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DIE GESCHICHTE
i
DER
NEUEREN PHILOSOPHIE
IN IHEEM ZUSAMMENHANGE MIT
DER ALLGEMEINEN KULTUR UND DEN BESONDEREN
WISSENSCHAFTEN
DARGESTELLT VON
WILHELM WINDELBAND
PEOFESSOE IN HEIDELBERG
ZWEITER BAND
VON KANT BIS HEGEL UND HERBART
FÜNFTE, DURCHGESEHENE AUFLAGE
LEIPZIG
DRUCK UND VERLAG VON BREITKOPF & HÄRTEL
1911
DIE BLÜTEZEIT
DER
DEUTSCHEN PHILOSOPHIE
yON
WILHELM WINDELBAND
FÜNFTE, DURCHGESEHENE AUFLAGE
LEIPZIG
DRUCK UND VERLAG YON BREITKOPF & HÄRTEL
1911
MAY 2 7 1942^
Copyright 1911 by Breitkopf & Härtel, Leipzig.
Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten.
\
Aus dem Vorwort zur ersten Auflage.
Der zweite Band dieses Werkes enthält noch nicht, wie ich
ursprünglich beabsichtigte, den Abschluß. Der Grund da-
von liegt in den Schwierigkeiten, welche der noch fehlende Teil
des Gegenstandes bereitet. Nachdem ich mich überzeugt hatte,
daß noch Jahre vergehen können, ehe ich meinen Plan zu Ende
zu führen in der Lage sein werde, habe ich es jetzt vorgezogen,
denjenigen Teil, dessen Quellen mir schon lange vollständig zu Ge-
bote standen und dessen Darstellung bereits abgeschlossen war,
gesondert zu veröffentlichen. Ich glaube mich dazu um so mehr
berechtigt, als nun diese beiden Bände die Geschichte der neueren
Philosophie bis zu dem Punkte umfassen, bei welchem auch der
größere Teil der bisherigen Darstellungen abschließt und über welchen
hinaas nur skizzenhafte Umrisse der neuesten Entwicklung vorhanden
sind. Alles, was im eigentlichen Sinne »der Geschichte angehört«,
ist in diesen beiden Bänden enthalten: der dritte Band wird es mit
der historischen Darstellung derjenigen Bewegungen zu tun haben,
in denen wir noch gegenwärtig stehen.
Weiterhin fand ich eine Berechtigung zur gesonderten Heraus-
gabe dieses Bandes in dem Umstände, daß der Inhalt desselben,
die große Periode der deutschen Philosophie von Kant bis Hegel
und Herbart, ein sich gewissermaßen von selbst aus der geschicht-
lichen Bewegung heraushebendes und in sich abschließendes Ganzes
VI
Vorwort.
bildet. Je mehi' dem Bewußtsein der Gegenwart das Verständnis
für die geistige Größe verloren zu gehen droht, welche jener Zeit
trotz aller Irrtümer und Mängel der einzelnen Lehren den unver-
gänglichen Wert, der Höhepunkt des modernen Denkens zu sein,
aufprägt, um so wertvoller mußte für die historische Darstellung
die Aufgabe erscheinen, den tiefsten und bleibenden Gehalt jener
gewaltigen Entwicklung in seiner reinen Gestalt hervortreten zu
lassen.
Freiburg i. B., Mai 1880.
Inliult.
IL Teil.
Die Kantische Ptiilosophie.
Seite
§ 57. Kants Leben und Schriften 4
§ 58. Kants philosophische Entwicklung 16
§ 59. Kants theoretische Philosophie 51
§ 60. Kants praktische Philosophie 112
§ 61. Kants ästhetische Philosophie 164
IIL Teil.
Die nachkautisclie Philosophie.
L Kapitel. Die systematische Entwicklung der deutschen Philosophie
nach Kant.
§ 62. Die ersten Wirkungen der kritischen Philosophie 190
§ 63. Der ethische Idealismus (Fichte) 210
§ 64. Der physische Idealismus (Schelling und die Naturphilosophie) . 241
§ 65. Der ästhetische Idealismus (Schiller und die Romantiker) .... 262
§ 66. Der absolute Idealismus (Schellings Identitätssystem) 287
§ 67. Der religiöse Idealismus (Fichte und Schleiermacher) 301
§ 68. Der logische Idealismus (Hegel) 316
§ 69. Der Irrationalismus (Jacobi, Schelling, Schopenhauer, Feuerbach) 355
^ 70. Die kritische Metaphysik (Herbart) 394
§ 71. Der Psychologismus ^Frie3 und Beneke) 416
B
193
.VV5
§
1.
§
2.
§
3.
§
4.
§
6.
§
6.
§
7.
§
8.
§
9.
I II ll u I t.
Einleitung. snt.
Die innere Auflösung der Scholastik 3
Die Kultur der Renaissance 8
Die Erneuerung der antiken Philosophie 12
Die religiöse Reformation 25
Die deutsche Mystik 27
Die neue Rechtsphilosophie 34
Die Anfänge der Naturwissenschaft 41
Das Zeitalter der Entdeckimgen und Erfindungen 65
Die Gliederung der neueren Philosophie 59
I. Teil.
Die Yorkantische Philosophie.
I. Kapitel. Die italienische Naturphilosophie.
§ 10. Bernardino Telesio 62
§ 11. Francesco Patrizzi 65
§ 12. Giordano Bruno 68
§ 13. Tommaso Campanella 80
§ 14. Galüeo GaUlei 88
II. Kapitel. Die deutsche Philosophie im Reformationszeitalter.
§15. Die Reformation und die Philosophie 95
§ 16. Die protestantische Schulphilosophie und ihre Gegner .... 98
§ 17. Die Mystiker 103
§ 18. Valentin Weigel 108
§ 19. Jakob Böhme 111
III. Kapitel. Der englische Empirismus.
§ 20. Der erkenntnistheoretische Charakter der neueren Philosophie. 126
§ 21. Francis Bacon 130
§ 22. Thomas Hobbes 148
Inhalt.
Seite
IV. Kapitel. Der Rationalismus in Frankreich und den Niederlanden.
§ 23. Frankreich nach der Reformation 163
§ 24. Rene Descartea 166
§ 25. Die Cartesianer und die Occasionalisten 194
§ 26. Baruch Spinoza 200
§ 27. Nicole Malebranche 240
V. Kapitel. Die englische Aufklärung.
§ 28. John Locke 253
§ 29. Die Moralphilosophie 273
§ 30. Der Deismus 287
§ 31. Die mechanische Naturphilosophie 299
§ 32. Die Assoziationspsychologie 310
§ 33. Der Spiritualismus Berkeleys 318
§ 34. David Hume 330
§ 35. Die schottische Philosophie 357
VI. Kapitel. Die französische Aufklärung.
§ 36. Der Mystizismus 369
§ 37. Der Skeptizismus 373
§ 38. Die mechanische Naturphilosophie 382
§ 39. Voltaires Philosophie der deistischen Aufklärung 385
§ 40. Der Naturahsmus 393
§ 41. Der Materialismus 400
§ 42. Der Sensualismus 407
§ 43. Die Moral-, Rechts- und Gesellschaftsphilosophie 414
§ 44. Die Enzyklopädisten 420
§ 45. Das Systeme de la nature 428
§ 46. Jean Jacques Rousseau 435
VII. Kapitel. Die deutsche Aufklärung.
§ 47. Deutschland im XVII. Jahrhundert 448
§ 48. Leibniz 454
§ 49. Tschirnhaus und Thomasius 505
§ 50. Wolff und seine Schule 514
§ 51. Der Deismus 637
§ 52. Lessing 644
§ 63. Die eklektischen Methodologen 665
§ 64. Die empirische Psychologie 569
§ 65. Die Popularphilosophie 582
§ 56. Hamann und Herder 690
ÜJUMII
II. Teil.
Die Knntisc^lio IMiilosopliio.
Von mannigfaclien Ausgai\j];spunkten her hat sich das moderne
Denken entwickelt; in der ganzen Breite des europäischen
Kulturlebens angelegt, hat es alle Motive daraus zu bewußter Ge-
staltung gebracht, und wenn auch der gemeinsame Zug einer inner-
lichen Verselbständiofunff der vernünftioen Erkenntnis durch alle
diese Bewegungen hindurchgeht, so ergab sich doch von selbst,
daß, den besonderen Veranlassungen und Beziehungen entsprechend,
jede dieser Bewegungen zunächst sich selbst auslebte und in ihrer
ganzen Eigentümlichkeit ausprägte. Zwar war es dabei durch die
Natur der Sache und durch den Zusammenhang des geistigen
Lebens geboten, daß in der vielfältigsten Weise diese verschiedenen
Richtungen sich durcheinanderflochten, und daß hervorragende
Geister allerorten diese Zusammengehörigkeit durchscliauten und
befestigten. Aber es bedurfte erst jener weitschichtigen Durch-
arbeitung und jener allmählichen Ausgleichung aller dieser Ge-
dankenmassen, welche sich im Jahrhundert der Aufklärung vollzog,
ehe ein Geist erstehen konnte, der mit vollständiger Beherrschung
die innerste Struktur ihres Zusammenhan2;es in einem umfassenden
Systeme zur Klarheit und zur Darstellung brachte. Dieser Geist
ist Kant, und darin eben besteht seine historische Stellung, daß
sich in ihm alles, was an bewegenden Prinzipien das moderne
Denken vorher erfüllt hatte, zu lebendiger Einheit konzentriert,
und daß alle Fäden des modernen Denkens, nachdem sie durch
die schwierige Verschürzung seiner Lehre hindurchgegangen sind,
in durchaus veränderter Form wieder daraus hervorgehen. Die
große Gewalt, welche Kant über die philosophische Bewegung zu-
nächst seiner Zeit ausgeübt hat, liegt vielleicht am meisten iu
Windelband, Gesch. d. u. Philos. II. 1
2 Kant.
der unvergleichlichen Weite seines geistigen Horizontes und in der
Sicherheit, womit er das Nahe und das Ferne von seinem Stand-
punkt aus überall im richtigen Verhältnis zu sehen wußte. Es ist
kein Problem der neueren Philosophie, das er nicht behandelt hätte —
keines, dessen Lösung er nicht, selbst wo er es nur gelegentlich
streifte, das eigenartige Gepräge seines Geistes aufgedrückt hätte.
Aber diese Universalität ist nur der äußere Umriß und noch nicht
der Kern seiner Größe ; dieser liegt vielmehr in der bewunderungs-
würdigen Energie, mit der er die Fülle des Gedankenstoffes zur
einheitlichen Durchdringung zu bringen und zu verarbeiten ver-
mochte. Weite und Tiefe sind in seinem Geiste von gleich be-
wunderungswürdiger Größe, und sein Blick umspannt ebenso den
ganzen Umfang der menschlichen Vorstellungswelt, wie er an jedem
Punkte bis in das Innerste dringt. In dieser Paarung sonst selten
vereinter Eigenschaften liegt der Reiz, welchen die Persönlichkeit
und die Werke Kants immer ausgeübt haben, und der ihn unter
den Philosophen stets den ersten Platz einnehmen lassen wird.
Darin zeigt sich zugleich das eigentümliche Verhältnis, worin
sich Kant zum Zeitalter der Aufklärung befindet. Insofern als alle
philosophischen Bestrebungen, welche dieses erfüllen, in seiner
Lehre irgendwo ihren Platz und zugleich ihre deutlichste Formu-
lierung finden, ist er der größte Philosoph der Aufklärung selbst
und ihr allseitiger und kräftigster Repräsentant. Insofern aber als
dabei jedern dieser Gedanken sein Verhältnis zu den übrigen an-
gewiesen und so ein gänzlich neuer Zusammenhang des Ganzen
geschaffen wird, erhebt sich die Kantische Philosophie über jede
Einseitigkeit, die der Aufklärung in ihren einzelnen Richtungen
angehaftet hatte, und beginnt damit eine neue, der Aufklärung
teilweise sich entgegenstellende Periode des deutschen und in der
weiteren Wirkung des europäischen Denkens. Kants Lehre ist der
Punkt, an welchem die Entwicklungslinie der Aufklärung kulminiert
und damit aus ihrem Aufstreben in die absteigende Bahn zurück-
fallt; sie ist der Abschluß der Aufklärungsbewegung und eben des-
halb zugleich die Vollendung und die Überwindung der
Aufklärung. Sie hat diese Doppelstellung vor allem dadurch,
daß sie von dem Recht der Vernunft, die Welt mit ihrer Einsicht
zu durchdringen und das Leben danach zu gestalten, bis an die
äußerste Grenze Gebrauch macht und, indem sie sich darüber
Verhält nin zur AiifklKninj?. '.\
K(M*hoiisrliaft i^ibt, rlx'ii dios«» Grenze be^ifflich be.stiiinnt, jonneitH
(Inrii (li(^ inatioiialen Momente den Lebens ihr Reich haben.
Eine so dominiereiuleStellun«^ auf der Höhe eine« großen kultur-
historischen Prozesses kaini dw IMiilosoph nur dadurch einnehmen,
daß es ihm jjjegeben ist, mit schöpferischer Or^^anisation die Ide^^n
der Zeit zu einem geschh)ssenen Ganzen zu «gestalten, und diese
organisierende Kraft ist nirgends anders als in einem groK'en Prinzip
zu suchen, auf welches der ganze Reiclitum des Zeitinhaltes be-
zogen und von dem aus er in ein neues Licht gestellt wird. Sucht
man dieses Prinzip bei Kant, so stößt man auf die erstaunliclie
Tatsache, daß es nicht in einem theoretischen Grundgedanken zu
finden ist. Solange man sich auf dem Felde der Ideen umsieht
und in dem Reiche der begrifflichen Lehren bleibt, trifft man das
Prinzip der Kantischen Philosophie nicht. Es ist keine zentrale
Erkenntnis, von der aus das Licht auf alle Teile der Kantischen
Philosophie gleichmäßig fiele. Wer da etwa eine Kantische Lehre
herausheben und meinen wollte, daß das ganze übrige System sich
aus ihrer Entwicklung, aus ihrer Anwendung auf die verschiedenen
Probleme mit logischer Notwendigkeit ergeben habe (wie das so
oft bei anderen Philosophen der Fall ist), der würde seine Er-
wartung getäuscht finden. Einen derartigen Hauptschlüssel, um
alle Türen des weitläufigen Gebäudes der Kantischen Philosophie
aufzuschließen, gibt es nicht. Die zentralisierende und organi-
sierende Kraft dieses Systems liegt nicht in einem abstrakten
Gedanken, sondern in einer lebendigen Überzeugung seines Ur-
hebers. Es ist der unerschütterliche Glaube an die Macht der
Vernunft, welcher die gesamte Kantische Philosophie belebt und
durchwärmt, und dieser Glaube ist nicht etwa eine erkenntnis-
theoretische Ansicht, sondern er überschreitet von vornherein den
Kreis der theoretischen Funktion und nimmt seine Stellung in
der sittlichen Vernunft der menschlichen Gattung. Von
diesem Mittelpunkt aus, welcher nicht derjenige eines rein theo-
retischen Gedankens, sondern derjenige einer persönlichen ÜT)er-
zeugung war, muß man die Kantische Lehre bis in ihre Einzel-
heiten betrachten, um sie ganz zu verstehen und zu würdigen.
Und das ist auch sein wahres Verhältnis zur Aufklärung. Er teilt
mit ihr das Bestreben, im ganzen Umkreis der Dinge, der
menschlichen und der außermenschlichen, allüberall der Vernunft
1*
4 Kants Leben und Schriften.
ihr Recht zu wahren und ihre Herrschaft zu sichern; aber er über-
windet ihre trockene und kühle Verständigkeit, indem er das tiefste
Wesen dieser Vernunft statt in theoretischen Sätzen vielmehr in
der Energie der sittlichen Überzeugung sucht. So zieht mit ihm
in die deutsche Philosophie die gefühlswarme Macht der persön-
lichen Überzeugung ein. Und dieser Bund des klaren Denkens
mit dem überzeugungsvollen Wollen ist zum bestimmenden Charakter
für die von Kant zunächst abhängige Entwicklung der Philosophie
geworden.
Den Mittelpunkt also von Kants Philosophie bildet seine Per-
sönlichkeit. Wenn irgend einer unter den großen Denkern, so ist
er der lebendige Beweis davon, daß die Geschichte der Philosophie
nicht ein webstuhlartiges Abspinnen abstrakter ideeller Notwendig-
keiten, sondern ein Ringen denkender Menschen ist, und daß wir
in jedem bedeutenden Systeme die weltbewegenden Gedanken-
mächte in einer individuellen Konzentration vor uns haben. Unter
allen Systemen der neueren Philosophie ist keines, das diese so in
nuce darstellte, das ein so vollkommenes Bild des modernen Denkens
gäbe, wie das Kantische; darum erfordert es eine selbständigere
und ausführlichere Behandlung als alle anderen. Wenn aber der
Mittelpunkt dieses Systems in der Persönlichkeit seines Schöpfers
liegt, so ist es in diesem Falle mehr denn sonst erforderlich, den
Mann zu kennen, ehe man an die Betrachtung seiner Lehre geht.
§ 57. Kants Leben und Schriften.
Einsamkeit ist das Geschick der Größe. Davon hat selten eines
großen Mannes Leben so vollgültiges Zeugnis abgelegt, wie das-
jenige Kants. An der äußersten Peripherie deutschen Kulturlebens
geboren und in dem engen Kreise des heimatlichen Daseins bis an
den Schluß seines Lebens festgehalten, hat er niemals das Glück
kennen gelernt, das in der Berührung ebenbürtiger Geister dem
Genie entspringt. Er hat nicht einmal als Schüler zu den Füßen
eines bedeutenden Menschen gesessen, und von den persönlichen
Anregungen, die er in seiner Entwicklung erfuhr, ist keine, die
ihn in seiner wahren Bedeutung unmittelbar gefördert hätte. Um
so riesenhafter ragt er aus dieser Umgebung heraus ; was er ge-
worden, verdankt er im wesentlichen sich selbst. Sogar da, wo
der Einfluß der großen Philosophen, deren Werke er kennen lernte,
Hohulo und UnivcrNitllt. 5
eines licibniz und Hiimo, In'stiinrrvMul in seine innere Tiaufhahn
eingreift, S()«^ur du z(M<4t(lie Hclbstiindij^'c Vorhercitimg H«'in<*M (JcÜHtes
für diesen Kinfliiß und dessen V(Marl)eitun;^ und l^ni^^estaltung bei
weitem gWißere Dimensionen als dieser Kinfbiß selbst. Und yo
ist e8 der frische Hauch der Ursprünglichkeit, welcher üIxt der
Kantischen (Gedankenwelt schwebt. Aus seiner Pjinsanikeit Reraus
erzeugt er in origineller Form die (ledanken, welche die Zeit
bewegen, von neuem und liefert den Beweis, daß man die Welt
kennen kann, oline sie gesehen zu haben, — wenn man sie in
sich trägt.
Als der Sohn einer bescheidenen Handwerkerfamilic, die sicli
aus schottischer Abkunft herleitete, war Immanuel Kant am 22. April
1724 zu Königsberg in Preußen geboren. Unter den Jugendeinflüssen,
die für sein gesamtes Leben bestimmend geblieben sind, ivSt der
seiner Mutter hervorzuheben, die in frommer Gläubigkeit der
pietistischen Richtung der Zeit ergeben war, jener Richtung, welche
als leiser Ausklang der deutschen Mystik in der Verinnerlichung
und sittlichen Betätigung des Glaubens das Wesentliche des religiösen
Lebens suchte. Ihr Hauptvertreter war damals in Königsberg
der Professor F. A. Schultz, und dessen persönliche Bekanntschaft
mit der Familie vermittelte es, daß der junge Kant in das von ihm
geleitete Collegium Fridericianum eintrat, um die gelehrte Laufbahn
zu eroreifen. Es war eine strenge Schule der klassischen Bilduno:
und der sittlich-religiösen Erziehung, die der Philosoph hier durch-
zumachen hatte, und sie gab seinem Geiste jenen reinen Ernst,
jene großartige Kraft der Selbstbeherrschung, welche ihm den
antiken Charakter einfacher und edler Größe aufprägt. Frühe
gelehrt, das wahre Glück im Innern zu suchen, hat Kant auch
auf dem Gipfel des Ruhms niemals die Bescheidenheit verlernt und
niemals die Äußerlichkeit gelernt, imd von Jugend auf gewöhnt,
in dieser inneren Arbeit die Wahrheit gegen sich selbst für das
Höchste zu achten, hat er sein ganzes Leben in den Dienst der
Wahrhaftigkeit gestellt — jener Wahrhaftigkeit gegen sieh selbst
und andere, welche der einzige Weg ist zur Wahrheit.
Als er im Jahre 1740 die Universität seiner Vaterstadt bezog,
um dem W^unsche seiner Mutter gemäß Theologie zu studieren,
fand er dort vielscitiQ;e imd lebendige Anresjunsf. In dem allgemein-
wissenschaftlichen Vorstudium trat er zunächst der Philosophie
6 Kants Leben und Schriften.
nahe. Sein Lehrer Martin Knutzen war einer der besseren
Vertreter der Wolffschen Schulphilosophie und erfreute sich
auch über Königsberg hinaus einer angesehenen Stellung inner-
halb der Schule. In dieser war nämlich — ein Sturm in einem Glase
Wasser — ein sehr lebhaft geführter Streit über den Begriff der
prästabi Herten Harmonie entstanden, an welchem Wolff nicht im-
stande gewesen war, dem kühnen Gedankenfluge seines Meisters
Leibniz zu folgen. Aus den Schriften, mit denen Knutzen diese
Frage gewissermaßen zum Abschluß brachte, läßt sich ersehen,
daß er, nicht ohne Selbständigkeit des Denkens und mit vöUiger
Beherrschung des Leibniz -Wolffschen Gedankenmaterials, wohl-
geeignet gewesen sein muß, den jungen Kant in den Zustand der
damaligen Schulphilosophie einzuführen, und dabei war es von
besonderem Werte, daß er, obwohl er in jener Streitfrage sich
wesentlich auf Wolffs Seite stellte, doch im ganzen nicht bei
diesem stehen blieb, sondern offenbar auch seine Schüler darauf
hingewiesen hat, bei Leibniz selbst die Quelle der philosophischen
Erkenntnis zu suchen. ■ Neben den philosophischen waren für
Kant hauptsächlich die naturwissenschaftlichen Studien wichtig,
die ihn schon damals sehr lebhaft in Anspruch nahmen, und
denen er einen so großen Teil seiner späteren Bedeutung ver-
danken sollte. In dieser Hinsicht war es eine sehr glückliche
Fügung, daß er sich früh von dem Professor der Physik, Teske,
in die Newton sehe Weltauffassung eingeführt sah. So kam in
Kant ein wichtiger Antagonismus zustande, der sich lange durch
sein Denken hindurchgezogen hat. Die beiden großen Männer,
welche bei Lebzeiten in so leidenschaftlichem Kriege gelebt hatten,
setzten diesen Kampf in dem Geiste des größeren Schülers fort,
und die philosophische Entwicklung Kants zeigt sich in ihrer
ersten Phase durch den Gegensatz Leibnizischer Metaphysik und
Newtonscher Naturphilosophie bedingt. Um so fester aber gestaltete
sich in ihm die Überzeugung, welche beiden gemeinsam war, und
welche zugleich der Richtung seines Fachstudiums entsprach. In
sehr verschiedener Form hatten Leibniz und Newton die Aner-
kennung des kausalen Mechanismus des Weltgeschehens einer
teleologischen Grundüberzeugung eingefügt und durch das Mittel-
glied des physiko- theologischen Beweises für das Dasein Gottes
die Versöhnung zwischen der Philosophie und der religiösen Über-
AUgoineino Naturpfoschic^lito. 7
zcunun«; «^osiiclit. Das war dci- riiiikt, an dem sich hei Kant zii-
närhst allcKinllüssc seiner .)u<^i'n(l('rzieliun,n und Heijic.sukadtMiiischeii
Studiums krenzlen, und dn- desludl) fiir ilm zum Kernjjunkte seiner
persönlichen Überzeugung; wurtle.
(Jc»i;cn diese philosophische und naturwisscmschaftliche Vernutt-
lum; trat offenbar im Jjaufe der Zeit die doi^matisch-thcologTsche
Ausprägung des religiösen Glaubens fiir das Interesse Kants mehr
und melir zurück. Äußere Verhältnisse mögen hinzugetreten
sein, — er verzichtete auf die theologische Laufbahn und verließ
ITK) die Universität mit der festen Absicht, sich dem akademischen
Lehramte zu widmen und zur pekuniären Vorbereitung dafür sich
den Lasten des Hauslehrertums zu unterziehen. Neun Jahre lang
hat er diese Pflichten mit treuer Hingabe, aber, wie er selbst
sagt, mit geringem pädagogischen Erfolg erfüllt, zuletzt in der
Familie des Grafen Keyserlingk, die seine geistige Bedeutmig und
seine persönliche Liebenswürdigkeit zu schätzen wußte und auch
später mit ihm in den freundschaftlichsten Beziehungen geblieben
ist. Rastlos hat er diese Zeit zur Erweiterung seiner eigenen
Studien benutzt und besonders auf dem naturwissenschaftlichen
Gebiete sich vollständig auf die Höhe der Zeit gestellt. Es schien
im Anfange fast, als wollte Kants Geist völlig in die Natur-
forschuno- aufgehen. Vor dem Antritt seiner ersten Hauslehrer-
stelle schrieb er sein erstes Werk »Gedanken von der wahren
Schätzung; der lebendiofen Kräfte«, welches in einer zwischen den
Anhängern von Descartes und denjenigen von Leibniz vielfach
verhandelten Streitfrage der mathematischen Naturphilosophie
mit Sicherheit und Bescheidenheit eine originelle kritische Stellung
nahm, und am Schlüsse seiner Hauslehrertätigkeit veröffentlichte
er ein Buch, welches in der Tat den Beweis lieferte, daß er ein
großer Naturforscher war.
Die »Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels«
o o
(1755) ist eins von den Werken, die in der Geschichte der mensch-
lichen Weltauffassung unvergessen bleiben werden. Es enthält den-
jenigen Ausbau der Newtonschen Gravitationstheorie, welcher in
seinen Grundzügen noch von der gegenwärtigen Astrophysik der
Theorie der Himmelserscheinmigen zugrunde gelegt wird und
unter dem Namen der Kant-Laplaceschen Hypothese allgemeiner
bekannt ist. Kant geht mit der in diesem Werke vorgelegten
8 Kants Leben und Schriften.
Auffassung; über die Newtonsche Himmelsmechanik in einer Rieh-
tuner hinaus, die auch von andern Forschern seiner Zeit, insbesondere
von dem Engländer Wright eingeschlagen worden war. Die neue
Vorstellungsweise betraf dabei zwei Hauptpunkte. Zunächst bildete
die Betrachtung der Milchstraße den Anlaß dazu, ein analoges
Verhältnis, wie es in der Gruppierimg und Bewegung der Planeten
unseres Sonnensystems besteht, für all jene in annähernd der gleichen
Ebene erscheinenden Fixsterne anzunehmen und so auch die Sonnen
miteinander in eine durch die Gravitationsgesetze bestimmte Be-
wegung treten zu lassen. Wenn auch die Einzelheiten dieses von
Kant ausgeführten Analogieschlusses, namentlich was die Gestalt
der Milchstraße anbetrifft, von der neueren Forschung anders auf-
gefaßt werden, so ist doch jenes Prinzip bisher die einzige Möglich-
keit, uns in dem unendlichen Räume zu orientieren und die Be-
wegung der Sterne gesetzmäßig zu verstehen. Der andere Schritt
der Kantischen Hypothese führt in die Vergangenheit des Planeten-
systems zurück. Den Anfang der harmonischen Bewegung, deren
mathematische Gesetze Newton aus dem Prinzip der Gravitation
erklärt hatte, vermochte dieser selbst nur auf einen unbegreifhchen
Anstoß, auf einen göttlichen Bewegungsakt zurückzuführen. In
dieser Hinsicht entwickelte nun Kant, gestützt auf die Fortschritte,
welche Chemie und Physik hauptsächlich in bezug auf die Theorie
der Gase inzwischen gemacht hatten, die Lehre von dem ursprüng-
lichen Gasball, aus dessen rotierender Bewegung sich nach rein
mechanischen Gesetzen einer nach dem andern von den kleineren
Bällen habe ablösen müssen, die nun mit erkalteter Rinde, immer
(noch der allgemeinen Bewegung folgend, die Planeten darstellen.
Die Grundzüge dieser Anschauung sind zu sehr ein Gemeingut
unserer Bildung geworden, als daß es erforderlich wäre, im besonderen
hier auszuführen, wie Kant von dieser Annahme aus die einzelnen
Verhältnisse der Größe, der Dichtigkeit, der Entfernung der Planeten
sowie ihrer Trabanten auf rein mechanischem Weoe ableitete und so
sein stolzes Wort bewahrheitete: »Gebt mir Materie, und ich will
euch eine Welt daraus bauen.« Nichts weiter als die beiden
Grundkräfte der Attraktion und der Repulsion, aus denen sich
für ihn schon zu dieser Zeit das Wesen der Materie konstituiert,
ist nötig, um den ganzen Zusammenhang der planetarischen Be-
wegungen begreiflich erscheinen zu lassen. Und wenn nun auch
AHtropliysik. 9
hierin die llypothoMt^ von miscn^iii SonnenRystcm auf duH Uni-
vcrHurn aus^cdclml wird, wi'iiii j<M»or rotierende (iii.sl)all helbnl
t?eh()n wieder als der Ausfluß eines ;»röüeren erscheint, so ist
damit eine <^r()üarti«^(^ VoUendun;^ ch'r njechanisehen Welt(;rkhirun^
gewonnen, wehhe zu«;leieh das liehen der Weltkörper nicht als ein
stets sich i^deic]d)leihendes, sondern vielmehr als einen historischen
Prozeß betrachtet. Wenn wir heute j^^ewühnt sind, von einer
solchen Entwicklung des Universums zu sprechen, ho darf man
auch sagen, daß Kants Hypothese die astrophysische Grundlage
dafür geschaffen hat. Denn er geht weiterhin dem Gedanken
nach, daß die Planetensysteme so, wie sie einst aus ihren Sonnen
hervorgegangen sind, vermöge der allmählichen Verlangsamung
ihrer zentrifugalen Bewegungstendenz dereinst wieder in den
heimatlichen Gasball zurückstürzen müssen; er stellt die Be-
trachtung an, daß vermutlich die verschiedenen Sonnensysteme in
sehr verschiedenen Lebensaltern stehen, und daß so das Universum
eine unendliche Mannigfaltigkeit von verschiedenen Lebenserschei-
nungen zugleich darbiete, und er knüpft daran schließlich Phan-
tasien über die Bewohner anderer Welten und Weltsysteme. Aber
gerade dieses volle Ausdenken des Prinzips der mechanischen
Welterklärung führt nun Kant zu einer vertieften Darstellung
des physiko-theologischen Beweises für das Dasein Gottes. Gerade
wenn es Tatsache ist, daß die Natur auch aus dem Chaos wirbelnder
Gase nach den ihr einmal innewohnenden Gesetzen zum Ausbau
der harmonischen Systeme des Gestirnlaufes kommen muß, so zeigt
sich eben darin, daß sie mit dieser ihrer Gesetzmäßigkeit in einer
höchsten Intelligenz ihren Ursprung haben müsse. So übernimmt
Kant das von der Analogie der Maschinen hergenommene Argument,
um dessen bisherige Benutzung noch zu überbieten und die
mechanische Welterklärung bis an die letzte Grenze zu verfolgen.
Und doch ließ auch er noch einen Punkt übrig, an dem das
Prinzip der mechanischen Weltbetrachtung versagte. Seine gesamte
Erklärung galt nur der unorganischen Natur, und es entsprach
der damaligen Stellung der empirischen Wissenschaft, wenn er
behauptete, die Hypothese, welche für die Erklärung der Sonnen
und der Planeten ausreiche, müsse scheitern am Grashalm und
an der Raupe. Der Organismus ist für ihn schon an dieser Stelle
der Grenzbegriff der mechanischen Naturerklärung.
J^Q Kants Leben und Schriften.
Die unzweifelhafte Größe, welche Kant als Naturforscher be-
sitzt, ist gewiß mit die bedeutsamste Grundlage seiner philo-
sophischen Größe. Aber die in jenem Werke niedergelegte Lehre
charakterisiert ihn doch mehr persönhch, als daß sie mit seiner
späteren Philosophie in unmittelbar notwendigem Zusammenhange
stünde. Das gleiche gilt von den zahlreichen kleineren natur-
wissenschaftlichen Abl&ndlungen, die er vorher und nachher ver-
öffentlicht hat. Erst allmählich kommt in seiner schriftstellerischen
Tätigkeit das philosophische Moment in den Vordergrund zu
stehen. Noch seine Promotionsschrift (1755) war eine Abhandlung
über das Feuer, welche sich in einer gleichfalls modernen Theorien
vorgreifenden Weise mit der Lehre von den Imponderabihen be-
schäftigte und in ihnen den gemeinsamen Ursprung der Wärme,
des Lichts, aber freilich auch der Erscheinungen der Elastizität
suchte. Selbstverständlich war die Naturphilosophie, das Gebiet
des Überganges von der Naturforschung zur Philosophie, um diese
Zeit für ihn von besonderem Interesse. Nachdem er sich im
Herbst 1755 mit einer Schrift über die Prinzipien der metaphysischen
Erkenntnis (Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova
dilucidatio) bei der philosophischen Fakultät der heimischen Uni-
versität habilitiert hatte, gab er im folgenden Frühjahr ein natur-
philosophisches Programm, seine »Physische Monadologie«, heraus,
welche hauptsächhch die verschiedene Stellung der Mathematik
und der Metaphysik zum Problem des Raumes behandelte und
in dieser Hinsicht zwei Jahre später durch einen kleinen Aufsatz
»Neuer Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe« ergänzt wurde.
Wurde Kant nun auch in seiner Ilaupttätigkeit Dozent der
Philosophie, so hat er doch bis in sein spätestes Alter stets das
re*Tste Interesse für naturwissenschaftliche Gegenstände besessen
und bezeugt. Noch das letzte, unvollendete Manuskript seines
Alters, das erst in neuester Zeit veröffentlicht wurde und für seine
Philosophie freilich irrelevant ist, behandelte den Ȇbergang von
der Metaphysik zur Physik«. In seiner akademischen Lehre war
es namentlich die physische Geographie, über welche er von Zeit
zu Zeit seine besuchtesten Vorlesungen hielt. Außer der Klarheit
der wissenschaftlichen Grundlegung wurden dabei die Zuhörer,
welche sich aus allen Ständen in diesen Vorlesungen zusammen-
fanden, durch die Anschaulichkeit in seiner Schilderung von Land
VorkritiHcho Al)lmn(llutij(r'n. 1 1
inul Leuten anj^ezo^^^en. Wiihreiul er selbst die Mauern seiner
Vatoi'staclt nie nielir als um eini<;e Meilen überschritt, hatte er
durch die Lektüre von Keisebeschreibunf^en und durch die scharfe
licobachtuni; seiner nächsten Uin^ebun;' eine so feine und aus-
gebreitete Welt- und Menschenkenntnis erworben, daß auch seine
Vorlesungen über pragmatische Anthropologie (unen gesuchten' (ie-
nuß zahlreicher Zuliörer bildeten. In dieser Hinsicht war er ein
Weltweiser im antiken Sinne des Wortes, und seine Mitbürger
schätzten ihn gerade Tils solchen derartig, daß sie bei Gelegenheiten,
wie dem Erdbeben von Lissabon oder dem Auftreten abenteuer-
licher Menschen, von ihm Belehrung erwarteten und durch kleine
Schriften und Aufsätze erhielten. Dahin gehören die zwei Be-
trachtungen über das Erdbeben von Lissabon (175G), der »Versuch
über den Optimismus« (1759), das »Räsonnement über den Aben-
teurer Komarnicki« (17G4), der »Versuch über die Krankheiten des
Kopfes« (17G4), schUeßHch auch in gewissem Sinne die »Träume
eines Geistersehers erläutert durch Träume der Metaphysik«
(1766).
Durch diese stetige Fühlung mit der Erfahrung hielt sich Kant
von dem Schulpedantismus frei, dem die meisten seiner Fach-
genossen um diese Zeit in Deutschland verfielen. Seine Sprache
in diesen Essays ist fein, beweglich, frisch und zum großen Teil
sehr witzig. Es sind Essays im englischen Genre, und es ist des-
halb wohl zu bemerken, daß Kant gerade in diesen Jahren sich
vielfach und eingehend mit der englischen Literatur beschäftigte
und seine Zuhörer mündlich und schriftlich darauf ebenso hinwies,
wie auf den von ihm bewunderten Rousseau. Selbst die spezifisch
philosophischen Schriften, welche diesem Zeitraum entstammen,
zeigen dieselben Eigentümlichkeiten und dasselbe Bestreben, sich
von der Schulsprache nicht minder frei zu machen, als von der
Schulmeinung. »Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen
Figuren« (1762), der »Versuch, den Begriff der negativen Größen
in die Weltweisheit einzuführen« (1763), »Der einzig mögliche Be-
weisgrund für das Dasein Gottes« (1763), die »Untersuchung über
die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und
Moral« (1764), der moralisch - ästhetische Essay »Beobachtungen
über das Gefühl des Schönen und Erhabenen« (1764), diese in
rascher Folge geschriebenen und erschienenen Abhandlungen sind
12 Kants Leben und Schriften.
ebenso viele Beweise für die Selbstbefreiung des Kantiscben Geistes
aus den Fesseln der herkömmlichen Denk- und Schreibweise.
Inzwischen ging es mit der akademischen Laufbahn des inner-
halb und außerhalb Königsbergs schon so hochgeachteten Mannes
außerordentlich ungünstig vorwärts. Die erste frei werdende Pro-
fessur wurde durch den 1758 in Königsberg regierenden russischen
General anderweitig besetzt. Eine Professur der Dichtkunst, die
man ihm 1762 antrug, lehnte der Philosoph ab, und die im folgenden
Jahre errungene Stellung eines schwach dotierten Unterbibliothekars
^ /• . konnte doch dafür nur geringen Ersatz bieten. Erst das Jahr 1770
brachte ihm gleichzeitig Berufungen nach Erlangen und Jena,
deren Befolgung indes durch seine Ernennung zum Professor in
Königsberg selbst vorgebeugt wurde. Mit der Schrift »De mundi
sensibilis atque intelligibilis forma et principiis<< inaugurierte er
nicht nur diese seine Professur, sondern in gewissem Sinne auch
seine neue Philosophie, die inzwischen heranreifte, und damit ein
neues Zeitalter des philosophischen Denkens.
Die großen geistigen Veränderungen, die während der zweiten
Hälfte des siebenten Jahrzehnts in dem Philosophen vorgingen, be-
trafen auch, wenn nicht seinen Charakter, so doch seine äußere
Art sich zu geben und jedenfalls die Darstellungsweise seiner
Schriften. Der leichte, elegante Fluß seiner Eede erscheint ge-
hemmt; ihre Frische und AnschauHchkeit, ihr sprühender Humor
weichen einer trockenen Sachlichkeit, einer umständlichen Breite,
einer sorgsam abwägenden, vielfach sich selbst wieder einschränken-
den, die Sätze ineinanderschachtelnden Sprache, aus der nur hier
imd da ein wuchtiger Ausdruck voll Pathos und Würde durch-
bricht. Ebenso aber ist um jene Zeit in Kants Wesen ein strenger
und herber Ernst, eine rigorose Lebensauffassung zum Durchbruch
gekommen: aus dem geistreichen Dozenten, der sich leicht und
gern in der Gesellschaft bewegt hatte, ist ein einsam grübelnder
Professor geworden. Von hier an ist sein ganzes Leben der Aus-
bildung und der akademischen Lehre seines eigenen Systems ge-
widmet geblieben. Auch einem Rufe nach Halle im Jahre 1778
widerstand er und blieb bis an sein Lebensende in Königsberg.
Seine Vorlesungen mit ihrer anregenden Kraft, mit ihrem Bestreben,
statt des toten dogmatischen Vortrages den Zwang des Selbst-
denkens auf den Zuhörer auszuüben, waren bald weithin berühmt,
Ohfirnktpr. 13
und in Stadt und Universität war or eine p;efcierte Perscinlichkeit.
Es ist ein Eindruck stiller, j^danzloser Gniße, mit dem die letzten
Jahrzehnte von Kants Leben unwillkürlich ergreifen. Die bewußte
Grundsiitzliclikeit seiner Lebensein richtunfif und Ijebenseinteilung,
welche ein Ausfluß seines wunderbar hohen Pflichtbewußtseins war,
ermöglichte es ihm, die Riesenarbeit seiner philosophischen Werke
und die treue Erfüllung seiner akademischen Pflichten mit einer
in enge Grenzen gezogenen beliaglichen Geselligkeit zu verbinden.
Nie verheiratet, schätzte er den Genuß der Freundschaft sehr hoch
und suchte ihn bezeichnenderweise weniger bei seinen Berufsgenossen
als in anderen Ständen. Er behielt gerade dadurch die Fühlung
mit dem praktischen Leben und den Sinn für die Wirklichkeit, der
sich in seinem Charakter und in seinen Schriften so merkwürdig
mit dem Grübelsinn des Philosophen verbindet. Die hohe Liebens-
würdigkeit, welche er in diesem geselhgen Verkehr entwickelte, ^
fand ihre Grenze nur da, wo entweder das Bewußtsein seiner Pflicht
und seiner gewaltigen Lebensaufgabe oder aber jene pedantische
Eigensinnigkeit .) ein trat, die sich allmählich, wie die Züge des
Menschen durch das Alter eckiger und steifer werden, als die Kehr-
seite jener Tugenden bei ihm einstellte, und von der sich zahlreiche
Anekdoten erhalten haben. Eine bewunderungswürdige Konsequenz, '
eine großartige Selbstbeherrschung, eine absolute Unterwerfung
seiner Lebenstätigkeit unter die erfaßten Ziele, ein eisernes Fest-
halten an dem erkannten Gehalte des eigenen Lebens, alle diese
Züge machen Kant zu einem Charakter, der so gewaltig war wie
sein Geist. Auch er ist ein Bew^eis davon, daß es keine wahre
Größe der geistigen Kraft gibt ohne diejenige des Willens.
In diesem stillen Abfluß seines innerlich so tief bewegten
Lebens wurde Kant nur einmal gestört, als nach dem Tode des
großen Königs, dem er in aufrichtiger Bewunderung die »Natur-
geschichte des Himmels« gewidmet hatte, unter dessen Nach-
folger eine jener Anwandlungen der gewaltsamen Rehgionsmacherei
von oben herab eintrat, die infolge von persönlichen Verschie-
bungen von Zeit zu Zeit den ruhigen Gang der preußischen
Politik unterbrochen haben. Das verschärfte Zensursystem,
welches das Ministerium WöUner einführte, traf Kant nicht nur
durch die Beanstandung seiner religionsphüosophischen Schriften,
sondern auch durch einen ungnädigen königlichen Erlaß und
J4 Kants Leben und Schriften.
durch das an ihn und alle seine Kollegen gerichtete Verbot eines
akademischen Vortrages seiner Philosophie. Kant empfand diese
Beeinträchtigung schwer, er trug sie mit mannhafter Würde. Als
dann der neue Regierungswechsel 1797^ die Folgen dieses Ver-
7j O botes aufhob, da senkten sich freiHch über Kant schon die
Schatten des Alters. Seit demselben Jahre sah er sich genötigt,
von den Vorlesungen Abstand zu nehmen, und zerstört von der
mächtigen Arbeit des Geistes, siechte der Leib, in welchem die
größte aller Philosophien ihren Sitz aufgeschlagen hatte, noch
jahrelang in traurigem Marasmus dahin, bis ihn der Tod am
r 0 , .12. Februar 1804 erlöste.
Vom Jahre 1770 an ist Kants schriftstellerische Tätigkeit,
von geringen Abzweigungen abgesehen, ausschHeßlich der syste-
matischen Darstellung seiner Lehre gewidmet gewesen, deren
Ausbildung die Arbeit seines Lebens ausmachte, und der er selbst
den Namen der kritischen Philosophie gegeben hat. Wenn die
Inauguraldissertation nur einen, obschon einen der bedeutendsten
Keime davon zur Darstellung brachte, so dauerte es ein volles
Jahrzehnt, bis Kant imstande war, in seinem großen Haupt-
werke die theoretische Grundlage seiner Lehre zu veröffentlichen.
Die »Kritik der reinen Vernunft«, das Grundbuch der deutschen
Philosophie, erschien 1781. Zwei Jahre darauf gab Kant in den
.^ »Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik« eine Er-
läuterung und eine Verteidigung dieses Werkes. Sie war nötig;
denn die Darstellung der Kritik der reinen Vernunft war so
schwierig, Kants Wortgebrauch darin zum Teil so unsicher, der
Gedankengehalt so riesig und der Widerspruch der mannigfachen
in sie hineingearbeiteten Denkprozesse so ungelöst, daß die zahl-
reichen Mißverständnisse imd der verhältnismäßig geringe Erfolg
des Buches nicht lediglich der Mißgunst der Schulphilosophen
zuzuschreiben waren. Als dann das Interesse des Publikums an
d^r neuen Lehre rege geworden war, folgte 1787 eine zweite
Auflage, der alle folgenden Auflagen nachgedruckt worden sind.
Die vielfachen Veränderungen, welche das Werk dabei erfuhr,
zuerst von Schelling und Jacobi bemerkt, dann durch Schopen-
hauer und Rosenkranz hervorgehoben, sind die Veranlassung eines
ausgedehnten Streites über den Vorzug der einen oder der anderen
Auflage geworden. In der Tat liegen wesentliche Verschieden-
\
/
Ihuipiwerko. 15
lioitcii darin vor, daü \(»n den vicifacli vorscldun;^<Mirn flculaiiken-
rcihen, ans doiicii dieses Werlv zjisamnion^carbeitct ist, einige in
der zweiten Anflaj^e eine entschieden stärkere Jictonung gefunden
haben als in der ersten. Aber jeder V()r^vü^f, als habe Kan< in
der zweiten Auflage den Geist der ersten verlassen, ist deshalf>
unbereclitigt, weil auch die Tone, die in der zweiten Auflage am
.stärksten anklingen, ausnahmslos schon in der ersten leise an-
geschlagen waren. Zweifellos ist daraus zu schließen, daß bei
Kant selbst die Kraft dieser Gedanken nach dem Erscheinen der
ersten Auflage sich energischer und bestimmender entwickelt hat
als vorher. Aber eine Verwunderung darüber kann nur bei dem-
jenigen entstehen, der an die Kritik der reinen Vernunft mit der
Erwartung herantritt, in ihr ein vollkommen geschlossenes, ab-
solut mit sich übereinstimmendes und fertiges System vorzu-
finden. Eine solche Erwartung wird hier mehr als in irgend
einem anderen Werke der gesamten Literatur getäuscht. Darin
gerade besteht das Einzige der Kritik der reinen Vernunft und
zugleich der Grund ihrer unvergleichlichen historischen Wirkung, /
daß sie alle Gedankengänge der modernen Philosophie ineinander-
arbeitet, ohne zu einem sich scharf formulierenden, jeden anderen .
Gedanken ausschließenden Ergebnis zu gelangen.
Der zw^eiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft waren
bereits andere Werke vorhergegangen, in denen Kant die Anwen-
dung seiner Prinzipien auf die besonderen Aufgaben der philo-
sophischen Erkenntnis darzustellen begann. 1785 erschien die
>> Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, 1786 die »Metaphy-
sischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft <<. Es folgten später
1788^die »Kritik der praktischen Vernunft <<, 1790 die Streit- "^
Schrift gegen Eberhard und das größte, für das Verständnis seiner
ganzen Weltanschauung wichtigste seiner Werke, die »Kritik der
Urteilskraft <<, 1793 die »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen
A^ernunft <<, eine Sammlung von vier religionsphilosophischen Ab-
handlungen, 1797 die »Metaphysischen Anfangsgründe der Rechts-
und diejenigen der Tugendlehre << , zwei Schriften, welche, imter
dem Namen der »Metaphysik der Sitten« zusammengefaßt, bereits
das Zeichen des alternden Geistes ihres Verfassers ebenso an der
Stirne tragen, wie die unter dem Titel »der Streit der Fakul-
täten« zusammengefaßten Abhandlungen aus dem Jahre 1798.
]^ß Kants Entwicklung.
An diese Hauptwerke schließen sich eine Reihe höchst bedeuten-
der kleiner Gelegenheitsaufsätze, welche teils in verschiedenen
Zeitschriften zu Kants Lebzeiten erschienen, teils aus seinem
Nachlaß gedruckt worden sind. Aus ihnen mögen an dieser Stelle
hauptsächlich die geschieh tsphilosophischen erwähnt werden, weil
ihr Gegenstand durch keines jener Hauptwerke unmittelbar ver-
treten wird. Es gehören dazu die »Idee zu einer allgemeinen
Geschichte in weltbürgerhcher Absicht« (1784), die »Beantwor-
tung der Frage, was ist Aufklärung« (1784), der »Mutmaßliche
Anfang der Weltgeschichte« (1786), das »Ende aller Dinge« (1794)
und der »Philosophische Entwurf zum e^vigen Frieden« (1795).
§ 58. Kants philosophische Entwicklung.
Es würde schon ein Blick auf die Gegenstände von Kants
schriftstellerischer Tätigkeit genügen, um jene Universalität seines
philosophischen Interesses bestätigt zu finden, welche die Grund-
bedingung für seine dominierende Stellung in der Geschichte der
modernen Philosophie ausmacht. Wer aber auch nur eins von
seinen großen Werken in die Hand nimmt, der wird immer wieder
über die Fülle der Gesichtspunkte erstaunen müssen, die Kant
in der Behandlung der einzelnen Gegenstände geltend macht und
in ihr richtiges Verhältnis zu setzen bemüht ist. Aber es sind
nicht etwa historische Anknüpfungen, welche dabei im Vorder-
grunde stehen. Von jener Gelehrsamkeit, mit deren Früchten
Leibniz an die Behandlung eines jeden Problems herantritt, ist
Kant weit entfernt, und wenn man eine schwache Seite bei ihm
finden will, so ist sie bei der gelehrten Kenntnis der Geschichte
seiner eigenen Wissenschaft und besonders der antiken Philo-
sophie zu suchen. Aber darin gerade beweist sich die Weite
seines Geistes, daß er aus schwachen Andeutungen und aus der
Einwirkung der zeitgenössischen Literatur den Kern jeder Denk-
weise, nach der die Lösung der Probleme versucht worden ist,
zu erfassen und selbständig zu reproduzieren imstande ist. Eben
deshalb aber, weil er jeden dieser Gedanken als einen eigenen
erzeugt hat, ist seine eigene Denkarbeit die komplizierteste imd
verwickeltste von allen, welche die Geschichte der Philosophie
darbietet. Jede Richtung der modernen Philosophie ist ein in-
tegrierender Bestandteil seines Systems, und darauf beruht die
KriiixintnuR. |7
große Manni«,'falti«^fkeit von Ausdoutuiigcn, welche diehes, oft in
diametral ent<j;egenj^esetzie!i Kiclitiingen, bei den späteren Denkern
erfaliren liat. Damit hiinj^t es auch zuHammen, daß das, was
wir »ein eigenes System nennen, nicht von Jugend an bei ihm
vorhanden, ja in seinen ersten Schriften nicht einmal im ent-
ferntesten angelegt, sondern erst in verliilltnismäßig spätem Alter
zur Reife gekommen ist. In diesem Stadium der J^eife ver-
dichten und verschlingen sich in ihm alle die mannigfaltigen
Gedankengänge, welche er mit der ruhigen Gewalt, die er über
sich selbst besaß, langsam in sich hat zur Entfaltung kommen
lassen. Jenes eigene System ist deshalb nicht zu begreifen, wenn
man nicht seinen Entwicklungsgang ins Auge faßt, und um diesen
zu verstehen, muß man wiederum kein einfaches imd durch-
sichtiges Schema annehmen, sondern von vornherein voraussetzen,
daß sein Entwicklungsgang überaus vielseitig und verwickelt
gewesen ist. Er ist eine Repetition der vorkantischen Philosophie,
aber in durchaus oricineller Form: allein die für dessen Ver-
ständnis in den Schriften, im Briefwechsel und in Kants Notizen,
besonders zu seinen Vorlesungsheften und eigenen Büchern zu-
gänglichen Dokumente sind gerade in Rücksicht auf die große
Kompliziertheit der Gedankengänge, trotz der stattlichen jVnzahl,
worin sie jetzt vorhegen, für die sachliche Ausbeute noch immer
so sporadisch, daß man den Entwicklungsgang nur hypothetisch
zu rekonstruieren vermag, und daß auch dieser Darstellung nichts
weiter übrig bleibt, als zwischen den verschiedenen Wegen, die
man dazu einc^eschla^en hat, sich den eigenen zu bahnen.
Wenn Kant seine eigene spätere Lehre als^ Kritizismus be-
zeichnet und damit ihre erkenntnistheoretische Tendenz in
den Vordergrund gerückt hat, so ist in der Tat die OriginaUtät
seines Systems nicht in der Berücksichtigung der erkeimtnis-
theoretischen Frage überhaupt, sondern vielmehr in der neuen
Fassung zu suchen, die zugleich eine ganz neue Methode der
Lösimg nach sich zog. Von erkenntnistheoretischen Unter-
suchungen ist die gesamte Philosophie des XVIII. Jahrhunderts
durchsetzt; aber einerseits stehen sie immer unter dem metho-
dologischen Gesichtspunkte der Frage nach dem richtigen Wege der
philosophischen Erkenntnis, anderseits machen sie eine Reihe von
Voraussetzungen teils metaphysischer Art, teils in bezug auf den
Windelband, Gesch. d. n. Philos. II. 2
18
Kants Entwicklung.
/--
Zusammen liang und das Wesen anderer Wissenschaften. Es ist
das Wesentliche in der Kantischen Entwicklung, daß er sich von
diesen Voraussetzungen sukzessive befreit und so zuletzt die ver-
hältnismäßig voraussetzungsloseste Formel für den Ausgang des
philosophischen Denkens gefunden hat.
Die dem allgemeinen Bewußtsein geläufigste dieser Voraus-
setzungen ist jener »naive Realismus«, der da meint, dem
erkennenden Geiste stehe eine Welt von Dingen gegenüber, die
es nun zu fassen, deren es sich durch das Denken zu bemächtigen
gelte, und es sei nur die Frage, auf welchem Wege das am
sichersten und richtigsten geschehen könne. Dieser naiven Meta-
physik haben sich als der Grundlage ihrer erkenntnistheoretischen
Fragestellung und somit als einer die Lösung des Problems von
vornherein bestimmenden Voraussetzung) weder der Empirismus
noch der Rationalismus der vorkantischen Philosophie entschlagen
können. Der eine erklärte sich den Prozeß des Erkennens durch
eine Einwirkung der Dinge auf den Geist, der andere mußte
schließlich eine prästabilierte Harmonie annehmen, vermöge deren
die Gesetze des Denkens mit denjenigen der zu erkennenden
Wirklichkeit von vornherein identisch seien. So beruhen die
Lehren von Locke und Leibniz gleichmäßig auf jener Voraus-
setzung, und es war trotz aller Versuche, zwischen ihnen zu ver-
mitteln und ihre Einseitigkeiten zu überwinden, eine prinzipielle
Überschreitung der von ihnen gewonnenen Ansichten so lange
unmöglich, bis jene Voraussetzung des naiven Realismus als solche
durchschaut mid der bestimmende Einfluß, den sie auf die Er-
kenntnistheorie ausgeübt hatte, eliminiert wurde. Diese Einsicht
ist die Tat, welche Kant zum kritischen Philosophen xax iJo/Y^v
gemacht hat, und der Augenblick, wo er sie gewann, bezeichnet
den Ursprung seiner eigentümlichen Lehre. Sie ist aber eben
deshalb erst das Ziel und der Abschluß seiner vorkritischen Ent-
wicklung, und deren Anfänge entspringen an anderen, sehr viel
spezielleren Problemen.
Unter den besonderen Voraussetzungen, welche die gesamte
vorkan tische Philosophie machte, hat eine geradezu das Ferment
für Kants Entwicldung gebildet: die herrschende Meinung über
den wissenschaftlichen Charakter der Mathematik. Empiristen
und Rationalisten waren darin einig, in der Mathematik das Ideal
LcMbniz und Newton. \[)
alI(M- bowciHOtulcii WisflcnHcliaffc zu erblicken. Dicso AnHJclit wjir
die llicl lisch nur, wonacli der cnipiriHtischc Skeptizinnuis in Ihnnc
seine rücksichtslose Kritik an den iihrif^en Wissenschaften voll-
zog;; diese Ansicht war die Voiaussetzun«^', unter welcher der
Rationalisnms von Descartcs bis Wolff unablii-ssi^ an der, Kon-
struktion einer >> geometrischen Metliode << der Philosophie arbeitete.
Wenn Kant mit seinen pliilosopliischen Studien in diesen Ratio-
nalismus hineinwuchs, weim auch er zunächst die Identität
mathematischen und philosophischen Verfahrens als etwas Selbst-
verständhches ansehen lernte, so mußte der erste Anstoß zu einer
selbständigen Entwicldung bei ihm in dem Moment entstehen, wo
er sich an irgend einem Punkte einer prinzipiellen Differenz mathe-
matischer und philosophischer Behandlung desselben Problems
bewußt wurde. Nun war aber gerade die Naturphilosophie, in
der am ehesten mathematische und metaphysische Theorien mit-
einander in Konkurrenz treten, das Gebiet seiner ersten selb-
ständigen Arbeiten, und um so mehr mußte ihm das Verhältnis
dieser beiden Wissenschaften zu einem Gegenstande der Unter-
suchung werden, als der Philosoph, den er am höchsten schätzen
gelernt hatte, und der große Vertreter der mathematischen Natur-
forschung, den er auf das tiefste bewunderte, gerade über die
wichtigsten Fragen in unlöslichem Widerspruche miteinander zu
stehen schienen.
War daher Kant schon in seiner allerersten Schrift auf ein
verschiedenes Resultat der mathematischen und der philosophischen
Naturbetrachtung aufmerksam geworden, indem er gefunden hatte,
daß die »lebendigen Kräfte aus der Mathematik verwiesen werden«
müßten, um in die Natur und ihre metaphysische Betrachtung
aufgenommen zu werden, so nahm diese Erkenntnis viel weitere
Dimensionen an, als er sich klar wurde, daß zu den Problemen
des Raumes Leibniz und Newton eine diametral entgegengesetzte
Stellung einnahmen und einnehmen mußten. Als er in seiner
physischen Monadologie untersuchen wollte, wie sich Metaphysik
und Geometrie in der naturphilosophischen Untersuchung mit-
einander verbinden, fand er zunächst, daß sie sich trennen. Die
Metaphysik, ( worunter Kant immer die Leibnizische Monadologie
denkt^N leugnet die unendliche Teilbarkeit des Raumes, leugnet
die Existenz des leeren Raumes, leugnet die Wirkung in die
2*
20 Kants Entwicklung,
Ferne, und die matliematisclie Naturphilosophie behauptet in
allen diesen Stücken das Gegenteil. Indem Kant hier einen
Versuch der Vermittlung macht, benutzt er gegen Newton die
Leibnizische Lehre von der Phänomenalität des Baumes. Die
Newtonsche Lehre würde unanfechtbar sein, wenn der Raum
eine absolute Wirklichkeit und das Substrat für die Körperwelt
wäre, wenn infolgedessen die Gesetze des Raumes auch für das
innerste Wesen der Körperlichkeit bestimmt wären. Ist dagegen
der Raum nur ein Kraftprodukt der die Körper konstituierenden
Monaden, so gelten die räumlichen Gesetze zwar für die Er-
scheinungsform der Körperlichkeit, aber nicht mehr für das meta-
physische Wesen der Körper. So überwiegt zunächst noch in Kants
Betrachtung die Leibnizische Metaphysik über die Newtonsche
Lehre, und die letztere wird auf Grund der Unterscheidung
zwischen dem wirklichen Körper und dem Räume, den er ein-
nimmt (eine Unterscheidung, welche sich zugleich gegen die funda-
mentale Annahme der cartesianischen Naturphilosophie richtet), auf
die äußere Erscheinungsform der Körper eingeschränkt. Während
für Newton der Raum etwas Absolutes bildet, betrachtet ihn Kant
mit Leibniz als etwas Relatives und sucht diese Ansicht als einen
>> neuen Lehrbegriff von Bewegung und Ruhe« durch empirische
Betrachtungen zu begründen (1758).
In gewisser Weise grenzt also Kant in diesen Schriften die
Gebiete der Mathematik und der Metaphysik in Rücksicht auf
die Gegenstände gegeneinander ab, und es ist sehr zu beachten,
daß diese Grenzscheidung an der Linie entlang läuft, welche
Leibniz zwischen dem metaphysischen Wesen der Körper und
ihrer räumlichen Erscheinungsweise gezogen hatte. Allein wert-
voller als diese Einsicht in die sachliche Differenz zwischen beiden
Wissenschaften erwies sich in den folgenden Jahren bei Kant
diejenige in ihren formellen und methodischen Unterschied. In
dieser Beziehung ist es sehr wichtig, daß schon Kants erste er-
kenntnistheoretische Schrift, wenn sie auch im allgemeinen den
Standpunkt der Leibniz- Wolffschen Schulansicht der Metaphysik
festhält, doch daneben sehr lebhaft den Einfluß eines Mannes er-
kennen läßt, welcher der Herrschaft der geometrischen Methode in
Deutschland am kräftigsten entgegengetreten war. Wenn Kant die
ersten Prinzipien der metaphysischen Erkenntnis neu zu beleuchten
Abwondunjf vom Rationalisniua. 21
unternalirn, so tat or es zwar an (l(3r Hand der Grundhogriffo
der Wolffisoheii Ontologie, aber ho, daß er stets darauf das Licht
der Kritik von Orusius fallen ließ. Er verfolgt die von diesem
begonnene Unterscheidung des Realgrundes und des Erkenntnis-
grundes, und wenn er sich auch später gerade über Crusius sehr
abfällig geäußert hat, so ist doch dessen Wirkung auf ihn ganz
augenfällig. Kant sieht wie jener die Aufgabe der Philosophie
in der Erkenntnis der Wirklichkeit, und mit dem Sinn für die
letztere, der in Kant durch die naturforschende Richtung seines
Geistes begründet war und in seinen Schriften dieser Zeit immer
lebhafter sich geltend machte, tritt er mehr und mehr in Oppo-
sition zu der schulmäßigen Auffassung des Rationalismus, welche
ihre Ansichten von der metaphysischen Realität aus logischen
Möglichkeiten und Unmöglichkeiten ableitete. Diesen Sinn hat
es, wenn er dem Satze des Widerspruchs in seiner Habilitations-
schrift denjenigen der Identität koordinierte, und wenn er daran
eine Auseinandersetzung darüber knüpfte, daß es unmöglich sei,
das höchste, absolute Sein aus der »Unmöglichkeit des Gegen-
teils« nach dem Schema der Wolffischen Ontolosjie abzuleiten. Er
hat begriffen, daß es kein Denken geben kann, welches noch
hinter die absolute Wirklichkeit zurückginge und deren Grund
etwa in logischen Verhältnissen aufsuchte, und er sagt vom »Sein«
die tiefen Worte: »Existit: hoc vero de eodem et dixisse et con-
cepisse suff icit. « Nicht die Notwendigkeit des Seins, sondern das
bloße "Sein selbst gilt es zu konstatieren und zu beweisen.
