  sclioinluir  lioirroirensfcn  DiriL'i' 
ila?iii  nitlialtiMi  ist,  wodurcli  fast  iih»MalI  auf  din  ve^cliiodcnstrn 
(icl)ir(o  (los  in('ns(hli(  licn  Wis-sons  iibcTraschciulc  SchlaL'lichtvr 
fallen.  Und  »j;ova(l(*  darin  bestand  die  Ixfruclitcndc;  Kraft,  mit 
d(^r  dioso  Loyik  auf  dic^  iil)ii<j;on  WiasrnHcliaftcn  g(^wirkt  hat.  Ho^^cIh 
Prinzip,  daß  die  Lo<i;ik  mit  den  F(^rmen  zut^Ieioh  auch  den  wert- 
vollsten Inhalt  der  Erkenntnis  zu  entwickeln  habe,  ist  <(ewiß  luch 
nicht  diejenige  Gestalt,  in  welcher  die  durch  Kants  transzenden- 
tale Analytik  begründete  »erkenntnistheoretischc  Logik«  bestehen 
bleiben  kann.  Aber  nur  durch  das  Festhalten  an  dem  Prinzip 
der  letzteren,  daß  alle  Denkformen  nur  in  der  Beziehung  auf  die 
Aufgaben  des  IfUialtcs  ihren  Sinn  haben,  kann  die  Logik  im  Zu- 
sammenhange mit  der  lebendigen  Wirklichkeit  der  menschlichen 
Erkennt nistätigkeit  bleiben.  Hegel  ist  nach  Aristoteles  und  Kant 
trotz  aller  Willkürlichkeiten  seiner  Konstruktion  der  größte  Logiker, 
den  die  Geschichte  gekannt  hat,  und  er  ist  wie  jene  beiden  anderen 
der  Beweis  dafür,  daß  eine  wahrhaft  originelle  und  schöpferische 
Behandlung  der  Logik  nur  für  denjenigen  möglich  ist,  der  mit 
reicher  wissenschaftlicher  Erfahrung  den  Ausblick  auf  die  gesamte 
Arbeit  der  menschlichen  Erkenntnis  gewonnen  hat. 

Am  wenigsten  originell  ist  Hegel  in  seiner  Naturphilosophie.  fj 
Er  folgt  hier  wesentlich  dem  allgemeinen  Schema  der  Schelling-  ^y 
sehen  Lehre,  verfährt  aber,  da  er  hier  am  w^enigsten  mit  seinem  ,r  ^ 
Interesse,  mit  semem  empirischen  Wissen  und  mit  der  Gewöh-  ^ 
nung  an  die  diesem  Gebiete  eigenen  Forschungs weisen  heimisch 
ist,  noch  viel  willkürlicher  und  konstruktiver  als  sein  Vorgänger. 
Und  doch  zeigt  sich  die  Tiefe  seiner  philosophischen  Einsicht 
gerade  auf  diesem  Gebiete  darin,  daß  er  die  Grenzen  der  ratio- 
nalen Deduktion,  die  es  nach  seinem  Prinzip  eigentlich  über- 
haupt nicht  geben  sollte,  in  der  Tat  zwar  nicht  ausdrücklich, 
aber  doch  indirekt  scharf  und  genau  bestimmt.  Die  Natur  ist 
der  Geist  oder  die  Idee  in  ihrem  Anderssein.  Dieser  alkemeine 
Charakter  und  scheinbar  auch  die  großen  Formen  dieses  Anders- 
seins lassen  sich  aus  Hegels  Begriff  des  Geistes  als  der  sich  ent- 
wickelnden Idee  ableiten,  weil  sie  im  Prinzip  schon  darin  an- 
gelegt sind.  Aber  in  der  Natur  ist  deshalb  überall  etwas  dem 
Geiste  Fremdes,  und  dessen  besondere  Eigentümlichkeit  läßt  sich 
nicht  deduzieren.    Daß  überhaupt  der  Geist  sich  in  diese  seine 

22* 


i 


A 


c/t^ 


340  •  Hegel, 

y  ' 

Äußerlichkeit  verwandelt,  liegt  nach  Hegel  in  seinem  Begriffe. 
Wie  aber  diese  Äußerlichkeit  im  besonderen  beschaffen  ist,  das 
folgt  aus  dem  Wesen  des  Geistes  nicht.  Wenn  die  Hegeische 
Lehre  als  die  Voraussetzung,  daß  alles  W^irkliche'^vernünftig^und 
als  solches '^erkennbar  sei,  ihrem  Prinzip  nach  den  äußersten 
Paulo gismus  enthält,  der  je  aufgestellt  worden  ist,  so  erkennt 
sie  in  der  Natur  selbst  die  Grenze  ihrer  Deduktion  an;  hier 
kann  auch  sie  nur  höchstens  die  allgemeinen  Formen  und  Ge- 
setze aus  der  absoluten  Vernunft  entwickeln,  und  sie  muß  zu- 
gestehen, daß  es  in  der  wirklichen  Natur  überall  einen  Rest 
gibt,  welcher  sich  gegen  eine  solche  Ableitung  sträubt  und  eine 
unerklärliche  Tatsache  bleibt,  ^gerade  wie  bei  Kant  die  »Affi- 
zierung«  durch  die  Dinge  an  sich  und  im  anderen  Ausdruck 
die  »Spezifikation  der  Natur«  oder  bei  Fichte  die  »gTundlosen« 
Handlungen  der  Selbstbeschränkung  des  Ich/\  Von  seinem  Stand- 
punkt aus  drückt  Hegel  dies  so  aus,  daß  die  Natur  ohnmächtig 
und  zu  schwach  sei,  die  Begriffsbestimmungen  nur  abstrakt  zu 
erhalten,  und  er  nennt  sie  deshalb  das  Reich  der  Zufälligkeit. 
Die  Anwendung  dieses  Terminus  deutet  wieder  auf  die  innige 
Verwandtschaft  hin,  die  zwischen  dieser  und  der  Aristotelischen 
Naturauffassung  besteht.  Auch  in  jenem  größten  System  der 
antiken  Philosophie  war  das  begriffliche  Verhältnis  des  Wesent- 
lichen und  des  Zufälligen  in  eine  metaphysische  Beziehung  um- 
gedeutet worden,  und  genau  so  gilt  auch  für  Hegel  die  dedu- 
zierbare Gesetzmäßigkeit  der  Natur  als  ihre  ideelle  Notwendigkeit 
und  dieser  gegenüber  die  tatsächUche  Besonderheit  nur  als  eine 
zufällige  Nebenbestimmung.  Die  letztere  aber  wird  von  Hegel 
ebenso  wie  von  Aristoteles  unter  den  teleologischen  Gesichtspmikt 
gebracht,  daß  ihr  Zweck  lediglich  der  sei,  die  ideelle  Notwendig- 
keit zu  realisieren,  ohne  daß  sie  jedoch  dieser  Bestimmung  voll- 
kommen genüge.  Die  Äußerlichkeit  soll  ja  schließlich  von  dem 
Geiste  selbst  gesetzt  sein,  damit  sein  Wesen  darin  zur  objek- 
tiven Erscheinung  kommt.  Die  besonderen  Stufen  dieses  teleo- 
logischen Prozesses  stellen  sich  nun  bei  Hegel  in  ganz  ähnlicher 
Weise  wie  bei  Schelling  dar.  Den  ersten  Teil  der  Naturphilo- 
sophie bildet  die  Mechanik,  welche  nach  der  Konstruktion  des 
Raumes,  der  Zeit  und  der  Synthesis,  die  beide  in  der  Bewegung 
finden,   die  Lehre  von  der  Materie,   der  Schwere  und  der  Trag- 


Naturpliilofiophio.  Hl  1 

hoit  entwickelt  und  mit  der  .uif  die  Gravitiition.sthcoric  begrün- 
deten Auffassung  des  Sonnensystorns  endet.  (JharakteristiKch  ist 
dabei  die  geozentrische  Konstruktion  iU^a  Sonnensystems,  mit  der 
]Iegel  auch  auf  die  entsprechenden  Theorien  der  Schellingschen 
Naturphih)sophie  eingewirkt  zu  haben  scheint,  fn  der  Physik 
kommen  sodann  die  besonderen  Erscheinungen  des  materiellen 
Daseins  zur  S[)rache.  Es  wird  von  den  kosmisclien  Grundver- 
hältnissen und  dem  meteorcdogischen  Zusammenhange  der  Ele- 
mente, darauf  von  dem  spezifisclien  Gewichte,  von  der  Kohäsion, 
vom  Magnetismus  und  von  der  Kristallisation,  endlich  von  der 
Elektrizität  und  dem  Chemismus  gehandelt,  und  dabei  werden 
in  diese  dialektischen  Konstruktionen  auch  die  spezifischen  Wir- 
kungen der  Dinge  auf  die  menschlichen  Sinne,  die  akustischen, 
thermischen  und  optischen  Verhältnisse  und  die  Lehre  vom  Geruch 
und  Geschmack  eingeflochten.  Der  dritte  Teil,  die  Organ ik, 
beginnt  mit  der  Darstellung  des  Gesteins-  und  Stofflebens  der 
Erde,  entwickelt  den  Gegensatz  des  Pflanzen-  und  des  Tierreichs 
und  bespricht  schließlich  die  Gestaltung,  die  Assimilation  und 
die  Reproduktion  als  die  drei  Grundformen  des  animalischen 
Prozesses.  Die  Untersuchung  schließt  mit  einer  Betrachtung  des 
Verhältnisses,  in  welchem  das  organische  Individuum  zu  seiner 
Gattung  steht.  Darin  kommt  die  ganze  Grundauffassung  noch 
einmal  leuchtend  zutage.  Die  ideelle  Notwendigkeit  und  Ver- 
nünftigkeit ist  nicht  im  Individuum,  sondern  nur  in  der  Gat- 
tung zu  suchen.  Wie  für  Schelling,  so  ist  auch  für  Hegel  das 
Individuum  nur  ein  Durchgangspunkt  in  dem  Leben  der  Idee, 
die  darin  erscheint;  aber  er  legt  das  Hauptgewicht  darauf,  daß 
der  Gattungsbegriff  in  keinem  Individuum  vollständig  und  rein 
zum  empirischen  Dasein  kommt.  Jedes  Individuum  trägt  in 
seiner  Abweichung  vom  Gattungsbegriff  das  Moment  der  Zu- 
fälligkeit in  sich,  es  erfüllt  den  Zweck,  ein  Träger  der  Gattungs- 
idee zu  sein,  nicht  vollkommen,  und  diese  seine  »Unangemessen- 
heit zur  Idee«  ist  seine  »ursprüngliche  Krankheit«  und  der 
wahre  Grund  seines  Todes.  Die  Individuen  Q;ehen  daran  zu- 
gründe,  daß  sie  ihre  Aufgabe,  die  in  ihrem  Gattungsbegriffe 
liegt,  nicht  erfüllen.  Dies  ist  die  bedeutendste  Form,  welche 
die  Platonische  Ideenlehre  bei  ihrer  Aufnahme  in  den  deutschen 
Idealismus   gefunden   hat.     Die  Gattuno'sbeoriffe   sind  hier    nicht 


342 


Heffel. 


// 


/ 


wie  bei  Piaton  eine  selbständige,  für  sich  existierende  Welt  der 
reinen  Formen,  sondern  vielmehr  ähnlich  wie  bei  Aristoteles  die 
ideellen  Mächte,  welche  das  empirische  Dasein  teleologisch  be- 
stimmen; sie  bilden  den  ideellen  Zweck,  der  niemals  vollkommen 
erfüllt  wird,  und  der  doch  den  Lebenstrieb  und  die  Lebenskraft 
aller  der  Erscheinungen  enthält,  in  denen  nacheinander  immer 
von  neuem  seine  Verwirklichung  versucht  wird.  Der  Fichtesche 
Grundgedanke,  daß  das  nie  reale  Ideal  den  Grund  aller  Eealität 
in  sich  trägt,  ist  zum  Prinzip  der  Auffassung  des  organischen 
Lebens  geworden  und  damit  der  Aristotelische  Grundbegriff  der 
Entelechie'  auf  dem  Boden  des  Idealismus  zu  neuer  Fruchtbar- 
keit gekommen.  Wenn  man  heutzutage  diesen  Lehren  ferner  als 
je  zu  stehen  glaubt,  so  sollte  man  anderseits  anerkennen,  daß, 
solange  die  organische  Naturforschung  selbst  an  der  Realität 
ihrer  Klassen-,  Gattungs-  und  Artbegriffe  festhielt,  eine  philo- 
sophische Behandlung  dieses  Verhältnisses  nicht  großartiger  ge- 
dacht werden  konnte,  als  es  hier  von  Hegel  geschah :  und  wenn 
man  heute  davon  zu  reden  gewohnt  ist,  daß  nicht  nur  diejenigen 
Individuen,  sondern  auch  diejenigen  Arten  der  Gefahr  des  Unter- 
gangs mehr  als  andere  ausgesetzt  sind,  bei  denen  die  zufällige 
Variation  eine  unzweckm.äßige,  d.  h.  den  Lebensbedingungen  der 
Gattung  weniger  entsprechende  Richtung  eingeschlagen  hat,  — 
sollte  man  da  bei  aller  Verschiedenheit  des  Ausdrucks  so  sehr 
weit  von  jenem  Hegeischen  Gedanken  entfernt  sein,  der  Unter- 
gang des  Individuums  entspringe  aus  seiner  Unangemessenheit 
zur  Idee  der  Gattung?  Die  Sprachen  der  Naturphilosophie  von 
heute  und  derjenigen  vom  Anfang  des  vorigen  Jahrhunderts 
klingen  sehr  verschieden;  aber  was  sie  darin  sagen,  ist  vielleicht 
so  verschieden  nicht,  wie  es  diejenigen  anzunehmen  geneigt  sind, 
welche  sich  nie  die  Mühe  gegeben  haben,  jene  geschmähte  ältere 
Naturphilosophie  kennen  zu  lernen. 

Den  dritten  Hauptteil  des  Hegeischen  Systems  bildet  die 
Philosophie  des  Geistes.  Es  ist  derjenige,  in  welchem  die 
hauptsächlichste  und  die  weitestgreifende  Bedeutung  seines  Den- 
kens sich  entwickelt.  Auch  die  triadische  Gliederung  ist  hier 
am  glücklichsten  durchgeführt  und  findet  in  den  tatsächlichen 
Verhältnissen  so  viel  Verwandtschaft,  daß  die  Gegenstände  durch 
die  Konstruktion  \nel  weniger  vergewaltigt,   häufig  sogar  in   das 


I)or  objektive  Geist.  H43 

allerknifti}j;sic  und  iciiistii  Licht  ^«bracht  würden.  Die;  drei  Knt- 
wickluii«;sf()rinen  den  (Jcistes  sind  der  subjektivem  oder  individuelle, 
der  objektive  oder  allgemeine  und  der  absolute  oder  göttliche 
Geist.     ])ie  Psychologie   als   den  ersten  Abschnitt  der  Geistes-  JM 

j)hilosophie  hat  Hegel  in  der  Enzyklopädie  nur  scheniatisch  skiz- 
ziert, erst  seine  Vorlesungen  und  die  Werke  seiner  Srhiiler  haben 
dies  Gerippe  mit  Fleisch  und  JMut  umgeben,  ihre  Aufgabe  ist 
die,  das  psycliische  Leben  des  Individuums  durch  alle  Stufen 
seiner  Entwicklung  hindurch  von  der  ersten  Bedeutung,  welche 
die"  Seele  als  Entelechie  des  organischen  Leibes  hat,  bis  an  den 
Punkt  zu  verfolgen,  wo  sie  ihr  innerstes  Wesen  in  ihrer  Iden- 
tität mit  dem  allgemeinen  Geiste  erkennt.  Hegel  behandelt  des- 
halb in  der  »Anthropologie«  die  natürliche,  die  fühlende  und  //  1 
die  in  der  bewußten  Vorstellung  zur  vollen  Wirklichkeit  gelan- 
gende Seele,  in  der  »Phänomenologie«  den  Prozeß,  durch  welchen 
das  Bewußtsein  in  Selbstbewußtsein  und  Vernunft  übergeht,  end- 
lich in  der  engeren  »Psychologie«  die  Entwicklung  der  Vernunft  >  t  j 
auf  der  theoretischen  und  der  praktischen  Linie:  sie  endet  zu-  ^ 
letzt  darin,  daß  der  selbstbewußte  freie  Wille  als  die  Einheit 
der  theoretischen  und  der  praktischen  Vernunft  sich  zugleich  als 
die  allgemeine,  überindiyiduelle  Vernünftigkeit,  als  den  objektiven 
Geist  weiß. 

Was   Hegel    unter   dem   objektiven   Geiste    versteht,    darf 
man  als  die  Vernunft  im  menschlichen  Gattungsleben  bezeichnen.    ^/ 
Unter    diesen   Begriff,    dessen    literarische   Ausführung    er   nicht  ^r^  ^  \ 
glücklich  unter  dem  Namen  der  »Rechtsphilosophie«  zusammen- 
faßte,  gehören   deshalb   alle   die   Institutionen   der  menschlichen  r      t  /    J 
Lebensgemeinschaft  und   alle  die  Prozesse  der  individuellen  und  ^/^ 

der  allgemeinen  Entwicklung,  \velche  die  Ausprägung  der  Gat- 
tungsvernunft in  dem  wirklichen  Leben  der  Gattung  zu  ihrem 
Inhalte  haben.  Hegels  Lehre  vom  objektiven  Geiste  umfaßt 
daher  im  weitesten  Sinne  das  ganze  Gebiet,  für  w^elches  heute 
der  geschmacklose  Name  Soz^olo^e  üblich  geworden  ist.  Es 
handelt  sich  darum,  die  Entwicklungsformen  zu  begreifen,  in 
denen  die  Freiheit  des  Geistes  sich  im  wirklichen  Menschenleben 
realisiert.  Die  niedrigste  dieser  Formen  ist  nach  Hegel  das  ab- 
strakte Eecht  oder  das  sogenannte  Naturrecht.  Es  ist  die  Fest- 
stellung derjenigen  äußeren  Lebensformen,  welche  die  allgemeine 


i 


344  Hegel. 

conditio  sine  qua  non  für  das  gemeinsame  Leben  der  zur  Frei- 
heit bestimmten  Geister  bilden.  Dieses  »An-sich«  der  Gattungs- 
vernunft oder  des  objektiven  Geistes  wird  als  Eigentumsrecht, 
Vertragsrecht  und  Strafrecht  deduziert.  Das  letztere  kann,  da 
das  Hegeische  Naturrecht  für  seine  Geltung  den  Begriff  des 
Staates  noch  nicht  voraussetzt  und  ebensowenig  an  das  mora- 
lische Bewußtsein  appelliert,  nur  auf  eine  logische  Notwendigkeit 
zurückgeführt  werden  und  wird  daher  aus  dem  dialektischen  Ver- 
langen abgeleitet,  daß  das  Eecht,  wenn  es  durch  das  Unrecht 
aufgehoben  worden  ist,  durch  die  Aufhebung  des  letzteren  wieder 
hergestellt  wird.  Dieser  Triumph  des  Rechts  über  seine  Ver- 
letzung,  diese  ^Negation  der  Negation  des  Rechts  ist  die  Strafe. 

Der  Legalität  steht  nach  Kantischem  Prinzip  die  Moralität 
gegenüber.  Betrachtet  jene  die  rein  äußerhchen,  so  diese  die 
rein  innerlichen  Formen  des  objektiven  Geistes,  und  Hegel  be- 
handelt hier  im  Sinne  dessen,  was  man  sonst  Moral  nennt,  die 
Prozesse  des  subjektiven  Geistes,  durch  welche  dieser  seinen 
Willen  dem  objektiven  Geiste  unterwirft.  Es  ist  eine  tiefe  Weis- 
heit des  Philosophen,  die  Ethik  nicht  vom  subjektiven,  sondern 
vom  objektiven  Standpunkt  aus  zu  behandeln;  gerade  der  Sub- 
jektivismus der  Kantischen  und  der  anfänglichen  Fichteschen 
Moralphilosophie  hat  gezeigt,  daß  das  Prinzip  der  Ethik  über 
dem  Individuum  zu  suchen  ist.  Aus  dem  individuellen  Ich  sind 
das  sittliche  Bewußtsein  imd  die  sittliche  Gesetzgebung  niemals 
abzuleiten;  sie  wurzeln  vielmehr  in  dem  Verhältnis,  worin  sich 
^  fL^  das  Individuum  der ,  allgemeinen/ Vernunft  untergeordnet  weiß. 
Der  Inhalt  der  sittlichen  Gesetzgebung  ist  aus  ihrer  subjektiven 
Form  nur  scheinbar  zu  deduzieren,  in  Wahrheit  beruht  er  auf 
der  Gattungsvernunft,  imd  diese  überindividuelle  Abstammung 
ist  auch  der  einzige  Grund  seines  imperativischen  Charakters. 
Für  diesen  Standpunkt  ist  daher  die  Lehre  von  der  Moralität 
auf  die  Untersuchung  der  subjektiven  Vorgänge  beschränkt,  die 
,i,  sich  im  Individuum  auf  Grund  seines  Bewußtseins  vom  objek- 
iv ^  .\^>^  tiyen  Geiste  vollziehen;  in  diesem  Sinne  behandelt  Hegel  den 
\y  Vorsatz   und  die   Schuld,   die  Absicht  und  das  Wohl,   das   Gute 

und  das  Gewissen. 

Das   Wesen   des  objektiven   Geistes   aber  vollendet  sich   erst 
darin,  daß  seine  äußerliche  und  seine  innerliche  Form  sich  decken. 


^(^ 


StuatHlohre.  .'{45 

Diese  Syntlioso  von  Lcf^alitiit  und  Moraliliit  nennt  llej^el  die 
Sittlichkeit,  welclie  also  aiisdriicklich  von  der  Moralität  unter- 
schieden wird.  Sie  umfaßt  alle  diejeni<;en  Institutionen  des 
Menschenlebens,  welche  die  (uittungsvernunft  zur  Realisierung^  in 
dem  äußeren  Zusammenleben  bringen,  in  denen  sich  deshall)  der 
rechtliche  und  der  moralische  (^harakter  gleichmäßig  aus[>rägt, 
die  Institutionen,  welche  das  wertvollste  Recht  darstellen,  indem 
sie  das  äußerliche  Zusammensein  auf  die  moralische  Überzeugung 
gründen,  und  welche  zugleich  die  vollendete  Moralität  bilden, 
indem  sie  die  Herrschaft  der  Gattungsvernunft  zum  Prinzip  der 
äußeren  Organisation  macheu.  Als  die  Grundform  dieser  Sitthch- 
keit  behandelt  Hegel  die  Familie  und  verlegt  daher  erst  an  diese 
Stelle  die  Lehre  von  der  Ehe,  das  Erbrecht  und  die  Theorie  der 
Kindererziehung.  Als  die  zweite  Stufe  der  Sitthchkeit  erscheint 
die  Gesellschaft.  Hier  wird  das  System  der  Bedürfnisse,  die  c '-/ 
Rechtspflege  und  die  soziale  Funktion  der  Polizei  und  der  Kor- 
porationen besprochen.  Die  Vollendung  der  Sittlichkeit  endlich 
und  die  konkrete  Realisation  der  sittlichen  Idee  ist  für  Hegel 
der  Staat.  An  keiner  anderen  Stelle  seiner  Lehre  tritt  das 
antike  Moment  seines  Denkens  so  klar  und  so  vollendet  hervor 
wie  hier.  Wenn  unsere  großen  Dichter  ihre  wertvollsten  ästhe- 
tischen Überzeugungen  aus  der  innerlichen  Neuschöpfung  des 
Hellenismus  gezogen  haben,  so  leistete  Hegel  dasselbe  auf  dem 
pohtischen  Gebiete.  Während  selbst  ein  Mann  wie  Fichte  erst 
allmählich  dazu  kam,  dem  PoHzeistaate,  welchen  die  Wirklich- 
keit ihm  darbot,  höhere  und  zuletzt  ethische  Aufgaben  zuzu- 
schreiben, so  ist  Hegel  von  Anfang  an  von  dem  antiken  Ideal 
erfüllt,  daß  der  Staat  die  lebendig  gewordene  Gattungsvernunft 
des  Menschen  sein  solle.  Für  den  antiken  Menschen  war  das 
Staatsleben  die  Konzentration  aller  seiner  wesentlichen  Interessen. 
Der  gesamte  Inhalt  des  gemeinsamen  Geisteslebens  prägte  sich 
in  ihm  aus.  Weder  Wissenschaft  noch  Kunst  noch  Religion,  vor 
allem  aber  auch  nicht  der  individuelle  Lebensgenuß  führten  neben 
dem  griechischen  Staate  ein  Sonderdasein.  Das  im  Staate  ge- 
ordnete gemeinsame  Leben  war  der  alles  umfassende  Ausdruck 
für  die  höchsten  Interessen,  die  das  Individuum  bewegten.  So 
haben  Piaton  und  Aristoteles  das  Idealbild  des  antiken  Staates 
gezeichnet,    und    sowenig   manchmal   die  historische   Wirklichkeit 


^') 


A 


346  Hegel. 

ihm  entsprochen  haben  mochte,  so  idealisiert  sich  doch  für  Hegel 
ebenso  wie  für  Schiller  das  im  Staate  konzentrierte  Gesamtleben 
des  Altertums  zu  einem  »lebendigen  Kunstwerk«,  das  der  Philo- 
soph an  verschiedenen  Stellen  seiner  Werke  und  seiner  Vorlesungen 
mit  begeisterten  Zügen  geschildert  hat.  Je  weiter  das  politische 
Leben  seiner  Zeit  von  diesem  Ideal  abstand,  um  so  gTÖßer  ist 
das  Verdienst  seiner  Lehre,  welche  die  staatlichen  Institutionen 
als  das  Fleisch  und  Blut  gewordene  Gattungsleben  des  Menschen 
und  als  die  ideelle  Konzentration  aller  derjenigen  Interessen  be- 
zeichnete, durch  welche  das  Individuum  sich  über  sich  selbst 
hinaus  zur  Gattungs Vernunft  potenziert.  Kant  hatte  die  voU- 
koromene  Staatsverfassung  für  den  Zweck  des  historischen  Pro- 
zesses erklärt ;  Herder  hatte  entgegnet,  daß  das  nur  eins  der 
Momente  in  der  gesamten  Kultur entwicklung  sei,  die  das  Wesen 
der  Geschichte  ausmache.  Hegel  vereinigt  diese  Gegensätze,  indem 
er  den  vollkommenen  Staat  als  die  Organisation  betrachtet,  in 
welcher  die  gesamte  Kulturtätigkeit  des  Menschen  ihre  zentrale 
ReaHsation  und  der  »allgemeine  Geist«  seine  äußere  Verwirk- 
lichung findet.  In  dieser  Hinsicht  bezeichnet  Hegels  Staatslehre 
in  der  Geschichte  des  deutschen  Geistes  den  Moment,  in  welchem 
dieser  zur  Schätzung  des  sittlichen  Wertes  des  Staatslebens  zurück- 
kehrt. Während  bei  Fichte  diese  Erkenntnis  erst  allmählich 
heranreifte,  ist  Hegel  vermöge  seiner  durch  und  durch  antiken 
Überzeugung  davon  anfangs  sogar  mit  einer  Überschwenglichkeit 
erfüllt,  welche  ihn  im  Staate  geradezu  den  »absoluten  Geist« 
selbst  finden  läßt. 

Von  diesem  antiken  Staatsideal,  das  die  Gesamtheit  aller 
Werte  in  sich  beschließen  sollte,  ist  Heojel  in  seiner  eisjenen  Ent- 
Wicklung  erst  allmählich  zum  Verständnis  des  modernen  Staates 
fortgeschritten.  Je  mehr  er  begriff,  daß  sich  über  dem  objektiven 
Geiste,  den  der  Staat  verwirklicht,  der  absolute  Geist  in  den 
Formen  von  Kunst,  Rehgion  und  Wissenschaft  aufbaut,  um  so 
freier  wurden  auch  in  seiner  Auffassung  diese  Kulturtätigkeiten 
vom  Staat,  und  um  so  mehr  beschränkte  sich  ihm  dessen  Auf- 
gabe wieder  auf  die  Realisierung  der  sittlich- politischen  Inhalte 
des  empirischen  Gesamtgeistes.  Aber  auch  so  gelten  ihm  in  der 
»Rechtsphilosophie«  die  staatlichen  Institutionen,  welche  das 
innere  Staatsrecht  behandelt,  als  die  volle  Ausprägung  des  Volks- 


StuatBphiluHophic.  ;{47 

«!;eistes,  und  die  Staat sverfassung,  die  er  auH  dichcni  Begriffe 
konstruiert,  ist  im  wesentlichen  die  konstitutionelle  Mc^narchic 
worin  der  Volksjj;eist  selbst  die  gesetzgebende  Macht  sein  Holl. 
Allein  Hegel  ist  von  dem  objektiven  Werte,  den  die  staatlichen 
Institut ioni*n  als  der  Ausdruck  des  allgemeinen  Geistes  haben,  so 
sehr  erfüllt,  daß  er  den  zufällig  zustande  gekommenen  Majori- 
täten des  Augenblicks  und  ihren  subjektiven  Überzeugungen  nicht 
das  Recht  einräumen  kann,  an  den  wesentlichen  Grundlagen  des 
Staatslebens  zu  rütteln.  J)er  (leist  des  Volkes  spricht  nicht  im 
Wechsel  des  Tagesmeiuung  noch  in  der  Willkür  parlamentarischer 
Stimmführer,  sondern  in  dem  festen  Gefüge,  welches  der  Staats-  \\ 
bau  tlurch  seine  kontinuierliche  Entwicklung  besitzt.  Mit  dieser  ■ 
historischen  Auffassimg  ist  Hegel  echt  konservativ  und  vor  allem 
durch  und  durch  antirevolutionär.  Der  chemaüge  Schwärmer  für 
die  französische  Revolution,  der  in  Tübingen  als  der  wildeste 
Jacobiner  und  als  Schüler  Eousseaus  galt,  hatte  den  Schwerpunkt 
seiner  Weltauffassuntif  in  dem  Begriffe  der  Entwicklung  gefunden, 
und  gegenüber  dem  Bruch  mit  der  Geschichte,  der  das  letzte 
Resultat  der  Aufklärung  war,  hatte  er  eingesehen,  daß  die  Ver- 
nunft nur  in  dem  historischen  Fortschritte  walte.  So  konnte  er 
in  gewissem  Sinne  wegen  dieser  prinzipiellen  Anerkennung  für 
das  Recht  des  historisch  Gewordenen  als  der  Philosoph  der 
Restaurationszeit  gelten,  und  so  erklären  sich  mancherlei  Angriffe, 
welche  weniger  der  echte  als  der  radikale  Liberalismus  gegen  ihn 
gerichtet  hat.  Wenn  er  aber  "erade  in  der  Vorrede  zu  seiner 
Rechtsphilosophie  jenen  typischen  Ausspruch  tat:  Alles  was  ist, 
ist  vernünftig,  so  konnten  mir  solche,  die  ihn  mißverstanden  oder 
nicht  verstehen  wollten,  dies  Wort  dahin  deuten,  als  ob  nach 
seiner  Meinung  alle  bestehenden  Institutionen  als  absolut  ver- 
nünftig  gelten  und  deshalb  so,  wie  sie  sind,  festgehalten  werden 
sollten.  Von  einem  solchen  bornierten  Konservativismus,  den  ihm 
Anhänger  oder  Gegner  imputierten,  ist  bei  Hegel  keine  Rede. 
Wer  seine  Lehre  kennt,  weiß,  daß  ^Vernunft  für  ihn  mit  Ent- 
wicklung^ identisch  ist,  und  daß  die  W^irklichkeit  für  ihn  nur  in 
dem  Sinne  als  vernünftig  gelten  kann,  als  sie  den  notwendigen 
Prozeß  einer  Entwicklung  darstellt,  in  welcher  die  ursprüngliche 
Anlage,  d.  h.  in  diesem  Falle  der  Gesamtgeist  des  Volkes  zur 
vollen  Verwirklichung   kommt.     Was   Hegel  bekämpft,   ist   nicht 


J 


Lr) 


348  Hegel. 

die  Reform,  sondern  die  Revolution,  es  ist  der  Wahn,  als  könne 
man  die  Notwendigkeit  des  historisclien  Prozesses  durch  die 
Dekrete  doktrinärer  Willkür  ersetzen.  Wie  Lessing  und  Kant  an 
Stelle  der  Aufklärerei  die  allmähliche  Selbstbefreiung  des  denkenden 
Geistes,  so  will  Hegel  an  die  Stelle  des  radikalen  Fanatismus  die 
vernünftige  Entwicklung  setzen.  Auf  dem  politischen  Gebiete 
selbst  betätigt  er  den  historischen  Sinn,  der  in  der  Bewegung  des 
deutschen  Geistes  während  jener  Jahrzehnte  vielleicht  das  kräf- 
tigste und  fruchtbarste  Ferment  gewesen  ist. 

Derselbe  Sinn  kommt  nun  an  dem  Abschlüsse  der  Lehre  vom 
objektiven  Geist  in  der  großartigsten  Weise  zutage.  Dem  inneren 
Staatsrechte  steht  das  äußere  als  die  Lehre  von  der  Souveränität 
des  Staates  in  seinem  Verhältnis  zu  anderen  Staaten  gegenüber, 
und  es  vermittelt  so  den  Übergang  zu  der  letzten  und  ab- 
schließenden Synthese.  Die  wahre  Verwirklichung  der  Idee  des 
Staates  ist  nicht  in  einem  einzelnen  wirklichen  Staate,  sondern 
in  der  historischen  Entwicklung  der  gesamten  Menschheit,  in  der 
Weltgeschichte  zu  suchen.  Sie  erst  ist  die  volle  Verwirk- 
lichung des  objektiven  Geistes.  Die  »Rechtsphilosophie«  voll- 
endet sich  in  der  » Philosophie  der  Geschichte  «.  Hegels  Grund- 
gedanke darin  ist,  zu  zeigen,  wie  im  historischen  Prozesse  der 
Weltgeist  sich  in  den  verschiedenen  Formen  der  einzelnen  Volks- 
geister sukzessive  entwickelt  hat.  Jede  Periode  der  Geschichte 
ist  dadurch  charakterisiert,  daß  in  ihr  ein  besonderes  Volk  die 
leitende  Stellung  einnimmt  und  in  seinem  ganzen  Leben  den  In- 
halt zur  Darstellung  bringt,  den  der  Gesamtgeist  auf  dieser  Stufe 
in  sich  selbst  erfaßt  hat.  Wenn  ein  Volk  diese  Aufgabe  erfüllt 
hat,  so  beginnt  die  Zeit  seines  Niederganges ;  es  tritt  in  die  Dunkel- 
heit, aus  der  es  zur  Herrschaft  hervortrat,  zurück  und  übergibt 
das  Zepter  an  ein  anderes  Volk,  dem  einst  dasselbe  Schicksal  be- 
stimmt sein  wird.  Der  Untergang  der  Völker  beruht  darauf, 
daß  sie  ihre  Mission  erfüllt  haben,  und  daß  für  die  neue  Ent- 
wicklimg  eine  neue  Kraft  als  Träger  erforderlich  ist.  Aus  diesem 
Gesichtspunkte  konstruiert  Hegel  die  vier  großen  Perioden  der 
Geschichte:  die  orientalische,  die  griechische,  die  römische  und 
die  germanische  Welt,  und  sein  Bestreben  ist  darauf  gerichtet, 
das  Gesamtleben  jeder  dieser  Perioden  derartig  zu  erfassen,  daß 
der  notwendige  Zusammenhang,  worin  die  Äußerungen  des  Volks- 


L 


Tioliro  vom  absoluten  (JcIhI;  Ästhetik.  349 

<;oiytcs  auf  allen  Gebieten  niiteinundor  stehen,  au«  dein  innersten 
Wesen  der  Entwiekluni^spluise  he^^riffen  worden  soll.  Seine  Phi- 
losopliie  der  Cescliiclife  stellt  ein  Ideal  der  Kulturgeschichte  auf,^ 
in  der  die  historischen  Tatsachen  nicht  mehr  äuUerlich  zuKainmcn- 
gestellt  inid  nicht  nur  in  ihrer  pragmatischen  und  kausalen  Ver- 
mittlung erzählt,  sondern  als  notwendige  Entwicklungsformen  des 
allgemeinen  Geistes  erkannt  werden.  Manche  Mißgriffe  mögen 
in  diese  Konstruktion  eingelaufen  sein;  im  allgemeinen  bewährt 
Heo;el  nirgends  mehr  als  hier  die  Sicherheit  seines  historischen 
Verständnisses,  welches  die  Auffassung  der  Geschichte  noch  heute 
überall  beherrscht,  wo  sie  sich  von  der  Einzelforschung  zu  dem 
großen  Gange  des  Ganzen  erheben  will.  Und  jenes  »ungeheure 
Schauspiel«,  welches  seine  Geschichtsphilosophie  entrollt,  worin 
man  »von  der  Höhe  des  Staatsbegriffes  die  einzelnen  Staaten  als 
ebenso  viele  Flüsse  sich  in  das  Weltmeer  der  Geschichte  stürzen 
sieht«,  ist  noch  immer  die  vollkommenste  Darstellung,  welche 
wir  von  dem  Sinn  der  Gesamtentwicklung  unseres  Geschlechts 
besitzen. 

Der  allgemeine  Geist,  dessen  einzelne  Inhaltsbestimmungen  in 
der  historischen  Entwicklung  zur  Wirklichkeit  werden,  ist,  in 
seiner  Totalität  zusammengefaßt  und  in  seiner  Einheit  gedacht, 
der  absolute  Geist.  Er  entwickelt  sich  in  drei  Formen:  als 
Anschauung  m  der  Kunst,  als  Vorstellung  in  der  Religion,  als 
Begriff  in  der  Philosophie.  Das  ästhetische,  das  rehgiöse  und 
das  philosophische  Leben  sind  nur  die  verschiedenen  Aus- 
gestaltungen desselben  absoluten  Prinzips.  Der  romantische  Grund- 
gedanke kommt  hier  in  einer  systematischen  Gestalt  als  der  Ab- 
schluß des  Hegeischen  Systems  zur  Geltung.  Was  zunächst  die 
Ästhetik  anbelangt,  so  ist  das  Schöne  die  Anschauung  des  ab- 
soluten Geistes  insofern,  als  es  die  volle  Identität  der  Idee  und 
der  Erscheinung  enthält,  und  so  geht  auch  Hegel  auf  diesem 
Gebiete  von  der  Auffassung  des  Identitätssystems  aus,  die  ihren 
letzten  Ursprung  in  Schiller  hat.  Deshalb  ist  auch  bei  ihm  das 
Kunstschöne  oder  das  » Ideal «  der  wesentliche  Begriff,  für  dessen 
Entwicklung  das  Naturschöne  nur  als  ein  dialektisches  Moment 
betrachtet  wird.  In  der  Erzeugung  der  besonderen  Formen  des 
Kunstschönen  folgt  Hegel  sodann  durchaus  der  von  Schiller  be- 
gründeten  geschichtsphilosophischen   Konstruktion.     Die   Einheit 


<Z^\ 


350  Hegel. 

der  Idee  und  der  Erscheinung  hat  drei  Grundformen:  die 
symbolische  welche  die  Idee  in  der  Erscheinimg  nur  ahnen  läßt, 
die  klassische,  welche  diese  Einheit  in  voller  Naivität  darstellt,  und 
die  romantische,  die  den  bewußten  Gegensatz  der  Idee  und  der 
Erscheinung  wieder  versöhnt.  Die  Symbolik  verfolgt  Hegel  durch 
ihre  unbewußten  Gestalten,  die  er  in  den  orientalischen 
Schöpfungen  findet,  bis  zu  den  Formen,  in  denen  sie  die  Natur 
als  die  Andeutung  der  göttlichen  Erhabenheit  betrachtet,  und 
stellt  dann  in  der  Fabel,  in  der  Allegorie  und  der  beschreibenden 
Poesie  die  dieser  Stufe  entsprechenden  besonderen  Kunstformen 
auf.  Das  klassische  Ideal  entwickelt  sich  aus  den  Tiergestalten 
zur  Vollendung  der  olympischen  Götter  und  findet  seine  Auf- 
lösung in  der  satirischen  Einsicht  von  der  Vermenschlich ung  des 
göttlichen  Prinzips,  die  darin  enthalten  war.  Wie  bei  Solger, 
nimmt  also  auch  bei  Hegel  diese  ganze  Konstruktion  eine  wesent- 
lich religiöse  Tendenz;  der  Zusammenhang  des  Kunstlebens  mit 
der  religiösen  Ent^vicklung  prägt  den  besonderen  ästhetischen  Be- 
griffen fast  überall  eine  religiöse  Eedeutung  auf,  und  so  wird  auch 
das  romantische  Prinzip  zuerst  aus  dem  christlichen  Bewußtsein 
entwickelt.  Es  tritt  sodann  die  Erscheinung  des  Rittertums  hinzu, 
um  die  Abenteuerlichkeit  der  romantischen  Kunstformen  zu  be- 
gründen, und  den  Abschluß  dieser  Reihe  bildet  der  Begriff  des 
Humors  als  der  frei  und  objektiv  über  dem  Stoffe  schwebenden 
Subjektivität.  Liegt  darin  etwas  von  dem  romantischen  Grund- 
prinzip der  Ironie,  so  zeigt  sich  dabei  anderseits,  wie  Hegels  kühle, 
durch  und  durch  sachliche  Persönlichkeit  sich  weit  über  den  will- 
kürlichen Subjektivismus  der  Romantiker  erhob.  Es  ist  außer- 
ordentlich charakteristisch,  daß  ihm  die  abschließende  Kunstforni 
eben  jene  völlige  Ruhe  des  Humors  bildet,  von  der  die  Roman- 
tiker mit  allem  Witz  und  aller  Ironie  kaum  einen  Tropfen  in 
sich  hatten.  Als  dritten  Teil  endlich  üibt  seine  Ästhetik  ein 
System  der  Künste,  das  auf  demselben  Grundriß  aufgebaut  ist; 
als  die  symbolische  Kunst  erscheint  die  Architektur,  in  welcher 
die  Beziehung  auf  den  geistigen  Inhalt  nur  angedeutet  ist ;  als 
die  klassische  die  Slailptur,  durch  welche  die  geistige  Individua- 
lität in  ihrer  vollen  sinnliclien  Gestalt  wiedergegeben  wird;  als 
die  romantischen  Künste  die  Malerei,  die  Musik  und  die  Poesie, 
welche  den  allgemeinen  Gehalt   des  Bewußtseins  in  den  Formen 


RpliKionHi)hilo(io|)hio.  Hf)  1 

des  Bildes,  des  Tones  und   am    vollendeUstcn  der  Spraclie  zur  ad- 
äquaten siindichcn  Ersclieinun«f  ])rin^en. 