Innerhalb dieser charakteristischen, schon leise nach der em-
piristischen Seite sich hinziehenden Grenzen hält Kant in der
Habilitationsschrift an der durch Knutzen vertretenen Metaphysik
der Wolf fischen Schule fest. Er ist namentlich überzeugt, daß
die analytische Methode der logischen Begriffsentwicklung durchaus
imstande sei, die Wirklichkeit und weiterhin ihre kausalen Zu-
sammenhänge in einer apriorischen Erkenntnis zu rekonstruieren,
und er glaubt noch fest an die Möglichkeit, durch den logischen
Gedankenfortschritt eine Erkenntnis der Welt zu gewinnen, xlber
nachdem er einmal auf eine gewisse Diskrepanz zwischen Realität
und logischer Begründung aufmerksam geworden war, verfolgte
er, um »die Methode der Metaphysik zu vervollkomnmen«,
die Beziehungen weiter, welche zwischen realen und logischen
22 Kants EntwickluDg.
Verhältnissen obwalten. Es ist ja die Kardinalfrage alles Rationalis-
mus, wie weit und in welchem Sinne logische Notwendigkeiten
reale Notwendigkeiten sind — wie weit m. a. W. die Kraft der
Logik reicht, um die Wirklichkeit zu begreifen. War nun Kant
in der rationalistischen Ansicht von der Bedeutung der logischen
Formen aufgewachsen, so ist in seiner allmählichen Entwicklung
diese Ansicht völlig unterwühlt worden: doch war es nicht nur
die Beschäftigung mit den englischen Philosophen, sondern weit
mehr seine eigene wühlende Kritik, welche ihn dem rationalistischen
Vorurteil entfremdete und mit der Zeit zu der Ansicht führte,
daß das Vorgeben des Rationalism.us, die Welt aus logischer Kon-
struktion zu begreifen, illusorisch sei. Die logischen Ansichten,
die Kant in dem kleinen Aufsatz über die falsche Spitzfindigkeit
der vier syllogistischen Figuren niederlegte, gehen darauf hinaus,
zu zeigen, daß alle begriffhchen Operationen immer nur den bis-
herigen Erkenntnisinhalt in neue formale Beziehungen bringen,
niemals aber etwas Neues erschließen und hinzufügen können. In
einfachster und durchaus selbständiger, rein logisch-theoretischer
Form bricht bei Kant dieselbe Ansicht durch, mit der Bacon und
Descartes sich gegen den logischen Formalismus der Scholastik
empört hatten: Kant wendet diese Einsicht gegen die scholastische
Gestalt, die der Rationalismus in der Wolffischen Schule wieder
angenommen hatte. Er proklamiert hier bereits den Kampf gegen
diesen logisch -metaphysischen »Koloß, dessen Haupt bis in die
AVolken des Altertums ragt, und dessen Füße von Ton sind«.
Die Ausführung dieses Gedankens ist in den Schriften der sechziger
Jahre niedergelegt, und sie endet folgerichtig mit einer völlig
neuen Auffassung von der Philosophie.
Zwei Grundfragen sind es, welche alle Metaphysik zu beant-
worten hat; die eine lautet: Was ist? die andere lautet: Nach
welchen Gesetzen wirkt das Seiende? Existenz und Kausa-
lität sind die beiden Grundpfeiler unserer gesamten Weltauffassung.
Wenn daher Kant kritisch der metaphischen Methode näher tritt,
so fragt es sich, wie diese beiden Fragen auf dem Wege der
logischen Analyse zu lösen sind. Für den Schluß auf die Existenz
kennt die logische Betrachtung nur den einen Erkenntnisgrund,
der in der Unmöglichkeit des Gegenteils besteht. Diese Unmög-
lichkeit des Gegenteils wird, insofern es sich um endliche Dinge
Kxititün/ liiid KiiusalitUl. 23
luiiulelt, durch kausale Vcriuittlun;^eu ürachlosHcn. S(>bald ea sich
aber um das absolute Wesen haiidell, bleibt nur die lo^i.scho Un-
möglichkeit, es als nicht existierend zu denken, iibri;^. So stößt
Kant auf den Nerv des ontologischen Beweises für das Dasein
(lottes, und seine neue Einsicht entwickelt sich in einer Kritik
der Beweisgründe für das Dasein Uottes, welche in der Behauptung
gipfelt, daß es in alle Wege unmöglich ist, aus dem begriffe die
Existenz »herauszuklauben«, mit anderen Worten, daß die logische
Analyse unfähig ist, die Existenz zu beweisen.
Von hier an richtet Kant mit geschärfter Kraft sein Auge auf
alle Verwechslungen, die in der bisherigen Philosophie zwischen
den logischen und den realen Verhältnissen gemacht worden sind,
und unter diesen fällt ihm vor allen der Begriff des Widerspruchs
auf. Je größer die Rolle ist, welche in allen logischen Operationen
des Menschen die Negation spielt, um so gefährlicher ist dabei
die Neigung, diese logischen Verhältnisse zu hypostasieren. Auch
in der Wirklichkeit herrscht überall Gegensatz, und der logischen
Betrachtung erwächst daraus die Verleitung, die einander wider-
strebenden Kräfte der Wirklichkeit in demselben Verhältnis zu-
einander zu denken, wie die Begriffe oder Sätze, die zueinander
in dem logischen Verhältnis des Widerspruchs stehen. Hiergegen
erhebt Kant Protest, und die tiefste seiner vorkritischen Schriften
macht den »Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Welt-
weisheit einzuführen«, — einen Versuch, von dem er sich mehr
verspricht als von der Anwendung der mathematischen Methode
auf die Philosophie. Die Kräfte, die man in der mathematischen
Betrachtung als positiv und negativ bezeichnet, sind beide voll-
kommen real, und der Begriff von Positivität und Negativität
(der sich durch die Vertauschbarkeit der Vorzeichen als relativ
erweist) will nur sagen, daß die Wirkung dieser Kräfte sich gegen-
seitig aufhebt. Das ist ein ganz anderes Verhältnis als die
logische Aufhebung, welche durch das Zusammentreffen kontra-
diktorischer Bestimmungen erfolgt und zum reinen Nichts führt.
Kant exemplifiziert diesen Gedanken sehr glücldich an der Körper-
bewegung. Ein Körper, der zugleich sich bewegt und sich nicht
bewegt, ist ein Unding. Aber ein Körper, der von zwei gleich-
starken Kräften nach diametral entgegengesetzten Seiten zugleich
bewegt wird, ist in Ruhe. In dem ersteren Falle haben wir das
24 Kants Entwicklung.
Beispiel der logischen Opposition, in dem zweiten Falle dasjenige
der Realrepugnanz, und Kant macht darauf aufmerksam, daß
sehr viele Begriffe, welche man leicht versucht ist, in das erstere
Verhältnis zu setzen, in Wahrheit zueinander in dem zweiten
stehen. Lust und Unlust, Haß und Liebe, übel und gut, Tadel
und Ruhm, Häßlichkeit und Schönheit, Irrtum und Wahrheit
stehen nicht so zueinander, daß das eine immer nur der Mangel
oder das Nichtvorhandensein des andern wäre, sondern so, daß
es eine dem andern entgegengesetzte, reale und nur in der Ent-
gegensetzung Negativ zu nennende Kraft ist. Bedenkt man, welche
Bedeutung in der spinozistischen Philosophie die metaphysische
Reahtät der Negation spielte, welche Wichtigkeit in der ratio-
nalistischen Erkenntnistheorie die Lehre von der Negativität des
Irrtums einnahm, und wie sehr sich die Theodicee von Leibniz
auf die Negativität der Unlust und des Bösen stützte, so begreift
man die Tragweite des Schriftchens, dessen Verfasser sicher das
Vorurteil des Rationalismus überwunden haben mußte. Allein
Kant begnügt sich nicht damit, die logische und die reale Oppo-
sition genau voneinander zu unterscheiden, sondern er gründet
darauf den weiteren Schluß, daß das analytische Verfahren
logischer Begriffsentwicklung zwar für die Erkenntnis der logischen
Opposition selbstverständlich kompetent sei, dagegen das Ver-
hältnis der realen Opposition nicht aus den begrifflichen Voraus-
setzungen zu entwickeln imstande sei, und so führt ihn am Schlüsse
diese Betrachtung zu einer allgemeinen Kritik der kausalen Er-
kenntnis überhaupt. Hat sich gezeigt, daß der Syllogismus un-
fähig ist, zu begreifen, wie es kommt, daß die eine Kraft die
Folge der andern aufhebt, so erweist sich schließlich, daß es
ebensowenig möglich ist, auf lediglich syllogistischem Wege »heraus-
zuklauben«, daß ein Ding auf ein anderes eine positive Wirkung
ausübe, und Kant schließt mit einer kurzen, in ihrer begrifflichen
Entwicklung vollkommen selbständigen Andeutung darüber, (faß
die kausalen Verhältnisse sich einer Erkenntnis auf dem analy-
tischen Wege der Begriffsentwicklung durchaus entziehen.
Wer aber eingesehen hat, daß weder die "Existenz noch die
Kausalität begrifflich erkannt werden können, daß die Anwendung
des Satzes vom Widerspruch und desjenigen vom zureichenden
Grunde innerhalb der bloßen Begriffsbewegung fruchtlos ist, daß
iMiil(jhu[)hic uikI iMullioiniilik. 25
CS also ciiio KikcniilMis der Wirklichkeit aus hloücn Jit!;^rifffn nicht
^ebiMi kann, der ist kein Schüler der ml ionalistischeii Metaphysik
mehr, und der iiiul] überzeugt sein, daß die ^geometrische Methode
ein Irrweg dei Metaphysik ist. Als deshalb Kant, gleichzeitig^
mit der Abfassunj^ jener beiden Schriften, eine Jieantwortuii^ der
Preisfrage der Berliner iVivademie nach der Evidenz in den meta-
physischen Wissenschaften unternahm, gab er als seine Unter-
suchung »über die Deutlichkeit der (irundsätze der natiirlichea
Theologie und Moral« in erster Linie eine formelle und metho-
dische Unterscheidung zwischen Philosophie und Mathe-
matik. Wählend er für die Metaphysik den Charakter einer
analytischen Wissenschaft der Begriffe zu dieser Zeit noch fest-
hält, hat er sich klar gemacht, daß die Mathematik ein ganz
entgegengesetztes Verfahren einschlägt. Ihr Wesen ist dasjenige
der synthetischen Konstruktion, und diese darf sie anwenden,
weil ihr Objekt die räumlichen Größen bilden, welche sie selber
in der Anschauung erzeugt. An dieser Stelle liegt, vermutlich
durch eine Art von Kontrastwirkung entsprungen, Kants erste
große wissenschaftliche Entdeckung vor. Es ist die Einsicht, daß
die Mathematik keine ^lalytisch verfahrende Wissenschaft des
Verstandes, sondern eine sjnithetisch verfahrende Wissen-
schaft der Anschauung ist. In gewisser Weise kehrt Kant
damit zu Descartes zurück, der sich wenigstens des synthetischen
Charakters des mathematischen Denkens bewußt geblieben war,
und jedenfalls tritt Kant damit in einer für seine weitere er-
kenntnistheoretische Entwicklung bestimmenden W^eise der all-
gemeinen Meinung seines Zeitalters durchaus entgegen. Die beiden
Elemente seiner wissenschaftlichen Bildung, Mathematik und Phi-
losophie, treten zu dieser Zeit am weitesten bei ihm auseinander
und erscheinen in durchgängigem xVntagonismus. Denn jener
Gegensatz des analytischen und des synthetischen Verfahrens zieht
noch weitere Folgen nach sich. Die Mathematik geht von Defi-
nitionen aus, die Philosophie hat sie zu suchen; die Mathematik
behandelt Größen, w^elche sie selbst in der Anschauung konstruiert,
die Philosophie Begriffe, die ihr gegeben sein müssen. Das ist
die weiteste Entfernung, welche Kant je von den Prinzipien des
Rationalismus erreicht hat ; es klingt darin der Grundgedanke
von Crusius an, daß eine nach Analogie der Mathematik
■iBiflMII
26 Kants Entwicklung.
konstruierende Methode für die Philosophie deshalb nicht brauchbar
sei, weil sie eine gegebene Wirklichkeit zu erkennen hat. Den
Ausgangspunkt der philosophischen Erkenntnis bilden daher für
Kant in dieser Schrift nicht die Axiome der Wolffischen Ontologie,
sondern vielmehr die gegebenen Begriffe der Erfahrung ; die Phi-
losophie ist ihm noch immer eine Wissenschaft aus Begriffen,
aber nicht mehr aus reinen Begriffen, sondern aus Begriffen der
Erfahrung, und es hängt damit zusammen, daß er um diese Zeit
die Lehren des englischen Empirismus mit großer Sympathie er-
griff und persönlich wie auf dem Katheder vielfach auf Locke,
Shaftesbury, Hutcheson und Hume Rücksicht nahm.
Es ist viel darüber verhandelt worden, an welcher Stelle seiner
Entwicklung und in welcher Weise die englische Philosophie
und besonders Hume auf Kant jenen Einfluß ausgeübt haben,
den er in späteren Jahren wohl etwas überschwengHch selbst
anerkannt hat. Es ist namentlich die Frage, ob Kant durch die
Lektüre der engHschen Empiristen dem Rationalismus entfremdet
w^urde, oder ob er umgekehrt, nachdem er in anderer Weise an
der Lehre des Rationalismus irre geworden war, sich der ent-
gegengesetzten Richtung zuneigte. Offenbar ist nun die Art, in
welcher Kant die Unzulänglichkeit des RationaUsmus hinsichtlich
der Erkenntnis sowohl der Existenz als auch der Kausalität in
seinen Schriften der sechziger Jahre darstellt, eine so durchaus
originelle, daß die größere Wahrscheinlichkeit dafür vorliegt, er
habe sich, wenn auch mit Hilfe der mannigfachen Opposition, die
in Deutschland selbst gegen Wolff aufgetreten war, im wesent-
lichen doch durch eigene Kraft aus den Fesseln des Schulsystems
befreit und dann erst dem Empirismus »Gehör geschenkt«. Er
war durch die eigene kritische Arbeit auf dieselben Resultate
geführt und schien sich eine Zeitlang mit den engHschen Philo-
sophen in gewisser Hinsicht einstimmig zu sein. Die »zetetische«
Auffassung der philosophischen Methode, wonach sie von den durch
die Erfahrung gegebenen Begriffen allmählich zu den höchsten
Definitionen aufsteigen soll, dieser Baconismus beherrschte nicht
nur seine Vorlesungen, sondern auch seine Schriften und besonders
auch die Behandlung der moralischen und ästhetischen Probleme
in den »Beobachtungen«. Er war in Form und Inhalt auf dem
freien und beweglichen Standpunkte der weltmännischen Philosophie
.Motu|»li)siHcl»c8 HodürrniH. 27
ani^ekoiimu'ii. dci- sich seine eiLM-iie Lehre währeiul dieser Zeit in
ziiiioluiiemleiii IMiilJc iiniihiielte.
liis zu (li(, ( Ml INiiiktc ist die Entwicklun;^ Kants verliältnis-
niäl3i<i; cinliieh und durchsic'hti«i;; von hier an ;iber wird .sie selir
bald außerordentlich viel verwickelter und undurclisichti^er. Schon
die Preisschrift zeigt, daß Kaut dem enj^lischen Knipirisnius niemals
ohne eine gewisse Jleserve beigetreten ist. Die Erkenntnistheorie,
welche er in dieser Schrift entwickelt, ist fast in derselben Weise
initertig und widerspruchsvoll, wie es diejenige von Crusius immer
geblieben war. Einen gewissen Rest von Kationalisnms hat Kant
auch in diesem äußersten Stadium immer bewahrt, und dieser
besteht in der Überzeugung, daß mit den gegebenen Begriffen der
Erfahrung die letzten x\ufgaben der Erkenntnis nicht gelöst werden
können, wenn man nicht gewisse »unauflöshche« Begriffe und
unauflösliche Axiome hinzunimmt. Über deren Stellung zu den
Begriffen der Erfahrung, über die Art ihres Ursprungs und ihrer
Anwendung ist Kant während dieser Übergangszeit offenbar durch-
aus noch nicht im Idaren. Und daher ist der Eindruck dieser
prinzipiellen Schrift verhältnismäßig unsicher und vielfacher
Deutungen fähig. Bemerkenswert aber ist hauptsächlich der
Zweck, um deswillen Kant den'^Erfahrungsbegriffetf zur Ergänzung
diese ^unauflösHchen Beariffe^ zur Seite stellen will. Ohne sie würde
unser Denken niemals den Kreis der endlichen und sinnlichen
Dinge zu überschreiten imstande sein. Nur mit Hilfe dieser un-
auflöslichen Begriffe lassen sich die, Grundsätze der natürlichen
Theologie und Moral in wissenschaftlicher Weise feststellen, und
diese Feststellung anderseits galt Kant um diese Zeit noch als die
letzte und höchste Aufgabe der Philosophie. Er erw^artete und
verlangte von ihr die wissenschaftliche Begründung der
religiösen und moralischen Überzeugung, welche er als
das Unerschütterlichste in sich trug. In diesem Sinne war er »in
die Metaphysik verliebt« und hoffte er eine Methode der Meta-
physik zu finden, vermöge deren sie ohne die willkürlichen An-
nahmen der schulmäßio;en Ontologie aus der Erfahruno- heraus
jenen Beweis leisten könnte. Offenbar aber hatte er, wie es auch
aus seiner Korrespondenz mit Lambert hervorgeht, über den
Charakter jener unauflöslichen Begriffe und die Methode ihrer Ver-
wertung zu dieser Zeit noch durchaus unbestimmte Vorstellungen.
'x,
28 Kants Entwicklung.
Während er aber so dem Gedanken einer metaphysischen Methode
nachging, weiche die Grundlage für die religiöse und moralische
Überzeugung gewähren sollte, griff allmählich eine ganz entgegen-
gesetzte Strömung in seinem Geiste Platz, und deren Ursprung
darf man mit Recht in einem ausländischen Einflüsse suchen.
Kant war einer der ersten und sein Leben lang einer der auf-
richtigsten Verehrer von Rousseau. Wenn er selbst sich in meta-
physischen Grübeleien erging, ohne zu dem gewünschten Ziele der
theoretischen Begründung absoluter Gewißheit zu kommen, und
wenn er dabei beobachtete, wie die metaphysischen Aasichten sich
in ihm gewandelt hatten, ohne daß doch seine moralische und
seine religiöse Überzeugung ins Wanken gekommen war, so mußte
ihn der Emile auf das tiefste ergreifen. Hier fand er Moral und
Religiosität aus den Wirren des metaphysischen Zankes heraus-
gehoben und auf die Basis des natürlichen Gefühls gestellt. Hier
fand er, was ihn auch der Blick in seine Umgebung lehrte, daß
moralische und religiöse Überzeugung weder ein Privilegium des
wissenschaftlichen Denkens sind, noch durch die metaphysische
Spekulation befestigt und erhalten werden. Der freie Ausblick auf
die Weite des menschlichen Lebens, den er durch die empiristische
Richtung gewonnen hatte, machte ihn diesen Einflüssen noch zu-
gänglicher. Und so reifte in ihm die Meinung, daß die Metaphysik
zur Begründung der Moralität und der Religion weder nötig noch
nützlich sei. In ähnlicher Weise wie Bayle und Voltaire,' dessen
Schriften Kant gleichfalls eifrig las, wurde er durch sein skeptisches
Verhalten gegen die Metaphysik, in der er aufgewachsen war, dazu
geführt , Metaphysik imd moralisch-religiöses Leben' als zwei ge-^
schiedene und zu scheidende Gebiete aufzufassen. Diese Scheidung
hat er dann, wenn auch in einer außerordentlich vertieften Form,
in seinem eigenen Systeme zur Geltung gebracht. Aber ihre Keime
sind bereits in dieser Phase seiner Entwicklung zu suchen. Schon
während er sich abmühte, den bisherigen von seiner Kritik zerstörten
Beweisen von dem Dasein Gottes noch einen neuen » einzig möglichen
Beweisgrund« hinzuzugrübeln, den er später stillschweigend hat
fallen lassen, fügte er hinzu, es sei durchaus nötig, daß man vom
Dasein Gottes „ überzeugt sei, aber nicht ebenso nötig, daß man
es beweise. Von dieser Äußerung des Jahres 1763 ist zwar ein
langer Weg, aber immer in derselben Richtung, bis zu jener Er-
Muta])liyHik und Morcil. 29
kliiruii^', womit er ii\ der Vorrode zur zweiten Auflage der Kritik der
reinen Vernunft den Zweck dieses Werkes dahin anj^^ab, er habe das
Wissen fortriiunien müssen, inn IMatz für den (ilaubcn zu gewinnen.
Je mein sich diese Trenn un^^ deH thcoretiHchen uihI dcH
praktischen Elements in Kants Überzeugung befestigte, um so
wertloser mußten ihm seine eigenen metaphysischen Spekulationen,
mußte ihm die Metaphysik selbst erscheinen. Wenn sie das, was
er immer für ihren wesentlichen Zweck gehalten liatte, schließlich
doch nicht zu leisten vermochte, — was war sie dann noch wert?
Was enthielt sie dann anders als nutzlose, törichte Grübeleien?
Dieser Antagonismus zwischen seinen eigenen metaphysischen
Bestrebungen und der Rousseauschen Überzeugung brachte Kant
in eine geteilte und fast verzweifelte Stimmung, und dieser machte
er durch eine seiner geistreichsten und charakteristischsten Schriften
gewissermaßen gewaltsam Luft. Gerade in seinem metaphysischen
Bedürfnis nach dem Übersinnlichen hatte er begierig zu den Ent-
hüllungen gegriffen, die ein Führer des damaligen Spiritismus,
der schwedische Geisterseher Swedenborg, über die Geheimnisse
des Jenseits versprach. Als er dann, enttäuscht und ärgerhch »die
Träume dieses Geistersehers durch die Träume der Metaphysik
erläuterte «, als er mit glänzendem Witz die luftige Nichtigkeit der
gelehrten Spekulation geißelte, da waren es eigene Erfahrungen, die
er in diesem Selbstbekenntnis niederlegte, und eigene Bestrebungen,
welche sein Spott traf. Darum aber war es auch kein reiner
Humor, der in dieser Schrift waltete. Wer zwischen ihren Zeilen
zu lesen versteht, der muß herausfühlen, welchen schweren Kampf
es den Verfasser gekostet hat und noch kostet, auf jenes geliebte
Ziel der m^etaphysischen Spekulation zu verzichten, und wie er
nur darum ihr seine bittern Vorwürfe entgegenschleudert, weil sie
ihm seinen innigsten Wunsch nicht erfüllt hat. Aber mag er
auch damit in das eigene Fleisch schneiden, in vollem Ernste
macht er hier den Schnitt zwischen ^Metaphysik und Moral, und
während er für die letztere an den gesunden Menschenverstand
und an die Lebensweisheit des »Candide« appelliert, verweist er
die erstere aus dem Reiche des Übersinnlichen und Unerfahrbaren.
Die Bescheidung der theoretischen Philosophie auf das Gebiet der
^Erfahrung als einer der Grundsteine von Kants persönlicher Über-
zeugung ist damit vorläufig gewonnen.
30 Kants Entwicklung.
Was sollte aber aus der Metaphysik werden, wenn sie jene
»Lieblingsgegenstände« der Aufklärungsphilosophie nicht mehr
behandeln durfte, wenn ihr der Weg von der Erfahrung zu dem
Unerfahrbaren versperrt war? Auch darin hatte der englische
Empirismus und namentlich Hume den Weg gewiesen. Wenn
die Metaphysik nicht mehr die Erfahrung überschreiten und wenn
sie doch auch nicht in die besonderen Erfahrungswissenschaften
sich verlaufen soll, so bleibt ihr nur übrig, die Tatsache derJEr-^
kenntnis selbst zum Gegenstande ihrer Untersuchung zu machen.
Die Metaphysik, die keine Lehre von der übersinnlichen Welt sein
darf, kann nur Erkenntnistheorie werden. An die Stelle der Meta-
physik der Dinge tritt die Metaphysik des »Wissens«. Die theo-
retische Philosophie wird Wissenschaftslehre, und da dieser ganze
Gedankenprozeß auf der Überzeugung beruht, daß der mensch-
lichen Erkenntnis die theoretische Begründung von Moral und
Religion versagt ist, so wird die Metaphysik eine Wissen-
schaft von den Grenzen der menschlichen Erkenntnis.
Wer darin den Schwerpunkt des Kantischen Kritizismus sieht,
muß dessen Ursprung bis in das Jahr 1766 zurück verlegen.
Mit dieser Ansicht rechtfertigte sich vor Kant sein fortdauerndes
Bemühen, die Methode der Metaphysik sicherzustellen und zu ver-
bessern. Mochte sie nun auch nicht mehr dem Zwecke dienen,
den er ihr einst gesetzt, so waren doch gerade die Untersuchungen
über die Methode wertvoll für die Theorie von dem Wesen und
den Grenzen der menschlichen Erkenntnis, in die er jetzt den
Schwerpunkt der theoretischen Philosophie verlegte. Seine brief-
lichen Äußerungen an Lambert lassen erkennen, wie sehr ihm
die Verbesserung der Methode der Metaphysik am Herzen lag,
und wie wenig ihn die Versuche förderten, die jener dazu gemacht
hatte. Daß die »Erfahrung« dabei mitzusprechen habe, aber
allein dazu nicht genüge, daß vielmehr »unauflösliche«, d. h. ur-
sprüngUch gültige Begriffe dazu erforderlich seien, darüber waren
beide Männer einig, aber darauf beschränkt sich auch die Über-
einstimmung. Lambert betrachtete diese Elementarbegriffe unter
dem Leibnizischen Gesichtspunkte der primae veritates, d. h. als
sachlich bestimmte Urwahrlieiten und suchte vergeblich nach
einem Prinzip zu ihrer vollständigen Darstellung. Kants per-
sönlich liebenswürdige, aber inhaltlich kühle Aufnahme dieser Ge-
I'iinwirkuiifx villi \jCti\>u\/.. 31
(laiikcii liil.il, wciiii man <jjonau zusieht, nkoiincu, daß er diesen
\Ve<^ für weiiiji, aussichtsvoll hicll. Kr seihst schlug einen andern
ein, der die unaufKislicluMi l>('i.'riff(' iiiclil im Inhalte, sondern in
der Fpi'ni der Erfahruni,^ suchte.
In der Auffinduni; dieses Prinzips ist Kant offenhar am ijieisten
durch das erkenntnistheoretische Hauptwerk von Leibniz ge-
fordert worden, das um diese Zeit bekannt wurde. Der gewaltige
Eindruck der Nouveaux essais mußte ihn in CJedankenrichtungen
zuriickfiihrcn, denen er in der Zeit seines Empirismus fremd und
fremder geworden war. Die Nouveaux essais beliandelten ja
gerade die Frage, wie die sinnliche Erfalirung zur Vernunft-
erkenntnis gesteigert wTrdcn kann. Leibniz hatte zu zeigen ge-
suclit, daß einerseits jene.,unaufl()sHchen Begriffe und Grundsätze,
mit denen der Geist den Inhalt der Erfahrung in seiner Erkenntnis
durchsetzt, nichts anderes enthalten, als das Bewußtsein der Ge-
setze der geistigen Funktion selbst, und daß anderseits der zu
bearbeitende Stoff der geistigen Form nicht als ein Fremdes
gegenübersteht, sondern diese bereits in unbewußter, dunkler
oder verworrener Gestalt in sich trägt. Diese Iheorie war die
tiefste Form, in welcher Leibniz den Gegensatz des Rationalismus
und des Empirismus dahin zu versöhnen gesucht hatte, daß er
die apriorische Erkenntnis der Vernunft von ihren eigen-^n Gesetzen
und die aposteriorische Erkenntnis der sinnlichen Erfahrung in
eine graduelle Entwickluns^sreihe brachte. Für Leibniz schloß sich
daran die weitere erkenntnistheoretische Annahme, daß die niedere
Stufe dieser Entwicklung, die sinnliche Erfahrung, die Dinge nur
in ihrer Erscheimmgsweise , daß dagegen die höhere Stufe, die
klare und deutliche Vernunfterkenntnis, uns die Gesetzmäßigkeit
der Dinge, wie sie an sich sind, zum Bewußtsein bringe. Mit
diesem Gegensatze hing der andere zusammen, daß Vernunft-
erkenntnis eine notwendige und allgemeine, daß dagegen sinnliche
Erkenntnis immer nur eine zufällige und besondere Geltmig zu
beanspruchen habe. Wenn sich Kant in diese Gedankenw^elt hinein-
arbeitete, so gab sie ihm nach einer Richtung eine wertvolle psycho-
logische Erklärung des Gegensatzes von Form und Inhalt der Er-
kenntnis. Die Formen, die nur Verhältnisse sind, in welche der
Inhalt durch das Denken tritt, durften als die bewußt gewordenen
Funktionsgesetze der Intelligenz gelten, und er befand sich mit
32 Kants Entwicklung.
Leibniz in Übereinstimmung, wenn er daran festhielt, daß diese
Formen im menschliclien Geiste nur an einem erfahrungsmäßigen
Inhalt als die Funktionen von dessen Verarbeitung zum Bewußtsein
kommen. Hatte daher Leibniz von einem virtuellen Eingeborensein
der Ideen (im Gegensatze zur Lehre der Cartesianer und der Neu-
platoniker) gesprochen, so überzeugte sich Kant, daß die »un-
auflöslichen« Begriffe, die in der Metaphysik gesucht werden
sollten, nur Verhältnisbegriffe und Funktionsformen der Ver-
nunft sind, vermöge deren die Synth esis des Erfahrungsstoffes
vollzogen und zum Bewußtsein gebracht wird. Die Erfahrung
erscheint ihm danach als eine Synthesis, deren Inhalt a posteriori
durch die Sinnlichkeit, deren Form a priori durch die Vernunft
gegeben ist.
Diese Verstärkung, welche das rationalistische Element in
Kants Denken durch den Einfluß von Leibniz erfuhr, wäre viel-
leicht dazu angetan gewesen, ihn vollständig auf die Seite des
früheren Rationalismus zurückzuziehen, wenn jene Erkenntnis-
theorie nicht mit seinen Überzeugungen vom Wesen und Werte
der Mathematik in einem weittragenden Widerspruche gestanden
hätte. Mit Hilfe der Unterscheidung von "Dingen an sich und
Erscheinungen erkannte die Leibnizische Lehre den Empirismus,
der jetzt bei Kant schon einen so bedeutenden Raum einnahm,
zwar an, aber doch nur in der Weise und mit der Beschränkung,
daß die Erfahrung eine zufällige Erkenntnis der sinnlichen Er-
scheinungsweise der Dinge enthalte. Hatte Kant in seiner dem
Empirismus nahestehenden Periode sich vollkommen klar gemacht,
daß es eine Erkenntnis von Tatsachen und ihrem kausalen Zu-
sammenhange durch bloße Begriffe nicht geben kann, so war das
auch die Ansicht von Leibniz; aber für Leibniz waren deshalb
auch die »Tatsachen« nichts als die sinnliche Erscheinungsform
der Dinge, während deren wahres metaphysisches Wesen ihm nm-
durch die reine Vernunfterkenntnis zugänglich galt. So beruhte
die ganze Leibnizische Erkenntnistheorie auf der Grundannahme,
daß Vernunfterkenntnis mitlnotwendiger und allgemeiner Erkenntnis
und mit Erkenntnis des Wesens der Dinge, umgekehrt aber sinn-
liche Erkenntnis mit zufälliger Erkenntnis und mit Erkenntnis
der Erscheinung identisch sei. Wenn Kant gegen die zweiten
Glieder dieser Identifikation nichts einzuwenden fand, so wurde
Vorfltniul lind Sinnlirhkoit,. 3H
cv lim so inolir stiitzi<j; in Riicksiclit dor crston. Und an dicHor
Stelle seiner Eniwicklung nun war oh, wo die Mathematik von
entscheidender l^edeutun«]; für ihn winde. Sic füpjto sich in das
Schema der Leibnizsclien Krkenntnislehre so lan^e ein, als man
sie für eine analytisch verfahrende Wissenschaft des reinen Ver-
standes hielt, wie das eben in der pjesamten vorkantischen Pliilo-
sophie geschah. Nun aber hatte sich Kant überzeugt, daß die
Mathematik eine anschauliche Wissenschaft der Sinnlichkeit sei,
und so bildete für ihn die Notwendigkeit und All<^^emcin^ülti^keit
ihrer Erkenntnisse, an der niemand und am allerwenigsten er
selbst zweifelte, eine negative Instanz gegen die Leibnizsche Er-
kenntnislehre. Sie lieferte den Beweis, daß es sinnliche Erkenntnis
gibt, welche vollkommen ,, klar und deutlich ist, y und auf der
anderen Seite bildete die Verworrenheit der metaphysischen Systeme
den Beweis, daß ein Denken, das lediglich mit reinen Begriffen
zu operieren glaubt, durchaus nicht immer den Ansprüchen der
Klarheit und Deutlichkeit genügt.
Wollte Kant nun seine eigene Ansicht vom Wesen der Mathe-
matik und doch zugleich die rationalistische Auffassung von Leibniz,
welche ihm in Rücksicht auf die Erkenntnis der Dinge an sich
eingeleuchtet hatte, festhalten, so blieb nichts anderes übrig, als
jene Annahme seines großen Vorgängers umzugestalten, wonach
die Sinnlichkeit sich zum Verstände als die niederere, unklarere
und verworrenere zu der höheren, klareren und deutlicheren Er-
kenntnisstufe verhalten sollte. Während also für Leibniz Sinnlich-
keit und Verstand nur zwei verschiedene Entwicklungsstufen des-
selben einheitlichen Erkenntnisvermögens gewesen waren, so kam
Kant dem Gedanken auf die Spur, ob nicht in beiden zwei grund-
verschiedene Tätigkeitsweisen des erkennenden Geistes vorliegen
sollten. Wenn er Sinnlichkeit und Verstand als zwei entgegen-
gesetzte Erkenntnisweisen betrachtete und die schärfste Sonderung
ihrer Erkenntnisgebiete verlangte, so schien sich zunächst seine
eigene Überzeugung von der Mathematik mit der Leibnizischen
Lehre vertragen zu wollen. Wendete man nämlich dann auf beide
den Unterschied von Form und Inhalt des Denkens an, so konnte
man auf beiden Gebieten den Inhalt als ein Zufälliges und Tat-
sächliches, die Form dagegen als ein Notwendiges und Allgemeines
ansehen. Alles kam daher für Kant darauf an, ob man in der
Windelband, Gesch. d. ii. Philos. H. 3
^imm
34 Kants Entwicklung.
Sinnlichkeit ebenso reine Formen zu entdecken vermögen würde,
wie es die Leibnizsche Erkenntnistheorie binsicbtlicli des Verstandes
tat. Wenn Kant solche »Formen der Sinnlichkeit« suchte, so
konnte es nur an der Hand der Mathematik geschehen, deren
Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit ja eben dadurch begründet
werden sollte. In diesem Zusammenhange der Gedanken machte
Kant die einschneidendste seiner Entdeckungen. Es ergaben sich
ihm nämlich die beiden reinen Anschauungsformen, Raum
und Zeit, jener dem geometrischen, diese (als das Element des
sukzessiven Zählens) dem arithmetischen Teile der mathematischen
Gesetzmäßigkeit zugrunde liegend. Denkt man sich eine Er-
kenntnistheorie von diesem Standpunkt aus durchgeführt, so
beruht sie auf der Kreuzung der beiden Gegensätze von Sinnlich-
keit und Verstand einerseits, von Inhalt und Form anderseits,
und sie überträgt dann das Prinzip von Leibniz' Nouveaux essais
auch auf die Sinnlichkeit. Es gibt dann in Gestalt der Emp-
findung einen zufälligen Inhalt der Sinnlichkeit, welcher lediglich
eine Erscheinungsform der Dinge darstellt; es gibt reine Formen
der Sinnlichkeit, Raum und Zeit, welche mit ihren mathematischen
Gesetzen ein adäquater Ausdruck der absoluten Wirklichkeit sind;
es gibt einen aus den sinnlichen Anschauungen durch das logische
Denken gewonnenen empirischen Inhalt der Verstandeserkenntnis,
der natürlich auch wieder nur die Erscheinung der Dinge spiegelt;
es gibt endlich reine Formen der Verstandeserkenntnis, in denen
sich der metaphysische Zusammenhang der Dinge an sich dar-
stellt. Eine solche Auffassung arbeitete alle Richtungen der bis-
herigen Erkenntnistheorie ineinander, sie erkannte die Subjek-
tivität der sinnlichen Empfindungen an, sie gab dem Empirismus
so weit Raum, als er eine verstandesmäßige Bearbeitung dieser
subjektiven Erscheinungen beanspruchte, sie begründete ^^äeder
eine Metaphysik durch reine Verstandesbegriffe, und indem sie
mit den letzteren die reinen Formen der Sinnlichkeit, Raum und
Zeit, parallel behandelte, gab sie auch dem Newtonschen Grund-
gedanken einer metaphysischen Realität von Raum und Zeit eine
Stelle im System der Erkenntnistheorie. Betrat Kant diesen Stand-
punkt, so stellte er sich vermöge seiner neuen Unterscheidung
von Sinnlichkeit und Verstand als zweier nicht graduell, sondern
prinzipiell verschiedener Erkenntnisweisen nicht nur der Leibnizi-
Sinnliche uiul ü))crHinnliclio Wolt. HO
sehen Lehre von der Phänoinenalität de« Raumes, .sondern vor
aHom seiner ei<venen früheren naturphilosophischen Theorie von
dem Vorhiütnis des Körpers zum llainne diametral gegenüber.
Als Anzeichen für diese Phase seiner Entwicklun«^ besitzen wir
nur das Schriftchen »Vom ersten Grunde des Unterschiedes der
Gegenden im Räume« aus dem Jahre 17()8. In diesem entwickelt
Kant an der Hand des Problems der symmetrischen Körper, daß
es Unterscliiede im Wesen der K()rper Lubt, die ledifi^lich räum-
licher Natur sind, und daß diese Unterschiede niemals begrifflicli
definiert, sondern immer nur anschaulich bezeichnet werden können.
Daraus folgt in objektiver Beziehung, daß nicht, wie Kant früher
mit Leibniz gelehrt hatte, die Körper erst den Raum, sondern
vielmehr der Raum die Körper möglich macht, daß also der
Raum" eine der Möglichkeit der Körper überhaupt zu-
grunde liegende Realität ist: in subjektiver Beziehung da-
gegen ergibt sich, daß unsere Erkenntnis dieses Raumes nicht
begrifflicher, sondern anschaulicher Natur ist. Das Newtonsche
Element steht wieder stark und kräftig neben dem Leibnizischen.
Aber Kant ist auch dabei nicht stehen geblieben, sondern hat
sich von diesem Standpunkt aus gleichmäßig über beide Elemente
erhoben. Was ihn weiter geführt hat, sind offenbar wesentlich
zwei Gedankenreihen von sehr verschiedener Richtung. Zunächst
vertiefte er sich immer energischer in das von ihm neu formu-
lierte Verhältnis von Sinnlichkeit und Vernunft, und dabei erfuhr
dieses eine derartige Ausbildung und Umbildung, daß es den
Charakter eines Wertverhältnisses annahm. Schon bei Leibniz
deckte sich ja dieser Gegensatz mit demjenigen der sinnlichen und
der übersinnlichen Welt, und wenn Kant wieder die Möglichkeit
der rationalistischen Erkenntnis der Dinge an sich energischer ins
Auge faßte, so regten sich in ihm alle Triebe, welche auf die
moralische und religiöse, d. h. auf die übersinnliche Bestimmung
des Menschen hinwiesen, und er warf wiederum sein Auge auf
die Metaphysik, ob sie ihm nicht doch noch den wissenschaft-
lichen Beweis für den Inhalt seiner praktischen Überzeugung
geben könnte. Zugleich aber nahm diese Überzeugung selbst im
Zusammenhange mit jenen theoretischen Überlegungen eine schärfere
und eigenartigere Gestalt an. Hatte er nämlich auf dem Gebiete
der Erkenntnis eingesehen , daß der allmähliche Übergang der
3*
36 Kants Entwicklung.
sinnlichen in die verstandesmäßige Erkenntnis ein Irrtum des
bisherigen Rationalismus und durch die scharfe Sonderung zwischen
beiden zu ersetzen sei, so galt die gleiche Konsequenz auch für
das praktische Leben. Die empiristische Moralphilosophie, welche
er selbst in den »Beobachtungen« noch vertreten hatte, leitete
die moraUschen und religiösen Gefühle und Handlungen aus der
allmählichen Veredlung der sinnlichen Triebe her. Dieser Ansicht
konnte Kant mit seiner neuen psychologischen Auffassung um
so weniger beitreten, als gleichzeitig in seinem ganzen persön-
lichen Wesen eine rigorosere Stimmung Platz griff, worin er die^
MoraUtät dem ganzen natürlichen Triebsystem in der schärfsten
Weise entgegensetzen zu müssen glaubte. So bestimmte seine
praktische Überzeugung auch sein theoretisches Denken schon
hier: er mußte von ihr aus den sinnlichen Trieb und den ver-
nünftigen Trieb als grundverschiedene und ebendeshalb antagoni-
stische Formen der praktischen Natur des Menschen ansehen.
Jener persönliche Rigorismus, der mit den Jahren mehr und
mehr in Kant zur Geltung gekommen war, trat nun hinzu, um
die erkenntnistheoretische Ansicht des prinzipiellen
Gegensatzes von Sinnlichkeit und Vernunft zur inner-
sten Überzeugung des Mannes zu stempeln, und es kam ihm
gewiß aus tiefster Seele, wenn er an Lambert schrieb, er habe nun
nach mancherlei »Umkippungen« den Punkt gewonnen, von dem
er nie wieder weichen werde. Aber mit dieser praktischen Über-
zeugung mußte dann die theoretische Hand in Hand gehen,
daß die sinnliche und die übersinnliche Welt nicht gleichen W^ertes
auch für die Erkenntnis sein dürften. Galt der sinnliche Trieb
des Menschen als Gegner des sittlichen, so konnte auch die sinn-
liche Erkenntnis nicht eine Erkenntnis des wahren Wesens der
Dinge sein. Es war die eigene Natur Kants, es war sein per-
sönlicher Charakter, welcher ihn in den Piatonismus der Lcibnizi-
schen Lehre zurückzog und ihn die Lehre, daß die reinen Formen
der Sinnlichkeit ebenso wie diejenigen des Verstandes die absolute
metaphysische Wirklichkeit erkennen, wieder aufgeben ließ.
Eine andere Überlegung trat hinzu. Über die Gegensätze,
welche hinsichtlich der räumlichen Probleme zwischen Newton
und Leibniz obwalteten, hatte Kant sich früher durch des letzteren
Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung hinwegzuhelfen
AiitiiiomioM. 37
gewußt. Wenn er jetzt eine Zeitlang der NewtonHchen Auf-
fassung von der absoluten Realität des Raumes und der Zeit
zuneigte, so wurden diese Probleme von neuem in ilim lebendig.
Es waren nanientlicli die Begriffe der Totalität und der Unend-
lichkeit, welclie ihm Scliwierigkeiten machten, und schon damals
stieß er, wie sicli durch mancherlei Zeugnisse hat wahrscheinlich
machen lassen, auf die rätselhafte und ihn beunruhigende Tat-
sache, daß er sich hinsichtlich dieser Probleme die widersprechenden
Lehrsätze der verschiedenen Ansichten mit gleicher Sicherheit be-
weisen und sie somit auch zu gleicher Zeit durcheinander wider-
legen zu können meinte. Daß sowohl die Ausdehnung als auch
die Teilbarbeit der räumlichen Körperwelt eine Grenze habe,
schien ebenso des Beweises fähig, wie daß es eine solche Grenze
nicht geben könne. Was Kant später die mathematischen Anti-
nomien genannt hat, bewegte ihn schon um diese Zeit und gab
mit den Ausschlag für die weitere Wandlung seiner erkenntnis-
theoretischen Ansicht. Ein Raum, von dem sich beweisen ließ,
daß er begrenzt und daß er unbegrenzt, daß die ihn erfüllende
Körperwelt bis ins UnendÜche teilbar und daß sie es nicht sei,
konnte unmöglich eine metaphysische Realität sein : denn er wäre
der gesetzte Widerspruch ; eher ließe sich diese Antinomie begreifen,
w^enn der Widerspruch in unsere Vorstellungstätigkeit verlegt
würde, d. h. wenn der Raum keine metaphysische Realität, sondern
nur eine menschliche Anschauungsform wäre. So drängte auch
diese Betrachtung von der Newtonschen Lehre wieder ab und
der Phänomenalität des Raumes wieder zu; sie störte aber in
keiner Weise das frühere Ergebnis von Kants Überlegungen,
wonach Raum imd Zeit als reine Formen der Sinnlichkeit und
als Grundlage der gesamten Sinnenwelt betrachtet werden sollten.
Ja, jene Phänomenalität schien sich am besten begreifen zu lassen,
gerade wenn man Raum und Zeit als die im Geiste des Menschen
vorgezeichnet liegenden Auffassungsweisen unserer sinnlichen Emp-
fänghchkeit bestimmte.
Nur aus der Verschlingung dieser mannigfaltigen Gedanken-
reihen läßt sich der eigentümliche, nach vorwärts und rückwärts
schillernde Standpunkt begreifen, den Kant in seiner Inaugural-
dissertation einnahm. Die wesentliche Aufgabe dieser Schrift
sah Kant später selbst darin, seinen neuen Lehrbegriff vom
38 Kants Entwicklung.
Wesen des Raumes und der Zeit zu entwickeln. Diese Aufgabe
erfüllt er nach einer vorangeschickten Untersuchung über den
Begriff der »Welt«, worin jene an tinomischen Betrachtungen leise
anklingen, durch eine scharfe Präzisierung des Gegensatzes von
Sinnlichkeit und Verstand. Jene ist die Rezeptivität, dieser die
Spontaneität unseres Erkenntnisvermögens. Jene enthält daher
nur die subjektive Art und Weise, wie sich die Dinge in unserer
Empfänglichkeit darstellen, dieser erkennt mit den reinen Formen
seiner eigenen Funktion den Zusammenhang der absoluten Wirk-
lichkeit. Aber auch die Sinnlichkeit besteht nicht nur in dem
Vermögen affiziert zu werden, sondern vor allem darin, daß die
bei dieser Affizierung entsprungenen Empfindungen in uns eine
Anordnung nach räumlichen und zeitlichen Gesetzen finden, durch
welche Synthesis erst das anschauliche Bild einer Sinnenwelt in
uns entsteht. Kant liefert hier den im wesentlichen nachher
von der »transzendentalen Ästhetik« reproduzierten Beweis, daß
Raum und ^Zeit nicht Gegenstände der Empfindung, sondern viel-
mehr synthetische Formen sind, nach denen sinnliche Empfindungen
angeordnet werden, und daß diese Formen in uns nicht erst durch
Abstraktion aus den einzelnen Erfahrungen begründet werden
können, sondern vielmehr die ursprünglichen und bei den ein-
zelnen Wahrnehmungen erst zur Anwendung und zum Bewußt-
sein kommenden Funktionsgesetze der Sinnlichkeit sind. Er
behandelt also Raum und Zeit genau so, wie Leibniz in den
Nouveaux essais die Formen der Verstandestätigkeit behandelt
hatte; er behauptet von ihnen dasselbe Virtuelle Eingeborensein,
welches Leibniz den »ewigen Ideen« zugeschrieben hatte, und
wie jener darauf die Möglichkeit einer reinen imd allgemeingültigen
Verstandeserkenntnis, so gründet Kant darauf seine Lehre von
einer reinen, notwendigen und allgemeingültigen Erkenntnis der
Sinnlichkeit, d. h. der Mathematik. War die Leibnizische Ontologie
eine Reflexion auf die notwendigen Formen des Denkens, so ist
für Kant die Mathematik eine Reflexion auf die notwendigen
Formen der sinnlichen Anschauung.
Indem aber Kant mit Leibniz die Erkenntniskraft der Formen
des Denkens für das metaphysische Wesen der Dinge anerkannte,
schränkte er nun ebenfalls mit ihm die Similichkeit auf die Er-
scheinungen ein. Jene ganze Außenwelt, welche durch die Syn-
Iimii^'uriildiHHcrtation. 3U
theais der Einpfinduii;4en in liliuiiliclior und zeitlicher Fonn für
unsere Vorstellung entstellt, gilt ihm nur noch als die Erscheinungs-
weise der »Dinge jin siclu<. Ihre. Elemente, die sinnlichen Emp-
findungsquiilitiiten, sind VVirkungswei.'-en der Dinge auf uns —
diese seit (Jalilei, Descartes, llobbes und Locke der qiodernen
Philosophie allgemein eigene Auffassung behandelt Kant als so
selbstverständlich, daß er sie kaum mehr berührt — : und die
Anschauungsbilder, die sich aus diesen Elementen zusammensetzen,
vollziehen sich nach dem Schema von Kaum und Zeit, welches
lediglich die Form unserer sinnlichen Anschauung ist. Da nun
Kant an der Newtonschen Auffassung festhält, daß die Körper
nur im JRaume möglich sind, so fallen damit auch die Körper
restlos unter den Begriff der Erscheinung. Die gesamte körper-
liche Welt ist lediglich Erscheinung, und von denr Ding an sich,*
welches dahinter steckt, wissen wir durch die sinnliche Erfahrung
nichts.
Aber das gleiche Prinzip gilt auch für die innere Erfahrung,
welche der äußeren als ebenbürtig an die Seite gestellt zu weiden
pflegte. Auch sie enthält nur die Axt und Weise, wie unser Be-
wußtsein von unserem Wesen und seinen Zuständen affiziert wird,
und für die Form der Synthesis dieses inneren Sinnes erklärt
Kant in einer weiterhin zu besprechenden Weise die Zeit. Nimmt
man dies hinzu, so ergibt sich, daß die ganze Welt der Erfahrung
nur die Erscheinung und nicht das Wesen der Dinge an sich uns
offenbart. Die Welt der Erfahrung ist der mundus sensilibus,
zusammengesetzt aus den Empfindungen und beherrscht von den
Gesetzen der reinen Anschauung, Kaum und Zeit. Von diesen
gibt die Mathematik eine notwendige und allgemeingültige Er-
kenntnis, weil wir imstande sein müssen, die Formen, in denen
wir anzuschauen durch unsere eigene Natur genötigt werden, und
welche deshalb in aller Anschauung als bestimmendes Gesetz wieder-
kehren, uns zum klaren und deutlichen Bewußtsein zu bringen. Daher
kann mit Hilfe der Mathematik durch eine diskursiv begriffliche
Verarbeitung der sinnlichen Erfahrungsdaten die theoretische Natur-
wissenschaft gewonnen werden, wie sie in Newtons »Naturalis
philosophiae principia mathematica« vorliegt. Diese Newtonsche
Theorie, deren Geltung für Kant durch seine ganze Entwicklung
hindurch felsenfest beharrte, erschien jetzt philosophisch als eine
40 Kants Entwicklung.
apriorische Erkenntnis der Erscheinungswelt (apparentia) begründet,
und damit war ein Ziel erreicht, das Kant, für den immerdar
»Wissenschaft« im Sinne dieser Newtonschen Theorie gegolten
hat, bei allen seinen Wandlungen des erkenn tnis theoretischen
Standpunkts mit zäher Stetigkeit im Auge behalten hatte.
In solcher Schöpfung der mathematischen Theorie der Er-
scheinungswelt war der »Verstand« nur auf den »usus logicus«
beschränkt: daneben aber nimmt der Philosoph für denselben
spontanen Verstand auch noch einen »usus realis« von meta-
physischer Geltung in Anspruch. Denn der sinnhchen Welt stellt
er als ein toto genere Verschiedenes die intelligible Welt gegen-
über, die Welt der Dinge an sich, auf welche die Bestimmungen
unserer Sinnlichkeit keinerlei Anwendung finden, und deren Wesen
wir nur durch die reinen Formen der Verstandeserkenntnis zu be-
greifen imstande sind. In der Ausführung der letzteren Lehre ist
Kant verhältnismäßig kurz; sie war ja nur eine Eeproduktion der
Leibnizischen Ansicht, deren Übertragung mutatis mutandis auf
die sinnliche Welt und auf die Mathematik die eigentliche Absicht
seiner Schrift war. Schärfer aber und weit energischer als Leibniz,
und in vermutlich unbewußter totaler Übereinstimmung mit
Piaton, betont Kant den unüberbrückbaren Gegensatz zwischen
der sinnlichen Welt der Erscheinungen und der intelhgiblen Welt
der Dinge an sich. Über das Verhältnis der Wissenschaften und
speziell der Metaphysik zu diesen beiden Welten haben sich Kants
Ansichten noch mannigiach geändert: aber dieser platonisierenden
Weltanschauung, welche sich durch die schroffe Scheidung der
sinnlichen und der übersinnlichen Welt charakterisiert, ist er treu
geblieben, — so treu, daß er damit selbst die Konsequenz seines
wissenschaftlichen Denkens durchbrochen hat. In diesem Sinne,
mit Rücksicht auf den Durchbruch der persönlichen Weltanschauung,
ist die Inauguraldissertation wirldich der Beginn der Kantischen
Selbständigkeit; sie ist es, wie der scharfe Bruch mit der sen-
sualistischen Moralphilosophie bekundet, nicht minder hinsichtlich
der gleichmäßigen Anwendung des Gegensatzes von Vernunft und
Sinnlichkeit auf die theoretische und die praktische Philosophie. Aber
von dem geheimsten Tief sinn der Kantischen Erkenntnistheorie
und damit von der bahnbrechenden Kraft des Kantischen Denkens
zeigt sie noch keine Spur. Die Lehre der transzendentalen Ästhetik
ÜhüigHUK zur Krilik. 41
enthält öiü bereits völliir; aber diese betrifft nur jene neue Dur-
stellung tler JMiitoniHchen Weltansicht, in der Kants persönliehe
Überzeu^aui«^^ sicli ausprägt, und in der seine wahre philosophische
Orij^inahtät nicht zu suchen ist. Allein der Inauj^iiraldissertation
fehlt noch die eigenste Tiefe des Kantischen Denkenfy sie hat
noch keine Ahnung von der transzendi^ntalen Analytik.
Für den Weg bis zu deren Veröffentlichung hat Kant bekannt-
lich ein Jahrzehnt gebraucht, und was wir von den Eta}>pen
dieses dornenvollen Weges durch die letzten Geheimnisse des
menschlichen Denkens wissen, besteht in so abgerissenen Brief-
stellen und so schwer datierbaren Notizen, daß schon die hypo-
thetische Ökizzierung dieser Entwicklung auf große Schwierigkeiten
stößt. Allein die Vergleichung der Kritik der reinen Vernunft
mit jenem Stande des Kautischen Denkens, dessen Umriß die
Inauguraldissertation darbietet, gibt doch wenigstens einige An-
deutungen, aus denen man die Hauptzüge der Entwicklung zu
ahnen vermag. Den Schwerpunkt bildet wieder unverkennbar das
Verhältnis der Mathematik zur Metaphysik. In der Inaugural-
dissertation ist jene die apriorische Erkenntnis der Sinnen weit
auf Grund der reinen Anschauungen Raum und Zeit, ist diese
die apriorische Wissenschaft von der intelligiblen Welt auf Grund
der reinen Formen des Denkens. Darin besteht ihr Parallelismus.
Aber zugleich ist die Mathematik eine notwendige und allgemeine
Erkenntnis der Erscheinungen, ist dagegen die Metaphysik eine
notwendige und allgemeine Erkenntnis der Dinge an sich, weil
die eine auf die Formen der sinnhchen Empf änghchkeit , die
andere auf die Formen des Denkens reflektiert. Darin besteht
ihre Verschiedenheit. Zahkeiche, z. T. auf persönlichen Über-
zeugungen beruhende Vermittlungen waren es, infolge deren Kant
diesen verschiedenen Wert der Formen der Sinnlichkeit imd des
Verstandes auch für die Erkenntnis aufrecht erhalten zu sollen
glaubte: der Vorgang von Leibniz, das praktische Bedürfnis,
sinnliche und übersinnliche Welt scharf zu scheiden, endlich die
sachlichen Schwierigkeiten, welche der antinomische Charakter
einer räumlichen und zeitlichen Welt, wenn sie in metaphysischer
Realität gedacht werden sollte, ihm darzubieten schien. Aber
wie das System der Inauguraldissertation so vor ihm lag, da
mußte doch die rein theoretische Frage ihn ergreifen, welches
42 Kants Entwicklung.
denn die Berechtigimg für eine so verschiedene Behandlung beider
Elemente des menschlichen Erkennens sei. Raum und Zeit auf
der einen Seite und die Verstandesbegriffe auf der andern Seite
galten ihm gleichmäßig als die reinen Formen der menschlichen
Vorstellungstätigkeit, jene des Anschauens, diese des Denkens.
Warum sollten die einen mehr realen Wert haben als die andern?
Wenn die Formen der Anschauung nur eine menschliche Vor-
stellungsweise der Dinge an sich bilden — und das war zur
unzerstörbaren Gewißheit für Kant geworden — , warum sollten
die Formen des Denkens die Dinge an sich begreifen ? Auch das
Denken mit allen seinen Formen und Gesetzen ist doch zunächst
nur ein subjektiver, eben ein menschlicher Vorstellungsprozeß:
wenn die menschliche Anschauung nur subjektiv ist, gilt nicht
dasselbe aus demselben Grunde auch für das menschliche Denken ?
In der Inauguraldissertation hatte Kant bei der kurzen Behand-
lung der rationalistischen Metaphysik das Recht des logischen
Denkens, Dinge an sich zu begreifen, darauf zurückgeführt, daß
die Welt der Dinge an sich eben die intelligible sei, daß sie ihren
Ursprung in demselben göttlichen Geiste habe, aus dem auch
der menschliche Geist mit seiner ganzen inneren Gesetzmäßigkeit
des Denkens hervorgegangen sei. Er hatte auf Malebranche und
dessen Lehre, daß die Erkenntnis Gottes diejenige der Welt in
sich enthalte, als die seiner Auffassung am nächsten liegende
hingewiesen. Aber dagegen ließ sich zweierlei einwenden. So
gut wie die Gesetze des Denkens, sind auch die reinen Formen der
Anschauung ursprüngliche Besitztümer des menschlichen Geistes,
wie er aus der Hand der Gottheit hervorgegangen ist, Besitz-
tümer, deren wir uns als der gesetzmäßigen Funktionen unserer
eigenen Intelligenz erst bei Gelegenheit der Erfahrung gerade so
wie der Formen des Denkens bewußt werden. Galten deshalb
diese als Erkenntnis des Wesens der Wirklichkeit, warum nicht
auch jene, über deren bloße Phänomenalität Kant in sich keinen
Zweifel mehr duldete ? Zweitens aber setzte diese ganze Auf-
fassung zwischen den Formen des menschlichen Denkens und
dem Wesen der Dinge eine durch die gemeinsame Abstammung
aus der Gottheit erklärte »prästabilierte Harmonie« voraus. In
diesem Sinne war die Inauguraldissertation durchaus von Leib-
nizischem Geiste beseelt. Aber zu tief wurzelte in Kant die
(legonstand (l(;r KrkfMintniH. 4.'i
Abneigung gc<j;cn die Aniiahiiic der piä.stabilicrtcri Ifarnioiiic (eine
Abneigung, die in ihm diiicli Martin Knutzen befestigt war), als
daß er sich bei dieser Erklärung hätte beruhigen sollen, und so
stieß er auf den Kern aller erkenntnistheoretischen Untersuchungen
mit der Frage, wie denn überhaupt das menschliche Denken
dazu komme, mit seinem Inhalte so gut wie mit seinen reinen
Formen die Wirkliclikeit als seinen Gegenstand zu erfassen. In
dieser Frage und ihrer Beantwortung nach den gegebenen Prämissen
des Kantischen Denkens, in dieser Frage, welche der Philosoph
am klarsten in seinem Briefe an Marcus Herz vom 21. Februar
1772 formuliert hat, liegt der wahre Ausgangspunkt und die
Größe der Kantischen Philosophie auf erkenntnistheoretischem
Gebiete. Mit dieser Frage steht er auf dem Pmikte, den »naiven
Realismus << in seiner ganzen Tragweite zu durchschauen und zu
durchbrechen, vmd damit erst an der Schwelle der kritischen
Philosophie.
Der naive Realismus des gemeinen Denkens macht sich mit
dieser Frage nicht viel zu schaffen ; er meint, die Dinge spazierten
so in den erkennenden Geist hinein, drückten sich in ihm ab,
spiegelten sich in ihm, würden von ihm erfaßt, oder wie sonst
das sinnliche Bild ist, mit dem man dem Erkenntnisprozeß einen
Namen gibt. Der RationaHsmus macht diese Frage vollständig
überflüssig, indem er von vornherein das Postulat aufstellt, daß,
was '^ notwendig gedacht wird , auch ist. Wo ihm einmal das
Problem aufstößt, wie man denn dessen gewiß sein könnte, da
hilft er sich in der Richtung, wie es Kant selbst in HinbHck
aut Leibniz und Malebranche in der Inauguraldissertation ver-
suchte. Am schw^ersten wiegt jene Frage für den Empirismus
und Sensualismus. Selbst wenn dieser annimmt, die einzelnen
Erfahrungen seien Abbilder der Dinge, so wird es für ihn um
so schwieriger, zu begreifen, wie es kommen soll, daß die Be-
ziehungen, welche das Denken zwischen dem Inhalte der Wahr-
nehmungen aufstellt, ebenfalls Abbilder der Realität seien. Wo
daher der Empirismus ganz konsequent durchgeführt wurde, da
mußte er notwendig in den terministischen Subjektivismus und
Skeptizimus umschlagen, da büeb nichts weiter übrig (selbst
wenn man von der Phänomenalität der Sinnesempfindungen ab-
sehen wollte), als den ganzen Prozeß des Denkens für ein
44 Kants Entwicklung.
subjektives Gebilde zu erklären, dessen reale Bedeutung niemals
erwiesen werden könne. So weit war der Scharfsinn und die
spekulative Energie von David Hume gedrungen. Das Humesche
Argument galt aber, wie sich Kant überzeugen mußte, schließ-
lich auch für den Rationalismus und Apriorismus. Konstruierte
dieser seine notwendigen Wahrheiten, sei es in der Mathematik,
sei es in der Metaphysik, durch Reflexion auf die gesetzmäßigen
Funktionsformen der Vorstellungsfähigkeit, so lag nirgends ein
Punkt vor, von dem aus sich die metaphysische Realität dieser
Formen behaupten ließ. Die Phänomenalität der in der Mathe-
matik zu erkennenden Formen der Sinnlichkeit hatte Kant bereits
anerkannt: weshalb sträubte er sich, das gleiche von den Formen
des Denkens zu sagen?
Aber so einfach ist der Kantische Gedanken prozeß nicht
gewesen: er verwickelte sich noch viel mehr durch die weitere
Frage, in welcher Weise wir denn überhaupt veranlaßt mid be-
rechtigt sind, unsere Vorstellungen auf außer uns befindliche
>> Gegenstände « zu beziehen. Alle unsere Vorstellungen von Dingen
sind Synthesen jener einfachen Empfindungen, in denen wir uns
durch die Außenwelt affiziert glauben. Betrachteten wir nun diese
Verbindungen eben lediglich als in unserm Bewußtsein sich voll-
ziehende Gebilde, so existierte gar keine erkenntnistheoretische
Schwierigkeit. Allein wir sehen diese Synthesen nicht als sub-
jektiv und willkürlich, sondern als objektiv und notwendig an.
Soll untersucht werden, mit welchem Rechte das geschieht, so
hat Kant nach dem Vorgange des gesamten XVIII. Jahrhunderts
zunächst nur die psychologische Methode, den Ursprung unserer
Vorstellungen von Gegenständen ins Auge zu fassen. In dieser
Hinsicht stand nun Hume unter dem Prinzip der Assoziations-
psychologie und meinte jene Synthesen lediglich als Produkte des
psychischen Mechanismus auffassen zu müssen, in welchem nichts
weiter als der ursprüngliche Inhalt der in der Synthesis zu-
sammengefaßten Vorstellungen tätig wäre. Hierin aber stand
Kant umgekehrt auf dem Standpunkte von Leibniz und war
sich darüber klar, daß eine jede solcher Synthesen durch eine
geistige Funktion vonstatten geht, deren Form wir uns als einen
reinen Begriff zum Bewußtsein bringen können. Wenn daher
irgendwo ein Grund dafür vorliegen soll, daß unseren subjektiven
JitMhili/. und ITtimo. IT)
V<)rstcllunpfrtV(M'kniipfun<^foii ohjivlvtivo Orllim;^ zukommt, ho irtt er
nur hei der Funktion jener reinen Begriffe zu suchen. In dicHem
Zusammenhanij^e der Gedanken er<^'aben sich für Kant zwei Auf-
gaben: zuer.st jene reinen Begriffe systematisch zu suchen und
zweitens sich khir zu machen, wie dadurch unsere «ubjektiven
VorsteUungsgebilde den Wert der Objektivität annehmen. Was
das erste anbetrifft, so wurde Kant auf den Umstand aufmerksam,
daß nach der Auffassung der Logik Vorstellungsverbindungen,
deren Objektivität ausgesprochen werden soll, in der Form des
Urteils auftreten: dies benutzte er, um aus den Arten des Urteils,
wie er sie in dem Lehrvortrage der Logik darzustellen pflegte,
sein System der Stammbegriffe des Verstandes, der »Kategorien«
zu entwickeln. In der Lösung der zweiten Aufgabe dagegen gibt
er nun dem Leibnizischen Rationalismus der Nouveaux essais die
größte Vertiefung, die innerhalb der Untersuchungen über das
Wesen der menschlichen Erkenntnis je erreicht worden ist. Er
sah nämlicb ein, daß dasjenige, was wir "Erfahrung" nennen, und
was der Empirismus als ein Gegebenes zu betrachten pflegt,
bereits eine Verarbeitung des Materials der sinnlichen Qualitäten
durch die Kategorien enthält, und daß nur darauf die Notwen-
digkeit und Allgemeingültigkeit beruht, womit diese Synthesen
im Bewußtsein des Individuums auftreten. Für ihn sind deshalb
die Kategorien nicht etwas Fremdes, das willkürlich an die Er-
fahrung herangebracht würde, sondern vielmehr die organisierende
Kraft, ohne welche die Erfahrung gar nicht zustande kommen
und noch weniger in ihrer notwendigen Geltung begründet würde.
Indem die Ausführung dieser Theorie der folgenden Darstellung
der kritischen Philosophie selbst überlassen bleibt, mußten hier
nur ihre Grundzüge angedeutet werden, um die Stellung Kants
zu Leibniz und Hume auf diesem entscheidenden Wendepunkte
seines Denkens zur völligen Klarheit zu bringen. Kant führte
das Leibnizische Prinzip des »virtuellen Eingeborenseins« der
Ideen in der umfassendsten Weise durch, und in diesem Sinne
hatte er recht, wenn er später einmal erklärt hat, es möchte
wohl die Kritik der reinen Vernunft die eigenthche Apologie für
Leibniz selbst wider seine Anhänger sein. Aber er unterscheidet
sich von Leibniz wesentlich darin, daß die die Erfahrung kon-
stituierenden »Ideen« bei ihm nicht sowohl die logischen als die
4ß Kants Entwicklung.
erkenntnistheoretisclien Formen des Denkens sind, und so be-
gründet er neben der formalen die transzendentale Logik. Mit
dieser Ausbildung der Leibnizschen Gedanken überwindet Kant
den Humeschen Skeptizismus, und die erkenn tnistbeoretiseben
Formen, unter denen ihm in dieser Hinsicht die Kausalität die
wichtigste war, gelten ihm nicht als zufällige Produkte des
psychischen Mechanismus, sondern vielmehr als die konstituieren-
den Prinzipien des Erkenntnisprozesses, die deshalb für den
gesamten Inhalt des Denkens dieselbe apriorische Geltung haben,
wie die reinen sinnHchen Formen Kaum und Zeit für den ge-
samten Inhalt der Anschauung. Aber wenn damit die Apriorität
der Formen des Denkens gegen Hume gerettet ist, so hat es
nur in der Weise geschehen können, daß Kant mit Hume ihre
Phänomenalität anerkennt.
Denn' nach dieser Untersuchung treten nun die reinen Formen
des Verstandes mit denjenigen der Sinnlichkeit in einen voll-
kommenen und durchgängigen Parallelismus. Erst aus beiden
zusammen besteht die synthetische Funktion, vermöge deren die
Empfindungen für uns zu der Vorstellung von Dingen und ihren
notwendigen Beziehungen zusammenschießen. Beide sind Funk-
tionsgesetze unserer Erkenntnistätigkeit, die erst bei Gelegenheit
ihrer Anwendung uns zum Bewußtsein kommen. Von beiden
gibt es deshalb eine allgemeine und notwendige Erkenntnis, aber
beide gelten auch nur für die notwendige Vorstellungsweise, in
welcher wir nach den Gesetzen unseres »Gemüts« die Welt an-
zuschauen und zu denken genötigt sind. Jetzt erscheint an dem
Horizonte des Kantischen Denkens wiederum eine der Mathematik
an Apodiktizität ebenbürtige Metaphysik. Aber es ist nicht mehr
eine Metaphysik der "Dinge an sich^ sondern eine Metaphysik
der ^Erscheinungen. Es ist eine Lehre von den notwendigen
Begriffen und Grundsätzen, nach denen wir die Welt denken
müssen, weil schon unsere Erfahrung nur durch sie zustande
kommt.
Es darf angenommen werden, daß Kant in der Mitte der
siebziger Jahre diese Entwicklung durchgemacht hatte. Wenn
er sie noch nicht zum Abschluß brachte, so geschah es, weil in
diesem Gedankenzusammenhange (der ja unendlich viel tiefer
war, als die im Resultat scheinbar ähnliche Lehre von den »sub-
Metaphysik <lrr Ernchoinungcii. 47
jokiivisclicn NolvvcMuli^^koitcii«, wozu um die. i^hiclu'- Zeit 'I'ctonH
nicht olmo Anrosj^un^ von Kants Injuif^iiraldisHcrtation ^elan^tr.)
das Problem der lieziehun;^' unserer Vorstcllunf^en auf Din^e,
weit davon entfernt, <:rel(")st zu werden, sich nur noch mehr ver-
wickelt hatte. Denn stellte sich nun heraus, daß aHes, was wir
in Anschauung und Denken für Gegenstände anzusehen gewohnt
sind, ein immanentes Produkt unserer Vorstellungstätigkeit bildet,
daß mathematische und metaphysische Erkeimtnis, wenn auch
mit Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit, so doch immer nur
auf die Erscheinung \md nicht auf die Dinge an sich geht, so
mußte unser Denken derartig in sich selbst geschlossen und von
der absoluten Realität so vollständig getrennt erscheinen, wie
nie zuvor in einem anderen philosophischen System. Und zog
Kant diese Konsequenz, so mußte sie sich sogleich auch weiter
erstrecken und zuletzt gegen sich selber wenden. Denn wenn
weder der Weg des Anschauens noch derjenige des Denkens zur
Erkenntnis der Dinge an sich führt, so ist zimächst gar nicht
zu verstehen, wie wir überhaupt zu Vorstellungen von Dingen
an sich kommen sollen. Ist das Ding an sich ein Unbekanntes,
das jenseits der Grenze aller unserer Erkenntnisfähigkeit liegt,
welche Veranlassung haben wir, eine solche Grenze und ein jenseits
davon liegendes Etwas überhaupt anzunehmen? Jedenfalls ist
dieser Gegensatz von Vorstellung und Ding an sich, welcher die
allgemeine Grundlage des naiven Realismus ausmacht, nicht mehr
etwas so selbstverständliches, wie es der gemeinen Meinung er-
scheint, sondern er ist selbst eins der höchsten und letzten
Probleme der erkenntnistheoretischen Kritik. Wenn man sich
nur auf diesem Gebiete hält und sich aller unwillkürHchen Vor-
urteile entschlägt, so sieht man bald ein, daß es für die Er-
kenntnistätigkeit weder ein Bedürfnis ist, noch einen Sinn hat,
ein außer ihr befindliches X anzunehmen, das sie weder anzu-
schauen noch zu erkennen imstande wäre, und auf welches sich
selbst die Ajiwendung der Kategorien der Dinghaftigkeit und
des kausalen Verhältnisses hinsichtlich unserer Empfindungen
verbietet.
Aber selbst angenommen, es lägen andere Motive vor — und
es wird sich zeigen, welche für Kant vorlagen — , an der Realität
unerkennbarer^ Dinge an sich festzuhalten, so ergibt sich von
43 Kants Entwicklung.
vornherein, daß diese Annahme nicht mehr als Voraussetzung
der erkenntnistheoretischen Kritik zugrunde gelegt werden darf.
Nun beruhten aber alle die psychologischen Theorien über den
Ursprung der Erkenntnis, welche die Philosophie vor Kant und
welche Kant in ihrer ganzen Ausdehnung und in ihren fundamen-
talen Gegensätzen auch durchgemacht hatte, nun beruhte vor
allem die Fragestellung, wie kommt es, daß subjektive Denk-
prozesse objektive Geltung haben sollen, selbst auf dieser Voraus-
setzung des naiven Eealismus, daß der Geist den Dingen an
sich gegenüberstehe. Jetzt mußte Kant sich klar machen, daß
schon der Gegensatz von Subjekt und Objekt eine in ihrem Er-
kenntniswerte erst zu prüfende Voraussetzung ist, daß also das
erkenntnistheoretische Problem anders formuliert werden muß,
um jene Voraussetzung nicht von vornherein mitzumachen. Dabei
gaben ihm die Untersuchungen über die Genesis unserer Vor-
stellungen von Gegenständen die neue Fassung des Problems
unmittelbar an die Hand. Sie hatten gelehrt, daß es für den ein-
zelnen Geist ein Gegenständliches gibt, sobald durch die Funktion
der reinen Formen sich in ihm eine notwendige und allgemein-
gültige Synthesis vollzogen hat. Der Begriff de^Sj-nthesis,
d. h. der spontanen Vereinheitlichung einer gegebenen Mannig-
faltigkeit, der sachlich bereits in der Inauguraldissertation sich
ankündigte, wurde nun zum Zentralbegriff der Kantischen Philo-
sophie: mit ihm beginnt die »transzendentale Analytik«, der
entscheidende Teil der Kritik der reinen Vernunft, von welchem
aber damit das Licht einer völlig neuen Auffassung auf die
»transzendentale Ästhetik« zurückfällt. Wenn diese noch im
Sinne der Inauguraldissertation das Verhältnis von Sinnlichkeit
und Verstand nach dem psychologischen Schema des naiven
Kealismus als den Gegensatz von Rezeptivität und Spontaneität
zugrunde legt, so wird in der Lehre von der Synthesis ge-
zeigt, daß in beiden Erkenntnisweisen gleichmäßig die Beziehung
auf den Gegenstand erst durch die synthetischen Fimktionen
der reinen Formen, d. h. der Anschauungen und der Be-
griffe zustande kommt. Gegenständlichkeit heißt für den mensch-
lichen Geist Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit seiner syn-
thetischen Funktion. Die erste Vorbedingung für das Verständnis
der kritischen Philosophie ist deshalb die Einsicht in den Unter-
liegrifT der Synthosii. 49
Hcliiod, (l(Mi Kanl. hier zwisclicn OKjrlvlivitiit und Kraliliit im
Sinno (Ics <i,o\V()lmIi('li(Mi l)(^iik(Mi.s nuicht. Seine KriveiintuiMtho.Driji
jfolit. nicht mehr auf die Fnij^o liiniius, wie das J)cnkcn die
Koalitiit erfasse, sondern viclinelir auf die andere, welche Pro-
zesse des Deidcens objektiv, d. h. nolwcndi«^' und allj^cincingülti^
sind. Das ist der Sinn jener b'ra;^!» nach dem Ikgriffe der »syn-
thetischen Urteile a priori«, die Kants Kritik eniffnet. Und
nacli der ganzen Entwickhmg, welche sein Denken genommen
hatte, ist es von vornherein klar, daß diese Apriorität, diese
-Notwendigkeit und Allgcmeingiiltigkeit überall nur da gesucht
werden kann, wo es sich um eine Anwendung der reinen Formen
der Vernunft llandelt.
Ist es auf diese Weise klar, daß die Erkenntnistheorie, so
gefaßt und durchgeführt, es nur mit dem Umkreise der mensch-
lichen Erfahrung und ihrer Verarbeitung durch die reinen Formen
der Vernunft, daß sie es also mit dem Begriffe des Dinges an
sich überhaupt gar nicht zu tun hat, so mußte für Kant die
wissenschaftliche Erkenntnis wiederum in ein ganz anderes Ver-
hältnis zu seiner persönlichen Weltanschauung treten. Es hatte
sich für ihn herausgestellt, daß auch die reinen Formen des
Denkens nur innerhalb der von der sinnlichen Anschauung ge-
gebenen Materialien eine Erkenntniskraft besitzen. Die Welt der
menschlichen Erkenntnis ist, in der Sprache der Inauguraldisser-
tation zu reden, der mundus sensibilis. Wären wir nur er-
kennende Wesen, so wüßten wir von der übersinnlichen Welt
ebensoviel wie von den Dingen an sich — d. h. nichts. Aber
Kants moralphilosophische Überzeugung war ja schon vorher
völlig in sich befestigt. Für sie war es das Gewisseste, daß der
Mensch als ^moralisch frei handelndes Wesen der übersinnlichen
Welt an<2;ehört. Mochte daher auch die theoretische Vernunft
den Bemff einer intellio;iblen Welt als etwas ihr vollkommen
o o
Fremdes und Gleichgültiges beiseite schieben, — in dem sittlichen
Bewußtsein, in der prakt^chen Vernunft ruhte für Kant eine voll-
kommen gewisse Überzeugung von der Kealität einer intelligiblen
Welt von Dingen an sich. Mochten alle Formen der Erkenntnis
nicht ausreichen, sie auch nur als möglich zu denken, — die
praktische Überzeugung lebte in ihm: sie ist. So erwies sich
noch jetzt für Kant die frühere Unterscheidung der Moral und
Windelband, Gesch. d. n. Philos. U. 4
50 Antagonistische Gedankenströmungen.
der Religiosität von ihrer metaphysischen Begründung außer-
ordentlich folgenreich und entscheidend Er vermochte seine
persönliche Weltanschauung mit ihrem ganzen Rigorismus des
Gegensatzes von sinnlicher und sittlicher Welt gerade jetzt auf
dem Grunde eines moralischen Glaubens aufzubauen, wo er die
Metaphysik aus dem Reiche des Übersinnlichen verwiesen und
für eine apriorische Wissenschaft der Erscheinungen erklärt hatte.
So fand die Annahme von Dingen an sich, nachdem sie theore-
tisch unterwühlt worden war, bei Kant ihre Basis in der prak-
tischen Überzeugung, und in diesem Sinne konnte er später mit
Recht erklären, es sei ihm nie in den Sinn gekommen, an der
Realität der Dinge zu zweifeln. Diese seine Überzeugung deckte
sich aber völlig mit der Annahme des naiven Realismus, und
so kam es, daß Kant zu derselben Zeit und in demselben Werke,
wo er den naiven Realismus als eine für die wissenschaftliche
Kritik der Erkenntnistheorie unbrauchbare Voraussetzung ver-
warf, in seiner gesamten Weltanschauung mit um so größerer
Energie daran festhielt.
Aus diesem Ineinander antagonistischer Gedanken-
strömungen ist schließlich die Kritik der reinen Vernunft imd
mit ihr die gesamte kritische Philosophie hervorgegangen. In
jenem Grundwerke sind alle die Schlußreihen und alle die Auf-
fassungen, welche sich in Kants Geist um diese Zeit kreuzten,
gleichmäßig niedergelegt. Darin besteht der eigentümliche Charakter
dieses Werkes, welches so unsäglich mannigfachen Beurteilungen
unterlegen ist. Will man diese Gegensätze an einem Punkte
und auf einen Begriff konzentriert finden, so ist es derjenige
der Sinnlichkeit. Von dem rein erkenntnistheoretischen Stand-
punkte dürfte Kant »Sinnlichkeit« nur als das Gebiet der Emp-
findungen und ihrer zeitlich-räumlichen Anordnung bestimmen,
und dürfte er nur von unserer Erfahrung und ihren notwendigen
Formen sprechen. Weil er aber wegen seiner praktischen Über-
zeugung an der Realität der Dinge an sich festhielt, so konnte
er seine frühere, aus der Psychologie des naiven Realismus er-
wachsene Begriffsbestimmung, die Sinnlichkeit sei das Vermögen
des Geistes,^, affizicrt zu werden^ und seine Bezeichnung, die Welt
der menschlichen Vorstellungen sei diejenige der Erscheinungen,
auch in der Kritik der reinen Vernunft stehen lassen. Die er-
KAnti thoorctischo Philonophio. 51
konn(nisth(MH(»tis(|jo Koi imilicnni;^ isl voraiiKsolzun^HloH ^^ewonlen,
aber die psychologischen nestirnimin/^cn Hetzen noch den naiven
Realismus voraus. Damit aber war in die Darstellung^ der
Kantisclicn Kritik selbst ein innerer An<a,t,'onismuH verlegt, welcher
der Polemik eine willkommene Handhabe bot, welcher aber zu-
jj;Ieicli auch das kräftijjjste Ferment in der weiteren Ausbildung
des Kantischen Gedankenkreises gebildet hat. Diesen nun in
seiner ganzen Ausdehnung und in der Mannigfaltigkeit seiner
Bestandteile auseinanderzulegen, ist die nächste Aufgabe dieser
Darstellung.
§ 59. Kants theoretische Philosophie.
Kant selbst hat stets das größte Gewicht darauf gelegt, daß
der unterscheidende Charakter seiner Philosophie in jener neuen
Methode zu suchen sei, welche er die kritische oder die transzen-
dentale genannt hat. Um so merkwürdiger ist es, daß über das
Wesen dieser Methode unter den historischen Forschern eine fast
noch geringere Übereinstimmung besteht, als über den Entwick-
lungsgang des Philosophen. Während Kant sich schmeichelte, es
werde das Ende des Jahrhunderts nicht vergehen, ohne daß der
von ihm durch unbetretenes Dickicht gebahnte Fußsteig sich in
eine breite Heeresstraße verwandelte, so herrscht über die Ge-
samtrichtung und die einzelnen Windungen dieses Fußsteigs noch
heute Streit. Diese Tatsache macht es wahrscheinlich, daß ebenso
wie Kants Entwicklungsgang und ebenso wie der Grundstock seiner
Ansichten auch seine Methode sich nicht in eine einfache Formel
brmgen, sondern als eine Verdichtung mannigfacher methodischer
Gesichtspunkte ebenso vielfache Deutungen möglich erscheinen
läßt wie jene.
Als »transzendental« setzt Kant seine Philosophie dem
»transzendenten« Bestreben der früheren Metaphysik, die Dinge
an sich zu erkennen, in dem Sinne entgegen, daß er es für ihre
Aufgabe erklärt, die Bedingungen apriorischer Erkenntnis auf
allen Gebieten des menschlichen Denkens festzustellen, und tran-
_szendental will er in diesem Sinne alles dasjenige nennen, was
sich auf die Möglichkeit allgemeinen und notwendigen Bewußt-
seinsinhaltes bezieht. Aber die bei Kants sonstiger Pedanterie
außerordentlich merkwürdige Erscheinung seines höchst laxen und
4*
/
52 Kants theoretische Philosophie.
imbestimmten Sprachgebrauches, welche zu der Dunkelheit seiner
Schriften ebensoviel wie die Schwerfälligkeit seines Periodenbaues
beiträtet und ein deutliches Bild seines steten Ringens mit dem
Gedanken gibt, — dieser sein Schreibgebrauch läßt ihn an jener
Bestimmung des Unterschiedes von ^transzendent" und transzen-
dental durchaus nicht festhalten und sehr häufig nach der alten
Sitte 'transzendental da brauchen , wo er "^transzendent meint.
Sicherer deshalb und weniger Verwirrungen ausgesetzt scheint die
Bezeichnung seiner Methode als der kritischen, um so mehr,
als dieser Terminus in einem greifbaren und deutlichen Gegensatz
erscheint. Dogmatisch nennt Kant alle Philosophie, welche ohne
Prüfung der Erkenntnistätigkeit und ihrer Grenzen von irgend-
welchen Voraussetzungen und Vorurteilen her gleich unmittelbar
an die Erkenntnis der Dinge gehen will, und darunter fällt ihm
der Empirismus so gut wie der Rationalismus seiner nächsten
Vorgänger. Nicht minder verwerflich aber erscheint ihm der
Skeptizismus, insofern dieser den Nachweis liefern will, daß das
menschliche Denken den Anforderungen, die man von irgend-
welchen dogmatischen Voraussetzungen her daran gestellt hat,
nicht genügen kann, und darauf dann eine Art von Verzweiflung
an der Erkenntnisfähigkeit des Menschen überhaupt gründet.
Nicht also insofern er eine Kritik der Erkenntnis gibt, sondern
insofern er diese Kritik unter dogmatischen Vorurteilen ausführt,
wird der Skeptizismus von Kant bekämpft. Für die kritische
Philosophie aber setzt er die Aufgabe, zunächst den Begriff der
Erkenntnis neu, d. h. ohne dogmatische, metaphysische oder
psychologische Voraussetzungen zu formulieren und dann zu unter-
suchen, inwieweit das menschliche Denken ihn zu realisieren ver-
mag. So wurzelt der Begriff der kritischen Philosophie in ihrer
erkenntnistheoretischen Aufgabe; aber er überträgt sich dann,
wenn auch mit einigen durch die Gegenstände gebotenen Ver-
änderungen, auf die übrigen Gebiete der Philosophie. In diesem
Sinne gilt es, daß durch Kant der erkenntnistheoretische
Gesichtspunkt zum maßgebenden für die Philosophie überhaupt
gemacht worden ist. Nun gab es Ansätze zur erkenntniskritischen
Behandlung genug auch in der vorkantischen Lehre. Bei Locke,
bei Leibniz, bei Hume sind sie unverkennbar vorhanden; aber
die Voraussetzung, daß das Urteil über den Erkenntniswert der
SynthotiHclirt ITrtoilo a priori. 53
Vorstollun^on von dor Einsicht in ihron Ursprung abhiingo, ver-
quickte vor Kant überall diese Untersuchung mit psychologischen
Theorien. Kant wunh» erst dadurch originell, daß er sich klar
machte, es sei für den Erkenntniswert des Denkens ganz gleich-
gültig, wie es zustande gekommen ist. Dicf Erkenntnistheorie
soll weder besclireibende noch erklärende Psychologie sein; sie
ist eine kritische, den Wert prüfende Wissenschaft, und sie muß
deshalb statt von Voraussetzungen über das Wesen der Seele und
den Ursprung der Vorstellungen, vielmehr von einem Idealbegriffe
der Erkenntnis ausgehen, der sich lediglich auf immanente
Unterschiede im Werte der Vorstellungen bezieht. In
dieser Rücksicht nun stellt Kant an die Spitze seines syste-
matischen Lehrvortrages der kritischen Untersuchungen das Ideal
der synthetischen Urteile a priori. Erkenntnisse sind Ur-
teile, aber Urteile, in denen Vorstellungen miteinander in eine
Verknüpfung gebracht werden, die nicht durch bloß logische
Analyse ihres Inhaltes begründet ist, d. h. synthetische Urteile,
aber solche, welche auf *^Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit^
Anspruch machen. Man hat den Unterschied analytischer und
synthetischer Urteile, von dem die Kritik der reinen Vernunft
ausgeht, vielfach dadurch bemängelt, daß man auf die psycho-
logische Tatsache hinwies, es könne dasselbe Urteil für den einen
Menschen synthetisch sein, welches für den andern analytisch sei.
Dieser Einwurf ist ebenso wohlfeil, wie er den Sinn der Kantischen
Unterscheiduno; völlio- mißversteht. Kants Unterschied analvtischer
und synthetischer Urteile will nicht ein solcher der psychologischen
Genesis, sondern der erkenntnistheoretischen Begründung sein.
Die analytischen Urteile haben keinen Erkenntniswert , weil die
formal-logische Begründung nur dem Inhalte der Prämissen eine
neue Form gibt. Der wahre Erkenntnis wert gebührt erst den-
jenigen Urteilen, welche Vorstellungen in Beziehungen zueinander
setzen, die nicht durch das logische Verhältnis ihres Inhaltes
begründet sind. Dieser Wert gebührt in der ersten Linie allen
tatsächlichen Vorstellungs verknüpf ungen , die durch die Wahr-
nehmung gewonnen werden. Der Grund der Svnthesis ist aber
in diesem Falle ein Akt der Erfahrung. Deshalb nennt Kant
diese Urteile synthetische Urteile a posteriori. Nun kommt der
rationalistische Charakter seines Denkens mit voller Klarheit
54 Kants theoretische Philosophie.
darin zutage, daß er diese Urteile zwar als zu Recht bestehend
und als die Grundlage aller Erkenntnistätigkeit anerkennt, daß
sich aber seine Erkenntnistheorie mit ihrer Kritik prinzipiell nicht
befaßt. Wenn man Kants Lehre eine Theorie oder Kritik der
Erfahrung genannt hat, so darf man darunter im Prinzip nicht
eine Untersuchung über den Wert derjenigen einzelnen Urteile
vermuten, welche, wie man sich gewöhnlich ausdrückt, durch die
Erfahrung gewonnen sind. Alle diese Urteile bilden vielmehr für
Kant keinen Gegenstand der philosophischen Kritik: diese richtet
sich auf den ganz neuen Begriff von Erkenntnissen, welchen Kant
in den synthetischen Urteilen a priori aufstellt. Die Leibnizische
Theorie hatte den verites de fait nur die verites eternelles, d. h.
die logischen Grundsätze des analytischen Verfahrens gegenüber-
zustellen gewußt. Kant aber fand, daß es ursprüngliche Begriffs-
verknüpfungen gibt, die nicht logischen Charakters und doch all-
gemein und notwendig sind. Gibt es solche, so muß es sich fragen,
worin in diesem Falle der Grund der Synthesis liegt. Damit ist
die Aufgabe der Kantischen Philosophie und die kritische Methode
ihrer Lösung bestimmt.
Auf allen Gebieten des menschlichen Bewußtseins, (nicht nur
auf demjenigen des Erkennens, ) forscht Kant nach der Existenz
^synthetischer Urteile a priori,^ d. h. ursprüngHcher, nicht logisch
begründeter Begriffsverknüpfungen von ^^ allgemeiner und not-
wendiger Geltung. Aber mit ihrer Konstatierung ist es nicht
abgetan, sondern darauf folgt erst die wichtigere Frage nach dem
Grunde ihrer Synthesis; und erst die Einsicht in diesen kann für
die Kritik den Maßstab abgeben, nach welchem sie beurteilt, ob
der Anspruch auf , Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit im
einzelnen Falle berechtigt sei oder nicht. Man hat die kritische
Methode so aufgefaßt, als schlösse sie von den konstatierten syn-
thetischen Urteilen a priori auf die Bedingungen ihrer Möglich-
keit und lehrte dann, daß diese Bedingungen im menschlichen
Geiste wirklich vorhanden seien, weil ja ihre Wirkungen kon-
statiert seien. Wäre dies das Schluß verfahren Kants, so müßte
er aus der von ihm konstatierten Tatsache synthetischer Urteile
a priori in der Metaphysik des Übersinnlichen haben erschheßen
müssen, daß die von ihm deduzierte Bedingung dafür, die, in-
tellektuelle Anschauung, dem menschlichen Geiste angehöre: denn
Kritiiohe Methode. 56
es wilro sonst ^anz willkiirlicli von ihiii, den Anspruch (l»«,r vÄwn
Wissonscliaft andors als denjenigen der andern zu bi^handelri*).
Aber Kants Selduliweise ist eine j^anz andere. Er konstatiert
die synthetischen Urteile a priori nicht als Hewcismaterial, sondern
als Objekt der Kritik. Er untersucht bei^einer jeden Art, unter
welchen Bedin«i;un»j;en allein sie bercchti<^t sein könne, und fra^t
dann, ob diese Bedingungen sachlich in dem Iidialte der Urteile
selbst erfüllt sind oder nicht. Je nachdem diese Frage bejaht
oder verneint wird, entscheidet sich dann das Urteil über die
Berechtigung der synthetischen Urteile a priori. Wenn dies die
eigentliche Anlage der kritischen Methode ist, so kann es ander-
seits nicht zwieifelhaft sein, daß sie aus den verwickelten Deduk-
tionen der Kantischen Lehre erst herausgeschält werden muß.
Namentlich auf dem Gebiete der praktischen Philosophie wird
sie, wie sich zeigen wird, durch einen anderen Gedanken der-
artig gekreuzt, daß sie fast bis zur UnkenntUchkeit entstellt ist.
Hauptsächlich aber ist ihre Klarheit durch die Nötigung getrübt,
in welche sich Kant versetzt sah, zu ihrer Durchführung wiederum
psychologische Voraussetzungen und Untersuchungen anzuwenden.
Denn wenn die Frage nach der Berechtigung des Anspruchs der
synthetischen Urteile auf Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit
danach entschieden wurde, daß die Bedingungen dazu im Er-
kenntnisinhalt entweder vorhanden sind oder fehlen, so liegt ja
die Entscheidung der erkenntnistheoretischen Fragen zuletzt doch
*) Die im Text abgelehnte Auffassimg der kritischen Methode ist wesent-
lich auf einseitigen Anschluß an die »Prolegomenac zurückzuführen. In diesem
Werke gibt Kant nicht das System, sondern eine Einführung dazu, die seinen
eigenen findenden Gedankengang wiederholt: darum darf er hier überall die
apodiktische Gewißheit der Mathematik (und sogar der reinen Naturwissen-
schaft) als etwas Zugestandenes und Selbstverständliches voraussetzen und
dies dann zum Richtpunkt seiner Untersuchung machen, indem nach diesem
Prinzip auch die Kritik der für problematisch angesehenen Metaphysik durch-
geführt wird. Hier heißt es: »Mathematik besteht zu Recht. "Weshalb?
Nur, weil ihre synthetischen Urteile a priori in den reinen Anschauungen
Raum und Zeit begründet sind. Gibt es etwas ähnliches für die Meta-
physik? Nein. Also besteht sie zu Unrecht.« Diese persönliche Behandlung
der Sache in den P-^le^^omena ist sehr eindrucksvoll; aber sie darf nicht
mit dem objektiven Verfahren in der Kriti^ selbst gleichgesetzt werden.
Denn diese darf für keinen der Ansprüche auf Apriorität voreingenommen
sein, sondern muß alle gleichmäßig auf ihre Berechtigung prüfen.
56 Kants theoretische Philosophie.
immer wieder bei einer psychologischen Einsicht, wenn auch nicht
in den Ursprung der Vorstellungen, so doch in die Eigenschaften
der menschlichen Intelligenz oder, wie Kant mit der empirischen
Psychologie seiner Zeit sagt, in die^yermögen des menschlichen
Gemüts. So kommt es, daß die Erkenntnistheorie, wenn sie auch
ihre Aufgabe ohne jede Rücksicht auf psychologische Voraus-
setzungen formuliert hat, doch zu deren Lösung überall auf psycho-
logische Tatsachen und Theorien rekurrieren muß, und dieses Ver-
hältnis rechtfertigt sich von selbst, sobald man bedenkt, daß es
sich um die Kritik nicht irgend einer anderen, sondern eben der
menschlichen Erkenntnisfähigkeit handelt. Aber Kant hat nun
in seiner Durcheinanderarbeitung des ungeheuren Stoffs es ver-
säumt, diese verschiedenen, im ganzen sich gegenseitig ergänzen-
den und tragenden Gedankenreihen auseinanderzuhalten und ihre
Gliederung überall klarzulegen, und er hat dadurch nicht zum
wenigsten das Verständnis seines gesamten philosophischen Werkes
erschwert.
Es ist aber hieraus klar, daß dem ganzen Umfange der Kanti-
schen Kritik eine nicht minder umfangreiche Transzendental-
psychologie zugrunde liegt, und es wird das um so merkwürdiger
dadurch, daß Kant im Verlaufe seiner Kritik der Wissenschaften
die »rationale« Psychologie für unmöglich erklärt und der »em-
pirischen« Psychologie den Charakter exakter Wissenschaftlichkeit
abgesprochen hat. In dem energischen Hinblick auf die Kritik
des Wertes bedachte er nicht die große Anzahl von psychologischen
Voraussetzungen, mit denen er selbst nicht nur bei der Lösung
jedes einzelnen Problems verfuhr und der Natur der Sache nach
verfahren mußte, sondern auch den ganzen Aufbau seiner neuen
Lehre ghederte. So enthält seine Lehre zwar die vollkommene
Unterordnung des psychologischen Moments unter das erkenntnis-
theoretische, aber doch auch zugleich den Beweis, daß ohne die
Aufnahme des ersteren die kritische Aufgabe durchaus nicht
gelöst werden kann.
Von der psychologischen Grundlage seines gesamten Systems
hat Kant den klarsten Ausdruck teils in der Einleitung in die
Kritik der Urteilskraft, teils besonders in einem kleinen Aufsatze
gegeben, welcher anfänglich für diese Einleitung bestimmt war,
später von S. Beck am Schlüsse seines »Erläuternden Auszuges
VorhültniH zur Psycholoprio. " 57
aus (Ion kritischon Schriften dos Jlorrn ProfcH.sor Kant« mit
Aulorisalion dos IMiilosoplion iiuszu«^sw(Mso voröffontliclit wurde
und unter doni 'Pitol » ul)or IMiilosoplnc^ ühorluiuptc in dioSanunlun^
seiner Sehrilien iiber<i;ef^an}^on ist. Kant, iiherninunt hier die Drei-
teilun<jj der psychischen Funktionen, welc4ie in der enij)irischen
Psychologie seiner Zeit durcl» Sulzer, Mendels.«ohn und Tetens
geläufig geworden war und neben dem Erkenntnis- und dem
Begehrungsvermögen ein Gefühlsvermögen ansetzte. Er fügt dann
liinzu, daß allen tlrei Vermögen gewisse synthetische Urteile a
priori eigen seien, und daß deren Imtische Untersuchung das
ganze Geschäft seiner Transzendentalpliilosopliie ausmache. Im
Erkenntnisvermögen bestehen die apriorischen Synthesen in einer
Eeihe von Urteilen, welche ohne formal-logische Verknüpfung die
Grundbegriffe unserer Weltauffassung in notwendiger und all-
gemeingültiger Weise miteinander verbinden*). Auf dem Gebiete
des Begehrung-svermögens bestehen die apriorischen Synthesen
darin, daß einerseits dem Willen eine allgemein und notwendig
geltende Beziehung auf gewisse Gegenstände zugemutet wird, ander-
seits gewissen Willensbetätigungen die moralischen Prädikate^ gut"
oder" böse in, notwendiger und allgemeingültiger Weise zugesprochen
werden: die praktischen Synthesen a priori sind "Pflichten oder
Wertbeurteilungen von allgemeiner und notwendiger Geltung. Auf
dem Gebiete des Gefühls Vermögens bestehen die synthetischen
Urteile a priori darin, daß es gewissen Gegenständen gegenüber
allgemeingültige imd notwendige Gefühle der Lust oder Unlust
gibt, w^elche sich durch die Prädikate der' Schönheit oder Häß-
lichkeit, der Zweckmäßigkeit oder Unzweckmäßigkeit zu erkennen
geben: die apriorischen Synthesen des Gefühls Vermögens sind,
a potiori benannt, die ästhetischen**) Urteile. Hiernach ghedert
sich die kritische Philosophie in die drei Hauptteile einer Kritik
*) Man übersieht von hier aus vielleicht am einfachsten Kants Stellung
zu der schottischen Schule. Diese behauptete gegen Locke und die Asso-
ziationspsychologie die Existenz und Evidenz »ursprünglicher LTteile«, welche
sie auf empirisch-psychologischem Wege konstatieren wollte. In gewissem
Sinne decken sich diese mit Kants synthetischen Urteilen a priori; nur mit
dem Unterschiede, daß die Schotten diese Urteile als absolute "Wahrheit des
Commonsense anerkannten, während Kant ihre Berechtigung in Frage stellte.
Kant fängt also genau dajin, wo die Schotten aufhörten.
**) Über den Terminus >ästhetisch« vgl. Bd. 1, § 50, S. 535.
58 Kants theoretische Philosophie.
der theoretischen, der praktischen und der ästhetischen syn-
thetischen Urteile a priori, und das ganze Kantische System in
seine theoretische, praktische und ästhetische Lehre. Den Grund-
stock der kritischen Werke Kants bilden deshalb die sogenannten
drei großen Kritiken, von denen jede das Grundwerk für einen
dieser drei Teile bildet: die Kritik der reinen Vernunft, die Kritik
der praktischen Vernunft und die Kritik der Urteilskraft, — die
drei Werke, um welche sich alle übrigen Kantischen Schriften
mit mehr oder minder naher Beziehung gruppieren.
Wenn man unter theoretischer Philosophie bei den früheren
Philosophen in erster Linie ihre wissenschaftliche Begründung der
Weltanschauung, m. a. W. ihre Metaphysik versteht, so bezieht
sich bei Kant dieser Name im wesentlichen auf seine Theorie der
menschlichen Erkenntnis, d. h. also eigentlich auf die Theorie der
Theorie. Es ist seine ^ Wissenschaftslehre, welche diesen Namen
verdient, und nur ihr besonderer Charakter gibt, wie sich ent-
wickeln wird, die Berechtigung, seine Naturphilosophie in diesen
Kreis seiner Betrachtungen hineinzuziehen.
Die Grundfrage dieses Teiles der Kantischen Lehre ist also
diejenige nach der Berechtigung solcher Wissenschaften, welche
'synthetische Urteile a priori enthalten. Kant konstatiert nach
dem Schema, das am deutlichsten die Prolegomena darbieten,
I) deren drei. In erster Linie steht die Mathematik. Die Sätze,
welche diese entwickelt, sind zweifellos als allgemeingültig und
notwendig anerkannt : daß sie zugleich synthetisch sind, behauptete
Kant auf Grund seiner Einsicht in den anschaulichen Charakter
des mathematischen Denkens. In zweiter Linie kommt die »reine
L) Naturwissenschaft« in Betracht. Unter diesem Namen begreift
Kant die Gesamtheit der Grundsätze, die aller Naturanffassung
und Naturforschung zugrunde liegen; er fand sie allerdings nicht
als ein gegebenes System vor, sondern schuf sie selber erst in
der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft. Drittens aber
3\ beansprucht die Metaphysik mit ihrer Seelen-, Welt- und Gottes-
lehre die Notwendigkeit und die Allgemeingültigkeit von Sätzen,
die nur scheinbar durch bloß logische Analyse, in Wahrheit aber
durch synthetische Akte begründet sind.
Die Aufgabe der Kritik der reinen Vernunft ist die Prüfung
der Berechtigung dieser drei Wissenschaften, und sie vollzieht sich
lOintoilunpf der VornuDfikriiik. 69
wiederum naeli einer pHy('h()l<);4iscben ScheinatiHierun^. Der Clegcn-
siitz von Sinnlichkeit und Denken j^liedert die trauHzendentale
»Elenienlailehre« in die transzendentale Ästhetik und die tran-
szendentale Logik, von denen die erstere die Kritik der Mathe-
matik zu ihrem Cregenstaude hat. i)ie letztere teilt sich danach,
daß das Denken als Verstand eine rationale Eikenntnis der Sinnen-
weit, als Vernunft dagegen eine solche der übersinnlichen Welt
zu finden sucht, in transzendentale Analytik und transzendentale
Dialektik, von denen der ersteren die Kritik der reinen Natur-
wissenschaft, der letzteren diejenige der Metaphysik anheimfällt.
Der gesamten erkenntnistheoretischen Kritik Kants hegt die
transzendental -psychologische Auffassung bestimmend zugrunde,
daß Sinnlichkeit imd Verstand die beiden vielleicht in ihrer letzten
Wurzel vereinigten, in unserem Bewußtsein jedoch vollkommen
gesondert und verschieden funktionierenden Stämme der Erkenntnis
seien, daß aber anderseits jede objektive, d. h. notwendige und
allgemeingültige Erkenntnis nicht an einem dieser beiden Stämme
allein reife, sondern vielmehr stets die Frucht von beiden sei.
Spielt dabei die Sinnlichkeit die weibliche Rolle der Em^fan^Uchkeit,-
so gebührt dem Verstände die befruchtende Funktion der Spon-
taneität. Erweisen sich nun in dem Kantischen System alle
'Arten der Erkenntnis a priori durch die verschiedenen Verhält-
nisse bedingt, worin diese beiden Faktoren unseres Denkens mit-
einander treten, so läßt sich in dem systematischen Aufbau der
Kritik der reinen Vernunft eine allmähliche Verschiebung dieses
Grund Verhältnisses nicht verkennen. Erst in der transzendentalen
Analytik wird es klar, daß die »SinnUchkeit«, i.die in der tran-
szendentalen Ästhetik noch wie dereinst in der Inauguraldisser-
tation als Vermögen der ^Empfänglichkeit auf tritt,, in Wahrheit
schon auch ein aktives Prinzip darstellt, dessen synthetische
Funktion in den genauesten Beziehungen zu denen des »Ver-
standes« steht. Hier liegt ein Hauptgrund für die Schwierigkeit,
die das Verständnis des Werkes darbietet.
Wenn zimächst Kant die Mathematik als eine anschauliche
Wissenschaft bezeichnet, so ist das nicht so zu verstehen als ob
damit aus ihr die Verstandestätigkeit überhaupt ehminiert werden
sollte. Begriffsbildung, Urteil und Schluß gehören selbstverständ-
lich zu ihrem Apparate ebenso wie zu demjenigen aller anderen
.V
AO Kants theoretische Philosophie.
Wissenschaften. Was Kant der früheren Auffassung gegenüber be-
hauptet, ist vielmehr nur dies, daß der Grund für die Begriffe und
die Axiome*), mit denen die Mathematik operiert, nicht in rein
lo<7ischen Prozessen, sondern vielmehr in Akten der Anschauung
zu suchen sei. Daß die gerade Linie die kürzeste zwischen zwei
Punkten, daß die Summe von 5 und 7 gleich 12 ist, sind Sätze,
welche durch logische Analyse ihrer Subjektbegriffe nicht gefunden
werden können. Im Begriff der Geradheit liegt kein Merkmal der
Entfernungsgröße, im Begriff der Summe zweier Zahlen Hegt nicht
eine andere Zahl als ihr Merkmal. Diese Sätze müssen also in
einer Synthesis begründet, und diese Synthesis kann nicht die-
jenige einer zufälligen Erfahrung sein, denn sonst wäre die All-
gemeingültigkeit und Notwendigkeit jener Sätze nicht erklärt..^
Das ein- oder mehrmaHge Ausmessen, das ein- oder mehrmahge
Zusammenzählen ist kein Beweis für jene Sätze. Aber sie leuchten
sofort und unmittelbar ein, sobald man ihren Inhalt in der An-
schauung konstruiert. Indem man die gerade Linie zwischen zwei
Punkten zieht, ergibt es sich in der Anschauung als unmittelbar
selbstverständUch, daß es keine kürzere geben kann, und indem
man den Akt des Summierens in der Zahlenreihe ausführt, bleibt
auch nicht der Schatten eines Zweifels darüber bestehen, daß
das Resultat unter allen Umständen dasselbe sein muß. Liegt
somit der Grund der Synthesis in der Anschauung, so ist es nicht
eine einzelne oder die Summe mehrerer einzelner Erfahrungen,
sondern vielmehr die Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit des
Aktes als solchen, denen jene Sätze ihre Apodiktizität verdanken.
Diese Apodiktizität gilt also nur, wenn es allgemeingültige und
notwendige Anschauungsakte^ gibt. Nun ist aber in der Anschauung
alles, was die sinnliche QuaUtät der einzelnen Gegenstände der
Wahrnehmung bildet, Farben, Töne usw., von subjektiver, indi-
vidueller Wandelbarkeit. Allgemein und notwendig können des-
halb nur die räumlichen und zeitlichen Formen sein; imd auch
*) Daß auch die Beweisführung der Mathematik niclit in der Form des
Syllogismus stattfinde, sondern auf anschaulichen Überfülirungen beruhe, hat
Kant niemals behauptet. Diese Konsequenz hat erst Schopenhauer zu ziehen
gesucht, während für Kant sich die Anschaulichkeit des mathematischen
Verfahrens auf die Konstruktion der Begriffe und die der Beweisführung
zugrunde liegenden Axiome beschränkt.
TranBzc»n«lonliilo Änthotilc, (\]
mir für diese «^ilt ja die inatliomatiHche Gcsetzrnäüi^keit. Die
liediii^iin;^ also, unter welcher allein der Anspruch der Mathe-
matik auf All;jjeniein!4Ülti;^keit uiul Notwendi^^keit berechtiget sein
kann, ist diejenige, daß sie eine Reflexion auf die notwendigen
und allgemeingültigen Formen aller i\nschauungen überhaupt bildet,
und daß die beiden Elemente der mathematischen Konstruktion,
Raum und Zeit, solche Formen, d. h. Anschauungen a priori
sind. Die Untersuchung dieser Frage gibt also eine transzen-
dentale Anschauungslehre, d. h. (nach dem etymologischen Sinne
des Wortes) Ästhetik.
Den Beweis für die Apriorität von Raum und Zeit führt Kant
auf vier Wegen. Die Vorstellmigen von Raum und Zeit können
nicht erst auf dem Wege der Abstraktion aus denjenigen von ^/
einzelnen Räumen und einzchien Zeiten begründet werden, sondern
die letzteren tragen bereits in den Merkmalen des Nebeneinander
und Nacheinander das allgemeine Merkmal der Räumlichkeit und
der Zeitlichkeit in sich. Haben sie auf diese Weise keine em-
pirisclie Begründung, so sind sie zweitens dennoch durchaus not- O
wendige Vorstellungen, da man zwar alle Gegenstände aus ihnen,
nicht aber sie selbst fortzudenken imstande ist. Drittens sind 3^
Raum und Zeit überhaupt nicht Begriffe in dem logischen Sinne
des Wortes (diskursive Begriffe). Denn es gibt eben nur den
einen allgemeinen Raum und die eine allgemeine Zeit, und eine
Vorstellung, der nur ein einziges Objekt entsprechen kann, ist
kein Gattungsbegriff, sondern eine Anschauung. Das Verhältnis des
Raumes zu den einzelnen Räumen und der Zeit zu den einzelnen
Zeiten ist ein gänzlich anderes als dasjenige eines Gattungsbegriffes
zu seinen Arten bzw. Exemplaren. Einzelne Räume oder Zeiten sind
realiter Teile des allgemeinen Raumes oder der allgemeinen Zeit;
aber ein einzelner Tisch ist durchaus nicht realiter ein Teil des all-
gemeinen Tisches, sondern hier ist umgekehrt die allgemeine Vor-
stellung Tisch nur ein Teil der Vorstellung des einzelnen Tisches.
Endlich würde viertens ein Begriff niemals so gedacht werden können, vj
daß sein Gegenstand eine imendliche Menge einzelner Gegenstände
in sich als reale Teile enthielte. Da nun Raum und Zeit das letztere
tun, so folgt daraus, daß sie nur in der Unbegrenztheit einer
anschaulichen Funktion begründet sind. So findet Kant durch
eine Untersuchung des Verhältnisses, worin sich die Vorstellungen
^A^,^^ ,-/.-*^ ^:.**#^ .«^^^t^M^ ^?n,/<i^^ .^^> - ^*' ' '^^ ^^^^- ^
f I f'l * • • >^r' -- j^»-f ^^^ ^-
ß2 Kants theoretische Philosophie.
von Eaum und Zeit zu unseren einzelnen Anschauungen befinden,
daß die letzteren überhaupt erst darauf allein beruhen, daß ihnen
Raum und Zeit als notwendige undallgemeineAnschauungs-
formen, als Anschauungen a priori zugrunde liegen. Ist
aber dies erwiesen, so ergibt sich daraus, daß die Reflexion auf
die innere Gesetzmäßigkeit dieser reinen Anschauungen — und
nichts anderes enthält die Mathematik — notwendige und all-
gemeine Geltung mit vollem Rechte beansprucht.
Die Apodiktizität der Mathematik griiadet sich also darauf,
daß Raum und Zeit die apriorischen Formen der sinnlichen An-
schauung sind. Man muß den Begriff der^Apriorität ganz scharf
verstehen, um nicht die Kantische Lehre von vornherein miß-
zudeuten. Sein Begriff von Apriorität hat mit der psychologischen
Priorität nichts zu tun, so sehr es bei Kants vieldeutiger und
unsicherer Ausdrucksweise manchmal den Anschein haben mag. Es
ist Kant auch nicht im entferntesten eingefallen, jemals zu be-
haupten, daß Raum und Zeit^^eingeborene Ideen etwa im Sinne
der Cartesianer seien; er hat niemals daran gedacht, zu meinen,
daß der Mensch die Vorstellung des allgemeinen Raumes und der
allgemeinen Zeit mit auf die Welt brächte und in diese nun die
einzelnen sinnlichen Anschauungen an passende Stellen einfügte.
Sein Begriff der Apriorität will eben nur sagen, daß Raum und
Zeit die immanente, dem Wesen der Anschauunastätiokeit eigene
GgsetztBäte:keit bilden, die nicht etwa erst durch die einzelnen
Erfahrungen erzeugt wird, sondern vielmehr ihrerseits zu den
konstitutiven Prinzipien jeder einzelnen Wahrnehmung gehört.
Lösen wir daher in der Abstraktion die räumliche und die zeit-
liche Form von ihrem besonderen sinnlichen Inhalt ab, so bringen
wir uns nur die Gesetzmäßigkeit zum Bewußtsein, welche bei der
Genesis der Wahrnehmimg ohne unser bewußtes Zutun in uns
schon wirksam war. Mit der psychologischen Frage wie wir dazu
kommen, uns diese unbewußt in uns tätige Gesetzmäßigkeit zum
Bewußtsein zu bringen, hat sich Kant niemals eingehender be-
schäftigt; wo er sie jedoch streift, hat er stets seine Ansicht
dahin ausgesprochen, daß diese Gesetzmäßigkeit uns nicht anders
zum Bewußtsein kommen kann, als indem wir sie in den be-
sonderen, einzelnen Wahrnehmungen anwenden. In dem Streite
der modernen Physiologen und Psychologen über den Ursprung
I!
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AnHcbnmmprii a priori. 08
der Haumvorstolhm«}; würde Kant zweifellos imf Seite der Em-
piristen stehen; aber seiiu» Lehre von der Aprioritiit hat iiher-
luinpt mit der {ganzen Streitfra«^e niehls zn tun und ist daher
am aUerfalscliesten gedeutet worden, wenn man sie mit dem
physi()h)gischen Nativismus verglciclien zu dürfen meinte.
Mit der (lültigkeit der mathematischen Apodiktizitüt ist aber
dureh die Lehre von der Aprioritiit von Raum und Zeit jene
phänomenal istische Konsequenz verbunden, die in Kants Ent-
wicklung eine so bedeutsame Rolle spielte. Waren Raum und Zeit
die Formen unserer sinnlichen Anschauung, mid zwar ihre not-
wendigen und allgemeingültigen Formen, so galt die mathematische
Gesetzmäßigkeit ausnahmslos für den gesamten Umfang unserer
sinnlichen Vorstellimgswelt. Aber diese Konsequenz reichte nur
so weit, als es sich eben um unsere Vorstellungswelt handelt.
Müßten wir räumliche und zeitliche Verhältnisse erst durch die
Einwirkung wirklicher räumlicher und zeitlicher Dinge auf unseren
Geist erfahren, so könnten wir niemals sicher sein, daß nicht eine
spätere Erfahrung unsere bisherige Erkenntnis der mathematischen
Gesetzmäßigkeit rektifizierte. Ihre absolute Apodiktizität ist da-
gegen begreiflich, sobald wir in ihr nur unsere eigene Funktions-
weise erkennen. Dann sind wir sicher, daß diese selbe Funktions-
weise sich in allen ihren späteren Anwendungen mit derselben
Notwendigkeit und Allgemeinheit wiederfindet. So ist die Apriorität
der Mathematik nur zu begreifen, wenn alles, was wir anschauen,
das Produkt eben unserer Anschauungsweise und ganz originaHter
in uns entsprungen ist. Die Rätselfrage, welche Kant durch die
Newtonsche Naturphilosophie nahe gelegt war, wie es denn kommen
könne, daß die mathematischen Gesetze, die wir aus dem eigenen
Geiste heraus zu entwickeln vermögen, sich als bestimmende
Mächte des Naturgeschehens zu erkennen geben, diese Rätselfrage
nach der, realen Geltung der Mathematik, welche noch viel weiter
greift, als diejenige nach ihrer,, Apodiktizität, löste sich nur, aber
sie löste sich auch vollständig unter dem phänomenalistischen
Gesichtspunkte. Wenn die Sinnen weit nur unsere Vorstellungs-
weise von den Dingen ist, so gelten die Formen unserer sinn-
lichen Anschauung, d. h. die mathematischen Gesetze, für ihren
ganzen Umfang, aber es ist in keiner Weise abzusehen, wie sie
weiter reichen sollen. In diesem Sinne spricht Kant von der
54 Kants theoretische Philosophie.
empirischen Realität und der transzendentalen Idealität
von Raum und Zeit.
Auf den ersten Blick sieht diese Lehre Kants wie eine ein-
fache Erweiterung der allgemeinen phänomenaHstischen Lehre aus,
welche schon vor ihm in der modernen Philosophie herrschte.
Bei Locke, der die Theorien von Descartes und Hobbes in seiner
Weise verknüpfte, hatten alle Qualitäten der einzelnen Sinne für
subjektiv, dagegen die räumhchen und zeitlichen Bestimmungen
für primäre Qualitäten oder reale Eigenschaften der Dinge ge-
golten — ganz so, wie es die moderne Naturwissenschaft lehrt.
Was scheint nun Kant anders getan zu haben, als die räumlichen
und zeitlichen Eigenschaften auch für subjektiv zu erklären? Gegen
eine solche Auffassung hat Kant mit vollem Rechte auf das stärkste
protestiert. Ihm gelten Raum und Zeit in ganz anderem Sinne
für subjektiv als die sinnlichen Qualitäten. Die letzteren sind
es in der Weise, daß sie von einer Beziehung des Gegenstandes
auf die Sinne der wahrnehmenden Organismen abhängen, daß sie
also durch die wechselnde Funktion dieser Sinne sogar individuell
different auftreten. Derselbe räumlich-zeitliche Gegenstand erscheint
deshalb verschiedenen wahrnehmenden Organismen und wiederum
den verschiedenen Sinnen desselben Organismus, ja sogar dem-
selben Sinn unter verschiedenen Umständen verschieden, und die
naturwissenschaftliche Theorie selbst liefert, wie es schon Descartes
gelehrt hatte, den Beweis, daß wir alle diese sinnlichen Qualitäten
von dem Gegenstande fortdenken und doch, oder vielmehr erst
gerade dadurch einen deutlichen und klaren Begriff von ihm
haben können. Die räumlichen und zeitlichen Bestimmungen
der Wahrnehmungsgegenstände dagegen sind nicht nur den ver-
schiedenen Auffassungen der verschiedenen Sinne gemeinsam,
sondern sie konstituieren das Wesen der Gegenstände derartig,
daß ohne sie solche überhaupt nicht mehr gedacht werden können.
Sie bilden daher eine allgemeine und notwendige Vorstellungs-
form^ der Gegenstände, während die sinnlichen Qualitäten nur
besondere und zufällige Wahrnehmungsweisen davon darstellen.
Die Subjektivität der sinnlichen Qualitäten ist individuell und
zufällig, diejenige von Raum und Zeit^ist allgemein und not-
wendig. Indem Kant diese allgemeine und notwendige
gesetzmäßige Subjektivität als t)bjektivität bezeichnet.
Kaum und Zeit nln F«>rn>on drr I''r8cheiniinp. (if)
gelten ihm llauin und Zeit alM" ()])jektivc* lkstiiniiiun;^en der Kr-
^scheinuiiuen; aber diese ihre. Objektivität, lehrt er, »ei weit ent-
fernt von /Realität im Sinne der alten metaphysischen Auf-
fassung.
Gegen diese Wendung des Kantischen Gedankens ist friili
(zuerst wohl von Platner) eingeworfen worden, es sei damit zwar
vielleicht bewiesen, daß die ganze Vorstellung, welche wir von
der Erfahrungswelt haben, in unseren gesetzmäßigen Funktionen
ihren Grund habe, aber es sei nicht widerlegt, daß sie trotzdem
ein vollkommenes Abbild der absoluten Wirklichkeit sein könne.
Die Möglichkeit bleibe offen, daß diese unsere gesetzmäßige Funktion
von vornherein so eingerichtet sei, daß das in uns nach den Ge-
setzen unserer Sinnlichkeit durchaus neu entspringende Welt-
bild dennoch der wirklichen Welt entpreche. Es ist richtig, daß
Kants Veröffentlichungen eine ausdrückliche Widerlegung dieses
Einwurfes nicht enthalten. Seine Briefe und Notizen dagegen
bezeugen, daß er diese »prä formierte« Harmonie zwischen den
Formen der InteUigenz und der wirklichen Welt, welche er selbst
noch in der Inauguraldissertation hinsichtlich der Verstandesbegriffe
vertreten hatte, in seiner kritischen Periode für den seichtesten
aller Auswege hielt, auf dem die Erkenntnistheorie sich ihren
schweren Fragen entziehen könne. Gewiß hat er damit recht,
daß eine solche prästabilierte Harmonie ein rein problematischer
Gedanke ist, für dessen Annahme sich ebensowenig wie für seine
Ablehnung irgendwie die geringsten Handhaben aufweisen lassen,
und der deshalb für eine erkenntnistheoretische Untersuchung
gänzlich außerhalb ihres Horizontes bleiben muß. Aber er würde
den Gedanken an die Möglichkeit, daß Raum und Zeit zugleich
apriorische Formen unserer Sinnlichkeit und reale Formen der
wirklichen Welt seien, nicht so völUg absprechend behandelt haben,
wenn er nicht einerseits in den »Antinomien« einen direkten Beweis
dagegen zu besitzen geglaubt hätte, und wenn nicht anderseits
seine persönKche Überzeugung vollständig in der Richtung be-
festigt gewesen wäre, daß die Welt der'^Dinge an sich den mo-
ralischen Wert der Übersinnlichkeit besitze, und daß eben die
gesamte sinnliche Welt nur eine mit dem wahren Wesen inkon-
gruente Erscheinungsform' davon sei. Es ist unrichtig, in dieser
Überzeugung Kants philosophische Originahtät zu suchen. Die
Windelband, Gesch. d. n. Philos. H. 5
ßß Kants theoretische Philosophie.
Lehre, daß die Sinnenwelt nur der scliwaclie Abglanz einer höheren
Welt sei, ist so alt wie das metaphysische Denken überhaupt.
Sie ist weder dem Grübelsinn der indischen noch der begrifflichen
Klarheit der griechischen Philosophie fremd, sie ist in der mittel-
alterlichen und in der neueren Philosophie an mehr als einer
Stelle und in mannigfachen Verhältnissen aufgetreten, und sie
trägt bei Kant zunächst nur den eigentümlichen Zug, daß sie in
der transzendentalen Ästhetik durch ledighch erkenntnistheoretische
Überlegungen begründet erscheint und ihren Nerv bei ihm das
Prinzip bildet: eine '^allgemeingültige imd notwendige^,Erkenntnis
sei nur so weit möglich, als der menschliche Geist nach seinen
eigenen Bewegungsgesetzen sich das Bild der Welt entwerfe, und
zu diesen Formen, nach denen er es zu entwerfen genötigt sei,
gehörten in erster Linie diejenigen der sinnHchen Synthese in
l Raum und Zeit.
Dagegen gibt es noch einen anderen Gesichtspunkt, hinsicht-
lich dessen Kants Vertretung des PhänomenaHsmus eine neue
Phase innerhalb dieser Lehre bedeutet: das ist seine prinzipielle
Ausdehnung der phänomenalistischen Ansicht auch auf die Zeit.
Daß die Körperwelt mit ihrer ganzen sinnlichen und räumlichen
Gestaltung nur ein subjektives Bild im Geiste des Menschen sei,
ist eine vielfach aufgestellte und verfochtene Ansicht: daß aber
auch der zeitliche Charakter unserer ganzen Vorstellungswelt nicht
eine der absoluten Wirklichkeit realiter zukommende Bestimmung,
sondern auch nur eine menschliche Auffassungsweise sei, ist vor
Kant zwar gelegentlich in mystisch-religiösen Phantasien gestreift,
von der wissenschaftlichen Philosophie dagegen nur selten und
auch in gewissem Sinne nur schüchtern behauptet worden. Haupt-
sächlich nur bei den Eleaten, bei Piaton und bei Spinoza finden
sich Anklänge der Kantischen Auffassung. Die große Schwierig-
keit für die Betrachtung der Zeit unter dem phänomenalistischen
Gesichtspunkte besteht nämlich darin, daß wir ohne zeitliche
Sukzession uns einen Prozeß des Geschehens, der Tätigkeit oder
der Veränderung überhaupt nicht vorzustellen imstande sind,
imd daß deshalb eine phänomenalistische Auffassung der Zeit,
sobald sie sich mit einer positiven Metaphysik verbinden will,
zu der Annahme eines absolut starren, in sich veränderungslosen
'^ein^ hindrängt. Eine Welt, in der es keine Zeit gibt, ist auch
rhüiionu'imlitüt der Zt;it. ()7
eine solche, in der nichts, «geschieht. Diese »Schwieri^^keiton sind
bei Kant (hulurch verdeckt, daß sein IMiänonienaliHmus eine
Metapliysik der Erkenntnis überhaupt ablehnt und nui- eine
solche des ethischen Ikwußtseins anerkennt ; aber es wird sich
zeigen, daß sie auch in seiner Freiheitslehre nicht überwunden
sind. Zur Annahme dieser K{)nse(|uenz ist Kant wohl haupt-
sächlich dadurch «geführt worden, daß er infolge des Newtonschen
Vorganges Zeit und Raum völlig parallel als die absoluten Be-
dingungen für den gesamten Tnlialt der Erfahrung behandelte.