Das  Wesen  der  Religion  besteht  darin,  eine  Vorstellung  des 
absoluten  Geistes  zu  sein.  Das  tief iihl  wird  dedialb  von  He^^^el 
(jnit  sichtlicher  Polemik  gep^en  Schleiermacher) nur  zu  einem  Moment 
in  dem  dialektischen  Prozeß  der  P^ntwicklung  des  Begriffes  der 
Religion  herabgesetzt,  und  es  werden  die  besonderen  Religionen 
aus  den  Vorstellungsstufen  konstruiert,  welche  der  absolute  Geist 
im  menschlichen  Bewußtsein  annimmt.  Die  erste  dieser  Formen 
der  »bestimmten  Religion«  ist  die  Naturreligion.  Sie  ist  zunächst 
eine  Rehgion  der  Zauberei,  dann,  wie  bei  den  Indern,  eine  solche 
der  phantastischen  Naturauffassung  und  sie  weist  über  sich  selbst 
liinaus,  indem  sie  im  Lichte  die  Macht  des  Guten  ahnt  oder, 
wie  in  der  ägyptischen  Symbolik,  die  Rätselhaftigkeit  der  tierischen 
Gestalten  zum  Bewußtsein  bringt.  Die  zweite  Stufe  ist  die  Re- 
ligion der  geistigen  Individualität,  welche  sich  als  diejenige  der 
Erhabenheit  bei  den  Juden,  als  diejenige  der  Schönheit  bei  den 
Griechen,  als  diejenige  des  Verstandes  oder  der  Zweckmäßigkeit 
bei  den  Römern  entwickelt.  Die  höchste  Stufe  ist  die  absolute 
oder  die  cbiistliche  Religion.  Hier  erscheint  Gott  als  das,  was 
er  ist,  als  der ,, absolute  Geist.  Er  erscheint  deshalb  in  der  Ge- 
stalt der  TrmiJbät.  Denn  der  absolute  Geist  ist  einerseits  die 
ewige  Idee,  welche  sich  in  der  Welt  entwickelt:  als  solche  ist  er 
der  Vater.  Er  ist  anderseits  die  zum  Bewußtsein  gekommene, 
ganz  in  die  Vorstellung  eingegangene  Idee:  als  solche  ist  er  der 
Sohn,  der  mit  dem  Vater  eins  ist.  Er  ist  endlich  die  als  der 
allgemeine  Geist  der  Gemeinde  in  ihr  waltende  und  in  ihrer 
äußeren  und  inneren  Gemeinsamkeit  sich  reaHsierende  Idee:  als 
solche  ist  er  der  Geist.  Mit  dieser  spekulativen  Umdeutung  der 
christlichen  in  die  absolute  Religion  schUeßt  die  Hegeische  Re- 
ligionsphilosophie. Diese  Umdeutung  selbst  weist  auf  die  mancher- 
lei Versuche  zurück,  die  seit  Lessing  in  der  deutschen  Philosophie 
gemacht  worden  waren.  Aber  sie  war  in  dem  Hegehchen  Systeme 
deshalb  notwendig,  weil  hier  nach  dem  allgemeinen  Prinzip  der 
Entwicklung  das  letzte  und  höchste  Produkt  der  Religions- 
geschichte als  die  vollkommene  Verwirklichung  der  religiösen 
Idee  angesehen  werden  mußte.  Freilich  scheint  es  Hegel 
völlig   entgangen    zu   sein,    daß    in   diesem    seinen  dialektischen 


352  Hegel. 

Systeme    der    Religionen    der    Islam    keine    Unterkunft    finden 
konnte. 
,  Was  nun  endlich  die  Kunst  als  Anschauung,  was  die  Religion 

(  0  )  als  Vorstellung,  das  soll  die  Philosophie  als  Begriff  enthalten. 
/  Aber  auch  sie  löst  ihre  Aufgabe  nur  in  ihrer  historischen  Ent- 
wicklung. Die  Geschichte  der  Philosophie  ist  deshalb  der 
abschließende  Teil  des  Hegeischen  Systems.  Gerade  darum  soll 
auch  sie  eine  philosophische  Wissenschaft  sein;  sie  darf  sich  weder 
damit  begnügen,  die  Meinungen  der  Philosophen  zu  erzählen, 
noch  auch  zu  erforschen,  wie  diese  im  einzelnen  dazu  gekommen 
sind,  sondern  sie  hat  die  ideelle  Notwendigkeit  dieser  Entwicklung 
zu  begreifen.  Diese  ideelle  Notwendigkeit  besteht  aber  darin, 
daß  die  einzelnen  Momente,  die  erst  in  ihrer  konkreten  Zu- 
sammenfassung den  Begriff  des  absoluten  Geistes  ausmachen,  in 
der  Entwicklung  des  begrifflichen  Denkens  sukzessive  ebenso  zur 
Geltung  gekommen  sind,  wie  die  vollendete  Philosophie  diese 
Kategorien  in  ihrem  System  entwickeln  muß,  und  wie  anderseits 
der  absolute  Geist  diese  verschiedenen  Seiten  seines  Wesens,  in 
der  Reihenfolge  der  historischen  Erscheinungen  ausgelebt  hat. 
Daraus  ergibt  sich  für  die  Geschichte  der  Philosophie  jener 
doppelte  Parallelismus,  der  schon  in  der  Phänomenologie  an- 
gedeutet war  und  teilweise  zur  Geltung  kam.  Die  Systeme  der 
Philosophie  müssen  einerseits  den  Kategorien  der  Logik  ent- 
sprechen, welche  ja  die  abstrakte  Ausbreitung  des  Inhaltes  des 
götthchen  Geistes  enthalten  sollte,  und  müssen  anderseits  das 
Bewußtsein  des  wesentlichen  Gehaltes  derjenigen  Perioden  der 
Kulturgeschichte  in  sich  tragen,  aus  denen  sie  entstanden  sind. 
Jener  erste  Parallelismus  hat  nun  in  der  Tat  die  Hegeische  Kon- 
struktion gelegentlich  verleiten  müssen,  mit  dem  tatsächlichen 
Material  der  Geschichte  der  Philosophie  teils  hinsichtlich  seiner 
Deutung,  teils  hinsichtlich  der  chronologischen  Anordnung  etwas 
gewaltsam  umzuspringen,  und  dies  wäre  noch  gefährlicher  ge- 
worden, wenn  sich  nicht  anderseits  nachweisen  ließe,  daß  Hegel 
von  dieser  Anschauung  aus  von  vornherein  schon  den  dialek- 
tischen Prozeß  der  Logik  im  Hinblick  auf  diesen  seinen  historischen 
Doppelgänger  angelegt  hat,  so  daß  die  Übereinstimmung  nachher 
keine  Schwierigkeiten  finden  konnte.  Um  so  bedeutsamer  ist  der 
zweite   Parallelismus.     Hegel   hat   zuerst   eingesehen,    daß  jedes 


Üeschichto  der  l'hilosophie. 


:\bH 


Systoni  der  Philosophie  ein  n()twen(li<^'es  Prcxlukt  des  mcnsch- 
liclien  Denkens  und  eine  notwendige  Stufe  in  seiner  Entwicklunrr 
ist;  er  hat  zwar  mit  der  einseitigen  Betonung  dieser  ideellen 
Notwendigkeit  die  Ikdeutung  Mer  individuellen  Vermittlungen, 
durch  welche  sie  sich  realisiert,  entschieden  unterschätzt  und 
damit  der  Meinung  Vorschub  geleistet,  als  ließen  sich  alle  Lehren 
eines  philosophischen  Systems  jedesmal  als  die  logischen  Kon- 
sequenzen aus  der  Grundidee  ableiten,  die  ihm  seine  charak- 
teristische Stellung  innerhalb  der  Gesamtentwicklung  anweist. 
Aber  er  hat  anderseits  den  Ged.mken  zur  Geltung  gebracht,  daß 
jedes  der  philosophischen  Systeme  einen  Versuch  enthält,  sich  des 
gesamten  Inhaltes,  den  der  menschliche  Kulturgeist  auf  der  be- 
treffenden Stufe  seiner  Entwicklung  erreicht  hat,  in  begrifflicher 
Konzentration  bewußt  zu  werden.  Mag  auch  dann  die  Ausführung 
dieses  Versuches  noch  so  sehr  von  der  Individualität  des  Philo- 
sophen und  seiner  persönlichen  Stellung  abhängig  sein,  so  sind 
doch  immer  die  in  seinem  System  verwobenen  Gedankenmassen 
dieselben,  welche  den  Gehalt  der  zeitgenössischen  Bildung  aus- 
machen, und  so  wird  jedes  philosophische  System  trotz  seiner 
individuellen  Bedingtheit  zu  einem  Spiegel  des  Kulturzustandes, 
aus  dem  es  hervorging.  Die  Geschichte  der  Philosophie  so  auf- 
zufassen, hat  die  deutsche  Wissenschaft  von  Hegel  gelernt.  Das 
ist  eins  seiner  größten  Verdienste;  es  ist  zugleich  die  Richtung, 
in  der  er  die  bedeutendsten  Schüler  «ehabt  hat.  Die  Geschichte 
der  Philosophie  ist  die  fortschreitende  Selbstbewußtwerdung  des 
menschlichen  Kulturgeistes.  Hieraus  allein,  folgert  Hegel,  kann 
die^  Wahrheit  der  philosophischen  Systeme  beurteilt  werden.  Die 
stetige  Veränderhchkeit,  w^elche  die  Philosophie  in  ihrer  Geschichte 
aufweist,  erklärt  sich  aus  der  stetigen  Veränderlichkeit  des  Ob- 
jekts, das  in  ihr  zum  Selbstbewußtsein  kommt:  des  Geistes  selbst. 
Jedes  System  ist  wahr,  insofern  es  einen  bestimmten  Entwick- 
lungszustand oder  ein  Moment  der  selbst  in  der  Entwicklung 
begriffenen  Wahrheit  zum  Bewußtsein  bringt;  es  ist  unwahr,  in- 
sofern es  dies  Moment  in  seiner  Einseitigkeit  festhält  und  in  ihm 
allein  das  Absolute  gefunden  zu  haben  meint.  Die  volle  Wahr- 
heit ist  die  entwickelte,  diejenige,  welche  alle  diese  einzelnen 
Momente  in  der  dialektischen  Notwendigkeit  erzeugt  und  sie  in 
die  konkrete  Einheit  zusammenfaßt.     Die  Abstraktion,  die  eines 


Windelband,  Gesch.  d.  ii.  Philos.    II. 


23 


ou 


r 


354  Hegel. 

dieser  Momente  isoliert,  ist  immer  nur  die  halbe  Wahrheit.  In 
diesem  Sinne  begreift  nun  die  Hegeische  Philosophie  sich  selbst 
als  den  Schlußstein  der  Entwicklung;  ihre  historische  Grund- 
anschauung besteht  eben  darin,  daß  sie  alle  Momente  der  Wahr- 
heit, welche  in  der  Entwicklung  gesondert  und  teilweise  in  feind- 
lichem Gegensatze  zueinander  aufgetreten  sind,  in  sich  aufnimmt 
und  als  die  notwendigen  Formen  der  Entwicklung  begreift,  um 
sie  in  ihrer  Totalität  zusammenzufassen  und  dadurch  jedem  seine 
Stellung  im  Ganzen  zu  bestimmen.  In  der  Tat  ist  die  Hegeische 
Philosophie  mit  ihrer  umfassenden  Systematisierung  die  Ver- 
arbeitung des  ganzen  Gedankenstoffes  der  menschlichen 
Geschichte,  und  darin  besteht  ihre  universelle  und  bleibende 
Bedeutung.  Das  historische  Denken  ist  bei  Hegel  ohne  die 
skeptische  Konsequenz  der  absoluten  Relativität  aller  Systeme; 
es  hat  vielmehr  den  Mut,  den  ganzen  Prozeß  der  Gedanken  qait 
all«»^ seinen  Widersprüchen  aufzunehmen  und  als  die  integrierenden 
^Bestandteile  seiner  eigenen  höchsten  Wahrheit  zu  proklamieren. 
Diese  Anerkennung  enthält  zugleich  die  Kritik  dieser  höchsten 
Gestalt,  welche  der  deutsche  IdeaUsmus  gefunden  hat.  Denn  die 
Synthese  aller  übrigen  Systeme  kann  sich  nur  deshalb  für  das 
absolute  System  halten,  weil  Hegel  von  der  Ansicht  ausgeht,  daß 
in  der  Entwicklung  des  menschlichen  Geistes  der ^^  absolute  Geist 
selber  seine  höchste  Entfaltung  findet.  In  Hegels  Geschichts- 
philosophie, Rehgionsphilosophie  und  Geschichte  der  Philosophie 
führt  nicht  nur  fortwährend  der  menschhche  Kulturgeist  den 
Namen  des  »Weltgeistes«,  sondern  er  wird  auch  tatsächlich  als 
solcher  betrachtet.  Darauf  allein  beruht  schließlich  die  schöne 
Harmonie  dieses  Systems,  daß  die  notwendigen  Entwicklungs- 
formen des  menschhchen  Geistes  als  diejenigen  des  Universums 
gelten.  Hegels  absoluter  Geist  ist  in  Wahrheit  der  menschhche 
Geist.  Darin  besteht  die  weite  Kluft,  die  ihn  von  Kant  trennt. 
Achtet  man  darauf,  so  begreift  man  auch  die  dialektische  Methode 
in  ihrer  innersten  Bedeutung.  Hat  das  menschliche  Denken  sein 
Maß  nur  an  sich  selber,  ist  es  wirklich  das^  absolute,  so  ist  seine 
eigene  notwendige  Entwicklung  auch  die  ,)Vahrheit.  Die  psycho- 
logische Notwendigkeit  aber  des  menschlichen  Denkens  bringt  es 
mit  sich,  daß  seine  Entwicklung  darin  besteht,  die  Vorstellungen 
in  Fluß  zu  bringen,  sie  ineinander  übergehen  und  sich  durch  die 


Der   IrnitionaliRnm».  355 

Fülle  der  Vcrinittlun^on  iiUMiiaiuler  verwandeln  zu  laswen.  J)ie 
Dialektik  mit  ihren  Widersprüchen  und  ihrer  unbeHtimmten  Ver- 
wandelbarkeit  des  Vorstellun»^sinhaltes  ist  der  naturiiotwendi^e 
Charakter  des  menschhchen  De*nken8.  Die  dialektinche  Metliode 
besteht  also  darin,  diesen  psychologisch  notwendi^^en  Prozeß  mit 
dem  logischen  zu  verwechseln.  Ihr  setzt  sich  deshalb  die  psycho- 
logische Gegeneinanderbewegung  der  Vorstellungen  in  einen  realen 
Kampf-  und  Versöhnungsprozeß  des  Vorstellungsinhaltes  um.  Für 
sie  hat  der  Widerspruch  und  die  Negation  eine  metaphysische 
Bedeutung,  und  ihre  eigene  rastlos  schaffende  und  wieder  zer- 
störende Bewegung  projiziert  sie  in  eine  Weltanschauung  des 
ewigen  Werdens. 

§  69.     Der  Irrationalismus. 

Jacobi,  Schelling,  Schopenhauer,  Feuerbach. 

Der  Hegeische  Panlogismus  bringt  den  Gesamtcharakter  der 
dialektischen  Entwicklung  der  deutschen  Philosophie  auf  den 
schärfsten  Ausdruck.  Sie  führt  Schritt  für  Schritt  mehr  zu  der 
Aufgabe  einer  rein  rationalen  Erkenntnis  des  Universums:  es 
handelt  sich  schließlich  um  eine  restlose  Auflösung  der  Wirklich- 
keit in  Begriffe  der  Vernunft.  Und  das  System  Hegels  verkündet 
klar  imd  laut  die  Voraussetzung,  unter  der  allein  der  Philosophie 
eine  solche  Aufgabe  gesetzt  werden  kann,  als  ihre  tiefste  Grund- 
überzeugung: »Alles,  was  ist,  ist  vernünftig.«  Soll  das  Universum 
restlos  in  eine  rationale  Erkenntnis  aufgehen,  so  heißt  das  von 
vornherein,  daß  alle  Realität  selbst  schon  ein  Rationales  —  daß, 
wie  Bardili  sagte,  jedes  Ding  nichts  weiter  als  sein  Begriff  — , 
daß,  wie  Hegel  sich  ausdrückte,  das  Wesen  der  Dinge  der  Geist 
sei.  Nur  dann  ist  für  die  vernünftige  Erkenntnis  die  Welt 
kommensurabel  und  bezwingbar,  wenn  sie  selbst  bis  auf  den  Grund 
vernünftig  ist.  Aus  dieser  Voraussetzung  erwuchs  Kants  tran- 
szendentale Logik;  aber  diese  schloß  eben  daraus,  daß  das  Welt- 
bild im  Kopfe  des  Menschen,  durch  die  Vernunft  bedingt,  eine 
Erscheinung  sei,  von  deren  Verhältnis  zur  Reahtät  wir  nichts 
wissen  können.  In  dem  Maße,  als  diese  kritische  Restriktion 
durch  die  Zertrümmerung  des  Ding-an-sich-Begriffes  dahinfiel, 
kehrte   die  Philosophie  zu  der  alten  rationalistischen  Auffassung 

23* 


356  Grenzbegriffe. 

zurück.  Dieser  Prozeß  spitzte  sich  bis  zu  Hegel  immer  energi- 
scher zu,  und  aus  dem  Kantischen  IdeaHsmus  war  nun  wieder 
absoluter,  schrankenloser  Rationalismus  geworden. 

Allein  das  restlose  Aufgehen  der  Wirklichkeit  in  die  »Vernunft« 
ist  nur  ein  Schein.  In  Wahrheit  bleibt  für  jedes  dieser  rationa- 
listischen Systeme  ein  letztes  Etwas  übrig,  was  sich  der  rationalen 
Erkenntnis  entzieht,  was  sich  für  die  begriffliche  Auflösung  als 
unnahbar  darstellt  und  dem  vernünftiojen  Bewußtsein  als  inkommen- 
surabel  erscheint.  Bei  aller  rationalen  Durcharbeitung  unseres 
Bewußtseinsinhaltes  bleibt  darin  ein  Rest,  der  wie  ein  Fremdes 
imd  Gegebenes  dazwischen  steht,  und  der  sich  aus  der  Vernunft 
selbst  nicht  ableiten  läßt.  Es  gibt  im  Grunde  der  Dinge  etwas 
Inkalkulables,  —  ein  geheimnisvolles  Etwas,  welches  da  ist,  auf 
welches  wir  die  Hand  legen,  und  welches  wir  doch  nie  begreifen 
können.  In  der  Tiefe  des  »Deduzierten«  ruht  ein  Undeduzier- 
bares,  von  dem  wir  nichts  wissen  als:  es  ist! 

So  findet  sich  in  jedem  rationalistischen  System  ein  Rest,  an 
welchem  die  Vernunfterkenntnis  scheitert.  Aber,  nur  eins  dieser 
Systeme  hat  diese  Tatsache  unumwunden  ausgesprochen  —  der 
kritische  Rationahsmus  von  Kant.  Er  beschränkte  die  apriorische 
Erkenntnis  auf  die  Formen  der  Vernunft  und  behandelte  die 
Mannigfaltigkeit  des  Erfahrungsinhaltes  als  schlechthin  »gegeben«. 
Das  ist,  wie  es  besonders  bei  Maimon  hervortrat,  der  tiefste  Sinn 
der  Lehre  vom  T)ing  an  sich.'  Der  Rationalismus  bedarf  eines 
Grenzbegriffes,  vermöge  dessen  er  eingesteht:  hier  liegt  ein 
Unbegreif Hohes,  eine  Tatsache,  die  gilt,  ohne  erkannt  zu  sein. 
Von  hier  aus  fällt  vielleicht  das  schärfste  historische  Licht  zurück 
auf  das  innerste  Gefüge  der  Metaphysik  von  Leibniz  und  seine 
tiefste  Verwandtschaft  mit  Kant,  die  sich  in  der  Kritik  der 
Urteilskraft  an  dem  Begriffe  der  Spezifikation  der  Natur  heraus- 
stellte*). Neben  den  »ewigen  Wahrheiten«  nahm  Leibniz  die 
unerforschliche  Tatsache  der  göttlichen  Wahl  an,  nach  welcher 
unter  den  zahllosen  Möglichkeiten  gerade  diese  Welt  in  ihrem 
ganzen  Ablaufe  wirkhch  geworden  sei:  auch  für  ihn  liegt  also  in 
der  Wirklichkeit  eine  Verite  de  fait  vor,  welche  für  das  logische 
Bewußtsein  inkommensurabel  bleibt.     Bildet  so  der  göttliche  Wille 


*)  Vgl.  oben  S.  162  Anm. 


ÜP" 


Der  IrrationaÜHiiius.  357 

den  (.ilrenzbegriff  des  Loibnizsciion  Katioiialismus,  so  liegt,  wenn 
aucli  in  ganz  anderer  Verschlingung  der  Gedankenfäden,  etwas 
•sehr  ähnliches  bei  Fichte  vor :  hier  ist  es  die  »grundlose«  und 
deshalb  unbegreifliche  »Tathandlung«  des  absoluten  Ich,  welche 
den  für  das  rationale  Bewußtsein  undurchdringlichen  Grund  der 
ges^amten  Wirklichkeit  ausmacht.  Wenn  Fichte  je  daran  gedacht 
hatte,  nach  der  Abwerf ung  des  Ding-an-sich- Begriffs  die  Welt 
restlos  aus  dem  Ich  und  seinen  zwecknotwendigen  Handlungen 
zu  begreifen,  so  fand  er  an  der  Empfindung,  deren  Tätigkeit 
zwar  abzuleiten,. deren  Inhalt  aber  nicht  zu  deduzieren  war,  seinen 
Grenzbegriff:  und  diese  Einsicht  scheint  für  ihn  den  Umkehr- 
punkt seiner  philosophischen  Entwicklung  ausgemacht  zu  haben. 
Es  war  zugleich  der  Punkt,  an  dem  SchelHng  sich  nachher  von 
ihm  trennte,  um  für  die  Metaphysik  des  Identitätssystems  jene 
»intellektuelle  Anschauung«  in  dem  Kantischen  Sinne  des  Wortes 
in  Anspruch  zu  nehmen,  deren  mystische  und  ästhetische  Be- 
ziehungen in  der  weiteren  Entwicklung  immer  klarer  hervortraten. 
Diesen  Grenzbegriff  der  intellektuellen  Anschauung  suchte  dann 
Hegel  zu  eliminieren,  und  eben  darin  bestand  die  »Rationali- 
sierung« der  romantischen  Ideenwelt,  die  das  unterscheidende 
Merkmal  seines  Systems  bildet :  aber  er  stieß  dafür  wieder  auf  einen 
anderen  Grenzbegriff.  Denn  indem  er  den  »Umschlag«  der  Idee 
in  die  natürliche  Wirklichkeit  dialektisch  zu  entwickeln  unternahm, 
traf  er  in  der  Natur  etwas  der  Idee  Fremdes,  eine  »Negation«, 
die  nicbt  nur  den  Mangel  des  ideellen  Moments,  sondern  vielmehr 
eine  entgegenstehende  Macht  der  Realität  bedeutete,  und  welche 
er  unter  dem  Namen  der  »Zufälligkeit  der  Natur«  als  Tatsache 
anerkennen  mußte,  ohne  sie  rationell  begreifen  zu  können.  Und 
so  trat  wiederum  in  anderer  Form  dieser  Proteus  desjrrationaleii 
Restes  der  Wirklichkeit  zutage,  und  diese  »Zufälligkeit«  bildete 
den  Grenzbegriff  des  logischen  Idealismus. 

Diese  Grenzbegriffe  der  rationalistischen  Systeme  sind  nun  die 
Ausgangspunkte  für  eine  Reihe  höchst  merkwürdiger  und  interessan- 
ter philosophischer  Lehren  geworden,  welche  die  Entwicklung 
des  rationalistischen  Idealismus  von  Kant  bis  zu  Hegel  gewisser- 
maßen wie  ihr  Schatten  begleiten  und  deshalb  hier  zunächst  in 
Betracht  kommen.  Die  kritische  Einsicht  in  die  Unzulänglichkeit 
des  Rationalismus,   das  Wesen  der  Dinge  bis  auf  den  Grund  zu 


358  Jacobi. 

begreifen,  führt  zunächst  dazu,  dem  rationalen  ein  irrationales 
Wissen  gegenüberzustellen,  welches  in  irgend  einer  Tatsächhchkeit 
seinen  Ursprung  habe,  dann  aber  zu  dem  weiteren  und  wichtigeren 
metaphysischen  Schritte,  den  Gegenstand  dieses  irrationalen  Wissens 
aus  der  Sphäre  des  »Vernünftigen«  herauszuheben  und  ihm  den 
Charakter  sei  es  der  Übervernünf tigkeit,  sei  es  der  Unvernünftig- 
keit zuzusprechen.  Die  Systeme  der  Philosophie,  die  auf  diesem 
Wege  durch  die  Reflexion  auf  die  Grenzbegriffe  des  Rationalismus 
entstehen,  und  welche  mn  dieser  innersten  Verwandtschaft  ihres 
Ursprungs  willen  hier  unter  der  Bezeichnung  des  Irrationalismus 
zusanamengefaßt  werden,  zeigen  natürlich  ein  sehr  verschiedenes 
Gepräge  und  stehen  untereinander  nicht  im  Zusammenhange  einer 
kontinuierlichen  Entwicklung:  jedes  von  ihnen  ist  vielmehr  ein 
Nebensproß,  der  von  dem  Hauptstamme  des  Idealismus  auf  einer 
bestimmten  Phase  seiner  Entwicklung  nach  der  Schattenseite  hin 
abgesendet  wird.  Die  Begriffe,  mit  denen  diese  Systeme  des 
Irrationalismus  arbeiten,  sind  deshalb  immer  wesentlich  diejenigen 
des  rationalistischen  Systems,  gegen  welches  sie  sich  kritisch  und 
polemisch  entwickeln.  Darum  sind  es  zum  Teil  Männer  von  hervor- 
ragender kritischer  Begabung,  welche  diese  Systeme  aufgestellt 
haben,  daraus  erklärt  es  sich  aber  auch,  daß  nicht  minder  eben 
diese  Männer  ihren  Gegensatz  gegen  die  rationalistischen  Systeme 
viel  lebhafter  empfinden  und  zur  Darstellung  bringen,  als  ihre 
Abhängigkeit  davon,  und  daß  erst  die  historische  Forschung  über 
ihre  wahre  Stellung  in  der  Gesamtentwicklung  hat  orientieren 
müssen,  die  sie  selbst  vielfach  verkannten.  Neben  dieser  sehr  mannig- 
fach verwickelten  Beziehung  zu  den  rationalistischen  Systemen 
ist  endlich  allen  diesen  Irrationalisten  auch  die  Abstreifung  der 
schulmäßigen  Form  der  Begriffsentwicklung  und  damit  die  freiere 
und  teilweise  populärere  Darstellungsweise  gemeinsam,  vermöge 
deren  sie  —  in  gutem  und  minder  gutem  Sinne  —  auf  die  all- 
gemeine Bildung  häufig  einen  direkteren  Einfluß  ausgeübt  haben, 
als    die    strengeren   Gedankengänge   der   rationahstischen   Schule. 

Der   erste   in   dieser   Reihe   der   irrationalistischen  Denker  ist 

r  ,     1  \    Friedrich  Heinrich  Jacobi,  dessen  fruchtbare  und  förderliche 

Kritik  der   Kantischen   Lehre   schon   an   anderer   Stelle   erwähnt 

worden  ist.     Was  seine   positive  Lehre  anbetrifft,    so  wurzelt  sie 


l'crsünlichkeit.  iJ.OO 

zwar  vielfach  ii\  den  vorschicdcMisten  ilichtunj^en  der  vorkantiFchen 
Philosophie;  aber  ihre  Ausbildung  und  iiire  f)räzi.se  Darstellung 
knüpft  überall  an  den  von.ihr  bekämpften  Idealismus  an.  Seiner 
«ijanzen  Persönlichkeit  nach  «^'chört  .Jacobi  jener  Reaktion  gegen 
die  nüchterne  Aulkliirun«^  an,  welche  mit  »Sturm  und  Drang  auf 
das  geniale  Gefühl  der  ursprünglichen  Individualität  pochte.  1743 
zu  Düsseldorf  geboren,  zog  er  sich  aus  der  kaufmännischen  Lauf- 
bahn, die  er  anfänglich  in  Genf  begonnen  hatte,  allmählich  ganz 
in  die  literarische  Tätigkeit  zurück  und  war  von  1804  an  bis  zu 
seinem  Tode  (1819)  Präsident  der  Münchner  Akademie  der  Wissen- 
schaften. Von  seinen  zahlreichen  mit  Liebe  gepflegten,  aber  mit 
unsäglicher  Empfindsamkeit  und  Empfindlichkeit  verbundenen 
persönlichen  Beziehungen  sind  diejenigen  zu  Hamann  und  zu  Goethe 
die  bedeutsamsten  und  für  seine  Lebensauffassung  wichtigsten  ge- 
wesen. Solche  Verhältnisse  waren  bei  ihm  um  so  einflußreicher, 
als  er  eine  außerordentlich  weiche  Natur  war.  Ein  Schweben  im 
zartesten  Gefühlsleben,  ein  Wühlen  in  der  eigenen  Empfindung, 
ein  Forcieren  aller  persönlichen  Verhältnisse  machen  ihn  zum 
Typus  jener  Periode  subjektiver  Verinnerlich ung  und  individueller 
Durchbildung,  welche  die  Aufklärung  abzulösen  bestimmt  war: 
aber  nicht  minder  zeigt  er  auch  den  genialen  Eigensinn,  das  leiden- 
schaftliche Verranntsein  in  persönliche  Überzeugungen,  welches 
dem  melancholischen  Temperament  anzuhaften  pflegt.  In  seinem 
Stile  di'ückt  sich  das  durch  den  Mangel  objektiver,  ruhiger 
Beweisführung  und  das  Vorherrschen  des  warmen  Gefühls  aus. 
Seine  Schriften  bilden  keine  wissenschaftlichen  Darstellungen,  sie 
sind  immer  im  Affekt  geschrieben,  stets  erregt  und  überschwenglich ; 
sie  sind  aus  der  Gestalt  von  Ansätzen,  Anfängen  und  Einleitungen 
niemals  zu  einem  fertigen,  geschlossenen  Werke  gereift,  imd  da 
in  ihnen  nicht  der  Verfasser  über  den  Stoff,  sondern  der  Stoff 
über  den  Verfasser  herrscht,  so  enthalten  sie  keine  Beweise,  sondern 
nur  Versich erunc^en ;  sie  ähneln  den  Werken  der  alten  Mystiker 
auch  darin,  daß  in  ihrer  lebhaft  dahinwallenden  Bede  oft  aus  der 
trüben  Dunkelheit  prächtige  Blitze  des  Geistes  hervorbrechen. 

Allein  diese  Verwandtschaft  mit  der  Mystik  ist  bei  Jacobi  in 
der  Tiefe  der  Weltauffassung  begründet.  Das  unmittelbare  Er- 
greifen des  unendlichen  und  unbedingten  Weltinhaltes  durch  den 
endlichen  Geist  ist  das  Thema  aller  seiner  Rhapsodien,  und  was 


360  Jacobi. 

seinen  Blick  für  die  Bedeutung  der  kritischen  Erkenntnistheorie 
so  wunderbar  schärfte,  war  nur  die  ihn  von  Anbeginn  erfüllende 
Überzeugung,  daß  dieses  Erfassen  des  Unendlichen  niemals  durch 
die  wissenschaftliche  Denktätigkeit,  sondern  nur  durch  das  ur- 
sprüngliche Gefühl  geschehen  könne.  Darum  fand  er  sich  zu  der 
skeptischen  Tendenz  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  durchaus 
sympathisch  hingezogen.  Die  wissenschaftliche  Unerkennbarkeit 
des  Übersinnlichen  galt  ihm  als  von  Kant  streng  erwiesen.  Aber 
die  Kritik  ging  ihm  nicht  weit  genug;  denn  sie  ließ  noch  die 
wissenschaftliche  Denkbarkeit  einer  übersinnlichen  Welt  bestehen. 
Deshalb  richtete  Jacobi  sein  Augenmerk  in  erster  Linie  auf  die 
prekäre  Stellung,  welche  bei  Kant  der  Begriff  des  Dinges  an  sich^ 
als  der  Kreuzungspunkt  seiner  verschiedenen  Denkinteressen  ein- 
nimmt, und  zeigte  in  der  oben  erwähnten  Polemik,  in  welche 
Widerspiüche  sich  dieser  Grundbegriff  notwendig  verwickelt.  Die 
wissenschaftliche  Kritik  muß  das  Ding  an  sich  nicht  als  proble- 
matisch betrachten,  sondern  leugnen;  der  transzendentale  muß 
absoluter  Idealismus  werden.  Die  Wissenschaft  muß  die  üfcer- 
similiche  Welt  nicht  nur  als  etwas  ihr  Unbeiührbares  hinstellen, 
sondern  sie  muß  sie  leugnen.  Sie  kann  nicht  einmal  den  Begriff 
des  Unbedingten  bilden,  sie  kennt  nur  den  kausalen  Zusammen- 
hang endlicher  Existenzen.  Das  Postulat  der  Kausalität  muß 
lauten:  es  gibt  nichts  Unbedingtes.  In  diesem  Sinne  bezeichnet 
Jacobi  den  Spinozismus  als  die  vollendete  Form  der  Wissenschaft, 
wobei  er  freilich  vollkommen  die  große  Rolle  übersieht,  welche 
gerade  in  diesem  das  Unbedingte  spielt,  und  nur  auf  seinen 
Naturalismus  hinsichtlich  des  Welt2:eschehens  reflektiert.  Die 
Wissenschaft,  sagt  Jacobi,  kann  nur  anerkennen,  was  sich  be- 
weisen läßt.  Beweisen  heißt  etwas  aus  etwas  anderem  ableiten, 
bewiesen  werden  kann  nur  das  Bedingte.  Das  Unbedingte,  die 
höchsten  Grundsätze,  sind  ursprünghche,  allgemeine,  unüberwind- 
liche »Vorurteile«.  Aber  mit  dieser  Argumentation,  welche  an 
sich  als  die  Behauptung  unerweisbarer  Gründe  für  alle  Bewtis- 
tätigkeit  durchaus  korrekt  ist,  verbindet  Jacobi  ncch  die  naiv 
rationalistische  Verwechslung  der  Begriffe  von  "^Erkenn tnisgrund^ 
und^ealursache~und  begründet  damit  den  Satz,  daß  ein  Gott, 
welcher  bewiesen  werden  könnte,  kein  Gott  wäre,  und  daß  es  das 
Interesse  der  Wissenschaft  sei,  daß  kein  Gott  existiere.    Naturalis- 


Wissen  uiul  (jlauhon.  36|_ 

mus  und  Atheismus  sind  für  ilm  dc^halij  notwendige  Charaktere 
der  Wissenschaft;  es  gibt  für  sie  kein  unbedingtes,  t^ondern  nur 
bedingtes  Sein  —  eine  Auffassung,  wekhe  Kants  »kritischer  Auf- 
lösung« der  beiden  dynaniischen  Antinomien  in  der  Tat  sehr  nahe 
steht. 

Aber  eben  deshalb  kann  sich  nach  Jacobis  Meinung  die  mensch- 
liche Überzeugung  nicht  mit  der  Wissenschaft  begnügen.  Man 
muß  sorgfältig  zwischen  unmittelbarer  und  mittelbarer 
Erkenntnis  unterscheiden.  Alles  wissenschaftliche  Denken  ist 
mittelbar  und  setzt  £omit  ein  unmittelbares  voraus,  das  es  selbst 
nicht  begreifen  kann.  (So  sprach  Fichte  vom  sekundären  Cha- 
rakter des  Bewußtseins.)  Es  ist  das  irpwTov  '!;£uoo?  der  ratio- 
nalistischen Aufklärung,  nur  glauben  wollen,  was  sich  wissen- 
schafthch  beweisen  läßt.  Das  unbedingte  Sein  ist  nie  zu  beweisen, 
sondern  immer  nur  unmittelbar  zu  fühlen.  Es  ist  kein  Objekt 
des  Wissens,  sondern  nur  ein  Gegenstand  des  Glaubens.  Jacobi 
schließt  sich  damit  wie  Hamann  an  Humes  Gebravch  des  Wortes 
»belief«  an,  bleibt  jedoch  in  der  Anwendung  nicht  innerhalb  der 
von  Hume  oesteckten  Grenzen  der  sinnlichen  Tatsächlich keit.  Denn 
er  behauptet  zugleich,  daß  dies  unbeweisbare  Gefühl,  wodurch 
sich  das  unbedingte  Sein  in  unserem  Bewußtsein  ankündigt,  zwei 
Grundformen  habe:  die  Gewißheit  der  sinnlichen  Wahrnehmung 
und  diejenige  des  übersinnlichen  Glaubens.  Beiden  ist  gemeinsam, 
daß  sie  die  Realität  ihres  Gegenstandes  nicht  beweisen  können, 
sondern  ihrer  unmittelbar  gewiß  sind;  beide  sind  deshalb,  wie 
Jacobi  nicht  ohne  Beziehung  auf  die  Leibnizische  Monadologie 
ausführt,  nur  dadurch  erklärbar,  daß  im  Akte  der  Wahrnehmung 
Wahrnehmendes  und  Wahrgenommenes  unmittelbar  eins  sind,  daß 
also  die  Gewißheit  der  Wahrnehmung  ein  inte grierec der  Bestandteil 
unserer  Selbstgewißheit  ist.  Nur  vermöge  dieses  »Glaubens«  sind 
wir  der  Existenz  der  äußeren  Welt  sicher.  Beweisen  läßt  sie  sich 
nicht.  Die  theoretische  Wissenschaft  kennt  nur  Vorstellungen, 
und  die  Kritik  der  reinen  Vernunft  führt,  konsequent  verfolgt, 
zum  Nihilismus,  sie  ist  eine  in  alle  Ewigkeit  um  lauter  Nichts 
beschäftigte  Vernunft.  Als  daher  Fichte  diese  Konsequenz  zog 
und  das  Ich  als  den  nur  auf  sich  selbst  gerichteten  Trieb  de- 
finierte, da  stellte  sich  Jacobi  ganz  auf  den  Standpunkt  des  naiven 
Realismus    und    behauptete,    ein    solches  »Tun   des   Tuns«,    ein 


362  Jacobi. 

»ursprüngliches  Tun«  sei  absolut  unvorstellbar*).  Alles  Tun  weise 
auf  ein  »ursprüngliches  Sein«  zurück,  das  es  »zu  enthüllen  gilt«, 
und  das  sich  nur  dem  »Gefühl«  zu  erkennen  gibt.  Der  Eealismus, 
die  Annahme  einer  außer  uns  existierenden  Welt,  ist  Sache  des 
Glaubens:  und  so  führt  Jacobi  die  naive  Weltansicht  durch  die 
sensualistische  Evidenz  ein,  —  eine  Lehre,  worin  ihn  seine 
Vertrautheit  mit  Bonnet  bestärkte.  Es  wiederholt  sich  auch  bei 
ihm  die  häufig  erwähnte  Tatsache,  daß  der  Antirationalismus  mit 
dem  Sensualismus  gemeinschaftliche  Sache  machen  muß. 