In seiner psychologischen Schematisierung faßte er das Verhältnis
dieser beiden Bedingungen ( unter Benutzung der Lockeschen
Unterscheidung von äußerem und innerem Sinne) derartig auf,
daß er den Raum als die reine Anschauungsform des äußeren,
die Zeit als diejenige des inneren Sinnes bestimmte. Da nun
alle Vorstellungen als Funktionen unseres Geistes überhaupt unter
den Begriff des. inneren Sinnes fallen, so gilt die Zeit ausnahmslos
für alle, und imter ihnen bilden den äußeren Sinn nur diejenigen,
welche zu jener allgemeinen Bedingung der Zeit noch die weitere
des Raumes hinzufügen. Kants völlig konsequenter Phänomenalis-
mus lehrt also, daß der äußere Sinn mit seiner allgemeinen
räumlichen Bestimmtheit nur eine »Provinz« des inneren Sinnes, '
d. h. imseres Wissens von unseren eigenen psychischen Zuständen
ist. Die Zeit ist die Form, in welcher wir uns selbst und alle
anderen Dinge, der Raum nur diejenige, unter welcher wir jene
anderen Dinare anschauen.
Vermöge dieser Ausdehnung des Phänomenalismus auf den
inneren Sinn erklärte nun Kant, daß das Wahrnehmungsmaterial
unseres gesamten Wissens "^Erscheinung' sei, von deren Ver-
hältnis zum^Ding an sich" nichts behauptet werden darf. Nicht
nur unsere Vorstellung von den Körpern, sondern auch die von
uns selbst und unseren eigenen Tätigkeiten und Zuständen ist
eben nur die Art, wie wir vorstellen, und durchgängig von der
gesetzmäßigen Form unserer Anschauung abhängig. Indem so
der innere Sinn in den phänomenalen Bereich der Sinnlichkeit
hineingezogen wird, entsteht bei Kant eine Doj)pelbedeutung des
Terminus_>>sinnlich«, welche dem ganzen Zusammenhange seiner
Lehre große Schwierigkeiten bereitet und ihre Auffassung be-
deutend erschwert hat. Hatte Kant aus einem zum großen Teile
/
gg Kants theoretische Philosophie.
ethischen Interesse sich die scharfe Sondening der sinnlichen und
der übersinnlichen Welt zur Lebensaufgabe gemacht, so war dabei
der Begriff des »Sinnlichen« in metaphysischer Bedeutung und
in dem populären Sinne genommen, der unter »sinnlich« das
Materielle oder das auf materiellen Veranlassungen Beruhende
versteht. Mit der Aufnahme der Lehre vom inneren Sinne gewann
das Wort »sinnlich« die erkenntnistheoretische Bedeutung, alles
zu umfassen, was durch Wahrnehmung, äußere oder innere,
uns zum Bewußtsein kommt, und dabei fallen unter diesen Be-
griff, wie unter den platonischen Begriff der ^evsoic, auch alle
die psychischen Tätigkeiten, welche nach der metaphysischen
Terminologie als übersinnlich bezeichnet zu werden pflegten und
pflegen. Auf diese Weise schillern die metaphysische und die
erkenntnistheoretische Bedeutung der »Sinnlichkeit« bei Kant fort-
während ineinander, und das außerordentlich schwierige Verhältnis
seiner theoretischen und seiner praktischen Lehre ist nicht zum
mindesten durch diese Unsicherheit bedingt.
Kants Phänomenalismus ist aber mit der Lehre von Raum
und Zeit noch keineswegs erschöpft, sondern erfährt seine wahre
Vertiefung erst durch den Fortgang der erkenntnistheoretischen
Untersuchung. Konnten nämlich auch Raum und Zeit als die
objektiven, d. h. allgemeinen und notwendigen Anschauungsfor-
men betrachtet werden, so würden sie doch allein noch nicht
genügen, um unseren Vorstellungen den wahren Charakter der
Objektivität, d. h. der Gegenständlichkeit aufzuprägen. Wenn
die sinnlichen Empfindungen nach räumlichen und zeitlichen Ge-
setzen angeordnet sind, so bedeuten sie zwar Anschauungsbilder;
aber diese würden als bloße Vorstellungen in unbestimmter
Schwebe bleiben, wenn nicht zu der räumlichen und zeitlichen
noch eine andere Synthese hinzukäme, um diese Bilder zu ob-
jektivieren. Erst dadurch, daß die Empfindungen, welche die
Elemente unserer Anschauungsbilder sind, bei der räumlichen und
zeitlichen Synthese zugleich als Eigenschaften und Zustände von
Dingen aufgefaßt, imd daß zwischen diesen Dingen bestimmte
Beziehungen als notwendig gedacht werden, verwandelt sich der
Inhalt unserer Vorstellungen in das Bild einer Welt von Dingen,
die miteinander in Verhältnissen stehen. Diese Verwandlung ist
nicht mehr eine Sache der Sinnüchkeit, so sehr auch das gewöhn-
Bogrifl' (1i;m QepfoiistandoB. 69
liclio BewußtHcMii von oinor unmittolharen Walirneliinun«^ von
I)in«^on und ihren Voiliältnissen sprechen maj^'. Die reine Wahr-
nehmung enthält niclits als Kinpfindungen in räumlicher und
zeitlicher Anordnung; das reine Wahrnehmungsurteil ist, wie es
Hume charakterisiert hatte, nur das Bewußtwerden einer räum-
lichen Koordination und einer zeitlichen Koexistenz oder Sukzession
von Empfindungen. Alles was darüber hinausgeht, enthält eine
Deutung \ler Wahrnehmungen, welche nur durch die Anwendung
gewisser begrifflicher Bezieliungen auf das Material der Empfin-
dungen zustande kommt. Begriffliche Beziehungen aber sind
die Funktion nicht mehr der Sinnlichkeit, sondern des Verstan-
des. Wenn also das gemeine Bewußtsein davon spricht, daß es
Dinge mit ihren Eigenschaften und Verhältnissen »erfahre«, so
ist diese Erfahrung eine Tätigkeit, welche sich aus dem Zusam-
menwirken der Sinnlichkeit und des Verstandes ergibt, und die
Erkenntnistheorie hat die Aufgabe, den Anteil, den jeder dieser
Faktoren an dem Produkte hat, genau festzustellen. Kants scharfe
Sonderung der Sinnlichkeit und des Denkens führt ihn daher zu
der weittragenden Einsicht, daß in allem, was wir "lErf ahrung
nennen, irnsere Wahrnehmung bereits mit einer großen Anzahl
von Funktionen des Denkens durchsetzt und dadurch verarbeitet
ist. Offenbar ist dies nun aber eine ganz andere Art der Ver-
arbeitung des Empfindungsmaterials als diejenige, welche man
im eigentlichen Sinne als die logische bezeichnet. Die logische
Funktion des Verstandes, Begriffe, Urteile und Schlüsse zu bilden,
setzt bereits ein Material von Vorstellungen voraus, an welchem
sich jene Objektivierung der sinnlichen Bilder durch verstandes-
mäßige Beziehungen betätigt hat. Es muß also neben den
logischen Formen der Verstandestätigkeit noch andere geben,
w^elche von einem viel tieferen Gebrauche und von einer viel
innigeren Beziehung zu der Anschauungstätigkeit, obwohl von
der letzteren durchaus verschieden sind.
x\n diesem Punkte liegt die eigenste Bedeutung, die Kant
für die Erkenntnistheorie hat. Sinnliche Anschauungen und
logische Formen ihrer Verarbeitung, das waren die beiden ein-
zigen Elemente der Erkenntnistätigkeit, welche man vor ihm
kannte, und wenn den Inhalt aller menschlichen Erkenntnis die
•^Q Kants theoretische Philosophie.
notwendif^en Beziehungen des Vorstellungsinhaltes bilden, so
suchte den Grund dafür der Rationahsmus in den logischen For-
men, der Empirismus in dem ursprünglichen Inhalte der Wahr-
nehmungen. Nun hatte sich Kant davon überzeugt, daß mit
den logischen Formen eine sachlich neue Erkenntnis niemals
gewonnen werden kann; er hatte aber auch durch die Kon-
sequenz des Humeschen Gedankens erfahren, daß die wichtigste
aller Notwendigkeitsbeziehungen, diejenige der Kausalität, in der
Wahrnehmung selbst nicht enthalten ist. Sollte es daher all-
gemeingültige und notwendige Erkenntnis von den Verknüpfungen
des Anschauungsinhaltes geben, so war sie weder durch die An-
schauungen selbst noch durch die logischen Formen, noch durch
die Verbindung von beiden zu gewinnen. Diese Folgerung hatte
Hume gezogen, und im Hinblick auf sie gilt es, daß der größte
der englischen den größten der deutschen Philosophen »aus dem
dogmatischen Schlummer gerüttelt« hat. Denn im Gegensatz
dazu erhob sich nun Kant gleichzeitig über den empiristischen
Skeptizismus und über den logisch-formalistischen Rationalismus
durch die größte seiner theoretischen Entdeckungen, diejenige
nämlich, daß es neben den logischen noch ^jajadere Formen der
Verstandestätigkeit gibt, und daß in ihnen der Grund für alle
notsvendigo und allgemeingültige Erkenntnis der Erfahrungswelt
zu suchen ist. Diese Formen, welche im Gegensatz zu den rein
logischen die erkenntnistheoretischen genannt werden dürfen, be-
zeichnete Kant als Kategorien.
Aus diesen Prämissen ergibt sich Kants durchaus neue und
schöpferische Stellung zur Wissenschaft der Logik. Von ihrer
alten Gestalt, worin sie eine Theorie des Begriffs, des Urteils
und des Schlusses sein will, behauptete er mit Recht, daß sie
seit Aristoteles keinen wesentlichen Fortschritt gemacht habe.
Aber der Erkenntniswert dieser analytischen Formen des Denkens
hatte sich für Kant dahin herabgesetzt, daß sie lediglich eine
formale Umbildung und Verdeutlichung eines schon gegebenen
Stoffes zu gewähren imstande sind. So betrachtet, können die
logischen Funktionen nicht mehr als Erkenntnisformen im eigent-
lichsten Sinne des Wortes gelten, und dann ist die Logik nicht
mehr eine Theorie der Erkenntnis, sondern vielmehr eine Lehre
von den Formen des richtigen Denkens, soweit es sich auf die
Forinalü und IraDHZoadoDtule Jjogik. 71
aiuily tische JichancUuiiji^ eines irgendwie «onat Bchon feHlHtehendeu
Vc)rstellun<;sinlialtes beschränkt. Mit dieser Auffussuni^ wurde;
Kant zum Vertreter der formalen Logik im modernen Sinne
des Wortes. Er ielirte, (hiü für die wissenschaftliche J5«;trachtung
dieser Denkformen jede l^erücksitlitigung des Denkinhaltes fort-
zufallen und lediglich die Form des (Jedankenfortschrittes die
Untersuchung zu beschäftigen habe. Die scharfe Scheidung, die
er zwischen dem Inhalt und der Form des Denkens gemacht
hatte, erwies sich für seine Bestimmung der Aufgabe der Logik
entscheidend, und unter diesem Gesichtspunkte behandelte er sie
in seinen Vorlesungen, deren Grundzüge auf seine Veranlassung
von Jäsche (1800) herausgegeben wurden. Aber dieser formalen
Logik setzte Kant nun eine erkenntnistheoretische Logik "0
entgegen, welche sich zwar auch mit Formen des Derikens, aber
nicht mit den »logischen«, sondern mit den erkenntnistheore-
tischen, die er neu entdeckt hatte, beschäftigte und die Frage
zu beantworten hatte, wie aus diesen Kategorien eine allgemeine
und notwendige Erkenntnis hervorzugehen imstande sei. Das ist
Kants Begriff der »transzendentalen Logik«, welche sich
also zum Denken ebenso verhält, wie die transzendentale Ästhetik
zum Anschauen. Kant suchte nun zwar formale und transzen-
dentale Logik als vollkommen gesonderte Wissenschaften zu be-
handeln. Wenn sich aber doch zeigte, daß sie in der Lehre
vom Urteil nicht nur sich flüchtig berührten, sondern viel-
mehr auf das innigste verwachsen waren, so ergab sich daraus
als eine Aufgabe der Zukunft eine neue Gesamtbehandlung der
Logik vermittels einer Ineinanderarbeitung des formalen und des
erkenntnistheoretischen Gesichtspunktes. Auf diese Weise ist in
der Tat dmch Kant nach iVristoteles der erste große Schritt zu
einer Umbildung der Logik geschehen.
Die transzendentale Logik entwickelt Kant nun im Anschluß
an ein zu seiner Zeit gebräuchliches Schema der Behandlung und
Bezeichnung; die Kritik der berechtigten Anwendung der Kate-
gorien ist die Analytik, diejenige ihrer unberechtigten Anwendung
die Dialektik.
Die Frage der transzendentalen Analytik geht auf die Berech-
tigung derjenigen s}aithetischen Urteile a priori, aus denen sich
die reine Naturwissenschaft konstituiert. An der Spitze der
Y2 Kants theoretische Philosophie.
empirischen Naturforschung figurieren ausgesprochen oder unaus-
gesprochen eine Anzahl von Axiomen, welche durch die einzelnen
Tatsachen zwar bestätigt, aber in der Allgemeingültigkeit und
Notwendigkeit, mit der wir von ihnen überzeugt sind, niemals
durch die Erfahrung begründet werden können. Sätze, wie der-
jenige, daß die Substanz in der Natur sich weder vermehrt noch
vermindert, oder derjenige, daß %lles Geschehen in der Natur
seine Ursache habe; sind unmöglich durch Erfahrung zu begrün-
den. Daß sie nur durch die Erfahrung uns erst allmählich zum
Bewußtsein gekommen sind, würde Kant gern zugegeben und
nicht als einen Einwurf gegen ihre Apriorität angesehen haben,
da ja die letztere keine psychologische, sondern eine erkenntnis-
theoretische Bestimmung ist. Zugleich sind diese Sätze syn-
thetisch: denn es liegt weder im Begriff der Substanz, daß sie
quantitativ unveränderlich, noch in demjenigen des Geschehens,
daß es ursächlich bedingt sei. Sind nun diese Synthesen nicht
durch Erfahrung begründbar, worin besteht ihre Berechtigung?
Sie alle enthalten den Anspruch, die allgemeine Gesetzmäßigkeit
der Natur zum Ausdruck zu bringen. Wäre nun die Natur,
um die es sich dabei handelt, ein realer Zusammenhang von
Dingen, so könnte unser Geist von der Gesetzmäßigkeit dieses
Zusammenhanges eine Erkenntnis nur auf zwei Wegen gewinnen:
entweder indem er den Zusammenhang durch die Wahrnehmung
erführe, oder indem er ihn aus seiner eigenen Gesetzmäßigkeit
konstruierte, dabei aber so eingerichtet wäre, daß er damit die
Realität wirklich begriffe. Die letztere Annahme setzt wieder
jene präformierte Harmonie voraus, welche Kant ein für allemal
aus der Erkenntnistheorie verbannt hatte. Die erstere dagegen
würde, selbst wenn man zugäbe, daß wir in der bloßen Wahr-
nehmung noch einen anderen als den räumlich -zeitlichen Zu-
sammenhang erleben (was Kant leugnet), doch niemals die All-
gemeingültigkeit und Notwendigkeit, welche wir für unsere
allgemeine theoretische Naturerkenntnis in Anspruch nehmen,
berechtigt erscheinen lassen. Dagegen wird es möglich, diese
Berechtigung zu begreifen, sobald man sich auf den phänome-
nalistischen Standpunkt begibt. Daß der Wahrnehmungsinhalt
sowohl in seiner sinnlichen Qualität als auch in seiner räumlich-
zeitlichen Formung subjektiven Charakters ist, gilt durch die
Natur uIh Krsclioinuiig. 73
transzeiulonlalc Astliclik für IjcwicHcn. Auf alle Fälle i.st also,
was wii>Nat\ii^^ nennen, iinnier dodi mii- ein /^'OKctzniäüi;^<'r /u-
saninienhang von Kisclieinun;j;en. Eh gibt nnii einen crkenntni«-
theoretisclien Standpunkt, der dies ziigil)!. inul dabei doch be-
hauptet, daß (Um* ^edaehte Zusammenhang der PJrscheinungen,
(1. h. die Formen der Oesctzmäßij^keit, welche das Denken als
die Verliiiltnis.se der Erscheinun^^'U auffaßt, nui^^cn die letzteren
selbst auch nur phänomenalen Charakters sein, dennoch eine
Erkenntnis der Realität bilden. CJenau so verhielt sich die Leib-
nizische Lehre. Aber für Kant war diese prästabilierte Harmonie
unannehmbar, und so stieß er auf die Frage, ob vielleicht diese
Formen auch nur phänomenalen Charakters seien. Wenn sie die
Gesetze darstellen, nach denen die Vernunft vermöge ihrer eigenen
Ofganisation den Zusammenhang der Erscheinungen denken piuß,
(gleichviel ob er in dieser Gestalt real ist oder nicht,jso ist jede
aieser Formen für uns ein Natiurgesetz von allgemeiner und not-
wendit2;er Geltung. Schriebe eine außer uns bestehende Natur
dem erkennenden Geiste seine Erkenntnis vor, so könnten wir
nie wissen, ob wir diese Vorschriften schon in dem Umfange
kennen gelernt haben, um zu bestimmen, mit welchem Grade
von Allgemeinheit die einzelnen gelten : dagegen ist diese Apriorität
sogleich begründet, wenn umgekehrt der Verstand, es ist,
welcher der Natur die Gesetze vorschreibt. Die Paradoxie
dieses Satzes besteht nur so lange, als man dabei an eine will-
kürliche Tätigkeit des individuellen Verstandes oder anderseits
an eine objektiv-reale »natura rerum« denld;: was Kant meint,
ist vielmehr , daß wir von einer allgemeinen und notwendigen
Erkenntnis der Natur nur unter der Bedingung sprechen dürfen,
wenn das, was wir Natur nennen, nicht eine Welt von Dingen
an siclf^, sondern vielmehr der nach_den allgemeinen Gesetzen
des Geistes g:edachte Zusammenhang von '^Erscheinungen^ ist.
Apriorische Naturerkenntnis ist nur möglich unter dem phäno-
menalistischen Gesichtspunkte, nur möglich, w^enn alles, was wir
von einer wirklichen Welt zu erfahren glauben, ein Produkt
nicht nur unserer Empfindungs- und Anschauungs-, sondern auch
unserer Denkweise ist. Danach kann unsere apriorische Natur-
erkenntnis nur darin bestehen , daß wir uns die Gesetze zum
Bewußtsein bringen, nach denen die Organisation unserer
74 Kants theoretische Philosophie.
Intelligenz schon ohne unser bewußtes Zutun die Vorstellung der
Natur in uns produziert. Die Entscheidung der Frage nach der
Berechtigung einer reinen Naturwissenschaft hängt also daran,
ob sich solche ^ reine Formen^ des Denkens als konstituierende
Kräfte für unsere Erfahrung von der Natur ebenso nachweisen
lassen wie die reinen Anschauungen für unsere Auffassung der
sinnlichen Bilder.
In der Aufsuchung dieser Formen nun lehnt sich die tran-
szendentale Logik an die formale an. Wenn es solche reine
Formen der Denktätigkeit geben soll, so können sie nur die
Arten der Verknüpfung darstellen, unter denen die Vorstellungen
im Denken auftreten. Die Vorstellungsverknüpfung aber hat,
sobald sie den Anspruch nicht nur auf subjektive, sondern auch
auf objektive, d. h. allgemeine und notwendige Geltung macht,
stets die Form des Urteils. Gegenständliches Denken ist
Urteilen. Die Aufgabe, die verschiedenen Verknüpfungsweisen,
welche das Denken anzuwenden imstande ist, systematisch zu
finden, muß deshalb zu ihrer Lösung sich des Leitfadens be-
dienen, den eben die formale Logik in der Lehre von der Ein-
teilung der Urteile darbietet. Es gibt so viel »Kategorien«, als
es ursprüngliche Verknüpfungsarten von Vorstellungen gibt, und
es gibt der letzteren so viele, als es Formen des Urteils gibt.
Wenn man bei jeder dieser Formen auf die eigenartige Beziehung
achtet, welche das Urteil zwischen Subjekt imd Prädikat ansetzt
und worin seine spezifische Eigentümlichkeit besteht, so wird
man in diesem^ Verhältnisbegriffe eine der Grundfunktionen des
Denkens erkennen müssen. In dieser Auffassung der Urteilsformen
besteht, prinzipiell betrachtet, die entscheidende logische Tat
Kants. Mit ihr erhebt er sich über die schematische Behand-
lung, welche die Lehre vom Urteil in der Logik bis zu ihm hin
deshalb gefunden hatte, weil man dabei lediglich auf die*^ub-
sumtionäverhältnisse zwischen Subjekt und Prädikat seine Auf-
merksamkeit richtete. Kant hatte eingesehen, daß das Urteil
weder stets eine Gleichsetzung von Subjekt und Prädikat besagen
noch den Ausdruck für das Verhältnis des Umfangs dieser beiden
Begriffe geben will, sondern vielmehr zwischen Subjekt und Prä-
dikat eine begriffliche Beziehung, eine Art der »Aussage« stiftet,
welche sich in der Abstraktion als einer der reinen Verstandes-
Urteile un«l Kategorien. 7Ö
begriffe versellmtäiidi'.^en lüLH. ( Das Urteil: Zucker iht büß, will
weder die beiden Begiiffe Zucker und süß einander gleichsetzen
noch den einen unter den anderen* subsumieren, sondern viel-
melir aussagen, daß das Ding Zucker zu seinen Eigenscliaften
aucli diejenige habe, .süß zu setn. Das Wesen des Urteils Ije-
steht also darin, die beiden V^orstellungen »Zucker« und *süß«
in das begriffliche Verliältnis von Dinj^ und Eigeiiachaft mit-
einander zu setzen, und der verbindende Akt, der in diesem
Urteile die Synthesis von Subjekt und Prädikat vollzieht, spricht
sich, wenn er gesondert zum Bewußtsein gebracht werden soll,
als das Verhältnis von Ding und Eigenschaft, als die Kategorie
der Substantialität oder der Inhärenz aus. Dies Beispiel mag
genügen, um die Absicht zu er4äutern, die Kant bei seiner Be-
handlung des Urteils vorschwebte^ Die transzendentale Logik
will nicht mehr wie die formale eine Logik des ümfangs der
Begriffe sein, sondern vielmehr die sachlichen Beziehungen
untersuchen, welche durch die verschiedenen Formen der Urteils-
tätigkeit zwischen den Begriffen angesetzt werden. Jene ein-
seitige Berücksichtigung des Umfangs der Begriffe war der alten
Logik dadurch aufgenötigt worden, daß ihre wesentliche Aufgabe
auf eine Theorie des wissenschaftlichen Beweis Verfahrens , auf
eine Lehre vom Schluß hinauslief. Erst von dem erkenntnis-
theoretischen Gesichtspunkte Kants her konnte es entdeckt wer-
den, daß den Formen des Urteils ebenso viele Verhältnisse
zwischen den Begriffen entsprechen. Mit dieser Entdeckung hat
Kant das Problem der »unauflöslichen« Begriffe gelöst, an dem
sich z. B. Lambert ergebnislos bemüht hatte, imd damit jene
große Umwälzung der Logik begonnen, welche heute noch nicht
vollendet ist. Und diese Bedeutung seines neuen Prinzips wird
dadurch nicht geschmälert, daß Kant sich in der Ausführung
des neuen Gedankens offenbar vergriffen hat.
Denn es ist bei der klaren Vorstellung, welche Kant von der
Verschiedenheit der Aufgaben der formalen und der erkenntnis-
theoretischen Logik gehabt hat, höchst merkwürdig, daß er
dennoch meinte, das von der formalen Logik aufgestellte System
der Urteile als Leitfaden für die Aufsuchung der erkenntnis-
theoretischen Funktionen benutzen zu können. Mit seiner Über-
zeugung von der Unanfechtbarkeit der formalen Logik legte er,
76 Kants theoretische Philosophie.
obwohl ihm doch die Verschiedenheit, die in dem Vortrage der
Urteilslehre selbst unter den Schulphilosophen obwaltete, kaum
hat entgehen können, dennoch seiner Aufsuchung der Kategorien
die >> Tafel der Urteile«, wie er sie vorzutragen pflegte, zugrunde.
Diese Tafel zeigte vier Gesichtspunkte, denen jedes Urteil unter-
worfen werden müsse, diejenigen der Quantität, der Qualität,
der Kelation und der Modalität, und für jeden dieser Gesichts-
punkte drei verschiedene Formen, von denen eine in jedem Urteil
enthalten sein müsse. Der Quantit;^t nach ist das Urteil entweder
ein allgemeines oder ein partikulares oder ein singulares, der
QuaÜtät nach entweder ein bejahendes oder ein verneinendes
oder ein unendliches, der Relation nach entweder ein kategorisches
oder ein hypothetisches oder ein disjunktives, der Modali;^t nach
ein problematisches oder ein assertorisches oder ein apodiktisches.
Aus der Reflexion auf diese zwölf möglichen Formen des Urteils
entwickelt nun Kant seine Tafel der zwölf Kategorien. Die
Kategorien der Quantität sind: Einheit, Vielheit, Allheit; die-
jenigen der Qualität sind: ReaHtät, Negation, Limitation; die-
jenigen der Relation sind: Inhärenz und Subsistenz (substantia
et accidens), KausaHtät und Dependenz (Ursache und Wirkung),
Gemeinschaft (Wechselwirkung zwischen Handelndem und Leiden-
dem); diejenigen der .Modalität sind: Möglichkeit und Unmög-
lichkeit, Dasein und Nichtsein, Notwendigkeit und Zufälligkeit.
Es ist klar, daß der Zusammenhang zwischen jenen*^Urteilsformen^
(selbst deren System als richtig zugegeben) und diesen 'reinen
Verstandesbegriffen,' welche die darin wirksamen Verknüpfungs-
funktionen enthalten sollen, zum großen Teile nur ein äußerst^
loser, willkürlicher und zufälliger ist. Und von allen Teilen der
Kantischen Philosophie ist diese Ausführung eines seiner bedeu-
tendsten und fruchtbarsten Gedanken offenbar der schwächste.
Leider ist die Wirkung davon nicht auf diesen Teil beschränkt,
sondern Kant fand vielmehr sonderbarerweise an diesem Schema
der Kategorien so viel Freude, daß er es in der Folgezeit überall
zugrunde legte, wo es ihm um die erschöpfende Behandlung eines
Problems zu tun war. Seine zunehmende Pedanterie trat nicht
am wenigsten darin zutage, daß er meinte, jeder Gegenstand
müsse nach Quantität, Qualität, Relation und Modalität geson-
dert abgehandelt werden, und daß er in dieses Schema seine
'Piifel (lor rrtoilr und dor Kfitop^orirn. 77
spiltiM(Mi lTnt(M'snclnm;^on nicht zu ihrem Vorteil künstlich »wie
in oin Prokrustosbrtt« hinoinpreßtc.
J)as sind also dic'^rcincii Verstandosbegriffc, deren durcJiauH
j)arallcle liohandlunjj; mit dvn reinen Anschauungsformen " den
ei<^entlic'lien Charakter von Kants kritischer Erkenntnistheorie
bildet, indem er von ihnen mit einer anah);_fen Beweisführung und
mit den gleichen phänomenalistischen Konsequenzen die Apriorität
behauptet. Auch hier gilt diese nicht in dem psychologischen
Sinne, daß etwa l^cgriffe, wie diejenigen der Substantialität und
Kausalität von vornherein im Bewußtsein des Menschen vorhanden
seien und dann erst ziu: Anordnung des similichen Vorstellungs-
materials ausdrückhch verwendet werden sollten. Für Kant ist
vielmehr auch das Bewußtsein von diesen reinen Formen des
Denkens in derselben Weise wie dasjenige der räumlichen und
zeitlichen Gesetze niu' eine Reflexion auf die Arten der Syn-
thesis, welche das Denken unwillkürlich in seiner Erfahrungs-
tätigkeit anwendet. Den Beweis davon führt Kant in demjenigen
Abschnitt der Kritik der reinen Vernunft, welchei von allen am
tiefsten geht, aber eben deshalb auch von jeher als der dunkelste
und schwierigste gegolten hat. Will man sich den darin ent-
haltenen Beweisgang ohne die zum Teil sehr künsthche und ver-
wickelte Terminologie, welche Kant dafür konstruiert hat, klar
machen, so muß man als Ausgangspunkt die für Kants eigene
Ent\vicklung so bedeutungsvolle Frage nach dem Grunde der
Gegenständlichkeit unserer sinnlichen Wahrnehmungsbilder
nehmen. Versteht man unter Wahrnehmung die nach dem Schema
von Raum und Zeit angeordneten Zusammenfassungen von Emp-
findmigen, w^elche in dem individuellen Bewußtsein entstehen, unter
^Erfahrung" dagegen das Bewußtsein des Individuums, eine not-
wendige und allgemeingültige Vorstellungsverbindung bei dieser
sinnUchen Wahrnehmung vollzogen zu haben, so lautet die Frage
der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandes-
begriffe: wie wird aus Wahrnehmung Erfahrung? oder schärfer
im Geiste der kritischen Methode ausgedrückt: aus welchem Grunde
kann aus Wahrnehmmigen Erfahrung werden? Erfahrung setzt das
Verhältnis eines subjektiven Vorstelliuigsgebildes zu einem Gegen-
stande voraus; und so läßt sich die Frage auch so formu-
lieren: worin besteht und worauf beruht die Beziehung unserer
7^ Kants theoretische Philosophie.
Wahrnelimungen auf Gegenstände? Um aber in der Beantwortung
dieser Frage nicht von vornherein fehlzugehen, muß man sich
klar machen, daß Gegenständlichkeit im Sinne des Kantischen
Kritizismus nicht mit '^Eealität nach altem und gewöhnlichem
Sprachgebrauch, sondern vielmehr lediglich mit , Notwendigkeit und
Allgemeingültigkeit identisch ist. Daraufhin formt sich jene Frage
in die weitere um: aus welchen Gründen können wir überzeugt
sein, daß die in der Wahrnehmung des einzelnen Subjektes sich
vollziehenden räumlich - zeitlichen Synthesen von Empfindungen
notwendige und allgemeine Geltung haben? In der Beantwortung
dieser Frage entwickelt Kant die größte Energie seines Denkens,
und es ist dies der Punkt, wo er sich über das Vorurteil des
naiven Kealismus weit emporhebt. Den Nerv aber der gesamten
Deduktion der reinen Verstandesbegriffe muß man in Kants Nach-
weise sehen, daß schon die Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit,
welche in der Wahrnehmung dem räumlichen und zeitlichen Schema
der Empfindungen beiwohnt, nicht durch die bloße Anschauungs-
tätigkeit, sondern bereits durch begriffliche Beziehungen oder, wie
Kant sich ausdrückt, durch Kegeln des Verstandes bestimmt ist.
Man sagt gewöhnlich, Kant habe sich nur um die Apriorität
von Raum und Zeit und den Kategorien, niemals aber um den
Erkenntnis wert der einzelnen Erfahrungen gekümmert, und Jacobi
und Herbart haben gleichmäßig diesen Einwurf gegen die Vernunft-
kritik gemacht. Die transzendentale Deduktion lehrt das Gegen-
teil; sie sucht zu zeigen, daß räumliche und zeitliche Anordnung
von Empfindungen nur dann einen^ objektiven, d. h. notwendigen
und allgemeinen Wert haben, wenn sie durch eine begriffliche
Funktion in ihrer Anwendung bestimmt sind. Zwei Empfindungen
A und B, welche in demselben individuellen Bewußtsein hinter-
einander aufgetreten sind, können innerhalb desselben nach den
Gesetzen der empirischen Reproduktion und Assoziation in be-
liebiger Weise und von jedem Individuum in anderer Weise räumhch
und zeitlich in Beziehung gesetzt werden. Sollen sie aber in die
allgemeine und notwendige Beziehung treten, daß immer B auf A
folge, so ist das nur dadurch mögHch, daß A die Ursache von B
ist. In ähnUcher Weise, meint Kant, seien alle räumlichen und
zeitlichen Verhältnisse in der »Einbildungskraft« individuell ver-
schiebbar und würden zur Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit
Transzondontiilt' Doduktion (]ov roinon Vcratandeftbopfrino. 7!*
erst dadiiirli fixiert, daß sie nach den begrifflichen Vcrhältninsen
geregelt werden.
Nun liegt aber eine solche Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit
in dem, was wir Erfahrung nennen, tatsäclilich vor. Wir haben
ein zweifelloses Bewußtsein davon, *daß die räumliche und zeitliche
Anordnung, in welche wir bei der Wahrnehmung die Empfindimgen
versetzen, allgemein und notwendig gilt. Und doch ist in den
bloßen Empfindungen kein Grund für eine solche bestimmte An-
ordnung enthalten. Wenn wir z. B. unsere Augen über die
einzelnen Teile eines großen Gegenstandes wandern lassen und uns
diese Teile sukzessive zum Bewußtsein bringen, so bleiben wir
doch davon überzeugt, daß diese sukzessive in uns aufgetretenen
Empfindungen als gleichzeitig im Kaume koordiniert gedacht
werden müssen, während wir in anderen Fällen nicht minder
sicher davon überzeugt sind, daß der Sukzession unserer Emp-
findungen (z. B. bei der Bewegung eines Gegenstandes) auch eine
objektive Sukzession in der Zeit entspreche. Nichts anderes
können wir nun aber meinen, wenn wir den subjektiven Vor-
stellungsbewegungen gegenüber von »Gegenständen« sprechen,
welche die Eichtschnur für die Richtigkeit der ersteren bilden.
Gegenständlichkeit ist eine Regel für die räumlich-zeitliche An-
ordnung der Empfindungen, eine Regel, die nach dem obigen
jedesmal die Anwendung einer der Funktionen des reinen Ver-
standes enthält, und wodurch der subjektiven Vorstellungs-
verknüpfung objektive Geltung verschafft werden soll. Von der
erkenntnistheoretischen Analyse aus gesehen, ist also Erfahrung
nur-not wendige und allgemeingültige Wahrnehmungstätigkeit," und
ist der gegenständ 'der Wahrnehmung nur diese Bestimmtheit der
räumlich-zeitlichen Sjrnthese durch einen Verstandesbegriff. Die
"Gegenstände also sind nicht an sich bestehende Dinge, sondern
sie sind der individuellen Assoziation gegenüber lediglich die all-
gemeinen und notvrendigen Empfindungsverknüpfungen. ^^
Nun treten aber diese objektiven Synthesen gleichfalls in dem
individuellen Bewußtsein auf. Sie zeichnen sich nur dadurch aus,
daß ihnen ein Gefühl von Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit
beiwohnt, welches aus der empirischen Assoziationstätigkeit des
individuellen Geistes nicht erklärbar ist. Deshalb kann der Grund
der Objektivität nur darin gesucht werden, daß im tiefsten Grunde
gQ Kants theoretische Philosophie.
des individuellen Bewußtseins eine allgemeine Organisation tätig
ist, die nicht sowohl in ihrer Funktion selbst, als vielmehr in
ihren Produkten, d. h. als sachlich gegebene Gegenständlichkeit
vor das individuelle Bewußtsein tritt. Das letztere findet des-
halb die Vorstellung der Gegenstände als ein Fertiges und Ge-
gegebenes vor und betrachtet sie als etwas ihm Fremdes und
Äußerliches, während sie in Wahrheit in der innersten Werk-
stätte seines eigenen Lebens erzeugt worden sind. Das Gegen-
ständliche also in unserem Denken beruht auf einer über-
individuellen Funktion, welche gleichmäßig den gegenständ-
lichen Untergrund aller individuellen Vorstellungstätigkeit bildet,
auf dem »Bewußtsein überhaupt«. fMan darf unter diesem
viel mißverstandenen Ausdruck nicht ein von dem individuellen
Bewußtsein verschiedenes psychisches Wesen oder Subjekt ver-
stehen wollen: eine solche metaphysische Deutung ist eben da-
durch ausgeschlossen, daß es sich bei allen diesen Kantischen
Untersuchungen nicht um psychologische Prozesse, sondern um
dasjenige handelt, was als allgemein und notwendig geltende
Funktion in dem, was wir Erfahrung nennen, enthalten ist.^ In-
dem Kant daran geht, die in den » Prolegomena « zuerst so be-
zeichnete Funktion des Bewußtseins überhaupt zu bestimmen,
ergibt sich zunächst, daß ihr innerster Charakter in der Einheit
des Denkaktes bestehen muß. Alle Gegenstände sind Synthesen
von Empfindungen, aber sie sind als solche stets eine Verein-
heitlichung des Mannigfaltigen. Wenn nun dies Mannigfaltige in
den Empfindungen besteht, so ist anderseits die Vereinheitlichung
eine Funktion der reinen Formen der Intelligenz. Raum und
Zeit einerseits und die Kategorien anderseits bilden also die
Formen der notwendigen und allgemeingültigen Vereinheitlichung
für die Mannigfaltigkeit der Empfindungen, d. h. sie sind in
ihrer Verbindung die konstituierenden Prinzipien der Objektivität.
Diese ganze »transzendentale Synthesis des Mannigfaltigen« ist
aber nur so denkbar, daß ihr eine absolute Einheit zugrunde
liegt, in welcher und an welcher das Verschiedene als solches
erkannt und miteinander in Beziehungen gesetzt wird. Diese
absolute Einheit kann natürlich weder in einem bestimmten Denk-
inhalte noch in einer der besonderen Denkformen, sondern nur
in jener allgemeinsten Form bestehen, welche als der stets sich
»Bowiißtsein Uborliatipt«, H]
jjjleichbliMbeiKlc Akt »ich denke« alle V'orstellungf'n iilxTliaiipt
nicht mir bcjj;loitet, soiKh'rn erst nio;_'lich macht. Den tiefsten
Crund jener überindivitluellcn Orfjjanisation bildet also dieses
»reine Selbstbewußtsein«, vda.^ Kant mit dem Namen der
»transzendentalen Apperzeption« bezeichnet.\
In diesem »Bewußtsein überliaupt« liej^t also der Grund für
die Allgcmeingültigkeit \md Notwendigkeit der Erfahrung. Die
Katcjgorien sind nichts als die besonderen Formen der Synthesis,
welche die transzendentale Apperzeption anwendet, um die Mannig-
faltigkeit der Empfindungen in die begriffliche Einheit zu bringen,
worin allein auch die "" Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit
der räumlich-zeitlichen Anordnung begründet ist. Die Welt der
Gegenstände ist also ein Produkt der überindividuellen Funktion,
die als Erfahrung in uns einzelnen tätig ist. Bildet sich das
Individuum willkürlich oder nach den Gesetzen der Assoziation
aus dem Material seiner Wahrnehmungen neue Zusammenstellungen,
so bezeichnet man diese Tätigkeit als Einbildungskraft, welche im
Individuum stets reproduktiver Natur ist. Indem nun die tran-
szendentale Apperzeption aus den Empfindungen mit Hilfe des
Schemas von Raum und Zeit durch die Einheitsfunktion der
Kategorien originaliter die Gegenstände erzeugt, verdient sie den
Namen der produktiven Einbildungskraft.
Dies ist nun der »Kopernikanische Standpunkt«, den Kant
gewonnen zu haben glaubte, um das Verhältnis unserer Vor-
stellungen zu einer gegenständlichen Welt begreiflich zu machen.
Die einzige Bedingung, unter der es Begriffe a priori von den
Gegenständen geben kann, ist die, daß die Gegenstände unserer
Erkenntnis nicht Dinge an sich , sondern Erscheinungen sind.
Hätte unsere Erkenntnistätigkeit es mit Dingen an sich zu tun,
so würden unsere Begriffe dafür niemals allgemeine und not-
wendige Bedeutung haben können. Von den Dingen selbst, durch
Erfahrung im gewöhnlichen Sinne des Wortes gewonnen, würden
sie a posteriori sein; aus uns als eingeborene Ideen genommen,
würden sie ihre reale Gültigkeit niemals erweisen können. Em-
pirismus und Rationalismus sind gleich unfähig, apriorische Er-
kenntnis von Gegenständen zu erklären; nur die Transzendental-
philosophie vermag dies, indem sie zeigt, daß die Kategorien
allgemein und notwendig für alle Erfahrung gelten, weil diese
Windelband, Gesch. d, n, Philos. II. 6
g2 Kants theoretische Philosophie.
Erfahrunc: erst durch sie »zustande kommt«, d. h. in ihrer All-
gemeingültigkeit notwendig begründet ist. Was aber dadurch
zustande kommt, sind nicht Gegenstände an sich, sondern Gegen-
stände, die in jenem »Bewußtsein überhaupt« als Vorstellungs-
synthesen entsprungen sind, d. h. Erscheinungen. Wenn es nur
Erscheinungen sind, mit denen die menschliche Erkenntnis zu
tun hat, so folgt eben daraus, daß es für sie Begriffe a priori
gibt. Denn als Erscheinungen sind die Dinge nur in uns vor-
handen, und die Art, wie das Mannigfaltige der Empfindung in
unserem Bewußtsein vereinigt erscheint, geht dann den Er-
scheinungen selbst als ihre intellektuelle Form vorher*). Eine
Natur als System von Dingen an sich könnte in eine allgemeine
und notwendige Erkenntnis nie eingehen; aber eine Natur, die
ein Produkt unserer Organisation ist, d. h. eine Erscheinungs-
welt, ist in ihren allgemeinen Gesetzen a priori zu begreifen, weil
diese Gesetze nichts anderes sind als die reinen Formen unserer
Organisation.
Diese Lehre Kants ist Kationalismus, insofern sie eine aprio-
rische Erkenntnis mit den Formen des menschlichen Geistes be-
hauptet und begründet; sie ist Empirismus, insofern sie diese
Erkenntnis nur auf die Erfahrung und die darin gegebenen Er-
scheinungen beschränkt; sie ist Idealismus, insofern sie lehrt, daß
es nur unsere Vorstellungswelt ist, welche wir erkennen; .sie ist
Realismus, indem sie behauptet, daß diese unsere Vorstellungs-
welt Erscheinimg, d. h. die Auffassung unseres Geistes von einer
wirklich bestehenden Welt, obwohl njcht deren Abbild ist. Sie
faßt alle diese Charakteristiken zusammen als transzendentaler
Phänomenalismus, indem sie zeigt, daß die Welt der Objekte
für den individuellen Geist das Produkt einer überindividuellen
Organisation ist, die ihm nicht fremd gegenüber steht, sondern
den Grund seines eigenen Lebens bildet. Auch für Kant gilt
deshalb die populäre Bezeichnung, daß die Wahrheit des Denkens
in seiner Übereinstimmung mit Gegenständen besteht : aber diese
''Gegenstände ^können nicht Dinge im Sinne des naiven Realismus,
sondern nur Vorstellungen höherer Art sein. Wahrheit für den
*) Doch muß man dabei immer im Auge haben, daß dies »Vorhergehen«
kein psychologisch -zeitliches, sondern ein logisch -sachliches Verhältnis be-
deutet.
Tranazondontnlor PliilnomcnalisTnu». H3
.suhjoklivcii Ooist ist ÜlxMciiistinmiun«^ der individuellen mit der
üheriiulividiielleii Vorstellung.
Es ist vorzeihlieli, daß dies Resultat des Kritizismus bei seinem
Erscheinen mit der Lehre von Berkeley verwechselt worden ist;
aber es ist ebenso berechtijj^t, daß Kant sich gep^en diese Ver-
wechslung energisch verwahrt hat. Denn während Berkeley jede
Realität der Körperwelt überhaupt aufhob, hält Kant daran ab-
solut fest und beliauptet seinerseits nur, daß alles, was wir von
diesen Körpern durch Wahrnelimung imd Denken wissen, in der
Organisation unseres Geistes begründet und deshalb nur ihre Er-
scheinungsweise sei : und während Berkeley eine metaphysische
Substantialität der individuellen Geister und infolgedessen eine
Mitteilung des göttlichen Vorstellungsprozesses an die einzelnen
Geister annahm, entschlägt sich Kant/vermöge seiner Ausdehnung
des Phänomenalismus auch auf den inneren Sinn , dieses meta-
physischen Spiritualismus vollständig und betrachtet das »Be-
wußtsein überhaupt« nicht etwa als ein metaphysisches Subjekt,
sondern nur als eine allgemeingültige Funktion unü ebenso auch
das empirische Subjekt nicht als eine reale Wesenheit, sondern
als eine Erscheinung. In diesem Sinne gab er in der zweiten
Auflage der Vernunftkritik eine seiner gesamten Lehre vollkommen
entsprechende »Widerlegung des Idealismus«, indem er zeigte,
daß das individuelle Selbstbewußtsein, statt der Vorstellung der
Außenwelt, wie Descartes und Berkeley meinten, zugrunde zu
liegen, vielmehr umgekehrt erst auf Grund einer entwickelten
Vorstellung von äußeren Gegenständen zustande kommt, daß also
mit Rücksicht sowohl auf die psychologische Genesis, als auch
auf die erkenntnistheoretische Begründung die Funktion des
äußeren Sinnes derjenigen des inneren Sinnes vorhergeht.
So erweist sich die transzendentale Ästhetik nur als Vorspiel
zur Analytik. Dort handelt es sich um die von der reinen Mathe-
matik zu erkennenden räumhchen und zeitlichen Gesetze, insofern
sie in sich apodiktisch und von allgemeiner Geltung für die ge-
samte Sinnenwelt sind. Hier dagegen zeigt es sich, daß die ganze
Welt unserer Erfahrung erst durch die Zusammenwirkung der
SinnHchkeit und des Verstandes zustande kommt, und daß jede
besondere Anwendung der räumlichen und zeitlichen Synthese nur
dadurch objektiven Wert erhält, daß sie durch eine Funktion des
g4 Kants theoretische Philosophie.
reinen Verstandes, durch eine Kategorie geregelt wird. Die beiden
Erkenntnisquellen, Sinnlichkeit und Verstand, welche Kant so
scharf gesondert hat, lassen ihre innere Zusammengehörigkeit und
ihre gemeinsame Abstammung aus der uns unbekannten Wurzel
darin erkennen, daß sie sich an demselben Material der Emp-
findungen in engster Verknüpfung betätigen, und daß die Ver-
hältnisse der sinnlichen Synthese sich durch diejenigen der
begrifflichen S3nathese bedingt zeigen. Indem Kant dieser Ver-
einbarkeit der heterogenen Funktionen nachgeht, stellt er zwischen
beiden als psychologisches Zwischenglied eine Analogie zwischen
den kategorialen Verhältnissen und gewissen zeitlichen Beziehungen
auf, die er als den »Schematismus der reinen Verstandes-
begriffe« bezeichnet. Die stetige Gleichzeitigkeit z. B. von
Empfindungen steht mit der Kategorie der Inhärenz, die stetige
Sukzession mit derjenigen der Kausalität in einer ursprünglich
unserem Denken einleuchtenden Beziehung. Während nun Hume,
der diese Beziehungen wenigstens an den eben gewählten Bei-
spielen zuerst entdeckte, sie lediglich als Produkte des individuellen
Assoziationsmechanismus auffaßte, sieht dagegen Kant in dieser
Koinzidenz sinnUcher und begrifflicher Verhältnisse die eigentliche
Funktion der transzendentalen Einbildungskraft, und da das
zeitliche Schema und die Formen des Denkens sich in der Tätig-
keit des inneren Sinnes begegnen, so glaubt er auf diese Weise
die Möglichkeit begriffen zu haben, daß eine transzendentale Ur-
teilsla*aft die räumlich-zeitlichen Gebilde unter reine Verstandes-
begriffe subsumiere, und daß dadurch die begrifflichen Regeln der
Kategorien ihre Anwendung auf die Welt der sinnlichen Wahr-
nehmung finden. Kants Lehre von der Zeit zeigt sich hier als
ein unentbehrliches Zwischenglied seiner gesamten psychologisch-
erkenntnistheoretischen Konstruktion. Die Zeit^als die reine Form
des inneren Sinnes) gilt einerseits als transzendentale Bedingung
auch für alle Erscheinungen des äußeren Sinnes und anderseits
als ein allgemeines Schema für die Anwendung der Kategorien.
So vermittelt sie jene Gemeinsamkeit der Funktion zwischen Sinn-
lichkeit und Verstand und läßt es begreiflich erscheinen, daß aus
der Subsumtion der Erscheinungen unter die Kategorien sich all-
gemeine Sätze ergeben, welche für den gesamten Umfang der
ersteren als apriorische Gesetze gelten.
I
(IruDclsiltzo dos rolncn Vorstaiulos. 85
Daraiiflnii ontwickcli Kant die CJrundHÜtzc des reiner»
V(M'standes. Sie ontluiltcii dasjenige, was er die reine Natur-
wissenschaft nennt, d. h. die Axiome, welche, ohne durcli die Kr-
falnunü; begründbar zu sein, aller^Erfahrung zu<^'runde lie;^en und
alle besonderen Naturgesetze nicht nur als einzelne Anwendungen
auf empirische Gegenstände unter sich enthalten, sondern auch
allein wirklicli zu begründen imstande sind. Jeder dieser Grund-
sätze enthält nichts anderes als das Urteil, daß die betreffende
Kategorie oder Kategorienklasse auf jede Erscheinung ihre An-
wendung zu finden habe. So ergibt der Gesichtspunkt der
Quantität das allgemeine Axiom der Anschauung, wonach alle
Erscheinungen ihrer Anschauung nach extensive Größen sind.
So folgt aus dem Gesichtspunkte der Qualität der Grundsatz der
Antizipation der Wahrnehmung, daß in allen Erscheinungen
das Objektive, welches den Gegenstand der Empfindung bildet,
eine intensive Größe ist, d. h. einen Grad hat. So begründen die
Gesichtspunkte der Modalität als Postulate des empirischen
Denkens die Begriffsbestimmungen: möglich sei dasjenige, was
der Anschauung und dem Begriffe nach mit den formalen Be-
dingungen der Erfahrung übereinkommt; wirklich dasjenige, was
mit den materialen Bedingungen der Erfahrung, d. h. der Emp-
findung zusammenhängt; notwendig endlich dasjenige, dessen Zu-
sammenhang mit dem Wirklichen nach allgemeinen Bedingungen
der Erfahrung bestimmt ist. Am wichtigsten aber sind zweifellos
unter diesen Grundsätzen des reinen Verstandes die Analogien
der Erfahrung, welche aus der Unterordnung aller Erscheinungen
unter die Kategorien der Relation sich ergeben. Die Anwendung
der Kategorie der Substantialität auf die Erscheinungen ergibt
als erste Analogie den »Grundsatz der Beharrlichkeit der Sub-
stanz«, w^onach bei allem Wechsel der Erscheinungen die Sub-
stanz beharrt und ihr Quantum in der Natur weder vermehrt noch
vermindert wird. Aus der Subsumtion aller Erscheinungen unter
die Kategorie der KausaHtät folgt als zweite Analogie der »Grund-
satz der Zeitfolge nach dem Gesetze der Kausalität«, daß alle
Veränderungen nach dem Gesetze der Verknüpfung von Ursache
und Wirkung geschehen. Die Kategorie der Gemeinschaft be-
gründet in ihrer Anwendung auf die Erscheinungen als dritte
Analogie den »Grundsatz des Zugieichseins nach dem Gesetze der
gß Kants theoretische Philosophie.
Wechselwirkimg«, wonach alle Substanzen, insofern sie im Raum
als zugleich wahrgenommen werden können, in durchgängiger
Wechselwirkung stehen. Diese Analogien enthalten nicht mehr
und nicht weniger als die Grundzüge einer Metaphysik der
Natur als Erfahrungswelt; sie lehren, daß nach den Gesetzen
unserer geistigen Organisation sich alle Erfahrung als ein System
von räumlichen Substanzen darstellen muß, deren Zustände im
Verhältnis wechselseitiger Kausalität stehen. In ihnen erst ent-
wickelt sich die besondere Darstellung davon, daß die Natur als
das System von Ordnung und Gesetzmäßigkeit, welches wir wahr-
zunehmen glauben, in Wahrheit auf dem Grundriß der gesetz-
mäßigen Funktion unseres Verstandesgebrauches aufgebaut ist:
imd so hat Kant erwiesen, daß wir die Welt in diesem ihrem
Zusammenhange vermöge unserer Organisation so wie es geschieht
anschauen und denken müssen, ganz unabhängig davon, ob sie —
worüber wir nichts entscheiden können und was uns auch gar
nichts angeht — außerhalb unseres Geistes so ist oder nicht.
Die so gefundenen und deduzierten Grundsätze des reinen
Verstandes enthalten also die Metaphysik, d. h. die apriorische
Verstandeserkenntnis der Erscheinungswelt. Allein sie bedürfen
behufs ihrer .Anwendung auf die Erfahrungswissenschaften noch
einer Ergänzung. Wenn die Erfahrung nur durch die gemeinsame
Wirkung der Sinnlichkeit und des Verstandes erzeugt wird, so
steht ihr Gegenstand, d. h. die Natur a priori, unter den Gesetzen,
d. h. den reinen Formen der SinnHchkeit und des Verstandes.
Nun zeigte sich zwar schon die Anwendung der letzteren durch
die zeitliche Schematisierung bedingt, und in den Grundsätzen
des reinen Verstandes liegt in dieser Weise schon eine Verlmüpfung
der beiden Prinzipien vor. Allein da alle Erscheinungen sinn-
lichen Charakters sind, so muß sich in ihnen auch die besondere
Gesetzgebung von Raum und Zeit, d. h. die mathematische, als
maßgebend erweisen. Mit jenen Grundsätzen des reinen Ver-
standes ist, da die Tafel der Kategorien als ein vollständiges
System gilt, der Umfang dessen, was man durch bloße Begriffe
a priori von der Erfahrung weiß und wissen kann, erschöpft.
Erst die mathematische Erkenntnis fügt dieser apriorischen Meta-
physik der Erscheinungen das anschauliche Element hinzu. Ohne
dieses Element ist eine Verknüpfung zwischen jenen höchsten
Naturphilosophie. 87
Gruiidsiitzcii und den besonderen Krfuhrun;^cn nicht denkbur,
mithin auch eine Sub.sunition (Kt letzteren unter die crsteren
nicht vollziehbar. Die p.sycholo<;ische Konstruktion, die Kant
seiner Erkenntnistheorie ziii;runde le^te, läßt die Formen der
Sinnlichkeit als das unentbehrliclie Zwischenglied zwischen dem
Empfindungsmaterial und den reinen Formen des Denkens er-
scheinen, und deshalb ist ihm die Mathematik das einzige Medium,
durch welches unsere Erfahrung von der Natur auf jene reinen
Grundsätze bezogen werden kann. Darum erklärt Kant, daß in
jeder Naturlehre sich nur so viel Wissenschaft (d. h. Wissenschaft
im eigentlichsten Sinne oder apriorische Wissenschaft) finde, als
sie Mathematik enthalte. Hier zeigt sich nun, wie Kant durch
seine kritische Arbeit sich die Möglichkeit geschaffen hatte, die
mathematischen Prinzipien der Naturphilosophie ganz in dem
Sinne von Newton durchzuführen, — mit dem Unterschiede nur,
daß die Natur für Newton eine absolute Realität, für Kant^eine
in der Organisation des menschlichen Geistes begründete Er-
scheinung ist, daß Raum und Zeit bei jenem die Möglichkeit der
realen, bei diesem diejenige der Vors tellungs weit bildete. Meta-
physik der Erscheinungen oder Naturphilosophie reicht also
für Kant so weit, als es eine mathematische Behandlung
der Erscheinungen gibt; wo diese aufhört, da gibt es auch
keine apriorische Erkenntnis mehr, sondern nur noch eine Samm-
limg von Tatsachen. Dieses Verhältnis waltet nun in bezug auf
die Erscheinungen des inneren Sinnes ob. Es gibt für die
psychischen Tatsachen weder eine meßbare Bestimmung der
einzelnen noch infolgedessen eine mathematisch formulierbare Be-
stimmung ihrer Verhältnisse und Gesetze. Darum gibt es keine
Metaphysik des Seelenlebens, selbst nicht einmal in dem
bescheidenen Sinne, welchen die Vernunftkritik unter Metaphysik
versteht. Da nun eine rationale Psychologie im alten Sinne,
eine Lehre von der^Seele als, Ding an sich nach Kants Ansicht
erst recht nicht möglich ist, so bleibt für die Psychologie nur
der Charakter einer deskriptiven und mangelt ihr derjenige einer
theoretischen Wissenschaft. Kants Ansicht von der Aufgabe der
Erfahrungswissenschaften ist bei seiner aprioristischen Tendenz
durchaus von dem Galilei-Newtonschen Prinzip beherrscht, daß
Exaktheit und wahre Wissenschaftlichkeit nur da zu finden sei.
88 Kants theoretische Philosophie.
wo es eine korrekte Subsumtion der Erfahrung unter a priori
aufgestellte Gesetze gibt. Diese Forderung ist eben im strengsten
Sinne nur da zu erfüllen, wo das apriorische Element in mathe-
matischen Deduktionen und das empirische in meßbaren Größen
besteht, so daß die Übereinstimmung zwischen beiden unmittelbar
anschaidich und einleuchtend gemacht werden kann. Dieses natur-
wissenschaftliche Ideal läßt sich an der Psychologie nicht er-
füllen: und deshalb erklärt Kant, sie werde niemals den Charakter
der Exaktheit erlangen.
Aus diesem Grunde beziehen sich »die metaphysischen An-
fangsgründe der Naturwissenschaft« nur auf die äußere Natur, auf
die Erscheinungen im Raum, auf die Körperwelt. Ihre Auf-
gabe ist deshalb, zu untersuchen, welche Folgerungen sich aus den
Grundsätzen des reinen Verstandes und aus der mathematischen
Gesetzgebung für die erfahrungsmäßige Theorie der Körperwelt
ergeben. Es wird sich also darum handeln, dasjenige, was an
der Körperwelt erfahrungsmäßig ist, bis zu einem gewissen Grade
jener apriorischen Gesetzgebung zu unterwerfen. Nun beziehen
sich alle besonderen Naturgesetze, welche die Physik aufstellt,
auf die gesetzmäßigen Veränderungen der Körperwelt; jedes Gesetz
ist ein Gesetz des Geschehens. Da aber die Körper nichts als
Erscheinungen im Räume sind, so ist alles Geschehen in der
äußeren Natur räumliche Veränderung, d. h. Bewegung. Die
Bewegung erweist sich aber auch dadurch als Zentralbegriff der
wissenschaftlichen Naturlehre, daß in ihrer Messung und mathe-
matischen Bestimmung sowohl das räumliche als auch das zeit-
liche Merkmal unentbehrlich ist. Deshalb gestaltet sich Kants
Naturphilosophie als eine begriffliche und mathematische
Bewegungslehre a priori. In der Ausführung bedient sich
Kant des Schemas der Kategorientafel, indem er nach deren vier
Gesichtspunkten seine Naturphilosophie einteilt in Phoronomie,
Dynamik, Mechanik und Phänomenologie. Den Begriff der Be-
wegung bestimmt Kant im Einklang mit seinem Schriftchen aus
dem Jahre 1758 auch hier in dem relativen Sinne als die Ent-
fernungsveränderung zweier Punkte. Er leitet daraus die ersten
Grmidsätze von der Zusammensetzbarkeit der Bewegungen oder
die Prinzipien der Disziphn, die man später Kinematik genannt
hat, besonders aber die Folgerung ab, daß, sobald im Universum
DynainiHclie Naturcrklürunpf. 8f)
sich ir«^eiKl etwas bcwe«;t, nichts in absoluter itulie bleiben kann.
Was sich bewegt, neinien wir die Materie; aber deren rauin-
orfüllendes ])asein ist nicht als eine stoffliche Existenz, sondern
vielmehr als ein Produkt der urspriini^lichen Kräfte zu betrachten,
die einander in verschiedenem JVlaße das Cleichj^e wicht halten.
Diese dynamische Naturerklärun«^ stellt dem Atomismus und
der Korpuskularphilosophie gleich scharf gegenüber. Die un-
endliche Teilbarkeit des Raumes, welcher das gesamte Wesen der
Körper beherrscht, läßt die Annahme der Atome als unzulässig
erscheinen. Die verschiedenen Aggregatzustände, zu deren Er-
klärung man hauptsächhch die Annahme der Korpuskeln benutzt,
begreifen sich vielmehr aus dem verschiedenen quantitativen Ver-
hältnis der beiden antagonistischen Kräfte, die erst in ihrer Zu-
sammenwirkung die Materie konstituieren, der Attraktion und der
Repulsion/ Ist Kants Naturauffassung in dieser Hinsicht dynamisch,
indem sie als den eigentlichen Grund der stofflichen Erscheinung
ein Verhältnis von Kräften bezeichnet, so ist sie in ihrer Lehre
von den Ursachen der Veränderung streng mechanischen Cha-
rakters. In der Natur als räumlicher Erscheinungswelt kann für
die Ursache einer räumlichen Bewegung immer nur eine andere
räumliche Bewegung angesehen werden. Jede Abhängigkeit einer
körperlichen Veränderung von nichträumlichen Prozessen würde
dem gesetzmäßigen Zusammenhange der Natur, d. h. der Funktion
unseres reinen Verstandes widersprechen. Deshalb sind in der
exakten Naturwissenschaft alle Versuche teleologischer Erklärung
eine Absurdität. Nur die mechanischen Gesetze von dem Beharren
der Substanz und der Kraft und von der Gleichheit der Wirkung
und der Gegenwirkung beherrschen den ganzen Ablauf des körper-
lichen Geschehens. Alle Vorstellungen, welche wir darüber haben,
beruhen allein darauf, daß wir imstande sind, Bewegungen als
Möglich zu denken, als ^wirklich zu konstatieren, als notwendig
zu begreifen. Aber so sehr wir dazu durch unsere Erfahrung und
durch die mathematisch-physikalische Gesetzgebung befähigt sein
mögen, so zwingt ims doch unser Begriff der Bewegung dabei
stets eine Voraussetzung zu machen, welche wir weder erfahrungs-
mäßig konstatieren, noch durch Anschauungen oder Begriffe zu
beweisen imstande sind: es ist diejenige des leeren Raumes. Die
Erfahrung zeigt nichts als erfüllten Raum. Denn wahrnehmen
90 Kants theoretische Philosophie.
kann man nur, was auf unsere Sinne wirkt, und das tun nur
die den Raum erfüllenden Kräfte. Um uns aber gegenüber dem
mechanischen Begriffe der Undurchdringhchkeit die Möglichkeit
der Bewegung überhaupt vorzustellen, bedürfen wir der Annahme
des leeren Raumes, und die Newtonschen Gesetze beweisen sogar,
daß die Größe dieses leeren Raumes den entscheidenden Koeffi-
zienten für die Intensität der Kraftwirkung bildet. Hier liegt
das alte Rätsel von der Wirkung in die Ferne vor, dem Leibniz
und Newton so verschiedene Lösungen geben wollten. Innerhalb
der Naturauffassung bleibt Kant hier wieder auf dem Standpunkte
Newtons. Aber er fügt auch hinzu, daß der leere Raum nur
eine notwendige Voraussetzung für alle besonderen naturwissen-
schaftlichen Erklärungen, niemals aber selbst ein Objekt der Er-
kenntnis sein kann. Der leere Raum ist das Ding an sich in
der Naturphilosophie, d. h. er ist ihr Grenzbegriff, er enthält das
Bewußtsein davon, daß für unsere Auffassung der Natur noch
ein Etwas vorausgesetzt werden muß, das wir nicht kennen
und das sich weder durch Anschauungen noch durch Begriffe
umschreiben läßt.
So schließt Kants Naturphilosophie mit der Rückkehr zu der
phänomenalistischen Grundlage, auf der sie beruht, und mit der
Einsicht, daß in den reinen Formen der sinnlichen und begriff-
lichen Erkenntnis, sobald sie auf einen empirischen Gegenstand
wie denjenigen der Bewegung angewendet werden, sich eine Hin-
deutung auf jene unbekannte Realität entwickelt, ohne welche
der gesamte Inhalt, den wir für jene Formen vorfinden, uns un-
begreiflich wäre. Die Stellung Kants in der Geschichte des Phäno-
menalismus wird erst hier völlig klar, aber zugleich auch von einer
außerordentlichen Verwickeltheit. Die transzendentale Analytik hat
zu dem Resultate geführt, daß nicht nur die sinnlichen Qualitäten
und die räumlichen Formen, wie das schon früher behauptet worden
war, nicht nur die zeitlichen Formen, wie die transzendentale
Ästhetik bewies, sondern auch die begrifflichen Beziehungen, in
die jenes gesamte Material durch den Verstand gesetzt wird,
lediglich Funktionen des erkennenden Geistes sind. Das Weltbild
in unserem Kopfe mit seinem gesamten Inhalt und seinen gesamten
Formen ist ein Produkt imserer Organisation, ein Produkt, das
aus ihr mit innerer Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit hervor-
Absoluter PhänonionalismuB. 91
geht, und von dem daher ^ar kein Schluß auf eine dieser Organi-
sation etwa gegenüberstehende Welt nuiglich ist. Es ist in dieser
Entdeckung Kants, die bestehen bleiben wird, auch wenn die
einzehien Formen ilirer Begründung sich verändern und verschieben
sollten, — es ist in ihr etwas von dem Ei des Kolumbus. Daß
alle Erkenntnis der Welt diese Welt nicht realiter, sondern nur
in der Vorstellung enthalten und deshalb nur durch die Organi-
sation der Vorstellungstätigkcit selbst bedingt sein kann, ist eigentlich
eine Binsenwahrheit, und nur das ist das Wundersame, daß in der
Geschichte der menschlichen Wissenschaft erst die Riesenarbeit
des Kantischen Denkens notwendig war, um sie zum Bewußtsein
zu bringen.
In Kants Begriffsbestimmungen und Formulierungen begründet
sich die Lehre vom absoluten Phänomenalismus des mensch-
lichen Wissens gerade durch seine Theorie der Erfahrung. In der
Deduktion der reinen Verstandesbegriffe erwies sich, daß diese
die synthetischen Formen sind, in denen die transzendentale Apper-
zeption das Materal der sinnlichen Empfindungen zu Gegenständen ^
gestaltet. Daraus ergibt sich zunächst, daß die Kategorien nur
Sinn haben, insofern ein Material vorliegt, dessen Mannigfaltigkeit
der Vereinheithchung bedarf. Eine synthetische Form ohne etwas,
was verknüpft werden soll, ist eine leere Abstraktion. Zweitens
aber zeigte sowohl die Deduktion als auch der Schematismus der
reinen Verstandesbegriffe, daß die begriffliche Synthese des Vor-
stellungsmaterials nur durch Vermittlung einer sinnlichen Synthese
einzutreten vermag. So ist bewiesen, daß die Kategorien nur als
Verknüpfungsformen einer sich sinnlich anordnenden Vorstellungs-
welt in Funktion treten. Ohne Anschauungen sind diese Begriffe
leer, wie anderseits die bloßen Anschauungen ohne die begriff-
liche Verknüpfung »blind«, d. h. ohne Erkemitniswert sind. Alle
Anwendung der Kategorien ist also durch Anschauung bedingt.
Weil nun aber wir Menschen nur eine sinnliche Anschauung be-
sitzen, so haben für uns die Kategorien nur Sinn, insofern sie auf
die Welt unserer s^nlichen Wahrnehmung bezogen werden. Nach
der psychologisch-erkenntnis theoretischen Ansicht Kants beruht
die Phänomenalität der reinen Formen des Verstandes nicht so-
wohl in ihnen selbst, als vielmehr darin, daß ihre Anwendung
stets als Bedingung ein anschauliches Material voraussetzt. An
«IP
92 Kants theoretische Philosophie.
sich würden also die Kategorien für einen anderen Vorstellungs-
inhalt sehr wohl verwendbar sein, sofern dieser nur anschaulich
wäre. Da wir Menschen aber keine andere als unsere sinnliche
Anschauung haben, so wird dadurch für uns die Anwendung der
Kategorien auf die sinnliche Welt — und das ist nach der tran-
szendentalen Ästhetik nur eine Erscheinungswelt — beschränkt.
Unsere nur sinnliche Anschauungsweise also ist es, welche den
Gebrauch der Kategorien außerhalb der Erfahrungswelt für uns
als unberechtigt erscheinen läßt. Hätten wir eine andere An-
schauungsform, so wäre es denkbar, daß auch für diese durch
einen ähnlichen Schematismus, wie jetzt den zeitlichen, sich die
Kategorien als anwendbar erwiesen.
Eine solche andere als sinnliche Anschauungsweise fehlt uns.
Aber es ist gar kein Grund, anzunehmen, daß sie überhaupt un-
möglich sei, daß es nicht andere Wesen geben könnte, denen eine
solche andere Art von Anschauung beiwohnte. Anderseits aber
liegen auf dem theoretischen Gebiete auch gar keine Veranlassungen
vor, die Existenz einer solchen anderen Anschauungsweise bei anderen
Wesen anzunehmen, und der Begriff einer nicht sinnlichen An-
schauung ist daher rein problematisch, d. h. es gibt, theoretisch
betrachtet, weder Gründe seine Existenz anzunehmen, noch solche
sie zu leugnen.
Mit diesem Begriffe einer nicht sinnlichen Anschauung steht
nun aber derjenige des'^Dinges an sich^ in einer sehr innigen
Beziehung, und durch diese Beziehung ist Kants Lehre auf diesem
Höhepunkte ihres theoretischen Teils ganz außerordentlich schwierig
geworden. Denkt man zurück an das gemeinsame Kriterium, das
seiner Begründung und Rechtfertigung der Apriorität sowohl der
mathematischen Gesetze als auch der reinen Grundsätze des Ver-
standes die Richtschnur gab, so beruhte es darauf, daß wir eine
allgemeingültige und notwendige Erkenntnis nur von demjenigen
haben können, was wir aus der inneren Organisation unseres Geistes
heraus selbst erzeugen. Das ist aber nicht der besondere Emp-
findungsinhalt, sondern es sind die allgemeinen Formen der Er-
fahrung, Raum, Zeit und die Kategorien. Wir erkennen a priori
nur, was wir nach der Organisation unseres Geistes selbst schaffen.
Wir würden daher Dinge an sich auch nur dann a priori erkennen
können, wenn wir sie erzeugten. Eine Erkenntnis der Welt an
Pin Pf- an- «ich. \K\
Hich ist a priori mir für iliicMi Scluipfor möglicli. Der AiiHpruch
auf aprioiisclio l^lrkonnliÜH der I)in«^e au sich wäre idcnti.sch mit
demjenigen, sie zu sclmffen. Was wir schaffen, ist unwere Vor-
stelhiu»:;swcise von den Diui^en, d. h. ihre Erscheinung^, und von
dieser haben wir in (h>r Tat eine apriorisclu» Erkenntnis. So be-
dingen sich das positive und das negative Resultat derVernunftkiitik
gegenseitig. Der Apriorismus ist lun* als Phänomenalismus miiglidi.
Allein wenn es eine Erkenntnis dei' Dinge an sich' nicht gibt,
wie kommen wir dazu, sie überhaupt vorzustellen und mit Rück-
sicht auf ilircr Annahme unserer Vorstellungswelt als eine Welt
der Erscheinungen zu bezeichnen? Diese Frage, die von Kant auf
dem Übergange von der transzendentalen Analytik zur Dialektik
in dem Abschnitte » Über den Grund der Unterscheidung aller
Gegenstände in Phaenomena und Noumena« behandelt wird, bildet
den Herd aller Widersprüche, welche man in der Kritik der reinen
Vernunft und weiterhin in Kants gesamtem System aufzufinden
vermocht hat, und zwar deshalb, weil es gerade diese Frage ist,
in deren Lösung die verschiedenen Gedankenströmungen, die sich
bei Kant entwickelt hatten, sich kreuzen, und weil Kants Dar-
stellung keines der ihn bewegenden Motive unterdrückt, aber auch
keine endgültige Aussöhnung zwischen ihnen erzielt hat. Fixiert
man sich nämhch auf dem rein erkenntnistheoretischen Gesichts-
punkte, so ist durch die obigen Ausführungen begründet, daß es
sich zwar nicht verbietet, daß aber auch nicht die geringste Ver-
anlassung vorhanden ist, Dinge an sich außerhalb der Vorstellungs-
tätigkeit anzunehmen. Schon die Begriffe, welche wir bei dieser
Annahme anwenden, z. B. diejenigen des'^inges und der'^Realität*
sind ja Kategorien, gelten also im eigentlichen Sinne wiederum
nur in anschauUcher Vermittlung für die Welt der Erfahrung und
dürfen streng genommen auf das außerhalb der Vorstellung Be-
findliche gar nicht angewendet werden. Das letztere bleibt danach
also ein völHg unbekanntes X, für welches, wie keine unserer
Anschauungen, so auch keiner unserer Begriffe gilt. Sowenig es
eine Tür gibt, durch die eine Außenwelt, so wie sie da ist, in
die Vorstellungen »hineinspazierte«, sowenig gibt es eine Tür, durch
welche die Vorstellungstätigkeit ihren eigenen Kreis zu überschreiten
und eine solche Außenwelt zu erfassen vermöchte. Damit aber
wird der Begriff dej Dinges an sich hinfällig. Für die rein theoretische
94 Kants theoretische Philosophie.
Analyse gibt es nichts als Vorstellungen, deren verschiedener
Inhalt nach verschiedenen Kategorien geformt ist, und innerhalb
deren dasjenige, was wir ein Ding^ nennen, nur eine allgemein-
gültige und notwendige Verknüpfung nach der Kategorie der In-
härenz bedeutet. Ist dies die eine Tendenz des Kantischen Denkens,
so spricht sie sich darin aus, daß er erklärt, jene Unterscheidung
aller »Gegenstände« in Phaenomena und Noumena, welche er im
Anschluß an Leibniz in der Inauguraldissertation selbst noch vor-
getragen hatte, sei völlig grundlos. Alles, was wir "-Gegenstände
nennen, ist Erscheinung in dem Sinne, daß es ein Produkt unserer
Vorstellungstätigkeit bildet, und jeder dieser Gegenstände ist Objekt
nur dadurch, daß er durch die Anschauung und den Verstand
zugleich vorgestellt wird. Will man die Art und Weise, wie wir
den Zusammenhang der Erfahrung nach Begriffen in der wissen-
schaftlichen Theorie denken, als mtelligible Welt, dagegen die im-
mittelbare Erfahrung des gewöhnlichen Bewußtseins als sensible
Welt bezeichnen, so ist dagegen nichts einzuwenden: aber man
muß sich klar bleiben, daß das Objekt von beiden immer nur
die Erfahrung ist und beide nur eine notwendige und gesetz-
mäßige Vorstellungsweise darstellen. 'Noumena dagegen in dem
Sinne von "Dingen an sich, die vom reinen Verstand ohne An-
schauung erkannt werden, gibt es für uns nicht. Die Vorstellung
eine.? Gegenstandes an sich ist vielmehr geradezu ein innerer Wider-
spruch. Gegenstände gibt es nur in der Vorstellungstätigkeit und
nicht außerhalb derselben. Jenes unbekannte X wird nur so an-
genommen, daß man die allgemeine Funktion der Vergegenständ-
lichung, ohne die es kein Bewußtsein gibt, selbst für ein Ding,
für etwas Bestehendes außerhalb der Vorstellung ansieht. Das
Ding an sich ist das hypostasierte Korrelatum der synthetischen
Funktion, welche das gemeinsame Wesen der Kategorien ausmacht.
Die alte rationalistische Metaphysik besteht darin, daß die Gesetze
imseres Verstandes, deren Gültigkeit für unsere Erfahrung im-
zweifelhaft, aber auch auf diese eingeschränkt ist, als Gesetze
einer außer dem Verstände bestehenden Welt angesehen werden;
aber die bloße Annahme der letzteren ist, rein theoretisch be-
trachtet, nur dadurch möghch, daß die allgemeine synthetische
Funktion der Gegenständlichkeit sich den Vorstellungen gegen-
über zu einer Welt au sich hypostasiert.
Dinpf-ftn-Hinh. 95
Diesen t'll)(Mloi;un<;(Mi liiiifl nun jibcr eine zweite 'l'endenz des
Kantisclion Denkens zuwider. Die thcoreti.scli unbcjfiiindbaro und
unverwendbare, aber aueli nicht widerlegbare Annahme einer über-
sinnlichen und übererfahrungsnüißigen Welt war für Kant selbst
durch das sittliche Bewußtsein bej^ründet. Diesen praktischen
Nerv seiner Überzeugun<j; konnte er jedoch in der Kritik der
reinen Vernunft nicht bloßle(j;en, sondern nur andeuten. Aber sie
machte sich natürlich trotzdem in seiner Auffassung vom Ding
an sich geltend. Von ihr erfüllt, wich er von der bloß theoretischen /
Konsequenz, daß es für unser Wissen nichts gibt als die Vor-
stellungen mit ihren immanenten begrifflichen Beziehungen, wieder
ab und identifizierte sich mit jenem naiven Realismus, dem nichts
gewisser ist, als die Annahme einer Existenz von Dingen an sich
außerhalb der Vorstellungen. Ja, er scheute selbst gelegentlich
nicht vor der Benutzung des plausibelsten Arguments der ge-
wöhnlichen Meinung zurück, eine solche Welt außerhalb der Vor-
stellungen müsse als Ursache der Empfindungen, als das was unsere
Sinnlichkeit »affiziert«, oder als das, was »der Erscheinung ent-
spricht«, angenommen werden, obwohl er sich doch_ nicht hätte X
verbergen können, daß er die Anwendung der Kategorien des
Seins, der Substantialität und der Kausalität über die Erfahrung
hinaus soeben verboten hatte. ^
Danach mußte der Begriff des l)inges an sich" noch anders
formuliert werden, und auch dafür ließ sich das psychologische
Schema seiner Lehre benutzen. Die Beschränkmig der Kategorien
auf die Erfahrung hatte ihren Grund darin, daß die Anschauung,
die ihre Anwendmig stets vermitteln muß, beim Menschen nur
die sinnlich -rezeptive ist. Wir schaffen nur Erscheinungen und
können nur solche erkennen. Dinge an sich würden nur einem
(göttlichen) Geiste erkennbar sein, der durch seine Vorstellungen
nicht nur Erscheinungen, sondern eben diese Dinge an sich er-
zeugte. Für einen solchen Geist müßte also der Gebrauch der
Kategorien diu:ch eine Anschauung vermittelt sein, welche sich
zu den Dingen an sich ebenso verhielte, wie unsere Anschauung
zu den Erscheinungen, nämlich erzeugend. Eine solche Anschauung
wäre nicht mehr von sinnlicher Rezeptivität, sondern von jener
Spontaneität, die nach Kants Lehre nur dem Denken zukommt.
Es wäre ein »anschauender Verstand« oder eine intellektuelle
gß Kants theoretische Philosophie.
Anschauung. Sollen daher Dinge an sich überhaupt möglich sein, so
müssen sie gedacht werden als die Objekte zugleich der Erzeugung
und der Erkenntnis eines anschauenden Verstandes, d. h. einer In-
telligenz, bei der jene beiden Stämme der Erkenntnis, welche im
menschlichen Geiste nur in ihrer Besonderung auftreten, von vorn-
herein und in ihrer ganzen Ausdehnung identisch sind. Die An-
nahme eines solchen Geistes enthält keinen Widerspruch, und
danach erscheint für die theoretische Vernunft die Existenz von
Dingen an sich zunächst als möglich.
Aus dieser Möglichkeit folgt nun zwar noch nicht die Wirk-
lichkeit, und es bleibt in Kants Lehre eben der praktischen Ver-
nunft vorbehalten, diese Möglichkeit zu realisieren: die theoretische
muß sich damit begnügen, nachzuweisen, daß die Annahme von
Dingen an sich keinen Widerspruch involviert. Aber sie gibt noch
eine weitere Hindeutung. Es ist zwar richtig, daß sich die rein
theoretische Erkenntnis diesen problematischen Begriffen der Dinge
an sich und der intellektuellen Anschauung gegenüber völHg in-
different zu verhalten hat: allein sobald jemand behaupten wollte,
daß, weil sich kein Beweis für die Keahtät dieser Dinge auf
theoretischem Wege erbringen läßt, sie gänzlich geleugnet werden
müßten, so würde das so viel heißen, als ob unsere sinnliche
Anschauungsweise die einzige und die Welt unserer erfahrungs-
mäßigen Vorstellungen das einzige Reale wäre. Sofern wir daher
nicht die ungeheuerliche Behauptung machen wollen, daß es nicht
nur in Rücksicht auf unsere Erkenntnis, sondern überhaupt und
an sich gar nichts weiter gibt als unsere Vorstellungen, so bleibt
uns nichts anderes übrig, als anzunehmen, daß es eine solche nicht
sinnliche, d. h. intellektuelle Anschauung und damit als ihre Objekte
Noumena, Dinge an sich, gibt. Jene problematischen Begriffe
der intellektuellen Anschauung und des Dinges an sich erweisen
sich daher als echt kritische Grenzbegriffe, als das Bewußtsein
davon, daß unsere Sinnenwelt, auf welche wir mit unserer Er-
kenntnis beschränkt sind, nicht das einzig Reale ist. Freüich
auch dieses Bewußtsein ist theoretisch nur in seiner Möglichkeit
zu deduzieren, nicht aber zu beweisen, und der entscheidende
Grund für diese Überzeugung liegt in dem sittlichen Bewußtsein,
daß unsere Bestimmung über diese erfahrungsmäßige Sinnenwelt
in ein Reich des »Übersinnlichen« hinaufreicht.
Trnnszendentalc Dialektik. <I7
So VülleiKiot sich Kants thooretischü Lehre, indem «ie dio
praktische als ihre unentbehrliche Ergänzung verlangt. Der
Zusammenhang zvvisclien diesen beiden Teilen des Kantischen
Systems ist der innigste, den es überhaupt geben kann. Die Kritik
der praktischen Vernunft ist nicht ein Anliängsel, ist nicht, wie
sie verlästert worden ist, ein Abfall des alternden Kant von dem
Geiste der Kritik der reinen Vernunft, sondern sie enthält die
Entwicklung desjenigen Gedankens, ohne welchen der Höhepunkt
der Kantischen Erkenntnistheorie, die Lehre vom Ding an sich,
die verworrenste und törichteste Phantasie wäre, die je in der
Philosophie sich breit gemacht hätte.
Von diesem Höhepunkt aus gibt nun Kant seine berühmte
Kritik der rationalistischen Metaphysik, diese Kritik, welche sich
als die »zermalmende« Analyse der Leibniz- Wolf f sehen und der
herrschenden Popularphilosophie darstellt. Er beginnt sie in dem
Abschnitt über die »Amphibolie der Reflexionsbegriffe«, indem er
zu zeigen sucht, daß alle ontologischen Grundbestimmungen des
Leibniz- Wolf f sehen Systems eine rein verstandesmäßige Ausdeutung
der Kategorien enthalten, die in W^ahrheit nur für anschauliche
Gegenstände gelten, daß also Sätze, welche nur auf das Ver-
hältnis von "Begriff en Anwendung fluiden dürften, auf dasjenige
von Gegenständen bezogen werden. Daraus habe sich dann die
monadologische Metaphysik mit allen ihren einzelnen Lehrsätzen
notwendig ergeben, und dadurch habe Leibniz sich genötigt
gesehen, der sensiblen Welt die intelligible Welt von Substanzen
gegenüberzustellen, die doch im Grunde keine eigentlich intelü-
gible, sondern vielmehr heimlich mit sinnlichen Bestimmungen
durchsetzt geblieben sei.
Ihre volle Energie aber entwickelt Kants Kritik erst in der
transzendentalen Dialektik, welche hintereinander die ein-
zelnen metaphysischen Wissenschaften, die rationale Psychologie,
Kosmologie und Theologie, als prinzipiell verfehlte nachweist.
Auch diese Wissenschaften und ihre kritische Betrachtung kon-
struiert Kant in das psychologische Schema hinein. Er geht
dabei von der Frage aus, wie Metaphysik (in der alten Termino-
logie), d. h. rationale Erkenntnis des Übersinnlichen als
Versuch oder als Bestreben möglich sei, wenn doch nachgewiesen
worden ist, daß keine Berechtigung für sie existiert. Synthetische
Windel band, Gesch. d. n. Philos. 11. 7
98 Kants theoretische Philosophie.
Urteile a priori über Dinge an sich sind nur für die intellektuelle
Anschauung' möglich, die dem Menschen versagt ist. Wie kann
es nun kommen, daß wir jemals glauben, die Überschreitung der
Grenze der Erfahrung zu vollziehen, die uns doch unmöglich ist?
Die Beantwortung dieser Fragen gibt, wie man sieht, nicht nur
die kritische Verwerfung, sondern zugleich auch die psychologische
Erklärung der bisherigen Metaphysik. Kant hat diese Beant-
wortung ebenso nach der in der formalen Logik üblichen Lehre
vom Schluß schematisiert, wie die Kategorienlehre nach derjenigen
vom Urteil, — offenbar hier noch viel mehr künstlich und äußerlich.
Was die Anwendung der Schlußlehre dabei sichthch nahegelegt
hat, ist die Tatsache, daß das Übersinnliche, welches den Gegen-
stand der metaphysischen Erkenntnis bilden soll, niemals durch
Erfahrung erkannt, sondern immer nur durch begriffliche Operationen
erschlossen werden kann. Schlüsse auf die Existenz nicht un-
mittelbar erfahrener Gegenstände sind nun nach Kants transzen-
dentaler Logik vollkommen berechtigt, solange sie sich eben in
den Grenzen der sinnlichen Vorstellung halten. Kants Definitionen
von »wirklich« imd »notwendig« in den Postulaten des empirischen
Denkens geben ja ausdrücklich das Recht, etwas als existierend
zu erschließen, was selbst nicht unmittelbar wahrgenommen ist.
Aber dies zu Erschließende muß so beschaffen sein, daß es in
den immanenten Zusammenhang der Erscheinungen sich einreiht.
Kant hat niemals verlangt, daß für die wissenschaftliche Er-
kenntnis nur das als existierend gelten solle, was direkt wahr-
genommen worden ist, sondern sein rationaler Empirismus verlangt
durchaus die Anerkennung des aus den Erfahrungen begrifflich
Erschlossenen: nur darf dieses Erschließen aus der Sphäre des
Erfahrbaren, d. h. der sinnlichen Welt, lucht hinausgehen. Denn
da die Kategorien für uns nur Verknüpfungsformen des an-
schaulichen Inhaltes sind, so gibt es keine Erkenntnistätigkeit,
die einen "sinnlichen^ mit einem übersinnlichen Inhalt in allgemein-
gültiger und notwendiger Weise zu verknüpfen imstande wäre.
Allein die Vorstellung der übersinnlichen Welt existiert, wenn nicht
als Objekt einer Erkenntnis, so doch als eine tatsächliche Bildung
im menschlichen Denken. Auf diese Weise nun läßt sich begreifen,
wie es möglich ist, daß das ungeschulte und unkritische Denken
die kategorialen Beziehungen auf das Verhältnis zwischen einem
Transzendontaler Schein. 99
einnlichen und oiiuMii üborsiiuiliilitMi Inhalt anzuwenden sich be-
rechtigt glaubt. Dii'se Anwendung ist auch ungefährlich, solange
man sich bewußt bleibt, dabei die Gegenstände der Erfahrung
nur so zu betrachten, als ob sie in irgend einer solchen Bezicliung
zu etwas Übersinnlichen und Unerfahrburen stünden. Sobald man
aber eine solche Betrachtung für eine Erkenntnis ausgibt, so
überschreitet man die durch die transzendentale Analytik gesteckten
Grenzen. Eine Erkeimtnis spräche in einem solchen Falle das
Verhältnis zweier Gegenstände aus. Nun sind aber nur die an-
schaulichen Begriffe, niemals aber die übersinnlichen auf Gegen-
stände zu beziehen. Die Umwandlung also einer solchen Be-
trachtung in den Versuch einer metaphysischen Erkenntnis setzt
jedesmal die Täuschung voraus, als ob der Inhalt einer über-
sinnlichen Vorstellung, deren Erzeugung im Denken möglich ist,
einen Gegenstand der Erkenntnis bilden könnte. Diese Täuschung
nennt Kant den transzendentalen Schein. In ihm erblickt
er das ttocotov »^s'jooc aller rationalistischen Metaphysik, und in-
dem er nachzuweisen sucht, daß dieser Schein in der mensch-
lichen Erkenntnistätigkeit selbst begründet ist, spricht er der
darauf beruhenden rationalistischen Metaphysik mit derselben
Untersuchung, welche ihre erkenntnistheoretische Unberechtigtheit
ein für allemal in der entscheidendsten Weise festgestellt hat, eine
gewisse psychologische Berechtigung zu.
Die Veranlassung, das Übersinnliche, das nicht erfahren, nicht
erkannt werden kann, wenigstens zu denken, ist für Kant freilich
in erster Linie auf dem Gebiete der Ethik zu suchen. Allein
davon ist hier noch nicht die Eede, und es fragt sich daher, ob
nicht auch theoretische Veranlassungen vorliegen, den Kreis der
Erfahrung, in den das Erkennen gebannt ist, mit dem Denken
zu überschreiten. Sollten sich solche aus gewissen Aufgaben der
Erfahrungswissenschaft ergeben, so würde sich dadurch die Ansicht
über den Begriff des Dinges an sich noch weiter ergänzen. Zu-
nächst in der Weise, daß die allgemeine Möglichkeit, welche ihm
als dem Grenzbegriffe der Erkenntis beiwohnt, sich für ver-
schiedene Richtungen der Erkenntnis in besonderer Weise gestaltete,
und zweitens in der Weise, daß innerhalb der theoretischen Fimktion
selbst wenigstens eine Tendenz sich geltend machte, dem Erkenn-
baren ein Unerkennbares problematisch gegenüberzustellen.
7*
\Q() Kants theoretische Philosophie.
Im Grunde genommen handelt es sicli also darum, zu unter-
suchen, ob der Erkenntnistrieb durch die Erfahrung, in welcher
allein er befriedigt werden kann, wirklich befriedigt wird. Stellt
sich heraus, daß das nicht der Fall ist und nicht der Fall sein
kann, so muß die Erkenntnistätigkeit selbst auf allen den Punkten,
wo dieses einleuchtet, sich ihre Grenze setzen, aber es wird dann
auch begreiflich, daß, wo sie dieser kritischen Vorsicht entbehrt,
sie den Versuch machen wird, ihre Aufgabe, deren Notwendigkeit
sie erweisen kann, jenseits der Erfahrung zu lösen, und dadurch
dem »transzendentalen Scheine« verfallen muß. Die transzenden-
tale Dialektik hat deshalb die höchst interessante Aufgabe, einen
inneren Widerspruch in dem Wesen der menschlichen
Erkenntnistätigkeit aufzudecken. Sie hat zu zeigen, daß aus
dieser Erkenntnistätigkeit selbst mit Notwendigkeit Aufgaben ent-
stehen, die dadurch nicht zu lösen sind. Sie hat die Unhalt-
barkeit jedes Versuchs zu zeigen, diese Aufgaben mit der Er-
kenntnistätigkeit zu bewältigen, und sich mit der Resignation zu
bescheiden, daß die Einschränkung auf die Erfahrung, welche das
Wesen des Erkennens konstituiert, es zugleich auf immer von der
Erreichung der Ziele fernhält, denen es immer und immer wieder
nachstreben muß.
Die transzendentale Dialektik hat deshalb zunächst zu be-
stimmen, worin jener, Erkennt nistrieb besteht, welcher das für die
wirkliche Erkenntnis unmögliche Überschreiten der Erfahrung ver-
langt; sie hat das Bedürfnis zu definieren, aus dem alle Versuche
hervorgehen, die Sinnen weit an eine übersinnliche Welt anzuknüpfen.
Und sie geht deshalb von einer Beschreibung desjenigen aus, was
man später ^das metaphysische Bedürfnis^ genannt hat. Sie trifft
auch zweifellos den Kern der Psychologie der Metaphysik, wenn
sie sagt, daß dieses Bestreben immer darauf hinausgeht, den
ganzen Zusammenhang des Bedingten, welchen uns die Erfahrung
darbietet, auf ein »Unbedingtes« zu beziehen. Alle besonderen
Aufgaben der Erkenntnis kommen doch schließlich darin überein,
die einzelnen Gegenstände der Erfahrung miteinander in denjenigen
Beziehungen zu denken, durch welche sie sich gegenseitig bedingen.
Dieser Prozeß des Bedingtseins geht aber, nach welcher Kategorie
man ihn auch zu denken beginnt, stets in das Endlose. Soll daher
die Erkenntnis diesen ganzen Prozeßvjallständig^^^greifen, so ist
HAEL'Ö
Dm UDbedin^te und die Ideen. 101
sie Hclbst zu einer endlosen Funktion verurteilt. Sie würde jcdocli
dieser Endlosigkeit mit einem Schlage überhoben sein, wenn es
ihr mü<j;lich wäre, ein Unbedinj^tea zu begreifen, das den Abschluß
jener Kette bildete. Dies^UnbecJingtc^ ist in der Erfahrung nicht
gegeben und kann nicht in ihr gegeben sein, da jeder ihrer Gegen-
stände unter den Bedingungen der Kategorien steht. Um die
Aufgabe der Erkenntnis zu lösen, würde also ein Unbedingtes
erkannt werden müssen, welches in der Erfahrung, auf die das
Erkennen beschränkt ist, niemals enthalten sein kann. Das Un-
bedingte ist also die Vorstellung von der Lösung der Aufgabe,
die durch das. Erkennen wirklich nie zu lösen ist. Das Unbedingte
ist das niemals zu realisierende Ideal der Erkenntnis, und trotz
dieser Unerfüllbarkeit ist doch die ganze Arbeit der Erkenntnis
durch dieses Ideal beherrscht und bestimmt. Denn die Aufsuchung
der einzelnen Zusammenhänge, die Einsicht in die Verhältnisse
der Bedingtheit hat nur dadurch Wert, daß sie in immer höheren
und tieferen Zusammenhängen durchschaut werden, und daß die
Erkenntnis damit auf das Ziel des letzten und absoluten Zusammen-
hanges hinstrebt, das sie niemals erreichen kann. Das ist das
Erschütternde, es ist das Tragische in dieser Kantischen Unter-
suchung, daß der Wert der menschlichen Erkenntnistätigkeit nur
in der Arbeit für ein Ziel besteht, das seinem Begriffe nach niemals
erreicht werden kann, daß ein imlösbarer Widerspruch hervortritt
zwischen den Aufgaben der Erkenntnis und den Mitteln, welche
sie zu ihrer Lösung besitzt. In diesem Geiste verlangt Kant von
der Erkenntnistätigkeit dieselbe klare und bewußte Eesignation
wie Lessing. Bei beiden Männern ist dieses Verlangen der Aus-
fluß ihres sittlichen Bewußtseins. Aber bei Kant ist es zugleich
eine die verborgenste Tiefe des menschlichen Denklebens ent-
hüllende Theorie. Wer nun diese Klarheit und Resignation nicht
besitzt und die Notwendigkeit jener Aufgabe begriffen hat, daß
sich die Erkenntnis des Bedingten nur in derjenigen des Un-
bedingten vollenden kann, der wird geneigt sein, den Begriff der
Lösung der Aufgabe für die Lösung selbst zu halten, — der wird
versucht sein, das"iJnbedingte7 welches nichts als die ideale Vor-
stellung von einem Abschluß der Kette des Bedingten enthält,
als einen Gegenstand möglicher Erkenntnis aufzufassen und zu
dem Bedingten in die Beziehungen der Verstandeserkenntnis zu
^
102 Kants theoretische Philosophie.
setzen. Da nun das Unbedingte seinem Begriffe nach außerhalb
der sinnlichen Erfahrung steht, so entspringen auf diese Weise
Vorstellungen von^ unbedingten übersinnlichen' Gegenständen, die
in ihrem Wesen und in ihren Beziehungen zu der sinnlichen Welt
erkannt werden sollen.
Ist nun die Aufgabe des Verstandes die begriffliche S3nithese
der Anschauung, so versteht Kant unter Vernunft im engeren
Sinne des Wortes das Bewußtsein der Unterwerfung aller Ver-
standestätigkeiten unter das Prinzip einer gemeinsamen Aufgabe,
und jene Vorstellungen des Unbedingten, in denen sich diese
Aufgaben erfüllen müßten, nennt er Ideen. Idee' ist also nach
Kant die notwendige Vorstellung von einer Aufgabe der mensch-
lichen Erkenntnis*). Insofern sind die Ideen a priori. Auch sie
gehören zum Wesen und zur Organisation der menschlichen
Gattungsvernunft. Aber diese Aufgaben sind ebenso unerfüllbar,
wie sie unentf liehbar sind. Die Ideen bezeichnen eine Aufgabe
der Erkenntnis, aber sie sind nicht selbst Erkenntnis. Es ent-
spricht ihnen kein Gegenstand; sie sind nicht'^gegeben^ son-
dern nur 'aufgegeben.' Der transzendentale Schein besteht
darin, daß diese Ideen f'dr" Erkenntnisse, daß diese notwendigen
Vorstellungen für Vorstellungen von Gegenständen gehalten wer-
den. Jede Idee ist daher als solche berechtigt; sie ist das Licht,
welches den erkennenden Verstand durch das Reich der Sinnlich-
;,. keit leitet; aber sie wird zum Irrlicht, sobald sie die Grenzen der
Erfahrung überschreiten und in eine übersinnliche Welt hinüber-
führen will.
Dieser Ideen sind nun nach Kants System drei. Die Vor-
\ Stellung eines unbedingten Substrats aller Erscheinungen des
'/ inneren Sinnes ist die Idee der Seele. Die Vorstellung eines
unbedingten Zusammenhangs aller äuQeY^Ji Erscheinungen ist
"l] die Idee der Welt. Die Vorstellung endlich des unbedingten
*) Damit gibt Kant dem Terminus Idee eine neue Bedeutung, die so-
wohl von dem ursprünglichen Platonischen Sinne, als auch von dem Ge-
brauche des Wortes in der scholastischen und neueren Philosophie genau
zu unterscheiden ist. Da aber auch für ihn die Ideen ein L'berschreiten der
sinnlichen Erfahrung involvierten, so ist es begreiflich, daß die Platonische
und die Kantische Bedeutung des Wortes in der Folge vielfach ineinander
griffen.
l.lci; (irr Seulo. 103
Wesens, tlas ülk^n ErschcMiuin^^cii überhaupt zu;^ruiid(' li<'gt, ist ,
tlio Idee der Gottheit. Sobald man diese Ideen als Objekte der -^
Erkenntnis betrachtet, entsprinjjjen daraus die drei metaphysischen
SpezialWissenschaften, welche sich an die Ontolojjjie anzuschließen
pflefijen, die rationale Psychologie, Kosmologie und Theologie.
Aber zunächst zeigt sich schon die Wertlosigkeit dieser drei ver-
meintlichen Wissenschaften darin, daß es in alle Wege unmög-
lich ist, aus der Idee der Seele irgend eine Tatsache des psychischen
Lebens, aus der Idee der Weif irgend ein Geschehen in der Kör-
perwelt, aus der Idee der Gottheit " irgend einen besonderen Ver-
lauf des Weltprozesses wissenschaftlich abzuleiten. Es gibt gar
keine Beziehungen zwischen der rationalen Metaphysik und der
empirischen Erkenntnis, und wenn jene Ideen gebildet worden
sind, um die Aufgaben der Erfahrungserkenntnis zu lösen, so er-
füllen sie diesen Zweck offenbar nicht, da die Erscheinungen
nicht unter die Ideen der Vernunft' wie unter die' Kategorien
des Verstandes^ in konkreter Anschaulichkeit zu subsumieren sind.
Allein der tiefere Grund dieser Wertlosigkeit der rationalen Meta-
physik für das empirische Wissen liegt eben darin, daß sie eine
nur scheinbare und prinzipiell unmögliche Erkenntnis zu besitzen
vorgibt, und in ihrer Kritik handelt es sich also hauptsächlich
darum, aufzuzeigen, daß der Grundfehler jener Disziplinen darin
besteht, die notwendige Idee als einen Gegenstand möglicher Er-
kenntnis zu betrachten.
Am klarsten tritt das bei der ersten hervor, indem sich die
Kritik der rationalen Psychologie in Kants Lehre von den Para-
logismen der reinen Vernunft entwickelt. Er sucht hier
nämlich zu zeigen, daß alle Schlüsse, mit denen man in der
Schul- und Popularphilosophie die " Substantialität , die Simpli-
zität, die Personalität und die erkenntnistbeoretische Priorität
der Seele zu beweisen pflegte, Fehlschlüsse seien. Sie beruhen
alle auf einer quaternio terminorum, indem das Ich, welches in
dem einen Satze als die allgemeine Form des Denkens verwendet
wird, in dem andern als ein substantiell bestehendes Wesen an-
gesehen werden soll. Kant führt zunächst im Hinblick auf die
transzendentale Analytik aus, daß die Anwendung der Kategorie
der ^ Substantialitäf auf den äußeren Sinn beschränkt bleiben
müsse, daß infolgedessen die Identität des empirischen Selbst-
«■H
104 Kants theoretische Philosophie.
bewußtseins nur eine identische Funktion, nicht ein gleichbleiben-
des Ding bedeute, und daß der cartesianische Versuch, das Selbst-
bewußtsein zum Ausgangspunkte des Wissens zu machen und
von ihm aus erst auf einem Umwege die Erkenntnis der äußeren
Substanzen, der Körper, zu gewinnen, geradezu umgekehrt wer-
den müsse*).
Erweisbar also ist die Seele als Ding an sich^ nicht, aber sie
ist ebensowenig widerlegbar. Dieselbe Kritik, welche sich gegen
den Spiritualismus richtet, trifft auch den Materialismus. Der
transzendentale Idealismus aber will auch nicht dem metaphy-
sischen Dualismus das Wort reden, der die Fra2;e nach dem
Konnex zwischen Leib und Seele durch keine seiner drei For-
men, weder durch den influxus physicus noch durch den Occa-
sionalismus noch durch die prästabilierte Harmonie, zu lösen
vermag. Aber Kant stellt sich hier zunächst auf den Standpunkt
des phänomenalistischen Dualismus. Statt des landläufigen
Gegensatzes von Körperwelt und Geisterwelt tritt für ihn der
prinzipielle Unterschied zwischen äußerem und innerem Sinn in
den VordergTund, und es gibt für ihn keine Möghchkeit, die
Frage zu entscheiden, ob das^Ding an sich^ welches im äußeren
Sinne, und dasjenige, welches im inneren Sinne ^erscheint^' viel-
leicht identisch seien oder nicht. Auf dem transzendentalen
Standpunkte verwandelt sich die Frage nach dem Verhältnis der
körperlichen zur geistigen Welt — diese wahre crux metaphy-
sica — vielmehr in die psychologische Frage nach der Möglich-
keit der Verknüpfung des äußeren und des inneren Sinnes in
demselben Bewußtsein. Da nun zum inneren Sinne dem Inhalte
nach die Funktionen des Denkens gehören, so läßt sich die Frage
auch dahin formulieren: wie ist die Vereinigung von Sinnlichkeit
und Verstand in demselben Bewußtsein möglich? Diese Frage
A. .. aber ist unlösbar; sie bildet die Grenze der Psychologie. Sie
*) Es ist zu bemerken und unrichtigen Deutungen gegenüber zu betonen,
daß die erste Auflage der Vernunftkritik an dieser Stelle genau denselben
Gedanken ausspricht, den die zweite Auflage in der obenerwähnten »Wider-
legung des Idealismus« (vgl. oben S. 83) mit entschiedener Polemik gegen die
mißverständliche Auslegung des transzendentalen Idealismus ausführte. Kant
widerlegt auch in der zweiten Auflage nur den »empirischen Idealismus«,
und zwar tut er dies lediglich vom Standpunkte des transzendentalen Idealis-
mus aus.
Idee der Welt: Antinomien. lOf)
betrifft niclil melir und nicht wcni^^cr als die Or^aniHation unKcrer
Intelligenz, und diese ist für unsero Erkenntnis eine letzte Tat-
eacho, über welche die Forschung nie hinausgehen kann. Allein
es ist die Aufgabe aller Psychologie, die Vereinigung der Funk-
tionen der Sinnlichkeit und des Verstandes auf allen Gebieten
des psychisclien Lebens zu erforschen. Das letzte Ziel aller
psychologischen Erkenntnis würde die Einsicht in die absolute
Einheit unserer gesamten psychischen Funktionen sein. Nennen
wir die Vorstellimg dieser Einheit'^ Seele, so bildet diese Idee das
.xe^ulatiye Prinzip' für alle psychologische Erkenntnis, aber
sie selbst ist kein, Gegenstand mehr, der sich begreifen ließe.
Kants Kritik der rationalen Kosmologie schlägt einen ganz
anderen Weg ein. Die Unerkennbarkeit der Idee der Welt wird /
von ihm durch die Antinomien der reinen Vernunft be-
wiesen. Alles was wir sollen erkennen können, muß sich den
formal logischen Gesetzen unterworfen zeigen. Zu diesen gehört
in erster Linie der Satz des Widerspruchs, daß von zwei kontra-
diktorisch entgegengesetzten Behauptungen nicht beide richtig
sein können. Wenn man über einen vermeintlichen Gegenstand
mit logischer Unanfechtbarkeit das positive und das negative
Urteil gleichen Inhalts beweisen kann, so folgt daraus unmittel-
bar, daß dies kein wirklicher^ Gegenstand sein kann. Betrachtet
man nun die „ Totalität aller Gegenstände des äußeren Sinnes,
d. h. die Welt, selbst als einen Gegenstand der Erkenntnis, so
sucht Kant in den Antinomien nachzuweisen, daß sich davon in
Rücksicht auf alle vier Gesichtspunkte der Kategorien die kontra-
diktorischen Sätze gleichmäßig beweisen lassen. Hinsichtlich der
Quantität läßt sich zeigen , daß die Welt in Raum und Zeit ^
begrenzt, und daß sie in beiden unendlich ist. Hinsichtlich der
Qualität läßt sich beweisen, daß die Welt aus Atomen besteht,
und daß sie nicht daraus bestehen kann. Hinsichtlich der Relation
ergibt sich, daß es in dem Prozesse des Geschehens unbedingte,
selbst nicht mehr kausal vermittelte Ursachen gibt, und daß
solche nicht vorhanden sind. Hinsichtlich der Modalität endhch
läßt sich die Annahme eines unbedingt notwendigen Wesens
ebenso begründen wie widerlegen. Den Beweis für diese vier
Paare von Thesis und Antithesis führt Kant (mit Ausnahme der
vierten These) apagogisch, so daß schon darin die dialektische
I )
■■■■PI
IQß Kants theoretische Philosophie.
Antinomie zutage tritt, indem stets die Thesis durcli die AVider-
legung der Antithesis und umgekehrt bewiesen wird. Selbst wenn
sich nun herausstellen sollte, daß diese acht Beweise nicht so
absolut stringent und unanfechtbar sind, wie sie von Kant an-
gesehen wurden, so würde das doch nichts an der wertvollen
Entdeckung ändern, die Kant an diesem Punkte gemacht hat.
Es wird nämlich dadurch die Tatsache aufgedeckt, daß unserer
gesamten Weltauffassung eine solche, Antinomie zugrunde liegt.
Es ist ein Bedürfnis unserer Verstandeserkenntnis, die Totalität
der Dinge als ein Fertiges und Geschlossenes zu betrachten. Aber
jeder Versuch, dies in einer bestimmten Vorstellung zu tun,
scheitert daran, daß die sinnliche Anschauungsweise über jede
Grenze hinaus, welche wir im Räume, in der Zeit, in der Kausal-
reihe des Geschehens ansetzen wollen, ihre konstruktive Tendenz
fortführen muß. Die Gegensätze, die Kant hier behandelt, sind
deshalb so alt wie das philosophische Denken überhaupt. Räum-
liche Begrenztheit und Unendlichkeit, Zeitlichkeit und Ewigkeit
der Welt, Atomismus und Monismus, Freiheitslehre und Mechanis-
mus, Schöpfungstheorie und Naturalismus, — diese Thesen und
Antithesen stehen sich notwendig immer und immer wieder
o^egenüber.
Indem nun Kant annimmt, daß diese Antinomien notwendige
und allgemeingültige Behauptungen seien, so folgt ihm daraus,
daß der Gegenstand dieser Urteile, den ja in allen Fällen der
Begriff der^Welu repräsentiert, nicht ein Gegenstand möglicher
Erkenntnis sein kann. Wenn Thesis und Antithesis gleich wahr
sind, so sind sie auch gleich falsch. Der Satz des ausgeschlossenen
Dritten hat hier deshalb keine Gültigkeit, weil es überhaupt von
vornherein sinnlos ist, den Begriff der'^Welt zum Subjekt eines
Erkenntnisurteils zu machen. Die Rätselhaftigkeit eines den Ge-
setzen der formalen Logik so vollkommen widersprechenden und
doch mit Notwendigkeit aus der Vernunft entspringenden Ver-
hältnisses erklärt Kant daraus, daß Thesis imd Antithesis beide
auf der gleichen falschen Voraussetzung beruhen, als sei die Welt,
diese unerfahrbare Idee eines totalen Zusammenhangs der Er-
scheinungen, der Gegenstand einer möglichen Erkenntnis.
Diese Betrachtung wendet Kant auf die beiden ersten, die
mathematischen Antinomien an, und bis zu diesem Pimkte be-
Kusmoloprisclio Antitiümicn. ] ()7
wo^t sich die Antiiioinienlehre durchauH in der gesamten Tendenz
der transzendentalen Dialektik. Dadurch aber, daß Kant nun noch
mit Hilfe der transzendentalen Ästhetik eine »kritiöche AuflÖHunj^«
des notwendigen Widerstreites, in welchen die Vernunft mit sich
selbst gerät, zu geben versucht, beginnen sich in diesem Ab-
schnitte gleichfalls die verschiedenen llichtungen seines Denkens
durcheinanderzuschhngen, und so ist diese zu einem zweiten Nest
von schwer entwirrbaren Widersprüchen geworden. Ganz im
Gegensatz nämlicli zu dem Resultate der transzendentalen Analytik
behandelt Kant die beiden letzten, die dynamischen Antinomien,
unter dem Gesichtspunkte, daß möglicherweise die Thesen für
die^inge an sich, ^ die Antithesen dagegen für die' Erscheinungen
gelten sollten. Für die »mathematischen« Antinomien, diejenigen
der Quantität und der Qualität, in denen es sich um die räum-
liche und zeitliche Ausdehnung und um die materielle Teilbarkeit
der äußeren Welt handelt, bot die Lösung des Widerspruches
durch die transzendentale Ästhetik keine Schwierigkeiten. Wenn
die räumliche W^elt nichts als Erscheinungen enthält, so sind jene
Widersprüche nicht real, sondern nur in unserer Auffassungs-
weise der Dinge begründet. Es ist die erwähnte Antinomie
zwischen unserem Verstandesbegriffe der Totalität und der ün-
aufhörlichkeit imseres anschauenden Prozesses, welche sich darin
ausspricht. In gleicher Weise hätte sich die Lehre der tran-
szendalen Analytik auf die beiden letzten, die »dynamischen«
Antinomien, anwenden lassen, und es wäre dann wiederum die
Entscheidung gefallen, daß, da auch die begrifflichen Beziehungen
nur phänomenalen Charakters sind, jene Antinomien ihre Wurzel
in dem Widerstreite haben, der zwischen den Begriffen und der
als Bedingung für ihre Anwendung unerläßlichen Zeitanschauung
besteht. Allein die Fragen, welche diese beiden Antinomien be-
handeln, diejenigen der Kausalität durch Freiheit und der
Existenz der Gottheit, betrafen gerade diejenigen Punkte, an
welchen Kant überzeugt war, mit dem sittlichen Bewußtsein den
Bann der empirischen Erkenntnis durchbrechen und eine Gewiß-
heit der übersinnlichen Welt gewinnen zu können. Hier bejahte
er also die Thesen aus ethischen Gründen. Wenn sich nun zeigte,
daß auch die Antithesen beweisbar seien, so ging er der Möglich-
keit nach, ob nicht vielleicht diese für die^Erscheinungen gelten.
^^■■■B
;[Qg Kants theoretische Philosophie.
Dann war auch der Widersprucli aufgehoben, aber anders als in
dem ersten Falle. In den mathema tischen Antinomien ver-
schwindet die Kontradiktion dadurch, daß beide Urteile falsch
sind, weil sie auf derselben falschen Voraussetzung beruhen, —
in den dynamischen dadurch, daß beide Urteile richtig sind,
nur mit der Einschränkung, daß das eine für Dinge an sich, das
andere für Erscheinungen gilt. Dieses Prinzip verwendet Kant,
um die wesentlichsten Punkte seiner praktischen Philosophie
schon in der Kritik der reinen Vernunft durchschimmern zu
lassen. Die dritte und vierte Antithese haben den gemeinsamen
Inhalt, daß der Prozeß des Weltgeschehens eine anfang- und
endlose Kette notwendiger Veränderungen endlicher Dinge dar-
bietet. Diese Sätze sollen nun unbedingt und ausnahmslos für
alle Erscheinungen gelten. Aber damit, lehrt Kant, sei nicht
ausgeschlossen, daß das Geschehen in der Welt der Dinge an
sich einen Akt ursachloser Freiheit bilde, und daß es unter den
Dingen an sich ein unbedingtes und absolut notwendiges Wesen
gebe. Die Erscheinungswelt in dem gesamten kausal bedingten
Ablauf ihres Geschehens sei eben nur eine Erscheinung. Der für
imsere Erkenntnis durchaus bedingte und kausal notwendige Ent-
wicklungsgang, den die Willensentschließungen in dem erapirischen
Charakter eines einzelnen Menschen darstellen, sei nichts weiter
als die durch Kaum, Zeit und die Kategorien bedingte Er-
scheinungsform eines intelligiblen Charakters, dessen Hand-
lung nicht unter dem Gesetz der Kausalität stehe. Freilich ist
sich nun Kant bewußt, daß ein Beweis, d. h. eine theoretische
Begründung für die Kealität der Freiheit und der Gottheit in
der Welt der Dinge an sich niemals gefunden werden kann. Aber
die Einschränkung der menschlichen Erkenntnis auf die Er-
scheinungswelt läßt auch nicht das Gegenteil behaupten, und es
bleibt danach für die theoretische Vernunft die Möglichkeit dafür
offen. So muß man es in den Kauf nehmen, wenn jene Möglich-
keit, "Dinge an sich^ anzunehmen, die am Schlüsse der transzen-
dentalen Analytik gewonnen war, sich hier schon dahin spezia-
lisiert, daß als diese Dinge an sich teils die intelligiblen Charaktere,
teils die Gottheit betrachtet werden, daß also die Anwendung
bestimmter Kategorien, wie derjenigen von Wesen und ihren
Handlungen auf jenes unbekannte Etwas, welches dort Ding an
BcwoiBo für das Dasein GotteR. 1()9
sich gonaniit wurde, sclit)ii hier »uls inuj^lich bi.traclilet« und
damit die VVeltaiisehauung von Kants Inau/^uraldisscrtatiun, wenn
auch unter veriuukntcn (lesiehtspunkten wieder gestreift und als
»problematisch« cin<^eführt wird. Allein in einer Rücksicht kehrt
sich nun diese Auflösung der Antinomien offenkundig gegen den
Beweis. Denn indo!u Kant annimmt, daß die Antithesen für
die Erkenntnis der Erscheinungen gelten, und daß in der Er-
scheinungswelt das wissenschaftliche Bewußtsein die Thesen ver-
wirft, so wird es um so unbegreiflicher, wie es vorher möglich
gewesen ist, auf rein theoretischem Wege Thesis und Antithesis
gleichmäßig zu beweisen. Hierin liegt also eine noch tiefere_
Antin(Mnio zwischen Kants theoretischem und graktisciiem Denken
vor, OHIO Antinomie, wciciie wie diejenige des Dinges an sich die
Weiterentwicklung der Philosophie bestimmt liat.
In der vierten Antinomie ist nun auch schon der Gegenstand
berührt worden, welcher das letzte Objekt der transzendentalen
Kritik bildet: die wissenschaftliche Behandlung der Gottesidee.
Kant nennt diese das^ Ideal der reinen Vernunft, weil sie
die Idee des^ Unbedingten in Rücksicht auf die Möglichkeit aller
Erscheinungen überhaupt, der äußeren und der inneren, bildet.
Auch dieses Ideal ist nun nach Kant eine notwendige, es ist die
letzte und höchste ^^ufgabe, welche die Erkenntnistätigkeit sich
setzen kann und setzen muß. Aber auch hier ist die Idee kein
^.Gegenstand der Erkenntnis, und jeder Versuch, diese Notwendigkeit
des ITenkens umzudeuten in einen Beweis von der Notwendigkeit
der Existenz der Gottheit, muß durchaus verworfen werden. In
diesem Zusammenhange der Gedanken erscheint es selbstver-
ständlich, daß für Kant den Nerv aller Beweise, welche die
spekulative Theologie und die Metaphysik für das Dasein Gottes
angetreten haben, das Argument bildet, welches man das onto-
logische nennt, und das ja gerade darauf hinausläuft, aus dem
*^ Begriffe des allerrealsten' Wesens dessen ^Existenz zu erschließen.
In der Kritik trägt nun Kant mit schärferer Formulierung der
schon in der vorkritischen Zeit von ihm entwickelten Gedanken
eine seiner tiefsten und für die Erkenntnistheorie wertvollsten
Lehren vor. Er zerstört jenen ontologischen Beweis von Grund
aus, indem er zeigt, daß »Existenz« kein Merkmal ist, das
wie andere Merkmale zum Inhalt eines Begriffes gehörte und
(i)
1 [0 Kants praktische Philosophie.
deshalb durch logische Analysis daraus gewonnen werden könnte.
Ein Begriff bleibt genau derselbe, ob man ihm die^Existenz' zu-
schreibt oder nicht. Die Existenz ist vielmehr ein Verhältnis,
worin sich unsere Erkenntnis zu einem bestimmten begrifflichen
Inhalte befindet: sie ist eine Kategorie der Modalität. Die An-
wendung dieser Kategorie aber ist nur durch die Anschauung zu
vermitteln. Ein theoretischer Beweis für die Existenz ist also
immer nur dadurch zu gewinnen, daß die Wirklichkeit des Be-
griffes, d. h. seine Beziehung auf einen Gegenstand in der An-
^schauung direkt oder indirekt nachgewiesen wird. Existentialsätze
sind immer synthetisch, und die Begründung der Synthesis hegt
stets in der Anschauung. Deshalb ist es unmöghch, den Begriff
der Gottheit als das Subjekt eines Existent ialsatzes theoretisch zu
behandeln. Aus dem Begriffe allein folgt niemals die Existenz.
Aber auch alle andern Versuche, die Notwendigkeit des Daseins
Gottes zu beweisen, sind damit um so mehr widerlegt, als sie
das ontologische noch mit anderen unberechtigten x^rgumenten
komplizieren. Der kosmologische Beweis (eigentlich schon durch
die vierte Antinomie widerlegt) schließt von der Bedingtheit und
Zufälligkeit der endlichen Gegenstände auf die Existenz eines
absolut notwendigen Wesens. Er hat kein Recht, mit der Kate-
gorie der Kausalität die Erscheinungswelt zu überschreiten, er
hat ebensowenig Recht, von den endlichen Dingen auf eine un-
endliche, von den bedingten auf eine unbedingte Ursache zu
schließen und damit eine [J:-'raßa^t?__£i?_a^^„j5vo? zu vollziehen.
Aber wenn man ihm all dies zugeben wollte, so würde er doch
seine Behauptung, daß diese letzte Ursache aller Dinge zugleich
das ^ allerrealste und absolut notwendige Wesen sei, d. h. dem
Begriffe der Gottheit entspreche, immer wieder nicht durch sich
selbst, sondern nur durch das ontologische Argument erhärten
können. /Und wie so der kosmologische auf den ontologischen,
j'^] so führt der physikotheologische auf den kosmologischen Be-
L weis zurück. Gesetzt, er hätte das Recht, als die Ursache der
Zweckmäßigkeit, Güte, Schönheit imd Vollkommenheit der Weit
(die Kant als Tatsachen behandelt, und nach deren Beweise er
gar nicht einmal erst fragt) eine höchste InteUigenz anzunehmen,
so würde dieser Beweis nur bis zu dem Begriffe eines welt-
b^l^knden, nicht aber bis zu demjenigen eines weltschaffeu^ßQ
Priiniit (l«T luiiktiHclien Vornunft. 1 ] 1
CJottos fühlen. Für dioson müßte iiiinier wieder auf den ko.snio-
louischeii und in letzter Instanz auf den ont{)l();^iselu'n Jicweis
zurüelv^eurifien werden.
Diese Widerle^uni;; richtet tiicli wieder mit echt kritischem
Bewußtsein nicht gegen den 8atz von der Existenz der Gottheit /
selbst, sondern nur gegen die Versuche einer theoretischen
Beweisführung dafür, und der Scharfsinn dieser Kritik, deren
Argumentationen von den besonderen Eigentündichkeiten der tran-
szendentalen Erkenntnistheorie durchaus unabhängig sind (wie sie
ja auch von Kant im wesentlichen schon im Jahre 17G3 vor-
getragen worden waren), hat damit jene Lieblingsgebilde der
spekulativen Theologie und der rationalen Metaphysik für immer
aus dem Sattel gehoben. Aber auch in diesem Falle trifft die
Widerlegung der positiven Behauptung mit gleicher Energie
ihre negative Kehrseite. Dasselbe Argument, welches den ^vissen-
schaftlichen Beweis für die Existenz der Gottheit verbietet, schlägt
auch jeden Versuch, diese Existenz zu leugnen oder zu widerlegen,
nieder. Der Atheismus ist wissenschafthch ebenso unmöglich wie
der Theismus. Gerade wie die Kritik der rationalen Psychologie
gleichmäßig den Spiritualismus und den Materialismus als An-
maßung der Metaphysik verdammte, so sieht die Kantische Kritik
auch die rationale Theologie und den Atheismus für gleich un-
bewiesene dogmatische Behauptungen an. Der eine überschreitet
die Grenze der menschlichen Erkenntnisfähigkeit so gut wie die
andere. Aber die rationale Theologie unterliegt nur in verzeih-
lichem Eifer dem transzendentalen Schein, als könne das Ideal
der Vernunft Gegenstand einer objektiven Erkenntnis sein: -der
Atheismus macht den viel schlimmeren Fehler, dies Ideal der
menschhchen Erkenntnis als eine Illusion zerstören zu wollen. Er
sträubt sich daher, meint Kant, gegen eine in der Organisation
des menschlichen Geistes selbst angelegte Notwendigkeit. Wenn
wir die Zusammenhänge der inneren und diejenigen der äußeren
Erscheinungen, wenn wir die geheimnisvolleren Zusammenhänge,
die zwischen beiden obw^alten, in der wissenschaftlichen Erkenntnis
zu begreifen suchen, so schwebt uns als der Trieb für diese
gesamte Arbeit des Verstandes die Idee der Vernunft vor, einen
letzten und absoluten Zusammenhang aller Erscheinungen in einem
höchsten Wesen zu begreifen. Dies Ideal der Vernunft ist durch
W2 Kants praktische Philosophie.
den Verstand und seine Erkenntnis nie zu erreichen. Aber aller
Wert der Verstandesarbeit liegt in der Annäherung an das uner-
reichbare Ziel.
Und woher denn nun — das ist die letzte Frage — diese
Wertschätzung und jener ihr zugrunde liegende Trieb? Woher
jenes ^metaphysische Bedürfnis, welches unsere Erkenntnis erst
vollendbar erscheinen läßt in einem Unerkennbaren? Aus dem
bloßen Material der Erscheinungen ergäbe sich für die Erkenntnis
nur der Trieb, ihre endlosen Ketten endlos weiter zu verfolgen. Wenn
daher in unserm Denken das Bedürfnis auftritt, aus dieser Sinnen-
welt herauszugehen und ein von ihr Verschiedenes zu erfassen,
so liegt die Veranlassung dafür nicht mehr in unserm theoretischen
Verhalten, Die theoretische Betrachtung kann nur die Tatsache
konstatieren, daß sie selbst in ihrem ganzen Fortschritte durch
das wenn auch niemals zu erfüllende Streben bestimmt ist, ihren
Horizont zu überschreiten. Aber die Erklärung dieser Tatsache
liegt in einem tieferen Bedürfnis, welches das theoretische Leben
beherrscht, und dieses tiefere Bedürfnis kann nur in dem sitt-
li^en Bewußtsein von unserer Bestimmung bestehen, die über die
Welt unserer Erkenntnis hinausreicht. So zeigt sich, daß das
Leben der Erkenntnis in seiner ganzen Ausdehnung durch den
ethischen Trieb nach der übersinnHchen Welt bedingt ist, dem
es doch selber niemals Genüge tun kann. Das ist es, was Kant
den Primat der praktischen über die theoretische Ver-
nunft genannt hat, und was den innersten Zusammenhang seiner
wissenschaftlichen so gut wie seiner persönlichen Überzeugung am
klarsten hervortreten läßt.
§ 60. Kants praktische Philosophie.
Die Nachfolger haben Kants Philosophie als subjektiven Idealis-
mus oder als Subjektivismus charakterisiert, und in den hi-
storischen Darstellungen ist diese Bezeichnung vielfach angenommen
worden. Die wenigsten wissen, was sie bedeutet. Sie will besagen,
daß der Kritizismus seinen Standpunkt lediglich in der mensch-
lichen Vernunft nimmt. Er läßt alle die Meinungen dahingestellt,
welche, sei es im populären Bewußtsein, sei es in philosophischen
Versuchen, vor ihm über das Verhältnis dieser menschlichen
Vernunft zu den Dingen aufgestellt sind, und er sucht ledighch
KritiHcluT SubjuktivisiiiuB. 1 l.'i
die notwcndi<i;(Mi und allj;cincin;^ültigcn l*rinzi[)icii auf, die in den
Formen der Vernunft seihst bo;^ründet sind. Er ist in dieser
Hinsicht nichts als eine Selbsterkenntnis der menschlichen
Vernunft. Aber die Folge dav4)n ist eben die, daß sich auch
die theoretische Kritik vollkonnnen in den Umkreis dieser Ver-
nunftformen <j;ebannt sieht, und daß ihr alles, was über die
Vorstellungen und ihre immanenten Beziehungen hinausgeht,
problematisch bleiben muß. Freilich ist jene Selbsterkenntnis
zunächst ein Wissen des Menschen von seiner eignen Vernunft:
aber die kritische Untersuchung streift dabei schon auf dem
theoretischen Fohle alle empirisch-anthropologischen Momente ab,
und das »Bewußtsein überhaupt << ist entschieden etwas Über-
greifendes der spezifisch menschlichen Vernunft gegenüber. Allein
trotzdem bleibt die theoretische Vernunft, soweit sie Erkenntnis
von Gegenständen sein soll, doch vollständig in sich selbst ge-
bannt und gebunden. Innerhalb der Vorstellungsbewegung gibt
es gewisse gesetzmäßige Verknüpfungen, welche Dinze genannt
werden, und gibt es vor allem das notwendige Grundverhältnis von
Subjekt und Objekt, welche nur in Beziehung aufeinander gedacht
werden können. Ob es aber auch außerhalb der Vorstellung
Dinge gibt, ob dem Subjekt und dem Objekt reale Wesen ent-
sprechen, darüber zu entscheiden fehlen der theoretischen Vernunft
so sehr alle Argumente, daß sie es weder bejahen noch verneinen
kann. Für die theoretische Philosophie ist die Vorstellungs-
tätigkeit mit ihren gesetzmäßigen Formen das Absolute. Schon
von einem vorstellenden Subjekte kann sie nicht als von einem
diese Tätigkeit ausführenden metaphysischen Wesen, sondern nur
als von einem Inhalte der Vorstellungstätigkeit sprechen. Die
Vernunft also ist ein System von Formen, ist der vollständig in
sich geschlossene Kreis, aus dem die theoretische Philosophie
nicht heraus kann. Der Kritizismus fragt weder nach ihrem Ur-
sprünge, noch nach ihrem Verhältnis zu jener problematischen
Reahtät, die er nur als ein völlig Unbekanntes jenseits der Grenze
ansieht, welche die Vernunft sich selbst zu setzen vermag.