Aber  das  ist  zuletzt  nur  eine  Konzession;  das  eigentliche  Inter- 
esse liegt  für  Jacobi  bei  jener  anderen  Wahrnehmungsfähigkeit, 
derjenigen  des  Übersinnlichen,  welche  er  in  seinen  späteren  Schriften 
nach  Herders  Vorgange  mit  etymologischer  Spielerei  »Vernunft« 
nennt,  und  es  ist  nur  die  Sache  seiner  persönhchen  Überzeugung, 
daß  er  diese  nicht  wie  frühere  Antirationalisten  in  irgend  einer 
positiven  Offenbarung,  sondern  im  individuellen  Gefühle  sucht. 
Er  ist  in  dieser  Hinsicht  und  namentlich  in  bezug  auf  das  Doppel- 
verhältnis zu  Kant  und  Spinoza  das  negative  Seitenstück  zu 
Schleiermacher.  Darin  besteht  auch  bei  ihm  die  eigentümliche 
Zwischenstellung,  daß  er  den  Glauben  an  das  Übersinnliche  weder 
auf  einen  theoretischen  noch  auf  einen  praktischen  Beweis  stützt, 
sondern  ihn  lediglich  im  Gefühle  sucht  und  dabei  doch  mit  der- 
selben Unklarheit  wie  Rousseau  eine  gewisse  Allgemeingültigkeit 
und  Notwendigkeit  dieses  Gefühls  mehr  voraussetzt  als  ausdrück- 
lich behauptet.  Zwar  spendet  er,  wie  vorauszusehen,  Kants  Lehre 
von  dem  Primat  der  praktischen  Vernunft  und  seinem  Begriffe 
des  moralischen  Glaubens  eine  be;>eisterte  Anerkennung;  aber 
gegen  die  kritische  Ausführung  dieser  Gedanken  sträubt  er  sich 
teils  wegen  ihrer  Richtung  auf  das  »Sollen«,  statt,  wie  er  verlangt, 
auf  das  »Sein«  der  Postulate,  teils  wegen  ihrer  wissenschaftlich 
beweisenden  Form,  teils  besonders  we^cn  der  Rigorosität  des 
Kantischen  Moralprinzips.  Das  starre  Pfiichtgesetz  erfüllt  ihn 
geradezu  mit  einer  Art  von  Haß.  Wie  ihm  die  Individualität 
die  stärkste,  lebhafteste  und  festeste  aller  Gewißheiten  ist,  so 
betrachtet    er  auch    die  individuelle  Natur  als   das  Heiligste  auf 


*)  Er  glaubte  witzig  zu  sein,  wenn  er  das  Fichtesche  Ich  >ein  Stricken 
nicht  etwa  des  Strumpfes,  sondern  ein  Stricken  des  Strickens«  nannte. 


ZwoifttclKi  WjilirhciL  :J03 

(\vu\  monvlisclion  Gebiete.  Von  der  moralischen  Autonomie  hält 
er  sich  mehr  an  auro?,  als  an  den  vo|io;.  Es  sind  Anklän;^e  an 
Shaft-esbury  und  dessi'n  ]jehre  von  der  ^q-olicn  sittlichen  Indi- 
vidualität, mit  denen  Jacobi  das  Hecht  der  Subjektivität,  sich  ihr 
eigenes  Gesetz  zai  i^eben  und  ihr  Leben  danach  zu  gestalten,  in 
begeisterter  Weise  verkündet.  In  seinen  phil()S()j)hischen  Romanen, 
besonders  im  »Allwill«,  entwirft  er  das  Bild  einer  solchen  großen 
Persönlichkeit,  welche  gegen  die  philisterhafte  Eingeschränktheit 
des  landläufigen  Moralisierens  das  sittliche  Recht  hat,  —  ein  Bild, 
zu  dessen  Zügen  unverkennbar  Goethe  gesessen  hat.  Jacobi  war 
selbst  eine  zu  edle  und  moralisch  sichere  Natur,  als  daß  dieser 
ethische  Individualismus  bei  ihm  zu  dem  Übermute  genialer 
Willkür  geführt  hätte,  welchen  die  Romantiker  proklamierten. 
Aber  die  Richtung  seines  ethischen  Denkens  ist  dieselbe.  Sie 
wendet  sich  deshalb  gegen  die  maximenhafte  Formulierung  der 
sittlichen  Wertbestimmung  und  trägt  alle  Züge  einer  ästheti- 
sierenden  Moral.  Das  Wesentliche  in  der  sittlichen  Überzeugung 
ist  auch  bei  Jacobi  die  Selbstgewißheit  der  Freiheit  und  der  Glaube 
an  die  Gottheit  und  die  Unsterblichkeit;  aber  diese  Gewißheit 
ist  kein  Wissen,  sondern  eine  Tugend.  Sie  ist  lebendige  Wirk- 
lichkeit, wie  alle  Wahrnehmung,  und  der  Versuch,  sie  zu  denken, 
erfaßt  wie  alles  Denken  nur  ihren  toten  Schatten.  Im  Verstände 
ist  Fatalismus,  Gottlosigkeit  und  schattenhaftes  Wissen;  Wahrheit, 
Freiheit  und  Gottesglaube  sind  nur  im  Gefühl.  So  nennt  sich 
Jacobi  mit  dem  Kopfe  einen  Heiden,  mit  dem  Herzen  einen 
Christen  und  er  sagt:  licht  ist  in  meinem  Herzen,  aber  wenn 
ich  es  in  meinen  Kopf  bringen  will,  erlischt  es. 

Seine  Lehre  ist  der  Beweis  davon,  wie  sich  der  Kantische 
Dualismus  von  Wissen  imd  Glauben  gestalten  muß,  wenn  er  in 
das  populäre  Bewußtsein  mit  radikaler  Konsequenzmacherei  über- 
setzt wird.  Bei  Jacobi  sind  alle  Brücken  zwischen  Glauben  und 
Wissen  derart  abgebrochen,  daß  es  gar  keine  Verbindung  mehr 
zwischen  beiden  gibt,  daß  sie  vielmehr  in  einen  vollkommenen 
und  prinzipiellen  Widerspruch  zueinander  gesetzt  werden.  Für 
ihn  ist  die  Wissenschaft  nicht  nur  wie  für  Kant  unfähig,  die 
Objekte  des  Glaubens  zu  beweisen,  sondern  vielmehr  genötigt, 
sie  zu  leugnen.     In  dieser  Hinsicht  hat  Jacobi  einige  Ähnlichkeit 


364  Schelling. 

mit  dem  großen  französisclieii  Skeptiker  Pierre  Bayle.  Er  ist 
wie  dieser  ein  hervorragender  Vertreter  der  Lehre  von  der 
zweifachen  Wahrheit.  Er  bringt  den  Dualismus  von  Wissen 
und  Glauben  bis  auf  die  scharfe  Form,  daß  seine  persönliche 
Überzeugung  überall  da  anfängt,  wo  die  Beweise  aufhören,  und 
daß  er  von  dem  Gegenteil  desjenigen  überzeugt  ist,  was  seiner 
Meinung  nach  bewiesen  werden  kann.  Seine  Vernunftlehre  ist 
deshalb  daä.Ä-Uß.crste  Widerspiel  des  RationaUsmus.  »Vernunft« 
ist  ihm  kein  Denken,  sondern  ein  »Vernehmen«  des  Übersinn- 
lichen, und  was  man  sonst  Vernunftwahrheit  genannt  hat,  ist 
für  ihn  eine  Verstandesreflexion.  Daraus  folgt,  daß  von  einer 
wissenschaftlichen  Schule,  die  sich  an  Jacobi  angeschlossen  hätte, 
keine  Rede  sein  kann,  und  Männer  wie  Wizenmann,  Koppen, 
Salat  u.  a.,  welche  als  seine  Anhänger  gelten,  konnten  immer 
nur  in  seinen  Fußtapfen  nach  treten.  Aber  anderseits  hatte  doch 
sein  Dualismus  mit  dem  Kantischen  viel  zuviel  Ähnlichkeit  und 
war  viel  zu  sehr  nur  eine  Verschiebung  davon,  als  daß  man 
sich  darüber  verwundern  könnte,  wie  manche  Kantianer  nament- 
lich im  Gegensatz  gegen  die  Identitätsphilosophie  sich  mehr  und 
mehr  zu  Jacobi  hinneigten.  Und  schließlich  bot  diese  Verwandt- 
schaft die  Veranlassung  dafür,  daß  Fries  eine  volle  Vereinbarung 
beider  Denker  auf  seinem  psychologistischen  Standpunkte  zu  voll- 
ziehen versuchte. 

Jacobi  ist  im  eigentHchsten  Sinne  mehr  AntirationaHst  als 
Irrationalst.  Zwar  setzte  er  die  Wahrheit  des  Gefühls  geradezu 
in  Widerspruch  mit  dem  reflektierenden  Denken,  welches  er  in 
den  früheren  Schriften  selbst  das  vernünftige  oder  rationale  ge- 
nannt hatte.  Aber  was  er  als  den  Inhalt  des  Glaubens  be- 
zeichnet, bleiben  doch  dieselben  Ideen  von  ^Gott^  'Freiheit  und 
Unsterbhchkeit,  welche  Kant  mit  der  gewöhnlichen  Sprache  als 
die  Gegenstände  des  vernünftigen  Glaubens  charakterisiert  hatte. 
Wendet  man,  ohne  sich  um  Jacobis  willkürhchen  Sprachgebrauch 
zu  kümmern,  die  gebräuchlichen  Termini  an,  so  ist  doch  auch 
seine  Lehre  die,  daß  den  letzten  Inhalt  aller  Wirkhchkeit  eine 
göttliche  Vernimft  bildet,  welche  nur  die  denkende  Vernunft  des 
Menschen  nicht  zu  fassen  vermöge.  Der  Antirationahsmus  von 
Jacobi   betrifft   nur   noch    die   Erkenntnis   des   Absoluten,   nicht 


Pbilosopliio  und  Religion.  ;U)5 

den  Begriff  des  Absoluten  sechst,  er  ist  kritischer  Antirationa- 
lismiis.  Die  weiterjjjehendc  Wendung,  die  im  Absoluten  selbst 
die  Unvernünftigkeit  entdecken  wollte,  war  erst  auf  dem  Stand- 
punkte  der  Identitätaphilosopliie  möglich,  wenn  der  undeduzier- 
bare  Rest  auch  metaphysisch  als  das  der  Vernunft  Vorhergehende 
betrachtet  wurde.  Diese  Wendung  vollzog  Scheu ing  in  der- 
jenigen Phase  seiner  Entwicklung,  der  man  den  Namen  der 
Freiheitslehre  gegeben  hat. 

Die  Veranlassungen   dazu    lagen   in   einem    Problem,    welches 
die  letzte  Form  des  Identitätssystems  darbot.     Dem  Begriff  des 
Absoluten    standen    darin    die    göttlichen    Potenzen    gegenüber. 
Aber   die   letzteren   waren   einerseits   im    Platonischen   Sinne   als 
Ideen   in   Gott   aufgefaßt,   anderseits   galten  sie  als  selbständige 
Wirklichkeiten  in  Natur  und  Geschichte.    Das  alte  Problem  von 
der  Substantialität  der  einzelnen  Dinge  der  Gottheit  gegenüber 
war  darin  mehr  verdeckt  als  gelöst.    Pantheismus  und  Theismus 
schlummerten  friedhch   nebeneinander.     Schelling  selbst  war   an- 
fangs ganz  entschieden  Pantheist  gewesen,   und  die  Naturphilo- 
sophen,   besonders   Oken,    prägten   diesen  Standpunkt  noch   ent- 
schiedener  aus.     Aber  die  Notwendigkeit  des  Fortschrittes  hatte 
ScheUing   selbst   darüber  hinausgeführt,   und  der  »Bruno«,  sowie 
die  »Methode  des  akademischen  Studiums«   lehrten   bereits   aus- 
drücklich eine  Selbständigkeit  des  Absoluten  der  Welt  gegenüber 
und  umgekehrt.    Wenn  nun,  wie  selbstverständlich,  das  Absolute 
mit    seinen   Ideen    als    das   Ursprüngliche    angesehen   wm'de,    so 
entstand    die    von    dem   Identitätssystem    ungelöste   Frage:    wie 
kommen    die    Ideen    zur    Selbständigkeit?    oder   populär   ausge- 
drückt: wie  geht  die  Welt  aus  G<)tt  hervor?     Diese  Frage  an 
die   Schellingsche    Phüosophie    gestellt   und    damit   ihre    Fortbil- 
dung veranlaßt  zu  haben,   ist  das  Verdienst  eines  ihrer  Schüler, 
üschenmayer  (1770—1852)  suchte  in  seiner  Schrift:  »Die  Phi- ^*'^^'^*^' 
losophie  in  ihrem  Übergange  zur  Nichtphilosophie«  (1803)  nach- 
zuweisen,  daß  die   Philosophie  zwar  die  Entwicklimg   der  Ideen 
in  der  natürlichen  und  der  geschichtlichen  Wirklichkeit  begreifen, 
daß  sie  aber  ihr  Hervorgehen  aus  der  Gottheit  und  diese  selbst 
nicht    zu    erfassen   vermöge   und   solche   Mysterien   der   Religion 
überlassen  müsse.     An  dem  Punkte,  wo  die  Ideen  in  ihrem  Ver- 
hältnis zur  Gottheit  betrachtet  werden  sollen,  hört  das  rationale 


366  Schelling. 

Denken  auf,  und  die  Philosophie  geht  in  die  Keligion  über.  Von 
hier  aus  ist  Eschenmayer  später  immer  mehr  der  Philosophie  ent- 
fremdet und  vom  Supranaturalismus  gefangen  genommen  worden 
und  hat  schließlich  in  seinen  »Grundzügen  einer  christlichen 
Philosophie«  (1838)  namentlich  Hegel  bekämpft.  Seine  Bedeu- 
tung beruht  wesentlich  darin,  daß  er  Schelling  auf  den  neuen 
Weg  seines  Denkens  gestoßen  hat.  Denn  Schelling  empfand 
den  Stachel  dieser  Frage  tief,  und  er  beantwortete  sie  in  seiner 
Schrift:  »Philosophie  und  Keligion«  (1804)  dahin,  daß  sie  von 
einem  Standpunkte  gelöst  werden  müsse,  der  das  religiöse  und 
das  philosophische  Denken  nicht  auseinanderreiße,  sondern  beide 
zu  der  Vereinigung  zurückführe,  die  nur  im  Laufe  der  Zeiten 
verloren  gegangen  sei.  Dieselbe  Frage,  welche  später  Hegel  auf 
rein  philosophischem  Wege  zu  lösen  unternahm,  indem  er  das 
Absolute  als  die  in  notwendiger  Entwicklung  begriffene  Idee 
oder  den  absoluten  Geist  auffaßte,  dieselbe  wollte  jetzt  Schelling 
durch  eine  Verschmelzung  von  KeUgion  und  Philosophie,  d.  h. 
auf  dem  Wege  der  Theosophie  lösen.  Damit  aber  verläßt  er 
die  Bahn  des  Rationalismus  und  betritt  diejenige  des  Irratio- 
nalismus. 

Die  Erkenntnis  des  ''Absoluten^  ist,  wie  auch  später  Hegel  ge- 
sagt hat,  die  gemeinsame  Aufgabe  der  EeHgion  und  der  Philo- 
sophie. Aber  das  Absolute  kann,  da  in  ihm  alle  Wirklichkeit 
erschöpft  ist,  nur  sich  selbst  erkennen.  Und  nichts  anderes  sind 
die  Ideen  als  diese  ewige  Selbstobjektivierung  der  Gottheit.  Die 
Ideenlehre  ist  daher  die  wahre  »transzendentale  Theogonie«.  Als 
diese  Selbstoffenbarung  Gottes  sind  die  Ideen  in  ihm,  und  sie 
besitzen  in  diesem  Anteil,  den  sie  an  dem  absoluten  Wesen 
haben,  die  Möglichkeit  der  Selbständigkeit.  Daß  aber  diese  Selb- 
ständigkeit wirklich  geworden  ist,  dieser  Abfall  der  Ideen  von 
Gott,  durch  den  die  Welt  in  ihrer  metaphysischen  Realität  ent- 
stand, ist  eine  aus  dem  Wesen  der  Gottheit  nicht  begreifliche 
und  deshalb  nicht  als  notwendig  zu  erkennende  Tatsache.  Hier 
ist  der  Sprung  im  Identitätssysteme;  die  Genesis  des  Endhchen 
aus  dem  Absoluten  ist  irrational,  sie  ist  eine  Urtatsache, 
welche  aus  dem  Absoluten  nicht  deduziert  werden  kann.  Sie 
ist  deshalb  nur  anzuerkennen  und  zu  beschreiben.  Sie  besteht 
in   dem  Verlangen  der   Idee,   das   Absolute   selbst  zu   sein.     Sie 


Hiiador.  307 

trägt  an  sich  alle  Züge  des  —  Sündenfalls.  J)er  Akt  der  Ver- 
selbständigung  der  Ideen,  die  Genesis  der  Welt,  ist  der  Sünden- 
fall; er  ist  eine  im  Wesen  der  Ideen  mögliche,  ai)er  nicht  not- 
wendige, er  ist  eine  absolut  freie  Handlung.  In  dieser  erkennt 
Schelling  Fichtes  Tathandlung  des  Ich.  Das  Endliche,  das  un- 
endlich sein  will,  ist  die  selbständig  werdende  Idee,  ist  die  Welt 
in  ihrem  Abfall  von  der  Gottheit.  Die  uralte  Auffassung  orien- 
talischer Mystik,  daß  die  Sonderexistenz  der  Einzelwesen  Sünde^ 
sei,  wird  in  philosophischer  Formulierung  zum  bestimmenden 
Prinzip  des  Schellingschen  Denkens,  und  die  Folge  davon  ist 
die,  daß  dann  auch  das  ganze  Leben  der  selbständig  gewordenen 
Idee  als  eine  Sühne  des  ersten  Abfalls  erscheint.  Das  selbständig 
gewordene  Endliche  soll  in  die  Gottheit  zurückkehren,  das  ist 
der  ganze  Inhalt  des  historischen  Prozesses,  der  sich  auf  der 
Natur  als  jener  sündigen  Verselbständigung  des  Endlichen  auf- 
baut. Die  Mysterien  von  Fall,  Läuterung  und  seUgem  Leben 
enthalten  die  volle  Offenbarung  der  Gottheit  in  der  historischen 
Wirklichkeit,  und  erst  nachdem  es  durch  das  abgefallene  End- 
liche zu  sich  selbst  zurückgekehrt  ist,  hat  das  Absolute  seine 
vollendete  Selbstobjektivierung  gefunden.  Es  gilt  auch  hier  das 
dialektische  Prinzip,  daß  erst  aus  der  Selbstentzweiung  das  Ab- 
solute den  Abschluß  seiner  Entwicklung  erreicht. 

Damit  war  Schelling  durch  seine  eigene  Entwicklung  zu  einer 
Theosophie  gekommen,  welche  derjenigen  der  alten  Mystik  sehr 
nahe  stand.  Der  Gedanke  einer  Entwicklung  des  göttüchen  Wesens 
durch  die  von  ihm  abfallende  Welt  hindurch  war  von  ihm  zwar 
originell  gefunden,  aber  er  war  nicht  neu,  und  es  war  deshalb 
von  großer  Wichtigkeit,  daß  Schelling  von  neuem  auf  denjenigen 
deutschen  Mystiker  aufmerksam  wurde,  welcher  solche  Gedanken 
mit  tiefsinniger  Grübelei  durchzuführen  versucht  hatte,  auf  Jacob 
Böhme.  Die  Anregung  ging  jetzt  von  Schellings  Freunde  Franz  /^  o,^^ 
von  Baader  (1765 — 1841)  aus,  welcher  selbst  in  der  nachhaltigsten 
Weise  unter  dem  gleichen  Einflüsse  stand.  Baader  selbst  bewies 
den  überkonfessionellen  Charakter  der  Mystik  dadurch,  daß  er 
den  Gedanken  des  Protestanten  Böhme  mit  seiner  katholischen 
Überzeugung  in  einer  Weise  vereinbarte,  die  freilich  nicht  die 
Zustimmung  der  kirchhchen  Macht  finden  konnte.  Auch  er  hat 
die   aphoristische ,  behauptungsvoUe^  und^_wenig^  wissenschafthche 


I- 


Hl 


368  Schelling. 

Denk-  und  Schreibweise,  die  allen  Mystikern  gemein  zu  sein  pflegt, 
und  seine  Werke  (16  Bände  Leipzig  1851 — 1860)  bestehen  meist 
aus  kurzen  abgerissenen  Blättern.  Nur  die  »Fermenta  cognitionis« 
(6  Hefte  1822 — 1825)  und  die  » Vorlesungen  über  spekulative 
Dogmatik«  enthalten  Zusammenhängendes  über  seine  Lehre,  welche 
man  am  besten  aus  den  Schriften  seines  unermüdlichen  Anhängers 
Franz  Hoffmann  und  besonders  aus  dessen  »Spekulative  Ent- 
wicklung der  ewigen  Selbsterzeugung  Gottes«  (Amberg  1835) 
kennen  lernt.  Es  ist  eine  etymologien-  und  analogienreiche  Ver- 
quickimg der  Böhmeschen  Mystik  mit  Kantischen  und  Fichte- 
schen Gedanken.  Es  handelt  sich  um  dieselbe  Konstruktion  des 
theogonischen  Prozesses  und  um  den  Aufweis  des  Parallelismus, 
worin  dieser  mit  dem  Sündenfall  und  der  Erlösung  des  Menschen 
stehen  soll.  Es  ist  im  Grunde  genommen  die  theosophische  Um- 
deutung  einer  Geschichtskonstruktion  unter  einem  religiösen  Ge- 
sichtspunkte. Die  Entwicklung  des  Individuums  und  der  Welt 
sei  durch  den  Sündenfall  als  Anfangspunkt  und  durch  die  Er- 
lösung als  Endpunkt  bestimmt  und  aus  ihnen  zu  begreifen,  und 
diese  Entwicklung  enthalte  zugleich  die  Selbsterlösung  der  Gott- 
heit von  ihrem  dunklen  Urwesen  durch  ihre  volle  imd  absolute 
Selbsterkenntnis. 

Dieselben  theosophischen  und  theogonischen  Gedanken  sog  nun 
auch  Schelling  aus  Jacob  Böhme  ein,  aber  ihre  Phantastik  milderte 
sich  bei  ihm  durch  die  Klarheit  der  Kantischen  Gedanken  und 
namentlich  der  Kantischen  Rehgionsphilosophie ,  welche  ja  in 
mancher  Hinsicht  diesen  Problemen  nahe  stand  und  auch  ihrer- 
seits eine  spekulative  Umdeutung  der  Lehren  vom  Sündenfall  und 
von  der  Erlösung  versuchte.  Man  kann  von  einer  sukzessiven 
Wirkung  der  großen  Kantischen  Werke  sprechen.  Reinholds 
Elementarphilosophie  rekurrierte  wesentlich  auf  die  Kritik  der 
reinen  Vernunft.  Fichtes  Lehre  steht  der  Kritik  der  praktischen 
Vernunft  am  nächsten.  Schellings  Naturphilosophie  und  die 
ästhetische  Wendung  der  Philosophie  s'nd  durch  die  Kritik  der 
Urteilskraft  bedingt,  und  seine  »Freiheitslehre«  schließt  sich  teil- 
weise an  die  »Religion  innerhalb  der  Grenzen  der  bloßen  Ver- 
nunft«, im  besonderen  aber  an  die  Theorie  des  intelligiblen 
Cliarakters  an,  die  darin  eine  wichtige  Rolle  spielte.  Diese  Freiheits- 
lehre  entwickelte  sich   vollständig   in  den   »Untersuchungen  über 


FroihoitBlehro.  3H9 

das  Wesen  der  mcnschliclien  Freiheit«  (1809),  welche  Srhellin^ 
gegen  einen  |)lnin])en  Angriff  .lucohis  in  einer  groben  und  ge- 
hässigen Replik  )>J)enkinal  der  Schrift  von  ditn  g<)tt liehen  Dingen 
mul  ihrer  Offenbarung  des  Herrn  F.  IL  Jacobi«  (1812)  und  gegen 
Einwürfe  von  Eschenmayer  in  der  von  ihm  herausgegebenen 
»Allgemeinen  Zeitschrift  von  Deutschen  für  Deutsche«  (1813) 
verteidigte. 

Das  theosophisclie  Problem  besteht  vor  allem  darin,  daß  alles 
Endliche  seinen  Grund  im  Absoluten  haben  und  doch  selbst  zum 
Absoluten  gehören  soll.  In  diesem  Sinne  muß  also  das  Absolute 
seinen  Grimd  in  sich  selber  haben ;  es  muß  in  ihm  zwischen  dem 
Grunde  seiner  Existenz  und  seiner  vollen,  wirklichen  Existenz,  es 
muß  zwischen  der  Natur  in  Gott  und  dem  vollendeten  Gott, 
zwischen  Dens  implicitus  und  Dens  explicitus,  zwischen  seinem 
AJpha  und  seinem  Omega  unterschieden  werden,  und  zwischen 
beiden  Grenzpunkten  muß  die  Welt  der  selbständigen  einzelnen 
Dinge  als  der  Prozeß  der  Entwicklung  von  dem  einen  zum  andern 
begriffen  werden.  Das  Universum  ist  die  Selbstentwicklung  der 
Gottheit  in  sich,  aus  sich,  zu  sich  selbst;  es  enthält  eine  große 
Linie,  welche  vom  Unvollkommenen  zum  Vollkommenen,  vom 
Natürlichen  zum  Geistigen,  vom  Sündigen  zum  Heiligen  führt. 
Den  Anfang  dieser  Entwicklung  bildet  also  der  Grund  in  Gott, 
der  Urgrund,  Ungrund  oder  Abgrund,  wie  er  auch  von  Schelhng 
genannt  wird.  Er  ist  das  absolute  Dunkel,  das  bloße  Sein,  die 
vernunftlose  Existenz,  der  Urzufall,  der  nicht  notwendig,  sondern 
eben  einfach  vorhanden  ist.  Aber  in  ihm  muß  doch  die  Möglich- 
keit des  Vollkommeneren  gegeben  sein.  Sie  kann  also  nur  als 
ein  Trieb,  als  ein  dunkler  Drang,  als  ein  unbewußtes  Streben  be- 
stehen, imd  so  ist  der  Urgrund  der  dunkle,  unbewußte  W^ille. 
»Es  gibt  in  letzter  Instanz  gar  kein  anderes  Sein  als  Wollen«. 
Aber  die  Tendenz  dieses  Willens  kann  wiederum  auf  nichts  anderes 
als  auf  das  Absolute  gerichtet  sein;  sie  bezieht  sich  lediglich 
darauf,  daß  der  dunkle  Grund  sich  selbst  offenbar  werde;  sie  ist 
die  Tendenz  der  Selbstobjektivierung  des  Willens.  So  erzeugt  sich 
in  Gott  fortwährend  das  Abbild  seiner  selbst,  seine  Selbstoffen- 
barung, und  diese  besteht  in  den  ewigen  Ideen,  in  jener  bewußten 
Natur  in  Gott,  welche  Böhme  "Sophia^  genannt  hat.  So  tritt  zum 
unbewußten  Willen  die  Vernimft.    Nun  scheiden  sich  die  regellosen 

Windelband,  Gesch.  d.  n.  Philos.   H.  24 


■ 


370  Schelling. 

Kräfte  des  dunklen  Willens,  und  es  entstellt  durch  den  Gegen- 
satz der  Vernunft  und  jenes  dunklen  Dranges  die  Welt,  — 
die  Welt,  in  der  beide  herrschen,  die  Vernunft  in  der  Gesetz- 
mäßigkeit, Zweckmäßigkeit  und  Schönheit  der  Erscheinung,  der 
Wille  in  jenem  ewig  unerfüllten  Triebe,  der  wie  ein  Schleier  des 
Wehs  und  der  Sehnsucht  über  allem  Dasein  liegt.  Das  Geschick 
dieser  Welt  aber  besteht  eben  darin,  daß  mit  jener  unbegreiflichen 
Freiheit,  die  zum  Wesen  des  selbst  nicht  notwendigen  Willens 
gehört,  die  Welt  sich  selbständig  gemacht,  der  besondere  Wille 
sich  von  dem  allgemeinen  Willen  emanzipiert  hat.  Deshalb  be- 
ruht auch  das  ganze  Weltgeschick  auf  dem  Verhältnis  des  In- 
dividualwillens  zum  Universalwillen.  In  der  Natur  ist  der  Indi- 
vidualwille  gebunden  und  bedingungslos  von  dem  Universalwillen 
beherrscht,  der  sich  hier  durch  die  a  priori  erkennbaren,  d.  h. 
vernünftigen  Gesetze  darstellt,  und  dieses  Verhältnis  gilt  auch  für 
das  animale  Triebleben,  m  welchem  nur  der  psychologische  Me- 
chanismus waltet.  Dieses  Verhältnis  ist  dasselbe,  welches  Kant 
und  Fichte  in  ihrer  Geschichtsphilosophie  als  den  paradiesischen 
Stand  der  Unschuld  und  des  Vernunftinstinktes  bezeichnet  haben. 
Erst  im  Menschen  hat  sich  der  Individualwille  gegen  den  Universal- 
willen  empört,  und  diese  Genesis  des  Bösen  ist  aus  Naturgesetzen 
nie  zu  begreifen.  Der  Sündenfall  ist  die  irrationale,  vorzeitliche 
Tat  des  intelligiblen  Charakters.  Mit  ihr  begonnen,  hat  der  ge- 
samte Prozeß  der  Geschichte  zu  seiner  Aufgabe  nur  die  Über- 
windung des  Individual willens  durch  den  Universalwillen.  Diese 
ist,  nachdem  der  Individualwille  sich  einmal  selbständig  gemacht 
hat  und  als  solcher  nicht  mehr  zu  vernichten  ist,  nur  dadurch 
möglich,  daß  er  selbst  den  Universalwillen  in  sich  aufnimmt  und 
sich  so  in  ihn  verwandelt;  er  muß  aus  eigener  Erkenntnis  und 
eigener  Absicht  zu  jenem  Verhältnis  der  Unterordnimg  zurück- 
kehren, das  in  der  Natur  bewußtlos  herrscht.  Diese  Aufgabe  ist^ 
diejenige  des  sittlichen  und  des  religiösen  Lebens.  So  ordnen 
sich  in  Schellings  Freiheitslehre  die  Bestimmungen  von  Kants  und 
Fichtes  Geschichtsphilosophie  dem  theosophischen  Gesichtspunkte 
unter.  Der  Prozeß  der  Geschichte  gilt  ihm  jetzt,  der  Natur  gegen- 
über, als  die  höhere  Offenbarung  der  Gottheit;  die  Erreichinu 
des  Ziels,  die  völlige  Unterwerfung  des  Individualwillens  untej 
den  Universalwillen,  welche  freihch  in  der  unendlichen  Ferne  de? 


Schopenhauer.  371 

Endes  der  GcHchichte  liegt,  ist  die  Rückkehr  der  Dinge  zu  Gott, 
d.  h.  die  Rückkehr  der  Gottheit  zu  sich  selbst,  die  vollendete 
Selbstoffcnbarung  des  Urgrundes  —  der  Deua  explicitus. 

Wer  mit  der  Kenntnis  der  Schopenhauerschen  Lehre  der  bis- 
herigen Darstellung  gefolgt  ist,  der  wird  in  ihr  allmählich  alle 
die  Steine  haben  zum  Vorschehi  kommen  sehen,  aus  deren  über-  Jj 

raschender  Kombination  sich  das  glänzende  Mosaik  des  Systems/^  m 

von  Arthur  Schopenhauer   zusammengefügt   hat.     Keiner  der  ^^^^^'^^^ 
großen   Denker   vielleicht   ist   über   seine   historische   Stellung   in  /  7  r  / 
einer  solchen  Selbsttäuschung  befangen  gewesen,    und  keiner  hat     / 
die  Erkenntnis  der  wahren  Ausgangspunkte  seiner  Ansichten  durch        '^ /i'^  0 
seine  Darstellung  so  sehr  getrübt  wie  er.    Wer  ihn  ohne  historisches 
Wissen  liest,   der  muß  meinen,   Schopenhauer  habe  seine  einzige  ; 

Voraussetzung  in  Kant  und  sei  von  diesem  in  einer  Richtung 
fortgeschritten,  welche  der  durch  die  Namen  Fichtes  und 
Schellings  bezeichneten  gänzlich  entgegengesetzt  sei  und  gar  nichts 
mit  ihr  gemein  habe.  In  Wahrheit  ist  es  nur  eine  durch  die 
Gegensätze  seines  persönlichen  Wesens  bestimmte,  überaus  origi- 
nelle Verschiebung  der  Grundgedanken  dieser  gesamten  Ent- 
wicklung, welche  Schopenhauer  vollzogen  hat,  und  der  große  Vor- 
zug, den  er  vor  den  übrigen  Nachfolgern  Kants  besitzt,  besteht 
wesenthch  darin,  daß  er  zugleich  ein  Schriftsteller  ersten  Ranges 
ist.  In  der  philosophischen  Literatur  aller  Völker  gibt  es  keinen 
Denker,  der  mit  so  vollendeter  Klarheit  und  mit  so  anschaulicher 
Schönheit  den  philosophischen  Gedanken  zu  formen  verstanden 
hätte  wie  Schopenhauer.  So  war  es  ihm  gegeben,  eine  Anzahl 
von  Prinzipien,  die  er  selbst  nicht  geschaffen,  aus  der  Schul- 
sprache in  eine  wahrhaft  leuchtende  und  durchsichtige  Darstellung 
zu  übersetzen  und  die  gemeinsame  Weltanschauung  des  deutschen 
Idealismus  zum  Teil  in  Schlagwörter  zu  fassen,  die,  als  seine 
Werke  einmal  anfingen  dem  weiteren  Pubhkum  bekannt  zu  werden, 
eine  große  Wirkung  nicht  verfehlen  konnten.  Anderseits  unter- 
stützte er  diese  Wirkung  durch  die  Eigenart  seiner  Individualität, 
die  mit  ihren  starken,  ausgeprägten  Zügen  in  seiner  Lehre  aus 
den  begrifflichen  Untersuchungen  mit  elementarer  Kraft  hervor- 
brach und  unmittelbar  zum  Leser  zu  sprechen  schien. 

Er  war  1788  als  Sohn  eines  Danziger  Patriziers  geboren  und 

24* 


372  Schopenhauer. 

wurde  von  seinem  Vater  nach  längeren  Reisen  zum  Beginne  der 
kaufmännisclien  Laufbahn  genötigt.  Als  er  dann  selbständig  wurde 
und  seine  Mutter,  die  bekannte  Romanschriftstellerin,  nach  Weimar 
zog,  begann  er  seine  wissenschaftUche  Bildung  nachzuholen,  be- 
zog 1809  die  Universität  Göttingen  und  hörte  später  in  Berlin 
Fichte.  Dann  nach  Jena  und  Weimar  zurückgekehrt,  erfreute  er 
sich  näheren  Umgangs  mit  Goethe.  Die  Jahre  1814 — 1818  brachte 
er  in  Dresden  mit  der  Abfassung  seines  Hauptwerkes  zu,  machte 
dann  eine  italienische  Reise  und  habilitierte  sich  1820  in  Berhn. 
Der  geringe  Erfolg,  den  er  auf  dem  Katheder  hatte  und  der  sich 
wiederholte,  als  er  nach  Unterbrechung  durch  eine  dreijährige 
Reise  abermals  den  Versuch  akademischer  Wirksamkeit  machte, 
ließ  ihn  zuletzt  darauf  verzichten,  und  vom  Jahre  1831  an  zog 
er  sich  in  eine  grollende  Einsamkeit  und  Sonderlingsexistenz  nach 
Frankfurt  a.  M.  zurück,  wo  er  1860  gestorben  ist. 

Schon  der  Titel  seines  Hauptwerkes  »Die  Welt  als  Wille  und 
Vorstellung«  (Leipzig  1819)  zeigt  die  oben  berührte  glückliche 
Fähigkeit  des  Schriftstellers,  dem  philosophischen  Gedanken  eine 
populäre  Fassung  zu  geben.  Der  Kantische  Gegensatz  von  Ding 
an  sich  und  Erscheinung,  die  phänomenalistische  Lehre,  daß  die 
Welt  unserer  Erfahrung  und  verständnismäßigen  Erkenntnis  eben 
nur  eine  Welt  der  Vorstellung  sei,  die  Umlegung  des  meta- 
physischen Gesichtspunktes  aus  der  theoretischen  in  die  praktische 
Vernunft,  die  Einsicht,  daß  das  wahre  Wesen  der  Dinge  im  Wülen 
bestehe,  —  alle  diese  Grundlehren  von  Kant,  Fichte  und  Schelling 
sind  in  diesem  Schlag worte  zusammengefaßt.  Die  Welt  der  Er- 
scheinung ist  lediglich  eine  vorgestellte,  sie  hat  daher  für  Schopen- 
hauer etwas  Traumhaftes  an  sich,  sie  ist  ein  Schleier,  der  uns 
das  wahre  Wesen  verhüllt  und  der  zur  Täuschung  wird,  wenn 
ei  dafür  gehalten  wird.  Im  besonderen  entwickelt  Schopenhauer 
diese  Gedanken  an  dem  Begriffe  der  Kausalität,  von  welchem 
seine  scharfsinnige  Promotionsschrift  Ȇber  die  vierfache  Wurzel 
des  Satzes  vom  zureichenden  Gnmde«  (Rudolstadt  1813)  handelt. 
Ihr  Haupt  verdienst  besteht  in  der  genauen  Unterscheidung  zwischen 
dem  metaphysischen  Verhältnis  von  Ursache  und  Wirkung  und 
dem  logischen  Verhältnis  von  Grund  und  Folge.  Wenn  Schopen- 
hauer in  den  mathematischen  Beziehungen  imd  in  der  »Motivation  « 
noch    zwei  andere  »Wurzeln«    des   Satzes  aufstellte,   so  hat  er 


Das  iiiuitijiliyBiscIie  iJedürfiiii.  373 

später  aiisclrüc'klicli  di*'  lotztore  (l<'iii  Prinzip  der  Urnaclift  unter- 
^eordiiüt,  und  es  ist  anderseits  klar,  daß  die  erstere  sich  dem 
Prinzip^  des  Erkenntnis«i;rundes  subsumiert.  In  ihrer  meta- 
physischen Bedeutung  betrachtet  nun  Schopenhauer  die  KausaHtät 
als  die  einzig  wahre  in  dem  Kantischen  System  der  Kategorien 
und  bezeichnet  sie,  wie  es  schon  bei  Fichte  in  der  theoretischen 
Wissenschaftslehre  geschah,  als  die  Grundfunktion  des  Verstandes, 
aus  der  allein  in  Verbindung  mit  den  reinen  Anschauungen  der 
Sinnliclikeit,  Raum  und  Zeit,  sich  die  Vorstellung  einer  objektiven 
Welt  erzeuge.  Er  führt  namentlich,  in  pliysiologische  Unter- 
suchungen eingreifend,  den  Gedanken  aus,  daß  keine  Sinneswahr- 
nehmung  ohne  diese  Mitwirkung  der  Kausalität  zustande  komme, 
daß  nur  durch  sie  die  Empfindung  sich  zum  Bilde  eines  äußeren 
Gegenstandes  projiziere,  und  diese  seine  Theorie,  welche  er  haupt- 
sächlich auf  optischem  Gebiete  ausführte  und  als  die  Intellek- 
tualisierung  der  Siuneswahrnehmung  bezeichnete,  hat  später 
durch  die  Zustimmung  von  Helmholtz  einen  bedeutenden  Einfluß 
auf  die  Physiologie  gewonnen. 