Betrachtet man dies Resultat vom Standpunkte des »naiven
Reahsmus«, so heißt es, daß die Vernunft nichts weiter zu er-
kennen vermag als sich selbst. Und wer von vornherein, von
dem populären Bewußtsein ausgehend, das Wesen der Erkenntnis
Windelband, Gesch. d. n. Pliilos. U. 8
2^24 Kants praktische Philosophie.
in der Übereinstimmung von Vorstellungen und Dingen sucht, dem
muß die Kantische Kritik den Eindruck hinterlassen, daß dieses Ziel
der Erkenntnis niemals zu erreichen ist. In diesem Sinne ist
seine theoretische Philosophie absoluter Skeptizismus. Aber
diese Skepsis beweist ihren kritischen Ursprung dadurch, daß sie
in vollkommen präziser Formulierung die Unfähigkeit der mensch-
lichen Vernunft, von etwas anderem als von ihren eigenen Formen
gewiß zu sein, auf die theoretische Funktion der Erkenntnis be-
schränkt. Kants Subjektivismus ist nur theoretischer Natur. Wenn
die Klarheit seiner Darstellung der Lehre vom Ding an sich in
der Kritik der reinen Vernunft durch seine felsenfeste Über-
zeugung von dessen Realität getrübt wurde, so rührte das daher,
daß der Kritizismus in seinem praktischen Teile die selbstgezogene
Schranke des Subjektivismus siegreich durchbricht und von der-
selben Selbsterkenntnis der Vernunft aus deren Zusammenhang
mit einer bestehenden Welt und ihre Unterordnung imter deren
allgemeine Gesetzgebung begreift. Theoretisch betrachtet, sieht
die Vernunft sich auf sich selbst beschränkt, praktisch betrachtet,
glaubt sie sich im lebendigen Zusammenhange mit einer höheren
Welt, von der ihre ganze Erkenntnis nur den Schatten ergreift.
Und doch ist auch diese Überwindung des Subjektivismus
bei Kant nur aus dem subjektiven Gesichtspunkte selbst zu ver-
stehen. Denn so wie die Vernunft auf dem theoretischen Felde
zu ihrer Selbstkritik nichts hat als sich selber, so kann auch die
praktische Gewißheit von ihrem Zusammenhange mit einer ab-
soluten Weltordnung nur aus ihrer eigenen Tiefe geschöpft sein;
nur in sich selbst vermag sie das Motiv zu entdecken, mit ihrer
Überzeugung die Schranken ihres Wissens zu überschreiten. Auch
der Glaube, mit dem die Vernunft sich einem Weltgesetze unter-
wirft, gehört zu ihren eigenen Prinzipien, und dieser Glaube darf
deshalb für die kritische Philosophie nur solche Gestalten an-
nehmen, welche durch die allgemeine und notwendige Form der
Vernunft selbst bestimmt sind. Konnte die theoretische Ver-
nunft in allgemeiner und notwendiger Weise nur das erkennen,
was sie selbst erzeugt, so kann die praktische Vernunft sich nur
einem Weltgesetze unterordnen, welches sie in allgemeiner und
notwendisjer Weise sich selbst iribt.
Indem Kant an die Kritik des sittlichen Bewußtseins geht.
Sittliche Urteile. Iir3
fragt er auch hier nach dm iiii^enieinen und notwendigen Be-
stimmungen, die darin anzutreffen sind. In «einer empiristi.schen
Periode hatte er sich mit den anthropologischen »Beobachtungen«
beschäftigt, welche die psychologische Verschiedenheit in der Ge-
staltung des sittlichen Lebens der Menschheit zu ihrem Gegen-
stande haben. Derartige Fragen liegen der kritischen Moral-
philosophie fern; sie richtet vielmehr ihren Blick darauf, daß auf
dem Grunde aller dieser Verschiedenheiten eine gemeinsame sitt-
liche Vernunft ruht, und daß das ]kwußtsein davon sich in dem
Ansprüche auf Apodiktizität zeigt, mit dem die sittlichen
Urteile ausgesprochen werden. Diese aber sind zwiefacher Art.
Teilweise bestehen sie in gewissen Gesetzen, welche wir als die
allgemeingültigen Normen für das sittliche Leben ansehen, teil-
weise aber in Beurteilungen, welche auf Grund dieser Normen
über Handlungen und Willensentscheidungen der Menschen aus-
gesprochen werden. Die letzteren sind offenbar die Form des
sittlichen Lebens, welche dem populären Bewußtsein am ge-
läufigsten ist. Sie kommt in denjenigen Werturteilen zur Geltung,
welche ihr Subjekt mit dem Prädikate"^ gut^oder"bösel)ezeichnen.
Kant sucht nun, um aus diesem populären Verhalten in das
moral-philosophische Problem hinüberzuführen, zunächst die Eigen-
tümlichkeit dieser Urteile scharf zu umgrenzen. Sie enthalten
keine Erkenntnis im theoretischen Sinne, sondern vielmehr ein
Verhältnis der Beurteilung, in welches sich der Beurteilende zu
dem erkannten oder für erkannt angesehenen Gegenstande des
Urteils versetzt. Aber nicht alle Beurteilungen sind ethischer
Natur. Ein großer Teil davon hat die Tendenz, den Gegenstand
als etwas dem Individuum Angenehmes oder Unangenehmes zu
bezeichnen. Diese Beurteilung ist stets empirischer Natur, sie
setzt die Beziehung des Gegenstandes zu irgend einem Bedürfnis
des Individuums, bestehe es nun in einem unmittelbaren sinnhchen
Triebe oder in einem Zweck des persönlichen Interesses, voraus.
Solche Beurteilungen sind deshalb zwar s}Tithe tisch , aber nicht
a priori. Von ihnen gibt es infolgedessen keine über das jedesmalige
Bedürfnis des Individuums hinausgehende Notwendigkeit und All-
gemeingültigkeit. Wo dagegen etwas als^gut oder böse bezeichnet
wird, da geschieht es stets mit dem Anspruch auf Allgemein-
gültigkeit und Notwendigkeit, und dieser charakterisiert sich
8*
115 Kants praktische Philosophie.
dadurch, daß er den Gegenstand der Beurteilung zu einem all-
gemeinen und notwendigen Prinzip in Beziehung setzt. Hier
haben wir also ein Verfahren unseres Geistes, welches auf Apriorität
Anspruch erhebt, und es fragt sich nach der Methode des
Kritizismus, ob die Bedingungen erfüllt sind, unter denen dieser
Anspruch gerechtfertigt ist. Nun erhält jede sittliche Beurteilung,
sofern sie sich ihrer Berechtigung bewußt wird, die Subsumtion
des betreffenden Gegenstandes unter ein Prinzip, welches wir ein
sittliches Gesetz nennen, und die Beurteilung kann nur dann als
berechtigt gelten, wenn die Allgemeingültigkeit und Notwendig-
keit dieses Gesetzes feststeht. Alle sittliche Beurteilung setzt
ein Sittengesetz voraus, das a priori gilt. Für die praktische
Philosophie handelt es sich zunächst darum, ob es ein solches
allgemeines Sittengesetz gibt, und wie dessen Allgemeingültigkeit
und Notwendigkeit eingesehen und vielleicht begründet werden
kann. Die Frage ist, ob es eine allgemeine und notwendige Be-
ziehung des Willens auf Gegenstände gibt, und welches diese
Gegenstände sind.
Der Aufsuchung des Sittengesetzes selbst scheint nun die
Schwierigkeit im Wege zu stehen, daß erfahrungsmäßig sein Inhalt
von Fall zu Fall wechselt und außerdem während der geschicht-
lichen Entwicklung des Menschengeschlechts offenbar in Ver-
änderung begriffen ist. Heute und hier gilt anderes für sittlich
als morgen und dort, und wenn sich so der Inhalt der sittlichen
Prinzipien empirisch bedingt zeigt, was am allerwenigsten die
kritische Philosophie leugnet, so bleibt der letzteren nur die
Möglichkeit, die Apriorität des Sittengesetzes in derselben Rich-
tung zu suchen, wo sie diejenige der Erkenntnis gefunden hatte :
in einer formalen Bestimmung.
Schon in den Vorbereitungen für diese Fundamentalunter-
ßuchung sind von Kant fast unmerklich die charakteristischen
Züge angelegt, welche seine persönliche Gesinnung und zugleich
die Eigentümlichkeit seiner Moralphilosophie ausmachen. Das
Prädikat gut pflegt zwar selbst in seinem sittlichen Sinne von
der populären Bezeichnungsweise auch: Handlungen beigelegt zu
werden, welche den Anforderungen des Sittengesetzes entsprechen.
Allein, meint Kant, das geschieht doch nur im übertragenen
Sinne und nur insofern, als sie für den Ausdruck einer guten
IjOgalitili und Moralität. 117
Gesinnung anpjeschen werden. Im schärfsten Sinne des Worte«
ist nichts^ gut als der Wille. Er bleii)t gut, wenn er durch den
Mcehanisinus der äußeren Natur an der Umsetzung in die Hand-
lung gehindert worden ist, und. anderseits verdient eine Hand-
lung, die dem Sittengesetze völlig konform ist, das Prädikat gut
nur insofern, als sie aus der sittlichen Gesinnung hervorgegangen
ist. Wo irgend ein äußerer Zwang den Menschen eine solche
Handlung ausführen läßt, da kann sie ihm nicht als moralisches
Verdienst zugerechnet, nicht als gut bezeichnet werden. Aber
Kant geht sogleich weiter. Was vom äußeren Zwange gilt, dehnt
er auch auf den inneren aus. Wenn der Mensch durch den
Mechanismus des Trieblebens oder durch seine persönhchen
Interessen zu einer Handlung geführt wird, welche den An-
forderungen des Sittengesetzes entspricht, so ist eine solche Hand-
lung zwar nicht böse, aber auch nicht gut zu nennen, sondern sie
ist moralisch indifferent. In solchem Falle hat das Individuum
das Glück, daß seine Neigungen es nicht mit dem Sittengesetz
in Konflikt bringen; aber das ist ein Zufall und kein Verdienst.
Echt moralisch ist deshalb die den Anforderungen des Sitten-
gesetzes entsprechende Handlung nur dann, wenn sie aus guter
Gesinnung hervorgegangen ist, d. h. wenn der Wille, der ihre
Ursache enthält, selbst durch das Bewußtsein des Sittengesetzes
bestimmt war. Das Bewußtsein von der Anforderung, welche
ein sittliches Gesetz an unsere Handlungsweise stellt, heißt
Pflicht, und echt morahsch sind daher nur diejenigen Hand-
limgen, bei denen die Pflicht als Maxime, d. h. als subjektives
Prinzip der Willensentscheidung zur Geltung gekommen ist. In
der kritischen Tendenz scharfer Grenzscheidungen macht Kant
jenen berühmten prinzipiellen Unterschied zwischen Pflicht und
Neigung, der sich durch seine ganze Ethik hindurchzieht. Die
äußere Konformität unserer Handlungen mit den Anforderungen
des Sittengesetzes nennt er Legalität. Alles was wir aus Neigung
tun, ist im besten Falle nur legal, und von Moralität ist erst
da die Rede, wo die pflichtmäßige Gesinnung und sie allein die
Ursache der Handlung gewesen ist. In dieser Verinnerlichung
des moralischen Prinzips liegt auch auf diesem Gebiete das sub-
jektivistische Prinzip der kritischen Philosophie; zugleich kann
diese Begründung der Moral auf den Beojiff des Pflichtbewußtseins
118 Kants praktische Philosophie.
als eine abstrakt allgemeine und rein ethische Formulierung des-
jenigen Prinzips angesehen werden, welches der Protestantismus
in religiöser Form von Anfang an bei seinem Kampfe gegen die
katholische Kirche am lebhaftesten betont hatte.
Die Moralität der Handlungen ist also nicht in ihrer legalen
Äußerlichkeit, sondern lediglich in der ihr zugrunde liegenden
Gesinnung zu suchen, und die Gesinnung ist nur da gut, wo ihre
Maxime das Bewußtsein der Pflicht, wo daher das Motiv des
Handelns kein anderes ist als die Achtung vor dem sittlichen
Gebot. Die sittlichen Gesetze aber erscheinen in unserem Be-
wußtsein als die Vorstellung von etwas, was wir tun sollen, es
sind Gesetze desSollens, welche den sogenannten Naturgesetzen
als denjenigen des Müssens gegenüberstehen. Ein Naturgesetz
ist eine Regel, nach der unter allen Umständen etwas geschehen
muß und wirklich geschieht; das Sittengesetz ist eine Maxime,
nach der unter allen Umständen etwas geschehen soll, aber nicht
immer tatsächlich geschieht. Beide können nicht miteinander
identisch sein; denn es hätte gar keinen Sinn, etwas zu ver-
langen, was mit naturgesetzlicher Notwendigkeit so wie so ge-
schieht. Das Sittengesetz hat daher nur darin seine Bedeutung,
daß der Mechanismus des natürlichen Geschehens vollkommen
unbestimmt läßt, ob es erfüllt wird oder nicht. Die moralische
Gesetzrrebunof ist also eine andere als die natürliche und deshalb
aus dieser nicht abzuleiten. Moralische Gesetze sind Imperative,
Aufgaben, welche erfüllt werden sollen, ohne es zu müssen und
ohne immer erfüllt zu werden. In diesem Sinne ist Kant der
klassische Vertreter der Imperativischen Richtung in der
Ethik, d. h. derjenigen, welche die Aufgabe dieser Wissenschaft
nicht in einer Beschreibung und Erklärung des wirklichen sitt-
lichen Lebens der Menschen, sondern vielmehr in der Aufstellung
einer absoluten Gesetzgebimg dafür sieht.
Prüft man nun, welcher Art die Imperative sind, die in der
praktischen Betätigung des menschlichen Lebens auftreten, so
zeigt sich, daß der bei weitem größte Teil davon nur in be-
dingter Weise gelten kann. Die Vorschriften, welche wir uns
und anderen für bestimmte einzelne Tätigkeiten machen, sind
selbstverständlich von den Zwecken abhängig, die jeweils durch
diese Tätigkeiten erfüllt werden sollen, und gelten nur so weit
DegrifT des Zwecke«. ] \\^
wie diese Zwecke iils eistielx'iisweit uii^^OHehen werden. l)aM
lieblet unserer praktischen Tätigkeit ist dusjenige der Zwecke.
Der Begriff des Zweckes, den Kant aiia dem System der
Kategorien ausschloß, und tk'r deshalb in seiner theoretischen
Phik)soplue mit Einschluß seiner Naturlehre keine Rolle spielte
noch spielen durfte, gewinnt hier dii^ ßedeutung einer Grund-
bestimmung für die praktische Welt. Zwecke sind die Be-
dingungen, unter denen die meisten Imperative stehen, insofern
sie die Handlungen verlangen, welche die Mittel zur Herbei-
führung dieser Zwecke bilden. Alle diese Imperative sind somit,
ausgespr(x?hcn oder unausgesprochen, hypothetischen Charakters.
Diese Reihe der hypothetischen Imperative oder der teleologischen
Verhältnisse von Zweck und Mittel scheint sich nun ähnlich in eine
endlose Kette auszudehnen, wie diejenige der Kausalität und der
Verhältnisse von Ursache und Wirkung. Ich will eine bestimmte
Handlung tun, um einen Gegenstand umzugestalten oder zu ver-
fertigen, aber ich will diesen Gegenstand nur haben, um mit ihm
irgendwelche andere Funktionen ausführen zu könnon, und ich will
diese Funktionen wieder ausführen, um dies und jenes andere
herbeizuführen, und so fort. In dieser Weise hängt jener erste
hypothetische Imperativ als Schlußglied an einer langen Kette
von teleologischen Beziehungen. Aber dieser ganze Prozeß ist
nur dadurch möglich, daß es einen letzten Zweck gibt, der selbst
nicht mehr Mittel für einen höheren, sondern vielmehr der be-
stimmende Grund für die ganze teleologische Reihe ist. Während
die kausalen Ketten, diejenigen der Erkenntnis, kein Anfangs-
und kein Endglied haben, sind die teleologischen Reihen, die-
jenigen des Willens, durch den unbedingten oder absoluten
Zweck geschlossen. Ein solches Schlußgiied des teleologischen
Prozesses bietet der natürliche Mechanismus der Motivation in
dem Glückseligkeitstriebe dar, welcher für den bloß natürlichen
Menschen den höchsten und letzten Zweck aller seiner Hand-
lungen ausmacht. Aber das Glückseligkeitsstreben ist ein Natur-
gesetz. Es braucht nicht als ein höchster und abschließender
Imperativ ausgesprochen zu werden, sondern es regelt \äelmehr
das ganze System des natürlichen Triebmechanismus von selbst.
Die sittUche Gesetzgebung wäre daher von einer naturgesetzlichen
Notwendigkeit bedingt, wenn die Glückseli2;keit der absolute Zw^eck
120 Kants praktische Philosophie.
wäre, um dessen willen sie alle ihre einzelnen Imperative auf-
stellte. Soll es also in der sittlichen Gesetzgebung einen höchsten
Zweck geben, um dessen willen alle übrigen einzelnen Gesetze
da sind, so muß dieser an das Pflichtbewußtsein ein Verlangen
stellen, das dem menschlichen Willen nicht schon durch den
natürlichen Mechanismus eingepflanzt ist. Jeder hypothetische
Imperativ appelliert an ein schon bestehendes Wollen, dem er
die Mittel zu seiner Befriedigung empfiehlt: die sittliche Pflicht
aber ist das kategorische Verlangen eines Wollens ohne jede
Rücksicht auFdas schon bestehende.
Nun beruht aber das Hypothetische in den Imperativen stets
darin, daß sie ihre Vorschrift von einem bestimmten inhaltlichen
Zweck abhängig machen. Sollte daher das oberste Prinzip der
Sittenlehre einen bestimmten besonderen Inhalt fordern, so wäre
es von diesem abhängig und entspräche nicht mehr dem Begriffe
eines absoluten Zweckes. Ein Imperativ, der kategorisch, d. h.
ohne jede Bedingung gelten soll, kann also niemals eine einzelne
bestimmte Handlung verlangen, sondern nur eine foimiale Be-
stinmiung enthalten, deren Anwendung auf den einzelnen Inhalt
dann durch die besonderen Verhältnisse der Erfahrung bedingt
wird. Das oberste, nicht erfahrungsmäßige, das apriorische Gesetz
der Sittlichkeit kann deshalb nur das Gesetz der Gesetz-
mäßigkeit sein. Der kategorische Imperativ verlangt nichts
anderes, als daß die Maxime, aus welcher eine Handlung hervor-
geht, derartig sei, daß sie ein allgemeingültiges und notwendiges
Gesetz für alle vernünftigen Wesen bilden kann. Deshalb for-
muliert Kant den kategorischen Imperativ dahin: Handle so, als
ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum all-
gemeinen Naturgesetz werden sollte.
Man hat wohl gemeint, dieser ganze Apparat von Begriffs-
entwicklungen bei Kant führe doch schließlich im Grunde ge-
nommen auf die triviale Formel hinaus: was du nicht willst, das
man dir tu*, das füg' auch keinem andern zu. Nim würde es
nicht einmal ein Vorwurf sein, wenn es wirklich so wäre, daß
die wissenschaftliche Untersuchung als das Fundamentalprinzip
der Ethik einen Satz begründete, der dem allgemeinen sittlichen
Bewußtsein als der bestimmende von vornherein einleuchtete.
Allein ganz so ist die Sache doch nicht, sowenig sich anderseits
KRtpporinclior imperativ. 121
Icu^iUMi läßt, claÜ Kants Darstollun;^ für (Miie hoIcIic I)(*utiiii^
den breitesten Spielraum f^e^^^ebcn hat. Fraj^t man nämlich, auH
welchen Gesichtspunkten denn luin beurteilt werden kann oder
soll, welche Maximen siel» zu allf^emeinen Naturgesetzen ei^ien
würden und welche nicht, so behauptet Kant von den strengeren,
>ninnachläßlichen« Pflichten, es seien solche, bei denen die gegen-
teilige Maxime als Natm'gesetz nicht einmal gedacht werden
könnte, so daß den misittlichen Grundsätzen die Fähigkeit, all-
gemeines Gesetz zu werden, schon aus rein logischen mid theo-
retischen Gründen abgesprochen werden müsse. Hieraus geht
hervor, daß Kant jene Deutung gerade für die wichtigsten sitt-
lichen Maximen nicht im Au<^c hatte. Allein schon hiasichtlich
des Egoismus z. B. kann es nicht zweifelhaft sein, daß die Tat-
sachen geradezu beweisen, wie diese unsittliche Maxime als all-
gemeines Naturgesetz ,' was sie ja in der Tat ist ,A den Bestand
der organischen Welt iiicht nur nicht gefährdet, sondern sogar
in ihrer empirischen Gestalt erst mögHch macht. Deshalb sieht
sich Kant genötigt, hinzuzufügen, daß es Maximen gibt, bei denen
es theoretisch keinen Widerspruch involviere, sie als Naturgesetze
zu denken, bei denen man aber nicht wollen könne, daß sie
es seien. Das ist nun freihch sehr bedenklich: denn der Grund
des »Nicht wollen Könnens« ist doch in diesem Falle entweder
ein sittlicher — und dann bewegt sich die ganze Erklärimg im
Kreise — oder durch ein Interesse bestimmt — und dann liegt
die Entscheidung ja doch wieder bei dem von Kant so lebhaft
verworfenen GlückseUgkeitsbestreben. Dem letzteren Widerspruche
mit sich selbst ist er sogar in seinen Beispielen zweifellos zum
Teil verfallen. Aber die große Schwierigkeit der Sache liegt in
folgendem: so tief und groß der Kantische Grundgedanke ist,
als das absolute und oberste Prinzip der Moral den kategorischen
Imperativ in der Form des Gesetzes der Gesetzmäßigkeit auf-
zustellen, so völlig unmöglich ist es auf der anderen Seite, aus
dieser rein formalen Bestimmung irgend eine empirische Maxime
abzuleiten oder auch nur sie darunter zu subsumieren*). Das
♦) Diese Andeutung hat Kant in dem Abschnitt der Kritik der prak-
tischen Vernunft gegeben, welcher von der Typik der reinen praktischen
Urteilskraft handelt, indem er hier die Frage nach der Möglichkeit, konkrete
Bestimmungen unter die Anforderung des kategorischen Imperativs zu
122 Kants praktische Philosophie.
letztere gelang dem Philosophen nur durch eine sich schon m-
^altlich gestaltende Umformung, nicht durch die rein formale
Fassung des kategorischen Imperativs.
Prinzipiell jedoch benutzt Kant gerade diese rein formale
Fassung des kategorischen Imperativs, um seine Aufstellung des
Sittengesetzes gegen alle früheren energisch abzugrenzen. Sobald
man die sittlichen Handlungen von der Erfüllung eines sachlichen
Zweckes in letzter Instanz abhängig macht, so betrachtet man
die sittliche Tätigkeit als ein Mittel für diesen Zweck und setzt
somit den kategorischen zu einem hypothetischen Imperativ herab.
Unter solchen materialen Prinzipien der ethischen Gesetzgebung
sind neben anderen hauptsächlich zwei von wesentlicher Be-
deutung, weil sie den größten Teil der in der Philosophie auf-
gestellten Moralprinzipien bestimmt haben: die Glückseligkeit und
der göttliche Wille. Der Eudämonismus betrachtet die sittliche
Handlungsweise als das einzige oder das beste Mittel, um die
Glückseligkeit, wenn er roh verfährt, des Einzelnen, wenn er ver-
feinert erscheint, der menschlichen Gesellschaft herbeizuführen:
er ist also nur eine Klugheitslehre, die zeigen soll, wie man am
besten und sichersten glücklich wird; namentlich wird er dazu
in der gesellschaftlichen Form, indem er dann darauf hinausläuft,
darzutun, daß nach den Bestimmungen, welche die Gesamtheit
nun einmal in Sitte und Recht von ihren Gemeininteressen aus
getroffen hat, das Individuum am klügsten tut, sich in diese
Lebensformen zu fügen. Damit geht erstens die eigentliche Würde
und Selbständigkeit der moralischen Handlung verloren, indem
sie einem fremden Zwecke dienen soll; zweitens aber enthält
dieser Eudämonismus einen inneren Widerspruch. Eine un-
befangene Prüfung der Tatsachen lehrt, daß die moralischen
Handlungen, weit davon entfernt, die empirische Glückseligkeit
zu ihrer notwendigen Folge zu haben, ihr vielmehr häufig ent-
gegenstehen. Für das Individuum wenigstens ist die Moralität
unter allen Mitteln zur Herbeiführung der Glückseligkeit das un-
subsumieren, aufwirft und das Naturgesetz als den Typus des Sittengesetzes in
demselben Sinne bezeichnet, wie in der Kritik der reinen Vernunft die Zeit
als Schema für die Subsumtion der Erscheinungen unter Kategorien figurierte,
— mit dem Unterschiede nur, daß die Anwendung dieses Typus noch Wel
vager und unsicherer ist als die jenes Schemas.
Autonomio. 12.'{
sit'horstc. Iliitle clio Natur uns zur (i!liickHcli<^keif- bestimmt, so
hätte sie nichts Törichteres tun können, als neben den Trieben
des E«;{)ismu8 uns dies Bewußtsein einer morulischen Pflicht ein-
zupflanzen, das jenen immer im^ Wej^e steht. Aus dem üliick-
eeligkeitsstreben läßt sich das ethische Leben daher niemals
deduzieren./ Wenn auf der anderen Seite die (iültit^keit der
moralischen Gesetze aus einer «^^öttlichen Gesetzgebun«^ abgeleitet
werden soll, so heißt dies, das sittliche Leben des Menschen einem
fremden Willen unterwerfen. Die Unterwerfung unter einen
fremden Willen aber kann entweder aus den psychologischen
Triebfedern der Fiu-cht und der Hoffnung, welche die Vorstellung
von der Mächtigkeit dieses fremden Willens mit sich bringt, oder
aus der Überzeugung von der sittlichen Güte dieses Willens
hervorgehen. Ist das erstere, wie bei dieser Begründung der
Moral wohl in der Mehrzahl der Fälle, gemeint, so wird die
moraüsche Tätiüjkeit wiederum als ein Mittel für ein wenn auch
noch so verfeinertes und aus dem irdischen in das jenseitige Leben
übertragenes Glückseligkeitsbestreben angesehen, und so fällt diese
Form des Eudämonismus imter dessen allgemeine Kritik. Soll
aber der götthche Wille deshalb befolgt werden, weü man von
seiner sittlichen Güte und Vollkommenheit überzeugt ist, so kann
diese Überzeugung nur darauf beruhen, daß der Inhalt des gött-
lichen W^ülens vom Standpunkte des sittlichen Bewußtseins als
diesem durchaus konform erkannt worden ist. In diesem Falle
liegt also das letzte Beurteilmigsprinzip doch in dem sittlichen
Bewußtsein selbst, und die theologische Begründung ist nui" eine
scheinbare.
Der kategorische Imperativ enthält daher in seiner bloß for-
malen Bestimmung und in seiner ausdrücklichen Unabhängigkeit
von allen inhaltlichen Zwecken der Willensentscheidung doch die
sehr wesentliche Bedeutung, daß von dem sittlichen Willen die
Befolgung nur solcher Gesetze, aber dieser auch unbedingt ver-
langt wird, welche er sich selbst gegeben hat. In diesem Sinne
bezeichnet Kant den Grundbegriff seiner Moralphilosophie als den-
jenigen der _Autonomie. Sittlich gut ist der Wille, der das
selbstgegebene Gesetz befolgt. Die praktische Überzeugungstreue
ist der tiefste Gehalt des moralischen Lebens. Der reine Wille,
d. h. der allgemeine und notwendige Wille oder die "praktische
124 Kants praktische Philosophie.
Vernunft des Menschen kann sich kein anderes Gesetz als das
sittliche geben; aber der empirische Wille, der wechselnde Wille
des einzelnen vermag diese Gesetze zu überschreiten, weil er durch
anderes als durch sich selbst, weil er durch die sinnlichen Triebe
bestimmt ist. Jeder Versuch deshalb, die sittliche Handlungsweise
in den Dienst eines anderen Zweckes zu stellen, zieht die Sitt-
lichkeit auf den Standpunkt der Heteronomie herab. Mag es die
individuelle oder die allgemeine Glücksehgkeit, mag es irgend ein
empirisches Gefühl, mag es ein göttliches Gebot oder ein meta-
physischer Begriff der Vollkommenheit sein, was man als Be-
stimimungsgrund für das sittliche Handeln angibt, — immer
wird dadurch das sittliche Leben zu einem Mittel herabgesetzt
und hört auf, in sich selbst einen absoluten, notwendigen und
allgemeingültigen Zweck zu bilden.
Jede heteronomische Begründung widerspricht nach Kant der
.Würde des moralischen Lebens. Alles, was einem anderen Zwecke
dient, hat in der Welt der Zwecke nur einen Preis. Würde da-
gegen kommt allein demjenigen zu, was an und für sich ein
Zweck und um dessen allein willen das übrige da ist. Diese
Würde gebührt im ersten und eigentlichsten Sinne des Wortes
nur dem Sittengesetz selbst. Aber indem das Individuum dieses
Sittengesetz sich selber gibt, indem es aus Achtung vor diesem
Gesetz ohne alle Interessen seiner Neigung in pflichtmäßiger
Gesinnung dies Gesetz befolgt und sich so mit ihm identifiziert,
teilt sich ihm jene Würde des Sittengesetzes mit, und in der
Welt der Erscheinungen ist deshalb die menschliche Person, als
ein vernünftiges, zwecksetzendes und sich selbst Gesetze gebendes
Wesen der einzige, absolute Selbstzweck, der die Bedingung
für die Geltung aller relativen Zwecke enthält, und dem gegen-
über alle übrigen Erscheinungen ^Sacheri^ sind. Mit dieser Über-
legung geht der kategorische Imperativ aus der rein formalen in
eine inhaltliche Bestimmung über, und das Gesetz der Gesetz-
mäßigkeit verwandelt sich in das Gesetz von der Wahrung
der Menschenwürde. Alle Sachen können als Mittel zum Zweck,
aber eine Person darf niemals nur als Mittel gebraucht, sondern
muß stets in ihrer absoluten Würde geachtet werden, und so
lautet das oberste Prinzip des Sittengesetzes: Handle so, daß du
die Würde der Menschheit sowohl in deiner Person als auch in
Freiheit. 125
der rci-SDii jedos uiidcron jodcizrit arlitcst und die Person iininoi-
zugleich als Zwetk, nie bloß uLs iMittel gebrauclist.
Der Beuriff dci\Autonümio iat also in ganz ähnlicher Weiße
der Schlüssel für die Erkenntnis des praktischen Lebens wie die
Kategorien für diejenige des theoretischen. Wie es apriorische
Erkenntnis der Natur nur dadurch gibt, daß ihre Gesetze vom
Verstände als seine eigenen Funktionsformen erzeugt werden, so
ist ein allgemeingültiges und notwendiges Sittengesetz nur dadurch
möglii'h, daß der reine Wille sich selbst das Gesetz gibt. Sowenig
von einer gegebenen Natur apriorische Erkenntnis, sowenig ist
wahre Sittlichkeit unter einem nur empfangenen Gesetze möglich.
Die Kriterien der theoretischen und der praktischen Kritik sind
genau parallele Gedanken. Allein während die Berechtigung einer
apriorischen Erkenntnis durch die Kategorien sich darauf zurück-
führen ließ, daß ihre die Erfahrung produzierende Funktion in
der Erfahrung selbst nachgewiesen wurde, muß die Kritik der
praktischen Vernunft einen anderen Weg einschlagen.
Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit der synthetischen Ur-
teile a priori, welche die praktische Vernunft als sittliche Gesetze
aufstellt, ist nur denkbar unter Voraussetzung der Autonomie.
Ein Wille aber, der lediglich sich selbst das Gesetz gibt und von
diesem aus die Handlung mit allen ihren Folgen bestimmt, ist
ein Akt, welcher zwar als Ursache eine unabsehbare Reihe von
Wirkungen hat, welcher aber selbst nicht mehr nach dem natur-
gesetzlichen Prinzip als die Wirkung einer Ursache angesehen
werden kann. Eine solche Funktion nennt Kant Kausalität
durch Freiheit. Der autonome Wille ist derjenige, welcher
nicht durch einen empirischen Triebinhalt, sondern ledighch
durch das Vernunftgesetz bestimmt ist: ein solcher ist innerhalb
der Kausalkette der Erscheinungen nicht möglich, er ist vielmehr
das Vermögen, eine Kausalreihe von vom anzufangen. Autonomie
also gibt es nur, insoweit es einen dem Kausalnexus der Er-
scheinungen nicht unterworfenen freien Willen gibt. Die Freiheit
ist also das letzte Prinzip, auf welches die Analyse des sittlichen
Lebens hinausläuft, und das Ergebnis dieser Untersuchungen ist
dahin zusammenzufassen, daß es allgemeingültige und notwendige
Sittlichkeit nur unter der Bedingung der Freiheit gibt. Nach dem
Prinzip der Kritik der reinen Vernunft würde nun die menschliche
226 Kants praktische Philosophie.
Willenstätigkeit daraufhin untersucht werden müssen, ob es in
ihr Freiheit gibt. Allein diese Untersuchung ist nicht möglich,
und in sie darf deshalb gar nicht erst eingetreten werden. Denn
die Kritik der reinen Vernunft hat nachgewiesen, daß in der Er-
fahrung und ihrer theoretischen Erkenntnis niemals Freiheit ge-
funden werden kann. Alle Erscheinungen sind unbedingt dem
Grundsatze der Kausalität in der Weise unterworfen, wie es die
zweite »Analogie der Erfahrung« ausgesprochen hat, d. h. daß jede
Erscheinung durch eine andere Erscheinung bedingt ist. So ist
durch die Kritik der reinen Vernunft festgestellt worden, daß
nach der Bedingung des sittlichen Lebens nicht wie nach den-
jenigen des theoretischen Jn der Erfahrung selbst gesucht werden
kann. Raum, Zeit und die Kategorien sind in der Erfahrung
selbst anzutreffen, denn sie bilden deren konstituierende Formen,
und die Transzendentalphilosophie ist in diesem Falle nur die
Reflexion auf Tätigkeiten, aus denen das Wesen der Erfahrung
selbst besteht. Freiheit aber ist in der Erfahrung niemals an-
zutreffen. Sollte deshalb die Entscheidung der Frage, ob die
Apriorität, auf welche das Sittengesetz Anspruch erhebt, berechtigt
sei, durch eine theoretische Erkenntnis, wie es bei den parallelen
Untersuchungen der Kritik der reinen Vernunft der Fall war,
gewonnen werden, so müßte dieser Anspruch gerade so wie der-
jenige der Metaphysik zurückgewiesen werden. Denn sowenig wie
die'^intellektuelle Anschauung^" ist die^Freiheit in dem erfahrungs-
mäßigen Bestände des menschlichen Geistes aufzufinden. Allein
schon die Kritik der reinen Vernunft verhielt sich doch beiden
Begriffen gegenüber nicht ganz gleichmäßig. Bei dem einen ergibt
sich aus der Tatsache unserer sinnlichen Anschauungsweise, daß
wir Menschen eine intellektuelle nicht haben können. Bei der
Freiheit dagegen wurde in der dritten Antinomie die Möglichkeit
gewonnen, daß der naturnotwendige Ablauf der Willensent-
scheidungen, den die Erfahrung zeigt oder postulieren muß,
nur die "^Erscheinung? eines intelligiblen Charakters sei, dem
die Kausalität durch Freiheit ohne Widerspruch als Merkmal
zugesprochen werden könne. So gibt die Kritik der reinen Ver-
nunft die Jlöglichkeit der Freiheit* für den Menschen als jntelli-
gibles Wesen zu, während sie diejenige einer "^ intellektuellen An-
schauung für die Erkenntnistätigkeit des Menschen ablehnen muß.
Der Olaube a priori. 127
Allcnlin^s deck«'!! sich dcv koöinolo^Mschc Freiheitsbc^^rifl (Irr tnm-
yzciKleiitalcii Dialektik und der et bische Freiheitshegriff der Kritik
der praktischen Vernunft nicht volLständiL! : jener bedeutet den
inteUigibhui Charakter, dem als Erscheinung der empirische Mensch
entspricht — dieser besagt eine Fähigkeit des Willens, sich mit
Ausschluß aller empirischen Motive lediglich durch das Sitten-
gesetz selbst zu bestimmen. Allein das gemeinsame Moment beider
Begriffe liegt in der übersinnlichen Realität der Persönlichkeit:
sie wird theoretisch als möglich erwiesen, um dann praktisch als
notwendig behauptet zu werden.
Die Kritik der praktischen Vernunft stützt sich also aus-
drücklich auf diejenige der theoretischen, indem sie es als von
dieser erwiesen ansieht, daß über die Realität der^Freiheit, welche
als die Bedingung des sittlichen Lebens deduziert worden ist, die
auf Erfahrimg beschränkte Erkenntnis nicht zu urteilen, d. h.
sie nicht zu bejahen und nur für den Umkreis der Erscheinungs-
welt zu verneinen imstande ist. Damit ist innerhalb der tran-
szendentalen Methode der Gesichtspunkt gewonnen, daß über die
Berechtigung der Apriorität, welche das Sittenge ^etz beansprucht,
die theoretische Erkenntnis nicht absprechen darf, imd daß jeder
Versuch, auf einem solchen Wege diese Berechtigung zu begründen
ebenso verfehlt ist wie derjenige, sie zu bestreiten. Die prak-
tische Überzeugung ist also von dem theoretischen Wissen voll- /
ständig unabhängig; sie kann von ihm weder Unterstützung hoffen ^
noch Bestreitung befürchten. Hier gibt Kant jener Scheidung
der Moral von der Metaphysik, welche vor ihm stets in der Weise
aufgetreten war, daß man dem Wissen gegenüber das empirische
Gefühl betonte, eine Vertiefung bis in die innerste Analyse der
menschlichen Vernunft. Nicht das vage Gefühl des einzelnen,
sondern die das gesamte menschliche Leben erfüllende und zu-
sammenhaltende Überzeugung von einer absolut verbindenden Würde
der sittUchen Gesetzgebung stellt er den metaphysischen Speku-
lationen und der empirischen Erkenntnis gleichmäßig gegenüber.
Wenn sich gezeigt hat, daß diese notwendige und allgemeingültige
Überzeugung vom Wissen weder Bestätigung noch Widerlegung zu
erwarten hat, so ergibt sich für sie, daß sie lediglich durch sich
selbst besteht, und daß ihre Apriorität niemals theoretisch bewiesen,
aber auch niemals theoretisch angegriffen, daß sie nur^ geglaubt
128 Kants praktische Philosophie.
werden kann, aber auch geglaubt werden soll. Niemand ist ein
sittlicher Mensch, der nicht von der absoluten Allgemeingültigkeit
und Notwendigkeit einer sittlichen Verpflichtung, mag sie in ihrem
besonderen Inhalte noch so sehr empirisch bedingt sein, der nicht
von der Apriorität des kategorischen Imperativs überzeugt ist,
und diese Überzeugung ist ein integrierender Bestandteil der mensch-
lichen Vernunft: sie ist der absolute Grundsatz der reinen prak-
tischen Vernunft. Es ist vergebens, die Berechtigung dieser
sittlichen Überzeugung theoretisch erweisen, vergebens, sie unter-
graben zu wollen. Sie ist da als die absolute Tatsache des sitt-
lichen Bewußtseins, und an ihre Realität zu glauben ist eine all-
gemeine Notwendigkeit der menschlichen Vernunft. Wie es sich in der
Kritik der reinen Vernunft um die Auf v\^eisung eines allgemeinen
und notwendigen Wissens handelt, so in der Kritik der praktischen
Vernunft um diejenige eines allgemeinen und notwendigen
Glaubens. Dieser aber kann seinem Begriffe nach nicht auf ein
Wissen gestützt, sondern nur aufgedeckt und aus den wechselnden
Verhüllungen seiner empirischen Gestaltung herausgeschält werden.
Ist nun der zentrale Inhalt dieses sittlichen Glaubens die
apriorische Geltung des Sittengesetzes, so muß er sich auf alle
diejenigen Bedingungen erstrecken, unter denen das letztere allein
möglich ist. Der praktische Glaube realisiert danach alle die-
jenigen Ideen, welche als Bedingungen des sittlichen Lebens
deduziert werden können. Aber diese Reahsation geschieht nicht
in der Form des Wissens, sondern in derjenigen des Glaubens.
Wenn daher Kant auf diesem Grunde eine ethische Meta-
physik des Übersinnlichen aufbaut, so darf man diesen
»moralischen Beweis« niemals als einen Beweis im theoretischen
Sinne auffassen. Man hat Kant sehr bald so mißverstanden, als
ob die Grundzüge dieses Teils seiner Lehre etwa folgende wären:
das sittliche Leben ist eine Tatsache, diese Tatsache ist nur
möglich unter den Bedingungen der Freiheit und der übersinn-
lichen Welt, folglich ist erwiesen, daß auch die Freiheit und die
übersinnliche Welt existieren. Ein solcher »Beweis« Uefe allen
Grundsätzen der Transzendentalphilosophie und dem Resultat der
Kritik der reinen Vernunft strikte zuwider, und wer ihn der
Kantischen Lehre imputiert, der kann sich nicht wundern, wenn
er in ihr nur einen großen Widerspruch zu erblicken vermag.
Dio l'ostulate. 129
In Wahilioit i.st Kants Ai<;unH'ntation eine solche ad homincm,
und sie spricht: du {glaubst an dio Notwendigkeit und All<^'cmcin-
j^ültigkeit des Sittcn^esetzes, du mußt also auch an alle Be-
din«j;un«^en glauben, unter denen «diese allein möglich ist. Diese
IkHÜngungen sind die Freiheit und die übersinnliche Welt: folglich
mußt du, sofern nicht deine ganze sittliche Überzeugung hinfällig
werden soll, notwendig auch an die Realität der Freiheit und der
übersinnlichen Welt glauben. Deshalb nennt Kant die Ideen, auf
welche sich die Wirksamkeit des praktischen Glaubens erstrecken
muß, die Postulate der reinen praktischen Vernunft.
In diesem Sinne gilt es, was Schiller gesagt hat, daß diese Lehre
dem Menschen, was sich nicht beweisen läßt, »ins Grewisseii_
hineinschiebt <<.
Hier erscheinen nun in der praktischen Philosophie jene Ideen
wieder, welche die theoretische nur als die höchsten, für die
Erkenntnis unerfüllbaren Aufgaben des Denkens ansehen durfte,
und so erklärt es sich, daß diese Aufgaben dort nicht sowohl in
theoretischen als in praktischen Motiven ihre Wurzeln haben.
Aber sie erscheinen in etwas veränderter Reihenfolge und Ge-
stalt. Denn den Ausgangspunkt dieser Metaphysik des sitt-
lichen Glaubens muß die Idee der Freiheit bilden, auf welche
die Analyse des sittlichen Bewußtseins als auf ihre Grundlage
hingeführt hatte. Sofern wir an der Notwendigkeit und All-
gemeingültigkeit einer sittlichen Verpflichtung festhalten wollen,
müssen wir glauben, daß unser Wille imstande ist, sich selbst
Gesetze zu geben und danach seine Handlungen zu bestimmen,
d. h. daß er frei ist. Sonst wiu:de wohl vor Kant der Versuch
gemacht, theoretisch zu beweisen, daß es Willensfreiheit gibt, und
daraus die sittliche Gesetzgebung abzuleiten, also das Sollen durch
das Können zu begründen. Kants praktischer Glaube geht den
umgekehrten Weg. Er geht von der kategorischen, undiskutier-
baren tlberzeugung des Sollens aus und gewinnt aus ihr die sitt-
liche Gewißheit des Könnens. Für ihn gilt der praktische Satz:
»du kannst, denn du sollst«.
Die Glaubensoewißheit von der Freiheit hat aber ihre wesent-
liebste Bedeutung gerade darin, daß sie zugleich die Gewißheit
von der Realität einer übersinnlichen Welt von Dingen
an sich enthält. Denn da Freiheit in dem Q;esämten Umkreise
o
Windeltand, Gesch. ä. n, Philos. H. 9
130 Kants praktische Philosophie.
der Sinnenwelt nicht angetroffen werden kann, so muß sie einer
übersinnlichen Welt angehören. Da alle Erscheinungen dem Gesetz
der Kausalität unterworfen sind, so ist Freiheit nur bei denlDingen
an sich, zu suchen. Unsere Überzeugung also davon, daß
unser Wille frei ist, realisiert den für die theoretische
Philosophie nur problematischen Begriff der^Dinge an
sich/ Unser sittliches Bewußtsein zwingt uns zu glauben, daß
es neben unserer Erfahrungswelt noch jene andere Welt gibt,
welche die Erkenntnis nur als möglich ansetzen konnte, und
rechtfertigt es, daß unsere Vorstellungswelt das Reich der Er-
scheinungen genannt wurde. Im moralischen Glauben müssen wir
daran festhalten, daß wir nicht nur Erscheinungen in der Sinnen-
welt, sondern zugleich Personen in der inteliigiblen Welt sind.
Unsere sittliche Selbsterkenntnis zeigt uns, daß wir Doppelwesen
sind, und daß unser Leben sich auf der Grenze einer similichen
und einer übersinnlichen Welt bewegt. Als Sinnenwesen sind wir
den Gesetzen des Raumes und der Zeit und der Kategorien imter-
worfen, als intelligible Wesen sind wir frei und geben uns selbst
das Weltgesetz der Pflicht. Als empirischer Charakter sind wir
in der gesamten Entwicklung unseres Willenslebens naturnotwendig
bedingt; aber dieser empirische Charakter ist lediglich die uns
erkennbare Erscheinungsform unseres inteliigiblen Charakters,
der das wahre Wesen dieser Erscheinungen bildet und die Ver-
antwortung dafür trägt. Die Stimme dieses intelHgiblen Charakters
wird im empirischen durch das Gewissen laut. Denn so sehr
unser Wissen ims lehren mag, daß unsere einzelne Willensent-
scheidung nach unentfliehbaren Naturgesetzen erfolgt, so sagt uns
doch unser sittliches Bewußtsein, daß dieser unser ganzer em-
pirischer Charakter die Erscheinung des inteliigiblen ist, der ver-
möge seiner Freiheit hätte anders sein können. Die Notwendigkeit
ist nur die dem Wissen zugängliche Erscheinung unseres Wesens, die
Freiheit ist dieses innere Wesen selbst. So löst Kant die Anti-
nomie von Freiheit und Naturnotwendigkeit durch den Phäno-
menalismus, und seine Lehre vom inteliigiblen und empirischen
Charakter ist eine tiefsinnige begriffliche Formulierung jenes
Platonischen Mythos, welcher für den notwendigen Prozeß der
Willensentscheidun^en einen außerzeitlichen imd vorweltlichen Akt
der freien Wahl des Individuums verantwortlich machte. In der
Metaphysik (loa Übürslnulicbon. 131
Tat liegt beiden nahe verwandten r^ehrcn das gemeiasarne Bc-
ötieben zugrunde, die wissenschaftliche Einsicht in den psycho-
logischen Mechanismus dea nieiLschlichen W illcuslebeas mit dem
sittlichen Bewußtsein der Verantivortlichkeit zu vereinigen. Bei
Kant gelingt dies, indem der Begriff der Freiheit, welcher in
seinem ethischen Sinne die Bestimmtheit des »reinen« Willens durch
die Form des Gesetzen bedeutet, zugleich in der Transzendental-
psycliologie mit demSntelligiblen Charaktet des Individuums, der
eich »auch anders hätte entscheiden können«, gleichgesetzt wird.
Nachdem so durcli den Glauben an das Sittengesetz derjenige
an die Freiheit und an die Realität einer übersinnlichen Welt
von Dingen an sich begründet worden ist, meint Kant, diese
praktische Metaphysik noch weiterführen zu können. Aber er
benutzt dazu ein Argument, welches ihn über den Standpunkt
seiner moralphilosophischen Grundlegung hinaus und teilweise zu
früheren Lehren zurückführt. Jene wunderbare Verknüpfung des
Sinnlichen mid des Übersinnhchen im Wesen des Menschen spiegelt
sich in dem Antagonismus unseres natürlichen und unseres sitt-
lichen Trieblebens. Jenes hat zum obersten Prinzip die Glück-
sehgkeit, dieses die Erfüllung des Sittengesetzes, welche wir als
Tugend bezeichnen. Aber die menschliche Natur ist nur eine,
und diese Einheit verlangt eine höchste Synthesis beider Seiten
unseres Wesens. Da aber nach dem Primat der praktischen
Vernunft diese Synthesis nur in der Unterordnung des sinnlichen
unter das übersinnliche Moment bestehen kann, so ergibt sich
daraus der synthetische Satz, daß für unser sittliches Bewußtsein
die ^ Tugend ' allein würdig ist, die Glückseligkeit zu erlangen.
Während nun Kant vorher den vollen Rigorismus gewahrt hat, zu
lehren, daß die sittliche Tugend in der bedingungslosen Unterwerfung
unter das Pflichtgesetz ohne jede Rücksicht auf die Glückseligkeit
bestehe, stellte er als den Begriff des höchsten Gutes die For-
derung hin, wir müßten die Welt so denken, daß in ihr die Tugend
der Glückseligkeit nicht nur würdig, sondern auch teilhaftig
sei. Derselbe Mann, der das Lebens ernst genug faßte, um den Aus-
spruch zu tun, daß wir nicht da seien, urn glücklich zu werden,
sondern um unsere Schuldigkeit zu tun — derselbe konnte sich von
dem letzten Rest des in der Seele des Menschen begründeten Eudä-
monismus so wenig losreißen, daß er es für einen integrierenden
"" 9*
Vi
132 Kants praktische Philosophie.
Bestandteil des allgemeinen und notwendigen sittlichen Glaubens
hielt, davon überzeugt zu sein, in letzter Instanz müsse dem
sittlich Handelnden auch die höchste Glücksehgkeit zufallen.
Darauf begründen sich dann die beiden anderen Postulat e der
praktischen Vernunft. Es ist Tatsache, daß in dem jrdi^chen
Leben der tugendhafte Mensch durch seine sittliche Handlungs-
weise die Glückseligkeit nicht erreicht. Muß deshalb an die Realität
des höchsten Gutes geglaubt werden, so ist es nicht in der sinn-
lichen Erscheinungswelt, sondern nur dadurch zu erreichen, daß
der Mensch eine über diese hinausgehende außerzeitliche Existenz
in der übersinnlichen Welt führt. Das ist die kritische Idee von
der Unsterblichkeit der menschlichen Seele. Aber auch in
einem imsterblichen Leben ist die Realisation des höchsten Gutes
an und für sich noch nicht gesichert; denn es liegt nicht im
Begriffe der kausalen Naturnotwendigkeit, daß durch sie die
Tugend auch in dem progressus in infinitum die Glückseligkeit
herbeiführte. Der Verwirklichung des höchsten Gutes sind wir
also nur dadurch sicher, daß wir an eine moralische Welt-
ordnung glauben, welche den naturnotwendigen Prozeß so ein-
gerichtet hat, daß er in letzter Instanz die Tugend zur Glück-
seligkeit führt. Eine solche gemeinsame Ordnung und gegenseitige
Ergänzung der sinnlichen und der übersinnlichen Welt ist nur durch
ein allerhöchstes und absolutes Wesen, durch die Gottheit, denk^
bar. So gewiß daher der Glaube an die Realität des höchsten Gutes,^
so gewiß muß auch derjenige an die Existenz der Gottheit sein.
So verwandeln sich die drei Ideen der theoretischen Vermmft,
die kosmologische, psychologische und theologische, in die drei
Postulate der praktischen Vernunft: Freiheit, Unsterbhchkeit und
Gottheit. Der allgemeine und notwendige Glaube des sittlichen
Bewußseins involviert für Kant eine Metaphysik der übersinnlichen
Welt, welche begrifflich die Überzeugung zum Ausdruck bringt,
daß wir freie und unsterbliche Wesen sind, die einer sittlichen,,
durch die Gottheit bestimmten Weltordnung angehören. Die
menschliche Vernunft zeigt sich in ihrer praktischen Tiefe an denj
Zusammenhang einer übersinnlichen Welt gebunden, von der das
theoretische Bewußtsein nur die Andeutungen ihrer Möglichkeit
und auch diese nur deshalb besitzt, weil es seine Aufgaben durch
den sittlichen Willen bestimmt erhält.
i
Voriiuiirtf^'liiube. 13.'i
Erst in diesem ZusaniinenliHii^e be<^rcift man völli;/ KaiitH
Stelluiiij; zur Metaphysik, iasofcni darin eine Vorstellung' von der
übersinnlichen und unerlahrbaren Welt erwartet wird. Als Er-
kenntnis des Wissens ist sie unmö;.;Iich, als Oberzeu^^un^ de.s
Gliiubens ist sie nicht nur möglich, sondern aucli all^^eniein und
notwendig in der sittliclien Vernunft des Menschen be^^ründet.
Deshalb aber kann die Lehre von der letzteren, die Ethik, weder
auf irgendwelche besondere erfahrungsmiißige Grundlage, noch auf
irgend einen Versuch wissenschaftlicher Metaphysik, sondern ledig-
lich auf das »transzendentale Faktum« des sittlichen Bewußtseins
imd auf die Analyse seiner Apriorität gebaut werden. Weit davon
entfernt, aus einer theoretisch gewonnenen Weltanschauung ab-
leitbar zu sein, ist die Moral vielmehr der einzige Weg, auf dem
man eine Überzeugung von dem übersinnlichen Wesen der Dinge
erwerben kann: diese aber kann niemals bewiesen, sondern immer
nur geglaubt werden.
In diesem Sinne bezeichnet Kant den Vernunftglauben als den
»orientierenden« Gesichtspunkt, welcher die kritische Philosophie
in der »Nacht des Übersinnlichen« leitet und allein davor be-
hütet, sich darin zu verirren. Von der wissenschaftlichen Er-
kenntnis aus gibt es keinen Weg, der zum Übersinnlichen führte.
Aber auch jenes besondere mystische Wahrnehmungsvermögen,
welches als ein eigenes Gefühl die unmittelbare Gewißheit der
übersinnlichen Mächte gewähren soll, verwirft Kant, weil in dem
Umkreise der menschlichen Erfahrung ein solches nicht gefunden
werden kann. Mag man es mit den positiven Religionen eine
"" übernatürliche Offenbarung, mag man es mit den Mystikern und
Gefühlsphilosophen eine ^übersinnliche Wahrnehmungsfähigkeit"
nennen, — für Kant gilt es als Einbildung und im günstigen
Falle als Schwärmerei. Die letzte Entscheidung darüber, ob
derartige für Offenbarungen oder übersinnliche Wahrnehmungen
ausgegebene Vorstellungen für wahr und für göttlich gelten sollen,
kann in einer allgemeingültigen und notwendigen Weise nur durch
die Vernunft, aber freilich nicht durch die theoretische, sondern nur
durch die praktische gewonnen werden. Aller Inhalt der Vorstellung
von der übersinnlichen Welt muß vor das sittliche Forum gebracht
und auf seine Übereinstimmung mit dem Vernunftglauben geprüft
werden. Der autonome Wille kann ein Gebot nur darum als göttlich
2^34 Kants praktische Philosophie.
ansehen, weil es sittlich ist und weil er von dem Glauben an die
Realität einer durch die Gottheit bedingten moralischen Weltordnung
erfüllt ist. In dieser Hinsicht gilt es von den empirischen Formen
des Glaubens: »an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen«. An die
Stelle der theologischen oder metaphysischen Moral setzt also
Kant seinen Begriff der Moraltheologie: der apriorische Glaube
der praktischen Vernunft bedingt eine Metaphysik des Übersinn-
lichen, welche in der Idee der Gottheit gipfelt.
Die Religionsphilosophie würde jedoch auf diese Postulate
des moralischen Glaubens beschränkt bleiben, wenn sie sich nur
auf die Überzeugungsquelle der reinen praktischen Vernunft be-
schränken wollte. Das religiöse Leben aber ist eine empirische
Tatsache. Es enthält die Beziehungen des wirklichen Menschen
zu den Ideen der praktischen Vernunft. Religionsphilosophie . ist
daher im kritischen System eine Betrachtung des wirklichen
religiösen Lebens des Menschen unter dem Wertgesichtspunkte
jener Metaphysik des Glaubens. Sie ist keine Beschreibung des
so unendlich vielspältigen religiösen Lebens der Menschheit, sie ist
auch keine wissenschaftliche Begründung irgendwelcher religiösen
Lehren, sondern sie hat festzustellen, was innerhalb des religiösen
Lebens durch die bloße Vernunft, d. h. durch die praktischen
Postulate bedingt ist. Wenn jede der bestehenden Religionen
vermöge ihres historischen Ursprungs mit empirischen Elementen
versetzt ist, so hat die Religionsphilosophie aufzudecken, welches
die Artikel sind, die durch den rein morahschen Vernunftglauben
dem religiösen Bewußtsein als wesentliche Bestimmungen auf-
genötigt werden. / In der Ausführung dieser Aufgabe geht dann
freiHch der kritische Philosoph auf die Lehren und Überzeugungen
der positiven Religion, in der sein eignes geistiges Leben er-
wachsen war, des pietistisch gefärbten Protestantismus, soweit
wie irgend möglich ein und sucht für sie eine Vereinbarkeit mit
seinen philosophischen Theorien zu gewinnen, die z. T. weit über
das hinausgeht, was er ohne diese Rücksicht daraus allein hätte
logisch ableiten können. ;
Wie es nun für die M^etaphysik der Natur notwendig war, der
Erfahrung den allgemeinen Begriff der Bewegung zu entnehmen,
um ihn unter die Kategorien zu subsumieren, so muß die
Religionsphilosophie die Fundamentaltatsache des religiösen
KeligiunsphiloBopbie. IHf)
Leben« konstatieren, um sie auf den nn)ralisch<5n Glauben zu
beziehen. Bei dieser Analyse ^eht Kant von dem Grund Verhältnis
des empirischen Menschen zum Sitten^ijcsetz aus. Das Sitten-
«»esetz erscheint in unserem Bewußtsein als ein kat<!«^orischer
Imperativ, als eine Forderung, Velche unbedingt erfüllt werden
soll, aber es nicht ist. Der imperative Charakter des Sitten-
gesetzes würde inimöglich sein, wenn der Mensch es voUkonunen
erfüllte. Wenn daher jenes »Soll« für den moralischen Glauben
die Überzeugung des Könnens mit sich führt, so involviert es
nicht weniger auch das Bewußtsein von seiner empirischen Nicht-
erfüllung. Es gibt für den Menschen kein sittliches Bewußtsein
ohne dasjenige der eigenen sittlichen Un Vollkommenheit und Un-
angemessenheit. Daraus entwickelt sich ein ebenso notwendiges
und allgemeines Vernunftbedürfnis, von dieser Unvoll-
kommenheit frei zu werden, und da die Un Vollkommenheit im
sittlichen Bewußtsein selber als ein unentfHehbarer Bestandteil
der menschlichen Natui erkannt wird, so gestaltet es sich zu
dem Wunsche, davon erlöst zu werden. So erweist sich das
Erlösungsbedürfnis, in seinem moralischen Sinne gefaßt, als
ein notwendiger Bestandteil der allgemeinen menschlichen Or-
ganisation, als ein Ausfluß der praktischen Vernunft, und in ihm
sieht Kant die Grundtatsache des religiösen Lebens. ""
Hieraus begreift sich die nahe und innige Beziehung, in welcher
Kants Religionsphilosophie zum Christentum steht. Denn dies
ist diejenige Religion, welche jenen tatsächlichen Kern alles reli-
giösen Lebens am klarsten und eindringhchsten zum Bewußtsein
gebracht und auch ihrer ganzen dogmatischen Gestaltung zugrunde
gelegt hat. Deshalb entwickelt sich Kants religionsphilosophische
Lehre so, daß sie zu zeigen sucht, in welchem Sinne die Grund-
lehren des Christentums aus bloßer Vernunft aufzufassen und als
Anwendungen des rein moralischen Glaubens auf die Tatsache des
Erlösungsbedürfnisses zu begreifen sind. Ihren Ausgangspunkt
bildet daher die philosophische Untersuchung der Lehre, welche
dem Erlösungsbedürfnis den schärfsten Ausdruck gibt: derjenigen
von der Sünde. Die Tatsache der Erlösungsbedürftigkeit beruht
zweifellos irgendwie in der menschlichen Doppelnatur, vermöge
deren dem Sittengesetz der natürliche Mechanismus mit seinem
Glückseligkeitsstreben antagonistisch gegenübersteht. Aber das
136 Kants praktische Philosophie.
Glückseligkeitsbestreben der sinnlichen Triebfedern kann unmöglich
als ein an sich böses bezeicbnet werden, da böse ebenso wie gut
ein moralisches Kriterium bedeutet und innerhalb des Trieb-
mechanismus der Erscheinungen allein keinen Sinn hat. Die
Prädikate gut und böse sind weder in der intelligiblen noch in
der sensiblen Welt allein von Anwendung. Wo nur das Sitten-
gesetz und wo nur das Naturgesetz gilt, da gibt es weder gut
noch böse. Gut und böse setzen ein Verhältnis der sinnHchen
und der sittlichen Triebfedern voraus. Nun verlangt das Sitten-
gesetz die Unterordnung des sinnlichen unter den sittlichen Trieb,
und den Willen, in welchem dieses Verhältnis wirklich obwaltet,
nennen wir gut oder heilig. In der Tat aber ist im Wesen des
Menschen dies richtige Verhältnis der Triebfedern von Anfang
an umgekehrt. Mit dem Bewußtsein des Sittengesetzes verbindet
sich in dem natürlichen Menschen doch eine Unterordnung dieses
/ Gesetzes unter seine sinnlichen Triebfedern. Diesen ursprünglichen
»Hang«, das erkannte Sittengesetz beiseite zu setzen und dem
sinnlichen Triebe zu folgen, nennt Kant das Kadikalböse in
der menschlichen Natur. Es gilt ihm als eine Tatsache, aber
eine unbegreifliche Tatsache. Es ist weder aus dem empirischen
Charakter des Einzelnen noch aus einem tatsächlichen Verhältnis
^ in der Zeit aufeinanderfolgender Exemplare der menschlichen
Gattung zu erklären. Der Sündenfall ist weder als eine einmalige
und in ihren Folgen sich vererbende noch als eine in jedem
Individuum neu sich vollziehende Tatsache zu begreifen. Aber
die biblische Erzählung davon ist als der symbolische Ausdruck
unseres Bewußtseins von dieser Tatsache anzusehen. Der moralische
Glaube, der dem empirischen Charakter gegenüber den intelligiblen
kennt, hat in dem letzteren das verantwortliche Wesen für die
gesamte böse Erscheinungsform des ersteren zu suchen, und wenn
der Mensch auch dieses Verhältnis ganz und gar nicht begreift,
so bekommt doch dieser Glaube dadurch für ihn seine er-
Bchüttemde Gewalt, daß er dadurch überzeugt sein muß, es sei
nicht die naturnotwendig bedingte Erscheinungsform, sondern es
Bei sein innerstes intelligibles Wesen selbst, welches die Schuld
an jenem Radikalbösen trage.
Hieraus ergibt sich die gesamte Aufgabe des religiösen Lebens
von selbst. Es ist der Kampf des guten und des bösen
VürliiiltniH zum (üiribtcntuin. 137
Prinzips im Menschen, der zum endlichen Sie^e des Guten
fiUiren soll, welches wir als das absolute Bewußtsein der Ver-
pflichtung in uns tragen. Diese Aufgabe läuft also darauf hinau«,
daß jenes böse Verhältnis der Triebfedern aufgchobt^n und das
entgegengesetzte hergestellt werHe. Aber jener Gegensatz ist
nicht graduell, sondern prinzipiell. Die geforderte Umkehrung
kann daher nicht durch einen allmählichen Prozeß, nicht durch
das empirische Geschehen im empirischen Charakter vonstatten
gehen. Die Umkehrung setzt vielmehr voraus, daß in jenem
intelligiblen Charakter, der den Grund des Radikalbösen bildete,
eine vollkommene Umlvehrung und damit eine spontane Neu-
schöpfung seines ganzen Wesens stattfinde. Diese Tat des
intelligiblen Charakters, diese seine freie »Wiedergeburt« ist
nun ebensowenig zu begreifen wie der Ursprung des Bösen. Eine
Veränderung in der intelligiblen Welt kann nie erkannt werden,
weil für sie die Bedingung, unter der allein Veränderungen er-
kannt werden können, die Anschauung der Zeit, fortfällt: ja,
eigentlich ist sogar schon der Begriff der Veränderung, weil er
die Zeit voraussetzt, für die intelligible Welt inhaltlos. Aber
geglaubt werden muß die Möglichkeit einer solchen Wiedergeburt,
weil ohne sie eine Aufhebung des Radikalbösen und eine Er-
füllung des Erlösungsbedürfnisses unmöglich wäre. Ist nun auch
nie zu verstehen, wie die Wiedergeburt zustande kommt, so sind
doch dem Glauben die Bedingungen davon zugänglich. Der
gesamte Kampf gegen das Böse ist bedingt durch die Idee des
Outen in uns. Aber auch diese wäre unwirksam, wenn wir nicht
von ihrer Realisierbarkeit überzeugt wären. Die erlösende Macht
kann also nur in der Lebendigkeit bestehen, mit welcher das Ideal
eines absolut guten und vollkommenen Menschen in unserem
Bewußtsein wirkt. Diese Vorstellung des sittlichen Ideal-
menschen und der Glaube an seine Realität ist deshalb die
wahre Bedingung zur Herbeiführung der Wiedergeburt. Insofern
als in diesem Ideale die göttliche Weltordnung zur vollen Herr-
schaft gekommen ist, ist es die Vorstellung eines götthohen
Menschen oder des Gottmenschen, und insofern als dies Ideal
eben dasjenige unserer eigenen praktischen Vernunft ist, bildet
der Gottmensch die erlösende Kraft, durch welche die Wieder-
geburt herbeigeführt wird. In diesem sittlichen Menschheitsideal
138 Kants praktische Philosophie.
und in dem Streben nacli seiner Herbeiführung werden die
Schwäclien der Individuen versöbnt und ibre Sünde gesübnt.
Die praktische Liebe zu diesem Ideale tritt stellvertretend ein
für die an sich untilgbare Schuld, welche das Kadikalböse auf
sich geladen hat.
In diesem Geiste gibt Kant seine moralphilosophische Deutung
der Grundlehren des Christentums. Er ist weit entfernt von jener
Yerständnislosigkeit, mit welcher der landläufige Rationalismus
ein paar metaphysische Begriffe zu populärem Moralisieren
ausbeutete. Mit dem ganzen Ernst seiner tief sittlichen Natur
begreift er das Bedürfnis der Erlösung als einen notwendigen
Trieb der menschlichen Vernunft, begreift in tiefsinniger Weise die
Formen, welche es aus rein sittlichen Gründen annehmen muß,
und zei^t, daß gerade die Unterscheidun2:slehren des Christen-
tums mit diesen Formen identisch sind. Er kennt keine Natur-
religion als rationale Erkenntnis. Aber er hält auch das religiöse
Leben nicht für illusionär, sondern für einen notwendigen Aus-
fluß der sittlichen Vernunftbetätigung, und er begreift im be-
sonderen, daß das Christentum als das höchste Produkt der Ent-
wicklung des religiösen Lebens dessen wahren Kern zu seinem
tiefsten Gehalte gemacht und die Ideen des vernünftigen Glaubens
symbolisch in seinen Dogmen niedergelegt hat. In diesem Sinne
steht Kant, wie schon Lessing, der spekulativen Theologie, welche
die Mystik des Mittelalters und der Reformationszeit zu entwickeln
suchte, verhältnismäßig sehr nahe, nur daß es niemals theoretische
Erkenntnisse, sondern immer nur Bedürfnisse des sittlichen Glaubens
sind, die er als den allgemeinen und notwendigen Inhalt der posi-
tiven Formulierungen nachzuweisen suchte. Deshalb waren die
Rationalisten über das intime Verhältnis seiner Religionsphilosophie
zum positiven Christentum enttäuscht. Während sie selbst die
Mysterien des Christentums verwarfen, sah Kant gerade darin
den symbolischen Ausdruck sittlicher Vernunftbedürfnisse. Je
mehr ihnen die Begründung der Religion auf Moral sympathisch
war, um so mehr scheuten sie davor zurück, daß Kant diese Be-
gründung im vollen Ernste nahm, daß er sich nicht mit den
Redensarten von Gottgefälligkeit und Vervollkommnung im un-
sterblichen Leben begnügte, sondern die unergründlichen Geheim-
nisse aufdeckte, welche das sittliche Bewußtsein mit seinen Be-
I{» ^,'riff der Kirrhe. 139
(liirfnissoii und seinem OlauIxMi in »ich trügt, und daß er diese
(Vhcimnisso dann in der positiven Religion wiederfand, die jene
abueschütlelt zu haben glaubten, und deren Ernst sie in Walir-
heit nie begriffen hatten.
Aber auch liier erhellt Kants Stellung über den Parteien aus
der nicht minder begründeten Antipathie, womit der konfessionelle
Orthodoxisnius die »Religion imierhalb der Grenzen der bloßen
Vernunft« aufnahm und verfolgte. Denn wie das rationale, so
wies der Philosoph auch das positive Element in seine Schranken
zurück. Weshalb treten denn, mußte gefragt werden, die Grund-
sätze des Vernunftglaubens nicht in der rein moralischen, sondern
in der positiven Form der Dogmen auf? Der Grund ist, antwortet
Kant, die sittliche Schwäche der menschlichen Natur. Der Mensch
ist unfähig, dem sittlichen Trieb allein zu folgen, solange ihm
dieser nur in der ehernen Majestät des Sittengesetzes entgegen-
tritt. Er vermag es nicht zu befolgen, solange er es nur als das
selbstgegebene Gesetz auffaßt, was es in Wahrheit allein sein kann.
Es wird für ihn erst dadurch motivkräftig, daß 3r es sich in der
Form göttlicher Gebote vorstellt. Nun ist diese Vorstellung als
Glaube berechtigt, wenn sich auch gezeigt hat, daß für die philo-
sophische Begründung Gebote immer nur deshalb als göttlich
gelten können, weil sie als'^ sittlich erkannt sind, und niemals um-
gekehrt. Aber der Mensch in seiner empirischen Motivation und
in dem wirklichen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Leben
muß den Glauben an ihren göttlichen Ursprung als eine die
Wirkung des Sittengesetzes unterstützende Triebfeder benutzen.
Hier liegt der Ursprung und die Berechtigung für alle weiteren
Formen, welche unter Mitwirkung empirischer Vorstellungsmomente
der reine Vernunftglaube in den positiven Religionen angenommen
hat. Allein dieses Moment würde für sich nur zur Ausbildung
individueller Überzeugungen auf dem Gebiete des religiösen Lebens
führen. In Wahrheit handelt es sich um die Betätigung des
praktischen Glaubens in der menschlichen Gemeinschaft. Daraus
entsteht das Vernunftbedürfnis, daß diejenigen, welche in diesem
Glauben miteinander einig sind und leben wollen, einen ethischen
Staat miteinander bilden: die Kirche. Dem Begriffe nach oder
dem Glaubensideale nach ist diese eine allgemeine und notwendige
sittliche Gemeinschaft aller wiedergeborenen Menschen. Es ist.
-,.<^
140 Kants praktische Philosophie.
wie Kant sagt, das Reich Gottes auf Erden. Diese Herrschaft
der sittUchen Weltordnung im irdischen, sinnlichen Leben der Er-
scheinung ist das höchste Gut unter dem Gesichtspunkte der
religiösen Entwicklung der Menschheit in der Geschichte. Es ist
das höchste Gut für die Gattung, und sein Begriff enthält ebenso
wie der des höchsten Gutes für das Individuum, nämlich die
Identität von Tugend und Glückseligkeit, das Ideal einer Ver-
söhnung des Gegensatzes der beiden Reiche, der Freiheit und der
Notwendigkeit, der Sittlichkeit und der Natur.
Allein dies ist das Ideal, an dessen Realisierbarkeit geglaubt
werden muß, und das doch in der Erfahrung nicht realisiert wird.
In der Erfahrung gestaltet sich die Idee der Kirche zu den em-
pirisch begründeten Formen, die in der Geschichte aufgetreten
sind. Ihr Verhältnis und ihr Wert bestimmt sich somit nach der
Annäherung, welche sie an das Ideal der »unsichtbaren Kirche«
enthalten. In dieser Beziehung steht Kant durchaus auf dem
historischen Standpunkte von Lessings Erziehung des Menschen-
geschlechts, nur mit dem Unterschiede, daß er an die Stelle der
Erziehung durch Offenbarung' die Entwicklung des allgemeinen
und notwendigen Vernunftbedürfnisses setzt. Die Geschichte der
Religionen ist der Prozeß der sittlichen Aufklärung, worin die
Menschheit immer vollkommener und immer reiner sich jenes
apriorischen Glaubens bewußt wird, welcher in der Organisation
der Vernunft selbt begründet ist. Diese Entwicklung gipfelt bisher
im Christentum, und sie hat mit dessen Grundlehren das Ziel der
vollen Selbsterkenntnis des praktischen Glaubens in symbolischer
Form erreicht. Aber dieser Prozeß ist damit nicht abgeschlossen.
Die unsichtbare Kirche ist nicht da, und wo die sichtbaren Kirchen
sich selbst als den Abschluß dieser Entwicklung fixieren wollen,
wo sie sich für mehr halten als für historisch bedingte Erziehungs-
anstalten zu der unsichtbaren Kirche, wo das »statutarische
Moment«, ohne welches sie in ihrer empirischen Organisation nicht
möglich sind, den wahrhaft moralischen Sinn, um deswillen allein
es Wert und Bedeutung hat, zu verdrängen sucht, wo aus der
Religion des sittlichen Glaubens der Kultiisdienst der Gunst-
bewerbung geworden ist — : da, sagt Kant, werden die sichtbaren
Kirchen zu Brutstätten der Sklaverei und der Heuchelei, Auch
Kant vollzieht also wie der Rationalismus eine Kritik der posi-
Mctnpljysik dor Sitten. 141
tiven durch die »reine« Uolipirm. Aber die letztere ißt für ihn
nicht ein System natürlicher Wahrheiten, sondern der sittliche
(Jlaiibr, welcher mit dem apriorischen Krlösungsbedürfnis d<*8
Menschen auf notwendi<^^e und ^H^'t^'nicingültige Weise verknüpft
ist. Ob diese »reine« Reli<^i()n empirisch existiert oder nicht, ist
ebenso gleichgültig^ für ihre Geltung, wie die empirische Realität
des sittlichen Handelns für die Geltung des Sittengesetzes. Beide,
Sittengesetz und Vernunftglaube, sind absolute Ideale, welche die
Entwicklung des empirischen Menschenlebens bedingen und seinen
Wert beurteilen, ohne jemals darin völlig erreicht zu werden.
Aus der Apriorität des Sittengesetzes folgt also die Metaphysik
des Glaubens und in ihrer Anwendung auf das Erlösungsbedürfnis
des Menschen die Eehgionsphilosophie. Aber auch eine Meta-
physik in dem kritischen Sinne einer apriorischen Erfahrungs-
erkenntnis muß sich daraus ergeben, eine Metaphysik der
Sitten, welche zwar nicht wie diejenige der Natur eine allge-
meine und notwendige Erkenntnis eines wirklichen Geschehens,
sondern eine allgemeine und notwendige Gesetzgebung der sitt-
lichen Welt enthalten wird. Das Prinzip darin muß die Subsumtion
der empirischen Verhältnisse des menschhchen Lebens unter das
Sittengesetz und die daraus sich ergebende Ableitung besonderer
Imperative sein. Nun verlangt das Sittengesetz von uns Hand-
lungen, die aus einer bestimmten Gesinnung hervorgehen sollen.
Vom sittlichen Standpunkt aus gesehen, sind Handlungen und
Gesinnungen insofern nicht zu trennen, als aus der rechten Ge-
sinnimg die rechte Handlung naturnotwendig folgt. Aber in dem
lediglich äußeren Zusammenhange des menschlichen Lebens können
jene Handlungen ausgeführt werden aus persönlichen Interessen,
aus Gewohnheit, durch inneren oder gar äußeren Zwang. Hier
ist also die Handlung möglich ohne die Gesinnung. Jener Gegen-
satz von Moralität und Legalität teilt danach die Metaphysik
der Sitten in zwei Teile. Wenn alles, was das Sittengesetz ver-
langt, eine Pflicht genannt wird, so bezeichnet Kant die von
demselben erforderten Gesinnungen als Tugen^ pflichten, die
von ihm verlangten äußeren Handlungen dagegen als Rechts-
pf lichten und behandelt danach gesondert die metaphysischen
Anfangsgründe der Tugend- und der Rechtslehre.
Für die Ableitung der besonderen sittlichen Vorschriften zeigt
][42 Kants praktische Philosophie.
sich der kategorische Imperativ nur in der Form des Satzes von
der Wahrung der Menschenwürde, aber in dieser auch völüg
ausreichend. Er bestimmt positiv und negativ die Richtung von
Kants Tugendlehre. Wenn die tugendhafte Gesinnung in der
Wahrung der Menschenwürde besteht, so kann es PfHchten ledig-
lich zwischen Mensch und Mensch geben. Deshalb schließt die
Kantische Lehre Pflichten sowohl gegen höhere als gegen niedere
Wesen aus. PfHchten gegen Tiere gibt es nach ihm überhaupt
nicht: es ist eine Pflicht gegen uns selbst und unsere Neben-
menschen, die Tiere » menschlich « zu behandeln. Von einer Pflicht
gegen Gott dagegen kann nur in dem religiösen Glauben, nicht
aber in der Sittenlehre die Rede sein, welche die Anwendung des
kategorischen Imperativs auf die Erfahrung zu ihrer Aufgabe
hat. Auf der anderen Seite teilen sich positiv die deduzierbaren
Pflichten in solche ein, welche der Mensch gegen sich selbst, und
solche, die er seinen Nebenmenschen gegenüber hat. In der Aus-
führung dieses Systems kommt nun die Persönlichkeit Kants in
ihren bewunderungswürdigen und in ihren durch das Alter schon
bis zur äußersten Schroffheit ausgebildeten Zügen zur Geltung.
Der ganze Mann steht vor uns, wenn wir ihn verlangen sehen,
daß der Mensch niemals sich selbst wegwerfe, daß er nie sein
Recht mit Füßen treten lasse, daß er alles tue, was körperlich
und geistig ihn in seinem ganzen sittlichen Werte aufrecht er-
halten und befördern soll. Charakteristisch ist es dabei, daß
Kant unter diese Pflichten des Menschen gegen sich selbst auch
die Wahrhaftigkeit rechnet. Nicht etwa in schädlichen sozialen
Folgen, sondern darin allein sucht er die Verwerflichkeit der
Lüge, daß sie den Menschen vor sich selber schändet, daß sie
in ihm das Gefühl seiner sittlichen Würde rettungslos untergräbt.
Den Wert der Wahrhaftigkeit schätzte er so hoch, daß er diese
Pflicht des Menschen gegen sich selbst sogar über die Pflichten
gegen andere zu stellen keinen Anstand nahm. In einem eigenen
Schriftchen entwickelt er, daß es kein sittliches Recht gäbe, »aus
Menschenliebe zu lügen«, daß selbst die Rettung eines Freundes
aus sicherer Todesgefahr nicht durch eine Lüge erkauft werden
dürfe. Denn es sei besser, daß das sinnliche Leben eines Menschen
zugrunde gehe, als daß die sittliche Würde eines anderen ver-
nichtet werde. Auch in seiner Pädagogik, bei deren Ausführung
Tuffoudlohro. 14.*{
er im all<]jcinoiiUMi den RousseauHcheii Unin<lHiitze!i foI;^te, oIhkj
sie weiter als durch die feinen Bemerk un^^en seiner tiefen iVlenschen-
kenntnis zu fördern, legt er ein llauptj^ewicht darauf, daß das
Kind zur Wahrhaftigkeit crzogou und ihm von Anfang an der
sittliche Widerwille gegen die Lüge eingepflanzt werde, welche
den Anfang aller Laster bilde. Nur, wo das Kind lügt, seien die
schwersten, die persönliche Würde beeinträchtigenden Strafen am
Platze; als die Folge der Lüge müsse das Kind es fühlen, daß
es »nichtswürdig« sei. Bezeichnend ist ferner für den bis ans
Wunderliche streifenden Ernst, mit dem Kant das gesamte eigene
Leben unter den kategorischen Imperativ stellte, daß er in seinen
kasuistischen Fragen sich damit abmühte, festzustellen, in welcher
Weise und in welchen Grenzen die Pflichten des Menschen gegen
sich selbst bei den kleinen Wechselfällen des Lebens aufrecht zu
erhalten seien, und daß er dabei bis zu den Regeln der Diät,
der gesellschaftlichen Vergnügungen, der Höflichkeit usw. herab-
stieg. Aber so pedantisch diese Betrachtungen klingen mögen,
sie sind doch nur der Beweis davon, daß er selbst ausführte, was
er als oberstes Prinzip für das gesamte sittliche Leben verlangte:
immer und überall sich der Pflicht bewußt zu bleiben, nur nach
ihr zu handeln und bei jedem Schritte im praktischen Leben die
ernste Selbstprüfung vor dem Gewissen nicht zu versäumen.
In der Behandlung der Pflichten gegen andere tritt der Rigoris-
mus Kants noch viel stärker hervor. Hier wehrt er sich vor allem
dagegen, denjenigen Handlungen einen sittlichen Wert zuzuerkennen,
welche aus einem natürlichen Gefühle hervorgegangen sind; die
»Pathologie des Mitleids« gehört nicht in die Moral. Werm ein
Mensch anderen wohltut, weil er sie nicht leiden sehen kann, so
mag das recht günstige Folgen haben und in dem gemeinsamen
Leben recht hoch angeschlagen werden; einen sittlichen Wert hat
die Handlung nur dann, wenn sie aus der Gesinnung hervor-
gegangen ist, die das Wohltun als eine Pfhcht erkannte und es
im Gegensatz zur eio;enen Neiguncr ausführte. An dieser Stelle
schreitet Kant in der Tat bis zu der Konsequenz, daß es aus-
sieht, als sei für eine wdrküch sittliche Handlung eine recht un-
sittliche natürliche Neigung des Individuums die unentbehrliche
Bedingung, und als könne die Sittlichkeit gerade am meisten durch
die sogenannten guten Neigungen des Herzens gefährdet werden.
144 Kants praktische Philosophie.
In dieser Eichtung zielten die bekannten Schillerschen Epi-
gramme gegen den Kantischen Rigorismus, und sie trafen wirklich
dessen wunde Stelle. Kants Begriffsbestimmung des sittlichen
Lebens setzt einen Sieg des sittlichen Triebes in seinem Kampfe
mit dem sinnlichen voraus, und so würde für ihn das Sitten-
gesetz dadurch seinen Wert verlieren, daß das Naturgesetz des
psychologischen Mechanismus den gleichen Erfolg vorwegnähme.
Der Wert des Sittengesetzes und der dadurch bedingten freien
Handlung besteht für Kant gerade darin, daß es etwas anderes
verlangt, als das Naturgesetz herbeiführen würde. Das Soll hat
nur Sinn im Gegensatz zum Muß. Der imperativische Charakter
der Kantischen Ethik involviert durchaus eine Auffassung des
natürlichen Trieblebens, wonach es, sich selbst überlassen, nicht
notwendig, sondern höchstens einmal zufällig zu legalen Resul-
taten führen, meistens aber dem Sittengesetz direkt in seinen
Folgen , widersprechen würde. Deshalb ist Kant notwendig der
Vertreter eines ethischen Pessimismus. In dem unbedingten
*^Soll des Sittengesetzes liegt es als Voraussetzung, daß der natür-
liche Trieb ihm widerspricht. Der Mensch empfindet das Sitten-
gesetz nur deshalb als eine Norm, weil sein natürlicher Trieb
sich dagegen auflehnt. Dieser ethische Pessimismus kam in der
Lehre vom Radikalbösen zum Vorschein, und er ist es, der Kant
prinzipiell von Rousseau trennt, für welchen die ursprüngliche
Güte der menschlichen Natur ein unerschütterliches Dogma ge-
wesen war.
In der besonderen Ausführung teilt Kant die Pflichten gegen
andere in solche der Liebe und solche der Achtung ein und findet
schließlich, daß sie sich beide in dem Verhältnisse der Freund-
schaft am vollkommensten vereinigen, demjenigen Verhältnisse,
. welchem er als dem reinsten und sittlichsten, das zwischen
Menschen möglich^ sei, ein begeistertes Lob spricht. Indem er so
/ * ^ die Pflichten der Sittlichkeit auf die persönlichen Verhältnisse
^ *'^ der einzelnen Menschen beschränkt, steht seine Moralphilosophie
. jy^ ^noch unter der allgemeinen Tendenz des achtzehnten Jahrhimderts,
^\ das den sittlichen Eigenwert des sozialen Lebens prinzipiell nicht
zu begreifen vermochte. Auch seine Ethik bleibt daher im letzten
Sinne individualistisch: der einzelne Mensch in seiner eigenen
sittlichen Arbeit und dem anderen Menschen gegenüber in seinen
RechtB])liilo8ophie. 145
persönliclien Verbilltiiissen, — das ist ihm der Gc<^eri8tand der
sittlichen Gcsetzj^ebung ; den öffentlichen Institutionen steht auch
Kant noch prinzipiell in der Gliederun;^ seiner Lehre mit der
Vorstellung gegenüber, daß sie keiye innere, im eigenthchen Sinne
sitthche, sondern nur die »legale« Gemeinschaft des menschlichen
Lebens enthalten. Und doch hat gerade er in seiner Behandlung
der Formen der Gemeinschaft den kräftigsten Anfang gemacht,
um den sittlichen Zweck, welchen sie zu erfüllen haben, und die
sittliche Grundlage, auf der sie ruhen, auch in der wissenschaft-
lichen Behandlung zum Bewußtsein zu bringen.
Dieses eigentümliche Verhältnis tritt besonders darin hervor,
daß bei Kant die Beziehungen zwischen der Rechtsphilosophie
und der Ethik merkwürdig geteilte und kompHzierte sind. Ver-
möge seiner Scheidung von Legalität und Moralität hält er an
der von Thomasius und nach diesem von Wolff hervorgehobenen
Bestimmung fest, daß die Rechtslehre es nur mit der äußeren
Gestaltung des Menschenlebens zu tun habe. In ihr fragt es
sich um Handlungen und gar nicht um Gesinnungen. Sie ist
das Reich der Äußerlichkeit und des Zwanges. Handlungen
können erzwungen werden, Gesinnungen nie. Anderseits aber ist
doch auch für Kant das rechtliche Zusammenleben der Menschen
eine Betätigung ihres praktischen Wesens, und es muß deshalb
auch in ihm das allgemeine Prinzip der praktischen Vernunft
zur Geltung kommen. Mit anderer Begründung, in ganz anderen
Formen und Formeln tritt also Kant doch schließlich dem Ge-
danken von Leibniz bei, daß die Rechtsphilosophie nur einen
Teil der allgemeinen praktischen Philosophie zu bilden und von
deren Grundprinzipien auszugehen habe, wenn er auch jede An-
knüpfung der Rechtslehre an die Moral, d. h. an die Lehre von
den besonderen sittlichen Pf hebten des einzelnen Menschen ab-
lehnt. Ist es deshalb auch nach Kants Ausdrucksweise kein
eigentlich »sittliches« Verhältnis, welches er prinzipiell der philo-
sophischen Erklärung des Rechtslebens zugrunde legt, so ist ihm
doch auch dieses ein Ausdruck der praktischen Vernunft und
aus deren Grundgesetz abzuleiten. Dies Grundgesetz ist das-
jenige der Autonomie oder der Freiheit. Freiheit ist für Kant
der Zentralbegriff der praktischen Philosophie, sie ist die Grund-
lage der individuellen Sittlichkeit, sie ist auch der richtende
Windelband, Gesch. d. n. Philos. II. 10
J^46 Kants praktische Philosophie.
Zielbegriff des gemeinsamen Lebens. Denn in dem letzteren muß
die Betätigung der Freiheit der Individuen notwendig Konflikte
herbeiführen. Das politische Leben ist der Kampf der Menschen
um die Betätigung ihrer Freiheit. Wollte nun jeder die Freiheit
nur benutzen, um das sitthche Gesetz durchzuführen, so gäbe
es keinen Konfhkt. Aber der Mensch ist böse, seine Freiheit
wandelt er in Willkür um, und es fragt sich deshalb, ob es Be-
dingungen gibt, unter denen die Willkür des einen gegen die der
anderen durch ein allgemeines Freiheitsgesetz abgegrenzt und da-
durch jene Konflikte vermieden werden können. Den Inbegriff
dieser Bedingungen nennt Kant Kech t.
Hieraus ist sogleich abzuleiten, wie sich Kant zu jener Vor-
stellung verhalten muß, welche das Naturrecht mit dem Namen
der 'angeborenen Rechte bezeichnete. Angeboren ist dem Menschen
nach Kant nichts als die Freiheit und das unveräußerliche Recht
ihrer Betätigung, als die Bestimmung und die Kraft, sich selbst
das Gesetz zu geben, und das Recht, nach einem solchen Gesetz
zu handeln. Alles andere muß auf Grund und vermöge dieser
Freiheit erwQrben sein. Aber auch nicht für sich allein kann das
Individuum ein Rechtsverhältnis erzeugen, sondern ein solches
entsteht erst dadurch, daß es einen Gesamtwillen gibt, der die
Betätigung der Freiheit des einzelnen in gewissen Grenzen und so,
daß sie diejenige der anderen nicht aufhebt, sanktioniert und da-
durch die Ansprüche des einzelnen für die Gesamtheit verbindlich
macht. Ein solcher Gesamtwille ist nur möglich durch den Staat,
und es gibt deshalb für Kant im eigentlichen Sinne des Wortes
ein" Recht ' nur innerhalb des Staates und durch den Staat. Denn
es gehört zum Wesen des Rechts, daß seine Gesetze, da sie sich
auf den äußeren Zusammenhang des Menschenlebens beziehen,
erzwingbar sein müssen, und das sind sie nur durch die Herr-
schaft eines in gemeinsamen Institutionen ausgeprägten Gesamt-
willens. Alle diejenigen Verhältnisse daher, welche unter den
Begriff des sogenannten Privatrechts gehören und die Beziehung
des einzelnen Menschen zum einzelnen anderen regeln, kommen
zwar schon im Naturzustande vor, aber sie gelten in diesem nur
provisorisch und werden erst im Staate » peremtorisch« . Unter
diesen privatrechtlichen Verhältnissen behandelt Kant neben dem
eachlichen Rechte des Eigentums und dem persönlichen Rechte
Staatslehre. 147
des Vertrages das »(liiiglich-persönlichc« Reclit dor EIk; und der
Familie. Diesen Verliältuisseii weiß Kant nur ihre rechtliche
Seite abzugewinnen; gegen die .sittliche Bedeutung der Ehe hat
er sich in einer Weise unzugänglich gezeigt, die kaum durch den
Mangel persönlicher Erfahrung verzeihlich erscheinen kann. Er
behandelt die Ehe nur als ein rechtliches Verhältnis, und sie
kommt in seiner Moral überhaupt nicht vor. Und doch sind es
wiederum sittliche Gründe, Ableitungen aus dem kategorinchen
Imperativ und seinem Verbot, den Menschen jemals nur als Mittel
zu gebrauchen, auf welche er die Begründung der Monogamie als
der einzig rechtüchen Form der Ehe zurückführt.
Für die Lehre vom Staate schließt sich Kant mehr dem Aus-
druck als der Sache nach der Vertragstheorie an. Man muß sich
ganz auf das Wesen der kritischen Methode besinnen, um diese
Lehre nicht mißzuverstehen. Bei den Naturrechtslehrern erscheint
die Lehre vom Vertrag als Erklärung des empirisch-historischen
Entstehens des Staates; bei ihnen enthält sie die Fiktion, daß die
Menschen, nachdem sie die Unmöglichkeit des Naturzustandes
eingesehen hatten, miteinander den Vertrag schlössen, den Staat zu
bilden, und dem Gesamt willen jeder einzelne zu gehorchen. Für
Kant ist ein rechtlich bindender Vertrat nur im Staate selbst
möglich. Wenn er daher davon spricht, daß der Staat auf einen
Vertrag hinauslaufe, so kann das nur so viel heißen, daß, wenn
man für den Staat eine rechtliche Begründung suchen wollte, sie
nur in einem Vertrage gefunden werden kann, der ihn selbst
sehen voraussetzt. Der Staatsvertrag ist deshalb »die regulative
Idee« von einer absoluten Begründung des Staatslebens, welche
aber nur in diesem selbst zu finden ist. Das Staatsleben ist die
absolute Tatsache des gemeinsamen Menschenlebens und die selbst
unbedingte Bedingung für alle einzelnen rechtHchen Formen,
worin es sich darstellt. In der besonderen Ausführung der Staats-
lehre sieht Kant als das Wesen des Staates das Prinzip der Ge-
rechtigkeit an und erwartet die Verwirklichimg der damit gestellten
Aufgabe von der Trennung der Gewalten in die gesetzgebende,
die ausführende und die richtende. Nur bei dieser Trennung ist
die Herrschaft des Gesetzes und der Ausschluß der Ungerechtig-
keit möglich. Die Gesetzgebung aber muß der adäquate Aus-
druck des Gesamtwillens sein; in der gesetzgebenden Tätigkeit
10*
148 Kants praktische Philosophie.
muß deshalb jeder Bürger frei und mit gleichem Kechte wie der
andere mitwirken. Sie ist rechtlicli nur in der »republikanisclien«
Form möglich, aber diese ist mit einer monarchiscben Exekutive
in der konstitutionellen Monarcbie nicht nur vereinbar, sondern
gewährleistet auch in dieser Verbindung am meisten die faktische
Durchführung des Allgemeinwillens. Nur in diesem Sinne be-
grüßte Kant mit lebhafter Zustimmung die republikanischen
Tendenzen der Neubildung der nordamerikanischen Union und
der französischen Revolution. Aber das Staatsideal war für ihn
dasjenige Lockes und Montesquieus, und die Republik schien ihm
die verdammungswürdigste aller Staatsformen in dem Augenbhcke,
wo sie die absolute Geltung der Gesetze preisgibt und der Will-
kür der Individuen Spielraum läßt. In der entgegengesetzten
Richtung einer reinen Herrschaft des Rechts bewunderte Kant
den Staat Friedrichs des Großen, in welchem ihm das Pflicht-
bewußtsein des kategorischen Imperativs poHtisch verkörpert
entgegentrat. Er fand zugleich in diesem Staate die Bedingung
erfüllt, die er für ausreichend hielt, um die Mitwirkung des
einzelnen an der Gestaltung des öffentlichen Lebens zu gewähr-
leisten: die Freiheit der Meinungsäußerung, die unbeschränkte
Publizität.
Die Aufgabe der Staatsgewalt ist jedoch mit der Durch-
führung der Rechtsvorschriften noch nicht erschöpft, und ihre
Befugnis, in das Leben des Individuums einzugreifen, beschränkt
sich nicht darauf, daß die Befolgung der staatlichen Gebote und
Verbote durch die äußere Macht erzwungen wird. Zu dem sitt-
lichen Begriffe der Gerechtigkeit, den der Staat reahsieren soll,
gehört nach Kants Ansicht auch ihre Bewährimg in der Form
der Vergeltung. Damit begründet sich das Stra frech t nicht
als ein Ausfluß der empirischen Bedürfnisse imd Nötigungen,
nicht als ein Mittel, dem Gesetze Achtung zu verschaffen und
vor seiner Verletzimg abzuschrecken, auch nicht als ein päda-
gogisches Mittel zur Besserung, sondern als der öffentliche Akt
der Vergeltung, welche durch die Gerechtigkeit, wie Kant meint,
gefordert ist. Das sittUche Bewußtsein verlangt, daß das Ver-
brechen durch Leiden gesühnt werde, und diese Sühne muß, weil
der einzelne dazu nicht imstande ist, vom Staate vollzogen
werden. In diesem strengen Sinne verlangt Kant die Beibehaltung
GeschiclitsphiloiOphio. 149
der Todesstrafe. Wenn die Geiechti«^k'eit untergeht, so hat es
keinen Wert mehr, daß Menschen leben. Ohne jede Rücksicht
auf die Nützlichkeit ist die Strafe um ihrer sitthchen Notwendig-
keit willen zu vollziehen. Kantfi Strafrechtstheorie, so angreifbar
ihr Prinzip sein mag, wonach das Gefühl der Vergeltung ein
integrierender Bestandteil dos sittlichen Bewußtseins sei, enthält
doch anderseits den besten Beweis davon, daß ihm der Staat
nicht nur ein Mechanismus für die Einrichtung des äußeren Zu-
sammenlebens der Menschen, sondern im tiefsten Sinne eine
Institution der praktischen Vernunft, ein Produkt der Sittlichkeit
war. Seine ganze Staatslehre führt auf den Grundgedanken
hinaus, daß das Rechtsleben eine Ordnung des äußeren Zusammen-
lebens der Menschen nach den Prinzipien der sittlichen Vernunft
sein soll.
Er tritt gerade damit in den lebhaftesten Gegensatz gegen
alle früheren Theorien, welche den Zweck des Staates immer in
der Richtung des Eudämonismus gesucht hatten, mochten sie die
individuelle oder die soziale Glückselio^keit zur Richtschnur
nehmen. Von diesem Gesichtspunkt aus vertiefte sich aber zu-
gleich für Kant die Auffassimg der Geschichte. Und wenn nicht
in der Ausführung, so hat er in der prinzipiellen Grundlegung
der Geschichtsphilosophie die wichtigste Förderung dadurch
gegeben, daß er die naturalistische Auffassung Herders, wie er sie
in ihrer Einseitigkeit bekämpfte, seinerseits durch einen höheren
Gesichtspunkt ergänzte. Auch Kant muß anerkennen, daß es in
der Geschichte sich um einen in seinen einzelnen Fortschritten
durchaus naturnotwendig bedingten Prozeß handelt, daß also das
Prinzip der natürlichen Entwicklung das einzige ist, nach welchem
der Zusammenhang der einzelnen Tatsachen erkannt werden kann.
Aber für ihn soll die »Philosophie der Geschichte« mehr leisten
als die bloße Zergliederung des viel verschlungenen Gewebes, das
ihren Gegenstand bildet. Es ist der Mensch, der sich in ihr
entwickelt, und der Mensch ist nicht nur die Blüte der sinnlichen
Welt, sondern zugleich ein Glied der übersinnlichen. Seine Ent-
wicklung muß daher auch unter dem Gesichtspunkte des Zwecks
betrachtet werden, der die Grundkategorie der sitthchen Welt
ausmacht. Die Geschichte ist philosophisch nicht zu verstehen,
wenn man nicht ihr Ziel kennt. Erst aus der Kenntnis der
150 Kants praktische Philosophie.
Aufgabe, die durch diese Entwicklung erreicht werden soll, ist
die Möglichkeit einer Beurteilung davon gegeben, ob die einzelnen
Bewegungen wirkliche Fortschritte oder Kückschritte waren. Ge-
schichtsphilosophie als Beurteilung des historischen Prozesses gibt
es nur unter dem teleologischen Gesichtspunkte. Der Naturalismus
wendet ihn heimlich an; aber sein teleologischer Gesichtspunkt
ist dabei die Glückseligkeit in gröberer oder feinerer, in indivi-
dueller oder sozialer Form: bei Kant ist der Zweck der Geschichte
der sittliche. Auf der anderen Seite aber muß man sich aus
demselben Grunde klar machen, daß von jenem allmählichen
Übergange aus der Natur in die sittliche Welt, den Herder als
echter Leibnizianer in seinen »Ideen« darzustellen gesucht hatte,
bei der Kantischen Auffassung des Gegensatzes der sinnlichen
und der übersinnlichen Welt keine Kede sein konnte. Hier
verlangten die Grundbegriffe seines Systems von ihm eine ganz
andere Formulierung der Fragen und der Antworten, und in
jenen kleinen Schriften, die diese Fragen behandeln, ist die ganze
Überlegenheit, mit welcher Kant die Prinzipien der Aufklärung
zugleich zu den seinigen machte und in ihre Schranken zurück-
wies, am klarsten erkennbar. Er stand hier vor dem größten
Problem, welches die Geister des XVIH. Jahrhunderts bewegte,
vor der Frage nach dem Verhältnis der menschlichen
Kultur zur Natur. Die Herrschaft des Eudämonismus hatte
die Antwort darauf immer in der Richtung ausfallen lassen, daß
die Bedeutung, der Ursprung und der Zweck der Kultur in der
Herbeiführung einer größeren Glückseligkeit bestehen müsse, als
die Natur dem Menschen als Sinneswesen ursprünglich zu gewähren
imstande sei. Und diese Antwort hatte schließhch in Rousseau
zu der Einsicht geführt, daß die Kultur diesen Zweck verfehle,
daß sie schlimmer sei als der Naturzustand, und daß man des-
halb mit ihr brechen müsse, um einen neuen und besseren Weg
einzuschlagen. Diese Gedanken des Genfer Philosophen hat Kant
in ihrer ganzen Energie aufrecht erhalten, und er hat sich über
die Rousseausche Auffassung nur dadurch erhoben, daß er aus
seiner Philosophie selbst einen anderen Begriff der Kultur mit-
brachte.
Kultur ist eine bewußte Arbeit des menschlichen Willens und
hat daher ihren Wert in dessen sittHchem Charakter. Wenn von
Anfang und Ziel der Welt^CHcliichte. 151
einem KaturzuBtiinde des Menachen die Rede sein soll, so hat das
nur insofern Sinn, als man sich das natürliche, auf die Glück-
seligkeit gerichtete Trieblebeu noch ohne jedes Bewußtsein einer
sittlichen Aufgabe denkt. Dieser Zustand ist derjenige der ab-
soluten Unschuld, der paradiesische Zustand. Er ist keine Tat-
sache der Erfahrung. Aber wenn man ihn — und Kant tut es
mit Rousseau — als der Kultur vorhergegangen denkt, so ist eine
allmähliche Entwicklung des sittlichen Bewußtseins aus diesem
natürlichen Triebzustande nicht zu begreifen. Die Erkenntnis des
Sittengesetzes ist eine einmalige; sie kann nur darauf beruhen,
daß es an seiner Übertretung zum Bewußtsein kommt. Wenn
das Radikalböse in der menschlichen Natur zumDurchbruch kommt,
dann muß damit auch das Gewissen und das Bewußtsein der
sittlichen Aufgabe erwachen. Der »mutmaßliche Anfang« der
Weltgeschichte, d. h. die durch die Erfahrungserkenntnis zwar
ermöglichte, aber nicht zu begründende Idee eines solchen Anfangs
ist der Durchbruch des Radikalbösen, die Auflehnung gegen das
in dieser Auflehnung selbst zum Bewußtsein kommende Sitten-
gesetz, — es ist der Sündenfall. Und nachdem so das sittliche
Bewußtsein entsprungen ist, bildet die ganze menschliche Ge-
schichte nur die Arbeit des Willens, diesem Sittengesetze an-
gemessen zu werden. Mit dem Sündenfall ist der Naturzustand
verloren, und für immer verloren. Denn das sittliche Bewußtsein,
einmal vorhanden, kann niemals zugrunde gehen. Aber mit dem
Naturzustande ist auch die unbefangene Erfüllung des Glückselig-
keitstriebes für immer dahin. Aus dem Paradiese vertrieben, er-
fährt der Mensch das Leid der Arbeit. Nun beginnt der Anta-
gonismus der Kräfte, nun verschränkt sich und drängt sich das
Spiel des gesellschaftlichen Lebens, nun wächst die Tugend und
mit ihr das Laster. Immer schärfer werden die Kräfte ange-
spannt, aus der Lösung jeder Aufgabe entspringt eine schwierigere,
und während die sittliche Arbeit ihrem Ziele, wenn auch unsäg-
lich langsam und dabei nicht einmal stetig entgegenrückt, kom-
plizieren sich die äußeren Verhältnisse des Menschenlebens der-
artig, daß das Glück des Individuums immer zweifelhafter und
immer seltener wird. Jeder Gewinn an der sittlichen Kultur wird
durch einen Verlust an der natürhchen Glückseligkeit des In-
dividuums erkauft. Die sittliche Arbeit des Menschen ist nur
"L.
152 Kants praktische Philosophie.
möglich als Resignation auf seine natürliche Glückseligkeit. Die
Kultur mit ihrer ganzen Arbeit und dem ganzen Leid, das not-
wendig und in stets steigendem Maße mit ihr verknüpft ist, wäre
darum in der Tat, wie sie für Rousseau erschien, eine Torheit
und ein Frevel an dem Glück des einzelnen, wenn die Glück-
seligkeit' die Bestimmung des Menschengeschlechts wäre, und wenn
nicht mit diesem Verzicht auf das paradiesische Glück das höhere,
das absolute Gut der Sittlichkeit gewonnen würde. Der Trost
dafür, daß der einzelne bei dieser Kulturarbeit verliert, kann nur
darin bestehen, daß das Ganze gewinnt. Aber dieser Gewinn des
Ganzen liegt nicht in der Glückseligkeit, sondern in der Herbei-
führung des sittlichen Zwecks. Denn von einem Wachsen der
Gesamtglückseligkeit bei steigendem Unglück aller einzelnen zu
sprechen, wie es wohl geschehen, ist eine Absurdität. Nun ist das
höchste Prinzip aller Sittlichkeit die Freiheit. Wenn es daher
einen Zweck geben soll, der die Kultur begreiflich macht und
ethisch so rechtfertigt, daß um seinetwillen ihre notwendigen
Schäden ertragen werden müssen, so ist es die Freiheit. Die
menschliche Geschichte ist die Geschichte der Freiheit.
Aber die Geschichte ist der Prozeß des äußeren Zusammenlebens
vernünftiger Wesen. Ihr Ziel ist deshalb das politische, es ist
die Herbeiführung der Freiheit in der vollkommensten Staats-
verfassung. Dieses Ziel würde nicht erreicht sein, wenn etwa
nur ein Staat mit seinen Institutionen dabei angekommen wäre.
Denn er stände dann jeden Augenblick in Gefahr, von anderen
Staaten darin gestört zu werden. Der gegenwärtige Zustand, worin
sich die Staaten miteinander befinden, ist ein Naturzustand, ein
Naturzustand des Kampfes, in welchem alle Mächte der ünsitt-
lichkeit ihr Wesen treiben. In ihm hat der Krieg nur insofern
einen sittlichen Rechtsgrund, als ein Volk in seiner staathchen
Existenz bedroht ist und diese verteidigt. Die Möglichkeit solcher
Bedrohung wäre nur dann ausgeschlossen, wenn es einen wirk-
lichen Rechtszustand der Staaten untereinander gäbe, wenn die
Idee des yölker rechts verwirklicht wäre. Sie wäre es nur dann,
wenn alle Staaten miteinander einen Bund bildeten, der als oberster
Gerichtshof ihre Streitigkeiten entschiede. An der Notwendigkeit
der besonderen Staatenbildung hält Kant den kosmopolitischen
Träumereien einer Universalrepublik gegenüber auf das ent-
Kritik (li;r Aufklärung. 15.'{
schiedenste fest, ohne jedoch dafür eine nationale Begründun;^ zu
suchen. Für ihn beschränkt sich das Weltbürgcrrecht auf die
allgemeine llospitalilät und Freizügigkeit, und auch dieser Zu-
stand, worin der Bürger des einen Staates nicht mehr, wie es im
Naturzustande geschieht, in dem andern als Feind angesehen
werden soll, ist in seiner Vollkommenheit nui- durch den Staaten-
bund rechtmäßig herbeizuführen. In einen solchen Bund würden U^^
aber nur solche Staaten eintreten können, in denen nicht nur
über die innere Gesetzgebung, sondern auch über die Fragen der
äußeren Politik lediglich der Wille des Volkes entschiede. Eine
)>republikanische« Verfassung aller Staaten und ein schiedsrichter-
licher Bund derselben untereinander würden deshalb die Be-
dingungen des »ewigen Friedens« sein, welchen Kant als das
»höchste politische Gut« in der unendlichen Ferne des Endes der
Weltgeschichte sieht. Weit entfernt von der utopistischen
Schwärmerei, dieses Ende in dem gegenwärtigen Zustande für
herbeiführbar zu halten, legt Kaut diesen idealen Zweck als den
Maßstab an, nach dem allein der Wert der weUgeschichtlichen
Begebenheiten beurteilt werden kann. Es ist immer derselbe
Lessingsche Gesichtspunkt, unter dem auch Kant die Geschichte '^'
der Rehgionen, unter dem er das sittliche Leben des Individuums
nnd unter dem er die gesamte Kulturentwicklung des mensch-
lichen Geschlechts betrachtet. Die sittliche iVufgabe des einzelnen
und die historische Entwicklung der Gattung haben dasselbe Ziel:
die Realität der Freiheit in der Sinnenwelt. Aber dies Ziel ist
eine Idee, deren Verwirklichung in der Unendlichkeit liegt, und
welche die Erfahrung nie realisiert sehen kann. Die Herrschaft
der einen unsichtbaren Kirche, das Reich Gottes auf Erden, die
sitthche Vollkommenheit des Individuums und der ewige Frieden
der Staaten, sie liegen alle an ein und demselben Punkte: an
dem Schneidepunkte der Parallelen.
In dem ^ttlichen Maßstabe, den er an die Beurteilung aller
Entwicklung legt, und in dem Prinzip der nie endenden Arbeit
für ein in der Erfahrung unerreichbares Ziel besteht Kants Größe
der Aufklärung gegenüber. Er teilt mit ihr die unerschütter-
liche Überzeugung, daß es keine Wahrheit gibt, an die der Mensch
glauben darf, als diejenige der Vernunft, und behauptet deshalb,
daß die philosophische Erkenntnis die kritische Norm für alle
154 Kants ästhetische Philosophie.
positiven Fakultäten bildet. Aber wenn das XVIII. Jahrhundert
die Vernunftwahrheit in der theoretischen Erkenntnis zu besitzen
meinte, so zerstört Kant diese Illusion, und wenn die Männer,
die sich für die Aufgeklärten hielten, diese ihre vermeintliche Er-
kenntnis als ein neues Dogma predigten, so tritt Kant dieser
Anmaßung der » Auf klär er ei « auf das schärfste entgegen. Gerade
durch solchen starren Kationalismus beweist das Zeitalter, daß es
kein aufgeklärtes ist. Aber es enthält in sich die Anlagen, es zu
werden. Je mehr das Prinzip zum Durchbruch kommt, daß der
wahre Besitz der Vernunft nur der selbsterworbene ist, daß nicht
die Aimahme sogenannter freisinniger Meinungen, sondern viel-
mehr die selbstprüfende Arbeit des Denkens das Wesen des sich
aufklärenden Geistes ausmacht, um so mehr reift die mensch-
liche Vernunft der sittlichen Bestimmung entgegen, die den tiefsten
Gehalt auch ihres Erkenntnislebens bildet. Nicht Ansichten und
Theoreme, sondern Absichten und Zwecke sind es, welche über
die Erfahrung hinaus dem Triebe der Vernunft genugtun. In
ihnen sich einig zu wissen, an ihrer Durchführung mit dem vollen
Bewußtsein der Menschenpflichten zu arbeiten und in dieser Arbeit
sich mit einer höheren Weltordnung im lebendigen Zusammen-
hange zu glauben : das und das allein ist wahre Aufklärung. Wenn
Kant es aussprach, daß in diesem Sinne sein Zeitalter ein Zeit-
alter der Aufklärung sei, so konnte er es nur insofern sagen, als
er selbst mit seiner Philosophie ihm diesen Charakter aufprägte
und es über sich selbst emporhob.
§ 61. Kants ästhetische Philosophie.
Die Weltanschauung des Kritizismus charakterisiert sich vor
allen anderen dadurch, daß ihre Wurzeln mit vollem und mit
wissenschaftlich sich b ergründendem Bewußtsein nicht lediirlich in
der theoretischen, sondern hauptsächlich in der praktischen Ver-
nunft liegen. Daraus aber entspringt ihr dualistischer Charakter.
Der Dualismus von Ding an sich und Erscheinung, von über-
sinnlicher und sinnlicher Welt, der sich dm^ch Kants ganze Lehre
hindurchzieht, ist derjenige von praktischer und theoretischer Ver-
nunft. Aber es wäre nach jeder Kichtung unrichtig, zu behaupten,
daß die Kantische Lehre in diesem Dualismus aufgehe. Seine
Überzeugung von der innersten Identität dieser beiden Formen
Überwindung des Dualifimu«. 155
der menschlichen Vcrnunfttätigkoit tritt an allen Stellen seiner
Lehre hervor. Die gesamte Arbeit der theoretischen Vernunft
zeigt sich zuletzt durch die Aufgaben bestimmt, welche ihr die
praktische setzt, und die Enerfj^ie der sittlichen Aufgabe findet
anderseits ihre Begründung gerade in dem Widerspruche, worin
sie zu der sinnlichen Natur des Menschen steht. So weisen in
allen ihren Ausgestaltungen die praktische und die theoretische
Vernunft stets aufeinander hin und deuten miteinander auf eine
Einheit, die in keiner von beiden allein vollständig zum Austrag
kommt. In der theoretischen Vernunft hat nur der sinnliche
Mensch seine volle Geltung, nur er ist das Prinzip der Erkenntnis,
und der übersinnliche erscheint nur als eine problematische Grenz-
bestimmung. In der praktischen Vernunft gebietet der übersinn-
liche über den sinnlichen, aber er findet in dem letzteren eine
nur am unendlichen Ziele zu überwindende Schranke für die Er-
füllung seines Zwecks. So einander bestimmend und beschränkend,
verlangen die theoretische und die praktische Vernunft den Be-
griff einer einheitlichen Funktion, worin ihre ursprüngliche Iden-
tität, vermöge deren allein sie jene Beziehungen entwickeln konnten,
selbst zum Ausdrucke kommt. Gäbe es nur theoretische und
praktische Formen und Tätigkeiten der Vernunft, so wäre deren
inniges Ineinandergeflochtensein, welches die Kantische Lehre an
allen einzelnen Punkten aufgedeckt hat, die rätselhafteste aller
Tatsachen. Daher beruht der Abschluß, den Kants Philosophie
in der Kritik der Urteilskraft gefmiden hat, nicht etwa in seinem
persönlichen Triebe zum Systembau, sondern der »systematische
Faktor« ist in seiner tief sachlichen Begründung das eigentlich
entscheidende und vollendende Prinzip der Kantischen Philosophie,
ohne dessen Verständnis und Anerkennung man nur die disiecta
membra philosophi vor sich hat.
Die Überwindung des Dualismus ist nun aber nur in einer
Vernunftfunktion zu suchen, an der das theoretische und das
praktische Leben gleichmäßig beteiligt sind, und welche doch beiden
gegenüber eine ursprüngliche Eigenhaftigkeit behauptet. Hier be-
greift man, weshalb Kant sich jenen Bestrebungen der empirischen
Psychologie anschloß, die neben dem Vorstellen und dem Begehren
eine dritte Grundfunktion der menschlichen Psyche unter dem
Namen des Gefühls einzuführen im Begriffe war. Empirisch zeigt
150 Kants ästhetische Philosophie.
das Gefülil die erforderte Doppelbeziehung auf die beiden anderen
Tätigkeitsweisen. Es enthält einen Vorstellungsinhalt und setzt
diesen in mehr oder minder ausgesprochener Weise mit einem
Zweck in Beziehung, der eine Form des Begehrens darstellt. Der
Dualismus der Kantischen Lehre war daher nur dadurch zu über-
winden, daß sich eine Vernunftform des Gefühls, d. h. eine^^all-
gemeine und notwendige Gefühlstätigkeit nachweisen ließ , und
neben die beiden Fragen: gibt es Erkenntnisse a priori, und
gibt es Begehrungen a priori, trat die dritte: gibt es Gefühle
a priori? '-''\ " ■"'
Die Kritik der Urteilskraft, welche die Lösung dieser Auf-'
gäbe zum Gegenstande hat, gibt ihr noch eine andere Formulierung,
die zu gleicher Zeit ihren Gegenstand erweitert. Zwei Welten
stehen sich in der Kantischen Weltauffassung gegenüber, die sinn-
liche und die sittliche. Die eine ist die Welt der Erkenntnis,
die andere diejenige des Glaubens. Die eine ist das Reich der
Natur, die andere ist das Reich der Freiheit; in der einen herrscht
die Notwendigkeit, in der andern der Zweck. Ein absoluter Dua-
lismus, der zwischen beiden eine unüberschreitliche Kluft be-
festigte, ist durch die Tatsache des menschlichen Bewußtseins
widerlegt, das mit seiner einheitlichen Funktion sich in beiden
gleich heimisch weiß. Können sie aber so unmöglich beziehungs-
los einander koordiniert werden, so ist zwischen beiden nur da-
durch eine Vereinigimg zu finden, daß die eine der andern unter-
geordnet wird. Nun kann in der Kantischen Philosophie kein
Zweifel darüber sein, wie sich bei dieser Unterordnung die Rollen
verteilen sollen. Aus der Unterordnung der praktischen unter die
theoretische Vernunft haben sich alle Irrtümer der früheren Philo-
sophie ergeben. Aus ihr folgte die verfehlte Tendenz, die Moral
auf eine Metaphysik zu gründen, die nicht mögüch ist. Aus ihr
folgte die fatalistische Meinung, daß, was man für Freiheit hält,
nur eine Art der Notwendigkeit sei, — aus ihr der ganze Naturalis-
mus, welcher die Welt der Zwecke als ein Produkt der natür-
lichen Notwendigkeit angesehen haben will. In der Tat kann
man alle die Gegensätze, welche in den einzelnen Lehren zwischen
Kant und z. B. Leibniz oder Hume obwalten, darauf zurück-
führen, daß bei den letzteren die theoretische, bei dem ersteren
dagegen die praktische Vernunft den Primat über die andere
llelloktitTümio UrtoilHkraft. 157
führt. Die A'orlc^^uii;^ {\v>^ [)liil(».s()pliis('hen StuiidpiinkU'H jiuh der
theoretischen in die tMaktische Vernunft ist vielleicht der schürfste
Ausdruck für die totale Umwälzun«;, die in der Geschichte dea
modernen Denkens an den Nansen Kants «zekiiüpft ist.
Die Unterordnun<jj der sinnlichen unter die sittliche Welt ist
nun eine Forderun«j; der praktischen Vernunft, welche im Handeln
des Menschen niemals vollständig erreicht wird. Es fragt sich,
ob nicht auch unsere vorstellende Tätigkeit dieser Forderung ge-
recht werden und wir damit zu einem unmittelbaren Bewußtsein
von der Einheitlichkeit unseres vernünftigen Wesens gelangen
können. Es fragt sich, ob wir das Reich der Natur dem
Reiche der Freiheit untergeordnet denken können, und ob
es, notwendige und allgemeingültige Formen gibt, in denen dies
sogar geschehen muß. Von vornherein ist aber klar, daß diese
Unterordnimi»; niemals eine Funktion der Erkenntnis sein kann.
Denn die Erkenntnis reicht an die sittliche Welt nicht heran und
kann deshalb auch kein Verhältnis der sinnlichen zu ihr erfassen.
In Kants psychologischem Schema wird die Unterordnung all-
gemein mit dem Namen der Urteilskraft bezeichnet. Insofern
diese rein theoretischen Charakters sein soll, muß sie entweder
logisch einen Begriff einem Gattungsbegriffe oder transzendental
eine sinnliche Anschauung einer Kategorie subsumieren. In beiden
Fällen gibt sie eine notwendige Bestimmung für die Erkenntnis
des Gegenstandes. Dieser »bestimmenden« Urteilskraft gegenüber
nennt Kant die reflektierende Urteilskraft diejenige, ver-
möge deren wir einen Gegenstand, ohne damit seine Erkenntnis
zu erweitern, einem Gesichtspunkte der Betrachtung unterwerfen,
deren Prinzip wir nicht der Erkenntnis des Gegenstandes ent-
nehmen, sondern an ihn von uns aus heranbringen. Die Er-~
kenntnis bestimmt den Begriff eines Naturereignisses, indem sie
es aus seinen Ursachen erklärt und allgemeinen Gesetzen unter-
ordnet; wenn wir dagegen dasselbe Ereignis als^ angenehm oder
-unangenehm bezeichnen, so ist dies nur eine Art der Betrachtung,
welche wir von imserm Bedürfnis aus an den Gegenstand heran-
bringen, und womit wir die theoretische Auffassung durch die
reflektierende Urteilskraft überschreiten. Es ist nun klar, daß
alle diese Reflexionen auf das innigste mit den Gefühlen zu-
sammenhängen, die wir den erkannten Gegenständen gegenüber
j[58 Kant8 ästhetische Philosophie. *
haben. Jedes Gefühl ist ein Akt der Synthesis, wodurch wir die
Vorstellung eines Gegenstandes auf unseren subjektiven zweck-
setzenden Zustand beziehen. In diesem Sinne ist die Kritik der
reflektierenden Urteilskraft eine Untersuchung über die apriorischen
Formen des Gefühlslebens.
Jedes Gefühl enthält entweder Lust oder Unlust. Dieses »Ent-
weder oder« kann nur darauf beruhen, daß der Gegenstand, auf
den sich die mit dem Gefühl verbundene Vorstellung bezieht,
irgend einem Bedürfnis entpricht oder nicht entspricht. Im all-
gemeinsten Sinne bezeichnen wir diese Bedürfnisse als Zwecke,
und es ergibt sich daraus, daß alles Zweckmäßige mit einem
Lustgefühl, alles Unzweckmäßige mit einem Unlustgefühl ver-
knüpft ist. In jedem Gefühl haben wir eine Unterordnung des
vorgestellten Gegenstandes imter einen Zweck. Die reflektierende
Urteilskraft also, in ihrer empirischen Gestalt zunächst mit dem
Gefühlsleben identisch, läßt uns die höhere Einheit unseres geistigen
Gesamtwesens darin erkennen, daß sie einen Gegenstand der Er-
kenntnis einem Zwecke unterordnet. Aber diese empirischen Re-
flexionen würden, als vollständig willkürlich und subjektiv, niemals
notwendigen und allgemeingültigen Charakters sein können. Von
der Apriorität jener Vernunfteinheit können wir uns nur dann
überzeugen, wenn es notwendige und allgemeine Reflexionen gibt,
die mit ebenso notwendigen und allgemeinen Gefühlen verbunden
sind.
In der Tat machen wir den Anspruch, solche zu haben. Es
gibt zwei Arten eines solchen Verhaltens unserer Vernunft, und
sie unterscheiden sich dadurch, daß in der einen Art das Be-
trachten, in der andern Art das Fühlen überwiegt. Die eine Art
hat daher mehr Verwandtschaft mit unserer theoretischen Tätig-
keit und ist in Gefahr, für eine Erkenntnis gehalten zu werden.
Erst in der andern tritt das Wesen des Gefühls vollkommen rein
hervor.
Die ganze Tätigkeit der reflektierenden Urteilskraft läuft darauf
hinaus, die natürlichen Gegenstände unter dem Gesichtspunkte
der Zweckmäßigkeit zu betrachten. Darin besteht die Unter-
ordnung der Natur unter die Grundkategorie des Reiches der
Freiheit. Aber diese Zweckmäßigkeit stellt sich in unserer Be-
trachtung entweder so dar, daß wir den Gegenstand, abgesehen
Teleologisclio und Usthetisclie Urteilskrafl. 159
von seiner Wirkung auf uns a('ll).st,^zweikmäßi^ nennen, oihtt so,
daß wir seine Wirkung auf uns als eine zweckmäßige fühlen und
ihn in diesem Sinne^ schön^" oder erhaben 'nennen. Im crsteren
FaUe handelt es sich uni objektive, im zweiten um subjektive
Zweckmäßigkeit der natürlichen Gegenstände. Im erstcren Falle
verfährt die Urteilskraft teleologisch, im letzteren Falle ästhe-
tisch. Im erstercn Falle liegt der Schwerpunkt des Verhaltens
in der verstandesmäßigen Auffassung der Beziehungen des Gegen-
standes, den wir als zweckmäßig beurteilen, und das Gefühl des
Wohlgefallens knüpft sicli nur nebensächlich daran. Im zweiten
Falle liegt das Ursprüngliche in der Gefühlswirkung auf uns, und
erst in der analytischen Untersuchung kommen uns die Zweck-
mäßigkeitsverhältnisse ausdrücklich zum Bewußtsein. Offenbar
aber funktionieren wir in beiden Fällen weder rein theoretisch
noch rein praktisch, sondern derartig, daß wir die Gegenstände
nach Gesichtspunkten betrachten, die aus imseren Bedürfnissen,
seien es auch allgemeine und notwendige, hervorgehen. Insofern
als wir jetzt gewöhnt sind, ein solches Verfahren im allgemeineren
Sinne als ästhetisch zu bezeichnen, darf dieser gesamte Teil der
Kantischen Lehre den Namen seiner ästhetischen Philosophie
tragen, um so mehr, als eine den beiden anderen Teilen der
kritischen Philosophie ebenbürtige Selbständigkeit nur in Kants
Ästhetik liegt, während seine Lehre von der Teleologie eine etwas
zweifelhafte Mittelstellung zwischen der theoretischen und der im
weiteren Sinne ^ästhetischen^ Funktion einnimmt. Insofern die
teleologische Betrachtung nur Betrachtung und nicht Erkenntnis
enthalten soll, bleibt sie ästhetische Funktion. Insofern aber, als
sie die Zweckmäßigkeit im Gegenstande sucht und ihre Objek-
tivität behauptet, wird sie theoretischen Charakters und ist nur
schwer von einer Tätigkeit der Erkennens zu scheiden.