Die  Kausalität  als  einzige  Grundform  der  Verstandesfunktion 
bildet  daher  für  Schopenhauer  auch  den  einzigen  Leitfaden  der 
wissenschaftHchen  Erkenntnis.  Aber  die  letztere  ist  deshalb  auch 
auf  Erscheinungen  beschränkt,  sie  kann  immer  nur  von  Bedingtem 
zu  anderem  Bedingten  fortschreiten,  und  sie  findet  bei  diesem 
Fortschritt  weder  vorwärts  noch  rückwärts  ein  Ende.  Nament- 
lich ist  die  Erkenntnis  außerstande,  irgendwie  den  Begriff  einer 
ersten,  selbst  nicht  mehr  kausal  bedingten  Ursache  aufzustellen. 
Die  Kausalität  ist  nicht  wie  ein  Fiaker,  den  man  anhalten  lassen 
könnte,  wo  es  einem  beliebt,  sondern  wie  der  Besen  in  Goethes 
Zauberlehrling,  der,  einmal  in  Tätigkeit,  sich  nicht  wieder  bannen 
läßt.  Wie  für  Jacobi,  so  ist  auch  für  Schopenhauer  alle  Er- 
kenntnis nur  eine  anfang-  und  endlose  Kette  kausaler  Notwendig- 
keitsbeziehungen zwischen  Erscheinungen.  Aber  der  menschHche 
Geist  hat  daneben  das  Bedürfnis,  das  Ganze  der  Erfahrung  in 
seinem  innersten  Zusammenhange  zu  überschauen,  die  Er- 
scheinungen in  ihrer  Gemeinsamkeit  zu  überblicken  und  sich  der 
wesenhaften  Einheit  bewußt  zu  werden,  die  darin  zur  wechselnden 
Erscheinung  kommt.  Indem  Schopenhauer  das^meta^hjsische 
Bedürfnis  so  bestimmt,  setzt  er  es  ohne  jeden  Beweis  mit  der 


374  Schopenhauer. 

pantheistischen  Voraussetzung  einer  den  Erscheinungen  zugrunde 
liegenden  absoluten  Welteinheit  gleich.  Raum  und  Zeit  sind  das 
»principium  individuationis « ,  das  Prinzip  der  Vielheit  und  Ver- 
änderHchkeit.  Aber  dieses  gilt  eben  nur  für  die  Erscheinung,  für 
die  Welt  als  Vorstellung.  Das^Ding  an  sicir^  ist  die  absolute  Ein- 
heit, die  darin  verschleiert  erscheint:  es  ist  wie  die  ewig  unver- 
änderliche Idee  gegenüber  der  Vielheit  der  immer  werdenden  und 
vergehenden  Sinnenwelt.  Auch  wenn  Schopenhauer  es  nicht  selbst 
ausgesprochen  hätte,  würde  kein  Zweifel  darüber  bestehen  können, 
daß  diese  Überzeugung  bei  ihm  auf  seiner  genauen  Beschäftigung 
mit  Piaton  beruht,  die  ihm  sein  Lehrer  Aenesidemus- Schulze  in 
Göttingen  besonders  nahegelegt  hatte. 

Von  der  absoluten  Welteinheit  ist  eine  kausale  Erkenntnis 
nicht  möglich;  ihre  Erkenntnis  kann  deshalb  durch  wissenschaft- 
liche Methode  nicht  gewonnen  werden.  Wenn  nun  die  ganze 
Aufgabe  der  Philosophie  darauf  hinausläuft,  dem  metaphysischen 
Bedürfnis  Genüge  zu  tun,  so  ist  sie  nicht  durch  spezifisch  wissen- 
schaftliche Arbeit,  sondern  vielmehr  durch  eine  geniale  Intuition^ 
zu  lösen,  mit  der  der  Philosoph  den  Zusammenhang  der  Erfah- 
rung »deutet«.  Diese  Ansicht  ist  für  Schopenhauers  Stellung 
innerhalb  der  deutschen  Philosophie  nach  jeder  Richtung  hin 
entscheidend.  Sie  stellt  ihn  zunächst  dem  Bestreben  gegenüber, 
die  Philosophie  als  eine  apriorische  Begriffswissenschaft  nach 
eigener  Methode  zu  entwickeln;  er  leugnet,  daß  jemals  ein  großer 
Philosoph  auf  dem  Wege  der  Methode  zu  seinen  Lehren  ge- 
kommen sei;  er  meint  vielmehr,  der  Nachfolger  stümpere  sich 
immer  erst  aus  der  genialen  Schöpfung  des  Selbstdenkers  müh- 
sam die  Methode  etwa  ebenso  zusammen,  wie  der  Ästhetiker 
aus  der  Produktion  des  großen  Künstlers  die  Kunstregel  heraus- 
lese. Daraus  geht  ungewollt  hervor,  daß  auch  Schopenhauer  das 
philosophische  mit  dem  ästhetischen  Produzieren  in  eine  ganz 
ähnliche  Parallele  setzte  wie  die  Romantiker;  auch  seine  Tendenz 
einer  künstlerisch  anschauenden  Philosophie  trägt  den  Stempel 
jener  Zeit  der  innigen  Verknüpfung  von  Dichtung  und  Philo- 
sophie. Deshalb  war  ihm  niemand  so  sehr  zuwider  wie  Hegel, 
der  diesem  Zusammenhang  ein  Ende  machen  und  die  Philosophie 
wieder  zu  einer  reinen  Begriffswissenschaft  gestalten  wollte,  wenn 
auch  eben  nur  wollte./  Auf  der  anderen  Seite  weiß  sich  Schopen- 


Dor  Wille  als  Din^an-sicb.  375 

liaiKM*  in  der  in^i<^^ste^  lU'riilirun^  mit  der  Erfahrung.  Seine 
Philosophie  will  nichts  als  die  Erfahriin«^  erklären.  Aber  das 
sei  eben  nur  dadurch  niöj^^lich,  daß  vor  der  unmittelbaren  An- 
schauimt;  sich  die  L,^eheime  Verwandtschaft  und  das  innerste 
Wesen  aller  Erscheinun<];en  enthüllt.  Metaphysische  Erkenntnis 
ist  nicht  durch  das  auf  Raum,  Zeit  und  Kausalität  beschränkte 
Denken,  sondern  nur  durch  unmittelbares  Erfassen  des  Wesens 
der  Dinge  möglich.  Indem  Schopenhauer  das  metaphysische  Be- 
dürfnis innerhalb  der  Kantischen  Erkenntnistheorie  erfüllen  will, 
spricht  er  dem  Menschen  eine  intellektuelle  Anschauung  zu,  wenn 
er  auch  diesen  Namen  vermeidet,  imd  er  hätte  sich  nicht  so 
sehr  über  Fichte  und  Schelhng  lustig  machen  sollen,  denen  er 
es  nachtat.  Auch  er  fühlte  sich  vornehm  im  Besitz  dieses  ge- 
nialen »Blickes  über  die  ganze  Erfahrung«,  welcher  nicht  durch 
die  Arbeit  der  wissenschaftlichen  Erkenntnis  gewonnen  werden 
könne,  sondern  nur  eine  Gabe  des  bevorzugten  Geistes  sei.  In 
der  Tat  besaß  er  selbst  die  geniale  Unmittelbarkeit  anschaulicher 
Auffassung  der  Gegenstände  ebenso  wie  die  glückliche  Kraft 
künstlerischer  Wiedergabe  dieser  Anschauung. 

Es  kommt  hinzu,  daß  sogar  die  Art  jener  intellektuellen  An- 
schauung bei  Schopenhauer  auf  ein  Haar  derjenigen  von  Fichte 
gleicht.  Es  ist  die  subjektive  Selbstanschauung,  welche  ihn  wie 
Fichte  lehrt,  daß  das  wahre,  aller  Vorstellung  und  aller  Erschei- 
nung zugrunde  liegende  Wesen  der  Persönlichkeit  der  Wille  ist. 
Wenn  das  Subjekt  sein  eigenes  Wesen  anschaut,  so  erkennt  es, 
daß  sein  ganzes  Bewußtsein  nur  seine  Selbsterscheinung,  sein 
wahres  und  unveränderliches  Wesen  dagegen  seinXharakter  oder 
sein^ Wille  ist.  Aus  dieser  Intuition  folgert  Schopenhauer  ledig- 
lich nach  dem  Prinzip  des  h  xctl  Tiav,  daß  die  metaphysische 
Betrachtung  per  analogiam  den  Willen  als  das  allgemeine  Ding 
an  sich  zu  betrachten  habe,  das  allen  Erscheinungen  ausnahmslos 
zugrunde  liegt.  Alle  ^Kräfte  und  triebe,  welche  die  Erschei- 
nungen darstellen,  sind  nur  Manifestationen  des  einen  unend- 
lichen Willens,  den  unsre  Selbstanschauung  uns  als  unser  eignes 
Wesen  erkennen  läßt.  Dabei  muß  freilich  aus  dem  Begriff  des 
Willens  das  Merkmal  der  bewußten  Absicht  fortgelassen  werden: 
nur  der  unbewußte  Wille  ist  mit  der  Kraft  und  dem  Triebe 
zu  identifizieren,   und  diesen  meint  auch  Schopenhauer  zunächst 


376  Schopenhauer. 

nur,  wenn  er  gleich  sich  über  diese  seine  Anwendung  des  Wortes 
nicht  näher  ausgelassen  hat.  Gerade  darauf  aber  beruht,  wie 
sich  leicht  absehen  läßt,  eine  gewisse  Zweideutigkeit,  indem  ge- 
legentlich jener  dunkle  Welttrieb  doch  wieder  Merkmale  zeigt, 
die  eigentlich  nur  dem  bewußten,  durch  Vorstellungen  motivierten 
Willen  beiwohnen. 

In  betreff  des  Verhältnisses  zwischen  dem  Willen  als  "^  Ding 
an  sich  und  der  Erscheinungswelt  herrscht  nun  in  Schopenhauers 
Lehre  eine  eigene  und  charakteristische  Zwiespältigkeit.  Den 
erkenntnistheoretischen  Grundlagen  imd  zumal  der  Kausalitäts- 
lehre gemäß  kann  der  Wille  in  Schopenhauers  Metaphysik  nun 
und  nimmermehr  die  Ursache  der  Erscheinungen  genannt  werden. 
Die  Sinnenwelt  heißt  deshalb,  echt  kantisch,  bei  Schopenhauer 
nur  die  »Objektität«  des  Willens,  d.  h.  die  Form,  worin  das 
Ding  an  sich  für  die  Vorstellung  erscheint.  Allein  wie  bei  Kant, 
so  heißt  es  doch  auch  hier  wieder,  daß  der  »Grund«  der  Er- 
scheinung im  Ding  an  sich  liege.  Wenn  aber  so  das  Verhältnis 
von  Ding-an-sich  und  Erscheinung  mit  dem  von  Grund  und  Folge 
gleichgesetzt  wird,  so  ist  es  bei  Schopenhauer  doch  wieder  nicht 
ein  bloß  logisches  Verhältnis  (wie  etwa  bei  Spinoza),  sondern 
eine^eale,  eine  metaphysische  Beziehung,  die  von  dem  ursäch- 
lichen Verhältnis  kaum  noch  zu  unterscheiden  ist;  und  so  wird 
bei  der  Ausführung  des  Systems  wenigstens  im  Ausdruck  imd  viel- 
fach auch  in  der  sachlichen  Auffassung  Schopenhauers  »Wille« 
wieder  zu  der  erzeugenden  Weltkraft,  welche  die  Sinnenwelt 
verursacht. 

Die^Welt  an  sich''  also  ist  die  TVelt  als  Wille.^'  Schärfer  als 
bei  irgend  einem  anderen  tritt  bei  Schopenhauer  die  Tatsache 
hervor,  daß  die  Weltanschauung  auch  in  der  deutschen  Philo- 
sophie wesentlich  eine  metaphysische  Umdeutung  der  psycho- 
logischen Ansicht  enthält.  Die  vorkantische  Philosophie  betrachtet 
überall  die  Yorstellun^  als  das  Prius  und  den  Willen  als  das 
durch  sie  Bestimmte:  daher  ihr  Determinismus,  daher  ihre  Auf- 
fassung der  logischen  Gesetze  als  Weltgesetze,  daher  jener  inteUi- 
gible  Fatalismus   von  Leibniz*).     Die  nachkantische  Philosophie 


*;  Vgl.  Bd.  I  dieses  Werkes,  S.  505. 


Itt'1ttfi'nil^^ 


W  ilU;  zum  Leben.  377 

sieht,  wofür  Fichtes  Lehre  von  dem  sekundären  Charakter  dea 
Bewußtseins  typiscli  ist,  im  Willen  das  bestimmende  Wesen  des 
deistes  und  in  der  Vorstellung  hloß  seine  Erscheinungsform; 
daher  ihre  Freihcitslehre,  daher  der  Primat  der  praktischen  über 
die  theoretische  Vernunft,  daher  die  Lehre  vom  Willen  als  dem 
Ding  an  sich.  In  dieser  Hinsicht  steht  also  Schopenhauer  völlig 
auf  dem  Standpunkte  der  Wissenscliaftslehre.  Aber  er  verläßt 
ihn  durch  seine  gänzlich  veränderte  Auffassung  vom  Wesen  des 
Willens.  Darin  zwar  stimmt  er  mit  Fichte  überein,  daß  der 
Wille  als  Ding  an  sich  auf  nichts  anderes  als  auf  sich  selbst 
gerichtet  sei:  er  ist  nichts  als  der  Wille  zu  wollen  oder,  da 
nach  dieser  Lehre  alles^  Leben"  nur  Erscheinung  des  Willens  und 
im  tiefsten  Grimde  nur  immer  wieder  Wille  ist,  der  »Wille  zum 
Leben«.  Aber  Fichte  bezeichnete  dieses  Handeln  um  des  Han- 
delns, dieses  Streben  um  des  Strebens  willen  als  das  sittliche 
und  deshalb  als"^^  praktische  Vernunftr  Diese  Nebenbestimmung 
streicht  Schopenhauer,  und  darauf  beruht  sein  ganzer  Unter- 
schied von  Fichte.  Man  kann  sagen,  daß  er  dabei  vielleicht  in 
gewissem,  rein  äußerlichem  Sinne  konsequenter  verfuhr.  Denn 
die  bloß  formale  Bestimmung  des  »Tuns  um  des  Tuns  willen«  ist 
eben  in  der  Tat  noch  nicht  die  inhaltliche  Bestimmung  des  sitt- 
lichen Tuns,  und  sie  wird  von  Fichte  nur  aus  persönlicher  Über- 
zeugung und  mit  Kücksicht  auf  Kants  kategorischen  Imperativ 
so  gedeutet.  Schopenhauer  macht  völHg  Ernst  mit  dem  Begriff 
eines  ^unbewußten  Willens^,  der  gar  nichts  weiter  will  als  wollen, 
der  darum  seine  eigene  endlose  Fortsetzung  involviert,  der  gar  kein 
inhalthches  Ziel  hat,  und  der  deshalb  der  absolut  unvernünftige '_ 
Wille  ist.  Mit  dieser  Wendung  schlägt  Schopenhauers  Lehre  noch 
mehr  als  mit  ihrer  grundsätzlichen  Methodenlosigkeit  in  den  Irra- 
tionalismus um.  Das  Bewußtsein  mit  allen  seinen  vernünftigen 
Formen  ist  nur  Erscheinung.  Das  Wesen,  das  sich  darin  dar- 
stellt, ist  die  absolute  Unvernunft  eines  W^illens,  der  immer  nur 
wollen  will.  Mit  dieser  Veränderung  wird  Schopenhauers  Lehre 
zur  Fratze  der  Fichteschen.  Beide  betrachten  den  Willen  als  das 
Urprinzip  aller  Dinge:  aber  die  Züge  des  sittlichen  Willens,  den 
die  Wissenschaftslehre  zum  Prinzip  machte,  verzerren  sich  bei 
Schopenhauer  zu  der  Unvernunft  eines  blinden  und  inhaltlosen 
Triebes. 


378  Schopenhauer. 

Hieraus  erklärt  sich  ein  merkwürdiger  Gegensatz,  der  sich 
durch  alle  Lehren  Schopenhauers  hindurchzieht,  und  der  auch  in 
seinen  Konsequenzen  genau  an  die  Schellingsche  Lehre  von  der 
Schöpfung  der  Welt  aus  dem  unbewußten  Willen  und  der  Ver- 
nunft erinnert.  Als  Erscheinung  des  Willens  muß  die  Sinnenwelt 
zweckmäßig,  d.  h.  vernünftig  sein:  als  Erscheinung  des  unver- 
nünftigen Willens  muß  sie  den  Stempel  dieser  Unvernünftigkeit 
an  sich  tragen.  So  verknüpft  sich  bei  Schopenhauer  in  wunder- 
licher Weise  eine  teleologische  Naturbetrachtung  mit  dem  Pessi- 
mismus, der  zugleich  ein  Ausfluß  seiner  persönlichen  Weltbetrach- 
tung ist,  und  um  den  Widerspruch  voll  zu  machen,  kommt  die 
Schwierigkeit  hinzu,  wie  man  sich  denken  soll,  daß  jener  im  ver- 
nünftige Urwille  den  Einfall  gehabt  hat,  in  der  Gestalt  des  ver- 
nünftigen Bewußtseins  zu  erscheinen,  —  eine  Frage,  die  gerade 
so  schwer  wiegt,  wie  im  umgekehrten  Falle  bei  dem  Optimismus 
der  theoretischen  Vernunft  das  Problem,  weshalb  die  gütige  Weis- 
heit  eine  solche  Welt  von  Elend  und  Sünde   hervorgerufen  hat. 

Die  Naturphilosophie,  die  Schopenhauer  in  seiner  Schrift 
»Über  den  Willen  in  der  Natur«  (Frankfurt  1836)  ausgeführt 
hat,  zeigt  die  »Objektivation«  des  Willens  in  drei  Hauptstufen: 
in  der  niedrigsten  Form  erscheint  der  Wille  als  mechanische  Ur- 
sache, in  höherer  Gestalt  schon  in  dem  organischen  Keiz,  in  voll- 
endeter Entfaltung  endlich  als  bewußt  bestimmendes  Motiv  im  ani- 
malischen Wesen.  So  stellt  sich  die  Natur  als  ein  Stufenreich  von 
Manifestationen  des  Willens  dar,  in  welchem  dieser  allmählich  aus 
der  äußerlichsten  in  die  innerliche  Form  der  Kausalität  übergeht. 
Der  ganze  Prozeß  der  Kausalität  in  der  Natur  hat  also  den  Sinn, 
daß  in  ihr  der  Wille  aus  der  unbewußten  sich  in  die  bewußte  Er- 
scheinungsform verwandelt,  —  ein  Gesamtresultat,  worin,  so  ver- 
schieden die  begriffliche  Formulierimg  ist,  doch  der  Grundgedanke 
von  Schellings  Naturphilosophie  unverkennbar  wiederkehrt.  Diese 
Verwandtschaft  wurzelt  in  der  gemeinsamen  Abhängigkeit  von 
Fichte,  der  alle  Kraft  und  allen  Trieb  als  eine  Wirkung  des  »Willens« 
auffaßte:  so  ist  für  Schelling  das  innerste  Wesen  der  Natur  der 
Trieb,  »Ich«  zu  werden;  für  Schopenhauer  ist  es  der  imbewußte 
Wille,  der  schließlich  zum  Bewußtsein  und  zur  Vernunft  gelangt. 
Allein  die  Allgemeinheit  der  »Deutung«,  welche  Schopenhauer  nur 
für   seine   metaphysische  Auffassung   der  Erfahrung   in  Anspruch 


Nuturphilüsophie.  *^79 

nahm,  verhinderte  ihn  dabei,  den  tatsächlichen  Erkenntnissen  der 
Naturwissenschaft  derarti<jj  Gewalt  anzutun,  wie  es  von  Seiten 
Schellings  und  seiner  7Vnhän<^er  «geschah,  und  so  vertrug];  sich  in 
der  Tat  die  Schopcnhauersche  Lehre  mehr  mit  der  empirischen 
Wissenschaft,  als  es  seit  Kant  bei  den  Philosophen  der  Fall  ge- 
wesen war.  Darin  liegt  ein  Hauptgrund  dafür,  daß  Schopenhauer 
später  bei  den  Natiu'forschern  eine  verhältnismäßig  ausgedehnte 
Anerkennung  gefunden  hat.  Aber  auch  darin  steht  Schopenhauers 
Naturauffassung  derjenigen  des  späteren  Schelling  nahe,  daß  er 
di^Kräfte,^  Gesetze  und  Gattungstypen  als  die  wandellosen  Ideen 
bezeichnet,  in  denen  sich  durch  den  ewigen  Wechsel  hindurch  das 
konstante  Wesen  des  Willens  offenbart.  Es  ist  das  Platonische 
Element,  welches  sich  in  dieser  Lehre  auch  bei  Schopenhauer 
geltend  macht,  hier  aber  schwer  mit  der  anderen  Behauptung  zu 
vereinigen  ist,  daß  der  all-eine  Wille  erst  durch  Raum  und  Zeit 
individualisiert  erscheint.  Die  Ideen ,  als  das  Unräumliche  und 
Außerzeitliche,  bilden  in  ähnlicher  Weise  eine  Zwischenstufe 
zwischen  der  Sinnenwelt  und  dem  Willen,  wie  bei  Piaton  zwischen 
derselben  und  der  Idee  des  Guten. 

Dasselbe,  was  von  den  Ideen  in  der  Natur,  gilt  innerhalb  der 
Schopenhauer  sehen  Lehre  auch  für  die  individuellen  Charaktere. 
Auch  sie  enthalten  eine  Individuation  des  Willens,  welche  der 
räumlich-zeitlichen  Erscheinungsform  vorhergehen  soll.  In  dieser 
Hinsicht  war  Schopenhauer  so  glücklich,  eine  volle  Überein- 
stimmung zwischen  den  beiden  von  ihm  am  höchsten  verehrten 
Denkern,  Piaton  und  Kant,  zu  konstatieren,  und  er  führte  die 
Lehre  vom  intelligiblen  Charakter  weiter,  für  die  auch 
Schellings  Freiheitslehre  das  Interesse  neu  belebt  hatte.  Da  die 
Motivation  sich  als  eine  Form  der  natürlichen  Kausalität  zu  er- 
kennen gab,  so  nahm  auch  Schopenhauer  für  die  Entwicklung 
des  enapirischen  Charakters  imd  für  die  Genesis  aller  seiner 
Handlungen  den  vollen  Determinismus  an.  Für  diese  gesamte 
»Erscheinung«  aber  machte  auch  er  den  intelligiblen  Charakter 
verantworlich ,  aus  dessen  unbegTeif lieber  Freilieit  des  Seins  die 
ganze  Notwendigkeit  des  Tuns  folge.  Im  Grunde  genommen  sind 
also  auch  hier  die  freien  Individualcharaktere  l)inge  an  sich,^ 
welche  als  ^^  Ursachen  der  ^Erscheinung  "^  ebenso  wie  bei  Kant  fi- 
gurieren. 


m 


380  Schopenhauer. 

Es  hängt  mit  der  lediglich  formalen  und  des  ethischen  Merk- 
mals entkleideten  Begriffsbestimmimg  des  Willens  zusammen,  daß 
Schopenhauer  für  die  Ethik  eine  ganz  andere  Basis  als  Kant 
und  Fichte  suchen  mußte.  Bei  ihm  ist  das  Wollen  durch  kein 
Sollen  bestimmt,  und  er  muß  daher  die  ganze  imperativische 
Form  der  Moralphilosophie  verwerfen.  Er  kehrt  deshalb  zu  der 
früheren  Auffassung  zurück,  daß  es  sich  darin  nicht  um  die  Auf- 
stellung von  Geboten,  sondern  um  die  metaphysische  und  psycho- 
logische Erklärung  des  wirklichen  sittlichen  Lebens  handelt. 
Infolgedessen  geht  seine  ganze  Untersuchung  auf  den  Eudä- 
monismus  zurück  und  betrachtet  das  Glückseligkeitsstreben  als 
das  Grundmotiv  des  empirischen  Willenslebens.  Allein  die  ego- 
istische Form  der  Motivation  hängt  lediglich  an  der  Täuschung, 
als  ob  die  einzelnen  Wesen  für  sich  bestehende  wären.  In  Wahr- 
heit ist  es  ja  nur  der  eine,  selbe  Wille,  welcher  in  Raum  und  Zeit 
differenziert  erscheint*),  und  für  diese  Erkenntnis  ist  alles,  was 
wir  dem  anderen  Wesen  tun,  Gutes  und  Böses,  uns  selbst  getan. 
Hierauf  beruht  die  Möglichkeit  der  ethischen  Motivation,  in 
welcher  das  Individuum  das  fremde  Interesse  zu  dem  seinigen 
macht.  Als  die  Grundform  des  Altruismus  betrachtet  aber  Schopen- 
hauer nicht  die  »wohlwollende  Neigung«,  sondern  vielmehr  das 
Mitleid.  Das  ist  die  Konsequenz  des  Pessimismus,  der  sich 
bei  ihm  unmittelbar  an  den  Begriff  des  Willens  anschließt.  Denn 
ein  Wille,  der  immer  nur  wollen  will,  ist  seinem  Wesen  nach  der 
in  alle  Ewigkeit  unbefriedigte  Wille.  Gerade  dadurch,  daß  er 
seinen  Zweck  erreicht,  erzeugt  er  sich  von  neuem,  und  mit  ihm 
ist  deshalb  in  der  bewußten  Erscheinung  das  Gefühl  der  Unlust 
notwendig  und  unentf liehbar  verknüpft. 

Dieser  Argumentation  kann  man  freilich  entgegenhalten,  daß, 
wenn  der  Wille  nichts  will  als  wollen,  er  seinen  Zweck  ja  durch 
sich  selbst  immerfort  erreicht  und  so  der  stets  befriedigte  Wille 
ist.  Im  besonderen  hat  daher  Schopenhauer  immer  den  Pessimis- 
mus hedonistisch  begründet,  indem  er  die  Unerfüllbarkeit  des 
Glückseligkeitsstrebens   aus   den   Tatsachen   zu   beweisen  suchte: 


*)  An  dieser  Stelle  besteht  zwischen  der  Lehre  von  der  außerzeitlichen 
Ding-an-sich-haftigkeit  der  Individuen  und  der  metaphysischen  Basierung 
der  Ethik  eine  von  Schopenhauer,  wenn  überhaupt,  so  jedenfalls  erst  spät 
bemerkte  Differenz, 


PessinunmuB.  ,'i81 

wie  denn  bei  dem  Philosophon  Hclhst  der  Pes-simLsmus,  soweit  er 
iiichl.  l)lüß  die  'J'hcorio  des  zuschiiuendon  I^ctrachtcrH  war,  auf 
die  porsöidichon  Gefühle,  auf  s(iinniun«^sniaüi<^«'  Vcranla;4un;4  und 
dadurch  gefärbte  KrlebiiiHse  zAiiiick^ing.  In  seiner  Pliilosophie 
wird  er  nicht  müde,  die  Frivolität  zu  brandmarken,  womit  der 
hindljlufige  Optimismus  dem  Elend  der  Wirklichkeit  gegenüber 
von  einer  unbegreiflichen  Zweckmäßigkeit  und  Weisheit  der  Welt- 
einrichtung zu  predigen  weiß.  Er  zeigt,  daß  dem  geringen  Quantum 
von  Lustgefühl,  das  in  dieser  Welt  mciglich  ist,  im  besten  Falle 
stets  eine  größere  Unlust  des  noch  unbefriedigten  Triebes  vor- 
hergeht, und  betrachtet  deshalb  die  Unlust  als  das  positive  Ge- 
fühl imd  die  Lust  nur  als  den  Mangel  daran.  So  enthält  dieser 
Pessimismus  bis  in  die  einzelnen  Lehren  hinein  eine  Umkehrung 
der  Theorien  von  Leibniz'  Theodicee:  es  ist  der  auf  den  Kopf 
gestellte  Optimismus;  beide  sind  widersprechende  Antworten  auf 
die  eudämonistisclie  Frage,  deren  prinzipielle  Yerfehltheit  Kant 
eingesehen  hatte.  Deshalb  aber  ist  nun  für  Scliopenliauer  das 
"Mitleid  das  ethische  Grundgefühl;  die  sittliche  Handlung  besteht 
ihm  in  der  Linderung  der  fremden  Not  und  erst  sekundär  in  der 
tätigen  Liebe  für  das  fremde  Wohl,  wobei  er  besonders  hervor- 
gehoben hat,  daß  er  nach  seinen  Grundsätzen  —  der  einzige 
unter  den  europäischen  Moralphilosophen  —  direkt  auf  die  Tiere 
die  sittliche  Verpflichtung  des  Mitleids  und  der  Liebe  ausdehnt. 
Allein  selbst  dies  ethische  Handeln  bleibt  doch  nur  ein  Palliativ. 
Dem  Willen  ist  die  Unlust  wesentlich,  und  eine  völlige  Aufhebung 
des  Elends  der  Welt  ist  nur  dadurch  möglich,  daß  die  Axt  an 
diese  tiefste  W^urzel,  an  den  Willen  selbst,  gelegt  wird.  Es  hüft 
schließlich  nichts,  daß  der  Wille  aus  der  egoistischen  in  die  al- 
truistische Richtung  gebracht  wird;  denn  er  führt  auch  so  immer 
nur  zum  Elend.  Es  gibt  vor  dem  Leid  nur  eine  Rettung :  das  ist 
die  Flucht  in  das  Nichts.  Diese  Rettung  ist  nicht  durch  die  Auf- 
gebung des  irdischen  Lebens  zu  erreichen;  denn  der  individuelle 
Wille  ist  ein  unzerstörbares  Ding  an  sich,  er  würde  sich  sogleich 
eine  neue  Erscheinungsform  schaffen.  Die  Metempsychose  läßt 
den  Selbstmord  als  eine  Torheit  erscheinen.  Die  Vernichtung 
muß  nicht  die  Objektivation  des  Willens,  sondern  diesen  selbst 
treffen.  Erst  wenn  der  Wille  aufhört,  endigt  auch  die  Unlust, 
die  er  notwendig   bei  sich   führt.     Über  dem  ethischen  Handeln 


382  Schopenhauer. 

stellt  der  Quietismus  der  Willenlosigkeit,  über  der  tätigen 
Liebe  die  asketische  Weltentfremdung,  die  Einsicht  in  die  Nichtig- 
keit alles  Strebens  und  die  vollkommene  Abtötung  aller  Triebe. 
Die  mystisch  orientalische  Lehre  vom  Aufgehen  der  sündigen 
Einzelexistenz  in  die  Gottheit  verwandelt  sich  in  das  Ideal  der 
absoluten  Vernichtung.  Fichtes  zweite  Lehre  sah  im  sittlichen 
Leben  nur  die  Vorbereitung  zu  der  höheren  »Seligkeit«  der  Gottes- 
anschauung: für  Schopenhauer  ist  diese  Seligkeit  das  Nichts;  die 
Aufhebung  alles  Willenslebens  ist  zugleich  die  absolute  Vernichtung. 
Denn  bei  Schopenhauer  steht  hinter  dem  Willen  nicht  mehr,  wie  in 
Fichtes  zweiter  Lehre,  das  absolute  Sein,  das  der  willenlose  Intellekt 
»anschauen«  könnte.  Die  Darstellung  dieser  Schlußlehre  verbrämt 
Schopenhauer  mit  Analogien  aus  der  indischen  Philosophie,  von  der 
damals  die  ersten  Bruchstücke  in  Europa  bekannt  wurden;  die 
Büßer  am  Ganges,  die,  nicht  mehr  vom  Schleier  der  Maja  ge- 
täuscht, sich  in  das  Nirwana  versenken,  werden  ihm  zum  philo- 
sophischen,("  wenn  auch  nicht  zum  persönlich  befolgten)  Ideal.  Wie 
nun  freihch  nach  seinen  metaphysischen  Bestimniungen  diese 
Quieszierung  des  Willens  möghch  sein  soll,  ist  durchaus  nicht 
abzusehen;  er  erklärt  sie  deshalb  für  eine" Wiedergeburt,  die  ebenso 
ein  Mysterium  bleibe  wie  die^^Freiheit.  In  dieser  Verneinung  des 
Willens  zum  Leben,  in  diesem  totalen  Aufgeben  aller  und  selbst 
der  sittUchen  Willenstriebe  sieht  Schopenhauer  den  eigentlich 
religiösen  Akt;  er  bildet  ihm  auch  den  tiefsten  Gehalt  des 
Christentums,  dessen  pessimistische  Seite,  wie  sie  in  dem  Erlösungs- 
bedürfnis unverkennbar  ausgesprochen  ist,  von  Schopenhauer  ge- 
rade im  Gegensatz  zu  dem  optimistischen  Dogma  von  der  gött- 
lich enW  eltschöpf  ung  und  Weltregierung  geflissentlich  hervorgehoben 
wird.  So  kommt  der  Philosoph  zu  der  Paradoxie,  ein  religiöses 
Verhalten  ohne  den  Glauben  an  die  Gottheit  zu  statuieren.  Bei 
Fichte  und  seiner  ersten  Lehre  war  eine  ähnliche  Kombination 
insofern  vorhanden,  als  es  auch  für  ihn  nicht  den  Glauben  an 
die  Existenz  einer  göttlichen  Substanz,  sondern  nur  denjenigen 
an  ein  absolutes  sittliches,  Ideal  gab.  Schopenhauers ^Wille  ist  der 
unvernünftige,  und  sein  Ideal  ist  deshalb  das  Nichts.  Aber  weder 
dies  Ideal  noch  jener  vernunftlose  Wille  können  Gott  genannt 
werden:  deshalb  bekennt  sich  Schopenhauer  zu  der  »atheistischen 
Religion«  des  Buddhismus. 


Vorncinuni^  tlcB  Willeni«.  ,'JH3 

Dio  absolute  Quif^Hzirrun«^  des  Willens  N\ür(lc'  mit  ihm  Hclbst 
auch  srine  i;caamtc  Ei. schein irnj^Hform  vernichten,  sie  wäre  idcn- 
tiscli  mit  dem  Knde  der  Welt.  Sie  int  also  für  öihopciihaU(!r, 
was  Kant  einen  (Jrenzbegriff  oder  eine  Idee  genannt  haben  würde. 
Er  betont  aber  dabei  eben  das  Merkmal  ihrer  Unerfüllbarkeit  in 
der  Erscheinungswolt.  Sie  gilt  ihm  deshalb  auch  nicht  als  ein 
Ziel,  auf  welches  die  letztere  in  allmählicher  Entwicklung  zu- 
streben kömite.  So  dumm  ist  der  Wille  nicht,  daß  er  auf  seine 
Vernichtung  hinarbeitete.  Infoluedessen  verhält  sich  Schopenliauer 
zu  den  geschichtsphilosophischen  Tendenzen  auch  Kants  durchaus 
ablehnend.  Er  leugnet  jeden  Fortschritt  im  historischen  Prozeß: 
ihm  gilt  die  Geschichte  nur  als  eine  ewige,  sinnlose  Wiederholung 
des  Elends,  worin  sich  der  Wille  zum  Leben  stürzt.  Seine  Welt- 
anschauung ist  völlig  unhistorisch;  sein  Irrationalismus  wendet 
sich  vor  allem  gegen  die  Geschichte,  in  der  er  keine  Spur  von 
Vernunft  anerkennt,  und  er  ist  darin  allerdings  der  konsequenteste 
unter  den  Gegnern  Hegels. 

Allein  innerhalb  der  Erscheinungswelt  gibt  es  doch  auch  für 
Schopenhauer  eine  partielle  Vernichtung  des  Willens,  die  deshalb 
die  wahre  Seligkeit  mitten  darin  gewährt.  Im  allgemeinen  ist  der 
Intellekt  die  Erscheinung  des  Willens  und  durch  ihn  bestimmt. 
Nach  dem  Primat  der  praktischen  Vernunft  hegt  der  Trieb  des 
Denkens  im  Willen.  Aber  es  gibt  eine  Möghchkeit,  vermöge  deren 
der  Intellekt  sich  vom  Willen  zu  befreien  vermag.  Wo  er  es  er- 
reichen kann,^mteTesselos  anzuschauen  und  zu  denken,  da  schweigt, 
wenn  auch  nur  für  Momente,  der  unselige  und  törichte  Wille,  und 
da  entsteht  in  der  bloßenBetrachtung  die  intellektuelle  Lust,  die 
deshalb  als  eine  Erlösimg  von  den  Lbeln  des  Trieblebens  wirkt. 
Es  ist  klar,  welchen  Wert  in  diesem  Zusammenhange  für  Schopen- 
hauer der  Kantisch- Schillersche  Begriff  der"  interesselosen  Betrach- 
tung' gewimien  mußte ;  sie  hat  für  ihn  fast  genau  denselben  Wert 
wie  bei  den  Eomantikern  die~Ironie,  d.  h.  sie  ist  der  Genuß  der 
Phantasie,  welche  von  aller  Arbeit  des  W^illens  frei  geworden  ist, 
und  sie  bildet  für  ihn  in  der  Erschein ungs weit  die  Erfüllung  des 
religiösen  Bedürfnisses  nach  der  Vernichtung  des  Willens.  Aber 
er  gibt  ihr  einen  allgemeineren,  nicht  nur  ästhetischen  Sinn.  Das 
interesselose  Anschauen  gewährt  der  ästhetische  Naturgenuß  und 
die   Kimat,    das   mteresselose  Denken   gewährt   die  Wissenschaft; 


384  Schelling, 

In  dem  ästhetischen  und  dem  wissenschaftlichen  Verhalten  ist  der 
Intellekt  vom  Willen  frei  geworden  und  betätigt  das  dadurch, 
daß  er  in  beiden  Fällen  sich  nicht  mehr  auf  die  Besonderheit  der 
einzelnen  Erscheinungen,  sondern  auf  das  Allgemeine,  auf  die 
Idee  und  das  Gesetz  richtet,  das  sich  darin  darstellt.  So  wird 
auch  Schopenhauer  ein  Prophet  jener  Bildung,  welche  in  Kunst 
und  Wissenschaft  ihre  Religion  hat  und  darin  ihre  Erlösung  von 

,'  O  O 

dem  Leide  des  Lebens  findet.  Der  intellektuelle  Genuß  ist  die 
wertvolle  Selbstbefreiung,  die  das  vernünftige  Bewußtsein  dem 
dunkeln  und  unvernünftigen  Weltgrunde  abgerungen  hat.  Und 
so  geht  am  Schluß  der  Schopenhauerschen  Philosophie  klar  und 
deutheh  das  dialektische  Prinzip  des  W^iderspruchs  hervor,  worin 
sie  ihren  historischen  Ursprung  hatte:  der  dumme  Wille  hat  — 
wüßte  man  nur  wie  —  das  vernünftige  Bewußtsein  erzeugt,  das 
ihn  zu  überwinden  berufen  ist.  Dieser  Zwiespalt  zwischen  dem 
Willen  und  dem  Intellekt  beherrscht  die  ganze  Philosophie  Schopen- 
hauers: er  bildet  die  Einheit  seiner  Lehre  wie  seiner  Persönlichkeit 
und  seines  Lebens. 

Schopenhauers  System  ist  der  Beweis  davon,  daß  Schelling 
auf  dem  Wege,  der  ihn  zuerst  zu  dem  Begriffe  eines  unbewußten 
und  irrationalen  Weltgrundes  geführt  hatte,  sich  nicht  allein  be- 
fand. Aber  auch  Schelling  selbst  ging  in  derselben  Richtung  noch 
weiter  fort.  Er  überzeugte  sich  immer  mehr  davon,  daß  das[Wollen 
das  Höchste  sei  und  die  unbegreifliche  Urtatsache  genannt  werden 
müsse.  Man  kann  von  ihm  nur  sagen,  daß  es^  ist,  nicht  daß  es 
notwendig  ist,  und  in  diesem  Sinne  ist  es  der  »Urzufall«.  Es 
spottet  jeden  Versuchs,  es  aus  irgendwelchen  Vernunftprinzipien 
zu  deduzieren.  Es  ist  vielmehr  da,  mitten  in  der  vernünftigen  Welt, 
und  es  ist  sogar  der  tiefste  Grund,  auf  dem  diese  sich  aufbaut. 
Das  ganze  System  der  endlichen  Dinge  ist  vernünftig  gestaltet, 
aus  der  Vernunft  abzuleiten  und  deshalb  a  priori  zu  erkennen. 
Aber  daß  es  überhaupt  da  ist,  daß  es  aus  dem  Absoluten  sich 
entwickelt  hat,  dieser  »Abfall«  des  Universums  von  Gott  und  der- 
jenige der  Vernunft  von  dem  irrationalen  Weltgrunde  ist  selbst 
nicht  rational  zu  deduzieren.  Deshalb  bezeichnet  Schelling  jetzt 
allen  Rationalismus,  auch  sein  früheres  Identitätssystem,  besonders 
aber   die  ganze  Hegeische  Lehre  als  die  Wissenschaft  vom  End- 


Positive  l'hilüsoiihie.  .'iH5 

liclicn  oder  auch  als  die  negative  l'hiloHophic  und  erklärt  es  für 
die  schwoi'öto  aller  Verirrunj^en ,  w(^nn  man  in  dieHcr  die  ganzo 
riiiloaophie  zu  besitzen  meine.  Zu  ihrer  Er^änzun;^  bedürfe  es 
einer  i>positiven  Philosopliie«,  die  jenen  unau.-.sa^baren  Welt- 
grund und  seine  Entwickhuiif  zu  der  vernünfti^'cii  Welt  als  ihren 
Gt^genstand  behandelt.  Diese  positive  Philosophie  kann  jiber 
selbst  nicht  eine  rationale  Deduktion  enthalten,  sondern  muß  sich 
auf  die  Erfahrung  stützen,  in  welcher  sich  der  unvernünftige 
Weltgrund  geltend  macht.  Die  positive  Philosophie  will  meta- 
physischer Empirismus  sein.  Die  Einsicht,  daß  es  einen  für 
die  Vernunft  unauflöslichen  Rest  der  Erscheinungen  gibt,  verlangt 
eine  Ergänzung  des  Rationalismus  durch  die  Erfahrung.  Das  hat 
Schelling,  der  vielgestaltige  Vertreter  der  aprioristischen  Philo- 
sophie, zum  Schluß  erkannt.  Aber  nach  den  Prämissen  seinas 
Denkens  kann  diese  Erfahrung  nicht  diejenige  einzelner  endlicher 
Tatsachen  sein;  denn  diese  gehören  dem  vernünftigen  Denken  an; 
sondern  es  kann  nur  die  Erfahrung  sein,  welche  die  Vernunft  von 
dem  unendlichen  Weltgrunde  macht:  das  religiöse  Bewußtsein. 
Prinzipiell  vollzieht  also  Schelling  schließlich  genau  den  Gedanken 
Jacobis.  Aber  er  faßt  dabei  das  reUgiöse  Bewußtsein  nicht  wie 
dieser  in  einer  individuellen  Form  auf,  wodurch  jede  philosophische 
Behandlung  der  Sache  unmöglich  gemacht  wird,  sondern  er  ver- 
folgt den  Gedanken,  daß  es  der  absolute  Weltgrund  selbst  ist, 
der  sich  in  dem  vernünftigen  Universum  entwickelt,  imd  daß 
somit  die  einzelnen  Momente  seines  Wesens  in  den  verschiedenen 
Auffassimgen  vom  Wesen  des  Weltgrundes  zutage  treten  müssen, 
welche  die  Vernunft  der  Erscheinimgswelt  in  ihrer  bewußten  Form 
erzeugt  hat.  Die  metaphysische  Erfahrung  der  „positiven  Philo- 
sophie ist  also  keine  andere  als  das  religiöse  Vorstellungsleben 
der  Menschheit  in  seiner  historischen  Entwicklung.  Die  meta- 
physische Erfahrung  ist  die  der 'Offenbarung',  aber  der  Offen- 
barung weder  in  einer  individuellen  noch  in  einer  besonderen 
konfessionellen  Form,  sondern  vielmehr  in  der  Gesamtheit  der 
Vorstellungen,  worin  sich  der  Weltgrund  für  das  vernünftige  Be- 
wußtsein überhaupt  jemals  dargestellt  hat.  In  den  Kreis  dieser 
Erfahrung  gehört  also  nicht  nur  diejenige  göttliche  Offenbarung, 
welche  als  solche  ausdrücklich  geglaubt  wird,  sondern  auch  die- 
jenige, welche  noch  naiv  als  die  natürliche  Vorstellung  vom  Wesen 

Windelband,  Gesch.  d.  n.  Philos.    II.  26 


386  Schelling. 

der  Gottheit  erscheint,  d.  h.  die  mythologische  Form  des  Gottes- 
bewnßtseins.     Deshalb   ist   die   positive   Philosophie  eine  Philo- 
sophie der  Mythologie  und  Offenbarung.    Damit  kehrt  der 
Greis  Schelling   zu  Interessen  zurück,   die  er  schon  als  Jüngling 
verfolgt  und   nie  vergessen  hatte.     Schon  achtzehnjährig  schrieb 
er  >>Über  Mythen,  historische  Sagen  und  Philosopheme  der  ältesten 
Welt«.     Am  Ende  der  Kunstphilosophie  deutete  er  an,  daß  viel- 
leicht  die  Naturphilosophie  geeignet  wäre,   eine  neue  Mythologie 
zu  schaffen,  vermöge  deren  die  altheilige  Verbindung  von  Kunst 
und  Religion    wieder   herbeigeführt    werden    könne.     In    diesem 
Sinne  war  die  Schrift  angelegt,  die  er  unter  dem  Titel  » Die  Welt- 
alter« lange   versprach,    in  den   dreißiger   Jahren   teilweise   aus- 
arbeitete,  aber  aus    dem  begonnenen  Druck   wieder   zurückzog; 
imd  dieser  Plan  war  es  endlich,  den  er  in  den  Berliner  Vorlesungen 
ausführte.    In  das  weitere  Publikum  drangen  darüber  außer  vagen 
Gerüchten  zunächst  nur  die  unzuverlässige  Nachschrift  von  Frauen- 
städt   (Schellings   Vorlesungen  in   Berlin,   Berlin  1842)  imd  eine 
Karikatur,   welche  ein   persönlich  verbissener  Gegner,  der  Ratio- 
nalist Paulus,   unter  dem  Titel:  »Die  endlich  offenbar  gewordene 
Philosophie  der  Offenbarung«  auf  Grund  von  Heften  der  Zuhörer 
1843   erscheinen   ließ.     Erst    in    den    gesanmaelten   Werken   sind 
Schellings   eigene   Niederschriften   für   diese   Vorlesungen   als   die 
vier  Bände  der  zweiten  Abteilung  veröffentlicht  worden,    und  so 
hat  sich  ein  Bild  von  dem   großen  Plane   gewinnen  lassen,    den 
er  durch  die  wunderhchen  Konstruktionen  des  Ganzen  hindurch 
verfolgte.    Gleich  zu  Anfang  haben  ScheUings  Gegner  mit  Phrasen 
wie  Mystik,  Gnostizismus  usw.  nicht  gespart,  und  diese  pflegen  um 
so   mehr  nachgesprochen  und  nachgedruckt  zu  werden,    als  man 
sich  dadurch  der  Mühe  überhebt,   jene  vier  Bände  zu  lesen  und 
zu   verstehen.     Aber   man  braucht   in   dieser   letzten   Phase   des 
Schellmgschen  Denl^ens   nicht   das   Heü   der  Zukunft  zu  suchen 
und   kann   doch   die  Großartigkeit  der  Tendenz  und  die  gelehrte 
Vielseitigkeit,  sowie  den  überraschenden  Kombinationsblick  darin 
anerkennen.   Da  nämlich  nach  dem  früheren  Prinzip  für  Schelling 
die  Entwicklung  der  Welt  mit  derjenigen  der  Gottheit  identisch 
ist,  so  erhalten  wir  eine  Religionsphilosophie  in  der  Form 
einer  philosophischen  Religionsgeschichte.     Dabei   waltet 
im    ganzen  der  dialektische  Grundgedanke  ob,   daß  die  einzelnen 


Älytholo^io  und  OfTenliaruiig.  387 

Moinrutp  des  «^öttlicIuMi  Wesena  in  ihrer  Vereinzelung  sukzewiive 
bei  dieser  Entwicklung  der  Mytlien  und  der  Offenbarungen  luirvor- 
treton,  und  daß  nur  die  absolute  Synthese  aller  dieser  Moment«^ 
die  vüllkominene  Erkenntnis  des  i^öttlichen  Wesens  enthüll.  So 
ist  es  im  Grunde  genommen  genau  das  Prinzip  der  Hegeischen 
Philosophie  der  Geschichte  und  des  HegelsclK^n  Systems  überhaupt, 
was  Schelling  in  der  Theosophie  geltend  macht,  und  obwohl  er 
das  irrationale  Moment  in  seiner  vollen  Bedeutung  durchschaut 
hat,  bleibt  er  doch  bis  zum  Ende  Dialektiker.  Die  besondere 
Ausführung  dieses  Planes  ist  natürlich  durch  den  damaligen  Stand 
der  mytliolouischen  Forschungen  und  Hypothesen  bedingt,  und 
man  wird  Schelling  nicht  absprechen  dürfen,  daß  er  auch  hier  in 
das  zerstreute  Material  überaus  glückhch  den  ideellen  Zasammen- 
hanü:  hineinzudenken  verstand.  Freilich  verfuhr  er  dabei  mit  den 
historischen  Tatsachen  gelegentlich  ebenso  willkürlich,  wie  einst 
mit  den  physikalischen.  Wieder  fügt  sich  unter  seiner  Hand  das 
gesamte  Material  dem  triadischen  Schema,  und  dor 'Gottesbegriff, 
der  so  gewissermaßen  aus  dem  Niederschlage  der  ganzen  Rehgions- 
geschichte  gewonnen  werden  soll,  zeigt  die  aufsteigende  Reihe  von 
drei  Entwicklungsstufen.  Die  erste  bildet  na türhch  jenes  blind  not-  /  i 
wendige  Willenssein,  der  dunkle  Drang  zum  Leben,  den  schon  die 
»Freiheitslehre«  als  die  ewige  Natur  in  Gott  bezeichnet  hatte, 
und  den  man  auch  den  Schopenhauerschen  Willen  nennen  könnte. 
Den  dialektischen  Gegensatz  dazu  enthält  der  sich  selbst  offenbar  (^  ) 
weidende  Wille,  den  Schelling  wiederum  in  drei  Stufen  entwickelt, 
wonach  er  zuerst  als  bewußtlos  schaffender  Wille  die  wirkende 
Naturkraft  oder  die  causa  materiaHs,  sodann  als  besonnener  Wille 
das  tätige  Weltleben  oder  die  causa  efficiens,  endhch  als  zweck- 
tätiger Wille  der  sich  selbst  begTeifende  Weltzweck  oder  die  causa 
finalis  ist.  Den  Abschluß  dieser  Selbstevolution  bildet  also  das 
Bewußtsein,  und  so  erweist  sich  auch  hier,  daß  die  irrationalistische 
Dialektik  auf  den  Gegensatz  von  Willen  und  Denken  oder  von 
unbewußtem  imd  bewußtem  psychischen  Leben  hinausläuft.  Die 
Synthesis  endlich  dieser  beiden  Momente  enthält  den  absoluten  ^  / 
Gottesbegriff  als  denjenigen  einer  Überwindung  des  dunkeln  durch 
den  offenbar  gewordenen  Willen.  Diese  Überwindung  ist  der  Inhalt 
des  christlichen  Gottesbegriffes  in  seiner  trinitären  Fassung.  Die 
Möglichkeit    der    Überwindung    ist    der  ^ater,    die    Macht    der 


/> 


388  Feoerbach. 

Überwindung  ist  der  Sohn,  die  Vollendung  der  Überwindung  ist  der 
Geist.  So  endet  Schelling  mit  einer  spekulativen  Ümdeutung  des 
positiven  Dogmas,  und  der  Grundgedanke  ist  dabei  der  einer  Über- 
windung des  unvernünftigen  Weltgrundes  durch  seine  eigene  ver- 
nünftige Offenbarung.  Es  ist  das  positive  Gegenstück  zu  Schopen- 
hauers Lehre  von  der  Verneinung  des  Willens  durch  die  vernünftige 
Erkenntnis  seiner  Unvernunft.  Die  volle  Herrschaft  dieses  höchsten 
Gottesbegriffes  erwartet  Schelhng  erst  von  der  Zukunft.  In  der 
Geschichte  des  Christentums  konstruiert  er  mit  Kant  und  Fichte 
drei  Perioden,  die  Petrinische  des  Katholizismus,  die  Paulinische 
des  Protestantismus  und  als  ihre  Versöhnung  die  Johanneische 
Eehgion  der  Liebe,  das  Christentum  der  Zukunft. 

So  erfolglos  diese  letzte  Konstruktion  Schellings  sich  in  der 
Geschichte  der  Philosophie  erwiesen  hat,  so  zeigt  doch  ihr  Grund- 
motiv, mit  wie  tiefem  Verständnis  er  bis  zum  Ende  der  philo- 
sophischen Gedankenbewegung  folgte.  Er  begriff  vollständig,  daß 
die  Zeit  des  aprioristischen  Kationalismus  vorüber  war,  und  daß 
der  unerklärte  Rest  in  der  Wirklichkeit  für  die  Dialektik  eine 
Ergänzung  notwendig  mache,  welche  nur  durch  irgend  eine  Er- 
fahrung gewonnen  werden  könne.  Seinen  Versuch,  diese  nur 
im  religiösen  Bewußtsein  zu  finden,  versteht  man  aus  seiner  Ent- 
wicklung; aber  seine  Zeit  verschmähte  ihn  und  griff  um  so  be- 
gieriger nach  einem  anderen,  welcher  den  metaphysischen  Em- 
pirismus, dessen  Notwendigkeit  Schelling  erkannt  hatte,  auf  dem 
entgegengesetzten  Ende,  bei  der  sinnlichen  Wahrnehmung  suchte. 
Auch  dieser  führte  zu  einer  Art  von  Irrationalismus,  zu  einer 
freilich  ganz  anderen  und  viel  roheren  Lehre  von  dem  unver- 
nünftigen Weltgrunde.  Der  große  Träger  der  idealistischen  Ent- 
wicklung war  vor  der  Plumpheit  sicher,  den  bewußtlosen  Urgrund 
der  Wirklichkeit  in  dem  materiellen  Stoff  zu  suchen,  der  als  ein 
Vorstellungsprodukt  durch  die  Kantische  Lehre  ein  für  allemal 
erkannt  ist.  Aber  wer  diese  vergaß,  der  konnte  wohl  wieder  an 
den  Gedanken  geraten,  da,  wo  der  Rationalismus  scheiterte,  auf 
die^Materie '  als  auf  den  irrationalen,  nur  durch  die  sinnliche  Er- 
fahrung in  das  Bewußtsein  tretenden  Weltgrund  hinzuweisen.  Die 
einzig  originelle  Form  daher,  worin  unter  den  Deutschen  der 
Materialismus  je  gelehrt  worden  ist,  ging  von  einem  Manne  aus, 


fnuMA 


VerhUltni«  zu  Hrj^el.  3HiJ 

der  sich  von  dem  Rationalismus  durch  dio  Einflicht  in  dessen 
Unzulänglichkeit  befreite.  Dies  ist  die  historische  Sti»llung  Ludwig 
Feuerbachs,  und  deshalb  muß  der  Gedanken<^anji,  durch  den 
er  zu  seiner  »Philosophie  der  Zukunft«  gelanj^te,  schon  in  diesem 
Zusammenhang  entwickelt  werden,  während  die  rcligionsphilo-  //fff 
sophische  Zersetzung  der  l[egelschen  Schule  und  die  materialistische 
Bewegung,  mit  denen  Feuerbach  verwachsen  ist,  erst  an  späterer 
Stelle  zm*  Darstellung  kommen. 

Er  war  1804  als  Sohn  des  bekannten  Kriminalisten  Anselm 
Feuerbach  zu  Landshut  geboren,  besuchte  in  München  und  Ans- 
bach die  Schulen  mid  studierte  in  Heidelberg  und  Berlin.  Hier 
sattelte  er  unter  dem  Einflüsse  Hegels  von  der  Theologie  zur 
Philosophie  um,  beschäftigte  sich  sodann  in  Erlangen  eingehend 
mit  naturwissenschaftlichen  Studien  und  habilitierte  sich  an  dieser 
Universität  1828.  Da  er  sich  jedoch  infolge  seiner  Schrift  »Ge- 
danken über  Tod  und  Unsterblichkeit«  (Nürnberg  1830),  deren 
Anonymität  nicht  gewahrt  geblieben  war,  in  der  akademischen 
Laufbahn  zurückgesetzt  fand,  so  zog  er  sich  1832  von  ihr  zurück 
und  gab  sie,  nachdem  er  nach  drei  viertel]  ähriger  Unterbrechung 
noch  einmal  gelesen  hatte,  vollständig  auf,  um  sich  nach  Bruck- 
berg,  der  Heimat  seiner  Frau,  zurückzuziehen.  Aus  dieser  Ein- 
samlvcit  trat  er  zuerst  im  Jahre  1848  heraus,  um  in  Heidelberg 
nach  Aufforderung  der  dortigen  Studentenschaft  Vorlesungen  über 
das  Wesen  der  Religion  zu  halten.  Schlimmer  aber  wurde  er 
aus  dem  Idyll  herausgerissen,  als  die  der  Familie  gehörige  Fabrik 
zuerunde  sing,  und  er  sich  seit  1859  bis  zu  seinem  Tode  1872 
mit  den  Seinigen  zu  einer  kümmerlichen  Existenz  in  einer  Vor- 
stadt von  Nürnberg  verurteilt  sah. 

Feuerbach  ist  der  irrationalistische  Ausläufer  des  Hegelianismus, 
und  seine  Entwicklung  ist  daher  wesentlich  durch  den  Grenz- 
begriff bestinmit,  der  sich  innerhalb  dieses  Systems  als  die 
Schranke  der  Deduzierbarkeit  darstellte:  es  ist  das,  was  Hegel 
die  ZufäUigkeit  der  Natur  genannt  hat.  Bezeichnete  der  Meister 
die  undeduzierbare  Besonderheit  der  einzelnen  Naturerscheinungen 
als  eine  Unansemessenheit  der  Wirklichkeit  zima  Begriff,  so  hat 
schHeßlich  der  Schüler  diesen  Gedanken  umgekehrt  und  war  der 
populären  Beistimmung  sicherer,  wenn  er  erklärte,  dies  Verhältnis 
beweise  nur  die  Unangemessenheit  des  Begriffes  zur  Wirkhchkeit. 


390  Feuerbach. 

Diese  Umkehrung  entwickelte  sich  bei  Feuerbach  sukzessive  in 
dem  religionsphilosophischen  Streite,  der  die  Hegeische  Schule 
seit  der  Mitte  der  dreißiger  Jahre  bewegte.  Es  ist  nicht  erforder- 
lich, auf  diesen  hier  schon  genauer  einzugehen ;  es  genügt  hervor- 
zuheben, daß  Feuerbachs  Stellung  darin  zunächst  durch  seine  An- 
sicht vom  Wesen  der  Gattungsbegriffe  und  speziell  von  der  Be- 
deutung des  Begriffes  der  menschlichen  Gattung  bestimmt  war. 
Gerade  in  diesem  Streite  stellte  sich  bei  den  »Linken«  unter  den 
Schülern  Hegels,  zu  denen  Feuerbach  wie  Strauß  gehörte,  heraus, 
daß  Hegels  »absoluter  Geist«  eigentlich  doch  nichts  anderes  als 
sein  »objektiver  Geist«,  d.  h.  die  menschliche  Gattungsvemunft 
war,  und  solange  beide  Männer  an  der  ReaHtät  dieser  Idee  im 
Hegeischen  Sinne  festhielten,  konnten  sie,  wenn  auch  als  äußerste 
Gegner  des  Supranaturalismus ,  einen  religionsphilosophischen 
Standpunkt  ausbilden  und  festhalten.  Aber  schon  Feuerbachs 
»Gedanken  über  Tod  und  Unsterblichkeit«  betonten  das  Prinzip 
der  Unangemessenheit  des  Individuums  zur  Gattung  und  den  Ge- 
danken des  Aufgehens  des  ersteren  in  die  letztere  mit  einer  der- 
artigen Anlehnung  an  den  Spinozistischen  Naturalismus,  daß  das 
ideelle  Moment  der  Hegeischen  Lehre  hinter  dem  Pantheismus 
entschieden  zurücktrat.  Und  schließlich  ist  es  denn  auch  dieser 
Spinozistische  Begriff  der  unendlichen  Natur  gewesen,  der,  von 
Hegel  in  die  dialektische  Entwicklung  der  Idee  aufgenommen, 
bei  Feuerbach  seine  übermächtige  Kraft  entwickelte  und  die 
Schale  des  Idealismus  zersprengte.  Denn  als  Feuerbach  1839 
seine  »Kritik  der  Hegeischen  Philosophie«  gab,  wies  er  vor  allem 
darauf  hin,  daß  in  der  Hegeischen  Dialektik  zwar  für  die  Suk- 
zession, aber  nicht  für  die  Koordination,  zwar  für  die  Zeit,  aber 
nicht  für  den  Raum  gesorgt  sei,  und  daß  darin  zwar  die  Ge- 
schichte, aber  nicht  die  Natur  ihren  Platz  finde.  Der  Hegelianismus 
als  die  historische  Weltanschauung  stehe  ratlos  vor  der  Natur, 
er  könne  sie  nicht  begreifen  und  betrachte  sie  als  das  »Zufällige«. 
Aber  gerade  dieses  Zufällige  sei  in  Wahrheit  das  Wesentliche; 
die  ganze  nach  Hegel  deduzierbare  Gesetzmäßigkeit  der  Natur 
hat  nur  Sinn  in  der  Anwendung  auf  die  spezifische  Eigentümlich- 
keit der  Erscheinungen,  welche  dialektisch  nie  deduziert  werden 
kann.  Das  Wesen  der  Natur  ist  gerade  die  Individualisierung, 
deren    Erkenntnis    die   Hegeische   Lehre    ausdrücklich   preisgeben 


AnthropologiMinui.  391 

muß.  Unter  Ftuierbachs  liistorisc-hen  Arbeiten  ist  die  vJJurHt<lliing, 
Entwicklung  und  Kritik  der  Ii<Ml>nizschen  VhiloHf^pliie«  (1837)  die 
bedeutendste,  und  der  IndividualismuH  dieser  Lehre  hat  bei  ihm 
offenbar  die  tiefsten  Wurzeln  j^eschlaj^en.  Ist  deshalb  eine  Philo- 
sophie unfähig,  die  Individualität  und  damit  die  Natur  zu  begreifen, 
so  muß  sie  verworfen  werden.  So  wird  Feuerbach  aus  einem  An- 
hänger zum  Gegner  der  Hegeischen  Philosopliie.  Während  er 
früher  diese  so  dargestellt  hatte,  daß  sie  sorgfältig  von  der  Theo- 
logie unterschieden  werde,  wirft  er  ihr  jetzt  vor,  sie  habe  mit 
ihrer  Lehre  von  der~  Realität  der  Idee  und  von  der  Zufälligkeit 
der  Natur  einen  durchaus  theologischen  Charakter.  Im  Zusammen- 
hans;  entwickeln  sich  diese  Gedanken  in  seinem  berühmtesten 
Werke,  dem  »Wesen  des  Christentums«  (1841).  Die  Wissenschaft 
hat  nicht  die  scholastische  Aufgabe,  welche  sich  auch  Hegel  ge- 
setzt hat,  die  Religion  zu  rechtfertigen,  sondern  nur  diejenige, 
sie  zu  erklären,  und  sie  kann  sie  nur  aus  dem  Wesen  des  Menschen 
und  aus  dessen  psychologisch  notwendiger  Entwicklung  erklären. 
Feuerbach  deckt  das  Geheimnis  der  Hegeischen  Lehre  auf,  indem 
er  offen  und  präzis  den  Standpunkt  des  Anthropologismus  be- 
tritt. Der  Mensch  hat  einen  Begriff  von  seiner  Gattung,  und  sein 
Verhalten  zu  diesem  ist  der  Grund  seines  religiösen  Lebens.  Aber 
er  betrachtet  diesen  Begriff  nicht  als  sein  eigenes  Wesen,  sondern 
als  ein  fremdes ;  er  glaubt  an  die  Realität  dieses  fremden  W^esens 
und  schafft  sich  damit  seinen  Gott.  Die  Religion  ist  also  auf 
diesem  anthropologischen  Standpunkt  eine  notwendige  Illusion, 
und  zwar  diejenige,  in  welcher  der '  Gattungsbegriff  des  Menschen^ 
als  ein  dem  individuellen  Menschen  gegenüberstehendes  reales 
Wesen  gedacht  wird.  Alle  religiösen  Dogmen  beruhen  auf  einer 
Umkehrung  der  ursprünglichen  Sätze,  in  denen  die  idealen  Merk- 
male des  menschlichen  Gattungsbegriffes  als  das  Wertvollste,  als 
das  Göttliche  bezeichnet  werden.  Der  Mensch  wünscht  selbst  diesem 
seinem  Gattungsbegriff  zu  entsprechen,  und  vermöge  dieses 
Wimsches  erscheint  ihm  sein  Gattungsbegriff  als  die  höchste 
Realität,  als  Gottheit.  Der  Mensch  steigert  sein  eigenes  Wiesen 
ins  Unendliche  und  stellt  es  sich  als  "Xrott^  gegenüber.  'Gott  ist, 
was  der  Mensch  sein  möchte.  So  erscheint  die  Religion  als  Er- 
zeugnis des  Bedürfnisses.  Während  also  Feuerbach  früher  mit 
Strauß  die  Realität  der  Idee  der  Menschheit  angenommen  hatte, 


mm 


392  Feuerbach. 

sieht  er  die  letztere  jetzt  in  seiner  »Theorie  des  Wunsches«  als 
eine  Illusion  des  Individuums  an.  Man  kann  sagen,  er  ist  No- 
minalist  geworden,  und  zwar  deshalb,  weil  er  sich  in  der  Kritik 
der  Hegeischen  Philosophie  überzeugt  hat,  daß  aus  der  Idee  die 
Individualität  nicht  zu  deduzieren  ist. 

Aber  derselbe  Gedankengang  führte  notwendig  weiter.  Das 
Allgemeine,  der  Begriff  und  die  Idee  sind  das  Qeistige,  die  In- 
dividualität, das  Besondere  ist  das  Natürliche.  Die  dialektische 
Methode  ist  unfähig  gewesen,  die  Natur  zu  begreifen,  und  zwar 
deshalb,  weil  sie  die'^Idee^  für  die  höchste  Wirklichkeit  gehalten 
hat.  Feuerbachs  Naturaüsmus  dagegen  behauptet,  man  müsse  die 
^Natur  und  das  Individuuni  als  die  wahre  Wirklichkeit  betrachten. 
Die  Hegeische  Philosophie  stellt  den  wahren  Sachverhalt  auf  den 
Kopf;  ihr  gilt  der  Geist  imd  die  Allgemeinheit,  welche  nur  ein 
Bild  der  natürlichen  Individualität  sind,  als  das  Wirkhche,  und 
darin  besteht  zugleich  nach  Feuerbachs  Ansicht  die  Gefährlichkeit 
des  Christentums,  daß  auch  dieses  die  düstere  Innerlichk:eit  des 
Geistes  zur  religiösen  Weltmacht  hypostasiert.  Als  darum  Feüer- 
bach  1843  die  »Grundsätze  der  Philosophie  der  Zukunft«  pro- 
klamierte, erklärte  er  ganz  konsequent,  daß  nur  das  sinnliche  In- 
dividuum das  ^Wirkliche  und  das  Allgemeine  die  Illusion  des  In- 
dividuums sei.  Der  Geist  ist  die  Verdoppelung  und  Entzweiung 
des  Individuums  mit  sich  selbst.  Er  ist  nicht  das  Wesen,  sondern 
das  verblaßte  Abbild  der  Natur.  So  negiert  in  Feuerbach  die 
deutsche  Philosophie  sich  selbst,  indem  sie  ihr  Prinzip,  den  Geist, 
negiert.  Der  Geist,  der  sich  bei  Hegel  als  die  notwendige  Selbst- 
entzweiung begriff,  erscheint  bei  Feuerbach  als  die  Entzweiung 
des  natürlichen  Menschen  mit  sich  selbst.  Seine  Lehre  ist  in 
dieser  Entwicklung  der  Selbstmord  des  Geistes,  der  sich  in  den 
Abgrund  der  Materie  stürzt.  Feuerbach  mußte  damit  enden,  daß 
er  in  der  Einleitung  seiner  gesammelten  Werke  erklärte:  »Meine 
/ /      Philosophie  ist,  daß  ich  keine  Philosophie  habe.« 

Das  ist  der  Fall  ins  Bodenlose.  Feuerbach  ist  der  verlorene 
Sohn  des  deutschen  Idealismus,  der  im  sinnlichsten  MateriaHsmus 
enden  muß.  Wie  er  damit  einer  weiteren  Bewegung  entgegenkam, 
wie  er  sich  zum  Stimmführer  einer  seichten  Reproduktion  der 
entsprechenden  Lehren  des  XVIII.  Jahrhunderts  hergab,  wie  seine 
Lehre   von   der   alleinigen   Wahrheit  des   sinnlichen   Individuums 


Dialcktieclier  MuteriaÜHiuuH.  ,'j<l3 

Bchließliuh  zu  ethischen  und  sozialen  Konsequenzen  fühlte,  ver- 
möge deren  er  sich  zum  Vorfechter  radikaler  und  revolutionärer 
Parteien  machte,  —  das  kann  erst  in  anderem  Zusammenhan;^e 
dargestellt  werden.  Hier  handelte  es  sich  nur  darum,  die  Tra- 
gödie seiner  Entwicklung  aufzuzeigen,  mit  der  er  aus  dem  Pau- 
logismus  heraus  zum  Materialisten  wurde.  Diese  Tragödie  hat  in 
der  Tat  ihren  Ursprung  in  der  Unzulänglichkeit  der  dialektischen 
Konstruktion.  Er  hatte  vollkommen  recht  damit,  daß  die  Natur 
und  das  Individuum  aus  der  Idee  und  dem  Allgemeinen  nicht  zu 
deduzieren  sind.  Der  »unlogische  Rest«,  der  unter  dem  Namen 
der  (Zufälligkeit  in  dem  Panlogismus  eingesperrt  war,  zerstörte  von 
innen  heraus  das  ganze  Gebäude,  und  es  gehörte  nur  die  kräftige 
Sinnlichkeit  eines  Mannes  wie  Feuerbach  dazu,  um  das  zarte 
Maschennetz  der  Dialektik  zu  zerreißen.  Und  doch  trägt  ander- 
seits gerade  dieser  Materialismus  die  Züge  seines  idealistischen 
Ursprunges  deutlich  an  der  Stirn  und  unterscheidet  sich  eben  da- 
durch von  den  älteren  Lehren,  mit  denen  er  sich  im  Resultat 
identifiziert.  Es  ist  ein  Rest  der  abgeworfenen  Dialektik,  der 
darin  zutage  tritt,  daß  Feuer bach  den  »Geist«  als  die  Negation 
der  Materie,  als  die  mit  sich  selbst  entzweite  Natur  betrachtet  und 
gerade  aus  diesem  Grunde  in  der  Theorie  und  in  der  Praxis  be- 
kämpft. Das  war  eine  Art  von  Nemesis,  mit  der  sich  an  der 
dialektischen  Methode  der  Übergang  der  Begriffe  ineinander  rächte. 
Sah  Hegel  in  dem  Geist  das  Ursprüngliche  und  in  der  Materie  die 
Negation,  die  jener  aus  seiner  Selbstentzweiung  notwendig  erzeuge, 
wie  kann  man  es  dem  Schüler  verargen,  wenn  er  umgekehrt  die 
Materie  für  das  Ursprüngliche,  den  Geist  als  die  mit  sich  selbst 
entzweite  Natur  betrachtete?  Dieser  Materialismus  ist  der  Zwilhngs- 
bruder  des  dialektischen  Idealismus.  Feuerbachs  Lehre  ist  nichts  ) 
/  als  der  umgestülpte  Hegehanismus.  Die  schemenhafte  Verschw^ommen- 
,  heit,  mit  der  die  Begriffe  der  dialektischen  Logik  ineinander  zer-  ^ 
I  rannen,  gewährte  die  Möglichkeit,  mit  derselben  Dialektik  das 
j  Umgekehrte  von  dem  zu  konstruieren,  was  der  Meister  darin  nieder- 
^  gelegt  hatte.  Diese  Tatsache  ist  noch  viel  später  in  einem  der 
merkwürdigsten  und  wunderlichsten  Bücher  erkennbar,  die  je  ge- 
schrieben worden  sind:  es  ist  das  »System  der  Rechtsphilosophie « 
von  Ludwig  Knapp  (Erlangen  1857),  das  Feuerbach  auf  das 
freudigste    begrüßte,    ein  Buch,   das   den   Materialismus  mit   der 


394  Irrationalistischer  Empirismus. 

feinsten  Dialektik,  oft  in  holiem  poetischen  Schwünge  und  mit 
jener  hin  und  wieder  ans  Barocke  streifenden  Kombinationsfähigkeit 
darstellt,  ohne  welche  die  dialektische  Methode  nicht  gehandhabt 
werden  kann.  Es  ist  vielleicht  die  spirituellste  Form,  worin  der 
Materialismus  je  gedacht  worden  ist,  und  während  die  Sprache 
sich  in  die  feinsten  Abstraktionen  verflüchtigt,  soll  darin  der 
gröbste  Stoff  als  das  Wesen  aller  Dinge  und  Verhältnisse  gelehrt 
werden. 

Der  Irrationalismus  aber,  in  den  Feuer bach  die  Hegeische 
Lehre  verwandelt  hat,  zeigt  sich  noch  in  einer  anderen  Kon- 
sequenz. Denn  dieser  Materialismus  ist  selbstverständlich,  sofern 
er  sich  noch  mit  einer  Betrachtung  der  Erkenntnistätigkeit  ab- 
gibt, der  einfachste  und  roheste  Sensualismus.  Wenn  das  sinn- 
Hche  Individuum  die  einzige  Wahrheit  ist,  so  besteht  alle  Er- 
kenntnis nur  in  der  sinnlichen  Empfindung.  Diese  selbstverständ- 
hche  Folgerung  muß  aber  deshalb  ausdrücklich  hervorgehoben 
werden,  weil  sie  ein  interessantes  Gegenstück  zu  den  übrigen  ir- 
rationalistischen Lehren  enthält.  Wer  die  Unzulänglichkeit  des 
Rationalismus  durchschaut  hat,  muß  die  Erkenntnis  jenes  un- 
deduzierbaren  Restes  immer  in  der  Erfahrung  suchen.  Bei  Jacobi 
erscheint  zu  diesem  Zwecke  neben  der  sinnlichen  Wahrnehmung 
die  »Vernunft«  als  das  Wahrnehmungsvermögen  für  das  Über- 
sinnliche, bei  Schopenhauer  die  Selbstanschauung  des  Subjekts, 
in  der  es  sich  als  Wille  erkennt,  bei  Schelling  die  Offenbarung, 
mit  der  der  göttliche  Urgrund  im  menschUchen  Bewußtsein  sich 
selbst  entwickelt,  bei  Feuerbach  —  die  sinnliche  Empfindung. 
Alle  diese  Systeme  des  Irrationalismus  sind  ebenso  viele  Formen 
des  Empirismus,  und  es  ist  von  hier  aus  zu  übersehen,  wes- 
halb, als  der  Glanz  des  Hegeischen  Systems  erloschen  war,  die 
Philosophie  der  Epigonen  zunächst  die  Tendenz  nehmen  mußte, 
eine  Ausbildung  des  Empirismus  zu  werden.  An  dem  unlogischen 
Reste  mit  seinen  apriorischen  Konstruktionen  gescheitert,  fiel  der 
philosophische  Geist  in  die  Arme  der  Erfahrung  zurück. 

§  70.     Die  kritische  Metaphysik. 

Herbart. 

Der  Umschlag    der   rationalistischen    in    irrationalistische   Sy- 
steme,  den  der  vorige   Paragraph  in  seinen   einzelnen  Gestalten 


Herl>art.  895 

verfolgte,  zeigt  fant  nocli  charakteristischer  als  das  llcf^clsche 
System  selbst  die  außerordentliche  Flüssif^'keit  und  Wandolhar- 
keit  der  Begriffe,  mit  denen  die  bisher  betrachtete  Entwicklung^ 
der  deutschen  Philosophie  nach  Kant  arbeitete.  In  der  Tat  ent- 
spricht nun  ein  solches  Übergehen  der  Begriffe  ineinander  durch- 
aus dem  psychologischen  Prozesse,  den  das  menschliche  Denken 
unwillkürlich  durchmacht,  und  gerade  deshalb  erwies  sich  als  der 
eigenste  Charakter  des  Hegeischen  Systems  —  seinem  Urheber 
unbewußt  —  die  metaphysische  Hypostasierung  psychologischer 
Begriffsverhältnisse.  Seine  Logik  war  im  gewissen  Sinne  eine 
vortreffliche  Psychologie,  eine  richtige  Beschreibung  der  schwan- 
kenden Bewegung,  vermöge  deren  die  menschlichen  Vorstellungen 
sich  ineinander  weben  und  durcheinander  mengen.  Diese  Fein- 
fühligkeit, womit  in  dem  Gewebe  unserer  Gedanken  »ein  Tritt 
tausend  Fäden  regt«,  dieses  phantasievolle  Schimmern  und  Schil- 
lern, vermöge  dessen  sich  analoge  Denkbestimmungen  ineinander 
mischen,  war  recht  eigentlich  ästhetischen  Charakters;  aber  dies 
entsprach  eben  deshalb  nicht  den  strengen  Anforderungen  der 
Wissenschaft,  für  welche  immerdar  die  Wolf f sehe  Forderung  »deut- 
licher Begriffe  und  gründlicher  Beweise«  maßgebend  bleiben  wird. 
Die  Philosophie  nach  Kant  war  wirklich,  wie  er  verlangte,  eine 
»Wissenschaft  aus  Begriffen« :  aber  ihre'Begriffe  waren  so  schwan- 
kend, so  unsicher  geworden,  daß  sie  sich  stets  ineinander  zu  ver- 
wandeln vermochten  und,  statt  sich  abzuklären,  vielmehr  in  eine 
allgemeine  Unbestimmtheit  sich  auflösten,  worin  jeder  seinem  per- 
sönlichen Denkwesen  nach  eine  eigene  Deutung  zu  finden  ver- 
mochte. 

Deshalb  tat  der  deutschen  Philosophie,  um  sie  zur  Strenge 
der  wissenschaftlichen  Arbeit  zurückzuführen,  die  Erscheinung 
eines  Kritikers  not,  der  sich  der  Gnindf orderung  scharfer  Be- 
griffsbildung klar  bewußt  und  sie  durchzuführen  befähigt  war. 
Er  mußte  dem  genialen  Drange  der  Identitätsphilosophie  gegen- 
über etwas  von  dem  pedantischen  Anstrich  haben,  welcher  der 
vorkantischen  Schulphilosophie  eigen  gewesen  war;  er  mußte  der 
Überzeugung  sein,  daß  mit  dem  neuen  Prinzip  der  Kantischen 
Lehre  der  strenge  logische  Methodismus  von  Wolff  nicht  zu 
Grabe  getragen,  sondern  vielmehr  mit  ihm  zu  versöhnen  und  zu 
durchdringen  sei.    Er  durfte  kein  sklavischer  Anhänger  des  Alten, 


396  Herbart. 

aber  aucli   kein  enthusiastischer  Verehrer  des  Neuen  sein.     Diese 
kritische  Mittelstellung,  welche  für  das  deutsche  Denken  außer- 
ordentlich wünschenswert  und  förderlich  war,  ist  diejenige  Johann 
^sxl^aAJ-     Friedrich  Herbarts. 

/  Auch  er  gehörte  zu  den  hochstrebenden  Jüngern,  die  sich  um 

I /  Fichte  während  seiner  Jenenser  Wirksamkeit  scharten.     1776  zu 

^^  /^y/  Oldenburg  geboren,  hatte  er  1794  die  Universität  bezogen  und 
trat  in  die  dort  herrschende  Gedankenströmung  schon  mit  einer 
tüchtigen,  auf  dem  Gymnasium  und  durch  persönlichen  Umgang 
erworbenen  philosophischen  Vorbildung  ein.  Diese  enthielt  nicht 
nur  eine  gründliche  Kenntnis  Kants,  sondern  auch  eine  eingehende 
Vertiefung  in  die  Leibniz- Wolffische  Lehre.  Dazu  kam  eine  her- 
vorragende kritische  Begabung,  um  den  jugendlichen  Zuhörer 
schon  damals  selbständig  der  idealistischen  Lehre  gegenüber  seine 
Stellung  nehmen  zu  lassen.  Er  legte  dem  gefeierten  Lehrer  über 
Schellings  erste,  noch  ganz  den  Fichteschen  Standpunkt  vertre- 
tende Schriften  kritische  Bemerkungen  vor,  in  denen  er  an  Stelle 
der  idealistischen  Weiterentwicklung  eine  sorgfältige  Prüfung  der 
Kantischen  Lehre  für  notwendig  erklärte.  Diese  Gedanken  reiften 
dann  zu  positiven  Überzeugungen  heran,  als  Herbart  nach  Ab- 
schluß der  Universitätsstudien  drei  Jahre  in  der  Schweiz  als 
Hauslehrer  lebte,  eine  Zeit,  in  der  besonders  die  Bekanntschaft 
mit  Pestalozzi  von  Wichtigkeit  für  ihn  wurde.  1802  in  Göttingen 
habilitiert,  wurde  er  1809  durch  Wilhelm  von  Humboldt  nach 
Königsberg  berufen  und  verließ  diesen  Wirkungskreis  erst  wieder 
1833,  um  als  Professor  nach  Göttingen  zurückzugehen,  wo  er 
1841,  schon  als  Haupt  einer  sich  um  ihn  bildenden  Schule,  ge- 
storben ist. 

Hinsichtlich  der  Strenge  des  wissenschaftlichen  Denkens  war 
Herbart  offenbar  in  der  auf  Kant  folgenden  Generation  der  be- 
rufenste, sein  Nachfolger  auf  dem  Königsberger  Lehrstuhle  zu 
sein.  Seine  Auffassung  von  der  Aufgabe  der  Philosophie,  die 
am  besten  in  seinem  »Lehrbuch  zur  Einleitung  in  die  Philo- 
sophie« (Königsberg  1813)  zugängÜch  ist,  geht  ausdrücklich  auf 
Kant  zurück,  indem  er  die  Philosophie  als  eine  Begriffswissen- 
schaft betrachtet  haben  will.  Die  Vermischung  der  philosophischen 
und  der  empirischen  Disziphnen,  welche  durch  die  universalistische 
Tendenz  der  Identitätslehre  einzureißen   drohte,    findet   an  ihm 


Bearbeitung  der  Bogriflo.  397 

einen  nicht  minder  scharfen  Gej^ner,  als  jene,,  geniale,  die  ver- 
standesniiißige  iieflexion  verac'htende  Hehandliingsweise  der  Philo- 
sophie, der  dieselbe  Richtung  zuneigte,  (jleich  energisch  von 
der  Empirie  und  von  tler  iisthetisierenden  Betrachtung  sich  ab- 
grenzend, soll  Ilerharts  Philosophie  eine  ^  klare  und  deutliche 
Wissenschaft  der  ]3ogriffc  sein.  Dabei  verfällt  er  durchaus  nicht 
dem  Pedantismus  Wolffs :  mit  freiem  Blick  umspannt  er  die  Weite 
des  Kantischen  (ledankenhorizonts  und  sucht  innerhalb  dieser 
Gedankenwelt  sich  in  dem  kritischen  Zentrum  selbst  anzubauen. 
Indem  er  damit  zu  der  gesamten  identitätsphilosophischen  Denk- 
bewegung in  bewußten  Gegensatz  tritt,  knüpfen  sich  doch  seine 
Lehren  der  Form  und  dem  Inhalte  nach  daran  überall  an:  ja, 
sie  enthalten  stets  gewissermaßen  den  Rückschlag  nach  der  ent- 
gegengesetzten Seite,  und  sie  würden  vielleicht  ohne  diese  Kon- 
trastwirkung nicht  immer  dieselbe  Schärfe  der  Zuspitzung  er- 
fahren haben.  Dies  Verhältnis  tritt  sehr  bezeichnend  in  seiner 
Darstellung  hervor,  welche  meist  polemisch  von  anderen  An- 
sichten, am  häufigsten  von  Kant  und  Fichte,  ausgeht,  darüber 
stets  neues  und  wertvolles  Licht  verbreitet,  im  ganzen  aber  für 
die  unmittelbare  Wirkung  sehr  ungünstig  ist,  so  daß  man  sich 
über  die  Grundzüge  seiner  Lehre  am  bequemsten  in  der  Dar- 
stellung eines  seiner  Schüler,  z.  B.  in  Hartensteins^ vortreff-  \^^^^ 
liehen  »Problemen  und  Grundlehren  der  allgemeinen  Metaphysik* 
(Leipzig  1836)  orientieren  wird. 

Ist  Herbart  mit  Kant  darin  einig,  daß  Philosophie  eine'Wissen- 
schaft  der  Begriffe^  sei,  so  weicht  er  doch  von  dem  Altmeister 
sogleich  darin  ab,  daß  er  sie  nicht  wie  dieser  auch  als  eine 
"Wissenschaft  aus  Begriffen  bestimmt  sehen  will.  Nicht  der 
apriorische,  sondern  der  gegebene  Begriff  ist  ihm  der  Aus- 
gangspunkt der  philosophischen  Tätigkeit.  Diese  gegebenen  Be- 
griffe liegen  teils  in  der  allgemeinen  Erfahrung,  teils  in  den 
empirischen  Wissenschaften  vor:  sie  werden  in  unwillkürlicher 
Betätigung  der  Erkenntnis  gewonnen  und  haben  nie  darauf  ge- 
wartet, daß  die  Philosophie  sie  erst  begründen  sollte.  Aber  wie 
sie  nun  da  sind  und  das  ganze  System  der  Erfahrung  ausmachen, 
zeigt  sich  sogleich,  daß  es  »damit  sein  Bewenden  nicht  haben 
kann«.  Der  so  mannigfach  gestaltete  Inhalt  unserer  Weltauf- 
fassung bedarf  einer  allgemeinen  Ausgleichung;  seine  Gegensätze 


398  Herbart. 

wollen  vermittelt,  seine  Widersprüche  gehoben  sein.  Wichtiger 
aber  ist  es,  daß,  je  genauer  man  zusieht,  um  so  mehr  sich  das 
scheinbar  Einfache  verwickelt,  sich  gerade  das  Gewohnteste  in 
ein  Problem  verwandelt.  Das  landläufige  Bewußtsein  freilich 
streift  oberflächlich  über  die  Welt  hin,  ohne  die  Abgründe  zu 
bemerken,  die  in  unserm  Denken  aufklaffen;  ihm  gilt  als  selbst- 
verständlich, was  es  alle  Tage  anwendet.  Philosophenarbeit  ist 
es,  in  dem  scheinbar  Selbstverständlichen  das  Problem  zu  er- 
kennen. So  hat  Kant  einmal  im  ironischen  HinbHck  auf  die 
aufklärerische  Alles  wisser  ei  gesagt,  er  mache  aus  der  Schwäche 
seiner  Einsicht  kein  Hehl,  wonach  er  gemeiniglich  dasjenige  am 
wenigsten  begreife,  was  alle  Menschen  leicht  zu  verstehen  glauben. 
In  gleichem  Sinne  besteht  für  Herbart  der  Eingang  in  die  Philo- 
sophie darin,  daß  man  sich  klar  macht,  welche  großen  Schwierig- 
keiten, welche  ungelösten  Widersprüche  gerade  in  den  Begriffen 
stecken,  mit  denen  wir  als  den  einfachsten  und  vermeintlich 
klarsten  fortwährend  operieren,  und  welche  als  das  feste  Gerippe 
dem  Stoffwechsel  unserer  Erkenntnis  zugrunde  liegen.  Vorstel- 
lungen wie^DingJ^VeränderungPMaterie^  Selbstbewußtsein^  brauchen 
wir  unablässig,  als  ob  sie  die  durchsichtigsten  und  sichersten  von 
der  Welt  wären:  imd  doch  bedarf  es  nur  einiger  Besinnung,  um 
uns  klar  zu  machen,  daß  sie  ganze  Nester  von  Widersprüchen 
sind,  und  daß  sie,  statt  uns  die  Erfahrung  verstehen  zu  lehren, 
vielmehr  selbst  eine  noch  unaufgelöste  und  unbegriffene  Ver- 
wirrung enthalten.  An  der  Erfahrung  selbst  also  hat  die  Philo- 
sophie nicht  zu  rütteln;  aber  sie  hat  sie  begreiflich  zu  machen, 
indem  sie  alle  ihre  Arbeit  darauf  verwendet,  nüt  rücksichtsloser 
Energie  die  Erfahrung  selbst  zu  Ende  zu  denken  und  dasjenige 
in  ihr,  was  in  unklarer  Gewohnheit  mit  Widersprüchen  sich  be- 
haftet zeigt,  zu  eliminieren.  Zur  Lösung  dieser  Aufgabe  aber 
besitzt  die  Philosophie  nichts  als  die  gegebene  Erfahrung  selbst 
und  das  Denken  mit  seinen  immanenten  Gesetzen.  Philosophie 
also  ist  ein  begriffliches  Denken  des  Gegebenen,  um  es  mit  voller 
Klarheit  und  Widerspruch slosigkeit  vorstellen  zu  können:  sie  ist 
in  diesem  Sinne  Bearbeitung  der  Begriffe. 

Aus  dieser  Formulierung  schon  geht  hervor,  daß  Herbart  ein 
Vertreter  der  formalen  Logik  im  Kantischen  Sinne  des  Worts 
ist.    Und  er  hält  diese  aiisdrücküche  Besinnung  auf  die  formalen 


Siitz  lies  WidoiBprucliH.  .'J99 

Gesetze  des  Denkens  um  so  mehr  für  erforderlich,  als  sie  und 
mit  ihnen  ihr  oberstes  Prinzip,  dasjenige  des  Widerspruch«;«,  in 
der  identitätsphiU^sophisclien  Entwickhm^  mehr  und  mehr  zu 
untergeordneter  Bedeutung  herabgesetzt  worden  waren.  Wurden 
sie  doch  in  Hegels  großer  Logik  nur  als  ein  Kapitel  der  »sub- 
jektiven Logik«  abgehandelt,  und  das  vornehme  Denken  der 
intellektuellen  Anschauung  und  des  absoluten  Standpunktes  sah 
auf  die  Reflexionsarbeit  des  Verstandes  mit  seiner  Gebundenheit 
an  den  Satz  des  Widerspruches  als  auf  etwas  Überwundenes 
herab.  Gerade  die  Realität  der  Widersprüche  galt  dem  absoluten 
Idealismus  als  das  höchste  Prinzip  der  spekulativen  Entwicklung. 
Auch  Herbarts  Lehre  geht  von  den^  Widersprüchen  des  empirischen 
Denkens  aus,  aber  nicht  um  sie  metaphysisch  zu  hypostasieren, 
sondern  um  sie  durch  streng  formales  Denken  zu  eliminieren.  In 
dieser  Hinsicht  verhält  er  sich  zu  den  Identitätsphilosophen  ähnlich 
wie  im  Altertum  die  Eleaten  zu  Heraldit.  Er  geht  von  der  Über- 
zeugung aus,  daß  das  Wirkliche  nur  als  durchaus  widerspruchs- 
loses Sein  zu  denken  sei.  Das  höchste  Prinzip  der  formalen  Logik, 
der  Satz  des  Widerspruches,  gilt  ihm  in  dem  rationalistischen 
Sinne,  daß,  was  sich  widerspricht,  nicht  wahrhaft*  real  sein  könne. 
Wenn  daher  unsere  Vorstellungen  von  der  Wirklichkeit  Wider- 
sprüche enthalten  —  und  sie  tun  es  — ,  so  folgt  daraus,  daß  sie 
so,  wie  sie  sind  und  in  der  unwillkürlichen  Erfahrung  gedacht 
werden,  keine  richtige  Erkenntnis  der  Realität  gewähren  können. 
Enthält  also  die  Erfahrung  mit  allen  zu  ihr  gehörigen  und  aus 
ihr  erwachsenden  Wissenschaften  ein  widerspruchsvolles  Weltbild, 
so  ist  es  die  Aufgabe  der  Philosophie,  es  zu  einer  widerspruchs- 
losen Auffassung  der  wahren  Realität  umzuarbeiten. 

Auf  den  alten  Gegensatz  einer  widerspruchsvollen  Erschoin^i^gS- 
welt  und  einer  wahren,  von  der  Metaphysik  zu  begreifenden  Welt 
der  Dingern  sich  läuft  somit  auch  Herbarts  Lehre  hinaus:  man 
könnte  seinen  Standpunkt  in  metaphysischer  Hinsicht  denjenigen 
von  Kants  Inauguraldissertation  nennen.  Aber  er  hat  jenen 
eleatisch-platonischen  Gegensatz  in  einer  durchweg  originellen  und 
allen  früheren  Ansichten  der  Sache  gegenüber  selbständigen  W^eise 
behandelt.  Er  leugnet  zunächst,  daß  es  außerhalb  der  Erfahrung 
selbst  irgend  eine  Quelle  für  die  metaphysische  Erkenntnis  gibt. 
Eine  rationalistische  Metaphysik,  die  aus  bloßen  logischen  Formen 


400  Herbart. 

eine  inhaltliche  Welterkenntnis  abzuleiten  versuchte,  ist  nach  Kants 
vernichtender  Kritik  nicht  mehr  möglich.  Aber  auch  Kants  »Meta- 
physik der  Erscheinimgen«  ist  unmöglich,  sowohl  in  ihrer  positiven, 
als  auch  in  ihrer  negativen  Tendenz.  Auch  die  reinen  Formen  der 
Erkenntnis,  als  welche  Kant  Kaum,  Zeit  und  die  Kategorien  be- 
handelt hat,  glaubt  Herbart  als  Produkte  des  Vorstellungsmecha- 
_nismus  ableiten  zu  können  und  kann  daher  eine  aus  ihnen  zu 
entwickelnde  apriorische  Erkenntnis  nicht  zugeben;  anderseits, 
mögen  die  sinnlichen  Empfindungen,  deren  Verschmelzungs-  und 
Assoziationsprozesse  zu  jenen  Formen  führen,  noch  so  subjektiven 
Charakters  sein,  sie  haben  doch  immer  eine  Beziehung  auf  die 
Wirklichkeit,  und  die  Versuche  des  Idealismus,  sie  l^iglieh  für 
Produkte  der  Vorstellungstätigkeit  auszugeben,  sind  alle  gescheitert. 
»So  viel  ^^chf^i^j  so  viel  Hindeutung  auf  das  Sein.«  Wenn  daher 
der  Schein,  der  sich  in  der  Erfahrung  darstellt,  als  ein  durch 
und  durch  widerspruchsvoller  sich  zu  erkennen  gibt,  so  bleibt 
nur  übrig,  ihn  so  lange  begrifflich  zu  bearbeiten,  bis  diese  Wider- 
sprüche aufgehoben  sind.  Ist  dadurch  die  Erfahrung^, be- 
greif lieh  gemacht/  so  ist  das  die  einzige  Möglichkeit,  zu  einer 
Vorstellung  von~(Jen  Dingen  an  sich  zu  gelangen,  und  der  Ver- 
wirklichung einer  solchen  Metaphysik  steht  dann  nichts  entgegen, 
weil  die  Erscheinungen  immer  doch  in  dem  Wesen  begründet 
sein  müssen. 

Für  diese  ^Bearbeitung  der  Erfahrungsbegriffe^  hat  nun  Herbart 
ein  Verfahren  aufgestellt,  welches  er  die  Methode  der  Bezie- 
hungen nennt  und  welches  bei  alier  Verwandtschaft  mit  Fichtes 
dialektischer  Methode  doch  in  der  Absicht  und  im  Resultat  gleich 
sehr  davon  abweicht.  Auch  er  geht,  wie  es  Fichte  in  einer  seiner 
Darstellungen  der  Wissenschaftslehre  getan  hatte,  von  dem  synthe- 
tischen Charakter  aus,  den  alle  Erkenntnisurteile  an  sich  tragen: 
aber  er  nimmt  dabei  den  Standpunkt  der  formalen  Logik  in  der 
schematischen  Auffassung  ein,  die  in  jedem  Urteil  eine  Gleich- 
setzung von  Subjekt  und  Prädikat  sieht.  Aus  dieser  Auffassimg 
i/-<|^  hatten  sich  schon  bei  Ploucquet  und  anderen  Leibnizianern  die 
Anfänge  des  sogenannten  »logischen  Kalküls«  entwickelt*),  der 
im  XIX.  Jahrhundert  eine  noch  viel  einseitigere  Ausbildung  der 


*)  Vgl.  Bd.  I  dieses  Werkes,  S.  558. 


■!fP^^^^iPi"^P^iPp 


Methudu  dur  lieziuhuugen.  401 

Logik  hervorgerufen  hat.  Danach  ))eKtelit  also  das  Wesen  dea 
Urteils  in  der  Gleichsetzung  eines  Begriffes  mit  einem  andern : 
a  »ist«  b.  Diese  Gleichsetzung  widerspricht  jedoch  dem  logischen 
Gesetze  der  Identität,  wonach  jeder  Begriff  nur  sich  selbst  gleich- 
gesetzt werden  kann.  Wollte  man  nun  dieser  vSchwierigkeit  etwa 
dadurch  entgelien,  daß  man  das  Subjekt  des  Satzes  als  einen 
Allgemeinbegriff  auffaßte,  dessen  einzelnen  Exemplaren,  a,,  a^  usw. 
das  Prädikat  b  zukomme,  so  würde  man  in  ganz  dieselbe  Schwierig- 
keit verfallen,  indem  man  jeden  dieser  Artbegriffe  mit  dem  Prä- 
dikat-sbegriffe  gleichsetzte.  Dagegen  entgeht  man  dem  Wider- 
spruche, sobald  man  das  Prädikat  der  Beziehung' gleichsetzt, 
w^elche  zwischen  zweien  oder  auch  mehreren  dieser  Begriffe  ob- 
waltet. Der  Satz  a  =  b  verliert  seinen  Widerspruch,  wenn  sein 
eigentlicher  Sinn  sich  in  die  Formel  bringen  läßt:  a^  :  a2  =  b. 
Wo  sich  also  in  den  Erfahrungsurteilen  Widersprüche  finden,  da 
wird  versucht  werden  müssen,  ob  man  nicht  den  fraglichen  Be- 
griff in  eine  Anzahl  von  Arten  einteilen  kann,  um  aus  der  Be- 
ziehung  dieser  Arten  zueinander  das  Prädikat  zu  entwickehi,  das 
dem  einfachen  Begriff  allein  nicht  ohne  Widerspruch  zugeschrieben 
werden  konnte. 

Diese  abstrakte  Formel  gewinnt  nun  sogleich  eine  lebendige 
Anwendung,  sobald  man  besondere  Probleme  ins  Auge  faßt.  Das 
wichtigste  darimter  ist  für  Herbarts  Lehre  das  der  Inhärenz, 
das  Verhältnis  des  Dinges  zu  seinen  Eigenschaften.  Ist  es  schon 
ein  Widerspruch,  daß  in  dem  gewöhnlichen  Urteile  das  Ding  einer 
Eigenschaft  gleichgesetzt  wird,  so  ist  es  noch  widerspruchsvoller, 
in  demselben  Begriffe  mehrere  Eigenschaften  zu  vereinigen,  welche 
danach  auch  gleich  sein  müßten,  während  sie  doch  durchaus  von- 
einander unterschieden  werden  sollen.  Ist  es  ein  Widerspruch, 
daß  a  =  b  sei,  so  ist  es  noch  widersprechender,  daß  dasselbe  a 
auch  =  c  und  =  d  sei,  weil  dann  auch  b  =  c  =  d  sein  würde. 
Diesen  Widerspruch  führen  wir  nun  —  meint  Herbart  —  in  der 
Tat  immerfort  aus:  stets  behaupten  wir,  daß  dasselbe  Ding 
mehreren  Eigenschaften  gleich  sei,  und  können  doch  gar  nicht 
sagen,  wie  es  kommen  soll,  daß  dasselbe  Ding,  welches  weiß  ist, 
zugleich  auch  hart  sei  usf.  Eben  die  synthetische  Funktion  der  Ver- 
einheitlichung des  Mannigfaltigen,  welche  Kant  als  das  Wesen  der 
Kategorie  angesehen  hatte,  gilt  bei  Herbart  als  ein  Widerspruck 

Wi  ndelb  an  d  .  Gesch.  d.  n.  Philos.    II.  26 


// 


402  Herbart. 

gegen  das  Grundgesetz  der  formalen  Logik.  Eine  Lösung  dieses 
Widerspruches  gibt  es  nur  durch  die  Methode  der  Beziehungen. 
Die  Vereinigung  vieler  Eigenschaften  in  einem  Dinge  ist  nur 
dadurch  möglich,  daß  dasselbe  Ding  in  vielen  Beziehungen  zu 
andern  Dingen  steht,  und  daß  jedesmal  dasjenige,  was  wir  seine 
Eigenschaft  nannten,  nicht  sowohl  es  selbst  als  vielmehr  eine 
Beziehung  ist,  worin  es  zu  anderen  Dingen  steht.  Der  Satz 
a  =  b  =  c  =  d  löst  sich  dadurch  in  eine  Reihe  von  Sätzen  auf : 
a  :  a^  =  b,  a  :  a2  =  c,  a  :  ag  =  d  usf.,  Sätzen,  welche  weder  in  sich 
noch  untereinander  einen  Widerspruch  enthalten.  Was  wir  also 
gewöhnhch  die^^Eigenschaft  eines  Dinges  nennen,  ist  in  Wahrheit 
nur  die  Beziehung,  in  der  es  zu  irgend  einem  andern  Dinge  steht. 
So  ist  »weiß«  die  Eigenschaft  eines  Körpers  nur  in  Beziehung 
auf  das  Licht,  das  er  reflektiert,  »hart«  nur  die  Beziehung  eines 
Körpers  auf  einen  andern,  der  in  den  Raum,  welchen  er  einnimmt, 
eintreten  will,  usf.  Alle  Eigenschaften  sind  Bezieh UÄgsbegriffe. 
Von  einer  Eigenschaft,  die  einem  Ding  an  sich  und  ohne  Be- 
ziehung auf  ein  anderes  Ding  zukäme,  können  wir  uns  gar  keine 
Vorstellung  machen.  Und  doch  müssen  wir  eine  solche  annehmen; 
denn  nur  in  ihr  kann  der  Grund  dafür  Hegen,  daß  das  Ding  in 
seiner  Beziehung  zu  andern  Dingen  gerade  diese  und  keine  andern 
Eigenschaften  entwickelt.  Der  Satz  der  Identität  verlangt,  daß 
wir  jedes  Ding  mit  einer  einfachen  und  konstanten  Qualität  aus- 
gestattet denken,  vermöge  deren  es  mit  sich  selbst  absolut  iden- 
tisch ist  und  bleibt.  Während  also  die  Eigenschaften  nur  relativ 
und  deshalb  veränderlich  »gesetzt«  werden,  ist  das  S«in  als  »abgo- 
lute  Position«  ein  für  allemal  unveränderlich  und  unzurück- 
nehmbar  gesetzt.  Aber  diese  einfachen  Qualitäten  der  Dinge  an 
sich  können  wir  niemals  erkennen,  da  alle  Eigenschaften,  die  wir 
vorstellen,  die  Beziehungen  der  Dinge  auf  andere  Dinge  enthalten. 
Alles  was  wir  Eigenschaften  nennen,  sind,  mit  Locke  zu  reden, 
sekundäre  Qualitäten;  die  primären,  einfachen  Qualitäten  der 
Dinge  sind  unerkennbar.  Deshalb  erkennt  Herbart  an,  daß  die 
"Dinge  an  sich^  unerkennbar  sind;  aber  er  behauptet,  daß  sie  al& 
»Reale«*)   von  einfacher  Qualität  an.^enommen  werden  müssen.. 

*)  Dieser  Ausdruck,  welchen  Herbart  zur  Bezeichnung  der  auch  nacli 
seiner  Lehre  unerkennbaren  *"Dinge  an  sicli  einführte,  ist  die  Veranlassung 
dafür  geworden,  daß  sein  System  in  der  traditionellen  Terminologie  der  Ge- 


mm 


Dio  llciiloii  und  iliro  B(*/iuliun((oii.  4()ii 

um  die  VorstelIun}T  von  Dinj^en  mit  ihren  ,^Eigcn«chaftcn,  auH 
denen  .sich  unsere  Erfahrung  zuHammenHctzt,  durch  die  Mannig- 
faltigkeit der  Beziehungen  zwischen  diesen  Keah^n  be^eifhch  zu 
machen.  Was  ein  Ding  in  seinem  eigensten  Wesen  ist,  können  l""^"^ 
wir  weder  erfahren  noch  durch  Denken  ertjchUeßen.  Aber  in  diesem 
seinem  unbekannten  Wesen  müssen  wir  den  einzigen  Grund  für 
die  Mannigfaltigkeit  von  Eigenschaften*  suchen,  womit  das  Din^ 
in  seinem  Verhältnis  zu  andern  Dingen  ersclieint./r  Ganz  ähnlich 
löst  sich  mm  auch  das  analoge  Problem  der  Veränderung.  So 
wenig  wie  wir  irgend  eine  Eigenschaft  eines  Dinges  kennen,  die 
es  ohne  Beziehung  auf  ein  anderes  Ding  besäße,  so  wenig  können 
wir  ims  den  Übergang  des  Dinges  aus  einem  Zustande  in  einen 
andern  aus  ihm  allein  und  seiner  einfachen  Grundqualität  er- 
klären. Wo  nur  ein  Wesen  existierte,  gäbe  es  kein  Geschehen, 
kein  Tun  und  kein  Leiden.  Alle  Veränderung  ist  Eeaktion  eines 
Realen  gegen  ein  anderes,  ist  die  Selbsterhaltung  seiner  eigenen 
Quahtät  gegen  die  Störung,  welche  es  durch  ein  anderes  Reale 
^  erfährt^ 

Trotz  der  kritischen  Anerkennung  der  Unerkennbarkeit  der 
Dinge  an  sich  entwickelt  hiemach  Herbarts  Philosophie  eine  Meta- 
physik, deren  Grundzüge  er  in  den  »Hauptpunkten  der  Metaphysik« 
(1806)  angelegt  und  in  der  »Allgemeinen  Metaphysik  nebst  den 
Anfängen  der  philosophischen  Naturlehre«  (1828  und  1829)  ausge- 
führt hat.  Sie  ist  also  nicht  eine  Lehre  von  den  Qualitäten  der 
Dinge  an  sich,  sondern  niu*  von  ihren  Beziehungen  zueinander  und 
zu  der  Erfahrung.  Ihren  Grundcharakter  bildet  der  Pluralis- 
mus  der  Substanzen.     Auch  hinsichtlich   der  Weltanschauung 


schichte  der  Philosophie  als  Realismus  charakterisiert  wurde.  So  ist  es 
auch  noch  in  der  ersten  Auflage  dieses  Werkes  bei  der  Paragraphenüber- 
schrift geschehen.  Allein  diese  Bezeichnung  sollte  als  irreführend  aufgegeben 
werden.  Versteht  man  unter  >Idealismus<  die  Lehre,  daß  die  "Welt  der 
Wahrnehmung  als  solche  nicht  real,  sondern  nur  im  Bewußtsein  als  Vor- 
stellung ist,  so  muß  Herbart  gerade  so  als  Idealist  charakterisiert  werden 
wie  Kant.  Herbarts  Opposition  gegen  den  »Idealismus«  von  Fichte,  Schelling 
und  Hegel  besteht  nur  darin,  daß  er  die'^Dinge  an  sich  gerade  wie  Kant 
für  real,  aber  ihrer  Qualität  nach  für  unerkennbar  hält.  Will  man  ihn  des- 
halb einen  >Realisten«  nennen,  so  gilt  dasselbe  auch  von  Kant.  Man  sieht 
an  diesem  Beispiel,  wie  bedenklich  die^Vieldeutigkeit  der  landläufigen  Aus- 
drücke ist,  und  wie  wenig  mit  ihnen  gewonnen  wird. 

26* 


^ 


404  Herbart. 

steht  Herbart  der  monistisclien  Tendenz,  welche  die  gesamte 
Identitätsphilosophie  beherrscht,  scharf  gegenüber.  Wenn  man 
darin  eine  Kückkehr  zu  Leibniz  gesehen  hat,  so  wäre  es  wohl  in 
dieser  Hinsicht  korrekter,  von  einer  solchen  zu  Wolff  zu  sprechen. 
Denn  erstens  sind  Herbarts  »Reale«  keine  in  der  Entwicklung 
begriffenen  Monaden,  sondern  vielmehr  einfache  und  unveränder- 

1  )  liehe  Substanzen.  Zweitens  sind  diese  unerkennbaren  Qualitäten 
weder  als  körperlich  noch  als  psychisch  zu  bezeichnen;  sie  sind  an 
sich  und  allgemein  weder  Atome   oder  Korpuskeln   noch  Seelen. 

y)  Drittens  fehlt  bei  Herbart  wie  bei  Wolff  zwischen   diesen  Sub- 
stanzen das  Bindeglied  der  prästabiüerten  Harmonie.   Infolgedessen 
wird  Herbarts  Metaphysik  doch  derartig  atomistisch,  daß  von  einem 
inneren  Zusammenhange   der  Realen,    welcher  sich  in   dem  Pro- 
zesse des  Geschehens  entfaltete  und  ihn  möglich  machte,  im  eigent- 
lichen  Sinne   bei  ihm   keine   Rede   ist.     Er   ist   auch   darin  der 
äußerste   Gegenfüßler   der    identitätsphilosophischen   Weltansicht. 
Machte  diese  vergebHche  Anstrengungen,  aus  der  absoluten  Einheit 
die  Vielheit  der  Erscheinungen  als  deren  notwendige  Entwicklimgs- 
formen  zu  deduzieren,  so  ist  es  anderseits  der  Herbartschen  Philo- 
sophie  nicht  gelungen,   von  der'^ielheit  der^  Realen  aus_zu  einer 
lebendigen  Welteinheit   zu   kommen.     Als  ein  Zeichen   davon  ist 
es    anzusehen,    daß   der  Gottesbegriff  in   Herbarts   theoretischer 
Philosophie   gar   keine  Rolle   spielt  und  bei  ihm  nur  als  Objekt 
eines   ethisch-ästhetischen  Bedürfnisses   erscheint,   das  in  unserer 
Auffassung  der,  zweckmäßigen  Gestaltung  der  gesamten  Natur  eine 
Bestätigung   seines  Glaubens   finde.     Da   nämlich   die  Quahtäten 
der  Realen  und  ebenso  ihre  wirklichen  Beziehungen,   aus   denen 
die  Erfahrungswelt  mit  ihren  Veränderungen  hervorgeht,  theoretisch 
unerkennbar  sind,   so  bleibe   (als  regulatives  Prinzip  nach  Kant) 
die  ästhetische  Betrachtung  möglich,  den  Zusammenhang  des  ab- 
solut Seienden   als  eine   zweckmäßige,    gottgewollte  Ordnung   zu 
deuten.     Infolge  dieser  Auffassung  ist  Herbart  von  jener  speku- 
lativen Umdeutung  der  positiven  Dogmen,  welche  in  der  Identi- 
tätsphilosophie  einen  so   großen  Raum  einnahm,   weit   entfernt, 
und  seine  Religionsphilosophie  gewinnt  eben  dadurch  eine  gewisse 
Farblosigkeit,  die  unter  Umständen  der  Verbreitung  seines  Systems 
förderlich  sein  konnte  und  gewesen  ist. 

Allein  die   pluralistische  Weltanschauung  bringt  dem  Begriffe 


Dio  /.uialligcn  AiiHicIiien.  405 

des  Geschehens  gcgenüher  eine  Reihe  von  Sehwicrigkeitcn  mit  Hicli, 
denen  Herbarfc  kaum  (Mil4»angen  ist.  Hot  die  dialektische  Pliilo- 
sophio  eine  Lelire  vom  ewigen  Werden,  in  welcher  es  kein  Sein 
gab,  so  haben  wir  hier  eine  Lehre  vom  Sein,  nach  der  es  im  Gnmde 
genommen  kein  Werden  gibt.  N'ergleicht  man  beide,  so  ist  es 
etwa  so,  als  ob  denselben  chemischen  Stoff  II.O  der  eine  Forscher, 
der  ihn  nur  bei  der  Temperatur  über  Null  beobachtet  hat,  für 
flüssig,  der  andere,  der  ihn  nur  unter  Null  gesehen  hat,  für  fest 
erklären  wollte.  Das  eigentliche  Wesen  der  Realen  ist  bei  Herbart 
durchaus  unveränderlich.  Das  Geschehen  in  der  Welt  kann  also 
nur  darin  bestehen,  daß  die  Realen  in  wechselnde  Beziehungen 
treten,  die  aber  an  ihnen  selbst  nichts  ändern.  Es  ist  daher  ein 
völlig  äußerliches  »Kommen  und  Gehen«  der  Substanzen,  für 
welches  sinnliche  Bild  Herbart  den  Begriff  eines  intelligiblen 
Raumes 'aufstellt,  worin  sie  sich  alle  bew^egen.  Weshalb  freilich 
und  nach  welchen  Gesetzen  diese  Bewegung  stattfindet,  das  ist 
der  menschlichen  Erkenntnis  durchaus  verschlossen;  von  dem 
wirklichen  Geschehen  wissen  wir  ebensowenig  wie  von  den 
Qualitäten  der^Dinge  an  sichT  Wir  müssen  beide  nur  annehmen, 
um  uns  das  scheinbare  Geschehen  und  die  scheinbaren  Eigen- 
schaften der  Dinge,  welche  die  Erfahrung  darbietet,  zu  erklären. 
Indem  nämlich  die  Substanzen  im  intelligiblen  Räume  sich  »be- 
rühren«, treten  sie  miteinander  in  die  »Beziehungen«,  vermöge 
deren  an  ihnen  die  erfahrbaren  Eigenschaften  erscheinen,  und  durch 
den  Wechsel  dieser  Beziehungen  erpdbt  sich  aus  dem  wirklichen 
Geschehen  die  Veränderung  der  erscheinenden  Eigenschaften  oder 
das  scheinbare  Geschehen.  Alle  diese  in  die  Erscheinung 
fallenden  Eigenschaften  und  Veränderungen  aber  bleiben  dem 
eigentlichen  Wesen  der  Dinge  fremd;  sie  sind  deshalb  nur  »*u- 
lällige  Ansichten«.  Dieser  Begriff  hat  bei  Herbart  eine  etwas 
zweideutige  Stellung  zwischen  subjektiver  und  objektiver,  zwischen 
erkenntnistheoretischer  und  metaphysischer  Bedeutung.  In  manchen 
seiner  Ausführungen  scheint  es,  als  ob  die  Beziehimgen  der  Realen 
aufeinander  lediglich  in  das  auffassende  Bew^ußtsein  verlegt  werden 
sollte:  auch  das  wirkliche  Geschehen  »passiert«  ja  nicht  den 
Realen,  die  davon  in  ihrem  Wesen  unverändert  bleiben,  folgUch 
passiert  es  nur  dem  »Zuschauer«.  Aber  dann  w^ürde  alles  wirk- 
liche Geschehen  aufgehoben  sein,  und  es  wäre  dann  nicht  einmal 


■r  ( 


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406 


Herbart. 


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'  /*  »-»-w»     ^    Jll'*^  ^^  '•'>-»- 


mehr  zu  begreifen,  wie  das  die  Realen  in  Beziehung  setzende 
Bewußtsein  selbst  einen  Wechsel  in  seiner  beziehenden  Tätigkeit 
erzeugen  könnte,  der  dann  das  einzige  wirkliche  Geschehen  bilden 
müßte.  Außerdem  soll  ja  das  Bewußtsein  selbst  erst  ein  Produkt 
der  Beziehungen  sein.  Deshalb  scheint  Herbarts  eigentliche  Mei- 
nung doch  die  zu  sein,  daß  das  wirkliche  Kommen  und  Gehen 
der  Substanzen  an  ihnen  oder  in  ihnen  diejenigen  Selbster hal- 
J'3??g^?L.^§S?ii  die  Störungen  durcheinander  hervorruft,  welche  das 
Bewußtsein  als  die  erfahrungsmäßigen  Eigenschaf teiT  und"  Tätig- 
keiten auffaßt,  und  diese  für  das  Bewußtsein  durchaus  notwen- 
digen, durch  das  wirkliche  Geschehen  bedingten  Ansichten  werden 
nur  in  dem  Sinne  »zufällig«  genannt,  als  sie  das  Wesen  de/ Dinge 
I  an  sich  nicht  treffen.  Um  so  unbegreiflicher  freilich  ist  es,  was 
dieses  Geschehen,    das   die  Realen   nichts   angeht   und  nicht  aus 

V«. 

ihnen  kommt,  bedeuten  soll.  ^ 

.  Das  scheinbare  Geschehen  entwickelt  sich  nun  auf  zwei  von- 
einander zu  sondernden  Gebieten.  Das  Bewußtsein  selbst,  das 
die  Beziehungen  auffaßt,  ist  ebenfalls  eine  Reaktion  des  einfachen 
Seelen  Wesens,  welches  zu  den  Realen  gehört.  Betrachtet  man  es 
von  dieser  Seite,  so  enthält  es  insofern  die  unmittelbarsten  aller 
Erkenntnisse,  als  es  eben  selbst  die  scheinbaren  Eigenschaften 
und  Veränderungen  dieses  Seelenwesens  darstellt.  Die  Vorstellungen 
sind  die  Reaktion  der  an  sich  unbekannten  Seelensubstanz  gegen 
andere  Substanzen,  mit  denen  jene  durch  das  wirkliche  Geschehen 
in  Beziehung  tritt.  Insofern  aber  die  Vorstellungen  auf  dieser 
Beziehung  beruhen,  so  enthalten  sie  zugleich  in  sich  die  schein- 
baren ,  Eigenschaften  derjenigen  Substanzen,  gegen  welche  die 
Reaktion  stattfand,  und  bilden  so  die  Erfahrung  von  den  übrigen 
Realen.  Indessen  treten  nun  auch  diese  untereinander  in  Be- 
ziehungen und  verändern  eben  damit  die  scheinbaren  Eigen- 
schaften, mit  denen  das  Bewußtsein  ihr  Zusammensein  auffassen 
muß.  Die  ^Metaphysik  des  scheinbaren  Geschehens 'teilt  sich  da- 
durch in  zwei  Teile:  die  Eidologie,  welche  in  die  Psychologie, 
und  die  Synechologie,  welche  in  die  Naturphilosophie  ausläuft. 
Was  zunächst  die  letztere  anbetrifft,  so  liegt  Herbarts  Interesse 
bei  ihr  darin,  die  Grundbegriffe,  mit  denen  die  empirische  Natur- 
forschung operiert,  aus  seinen  metaphysischen  Voraussetzungen 
abzuleiten    und    zu    widerspruchsloser   Gestaltung    umzuarbeiten. 


NaturphiluBOphio.  407 

Mit  dem  feinen  kritischen  GrcnzbcwuütKein,  das  ihn  auszeichnet, 
sucht  er  die  rhiU)S()pliie  davor  zu  bewahren,  in  die  sachliche 
Arbeit  der  besonderen  Wissenschaft<;n  huicinzupfuächen  und  das- 
ienij^e,  was  diese  erkannt  haben,  noch  einmal,  nur  in  anderer 
Weise,  erkennen  zu  woHen.  Er  will  nur  zeigen,  daß  die  Wider- 
sprüche, in  welche  die  Begriffe  der^Materie^  des  Atoms  ußw.  sich 
verwickeln,  verschwinden,  sobald  man  darin  nur  die  Erscheinungs- 
form des  wirklichen  Geschehens,  welches  uns  unbekannt  ist,  er- 
blicken will.  Seine  Naturphilosophie  ändert  daher  an  den  be- 
sonderen Erkenntnissen  der  Naturforschung  nichts:  aber  sie  ist 
auch  gerade  infolgedessen  sowohl  nach  der  guten  als  auch  nach 
der  schädlichen  Seite  hin  ziemlich  wirkungslos  geblieben.  Sie 
vertrug  sich  mit  der  empirischen  Forschung,  aber  sie  befruchtete 
diese  auch  nicht:  sie  verhielt  sich  eben  völlig  umgekehrt  wie  die 
Schellingsche.  Sie  lehnt  deshalb  auch  alle  dynamische  und 
teleologische  Naturbetrachtung  ab  und  stellt  sich  auf  den  Stand- 
punkt des  Mechanismus  auch  für  die  Erklärung  der  physio- 
logischen Erscheinungen  und  der  biologischen  Veränderungen  und 
Umbilduno  en.  Herbart'  sucht  zunächst  darzutun,  daß  der  sinn- 
Iklj^  Raum  die  notwendige  Erscheinungsform  des  Zustandes  der 
»unvollkommenen  Durchdiingung «  ist,  in  welchem  sich  die  Realen 
bei  ihrem  »Zusammensein«  befinden,  wobei  man  freilich  mit  in 
Kauf  nehmen  muß,  daß  die  räumhchen  Verhältnisse  in  dem  Be- 
«jriffe  des  intellidblen  Raumes,  des  »Kommens  und  Gehens«  der 
Substanzen  doch  unvermeidlich  schon  vorausgesetzt  waren.  Durch 
eine  sehr  künstliche  Konstruktion  werden  dann  der  Begriff  des 
^ Atoms"  als  des  starren  Elements  und  weiterhin  diejenigen  des 
Moleküls  ^  und  des  Körpers"  gewonnen ,  wobei  die  Attraktion  als 
das  Prinzip  der  Durchdringung,  die  Repulsion  als  dasjenige  der 
Unvollkommenheit  dieser  Durchdringung  gilt.  Dadurch  nun,  daß 
die  Tendenz  der  Durchdringung  und,  subjektiv  gefaßt,  der  Ver- 
such des  Bewußtseins,  die  Realen  vollständig  zusammenzufassen, 
niemals  gelingen  kann,  entsteht  der  objektive  Schein  der' Be- 
wegung. In  der  Entwicklung  dieses  Begriffes  zeigt  sich  am 
meisten  die  oben  erwähnte  Zweideutigkeit  der  Lehre  von  den 
zufälligen  Ansichten.  Auf  der  einen  Seite  soll  die  Bewegung 
nicht  in  den  Dingen  vorgehen,  sondern  nur  etwas  sein,  was  dem 
Zuschauer  widerfährt,  auf  der  andern  soll  diese  Beziehung  zwischen 


408  Herbart. 

den  Dingen  ein  objektiver  Schein  in  dem  Sinne  sein,  daß  er  auch 
ohne  irgend  ein  beobachtendes  Bewußtsein  ein  Verhältnis  der 
Dinge  selbst  bildet.  Neben  der  Bewegung  ist  es  hauptsächlich 
noch  die  Verschiedenheit  der  Stoffe,  welche  die  Synechologie  aus 
den  verschiedenen  Verhältnissen  konstruiert,  in  denen  sich  die 
Elemente  der  Materie  durch  ihren  Gegensatz  zueinander  befinden. 
Herbart  gewinnt  daraus  eine  Vierteilung  aller  Körperlichkeit  in 
ponderable  Materie,  Wärmestoff,  elektrisches  Fluidum  und  Äther: 
aus  dem  letzteren  will  er  neben  dem  Licht  auch  die  scheinbare 
»actio  in  distans«  der  ponderablen  Materie  erklärt  wissen. 

Bedeutsamer  und  einflußreicher  ist  Herbarts  Psychologie. 
Sie  hat  er  neben  kleineren,  teils  methodologischen,  teils  sachlichen 
Abhandlungen  in  dem  »Lehrbuch  zur  Psychologie«  (1816)  und  in 
seinem  Hauptwerke:  »Psychologie  als  Wissenschaft,  neu  gegründet 
auf  Erfahrung,  Metaphysik  und  Mathematik«  (1824—1825)  dar- 
gestellt. Auf  diesem  Gebiete  hat  er  durch  seine  originelle  Auffassung 
einen  mächtigen  Umschwung  hervorgerufen  und  eine  Richtung  be- 
gründet, die  noch  heute  eine  andauernde  Bedeutung  besitzt.  Aus 
der  Konsequenz  seiner  Metaphysik  ergab  sich  ein  klares,  wissen- 
schaftliches Prinzip,  das  den  unbestimmten,  halb  belletristischen 
Betrachtungen,  worauf  sich  so  vielfach  die  psychologische  Lehre 
beschränkt  hatte,  in  der  wirksamsten  Weise  gegenübertreten 
konnte  und  selbst  da  anerkannt  werden  muß,  wo  man  darin 
nicht  die  ganze  Methode  der  Psychologie  sehen  will.  Wenn 
Herbart  auch  hier  zunächst  polemisch  verfährt,  so  befindet  er 
sich  in  vollem  Rechte  gegenüber  jener  mythologisierenden  Theorie 
der  seelischen  »Vermögen«,  mit  der  man  die  Seele  in  lauter  kleine 
Seelchen  zersplittert,  um  für  verwandte  Erscheinungen  eine  ge- 
meinsame Kraft"  anzunehmen.  Hatte  schon  Aenesidemus-Schulze 
im  Streite  gegen  Reinhold  und  Kant  die  Unbrauchbarkeit  mid 
Schädlichkeit  dieses  Begriffes  der  ^Vermögen  in  der  empirischen 
Psychologie  betont,  so  hat  Herbart  dagegen  einen  systematischen 
Vernichtungskampf  geführt.  Von  einer  wissenschaftlichen  Psycho- 
logie kann  nur  dann  die  Rede  sein,  wenn  man  sich  entschließt, 
ebenso  wie  in  der  Naturwissenschaft  die  komplizierten  Erschei- 
nungen nicht  auf  besondere  »qualitates  occultae«  zurückzuführen, 
sondern  sie  aus  den  gesetzmäßigen  Kombinationen  elementarer 
Vorgänge  zu  erklären.    Dies  Prinzip  in  der  deutschen  Philosophie 


l*8ych(»logio.  401) 

zuerst  aufgestellt  zu  haben,  i.st  das  ^roße  Verdienst  Ifcrharts. 
Es  ist  persönlich  inn  so  größer,  als  sich  eine  direkte  Abhängig- 
keit von  der  englischen  Assoziationspsychologie,  die  ja  denselhcm 
Gedanken  vertrat,  bei  ihm  nicht  nachweisen  läßt.  Hei  den  Eng- 
ländern ist  es  —  das  zeigt  die  typische  Behandlung  dicßer  Pro- 
bleme bei  dem  Schotten  Thomas  Brown  —  die  nominalistische 
Tendenz,  welche  sie  zur  Leugnung  der  Realität  solcher  Allge- 
raeinbegriffe wie  Wille,"  Verstand '  usw.  bringt;  bei  Herbart  ist 
es  die  metaphysische  Ansicht  von  der  einfachen  Qualität  des 
Seelenwesens,  die  verbietet,  darin  eine  Mehrzahl  verschiedener 
Grundkräfte  anzunehmen.  Die  Verschiedenheit  der  psychischen 
Tätigkeiten  kann  bei  ihm  nur  auf  den  wechselnden  Beziehungen 
beruhen,  in  welche  die  Seele  zu  anderen  Realen  tritt.  Daraus 
aber  ergibt  sich  von  vornherein  eine  einseitige  Bestimmtheit 
seiner  psychologischen  Ansicht.  Die  Selbsterhaltung  der  Seele 
gegen  das  Zusammensein  mit  anderen  Realen  isf'Vorstellung^  und 
damit  wird  für  Herbart  die '^Vorstellung^  zu  der  einzigen 
Grundfunktion  der  Seele.  Alle  übrigen  psychischen  Tätig- 
keiten bestehen  nur  in  Vorstellungs Verhältnissen.  Hierin  liegt 
hauptsächlich  Herbarts  Verwandtschaft  mit  der  vorkantischen 
Philosophie.  Wie  in  dieser,  so  gelten  auch  bei  ihm  die  Tätig- 
keiten des  W^illens  und  des  Gefühls  immer  nur  als  Vorstellungs- 
verhältnisse, und  gegen  jene  Ansicht  von  dem  Primat  des  W^illens 
über  das  Denken,  der  Fichte  den  schärfsten  Ausdruck  gab,  mußte 
er  sich  nach  jeder  Richtung  sträuben.  Daraus  folgte  dann  wieder, 
daß  er  die  gesamte  Freiheitslehre  der  deutschen  Philosophie  ver- 
warf und  zum  Leibnizschen  Determinismus  zircückkehrte. 

Daß  es  nun  zwischen  den  Vorstellungen  überhaupt  Verhält- 
nisse gibt  und  somit  alle  die  Kombinationen  eintreten  können, 
deren  Erklärung  allein  den  Gegenstand  einer  wissenschaftlichen 
Psychologie  bildet,  das  beruht  auf  der  Tatsache,  daß  die  Vor- 
stellungen, ijnit  denen  die  Seele  sich  gegen  andere  Realen  selbst 
erhält;,'  )nicht  mit  dieser  Berührung  wieder  verschwinden,  sondern 
in  der  Seele  als  Vorstellun2;skräfte  bestehen  bleiben  und  dadurch 
untereinander  in  die  mannigfaltigsten  Verhältnisse  geraten.  Die 
Einheitlichkeit  des  Seelenwesens  verlangt,  daß  diese  verschiedenen 
Formen  ihrer  Selbsterhaltung  sich  miteinander  vereinigen.  Die 
Folge     davon     ist,     daß,     da     diese     Vereinigung     wegen     der 


410  Herbart. 

Verschiedenheit  des  Inhaltes  der  Vorstellungen  nicht  vollständig 
geschehen  kann,  sie  sich  gegenseitig  hemmen.  Ist  im  Bewußtsein 
nur  eine  Vorstellung,  so  nimmt  sie  seine  ganze  Energie  für  sich 
allein  in  Anspruch ;  sind  es  aber  mehrere,  so  üben  die  Vorstellungs- 
kräfte aufeinander  eine  Hemmung  aus,  vermöge  deren  jede  an 
ihrer  Intensität  um  so  mehr  verlieren  muß,  je  stärker  die  Inten- 
sität der  Vorstellung  ist,  von  welcher  sie  gehemmt  wird.  Hierauf 
beruht  nun  die  Möghchkeit,  den  psychologischen  Mechanismus  der 
Vorstellimgen  einer  mathematischen  Berechnung  zu  unter- 
werfen. Die  Hemmungssumme,  d.  h.  die  Gesamtintensität,  welche 
die  miteinander  konkurrierenden  Vorstellungen  verlieren,  verteilt 
sich  unter  die  einzelnen  derartig,  daß  nach  ihrem  ursprünglichen 
Intensitäts Verhältnis  jede  um  so  weniger  verliert,  je  stärker  sie 
war.  Macht  man  daher  über  die  Größe  dieser  Hemmungssumme 
eine  Annahme  —  und  Herbart  setzt  voraus,  daß  sie  der  Intensität 
der  schwächeren  Vorstellung  oder  bei  mehreren  der  Summe  der 
schwächeren  Vorstellungen  gleich  sei  — ,  so  läßt  sich  mathematisch 
berechnen,  wieviel  von  jeder  nach  der  gegenseitigen  Hemmung 
übrig  bleibt.  Sind  z.  B.  zwei  Vorstellungen  von  der  Intensität 
c/  >  6  gegeben,  so  bleibt  nach  der  Hemmung  von  der  ersten  nur 

,  von   der  zweiten  nur  übrig.     In  dieser  Weise 

a-{-b  a+  6 

will  Herbart,  was  Kant  für  unmöglich  erklärt  hatte,  die  Psycho- 
logie zur  Wissenschaft  erheben,  indem  er  den  mathematischen 
Kalkül  in  sie  einführt  und  auch  für  sie  die  Übereinstimmung 
der  metaphysisch-mathematischen  Deduktion  mit  dem  empirischen 
und  tatsächlichen  Wissen  in  Anspruch  nimmt.  Es  ist  der  erste 
Versuch,  aus  ihr  eine  theoretische  Naturwissenschaft  nach  Newton- 
schen  Prinzipien  zu  machen.  Und  selbst  wenn  man  die  Durch- 
führbarkeit dieses  Gedankens  bestreitet,  so  wird  man  doch  einer- 
seits die  große  Konsequenz  dieser  Behandlungsweise  bewundem, 
anderseits  aber  ihre  hypothetische  Anwendbarkeit  auf  bestimmte 
einzelne,  freilich  sehr  beschränkte  Gebiete,  wie  z.  B.  die  Emp- 
_findungslehre,  anerkennen  dürfen. 

Die  Voraussetzung  aber  dieser  mathematischen  Behandlung 
der  Psychologie  bildet  die  Annahme  einer  verschiedenen  Intensität 
der  Vorstellimgstätigkeit,  welche  Herbart  als  selbstverständlich 
ansieht.     Die  Verwandtschaft  mit  Leibniz  zeisjt  sich  dabei  vor 


Psycholoprie.  411 

allern  darin,  daß  er  wie  dieser  als  eine  Funktion  der  Vor- 
stellunj^sintenHität  da»  Bewußtsein  betrachtet.  Besitzt  die 
Vorstellun«;  eine  gewisse  Intensität,  so  wird  sie  bewußt  und  ist 
ein  »wirkliches  Vorstellen«.  Wird  sie  unter  diesen  Grad 
herabgcdrückt,  so  wird  sie  unbewußt  und  ist  nur  noch  ein 
»Streben  vorzustellen«.  Den  niedrigsten  Grad,  bei  welchem 
die  Vorstellung  noch  bewußt  ist,  nennt  Herbart  die  Bewußt- 
seinsschwelle.   In  dem  Mechanismus  der  Vorstellungen  kommt 


es  deshalb  darauf  an,  ob  die  Hemmung,  welche  die  Vorstellungen 
aufeinander  ausüben,  derartig  ist,  daß  eine  oder  die  andere  davon 
unter  die  Bewußtseinsschwelle  herabsinken  muß :  das  ganze  Seelen- 
leben erscheint  bei  Herbart  wie  ein  Kampf,  den  die  Vorstellungen 
wie  in  einem  engen  Räume  miteinander  führen,  und  bei  dem  es 
darauf  ankommt,  ob  die  einen  oder  die  andern  je  nach  ihrer 
Intensität  über  die  Schwelle  in  den  erleuchteten  Teil  eintreten 
können,  den  das  Bewußtsein  oder  das  wirkliche  Vorstellen  darin 
bildet.  Die  Gleichgewichtsverhältnisse,  in  welche  die  Vorstellungen 
dabei  miteinander  treten,  sind  die  Gefühle,  und  in  dem  »Sich- 
heraufarbeiten« einer  Vorstellung  gegen  die  Hemmungen  der 
übrigen  sieht  Herbart  dasjenige,  was  man  Begehren  nennt.  Die 
Psychologie  ist  nichts  als  eine  »Statik  und  Mechanik  des 
Geistes«,  welche  die  Gesetze  dieser  Bewegung  mathematisch  zu 
deduzieren  und  empirisch  zu  bestätigen  hat. 

Diejenigen  Vorstellungen  nun,  welche  gleichzeitig  zum  wirk- 
lichen Vorstellen  gekommen  sind,  geraten  dadurch  in  eine  Ver- 
wachsung, vermöge  deren  sie  sich  zu  Vorstellungsmassen  ver- 
knüpfen, assoziieren  und  komplizieren,  deren  einzelne  Teile,  wenn 
sie  wieder  zum  Bewußtsein  gelangen,  die  anderen  ebenfalls  in 
den  lichten  Raum  emporzuziehen,  d.  h.  zu  reproduzieren  streben. 
Vorstellungen,  die  aus  dem  Bewußtsein  verschwinden,  sind  nicht 
überhaupt  zugrunde  gegangen,  sondern  existieren  vermöge  der 
Hemmung  nur  noch  als  »Streben  vorzustellen«  und  werden  unter 
geeigneten  Umständen,  sei  es  »frei  steigend«,  sei  es  durch  die 
Assoziation,  wieder  zum  wirklichen  Vorstellen.  Jene  Massen  aber, 
welche  sich  in  dem  psychologischen  Mechanismus  zusammen- 
gefunden haben,  üben  auf  die  neu  eintretenden  Vorstellungen 
eine  Art  von  Attraktionskraft  in  der  Weise  aus,  daß  sie  die 
verwandten    darunter    in    sich    aufzunehmen    und    mit    sich    zu 


412  Herbart. 

verbinden  suchen.  Diesen  Prozeß  bezeiclinet  Herbart  als  Apper« 
zeption  und  schreibt  ihm  die  Rolle  zu,  daß  dadurch  der  Besitz- 
stand, den  die  Seele  sich  bereits  erworben  hat,  alle  neu  hinzu- 
kommenden Vorstellungen  sich  assimiliert  und  so  alles  Neue  in 
den  Zusammenhang  des  Früheren  einfügt. 

Aus  der  gesetzmäßigen  Bewegung  der  ursprünglichen  Vor- 
stellungen, welche  sich  auf  diese  Grundformen  zurückführen  läßt, 
sucht  nun  Herbart  alle  die  komplizierten  Gebilde  sowohl  des  theo- 
retischen als  auch  des  praktischen  Verhaltens  zu  erklären,  wie  sie 
in  der  inneren  Erfahrung  vorkommen.  Von  ursachlosen  Funktionen 
kann  bei  dieser  Auffassung  nicht  die  Rede  sein,  und  auch  die  höchsten 
und  wertvollsten  Tätigkeiten  müssen  als  Produkte  des  psychischen 
Mechanismus  aufgefaßt  werden.  Darum  griff  Herbart  hauptsächhch 
die  Kantische  Idee  der  intelligiblen  Freiheit  an,  obwohl  er  mit  seiner 
Lehre  von  der  metaphysischen  Urqualität  des  einfachen  Seelen- 
wesens, welche  den  Grund  für  alle  »Selbsterhaltungen«  in  der  Er- 
scheinung bilde,  vielleicht  mehr  als  andere  sich  diese  Lehre  hätte 
zu  eigen  machen  können.  Aber  abgesehen  davon,  daß  Herbart 
jene  Urqualität  für  völlig  unerkennbar  hielt,  konnte  er  auch  der 
religionsphilosophischen  Verwendung,  die  Kant  von  dem  Begriffe 
machte,  nicht  beitreten ;  denn  danach  sollte  in  der  »Wiedergeburt « 
der  intelligible  Charakter  sich  in  völlig  unbegreiflicher  Weise  ver- 
ändern, was  mit  Herbarts  metaphysischen  Prinzipien  unvereinbar 
war.  Lifolgedessen  blieb  in  seiner  Lehre  nur  ein  Determinismus 
übrig,  der  in  allen  wesentlichen  Zügen  mit  demjenigen  von  Leibniz 
übereinstimmte.  Aber  auch  alles  dasjenige,  was  von 'eingeborenen 
Begriffen  oder  eingeborenen  Formen  im  menschlichen  Geiste  be- 
hauptet worden  war,  mußte  bei  Herbart  in  dieser  Weise  als  Er- 
zeugnis der  psychischen  Entwicklung  angesehen  werden,  und  er 
benutzte  dann  namentlich  seine  Theorie  der  »reihenweis  abgestuften 
Verschmelzung«,  um  im  Gegensatz  zur  transzendentalen  Ästhetik 
^aum  und  Zeit  aus  der  Empfindungstätigkeit  abzuleiten.  Besonders 
wichtig  aber  ist  es,  daß  sich  derselben  Behandlung  auch  der  Be- 
griff des  Ich  unterwerfen  muß.  Herbart  weist  scharfsinnig  nach, 
daß  das  Fichtesche  »reine  Selbstbewußtsein«  den  Widerspruch  einer 
doppelten  unendlichen  Reihe  involviere.  Wenn  es  als  das  sich 
selbst  Vorstellende  definiert  wird,  so  ist  dabei  das,  was  vorstellt, 
und   das,  was  vorgestellt  wird,  immer  wieder  nur  das  sich  vor- 


l*ädap;ogik  und  Ethik.  413 

stellende  Ich,  und  so  fort  bis  ins  Unendliche.  J5ei  dieser  formalen 
Bestimmung  kommt  niemals  ein  Inhalt  heraus,  an  welchem  die 
Vorstelhingstäti<J5keit  Halt  machen  könnte.  Insofern  hat  Fichte 
lecht  gehabt,  daß  das  Ich  nie  zustande  kommt,  sondern  nur  im 
unendlichen  Streben  sich  zu  realisieren  sucht.  Aber  dieses  wider- 
spruchsvolle reine  Ich  ist  auch  gar  nicht  gegeben,  sondern  nur  eine 
formelle  Abstraktion  Fichtes;  das  gegebene,  das  allein  begreiflich 
zu  machen  ist,  ist  das  empirische  Selbstbewußtsein,  und  dies  ist 
stets  inhaltUch  bestimmt.  Das  Ich  weiß  sich  jedesmal  in  einem 
bestimmten  Zustande,  es  wird  also  immer  durch  bestimmte  Apper- 
zeptionsmassen  gebildet,  welche,  mehr  oder  minder  wechselnd,  aber 
doch  schließlich  an  einem  konstanteren  Kerne  haftend,  die  neu  ein- 
tretenden Vorstellungen  assimilieren.  Das  Ich  ist  also  gewisser- 
maßen der  Schneidepunkt  aller  derjenigen  Vorstellungsreihen,  welche 
in  der  Entwicklung  des  Individuums  durch  den  Mechanismus  der 
Vorstellimgen  entstanden  sind.  Dieser  Schneidepunkt  wandert  mit 
gewissen  Grenzen  in  dem  Inhalte  des  wirklichen  Vorstellens,  imd 
seine  Identität  liegt  nur  einerseits  in  der  Gleichheit  der  Apper- 
zeptionsprozesse, anderseits  in  der  Kontinuierlichkeit  der  Vor- 
stellungsentwicklung. Fichtes  imd  Herbarts  Behandlungen  dieses 
schwierigsten  aller  Probleme  stehen  sich  diametral  und  einander  er- 
gänzend gegenüber:  jener  richtet  seine  Untersuchung  auf  die  iden- 
tische Einheit  des  Ich  und  vermag  daraus  keinen  individuellen 
Inhalt  des  empirischen  Ich  abzuleiten;  dieser  betont  den  indivi- 
duellen Inhalt  derartig,  daß  die  formale  Einheit  und  Identität  ver- 
loren zu  gehen  droht. 

Jedenfalls  aber  betrachtete  Herbart  das  Leben  der  Seele  als 
einen  naturnotwendigen  Bewegungsprozeß  und  nicht  wie  Fichte  als 
die  Äußerung  einer  unbegreifüclien  Freiheit.  Für  den  letzteren 
Standpunkt  war  es  eigentlich  durchaus  irrationell,  von  einer  Er- 
ziehung zu  sprechen,  da  die  »Freiheit«  des  Ich  doch  keiner  natur- 
notwendigen Beeinflussung  imterliegt  und  deshalb  keinen  Ein- 
wirkungen zugänglich  ist,  die  sich  voraussehen  und  planvoll  her- 
vorrufen Heßen.  Umgekehrt  forderte  Herbarts  Theorie  der  psy- 
chischen Entwicklung  geradezu  auf,  zu  untersuchen,  wie  der  nach 
äußeren  Anregimgen  naturnotwendig  verlaufende  Mechanismus  des 
Seelenlebens  in  solche  Bahnen  gelenkt  werden  kann,  daß  er  zu 
beabsichtigten  Erziehungszwecken   sicher   führen  muß.     Deshalb 


414  Herbart. 

begründete  niclit  nur  Herbart  selbst  von  seiner  Psychologie  aus  eine 
sehr  glücklich  angelegte  und  durchgeführte  Pädagogik,  sondern 
dies  ist  auch  das  Spezialfach,  worin  seine  Lehre  die  tiefsten  und 
nachhaltigsten  Einflüsse  ausgeübt  hat.  In  der  Tat  darf  Herbart 
als  Begründer  der  wissenschaftlichen  Pädagogik  angesehen  werden. 
An  die  Stelle  sachkundiger  Reflexionen  und  praktischer  Vorschläge, 
zwischen  denen  sich  bis  dahin  die  Literatur  dieser  Disziplin  im 
günstigsten  Falle  bewegt  hatte,  setzte  er  zum  erstenmal  eine  streng 
begriffliche  Untersuchung:  und  indem  er  der  Ethik  das  Ziel  und 
der  Psychologie  das  Wissen  von  den  Mitteln  der  Erziehung  ent- 
nahm, bestimmte  er  der  Pädagogik  ihre  Stelle  im  Systeme  der  von 
der  Philosophie  abhängigen  Wissenschaften.  Das  ist,  gegenüber 
den  einzelnen,  dem  Wechsel  des  wirklichen  Erziehungslebens  unter- 
worfenen Theorien,  die  bleibende  Bedeutung  seiner  Pädagogik. 

Angesichts  jener  psychologischen  Überzeugungen  mußte  auch 
Herbarts  Behandlung  der  Ethik  in  seiner  »Allgemeinen  praktischen 
Philosophie«  (1808)  anders  als  bei  Kant  und  bei  Fichte  ausfallen. 
Sie  konnte  weder  auf  ein  Freiheitsgesetz  des  SoUens  noch  auf  den 
Begriff  des  Ich  begründet  werden.  Vielmehr  schlägt  Herbart  einen 
neuen  Weg  ein,  um  die  Kantische  Forderung  einer  vollkommenen 
Selbständigkeit  der  Moralphilosophie  und  ihrer  gänzlichen  Unab- 
hängigkeit sowohl  von  der  Psychologie  als  auch  von  der  Meta- 
physik mehr  als  irgend  ein  anderer  zu  verwirklichen.  Er  geht 
dabei  von  der  Tatsache  aus,  daß  es  neben  den  theoretischen  Ur- 
teilen Beurteilungen  gibt,  in  denen  sich  Billigung  oder  Nicht- 
billigung  eines  erkannten  Gegenstandes  ohne  jede  Rücksicht  auf 
die  Art,  wie  dieser  zustande  gekommen  ist,  ausspricht.  Solche  Be- 
urteilungen beziehen  sich  immer  auf  Verhältnisse  des  Vorstellungs- 
inhaltes, und  je  komplizierter  diese  sind,  um  so  weniger  ursprüng- 
lich kann  die  Beurteilung  sein.  Es  muß  deshalb  eine  Anzahl  ein- 
facher Verhältnisse  geben,  welche  den  Gegenstand  eines  ursprüng- 
lichen Wohlgefallens  oder  Mißfallens  bilden,  und  aus  deren  Kom- 
plikation die  abgeleitete  Beurteilung  verwickelterer  Verhältnisse 
erklärt  sein  will.  Die  Wissenschaft  von  diesen  einfachen  Ver- 
hältnissen, welche  die  BilHgung  oder  Mißbilligung  bei  sich  führen, 
nennt  Herbart  Ästhetik  und  stellt  sie,  der  Logik  und  der  Meta- 
physik gegenüber,  als  den  dritten  selbständigen  Teil  der  Philo- 
sophie auf.     Denjenigen  Teil  der  Ästhetik,   den   man  gewöhnlich 


Pädagogik  und  KtliiU.  415 

mit  dioscni  Namen  bezeichnet,  und  der  durch  die  Beurteilungs- 
priidikatc  der  Schönlicit  und  der  Häßlichkeit  charakterisiert  ist, 
haben  erst  Ilerbarts  Schüler  bearbeitet:  er  selbst  hat  sich  auf  die 
Ethik  als  auf  denjenigen  Teil  der  all^'cmeinen  Ästhetik  be- 
schränkt, welcher  es  mit  den  einfachen  Verhältnissen  der  sitt- 
lichen Beurteilung  zu  tun  hat.  Diese  müssen  nach  Herljarts 
Methode  durch  begriffliche  Bearbeitung  der  moralischen  Billigungen 
und  Mißbilligungen  gewonnen  werden,  die  in  der  Erfahrung  tat- 
sächlich ausgeübt  werden.  Auch  hier  also  sträubt  sich  Herbart 
gegen  die  monistische  Tendenz  eines  obersten  Moralprinzips:  für 
alle  Probleme  ist  er  davon  überzeugt,  daß  das  menschliche  Denken 
auf  einer  Anzahl  ursprünglicher,  nicht  mehr  auseinander  ableit- 
barer Inhaltsbestimmungen  beruhe,  die  es  nur  in  ihrer  Reinheit 
festzustellen  und  miteinander  in  »Beziehung«  zu  setzen  gelte.  Die 
einfachen  Willensverhältnisse,  welche  den  Gegenstand  des  ur- 
sprünglichen moralischen  Beifalls  bilden,  nennt  Herbart  die  sitt- 
Hchen  Ideen,  und  er  stellt  deren  fünf  auf:  die  Idee  der  »inneren 
Freiheit«  als  der  Übereinstimmung  des  Willens  mit  dem  eigenen 
Urteil,  die  Idee  der  »Vollkommenheit«  als  der  richtigen  Größe 
der  Willensbestrebungen,  die  Idee  des  »Wohlwollens«  als  des  Willens, 
welcher  das  fremde  Wohl  zu  seinem  Gegenstande  macht,  die  Idee  des 
»Rechts«  als  die  Regel  der  Willensübereinstimmung  verschiedener 
Individuen  und  das  Mißfallen  am  Streite,  endlich  die  Idee  der 
»Billigkeit«  als  der  Vergeltung  der  guten  und  der  bösen  Handlungen. 
An  diese  fünf  ursprünglichen  schließen  sich  sodann  fünf  abgeleitete 
Ideen  als  diejenigen  der  sittüchen  Institutionen,  worin  jene  ersten 
zur  Verwirklichung  kommen:  sie  machen  deshalb  den  Inbegriff  der 
sittlichen  »Güter«  aus.  Herbart  entwickelt  sie  (in  umgekehrter 
Reihenfolge)  als  das  Lohnsystem,  die  Rechtsgesellschaft,  das  Ver- 
waltungssystem und  das  Kultursystem,  welche  vier  in  der  be- 
lebten Gesellschaft  zu  einer  organischen  Einheit  verbunden 
sind.  So  geht  die  Ethik  in  Sozialphilosophie  über,  und  Herbart 
betrachtet  den  Staat  als  den  Lebensprozeß  der  Menschheit,  worin 
alle  diese  Güter  zur  Entwicklung  kommen.  Allein  er  sieht  nun  wieder 
im  Staate  wesentlich  einen  sozialen  Mechanismus;  auch  ihm  ist  der 
Staat  »der  Mensch  im  großen«.  Die  Elemente,  aus  denen  er  be- 
steht, sind  die  wollenden  Menschen,  und  die  Staatslehre  soll  mehr 
eine  Statik    und  Mechanik    der   sozialen  Kräfte,    als  eine   rechts- 


416  Herbart. 

philosophische  Konstruktion,  die  Staatskimst  eine  Berechnung  der 
psychologisch -sozialen  Notwendigkeiten  sein.  Denn  das  Gleich- 
gewicht der  sozialen  Kräfte,  worin  das  Wesen  des  Staates  besteht, 
wird,  wie  Herbart  namentlich  dem  doktrinären  Liberalismus  ent- 
gegenhielt, nicht  durch  die  Kechtsformen  herbeigeführt,  die  viel- 
mehr selbst  erst  das  Produkt  des  sozialen  Mechanismus  sind, 
sondern  nur  durch  die  psychologische  Bewegung  der  den  Staat  kon- 
stituierenden Individuen.  Sitte,  Wohlwollen  und  Bildung  sind 
deshalb  ungleich  festere  und  wertvollere  Säulen  der  staatlichen 
und  gesellschaftlichen  Ordnung  als  abstrakte  Rechtsbestimmungen, 
und  der  Sinn  der  äußeren  Lebensformen  der  Menschheit  liegt  in 
der  psychologischen  Bewegung,  aus  der  sie  hervorgegangen  sind. 


§  7L     Der  Psychologismiis. 

Pries  und  Beneke. 

So  scharf  der  Gegensatz  ist,  worin  sich  Herbart  zu  der  Iden- 
titätsphilosophie sowohl  in  ihrer  rationalen  als  auch  in  ihrer  ir- 
rationalen Form  befindet,  so  ist  er  mit  allen  ihren  Trägern  doch 
darin  einig,  daß  er  die  umbildende  Entwicklung  der  Kantischen 
Philosophie  in  der  metaphysischen  Richtung  sucht.  Freilich  bringt 
seine  Bekämpfung  des  Axioms  der  Identität  von  Denken  und 
Sein  es  mit  sich,  daß  er  mehr  als  alle  anderen  Nachfolger  des 
gToßen  Königsbergers  auf  die  erkenntnistheoretische  Basis  zurück- 
geht, und  alle  seine  metaphysischen  Lehren  beruhen  auf  dem  echt 
kritischen  Bestreben,  »die  Erfahrung  begreiflich  zu  machen«:  die 
Lösung  dieser  Aufgabe  sucht  jedoch  auch  er  auf  dem  Wege  einer 
Metaphysik,  die  zwar  die  Dinge  an  sich'mid  das  "wirkliche  Ge- 
schehen für  unerkennbar  erklärt,  aber  doch  über  ihr  Verhältnis 
zur  Erscheinungswelt  eine  weit  umfangreichere  theoretische  Er- 
kenntnis behauptet,  als  es  Kant  zugestanden  haben  könnte.  Allein 
neben  allen  diesen  metaphysischen  Bestrebungen  der  nachkantischen 
Philosophie,  in  denen  zweifellos  der  schöpferische  Fortschritt  des 
philosophischen  Geistes  enthalten  ist,  laufen  nun  eine  Reihe  anderer 
Versuche  einher,  welche  das  kritische  Prinzip  der  Selbsterkenntnis 
der  menschlichen  Vernunft  in  die  Sprache  der  empirischen 
Psychologie  zu  übersetzen  und  die  grundlegenden  Untersuchungen 
der  Erkenntnistheorie  mit  vollem  methodischen  Bewußtsein  in  die 


Der  PHycbologisinuB.  417 

anthropologische  Erfalirung  zu  verlegen  Buchen.  Je  wichtij^er 
für  Kants  gesamte  Kritik  der  apriorischen  Erkenntnis  die  bei  ihm 
niemals  ausdrücklich  herausgehobenen  psychologischen  Voraus- 
setzungen waren,  um  so  mehr  konnte  man  glauben,  seinen 
Absichten  zu  entsprechen,  wenn  man  in  der  empirischen  Selbst- 
erkenntnis des  menschlichen  Geistes  die  Grundlage  aller  philo- 
sojphischen  Untersuchungen  sah:  und  je  mehr  die  großen  meta- 
physischen Systeme,  die  sich  aus  seiner  Lehre  entwickelten,  im 
geheimen  mit  einer  bestimmten  psychologischen  Grundansicht 
operierten,  um  so  näher  lag  die  Möglichkeit,  daß  man  ihre  Lehren 
ausdrücklich  auf  die  anthropologische  Erkenntnis  zu  stützen  unter- 
nahm. So  ist  der  Psychologismus  eine  konstante  Neben- 
erscheinung der  metaphysischen  Systeme:  er  besteht  an  jedem 
Punkte  in  einer  Verarbeitung  der  metaphysischen  Lehren  unter 
dem  Gesichtspunkte  der  empirisch-psychologischen  Begründung, 
und  seine  Vertreter  gehen  sämtlich  von  der  Ansicht  aus,  das 
»subjektive  Prinzip«  der  modernen  Philosophie  lauf 3  darauf  hinaus, 
daß  in  der  empirischen  Psychologie  als  der  Selbsterkenntnis  des 
erkennenden  Geistes  die  Grundlage  der  gesamten  Philosophie  ge- 
sucht werden  müsse.  Dieser  Psychologismus  hatte  den  Stand- 
punkt der  Aufklärungsphilosophie  gebildet:  er  erschien  jetzt  wieder 
als  die  nächstliegende  Form  des  »metaphysischen  Empirismus«, 
auf  den  das  Scheitern  der  rationahstischen  Deduktion  von  allen 
Seiten  hinwies.  Die  Überzeugungen  der  ihn  vertretenden  Männer 
sind  daher  ähnlich,  wenn  auch  in  mehr  positiver  Weise,  als  ee 
bei  den  Irrationalisten  der  Fall  war,  durch  die  metaphysischen 
Systeme  bestimmt,  für  welche  sie  in  anthropologischen  »Selbst- 
beobachtungen« die  empirische  Basis  zu  gewinnen  trachten. 
Wesentliche  oder  prinzipielle  Neuerungen  sind  daher  nicht  von 
ihnen  ausgegangen:  ihr  Kampf  gegen  die  großen  Systeme 
wird  stets  mit  den  Gedanken  geführt,  die  diesen  selbst  ent- 
nommen sind. 

Einer  der  bedeutendsten  dieser  Psychologisten  ist  gleich  der 
erste,  derjenige  nämlich,  welcher  sich  in  dieser  Weise  der  em- 
pirisch-psychologischen Begründung  zu  dem  Kantischen  Systeme 
selbst  verhält.  Jakob  Friedrich  JFries  (1773  geboren,  unter 
dem  Einfluß   der  Herrnhutischen  Brüdergemeinde  zu  Barby  und 

Windel  band,  Gesch.  d.  n.  Philos.    U.  27 


418  Fries. 

Niesky  erzogen,  auf  den  Universitäten  Leipzig  und  Jena  gebildet, 
1801  in  Jena  habilitiert,  1805  als  Professor  der  Philosophie  nach 
Heidelberg,  1816  nach  Jena  berufen,  nach  seiner  Beteihgiing  am 
Wartburgfeste  suspendiert,  1824  als  Professor  der  Physik  reha- 
bilitiert und  1843  zu  Jena  gestorben)  hat  in  seinem  Hauptwerke 
»Neue  Kritik  der  Vernunft«  (1807)  die  Kantische  Lehre  auf  eine 
psychologische  Ansicht  zu  stützen  gesucht,  die  in  dem  »Handbuch 
der  psychischen  Anthropologie«  (1820)  sachlich  und  terminologisch 
genauer  fixiert  und  in  seinen  zahlreichen  übrigen,  auf  alle  Teile  der 
Philosophie  sich  erstreckenden  Schriften  weiter  ausgeführt  ist.  Er 
geht  von  der  Überzeugung  aus,  (die  in  gewisser,  freilich  viel  mehr 
einzuschränkender  Beziehung  unangreifbar  und  z.  B.  auch  von  Her- 
bart anerkannt  worden  istMaß  die  Untersuchung  über  die  apriorische 
Erkenntnis,  welche  die  Vernunftkritik  ausgeführt  hat  und  ausführen 
soll,  selbst  aposteriorischen  Charakters  ist,  indem  alle  »transzenden- 
talen Bedingungen «  der  Erkenntnis  in  der  tatsächlichen,  empirisch 
gegebenen  Natur  der  menschlichen  Denktätigkeit  aufgesucht  werden. 
Nur  durch  die  Erfahrung  selbst  werden  wir  uns  jener  »reinen 
Formen«  bewußt,  die  als  immanente  Gesetze  unserer  Vorstellungs- 
tätigkeit diC/ allgemeinen  und  notwerxdigen ,  d.  h.  apriorischen  Be- 
stimmungen alles  Erfahrungsinhaltes  bilden.  Kants  gesamte  Unter- 
suchung ist  somit  nach  Fries  psychologischen  Charakters,  und  man 
soll  sich  nicht  scheuen,  dies  offen  auszusprechen.  Darin  war  richtig, 
daß  der  Leitfaden  von  Kants  Kritik  überall  eine  psychologische 
Voraussetzung  und  das  Kriterium  ihrer  Entscheidungen  immer  eine 
psychologische  Einsicht  oder  Ansicht  ist;  aber  es  darf  nicht  ver- 
gessen werden,  daß  den  Grund,  den  Kant  für  die  Apriorität  der  Ver- 
nunftformen  suchte,  niemals  ihre  empirische  Funktion  bildete.  Fries 
seinerseits  behauptet,  die  ganze  Aufgabe  der  Kritik  bestehe  in  der 
Reflexion  auf  die  von  dem  menschlichen  Geiste  unmittelbar  aus- 
geübte Erkenntnistätigkeit.  Dabei  zeigt  sich  nun,  daß  alles  Wissen 
des  Verstandes  in  seiner  demonstrierbaren  Gewißheit  auf  Voraus- 
setzungen beruht,  welche  das  reflektierende  Denken  nicht  erzeugt, 
sondern  übernimmt.  Das  Denken  ist  —  genau  so  hatte  der  von 
Fries  so  lebhaft  bekämpfte  Fichte  gesprochen  —  immer  nur  sekun- 
dären Charakters:  es  hat  stets  nur  mittelbare  Gewißheit  und  ist 
nur  eine  Reflexion  auf  die  unmittelbare  Gewißheit,  die  ihm  vorher- 
geht, und  der  es  seinen  Inhalt  entnimmt.  In  dieser  Entgegensetzung 


Unmittclbures  und  mittelbures  Wissen.  419 

ist  Fries  vollkommen  von  .Tacobi  abhängig  und  stimmt  ihm  auch 
darin  bei,  daß  die  unmittelbare  Gewißheit  nicht  im  reflektierenden 
Denken,  sondern  im  Gefühl  enthalten  ist.  Wenn  er  deshall>  in 
gewissem  Sinne  ebenfalls  ein  \'ertreter  dei-  (jJefiihlsphilosophie  ist, 
so  unterscheidet  er  sich  von  Jacobi  eben  darin,  daß  er  verlangt,  die 
unmittelbare,  dunkle  Gefiihlserkenntnis  solle  durch  die  Reflexion 
in  das  klare  imd  sichere  Bewußtsein  erhoben  werden,  und  deshalb 
ist  seine  Lehre  ungleich  viel  wissenschaftlicher  und  objektiver  ge- 
worden, als  diejenige  Jacobis,  die  sich  mit  dem  Pathos  des  unklaren, 
subjektiven  Gefühls  begnügte.  Andei-seits  aber  verfolgt  nun  auch 
Fries  den  Gedanken,  daß  die  unmittelbare  Gewißheit,  indem  sie  in 
das  reflektierende  Bewußtsein  aufgenommen  wird,  dessen  lediglich 
subjektive  Formen  und  damit  den  Charakter  der  bloßen  Erscheinung^ 
annehmen  muß.  Unser  Denken  ist  die  Reflexion  auf  unser  un- 
mittelbares Gefühl;  aber  es  ist  notwendig  in  seine  ihm  eigentümlichen 
Formen  gebannt  und  erkennt  daher  lediglich  die  Erscheinung  der 
Wahrheit.  Alles  Wissen  bewegt  sich  in  den  Refleyionsformen  der 
Subjektivität,  welche  wir  durch  die  Selbstbeobachtung  unserer  Er- 
kenntnistätigkeit uns  zum  Bewußtsein  zu  bringen  vermögen.  Die 
»Neue  Kritik«  gibt  in  der  Analyse  dieser  Formen  des  reflektierenden 
Bewußtseins  sehr  viel  feine  und  geistreiche  Untersuchungen ;  nament- 
lich die  Kategorienlehre  ist  von  Fries  durchaus  selbständig  und  ori- 
ginell behandelt  und  auf  die  Kategorien  der  Relation  zugespitzt 
worden.  Allein  das  demonstrierende  Wissen  ist  deshalb  für 
ihn  gänzlich  auf  die  Anwendung  dieser  Formen  beschränkt:  es 
verliert  allen  Boden  unter  den  Füßen,  sobald  es  diese  Grenze  über- 
schreiten will.  Für  die'^wissenschaftliche  Erkenntnis  gut  Kants  Be- 
schränkung auf  die  Erfahrung  und  Erscheinung.  Von  der  äußer^ 
Natur  wissen  wir  nur  so  viel,  als  sich  mathematisch  und  mechanisch 
berechnen  läßt.  Die  Prinzipien  der  Natuierkenntnis  sind  lediglich 
mathematisch  und  mechanistisch :  auch  die  Organismen  wollen  in 
dieser  Weise  begriffen  sein,  und  es  ist  ein  Fehler  Kants,  auf  sie  die 
teleologische  Betrachtung  auch  nur  für  wissenschaftlich  anwendbar 
erklärt  zu  haben,  y  In  der  Erkenntnis  der  inneren,  psychischen  Natur 
dagegen  verläßt  uns  —  trotz  Herbart  —  die  mathematische  Er- 
kenntnis; hier  sind  wir  ledighch  auf  deskriptive  Analysis  ange- 
wiesen, —  eine  Behauptung,  die  bei  Fries  um  so  schwerer  wiegt, 
als  er  auf  diese  Erfahr  ungs  Wissenschaft  die  ganze  Philosophie  gründen 

27* 


420  Fries. 

wollte.  Wälirend  aber  so  die  wissenschaftliche  Erkenntnis  auf  die 
naturnotwendige  Erscheinung  angewiesen  ist,  enthält  das  unmittel- 
bare Gefühl  den  Glauben  an  die  Welt  dei^inge  an  sich :  die  Kantischen 
Ideen  von  Gott,  von  der  intelligiblen  Freiheit  und  dem  übersinnlich- 
unsterblichen  Wesen  des  Menschen  erscheinen  hier  als  Objekte  des 
unmittelbar  selbstgewissen  Gefühls,  und  zwischen  jenem  Wissen  der 
Erscheinungen  und  diesem  Glauben  der  Dinge  an  sich  wird  von 
Fries  ganz  der  schroffe  Dualismus  angenommen,  der  Kant  und 
Jacobi  gemeinsam  war.  Dennoch  gibt  es  für  Fries  eine  Vermittlung 
zwischen  beiden ,  und  seine  Wertschätzung  der  Kritik  der  Urteils- 
kraft, (die  er  für  Kants  größtes  Werk  erklärte  ,^zeigt  sich  auch 
darin,  daß  das  Gefühl  wieder  zuletzt  zwischen  der  theoretischen 
und  der  praktischen  Vernunft  vermitteln  soll.  Als  ästhetisches 
Gefühl  zeigt  es  uns  in  unmittelbarer  Anschauung  die  übersinnliche 
Idee  in  die  sinnliche  Erscheinung  verwachsen,  als  rejigiöses  Gefühl 
läßt  es  uns  in  der  Zweckmäßigkeit  der  Natur  die  Weisheit  des 
göttlichen  Schöpfers  verehren.  Wenn  wir  so  die  Erscheinungen 
in  ihrer  mathematischen  Notwendigkeit  erkennen  und  wissen,  wenn 
wir  an  die  Dinge  an  sich  als  die  sittlichen  Werte  glauben,  so 
»ahnen«  wir  in  dem  ästhetischen  und  dem  religiösen  Gefühl,  daß 
in^en  Erscheinungen  eben  jenes  wahre,  sittliche  Wesen  der  Dinge 
erscheint.  Die  rein  naturalistische  Beschränkung  der  Erfahrungs- 
erkenntnis, der  moralische  Glaube  an  eine  Welt  der  Werte  und 
an  die  Würde  der  menschlichen  Bestimmung,  die  Parallelisierung 
des  ästhetischen  und  des  religiösen  Gefühls  in  der  gemeinsamen 
Bedeutung,  daß  in  beiden  das  Verhältnis  der  Erscheinung  zur 
Idee,  des  Bedingten  zum  Unbedingten  geahnt  wird,  —  das  alles 
sind  Theorien,  die,  in  Kant  angelegt,  bei  seinen  verschiedenen 
Nachfolgern  in  besonderen  Formen  entwickelt  worden  sind  :  bei 
Fries  erscheinen  sie  auf  der  gemeinsamen  Basis  einer  anthropo- 
logischen Untersuchung,  die  aus  der  Selbsterkenntnis  des  empi- 
rischen Bewußtseins  methodisch  das  Allgemeingültige  erforschen 
will,  um  sich  seiner  apriorischen  Berechtigung  zu  versichern. 
Gerade  eine  solche  Ableitung  der  Grundlehren  der  Kantischen 
Philosophie  aus  der  empirischen  Psychologie  hatte  etwas  Eindring- 
liches und  unmittelbar  Einleuchtendes  an  sich,  was  des  großen 
Erfolges  in  weiteren  Kreisen  sicher  war.  Ähnlich  sprachen  sich 
Fr.  van  Calker  in  seiner  » Urgesetzlehre  des  Wahren,  Guten  und 


-V.< 


.SJ." 


V'^v  • 


Krug.  421 

Schonen«  (1820)  und  Chr.  Weiß  in  zahlreichen  Schriften  aus, 
unter  denen  namentlich  die  »Untersuchungen  über  das  Wesen  und 
Wirken  der  menschlichen  Seele«  (1811)  hervorzuheben  sind,  und 
später  schloß  sich  an  Fries  eine  umfangreiche  Schule  an,  die  sich 
namentlich  auch  auf  theologischem  Gebiet  Ausbreitung  und  Gel- 
tung verschaffte. 

Wie  Fries  zu  Kant  und  Jacobi,  so  verhielten  sich  geringere 
Geister  zu  Kant  und  Fichte.  Zunächst  ist  in  dieser  Hinsicht  l 
Wilhelm  Traugott  Krug  (1770 — 1842)  zu  nennen,  welcher  die  ;  7 
Kantisch -Fichteschen  Eehren  auf  »Tatsachen  des  Bewußtseinß« 
zurückzuführen  suchte.  Aus  seiner  überaus  fruchtbaren  Schrift- 
stellertätigkeit ist  das  »Handbuch  der  Philosophie«  (1820)  am 
meisten  verbreitet  gewesen ;  das  Präziseste  ist  wohl  der  » Entwurf 
eines  neuen  Organon  der  Philosophie«  (1801)  und  die  »  Fimdamental- 
philosophie«  (1803).  Von  der  Mendelssohnschen  Art  des  Philoso- 
phierens ausgegangen,  sah  er  auch  in  der  neuen  philosophischen 
Bewegung  nichts  als  eine  Analyse  des  Bewußtseins,  die  den  Inhalt 
des  gesunden  Menschenverstandes  kritisch  festzustellen  habe.  Die 
letzte  Tatsache,  worauf  dabei  das  sich  selbst  beobachtende  Bewußt- 
sein stoße,  der  absolute  Inhalt  des  Selbstbewußtseins,  sei  die  Ver- 
knüpfung des  Denkens  mit  dem  Sein.  Deshalb  sei  sowohl  der 
Realismus,  der  nur  die  Ursprünglichkeit  des  Seins,  als  auch  der 
Idealismus,  der  nur  diejenige  des  Denkens  anerkennen  wolle,  von 
vornherein  verfehlt;  der  einzig  wahre  Standpunkt  sei  der  tran- 
szendentale Synthetismus,  der  in  dem  empirischen  Selbst- 
bewußtsein diese  Tatsache  der  gegenseitigen  Beziehung  von  Denken 
und  Sein  konstatiere  und  sie  zum  Ausgangspunkt  aller  philoso- 
phischen Gewißheit  mache.  Denn  diese  sei  nichts  als  der  Glaube 
an_  die  Tatsachen  des  Bewußtseins.  Enthält  diese  Lehre  eine 
psychologische  Umstempelung  der  Fichteschen  Theorie  vom  Ich, 
so  ist  sie  anderseits  ein  Synkretismus  Reinholdischer  und  Jacobischer 
Gedanken  auf  der  Basis  der  empirischen  Psychologie.  //5^  //> 

Bedeutender  ist  der  Versuch,  den  Friedrich  Bouterwek 
(1766 — 1828),  ein  als  empiristischer  Ästhetiker  und  Literatur- 
historiker sehr  geschätzter  Mann,  in  seiner  »Idee  einer  Apodiktik« 
(1799)  gemacht  hat,  um  eine  psychologische  »Selbstverständigung« 
des  Kritizismus  zu  gewinnen.  Er  führt  zunächst  aus,  daß  die 
logischen  Formen    des  Denkens    niemals    zu    einer   anderen    als 


422  Bouterwek,  Troxler. 

formalen  und  hypothetischen  Erkenntnis  führen;  er  entwickelt  so- 
dann, daß  die  Transzendentalphilosophie  den  Spinozis tischen  Begriff 
eines  absoluten  Seins  neu  und  sicher  begründe,  aber  um  den  Preis, 
daß  sie  alle  Individualität  imd  Verschiedenheit,  alles  Geschehen 
imd  Tun  lediglich  für  Erscheinung  erklären  müsse,  und  er  zeigt 
sich  in  dieser  Spinozistischen  Konsequenz,  die  er  aus  Kant  ableitet, 
schon  hier  durchaus  von  Jacobi  abhängig,  dem  er  später  immer 
mehr  anheimgefallen  ist.  Er  fügt  endlich  hinzu,  daß  uns  nur 
unser  eigenes  empirisches  Selbstbewußtsein  uns  selbst  als  handelnde 
Individualitäten  erkennen  lasse,  und  daß  diese  Selbstbeobachtung 
die  einzige  Möglichkeit  sei,  uns  auch  die  äußere  Welt  zu  erklären. 
Indem  unser  Wille,  der  das  absolut  Gewisse  unserer  Selbserkennt- 
nis  ist,  bei  seinem  Handeln  auf  Widerstand  stößt,  erkennen  wir 
die  Welt,  welche  in  der  Transzendentalphilosophie  nur  als  einheit- 
liches und  unbestinmates  Sein  erschien,  als  eine  unendliche  Viel- 
heit lebendiger  Kräfte.  Die  Selbsterkenntnis,  in  der  wir  uns  als 
wollende  Wesen  erfassen,  enthüllt  uns  das  Geheimnis  der  Dinge: 
wir  müssen  sie  ebenso  wie  uns  selbst  als  lebendige  Kräfte  ansehen. 
Deshalb  bezeichnet  sich  dies  System  als  absoluten  Virtualis- 
mus.  Fichtes  Selbstanschauung  der  Intelligenz  als  Wille  ist  also 
hier  in  eine  Selbstbeobachtung  der  empirischen  Psychologie  ver- 
wandelt, und  was  später  Schopenhauer  als  seine  geniale  Deutung 
der  Erfahrung  bezeichnete,  erscheint  hier  ausdrücklich  als  eine 
auf  die  innere  Erfahrung  gestützte  Analogie:  wobei  nicht  zu  ver- 
gessen ist,  daß  Bouterwek  in  Göttingen  lehrte,  wo  Schopenhauer 
seine  ersten  Studien  gemacht  hat. 

Zeigt  Bouterwek  in  seiner  Auffassung  der  Transzendentalphilo- 
sophie eine  entschiedene  Verwandtschaft  mit  Schellings  Neospino- 
zismus,  so  hat  auch  dessen  Schule  ihren  Psychologisten  in  Ignaz 
%ij/)  Paul  Troxler  (1780 — 1866)  aufzweisen.  Dieser  war  anfangs  ein 
unbedingter  Anhänger  der  Naturphilosophie  und  des  Identitäts- 
systems gewesen;  aber  er  nahm  schon  durch  seine  »Blicke  in  das 
Leben  des  Menschen«  (1812)  und  später  in  seiner  »Naturlehre  des 
menschlichen  Erkennens  oder  Metaphysik«  (1828)  und  in  der 
»Logik«  (1830)  eine  relativ  selbständige  Stellung  ein.  Das  Wesent- 
liche daran  ist,  daß  er  die  Identität  von  Denken  und  Sein  dahin 
deutete,  die  Gesetze  des  menschlichen  >>  Gemüts <<  seien  diejenigen 
des  Universums ;  der  Mensch  sei  Mikrokosmos,  und  alle  seine  Welt- 


&Ä 


Bonoke.  423 

erkcnntnis  bestehe  in  seiner  Selbsterkenntnis.  Alle  Philosophie 
ist  Anthroposophie,  und  diese  beruht  nur  auf  dem  Wissen  der 
Selbstbcobachtun«^'.  Tn  der  Ausführuni^  dieses  Gedankens  legt 
Troxler  an  die  empirische  Untersuchung  in  einer  äußerst  unfrucht- 
baren Weise  das  tetradische  System  der  Kreuzung  von  Gegensätzen, 
das  Wagner  (vgl.  ij  00)  aufgestellt  hatte.  Eine  Unterscheidung 
von  Geist  und  Seele,  Leib  und  Körper  bildet  die  Grundlage,  auf 
der  sich  eine  Schema  tische  Entwicklung  der  gesamten  Welterkennt- 
nis aufbauen  soll.  ^^ 

Der  konsequenteste  und  radikalste  Vertreter  des  Psychologis-6^J/' 
mus  ist  derjenige,   welcher  in  dem  oben  bezeichneten  Verhältnis      /^. 
zu  Herbart  steht:  Friedrich  Eduard  Beneke.     1798  in  Berlin       // 
geboren,  in  Halle  und  Berhn  gebildet  und  an  der  letzteren  Uni-     ^^ 
versität  habilitiert,  wurde  er  1822  von  der  akademischen  Tätigkeit      i p  ^ 
suspendiert,  dozierte  einige  Jahre  in  Göttingen  und  kehrte  dann 
nach  Berlin  zurück,  wo  er  1832   eine  außerordentliche  Professur 
erhielt  und   1854  gestorben  ist.     Seine  sehr  zahlreichen  Schriften 
enthalten  die  ausgesprochenste  Form  des  Psychologismus,  welche 
in  dieser  Epoche  der  deutschen  Philosophie  aufgetreten  ist.     Er 
meint  nicht  nur  wie  Fries,  daß  die  Erkenntnistheorie  und  von  da 
aus  alle  übrigen  philosophischen  Disziplinen  von  der  empirischen 
Psychologie  ausgehen  müssen,  sondern  seine  Anschauung  ist  die, 
daß  deren  Aufgabe  nicht  die  Aufsuchung  einer  apriorischen  Er- 
kenntnis, die  es  gar  nicht  gebe,  sondern  die  Entwicklungsgeschichte 
des  empirischen  Bewußtseins  sei.     Er  fühlte  sich  infolgedessen  am 
meisten    mit    den    enghschen   Assoziationspsychologen     und    der 
schottischen   Schule  verwandt,  deren  Vertreter  er  eifrig  studiert 
hatte  und  mit  seiner  »Neuen  Psychologie <<   (1845)  in  Deutschland 
bekannt  zu   machen  suchte.     Die  Grundzüge  seiner  Lehre  hatte 
er  bereits  1820  in  der   »Erfahnmgsseelenlehre  als  Grundlage  alles 
Wissens«  dargestellt;  als  er  darauf  Herbarts  Schriften  genau  kennen 
lernte,  wurde  dessen  verwandte  Theorie  für  die  Ausbildung  seiner 
Ansichten  von  entscheidendem  Einfluß.     So  gestaltet  erscheinen 
sie  in   seinem  Hauptwerke,    dem   »Lehrbuch  der  Psychologie  als 
Naturwissenschaf t <(   (1833)  und  teilweise   schon  in  den   »Psycho- 
logischen Skizzen«   (1825  und  1827). 

Beneke  teilt  mit  Herbart   die  Grundvoraussetzung,   daß  alles 
psychische  Leben  auf  der  Bewegung  einfacher  Elemente  beruhe, 


l 


424  Beneke. 

deren  Gesetze  oder  »Grundprozesse«   es   festzustellen  gilt.     Aber 
die  psychologische  Untersuchung  soll  nach  ihm  weder  auf  Mathe- 
matik noch  auf  Metaphysik,  sondern  lediglich  auf  Erfahrung  ge- 
gründet werden,   und   diese  Erfahrung  ist   im  Gegensatz  zu  der 
äußeren  die  innere  Erfahrung.     Die  Psychologie  steht  deshalb 
völlig  ebenbürtig  der  Naturwissenschaft  gegenüber,  sie  ist  wie  diese 
eine  Erfahrungswissenschaft ;  aber  sie  gewinnt  ihre  Erfahrung  nicht 
durch  den  äußeren,  sondern  nur  durch  den  inneren  Sinn.    Sie  ist 
die  Naturwissenschaft   des    inneren   Sinnes.     Ihre   metho- 
dischen Mittel  sind  die  Selbstbeobachtung  der  psychischen   Tat- 
sachen und  die  Induktion,  welche  aus  der  Analyse   der  inneren 
Wahrnehmungen  die  Einsicht  in  die  Grundprozesse  gewinnt,  nach 
denen    sich    die    komplizierten    Erscheinungen    zusammengesetzt 
haben.    Die  ganze  Absicht  der  Benekeschen  Lehre  ist  also  darauf 
gerichtet,  die  Gesetze  der  Entwicklung  zu  erkennen,  durch  welche 
das    seelische   Leben   den  Inhalt  und   die   Formen  gewinnt,    die 
unsere  Erfahrung  darin  vorfindet.    Denn  darin  hat  der  Begründer 
der  Lehre    vom  inneren  Sinn,  Locke,   recht  gehabt,   daß  nichts 
Fertiges  von  Vorstellungen  cder  Willensrichtungen   der  Seele  an- 
geboren ist,  sondern  alles  von  ihr  durch  die  Erfahrung  erworben 
wird.     Aber  anderseits  ist  es  ein  Mißverständnis,   diese  »tabula 
rasa«  zum  reinen  Nichts  zu  machen,  aus  dem  nie  etwas  werden 
könnte.     Die  Seele  muß  vielmehr  aus   einer  Anzahl  von  Anlagen 
bestehen,  welche  die  Möglichkeit  in  sich  tragen,  daß  sie  auf  Grund 
äußerer  Anregungen  sich  zu  der  ganzen  Fülle  ihres  späteren  Lebens 
entwickelt.    Hier  macht  nun  freilich   dieser  Empirismus,   wie  es 
jedem  geht,  unversehens  eine  metaphysische  Annahme:  die  Seele 
gilt    bei  Beneke   nicht  als   eine   einheitliche,   qualitativ   fest   be- 
stimmte Substanz,  sondern  vielmehr  als  eine  Summe  von  Anlagen, 
die  ihrer  Verwirklichung  entgegenstreben:    sie  besteht  aus  einer 
Anzahl    von    Kraftgruppen.     Diese    Anlagen    nennt   Beneke    die 
>>  Vermögen«   der  Seele.    Er  versteht  darunter  nicht  jene  hypo- 
stasierten   Klassifikationsbegriffe    der   älteren   Psychologie,   deren 
Beseitigung  er  für  Herbarts  größtes  Verdienst  erklärt,  sondern  die 
spezifischen   Formen    der   Reaktionsfähigkeit    auf    äußere   Reize, 
z.  B.  die  Fähigkeit  rot  zu  empfinden.    Dieser  Vermögen  sind  also 
von  vornherein  sehr  viele,  und  sie  ordnen  sich  je  nach  ihrer  Ver- 
wandtschaft zu   bestimmten  Gruppen  an.     Zu   einem   wirklichen 


^ 


NaturwisseiiHchaft  des  inneren  Sinnes.  425 

Beelischon  »Gebilde«  aber  werden  sie  erst  in  der  Verbindun«^  mit 
den  ihnen  adäquaten  »Heizen«,  (lie  sie  aus  der  Potentiaiität  in 
die  Aktualität  überführen.  Ohne  den  Reiz  sind  also  die^yerraögen 
eigentlich  nur^Kräfte  oder  Triebe  zur  Vorstellung."  Die  Seele 
besteht  aus  einer  Fülle  solcher  Triebe,  welche  nur  auf  den  Reiz 
warten,  um  zu  wirklichen  Vorstellungen  zu  werden.  Von  hier  aus 
erhellt  am  besten  Benekes  Verhältnis  zu  Fichte.  Beiden  besteht 
die  Seele  aus  Trieben:  aber  für  Fichte  ist  sie  ein  System  von 
Trieben,  die  so  zusammengehören,  daß  einer  nicht  ohne  den 
andern  sein  kann;  für  Beneke  ist  sie  nur  sozusagen  ein  Bündel 
von  Trieben,  welche  zufällig  zusammen  sind,  und  von  denen  jeder 
für  sich  allein  besteht  oder  bestehen  kann:  bei  Fichte  ist  die 
Seele  das  einheitliche  System,  das  sich  notwendig  in  die  be- 
sonderen Triebe  gliedert,  bei  Beneke  ist  sie  nicht  einmal  eine  ein- 
fache Substanz,  die  Triebe  besäße  (wie  bei  Herbart),  sondern  eine 
Verwebung  zufäUig  zusammengekommener  Vermögen. 

Für  die  Entwicklung  des  Seelenlebens  nimmt  nun  Beneke  vier 
Grundprozesse  an.  Die  Aneignung  der  entsprechenden  Reize  durch 
die  Vermögen  ergibt  die  ursprünglichen  Empfindungen.  Dazu 
kommt  zweitens,  daß  die  Seele  im  Laufe  ihrer  Entwicklung  immer 
neue  Urvermögen  erwirbt.  Das  ist  durch  die  Tatsache  bewiesen, 
daß  sie  später  auf  Reize  reagiert,  denen  sie  sich  früher  verschlossen 
zeigte.  Wie  aber  diese  Erwerbung  zu  denken  sei,  wie  die  vor- 
handenen Vermögen  durch  die  Kumulation  der  Reize  zur  Erzeugung 
neuer  Vermögen  veranlaßt  werden,  darüber  hat  Beneke  nur  äußerst 
künstliche  und  ungenügende  Hypothesen  und  Erklärungen  auf- 
stellen können.  Reiz  und  Vermögen  sind  aber  in  dem  Gebilde  der 
wirklichen  Vorstellung  beweglich  miteinander  verbunden,  so  daß 
die  bewußte  Vorstellung  wieder  in  die  beiden  Faktoren  auseinander 
und  diese  in  andere  Vermögen  hinüber  fließen  können.  Dadurch 
verwandelt  sich  das  Gebilde  in  eine  »Spur«  oder  »Angelegtheit«, 
welche  bei  neuer  Reizung  wieder  zum  Gebilde  werden  kann  und 
dann  ein  stärkerer  Trieb  als  zuvor  geworden  ist.  Endlich  besitzen 
die  Vorstellungen  die  Fähigkeit,  nach  dem  Maße  der  Gleichheit 
ihres  Inhaltes  sich  anzuziehen  und  eine  engere  Verbindung  mit- 
einander anzustreben.  Aus  diesen  vier  Vorgängen,  der  Entstehung 
von  Vorstellungen  durch  Reize,  der  Erwerbung  neuer  Ver- 
mögen, der  Reproduktion  und  der  Assoziation  muß  der  gesamte 


■>  ^ 


426  Beneke. 

Vorstellungsverlauf   bis    in   alle    seine  Verzweigungen  hinein    er- 
klärt werden. 

Auch  darin  ist  nun  Beneke  mit  Herbart  einig,  daßjdie  Vor- 
stellung in  ihrer  Bedingtheit  durch  Eeiz  und  Vermögen  das 
Grundgebilde  des  psychischen  Lebens  ausmacht,  und  daß  alle 
übrigen  »Bildungsformen«  der  Seele  nur  auf  die  verschiedenen 
Verhältnisse  der  Vorstellungen  zurückgeführt  werden  sollen,  Ist 
der  Keiz  dem  Triebe  gegenüber  zu  schwach,  so  entsteht  das  mit 
dem  Unlustgefühl  verknüpfte  Begehren  nach  voller  Erfüllung  des 
Triebes.  Genügt  er  dem  Reize,  und  geht  er  zugleich  ganz  darin 
auf,  so  entsteht  das  deutliche  Wahrnehmen,  die  interesselose,  reine 
Vorstellung.  Besitzt  der  Reiz  einen  Überschuß  über  das  vom  Ver- 
mögen Verlangte,  so  entsteht  das  Lustgefühl.  Steigert  er  sich  je- 
doch bis  zum  Übermaß,  so  entsteht  das  Gefühl  der  Abstumpfung 
und  des  Überdrusses.  Und  tritt  endlich  ein  solches  Übermaß 
plötzlich  ein,  so  entsteht  das  Schmerzgefühl. 

Die  zahlreichen  sorgfältigen  Beobachtungen  und  feinsinnigen 
Analysen,  die  in  diese  Theorien  eingeflochten  sind,  gehören  mehr 
der  empirischen  Psychologie  als  der  allgemeinen  Philosophie  an. 
Das  prinzipielle  Interesse  an  der  Sache  liegt  darin,  daß  Beneke 
den  Versuch  macht,  auf  empirischem  Wege  eine  Entwicklungs- 
geschichte des  Seelenlebens  zu  geben,  welche  dessen  ganze  Aus- 
breitung aus  den  Urvermögen  und  deren  mannigfaltiger  Reaktion 
auf  die  äußeren  Reize  nach  dem  Prinzip  der  Naturgesetzlichkeit 
ableitet.  In  diesem  Grundcharakter  der  Benekeschen  Lehre  ist  es 
begründet,  daß  sie  sich  in  hohem  Grade  und  fast  noch  mehr  als 
die  Herbartsche  zur  Grundlage  für  die  Pädagogik  eignete,  die 
denn  auch  schon  Beneke  selbst  in  seiner  »Erziehungs-  und  Unter- 
richtslehre« (1835  und  1836)  und  nach  ihm  hauptsächlich  sein 
Schüler  Dreßler  ausgebaut  hat.  Schon  Beneke  kam  immer  wieder 
darauf  zurück,  daß  das  dem  Menschen  Angeborene,  die  Urvermögen 
seiner  individuellen  Seele,  verhältnismäßig  der  späteren  Lebensfülle 
gegenüber  nur  von  sehr  geringer  Ausdehnung  und  bei  den  ver- 
schiedenen Menschen  von  nur  unbedeutender  Verschiedenheit  sei 
(er  beschränkt  die  individuelle  Anlage  wesentlich  auf  die  in  der 
Intensität  der  Urvermögen  bestehenden  Temperamentsverhältnisse), 
daß  dagegen  alles,  was  man  populär  Anlage^,  Talent,  Genie  usw. 
nenne,  durch  die  Einwirkungder  Reize  auf  die  Vermögen  erworben 


Entwickluupf  des  Seolonlübens.  427 

sei,  lind  der  Grundgedanke  seiner  Pädagogik  ist  daher  der,  la  der 
Erziehung  diese  Reizwirkungen  derartig  zu  regeln,  daß  sie  zu  einer 
dem  Zweck  der  Erziehung  entsprechenden  Entwicklung,  Bereicherung 
und  Befestigung  der  Urverraögen  führen. 

Auf  diese  psychologische  Grundansicht  stützt  nun  Beneke  nicht 
nur  seine  Logik  (1842),  deren  Problem  er  in  der  Entstehung  der 
Begriffe  diu:ch  den^  Verschmelzungsprozeß  der  Vorstellungen  ^findet, 
sondern  auch  sein  »Natürliches  System  der  praktischen  Philo- 
sophie« (1837  und  1840),  das  sich  aus  der  Wertschätzung  der 
Reize  wegen  der  durch  sie  bewirkten  Steigerung  oder  Herab- 
setzung der  Vermögen  entwickelt.  Ahnlich  wie  die  englischen 
Utilisten  versucht  hier  der  Philosoph  allgemeine  Normen  für  die 
Abmessung  des  Wertes  zu  finden,  den  die  Reize  im  egoistischen 
und  altruistischen  Sinne  besitzen,  und  dabei  erscheint  als  das  mo- 
rahsch  Wertvolle  das,  was  zu  einer  Steigerung  der  menschlichen 
Natur  allgemein  geeignet  ist.  Die  richtige  Schätzung  solcher 
Werte  ist  das  sittliche  Gewissen,  das  im  Gegensatz  zu  den  niederen 
Strebungen  die  Form  des  PfUchtgefühls  annimmt. 

Das  psychologische  Fundament  trägt  endlich  bei  Beneke  auch 
eine  »Metaphysik  und  Religionsphilosophie«  (1840).  Dieser  Auf- 
bau ist  aber  nur  durch  das  Prinzip  der  analogen  Deutung  mög- 
lich, welche  die  Ergebnisse  der  Selbsterkenntnis  auf  die  äußere 
Welt  überträgt.  Eine  ursprüngliche  und  absolute  Gewißheit  gibt 
eben  nach  Beneke  nur  die  innere  Erfahrung;  es  ist  Kants  Grund- 
fehler, auch  auf  sie  die  Phänomenalität  ausgedehnt  zu  haben,  die 
der  äußeren  Erfahrung  gegenüber  das  Richtige  ist.  Wollen  wir 
die  anderen  Dinge  erkennen,  so  bleibt  uns  nur  übrige  von  ihnen 
vorauszusetzen,  daß  sie  sich  analog  verhalten,  wie  wir  die  Vorgänge 
in  uns  selbst  erkannt  haben.  Die  Formulierung  der  Begriffe  von 
Substantialität  und  Kausalität  gestaltet  sich  danach  bei  Beneke 
nach  der  Ansicht,  die  er  vom  Wesen  und  Tun  der  Seele  hat:  die 
Substanz  ist  ein  Aggregat  von  Vermögen,  und  ihre  Tätigkeiten 
sind  die  Verwirklichungen  dieser  Vermögen  durch  Reaktion  auf  die 
von  anderen  Substanzen  ausgehenden  Reize.  Weiterhin  führte 
dieses  Prinzip  zu  der  Ansicht,  die  Beneke  als  seinen  Dpiritualismus 
bezeichnete,  daß  nämlich  in  allen,  auch  den  körperlichen  Dingen 
etwas  der  Seele  Analoges  gedacht  werden  müsse,  - —  eine  ]Mona- 
dologie  ohne  prästabiüerte  Harmonie.  Schließlich,  da  unsere  Keimtnis 


428  Beneke. 

der  Außenwelt  überall  Lücken  zeigt,  müssen  wir  im  Begriffe  der 
Gottheit  die  Idee  der  Welteinheit  bilden,  deren  Kealität  wir  mehr 
glauben  und  ahnen  dürfen  als  erkennen  können. 

Mit  dieser  Übertragung  der  psychischen  Erfahrung  auf  die 
Metaphysik  spricht  der  Psychologismus  in  Beneke  das  Greheimnis 
aus,  welches,  wie  sich  zeigte,  zuletzt  auch  den  großen  meta- 
physischen Systemen  zugrunde  lag:  die  Umdeutung  der  mensch- 
lichen^Selbßterkenntnis  in  "Welterkenntnis.  Und  so  ent- 
hüllt die  ganze  »Dialektik«  der  nachkantischen  Philosophie  nur 
die  tiefe  Weisheit,  welche  in  dem  Prinzip  Kants  Hegt,  daß  alle 
philosophische  Erkenntnis  nur  die  Einsicht  in  die  ^  Organisation 
der  menschlichen  Vernünftelst. 


Mit  dieser  Nachlese  endet  der  Versuch,  die  reifen  Garben  zu 
binden,  in  welche  die  Kantische  Saat  aufgeschossen  ist.  Nach 
jener  großen  Zeit  sind  über  die  deutsche  Philosophie  Herbst  und 
Winter  hereingebrochen.  Die  schöpferische  Überkraft,  aus  der 
System  auf  System  quoll,  war  versiegt,  und  auf  den  Eausch  der 
Spekulation  folgte  die  Ernüchterung.  Es  kam  hinzu,  daß  die 
Nebel  der  Bestaurationszeit  über  Europa  und  am  dichtesten  über 
Deutschland  lagerten.  Und  als  dann  diese  trübe  Atmosphäre  sich 
zu  lichten  begann,  als  es  wieder  frischer  und  reger  wurde,  da 
war  —  wenige  Träger  der  großen  Tradition  ausgenommen  —  die 
Verbindung  des  philosophischen  Gedankens  mit  der  universali- 
stischen Bildung  verloren  gegangen,  die  das  Geheimnis  jener  Blüte- 
zeit ausmachte.  Die  Zeiten  haben  sich  schnell  geändert.  Zweifellos 
ist  dem  Gesamtwissen  jener  Zeit  das  der  Gegenwart  weit  über- 
legen: aber  dafür  zersphttert  es  sich  jetzt  in  die  einzelnen  Köpfe 
und  Tätigkeiten,  und  das  Individuum,  unfähig  seine  Bildung  aus 
dem  Ganzen  herauszuarbeiten,  muß  sich  für  die  Einseitigkeit  seiner 
Berufsarbeit  meist  durch  einen  eitlen  Dilettantismus  entschädigen, 
der  von  allem  kostet,  um  sich  von  nichts  zu  nähren.  Zweifellos 
sind  wir  politisch  reifer  und  den  Aufgaben  der  äußeren  Existenz 
weit  gewachsener  geworden:  aber  in  der  Not  des  Kampfes  fehlt 
uns  der  Friede,  uns  seiner  Früchte  zu  freuen,  und  mit  Neid 
müssen   wir  auf  jene  Zeit  zurückschauen,   der  es  vergönnt  war, 


Schluß.  429 

mitten  aus  einer  gewaltij];ei\  Schöpfertäligkeit  lieraus  ihren  gcintigen 
Gehalt  in  schöner  Harmonie  zu  genießen.  In  der  Hast  des  mfxlernen 
Lebens  ist  keine  Zeit  für  die  »interesseloHC  Betrachtung«,  und  in 
dem  Geschiebe  uaseres  sozialen  Median ismus  ist  kein  Raum  für 
den  »Spieltrieb«.  Wem  das  Leben  nicht  in  die  Jagd  nach  der 
Lust,  wie  immer  er  sie  nenne,  aufgeht,  dem  ist  es  zu  ernster 
Arbeit  geworden,  und  nur  an  dem  fernen  Horizonte  der  Erinnerung 
und  der  Sehnsucht  erscheint  das  Bild  jener  goldenen  Tage,  in 
denen  auch  bei  uns,  wie  einst  in  Hellas,  die  Wahrheit  mit  dem 
Lichte  der  Schönheit  strahlte. 


Kegister. 


Abicht  197. 
Aenesidemus-  Schulze 

203  ff. 
Ahrens  299. 
Ammon  198. 
Ast  296. 

Baader  367. 
Bardili  318. 
Beck  220. 
Beneke  423  ff. 
Berger  319. 
Born  197. 
Bouterwek  421. 
Burdach  262. 

Calker  420. 
Carus  260  f. 

Dreßler  426. 

Eberhard  193. 
Eschenmayer  365. 

Feder  191.  193. 
Feuerbach,  Ans.  197. 
— ,  Ludw.  389  ff. 
Fichte,J.G.210ff.301ff. 
Flatt  193.  204. 
Forberg  212.  242. 
Fries  417  ff. 

Garve  191. 
Gesenius  198. 
Goethe  249. 

Halbkantianer  198. 
Hamann  194. 
Hardenberg  259.  278. 
Hartenstein  397. 
Hegel  320  ff. 
Herbart  396  ff. 


Herder  194.  297. 
Hermes  198. 
Hoffmann,  Fr.  368. 
Hölderlin  287. 
Hufeland  193. 
Hülsen  287. 
Humboldt,  AVilhelm  v. 
274  f. 

Jacob  197. 
Jacobi  195  f.  358  ff. 

Kant  1—182. 
Kantianer  197  f. 
Kielmeyer  250. 
Klein  296. 
Knapp  393. 
Knutzen  5  f. 
Koppen  364. 
Kraus  192. 
Krause  298  ff. 
Krug  421. 

Maaß  193. 
Maimon  206  ff. 
Meiners  193. 
Memel  242. 
Mendelssohn  190. 

Nicolai  190. 
Niethammer  212.  242. 
Novalis,  8.  Hardenberg. 

Oken  261.  290. 
Ouvrier  193. 

Paulus  198. 
Pölitz  197. 

Rehberg  191. 
Reinhold,  K.  L.  192. 
199  ff. 


Röhr  198. 
Rotteck  197. 

Salat  364. 

Schad  242. 

Schaumann  242. 

Schelling  242  ff.  284  ff. 
364  ff  384  ff. 

Schiller  264  ff. 

Schlegel,  Fr.  279  ff.  326. 

Schleiermacher  305  ff. 

Schlosser  197. 

Schmalz  197. 

Schmid,  Ehrh.  192. 

Schopenhauer  371  ff. 

Schubert  262. 

Schulze,  G.  E.,  s.  Aene- 
sidemus. 

— ,  Joh.  191. 

Schütz  191. 

Schwab  193.  204. 

Schweizer,  AI.  312. 

Seile  193. 

Solger  297. 

Steffens  260.  316. 

Stutzmann  296. 

Süskind  198. 

Tiedemann  203. 
Tieftrunk  198. 
Tittel  193. 
Troxler  422. 

Wagner  298. 
Weishaupt  193. 
Weiß,  Chr.  421. 
Wizenmann  368. 
Wolff,  K.  Fr.  249. 

Zachariae  197. 


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TORüNTO-5.    CANADA 


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