Die Methode des Kritizismus verlangt für die Begründung
teleologischer Urteile a priori zunächst die Analyse der Bi ""■^^
dingungen, unter denen allein sie möglich sind. Diese versteheir^— ^ >^
sich am besten, wenn man wiederum die Veranlassuno;en auf- / / /
sucht, welche in der Erkenntnistätigkeit für eine teleologische
Betrachtung vorhegen. In dieser Hinsicht entwickelt die Kritik
der Urteilskraft zwei neue Grenzbeofriff e der theoretischen Ver-
nunft, und wenn man mit Recht sagen darf, daß Kants erkenn tnis-
1QQ Kants ästhetische Philosophie.
theoretisclie Untersuchungen erst hier ihren Abschluß finden, so
zeigt sich darin am besten, daß die Teleologie ein Grenzgebiet
zwischen dem theoretischen und dem ästhetischen Verhalten der
Vernunft darstellt.
Der eine dieser beiden Grenzbegriffe entwickelt sich aus der
Keflexion auf die Schranken, welche der apriorischen Natur-
erkenntnis durch ihre Form der Gesetzmäßigkeit selbst gezogen
werden. Eine allgemeine und notwendige Erkenntnis des Natur-
verlaufs beschränkt sich von selbst auf die Darstellung der Gesetze,
die darin herrschen. Der besondere Inhalt jeder einzelnen Natur-
erscheinung, ihre spezifische Eigentümlichkeit ist a priori nicht
zu erkennen. Sie ist aber eine Tatsache, und auch sie bedarf
nach dem Gesetze der Kausalität einer Erklärung. Es gehört zu
den tiefsten Einsichten Kants, daß er dieses Bedürfnis der Wissen^
Schaft klar formuliert hat. Es erwies sich als ein fundamentaler
Fehler der Aufklärungsphilosophie, daß sie in ihrer Bewimderung
der großen Gesetzmäßigkeit der Natur den Wert der individuellen
Erscheinung vernachlässigte, und daß nur hie und da die historische
Betrachtung oder die Gefühlsphilosophie darauf aufmerksam wurde.
Kant widerlegt hier zum zweiten Male die Meinung derjenigen,
welche die Tendenz seiner Kritik nur in der Erklärung von Ge-
setzen sehen. Er konstatiert, daß die »Spezifikation« der Natur
nur durch Erfahrung uns zum Bewußtsein kommt und deshalb
für die apriorische Erkenntnis »zufällig« bleibt. Zwar vermögen
wir den spezifischen Charakter der einzelnen Erscheinungen nach
dem Prinzip der Kausalität aus anderen Erscheinungen gesetz-
mäßig abzuleiten: aber deren spezifischer Eigentümlichkeit gegen-
über befinden wir uns wieder in derselben Lage, und dieser Prozeß
geht für die Erkenntnis bis ins Endlose. Wie schon Nicolaus von
Cues und Spinoza, so sieht auch Kant ein, daß vom Unendlichen
und Unbedingten kein Weg zu einem einzelnen Endlichen und Be-
dingten führt, daß vielmehr nur die anfangs- und endlose Reihe
des Endlichen als Erscheinung des Unendlichen aufgefaßt werden
kann. Der Weltlauf in seiner kausalen Notwendigkeit ist ein Ge-
webe von zahllosen Fäden, die sich fortwährend kreuzen und zu
immer neuen Gebilden verschlingen. Vermöchten wir es auch,
den naturnotwendigen Verlauf jedes dieser Fäden, vermöchten
wir es, die notwendigen Folgen, die jedesmal das selbst wieder
(loch dies ganze »System der (^ j
klärte Tatsache bleiben. Jeder ^
Spezifikation der Natur. 161
kausalnotwondigc Zusamnicntieffeii der Fäden haben muß, voll-
kt)mmen zu verfolgen, so winde
Krfahrung<< für uns eine unerl
Weltzustand sei in seiner ganzei\ Ausdehnung als die kausal not-
wendige Wirkung des nächst vorhergehenden nach Naturgesetzen
erklärt, — so würde doch dieser ganze Prozeß nur dadurch er-
klärlich sein, daß irgend ein Anfangszustand den ganzen folgenden
Verlauf bedingt hätte. Es ist unmöglich, nach imserer Zeit-
anschauung einen solchen zu denken, geschweige ihn zu erkennen.
Und selbst wenn wir ihn erkennen könnten, so würde eben dieser
Anfangszustand für uns bloß ein Gegebenes, eine unbegriffene
Tatsache sein. Ja, wir müssen es überhaupt schon als eine glück-
liche, obschon für unsere Einsicht völlig zufällige Tatsache an-
sehen, daß der gegebene Inhalt der Wahrnehmung sich unserer
Organisation wenigstens so weit angemessen erweist, daß ^vir
unsere logischen und transzendentalen Vernunftformen darauf an-
zuwenden imstande sind. Unsere Fähigkeit, in der unendlichen
Mannigfaltigkeit der Erscheinungen uns mit unsern Begriffen zu
orientieren, beruht darauf, daß die Dinge, die wdr erleben, sich
nach Arten, Gattungen und Geschlechtern anordnen und daß die
Reo;elmäßigkeiten des zwischen ihnen stattfindenden Geschehens
sich zu besonderen, allgemeineren und allgemeinsten Gesetzen zu-
sammenfassen lassen. Dieses Zw^eckmäßigkeitsverhältnis zwischen
unseren Denkformen und dem für sie gegebenen Inhalt ist für
unsere Erkenntnis durchaus unableitbar, also »zufälHg<<. Das ist
eben darin begründet, daß der besondere Inhalt der Erfahrung
von uns nicht wie ihre Formen erzeugt, sondern in uns vorge-
funden wird. Eine allgemeine und notwendige Erkenntnis auch
dieses besonderen Inhaltes der Erfahrung und des Grundes seiner
Angemessenheit zu den Formen wäre nur für einen Geist möghch,
der auch den Inhalt durch seine Anschauung erzeugte. Der
Begriff eines solchen Geistes ist in der Kritik der reinen Vernunft
schon aufgestellt worden: es ist der der intellektuellen Anschauung
oder des intuitiven Verstandes*). Für ihn würde auch die
Spezifikation der Natur a priori erkannt sein; denn es wäre ihr
*) Kant braucht hier und auch sonst, namentlich schon in dem Briefe
an M. Herz (vgl. oben S. 43; für diesen Begriff gern den älteren Xamen des
Intellectus archetypus.
Windelband, Gesch. d. n. Philos. II. 11
252 Kants ästhetische Philosophie.
Urlieber*). Es ist nun konstatiert, daß wir Menschen diesen
intuitiven Verstand nicht haben, daß wir ihn auch nicht zu er-
kennen und deshalb nicht einzusehen vermögen, wie er den ge-
samten Weltlauf auch seinem spezifischen Inhalte nach hervor-
bringe; aber es ist ebenso konstatiert, daß die Eeahtät eines
solchen intuitiven Verstandes theoretisch auch nicht geleugnet
werden kann, daß wir vielmehr im sittlichen Bewußtsein den
apriorischen Grund haben, an die Realität eines gemeinsamen
Schöpfers der sinnlichen und der übersinnlichen Welt zu glauben.
Wenn es deshalb ein allgemeines und notwendiges Bedürfnis
unseres Verstandes ist, eine^letzte Ursache für das gesamte System
der Erfahrung mit ihrem uns nur gegebenen Inhalte zu denken,
welchem gegenüber sich doch unsere ganze Organisation der Denk-
tätigkeit als zweckmäßig angepaßt erweist, so ergibt sich daraus
das allgemeine und notwendige Bedürfnis, die Natur so zu be-
trachten, als ob sie das Produkt eines intuitiven, d. h. eines
göttlichen Verstandes wäre.
Erzeugung aber durch den Verstand und ^zweckmäßige Er-
zeugung sind miteinander identisch. Denn der Verstand operiert
von Begriffen aus; wenn der Verstand etwas erzeugt, so erzeugt
er es als das seinem Begriffe Angemessene. Die Betrachtung der
Natur als des,^ Werkes eines göttlichen Verstandes ist deshalb die
Betrachtung der Natur als eines^^ zweckmäßigen Systems der Er-
fahrung. Soweit als das Bedürfnis, einen Grund für die Spezi-
fikation der Natur zu denken, und als der moralische Glaube an
die Realität eines göttlichen intuitiven Verstandes allgemein und
notwendig sind, soweit ist die Vernunft auch a priori genötigt
*J Kant verfolgt hier in seinen Formeln und philosophischen Interessen
genau denselben Gedankengang, der bei Leibniz sich dahin ausgesprochen
hatte, daß die > tatsächlichen Wahrheiten«, welche sich für die menschliche
Erkenntnis nicht auf die ewigen "Wahrheiten zurückführen lassen, im gött-
lichen Verstände aus den letzteren müßten abgeleitet werden können. Der
Unterschied zwischen beiden Denkern ist dabei wesentlich der, daß für
Leibniz, seinem dogmatischen Charakter gemäß, sich daraus eine meta-
physische Erkenntnis des Gegensatzes der ewigen und der tatsächlichen Welt
und weiterhin derjenige der möglichen Welten und der von der göttlichen
Güte ausgewälilten und geschaffenen Welt ergab, während der Kritizismus
diesen Gegensatz in den subjektiven Gegensatz der Erkenntnis und der Be-
trachtung umwandelte. Vgl. Bd. I d, Werkes, § 48.
I
Zw0okin!ißip:keit der Welt. 103
und berecht iijt, den gesamten Kau.salzusainnienJian^ dos
Weltlaufes unter dem teleolo^^iachen Gesichtapunktc zu
^/betrachten, als ob seine '^weckruaßi<^'keit* in seinem Ur-
sprung aus der S^Mittlicherw Schöpfertätigkeit beruhe.
Diese Betrachtung ist keine ^Erkenntnis. Der physiko-theologische
Beweis für das Dasein Lottes ist unmöglich, inid man muß deshalb
diesen kritischen Gedankengang Kants durchaus von dem Newton-
schen unterscheiden, den auch er noch in der »Naturgeschichte
des Himmels« vorgetragen hatte. Gab es dort den kausalen
Schluß von der vollkommensten Maschine auf den intelligenten
Urheber, so wird jetzt ein solcher Schluß theoretisch geradezu
verworfen, dabei aber doch an dem Unbeweisbaren in der Gestalt
einer vernunftnotwendigen^ Betrachtungsweise festgehalten.
Für die persönliche Gewißheit läuft freilich beides auf dasselbe
hinaus: aber die Begründung ist prinzipiell durchaus verschieden.
Die Teleologie wird auf eine Betrachtungsweise, auf ein moralisch-
ästhetisches Verhalten reduziert und aus der Wissenschaft ver-
wiesen. Jeder Versuch, die einzelne Naturerscheinung für die
wissenschafthche Erkenntnis aus einem^^Zweck,^ den sie erfüllen
solle, zu erklären, ist verfehlt; in der Erkenntnis kann jedes Ding
und jedes Geschehen der Natur immer nur aus seinen Ursachen"
abgeleitet werden, und es ist der »Tod« aller Naturwissenschaft, für
. . . '
die Erklärung der einzelnen Erscheinungen . zwecktätige Kräfte
anzunehmen. Die Ursachen, die \vir erkennen können, wirken
mit mechanischer Notwendigkeit. Wenn sich zeigt, daß wir aus
dieser mechanischen Notwendigkeit das Ganze der Natur nicht
begreifen können, so stehen wir eben damit an der Grenze des
kausalen Begreifens, und es ist dann eine zwar notwendige
und allgemeingültige Betrachtungsweise, aber auch nur eine^Be-
trachtungsweise, wenn wir den gesamten Zusammenhang der Natur
so ansehen, als ob er die Erscheinungsform für die Verwirklich img
einer göttlicTien Zwecktätigkeit sei. Diese Betrachtimgsweise ist
aber nicht etwa nur eine Annahme, die wegen ihrer Brauchbarkeit
für intellektuelle oder praktische Zwecke trotz ihrer wissenschaft-
lichen Unrichtigkeit zugelassen würde, also keine Fiktion, sondern
sie ist eine vernunftnotwendige Ansicht, von deren Wahrheit nach
Kant der Intellekt geradeso sicher überzeugt ist wie von den
Einsichten der Wissenschaft: der Unterschied zwischen den
11*
\Q^ Kants ästhetische Philosophie.
Wahrheiten der theoretischen Erkenntnis und den Betrachtungen
»als ob« von Seiten der praktischen und der ästhetischen Vernunft
besteht nicht in dem Maße, sondern in der Art ihrer Geltung.
Deshalb ist diese Lehre vom »Als -ob« der typische Ausdruck der
Stellung Kants zum Rationalen und zum Irrationalen.
Fragen wir jedoch nach dem Inhalte, welchen der göttliche
Zweck haben kann, dem wir den Kausalmechanismus in unserer
Betrachtung^^ zu unterwerfen genötigt sind , so ist auch dieser
natürlich nicht theoretisch erkennbar, sondern nur ein Gegenstand
des praktischen Glaubens. Grund verfehlt ist daher jeder Versuch,
nachzuweisen, wie die Kräfte der Natur ineinandergreifen, um
Glücksehgkeit herbeizuführen und die Fimktion der einen Wesen
in den Dienst des Nutzens der andern zu stellen, und in diesem
Sinne »mißlingt jeder Versuch der Theodicee« nicht minder als
die Nützlichkeitskrämerei, aus welcher die Aufklärungsphilosophie
ihre erbaulichen Betrachtungen machte. Es gibt nach Kant keine
»physische Teleologie <<. Der einzige göttliche Zweck, an dessen
Realität wir ^glauben können, ist der, welchen uns die praktische
Vernunft lehrt: die Erfüllung des Sittengesetzes. An dieser
Stelle überwindet die Kritik der Urteilskraft den Rigorismus der
ethischen Auffassung durch diese selbst und den Dualismus der
Kritik der praktischen Vernunft durch den moralischen Glauben.
Wenn es dort hieß, daß die natürliche Notwendigkeit den Anta-
gonismus gegen das Sittengesetz unbedingt involviere, so wird
diese Auffassung hier auf das individuelle Triebleben beschränkt,
und es tritt ihr der höhere Gedanke entgegen, daß der gesamte
Kausalmechanismus des Weltlaufes in letzter Instanz doch als
der Realisierung des Sittengesetzes unterworfen und ihr allein
dienend notwendig betrachtet werden müsse. Es ist für die
Naturauffassung ganz dieselbe Versöhnung der Gegensätze, wie
sie die Kantische Geschichtsphilosophie für die Auffassung des
empirischen Menschenlebens anstrebte: lehrte die Geschichtsphilo-
sophie, daß das letzte Ziel der historischen Entwicklung die Ver-
wirklichung der Freiheit in der sinnlichen Welt sei, so lehrt die
Teleologie, daß nur unter dem Gesichtspunkte dieses Zwecks auch
der gesamte Mechanismus des allgemeinen Naturlebens betrachtet
werden muß, daß die Herstellung des Reiches Gottes auf Erden
der letzte Sinn alles empirischen Daseins ist. Immer weisen die
Kthische 'l'elcologrie. 165
Bedürfiussc unseres Erkenncns in dw Unendlichkeit: diese selbst
aber kann nicht erkannt werden, sie ist ein, Postulat dea'^tjjaubena
oder ein Gesichtspunkt der* Betrachtung.
Kants Teleologie ist also nicjit nur in ihrer Begründung und
in dem Ansprüche, den sie erhebt, nicht sowohl eine Erkenntnis,
als vielmehr eine vernunftnotwendige ^Batrachtungi^weise zu sein,
sondern sie ist auch in ihrem ganzen Inhalte von der früheren
wesentlich verschieden. Sie erklärt ausdrücklich, daß der' Nutzen'
in keiner Weise ein teleologisches Prinzip sei, und sie läßt die
Nützlichkeitsverhältnisse zwischen den verschiedenen Dingen, welche
überdies für die Erkenntnis nur kausal zu begreifen sind, in der
teleologischen Betrachtung höchstens als Mittel gelten, die man
dem einzigen absoluten Zwecke, dem Sittengesetze, untergeordnet
denken kann. Aber niemals ergeben sich aus dieser allgemeinen \
teleologischen Beziehung des Naturmechanismus auf einen gött-
lichen Weltzweck einzelne teleologische Urteile über die Zweck-
^mäßigkeit besonderer Vorgänge. Denn jeder Vorgang ist nur ein
Glied in der miendlichen Kette des Kausalmechanismus, und
welche teleologische Bedeutung darin einem einzelnen Vorgange
zukommt, würden wir nur dann verstehen können, wenn wir den
ganzen Kausalnexus bis in seine feinste GHederung durchschauten
und die Art und Weise, wie er sich dem sittlichen Endzweck
unterordnet, uns vorzustellen vermöchten. Da beides nicht der
Fall ist , so liefert der Grenzbegriff der Spezifikation und des
-^Systems der Erfahrung in Verbindung mit dem praktischen
Glauben nur die Berechtigung für eine ganz allgemeine Be-
trachtung'^ der Natur als eines in letzter Instanz zweckmäßigen
Zusammenhanges der Erscheinungen.
Besondere teleologische Urteile bedürfen deshalb vor der Kritik
der Urteilskraft noch einer anderen Rechtfertigung. Sie werden
nur dann möglich sein, wenn es Erscheinungen gibt, die in sich
selbst ohne Rücksicht auf irgend etwas anderes, sogar ohne Rück-
sicht auf den sittlichen Zweck, sich unserer Betrachtung als zweck-
mäßig darstellen und der kausalen Erklärung unübersteigliche
Hindernisse darbieten. Derartige Erscheinungen müßten also für
zweckmäßig gelten ohne Beziehung auf irgend etwas, was durch
sie erreicht werden sollte: ihr Zweck müßte nicht außerhalb,
sondern in ihnen selbst liegen. Das ist nur dadurch möghch,
166 Kants ästhetische Philosophie.
daß wir uns für berechtigt halten, in gewissem Sinne sie sowohl
als Ursache, als auch als Wirkung ihrer selbst anzusehen. Eine
solche Identität liegt überall da vor, wo etwas aus bewußter
A Absicht zweckmäßig erzeugt worden ist. Die Ursache der Arte-
fakten des Menschen bildet die Idee der Wirkung, welche sie
hervorbringen sollen. Nun ist aber die bewußte Absicht niemals
als eine Ursache in der uns als Natur gegebenen Erscheinungs-
welt anzuerkennen; die Natur kennt nur mechanische Wirksam-
keit. Wenn jedoch gewisse ihrer Erscheinungen den Eindruck
machen, als ob auch bei ihnen die^Idee des Ganzen' die Oenesis
der einzelnen "Teile und ihre Wirksamkeit bestimmte, und wenn
zur Erklärung dieses Verhältnisses unsere kausale Einsicht nicht
ausreicht, so sind wir genötigt, diese Gebilde so zu betrachten, als
ab sie aus dem Gedanken ihres '"Zwecks hervorgegangen wären.
Alle diese Bedingungen nun treffen zu bei den Organismen.
Der Lebenszusammenhang eines Organismus ist derartig, daß dieser
nur aus seinen bestimmten Teilen zusammengesetzt gedacht werden
kann. Aber diese Teile sind nicht etwa vor ihm und unabhängig
von ihm vorhanden, so daß er erst aus ihnen entstünde, sondern
umgekehrt sind diese Teile wieder mit ihrer ganz bestimmten Ge-
stalt und Funktion nur in diesem Organismus möglich. Sowenig
wie das Ganze ohne die Teile, sowenig sind die Teile ohne das
Ganze möglich. Darin besteht die Zweckmäßigkeit der Orga-
nismen, daß ihre Organe gerade so gebildet sind und gerade so
funktionieren, wie es für die Lebenstätigkeit des Ganzen not-
wendig ist, und daß umgekehrt erst der Zusammenhang des ganzen
Organismus nötig ist, um der Gestalt und der Funktion des ein-
zelnen Gliedes Sinn und Bedeutung zu geben. Diese Zweckmäßig-
keit der Organismen aber ist, wie Kant lehrt, ganz auf sie selbst
beschränkt, sie gilt ohne Eücksicht auf dasjenige, was ein Orga-
nismus etwa in der sonstigen Welt für Wirkungen ausübt. Das
Wechsel Verhältnis zwischen dem Ganzen und den Teilen trägt die
Zweckmäßigkeit insofern an sich, als beide nur durcheinander zu
existieren vermögen. Aber diese Tatsache des Lebens ist zu-
gleich ein großes Rätsel für unsere Erkenntnis, (^erade dieses
Wechsel Verhältnis des Ganzen zu seinen Teilen ist für die mecha-
nische Naturerklärung ein undurchdringliches Geheimnis: diese
kann immer nur das Ganze als das Produkt der Teile und ihrer
Das Lülien al« Ctrenz))epfri<V. 1(>7
jjjasetzmäßi^oii Bewegungen uuffatüsen, von einer Hestimmung der
Teile durch das Ganze gewährt sie keine Erkenntnis, Wir kfinnea
niemals verstehen, weshalb dies organische Ganze gerade diese
Teile notwendig verlangt. Kant sucht hier die Behauptung zu
begründen, welche er in der »Naturgeschichte des Hinimels^< auf-
gestellt hatte, daß die Organisation eine unerkennbare Tatsache
sei. Er gibt nicht nur zu, sondern er verlangt ausdrücklich, daß
die wissenschaftliche Erkenntnis, soweit sie irgend zu dringen
vermag, die kausalen Notwendigkeiten aufdecke, welche sich in
dem Prozesse des J^ebens abspielen. Aber verfolgt man diese an
dem einzelnen Organismus, so wird man immer finden, daß sie ^
nicht nur durch die Einflüsse der umgebenden Welt, sondern in^'-'^^*^
erster Linie durch die ursprüngliche Anlage bedingt sind, die UuU^"^
der Organismus vermöge seiner Abstammung von einem anderen '^^f**^
Organismus anfänglich besaß. Die physiologische Erkenntnis des ^
kausalen Mechanismus im organischen Leben endigt bei dem Be-
griffe des Embryo , in dessen ursprünglicher Anlage die Bedin-
gung für alle mechanischen Reaktionen auf die Einflüsse der
Außenwelt zu suchen ist. Den Ursprung des Embryo kann aber
die Erkenntnis immer nur wieder in einem anderen Organismus
suchen; die »generatio aequivoca« ist eine unerwiesene und zu
gleicher Zeit aller kausalen Erklärung widersprechende Hypothese,
und so setzt die Erklärung des organischen Lebens das letztere
selbst immer wieder voraus. Sie tut das auch, wenn sie weiter-
gehend die Entstehung der verschiedenen Spielarten und selbst
die der Arten auf mechanischem Wege aus ursprünglicheren Or-
ganisationen herzuleiten versucht. Kant hat diesen Gedanken
namentlich an dem für seine anthropologischen Studien wichtigen
Begriffe der Menschenrasse entwickelt. Er suchte zu zeigen,
daß die verschiedenen Rassen, deren er vier annahm, dm'ch ihre
Fähigkeit der fruchtbaren Kreuzung ihre x4.bstammung von ein
und derselben Gattung beweisen, und daß sie sich daraus unter
der Einwirkung klimatischer Verhältnisse im Laufe der Zeit ent-
wickelt hätten. Aber er machte darauf aufmerksam, daß diese
Hypothese eben die Entwicklungsfähigkeit, wie man heute sagen
würde, die Variationsfähigkeit oder Anpassungsfähigkeit, d. h. eine
ursj)rüngliche Anlage in der menschlichen Gattung, auf verschie-
dene klimatische Einflüsse verschieden zu reagieren, notwendig
\ßS Kants ästhetische Philosophie.
voraussetze, und daß diese Voraussetzung selbst sich jeder kau-
salen Erklärung entziehe. Allein der Blick unseres Philosophen
in die Wissenschaft des organischen Lebens reicht weiter. Er
sieht ein, daß die Betrachtungsweise, welche auf die Rassen in
ihrer Beziehung zu der gemeinsamen Art angewendet werden
konnte, möglicherweise auch für die Arten selbst gilt, und ob-
wohl noch genaue empirische Versuche und Nachweise dafür
fehlten, hält er die Kühnheit eines »Archäologen der Natur« für
möglich, erlaubt und berechtigt, welcher nach den Spuren der
ältesten Revolutionen die ganze große Familie von Geschöpfen
nach mechanischen Gesetzen in immer zweckmäßigerer Gestaltung
aus einer ursprünglichen Organisation durch den Prozeß der Gene-
rationen hervorgehen ließe. Möglich und sogar wahrscheinlich,
daß Kant mit den entwicklungsgeschichtlichen Theorien der fran-
zösischen Denker, welche freilich erst nach dem Erscheinen der
Kritik der Urteilskraft durch Lamarck eine sichere Fassung er-
hielten, bekannt war, daß sie ihm namenthch durch den in
Deutschland viel gelesenen Bonnet näher gelegt waren: — er
steht vor ihnen als vor einem »gewagten Abenteuer« der er-
kennenden Vernunft, dessen Durchführbarkeit seinem naturwissen-
schaftlichen Geiste prinzipiell nicht unmöglich erscheint. Aber
gesetzt, es wäre durchgeführt, so wäre damit das Problem des
Lebens nicht gelöst, sondern nur zurückgeschoben : denn jene
ursprüngliche Organisation der Hypothese wäre genau so
unbegreiflich wie jede besondere Organisation der Tatsachen.
Das LebeiS ist der Grenzbegriff der mechanischen Natur-.
erkTärung. Kant meint, die Entstehung der Organisation aus
dem unorganischen Leben sei für uns unerkennbar. Es ist
möglich und nicht zu widerlegen, daß sie aus dem unorganischen
Dasein nach lediglich mechanischer Kausalität hervorgegangen sei.
Aber wir werden diesen Prozeß nie begreifen und ihn niemals
beweisen können. Denn — das ist das alte Grundkriterium der
Kantischen Erkenntnistheorie — dann könnten wir ihn auch selbst
herbeiführen : wir*"erk^imenj was wir selbstj^haf f en^^ ^^^,, Z weck-
mäßige steht für unsere Erkenntnis wie ein Fremdling in dem
mechanischen Naturzusammenhange, den wir verstehen können,
und wir sind deshalb berechtigt und genötigt, ihn als einen Gast
aus einer höheren Welt, aus der Welt der Zwecke, zu betrachten.
Tolcolügio als huuristinohes Prinzip. 109
ßo ordnen sich die besonderen teleologischen Urteile, mit d«'n<»n
wir berechtigt sind die kausal unerklärlichen Tatsachen des
orj^anischen Lebens zu betrachten, von selbst jener allgemeinen
teleologischen Naturbetrachtung durch die Tatsache unter, daß
der zweckmäßigste und vollendetste aller Organismen, der mensch-
liche, dasjenige Leben enthält, in welchem die Natur mit der
sittlichen Welt vereinigt und als ein ihr zwar widerstiebendes,
aber in letzter Instanz dennoch sich ihr unterordnendes Mittel
erscheint.
Der »Gebrauch der teleologischen Prinzipien in der Philosophie«
ist also der, daß sie niemals als^^konstitutive Prinzipien
der Naturerkenntnis gelten dürfen. Die Naturerklärung hat mit
ihnen gar nichts zu tun. Deren Aufgabe ist vielmehr, den Prozeß
des Lebens in den Individuen und in den Gattungen gleichmäßig
als einen großen Ablauf kausal notwendiger Entwicklungen zu
verstehen. Aber wenn sie konsequent kritisch und ehrlich ist,
so muß sie zugestehen, daß dasXeben" selbst, daß die *\irsprüng-
liche Organisation^ für sie einen Grenzbegriff, eiae unerklärliche
Tatsache darbietet, und daß sie die Betrachtung nicht widerlegen
kann, mit der ein vernunftnotwendiges Bedürfnis diese Tatsache
mit ihrer ganzen unabsehbaren Folge von zweckmäßigen Gestal-
tungen auf eine^^zwecktätige Ursache zurückführt. Die Betrach-
tung der einzelnen Zweckmäßigkeiten aber hat für die Natur-
forschung den wertvollen Sinn, daß sie stets die Frage herv^orruft,
durch welchen kausalen Mechanismus die besondere Zweckmäßig-
keit zustande gekommen ist. Muß dann auch in der Lösung
dieser Aufgabe immer der Best bleiben, daß die ^ ursprüngliche
organische Anlage^ als ein unentbehrliches Glied in dem so er-
kannten Kausalnexus auftritt, so hat doch gerade die Beobach-
tung der Zweckmäßigkeit das Problem und die Veranlassung ge-
bildet, wodurch die kausale Erkeniitnis eine wertvolle Bereicherung
und Erweiterung gefunden hat. /Man darf wohl sagen, daß diese
Behandlung des teleologischen 'Problems, wie sie Kant hier ge-
geben hat, das Reifste ist, was darüber von jeher und bis heute
gesagt worden ist. Es gibt eine »faule << Teleologie, welche den
kausalen Zusammenhang der Dinge nicht mehr erforschen zu
brauchen meint, wenn sie den Eindruck ihres "^zweckmäßigen In-
einanderoreifens konstatiert hat. Dieser tritt Kant auf das
170 Kants ästhetische Philosophie.
schärfste entgegen. Zweckmäßigkeit ist kein Prinzip der Natur-
erklärung. Aber es gibt eine echte, die Kantische Teleologie,
welche in dem Eindrucke der Zweckmäßigkeit, den das orga-
nische Leben der Vernunftbetrachtung notwendig macht, nur die
Aufgabe sieht, sich den kausalen Konnex klar zu machen, durch
den dieses^ zweckmäßige Ineinandergreifen zustande kommt. Alles
Zweckmäßige in der Natur ist ein Wunder. Die faule Teleologie
— wie sie sich auch sonst nenne — begnügt sich mit dem
»admirari«; der echten ist die Verwunderung nur ein Stachel,
um die kausale Vermittlung des zweckmäßigen Zusammenhanges
zu erforschen. Die teleologische Betrachtung ist kein konstitutive:^
^y'^ Prinzip der Erkenntnis, sondern ein heuristisches Prinzip
^^ der Forschung, und sie ist in der Erkenntnis des organischen
Lebens das vornehmste von allen. Der Charakter und die Auf-
gabe der organischen Naturforschung sind niemals tiefer und
niemals großartiger formuliert worden, als in Kants Kritik der
teleologischen Urteilskraft.
9 Die teleologischen Prinzipien bleiben also für die objektive
Erkenntnis problematisch und erweisen sich nur als subjektive
Notwendigkeiten der Betrachtung. Noch stärker aber kommt
// /, /Kants Subjektivismus in seiner Ästhetik zum Austrage. Schon
^ ^^mit der Formulierung des ästhetischen Problems verlegt er diese
Untersuchungen völlig auf den subjektiven Standpunkt. Er fragt
nicht, was^schön'ist, sondern worin der subjektive Zustand be-
steht, in welchem wir von einem Gegenstande so berührt werden,
daß wir ihn „schön nennen, und worauf die Notwendigkeit und
allgemeine Mitteilbarkeit dieses Zustandes beruht. Das ästhetische
Urteil mit seinem Anspruch auf Apriorität ist der Gegenstand der
Kritik der ästhetischen Urteilskraft. Es gilt zunächst, diesen
Gegenstand ganz scharf abzugrenzen, da er sowohl in der empi-
rischen Betätigung, als auch in der populären Bezeichnungsweise
gegen die angrenzenden Gebiete nur sehr unbestimmt abgeschlossen
ist. Sowohl von dem Angenehmen und Nützlichen, als auch ander-
seits von dem Guten (den beiden Gegensätzen, zwischen denen
die Ästhetik der AVolffschen Schule das Schöne als einen all-
mählich vermittelnden Übergang auffaßte) sucht Kant den Be-
griff der Schönheit scharf zu sondern. Wenn er auch der Urteils-
kraft eine ähnlich vermittelnde Stellimo: zwischen Sinnlichkeit und
Dum Schöne. 171
Vernunft anwies, so ist ihm doch diese Vennittlunj^ nicht die-
jonigc eines allniähiichen t^berj^an^es, sondern vielmehr eine Syn-
thesis prinzipiell verschiedener l^'unktionen. Angenehm nennen
wir alles, was unseren Sinnen und ihren Bedürfnissen wohltut,
"^nützlich, was einem auf diese Annehndichkeit gerichteten Be-
streben entspricht; 'gut nennen wir, was einer sittlichen Aufgabe
genügt. So verschieden diese Tätigkeiten sein mögen, so haben
sie doch den gemeinsamen Charakter, daß das Wohlgefallen,
welches uns dem Angenehmen und dem Guten gegenüber ergreift,
auf der Erfüllung eines Bedürfnisses, eines Interesses beruht. In
dem einen Falle sind dies die sini^lichien Interessen des Indi-
viduums, in dem andern Falle ist es das sitt|iQhe Vernunftinter-
esse der Gattung. Aber in beiden Fällen muß das Interesse demlp^^^^
Wohlgefallen als seine Bedingung vorhergehen. Diese Arten des *
Wohlgefallens beruhen daher, um in Kants Formel zu sprechen,
auf der Übereinstimmung des Gegenstandes mit einem Begriffe,
den wir uns als gedanlvlichen Ausdruck des darin erfüllten Inter-
esses bilden oder bilden können. Und gerade darin besteht nun
das Wesen des Schönen, daß ein solches Interesse bei ihm nicht
vorliegt. Weder sinnhche noch sitthche Bedürfnisse sollen durch
das Schöne erfüllt werden. Alles was uns als schön gefallen soll,
muß von jeder Beziehung auf eine Absicht frei sein. Das spezi-
fische Wohlgefallen, welches wir das ästhetische nennen, ist ein ^ ^
Wohlgefallen ohne Interesse und ohne Begriff. Die Wohl- • *
gefälligkeit des Angenehmen hängt von sinnlichen Bedürfnissen,
Stimmungen und Verhältnissen des Individuums ab. In diesen
gibt es keine Allgemeingültigkeit imd Notwendigkeit. Darum ist
eine philosophische Hedonik unmöglich. Die Wohlgefälligkeit des
Guten hängt von dem sittHchen Vernunftinteresse ab. Dieses ist c )
a priori, und darum gibt es eine philosophische Moral. Während
aber niemand verlangt, daß, was ihm angenehm und nützlich ist,
es auch jedem andern sei, erheben wir den Anspruch, unsere ^
ästhetischen Urteile als notwendig und allgemein anerkannt zu .
sehen, wenn wir darauf auch vielleicht nicht ebensoviel Gewicht
zu legen pflegen wie bei den ethischen Urteilen. Die Prinzipien
einer philosophischen Ästhetik werden somit nur dadurch ge-
funden werden können, daß die Wohlgefälligkeit des Schönen auf .
einen allgemeingültigen und notwendigen Grund zurückgeführt
L^^/ 172 Kants ästhetische Philosophie.
wird. Wenn dieser aber weder in einem sinnlichen noch in einem
ßittlichen, wenn er überhaupt in keinem Interesse gesucht werden
kann, so muß er in einem Gefühle liegen, das unabhängig von
jedem Interesse einen notwendigen und allgemeingültigen Grund
hat. Ästhetische Urteile also sind nur durch ein »Gefühl a priori«
möglich, und es fragt sich, ob es ein solches gibt.
Jedes ästhetische Urteil setzt einen in der Anschauung gegebenen
Gegenstand voraus, auf welchen das Prädikat schön angewendet
werden soll. Diese Prädizierung ist nur möglich in einer voll-
kommen interesselosen Betrachtung. Der ästhetische Zu-
stand des Menschen kann in nichts weiterem, als in dieser reinen
Betrachtungstätigkeit, die von jedem Interesse frei ist, bestehen.
Indem Kant diesen Begriff fixiert, ist er weit davon entfernt,
eine Behauptung darüber aussprechen zu wollen, ob überhaupt
und in welchem Sinne ein solcher Zustand in dem Gefühlsleben
des empirischen Menschen vöUig rein vorkommt. Die naturnot-
wendige Erregung sinijlicher Bedürfnisse und die sittlich not-
wendige Erweckung des Vernunftinteresses werden jeden Augen-
blick in die äs^thetische Funktion hinübergreifen. Und völlig rein
ist diese eben nur da, wo die beiden anderen schweigen. Dieser
Zustand der Bedürfnislosigkeit und der praktischen Indifferenz
ist derjenige des Spiels. Die reine spielende Betrachtung ist
aber von der empirischen Wirklichkeit ihres Gegenstandes völlig
unabhängig. Die Interessen des sinnlichen Gefühls imd diejenigen
des sittlichen Wohlgefallens beziehen sich gleichmäßig auf die
empirische ReaHtät des Gegenstandes, welche von dem einen vor-
ausgesetzt, von dem andern verlangt wird. Die interesselose Be-
trachtung wendet sich nur an die Vorstellung des Gegen-
standes ohne Rücksicht darauf, ob er in der Erfahrung wirklich
ist oder nicht. Sie bezieht sich deshalb nicht auf den erfalirungs-
mäßig gegebenen Inhalt der Vorstellung, sondern nur auf die Vor-
stellungsform, und so muß ihr Wesen in einem Verhältnis
der Vorstellungsfunktionen und nicht in einer Beziehunu auf
die empirische Wirklichkeit zu suchen sein.
Nun setzt alles Wohlgefallen, folglich auch das ästhetische,
eine Zweckmäßigkeit des Gegenstandes voraus, auf den es sich
bezieht. In dem spielenden Zustande also, der jede Absicht aus-
schließt, muß doch irgendwo ein Verhältnis aufgefunden werden
Harmonie von Sinnlichkeit und Verbland. 173
können, vennögc dos8en die Zwe('kniiißi<^keit eines Gegenstandes
beurteilt werden kann. In der reinen Betrachtung muß es eine
Zweckmäßigkeit der Gegenstände ohne Beziehung auf einen dem
Bewußtsein gegenwärtigen Zweck ^eben können. Zweckmäßigkeit
ohne Zweck oder, genauer gesagt, ohne Absicht ist also das Wesen
der Schönheit. Jede Absichthchkeit stört den ästhetischen Ein-
druck. Der Gegenstand, der schön genannt sein soll, muß in
vollendeter Zweckmäßigkeit sich vor einer Betrachtung darstellen,
in der auch nicht eine Spur von Absicht zum Bewußtsein kommt.
Damit ist das Wesen der Schönheit bestimmt, aber auch die ganze
Schwierigkeit des Problems aufgedeckt. Denn worin kann eine
solche absichtslose Zweckmäßigkeit gesucht werden? Im
Gegenstande selbst nicht: denn jede objektive, in der Materie der
Anschaumig begründete Zweckmäßigkeit ist immer nur auf ein
Interesse zu beziehen. Deshalb kann die Zweckmäßigkeit des
schönen Gegenstandes nur darin beruhen, daß seine Betrachtung
uns in einen Zustand versetzt, der ohne ein anderes Interesse als
das der Betrachtung selbst zweckmäßig erscheint. Nun hat die
Kritik der reinen Vernunft gelehrt, daß in der Vorstellung eines
jeden Gegenstandes die beiden Grundfunktionen der sinnlichen
Anschauung und des verstandesmäßigen Denkens sich miteinander
vereinigen. Aber diese Vereinigung gelingt nicht immer gleich
gut. Es wird Gegenstände geben, bei denen mit der Fülle der
sinnhchen Anschauung die Klarheit der verstandesmäßigen Durch-
dringung nicht Schritt halten kann, bei denen deshalb die Energie
der sinnlichen Funktion überwiegt und die Erregung der sinn-
lichen Gefühle im Vordergrunde des Bewußtseins steht. Es wird
andere Gegenstände geben, in denen das verstandesmäßig Gedachte
nicht seine volle sinnliche Anschaulichkeit finden kann, bei denen
also das Element des Denkens überwiegt und seine Interessen,
gerade weil sie anschaulich sich noch nicht verwirklicht haben,
die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Der ästhetische Zustand
reiner interesseloser Betrachtung wird dagegen nur da eintreten
können, wo in der Auffassung des Gegenstandes Sinnlichkeit und
Verstand mit harmonischer Gleichmäßigkeit funktionieren, wo die
KJarheit der Anschauung und die DeutHchkeit der Begriffe ein-
ander die Wage halten. Dies Verhältnis der Harmonie zwischen
Sinnlichkeit und Verstand ist offenbar für die reine
174 Kants ästhetische Philosophie.
Betrachtung das denkbar zweckmäßigste, und diese Zweckmäßigkeit
empfinden wir in demjenigen Gefühle, womit wir den Gregenstand
schön nennen. Die Verknüpfung von anschaulicher und ver-
standesmäßiger Funktion ist aber, wie gleichfalls die Kritik der
reinen Vernunft in der transzendentalen Analytik gezeigt hat, eine
Sache der »Einbildungskraft«, und diese enthält daher den Boden,
auf welchem allein sich jenes harmonische Verhältnis entwickeln
kann. Schönheit entspringt aus derjenigen Funktion der Ein-
bildungskraft, in welcher die Anschauung und das Denken völlig
miteinander harmonieren.
Die Zweckmäßigkeit des schönen Gegenstandes liegt also nicht
in ihm selber, sondern in seiner Wirkung auf unsere Betrachtung.
Schönheit ist kein Prädikat der Dinge, welches wir wie andere
Eigenschaften daran wahrzunehmen und deshalb in einem analy-
tischen Urteile aus ihrem Begriffe abzuleiten vermöchten. Wäre
sie das, so gäbe es nur empirische Begriffe von Schönheit und
keine notwendigen und allgemeingültigen ästhetischen Urteile.
Diese sind — darin besteht der Parallelismus in dem Gedanken-
gange aller drei großen Kritiken Kants — nur durch den »Idealis-
mus der Zweckmäßigkeit« möglich: die Zweckmäßigkeit muß
lediglich in unsere Betrachtungsweise der Gegenstände verlegt
werden. Denn jene Harmonie in der Funktion von Sinnlichkeit
und Verstand ist keine zufällige und individuell bedingte. Die
Auffassung eines Gegenstandes und die verschiedene Energie, wo-
mit Sinnlichkeit und Verstand daran beteiligt sind, gehören der
überindividuellen Organisation der menschhchen Vernunft, dem
»Bewußtsein überhaupt«, dem »übersinnlichen Substrat der
Menschheit« an. Deshalb ist auch das Gefühl des Wohlgefallens,
welches diese Harmonie für die reine Betrachtung mit sich bringt,
ein allgemeingültiges und notwendiges: es ist ein »Gefühl a priori«,
und darauf beruht die apriorische Geltung der ästhetischen Ur-
teile. Damit löst sich auch die logische Schwierigkeit, unter der
sich Kant, wie es scheint, das kritische Problem der Ästhetik
zuerst dargestellt hatte: die Frage, wie singulare Urteile — denn
das sind alle ursprüngHchen Behauptungen über Schönheit und
Erhabenheit — allgemeine und notwendige Geltunoj nicht nur be-
anspruchoT!, sondern auch de jure haben können.
Es ist verfehlt, diese Theorie Kants durch den Hinweis auf
Freie tiud uiiliüngeiidü Schönheit. 175
die empirische VerschicMlciilieit der üstbct Ischen Urteil«' zu bo-
kiimpfon. Das Auftreten tlcs ästlictischcn Urteils in dem einzelnen
Individuum nuiÜ psycholoj^iseh dudureh bedingt sein, daß es nicht
unter der Herrschaft ])es()nderer l]iteressen steht, sondern für die
^interesselose Betrachtung, für den , spielenden Zusttind zugänglich
ist. Diese Bedingung ist, wenn je, äußerst selten erfüllt, und so
wird empirisch das reine ästhetische Urteil fortwährend durch
individuelle Neigungen uiul Stlinniungen gekreuzt werden. Daher
der stetige Streit über ästhetische Gegenstände. Und dieser Streit
ist dem Wesen der Sache nach nicht durch Beweisführungen zu
schlichten. Beweisführung muß in Begriffen vonstatten gehen.
Jemandem beweisen, daß ein Gegenstand schön sei, hieße zeigen,
daß er einem Begriffe entspräche. Aber das Schöne ist ja das
betriff los Zweckmäßige. Es läßt sich nur fühlen. Dieses Gefühl
ist zwar allgemein mitteilbar, indem jeder, bei welchem nicht
die reine Betrachtung durch individuelle Verhältnisse unmöglich
gemacht oder gestört wird, durch die Anschauung des Gegen-
standes in den ästhetischen Zustand jener Harmonie von Sinn-
lichkeit imd Verstand emporgehoben wird. Aber beweisbar ist
dies Gefühl nicht. Deshalb gibt es, wie Kant sagt, keine ästhe-
tische Doktrin, sondern nur eine allgemeine Kritik der Ästhetik,
d. h. eine transzendentale Untersuchung über die Möglichkeit
ästhetischer Urteile a priori überhaupt.
Diese bahnbrechenden Untersuchungen Kants beschränken nun
freilich sogleich den Umfang der Gegenstände, welche in diesem
reinen Sinne '^chöu'^ zu nennen sind, auf sehr enge Grenzen. Die
reine Schönheit, die dem Kantischen Begriffe völlig entspricht,
ist nur die bedeutungslose. Alles, was für uns eine Bedeutimg
hat, besitzt diese nur durch seine Beziehung auf ein Interesse.
Die reine, oder wie Kant sie nennt, die freie Schönheit ist
deshalb nur da zu suchen, wo es gar keine Zwecke zu erfüllen
gibt. In der idyllischen Natur, in Blumen, in Arabesken, da,
wo es nur ein Spiel der Formen gibt, welches die Sinnlichkeit
in harmonische Beziehung zum Denken setzt, da allein ist die
beziehmigslose , die reine Schönheit zu finden. Anders schon
stehen wir denjenigen Naturerscheinungen gegenüber, bei denen
bereits für die theoretische Betrachtung das teleologische Moment
zur Geltung kommt. Kant macht hier sehr fein auf den Unter-
i
a
176 Kants ästhetische Philosophie.
schied aufmerksam, daß nur bei den höheren animalischen Wesen
uns eine Idee der Gattung vorschwebt, an der wir die einzelnen
Exemplare prüfen und, je nachdem sie ihm mehr oder minder
angemessen sind, mehr oder minder schön finden. Diese »an-
hängende Schönheit« ist also von einem Gattungsbegriffe ab-
hängig, obwohl dieser nicht eigentlich als formulierter Begriff,
sondern als ein Typus der Anschauungsgewöhnung unbewußt imser
ästhetisches Verhalten beherrscht. Der höchste dieser Gattungs-
typen ist nun derjenige des Menschen. Er ist derjenige, in
welchem sich die Organisation der Erscheinungswelt für uns voll-
endet: die menschliche Gestalt ist das Ideal der ästhe-
tischen Vernunft. Darin zeigt sich, daß das ästhetische Ver-
halten eine charakteristische Eigentümlichkeit des Menschen ist.
Das harmonische Verhältnis von Sinnhchkeit und Verstand ist
das Objekt des ästhetischen Wohlgefallens. Dies Verhältnis ist
spezifisch menschlich. Nur ein Wesen, welches wie der Mensch
zugleich der sinnlichen und der übersinnlichen Welt angehört,
kann die Harmonie dieser beiden Eichtungen seiner Tätigkeit als
Schönheit empfinden. Weder unter ihm in der Sinnenwelt, noch
über ihm in der vernünftigen Welt gibt es Schönheit. Er selbst
in der sinnlichen Erscheinung seines vernünftigen Wesens ist des-
halb auch das Ideal der ästhetischen Betrachtuno;.
Zeigt sich nun schon in dieser Lehre von der^ anhängenden
Schönheit,^ daß Kants Begriff einer Interesse- und begriffslosen
Betrachtung das ästhetische Leben des Menschen in dem empi-
rischen Umfange des Begriffs nicht vollständig erschöpft, so tritt
das noch mehr in seiner Lehre vom Erhabenen hervor. Das
Erhabene pflegte dem Schönen in der englischen und deutschen
Literatur, aus der Kant für seine systematische Lehre mancher-
lei Anregungen empfangen hat, als eine andere Art des ästhe-
tischen Verhaltens koordiniert zu werden. Kant aber hatte den
Begriff der ästhetischen Funktion so sehr auf das Schöne kon-
zentriert, daß er in dem Erhabenen nicht mehr eine rein ästhe-
tische, sondern nur noch eine zugleich morahsche Funktion er-
blicken konnte. Seine Begriffsbestimmung des Erhabenen läßt
die ästhetische Tätigkeit unnuttelbar mit dem moralischen Be-
wußtsein verwachsen erscheinen. Auch sie zeigt dieselbe subjek-
tive Tendenz wie diejenige des Schönen. Wie er das Prädikat
Das Erhabene. 177
der Schönheit nicht in dem Gegenstände, sondern in der Wirkung
auf uns begründet fand, so sind ihm auch die Gegenstände nur
erhebend, und erst der Zustand, in den sie uns versetzen
können, ist erhaben. Auch hier ist es das Verhältnis von Sinn-
lichkeit und Verstand, worauf das Wesen des ästhetischen Zu-
standes beruht. Aber es ist nicht mehr die harmonische Ruhe
der Betrachtung, sondern vielmehr eine durch den Kampf hin-
durchgegangene Erhebung des menschlichen Bewußtseins, worauf
in diesem Falle der »ästhetische« Eindruck beruht. Gegenstände
sind selbst nicht erhaben, aber sie werden erhaben genannt, wo
ihre Auffassung einen Zustand des Bewußtseins hervorruft, der
dem moralischen Zwecke gegenüber als zweckmäßig erscheint. Es
gibt Gegenstände, welche entweder als »mathematisch-erhabene«
durch ihre unfaßbare Größe oder als »dynamisch-erhabene« durch
ihre alles Maß übersteigende Kraft unserer Vorstellungstätigkeit
die unerfüllbare Aufgabe setzen, die Unendlichkeit, welche wir in
ihnen zu denlcen vermögen, mit unseren Sinnen anzuschauen.
Aus dieser Unangemessenheit der Sinnlichkeit zu den An-
forderungen des Denkens entspricht notwendig ein Gefühl der
Unlust; aber diese Unlust wird durch das Bewußtsein überwunden,
daß unsere übersinnliche Funktion des Denkens der sinnüchen
Funktion des Anschauens sich überlegen erweist, daß wir als über-
sinnliche Wesen mehr verlangen, als wir als sinnliche zu leisten
vermögen. Alles Erhabene wirft uns als Sinnenwesen zu Boden,
um uns als Vernunftwesen desto höher aufzurichten, es hat stets
etwas von dem »gigantischen Schicksal, welches den Menschen
erhebt, wenn es den Menschen zermalmt «. Dies Verhältnis ist
vom sittlichen Standpunkt aus das richtige, und der erhebende
Gegenstand versetzt uns daher in einen Zustand, in welchem wir
den Triumph unseres übersinnlichen über das sinnliche
Wiesen als einen Gegenstand des Wohlgefallens vom sittlichen
Standpunkt aus empfinden. Ein solches Wohlgefallen ist mora-
,^sch, wo es sich um den in der wirklichen praktischen Tätigkeit
des Willens bewährten Triumph unseres übersinnlichen Wesens
oder desjenigen eines anderen Menschen über die sinnliche Natur
handelt: es ist ästhetisch, wenn es ganz unabhängig von dem
wirklichen Geschehen in der bloßen Betrachtung des Gegenstandes
sich vollzieht. Aber es ist auch in diesem Falle von unserem
Wi ndelb an d , Gesch. d. n. Philos. 11. 12
r \y V f
]^78 Kants ästhetische Philosophie.
sittlichen Interesse an der Unterwerfung des sinnlichen unter den
übersinnlichen Menschen abhängig. Es ist somit durch den sitt-
lichen Zweck bedingt und empfängt durch diesen einen Teil seiner
Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit, wenn auch anderseits die
Apriorität seines ästhetischen Moments darauf beruht, daß das
in dem Eindruck des Erhebenden entspringende Gefühl von der
Unangemessenheit unseres sinnlichen zu unserem übersinnHchen
Wesen und von der Erhabenheit des letzteren über das erster e
in derselben Weise und in demselben Sinne allgemeingültig und
notwendig, unbeweisbar und doch allgemein mitteilbar ist, wie
das harmonische Gefühl der Schönheit. Das letztere also zeigt
die beiden Seiten unseres Wesens in harmonischer Vereinigung
und ist deshalb ein reines Lustgefühl: das Erhabene wühlt den
tiefen Gegensatz jener beiden Seiten auf und läßt das Unlustge-
fühl dieses Widerstreites untergehen in dem Siegesgefühl unseres
wertvolleren Teiles, der über den niederen triumphiert. Im Er-
habenen bewundern wir unsere eigene übersinnüche Bestimmung
— im Schönen genießen wir die harmonische Einheit unseres ge-
samten sinnlich-übersinnlichen Wesens.
So geht Kant mit den einander parallelen Begriffsbestimmungen
des Schönen und des Erhabenen auf das Verhältnis der ver-
schiedenen Funktionen des menschlichen Wesens zurück, wie er
sie ursprünglich in der Erkenntnistheorie aufgestellt hatte. Auch
hier liegt das psychologische Schema zugrunde, das bereits in der
Kritik der reinen Vernunft bestimmend hervortrat; aber vielleicht
an keinem anderen Punkte der Kantischen Lehre führt es zu so
überraschend großartigen Resultaten wie hier, wo das Senkblei
der Kritik bis in die äußerste Tiefe des ästhetischen Lebens hinab-
reicht. Aus "den gewonnenen Grundbestimmungen entwickeln sich
sodann eine Reihe weiterer Definitionen ästhetischer Begriffe wie
diejenigen des Witzes, des Lächerlichen usw. Feinsinniger noch
und tiefer jedenfalls als die ein Viertel jähr hundert vorher ge-
schriebenen »Beobachtungen«, haben nur alle diese Untersuchungen
ein ihrem Gegenstande nicht völlig entsprechendes Gewand da-
durch angelegt, daß die Kritik der Urteilskraft sich ebenso
gliedern muß, wie es das Schema der Kritik der reinen Vernunft
verlangt. So sind in ein schulmäßiges System alle jene leben-
digen Gedanken eingekerkert, welche sich in der Weiterentwick-
Kunst und Künste. 179
lunü: der deutschen Ästhetik als ebenso viele fruchtbarr Keime
erwiesen haben. Es gehöit dazu unter anderem auch Kants Ver-
such, aus einem der allgemeinen Prinzipien der Ästhetik schließ-
lich das System der Künste \l\\ entwickeln. Er selbst hat
diesen von den späteren Ästhetikern stets wiederholten Versuch
eben nur als einen solchen an^^esehen. Aber das Prinzip, das er
dabei verfolgt, bleibt trotz seiner Angreifbarkeit höchst interessant.
Er geht nämlich von dem Gedanken aus, daß die Kunst als die-
jenige menschliche Tätigkeit, welche schön wirkende Gegenstände
erzeugen soll, und welche deshalb von den Künsten der Annehm-
lichkeit und der Nützlichkeitstechnik als »schöne Kunst« genau
zu sondern ist^ zu ihrem Ideale eben nichts weiter haben könne,
als die sinnliche Erscheinung des Menschen in ihrer ganzen Aus-
dehnung und mit allem, was zu ihr gehört. Nun ist die Art,
wie der Mensch sein Wesen in der siimlichen Welt äußert, die
dreifache des Wortes, der Gebärde und des Tones, und danach
zeigt das System der »schönen Künste« die Trichotomie der
redenden Kunst, der bildenden Kunst und der Musik. In der
zweiten Klasse mußten dann neben der Plastik imd der Malerei
in etwas gezwungener Weise auch die Architektur, die Tektonik,
die Gartenkunst untergebracht werden. Die Palme unter den
Künsten reicht Kant der Poesie, weil sie die freieste und viel-
seitigste Entfaltung der Phantasie ermögliche, in der die ästhe-
tischen Verhältnisse der Schönheit und der Erhabenheit durch
das Spiel der Vorstellungskräfte zustande kommen können.
Bedeutsamer jedoch als diese Einteilung der Künste ist Kants
Lehre von der Kunst im allgemeinen. Alle Kunst ist eine be-
wußte, also absichtliche Erzeusuno^, und ihre Aufgabe ist die Er-
Zeugung " schönef Gegenstände. Schön aber ist das absichtslos
Zweckmäßige. Dieser Widerspruch ist nur dadurch zu lösen, daß
die Werke der Kunst so erzeugt werden, daß sie auf den OcQ-f^i^-
nießenden den Eindruck machen, als seien sie Produkte der ab- \,^,X
sichtslos schaffenden Natm\ Alle Kunst muß als Natur an-
gesehen werden können, und darin besteht das Geheimnis des
Künstlers, daß er in der vollendeten Zweckmäßigkeit seines Werkes
jede Spur der Arbeit verbirgt, durch die es erzeugt worden ist.
Das Kunstwerk ist verfehlt, sobald man ihm die bewußte Er-
zeugung anmerkt, aus der es hervorgegangen istT^ Keine Spur der
>y--^y^^>'. ^ ^^- 4ant. ästhetische 'äiioiief^^^'^ ^ *^ ^^^
Absicht, keinen »Zeugen menschlicher Bedürftigkeit«, wie es nach
Kant der Dichter genannt hat, darf es an sich tragen. Es muß
vor uns stehen wie eine Gabe der Natur, bei der wir nicht fragen,
woher sie kommt und wohin sie zielt.
Diese Tätigkeit des Künstlers ist in der Tat ein Geheimnis,
imd es existiert, um sie hervorzubringen, ein eigenes, von allen
übrigen verschiedenes// Vermögen des menschlichen Geistes. So wie
der Geschmack die Fähigkeit der interesselosen Betrachtung und
der Boden für die Entfaltung des apriorischen ästhetischen Ge-
fühls, wie er das Vermögen des ästhetischen Genusses ist, so ist
das Genie das Vermögen der ästhetischen Erzeug-ung. Die Er-
zeugung des künstlerischen Produkts durch das Genie ist stets
"^riginelL Sie verfährt nicht nach begrifflich vorherbestimmten
Regeln, sondern sie gibt vielmehr selbst in der Produktion und
mit ihr die ästhetischen Regeln, nach denen die hinterherkommende
Theorie ihre Kritik vollzieht. Das Genie ist exemplarisch. Es
erzeugt seine Werke nicht aus bewußter Reflexion, sondern völlig
naiv und in der natürlichen Entfaltung seines eigenen Wesens.
Es arbeitet bewußt, und doch arbeitet in ihm etwas so notwendig
und so absichtslos wie eine Naturgewalt. Soll die Kunst wie
eine Natur angesehen werden können, so ist das nur dadurch
möglich, daß das sie erzeugende Genie eine Intelligenz ist,
die als Natur wirkt. Dieser Charakter des Genies, diese seine
naive und absichtslose, naturnotwendige Wirkung eines intelligenten
Wesens ist eine Tatsache; aber sie ist unbegreiflich. Die Funktion
l des Genies bewundern wir, aber wir verstehen sie nicht. Die
^ Tätigkeit des Genies ist deshalb, wie Kant meint, auf die Kunst
-t beschränkt; er will sie vor allem aus der Wissenschaft verwiesen
sehen. In ihr gelte nur der »große Kopf«. Aber dieser unter-
scheide sich von dem gewöhnlichen Menschen nur quantitativ und
nicht wie das Genie prinzipiell. Während die Produktion des
Künstlers mit jedem Schritte ein neues unlernbares Geheimnis
enthalte, sei in den Werken eines Newton nichts, was nicht der
^ gewöhnliche Verstand nachrechnend begreifen könnte. Die wissen-
J schaftliche Größe ist erwerbbar, die künstlerische nie. Sie ist eine
''^ Gabe der Natur.
Für die Behauptung, daß das Genie in der Wissenschaft keinen
Platz habe, gibt es keine glänzendere Widerlegung als Kant selbst
yy. ^ ^'.M -/ y , . i Wesen des (Jenics. , y , > ».^ 181
und seine iistholisthe Lrhro. Er hat recht, daß aucli in den
größten wissenschaftliclicn Taten nichts ist, was, wenn sie einmal
geschehen sind, nicht für jeden be«^^reiflich gemacht werden könnte.
Aber eben sie zu tun und das zu finden, was nachher jeder ein-
sehen kann, das ist selbst nicht mehr eine Sache des Erlernenfl
und Erwerbens, sondern vielmehr der genialen Intuition. In der
^beweisenden"" Darstellung der Wissenschaft — darin hat Kant
zweifellos recht — hat die geniale Behauptung auch nicht die
Spur eines Bürgerrechts. Aber in der Erforschung muß der große
Blick des Genies dasjenige unmittelbar erfassen, was erst nach-
her durch die strenge Arbeit des Verstandes bewiesen werden
kann. Oder war es etwa nicht eine geniale Intuition, mit der
ein Newton die Identität der Naturwirkung in dem Falle des
Apfels und in der Bewegung der Gestirne erfaßte? Und ebenso
war es nicht erworben und nicht erlernt, wenn Kant in der Kritik
der ästhetischen Urteilskraft das Wesen der Schönheit und des
Genies in seiner letzten Tiefe erfaßte und in den Begriffen seiner
Philosophie formulierte.
Aber unter allen philosophischen Taten Kants ist dies persön-
lich gewiß die bewunderungswürdigste. Mancherlei einzelne Ge-
danken und Formulienmgen seiner ästhetischen Lehre mag er in
der englischen und der deutschen Literatur, die er auch in dieser
Hinsicht fleißig verfolgte, vorgefunden und schon in seiner vor-
kritischen Zeit schriftlich oder mündlich vorgetragen haben; ins-
besondere haben von den Deutschen Winckelmann und von den
Engländern Gerard bedeutsam mit ihren Gedanken und Formeln
auf ihn eingewirkt: aber die einheitliche Energie, mit der sie in
der Kritik der Urteilskraft entwickelt werden, ist sein eigenstes
Werk. Eben hier erweist sich der »systematische Faktor«, der
in seinem Denken eine so große und häufig entscheidende Rolle
gespielt hat, geradezu als schöpferisch. Und dabei wirkt die
Größe seiner Leistung auf diesem Gebiete um so eindrucksvoller,
je mehr man bedenkt, wie wenig er dem Gegenstande persönlich
nahe stand. Im kimmerischen Norden, wo die Natur ihre Reize
sparsam ausgestreut hat, den engen Mauern seiner heimatlichen
Feste kaum jemals entronnen, von der Anschauung nennenswerter
Werke der bildenden Kunst vöUi«^ absfeschlossen, mit dem pe-
dantischen Geschmack des Aufklärungszeitalters in die Werke von
ILL^
fd
1Q2 Kauts ästhetische Philosophie.
Dichtern wie Pope und Haller eingelebt und von dem gewaltigen
Aufschwünge der deutschen Poesie verhältnismäßig wenig berührt,
— so entwirft dieser Mann in seiner Einsamkeit aus der philo-
sophischen Überlegung heraus eine Lehre vom Ursprünge des
ästhetischen Gefühls und von der Produktionsweise des künstle-
rischen Genies, welche in ihrer Einfachheit bis auf den heutigen
Tag das Tiefste ist, was darüber geschrieben wurde, und dringt
in das innerste Wesen dieser ihm völlig heterogenen Tätigkeit so
mächtig ein, daß unsere beiden großen Dichter, sonst zurück-
gestoßen von der schulmäßigen Strenge seiner theoretischen Unter-
suchungen und von der rigoristischen Einseitigkeit seiner sittlich ea
Überzeugung, in diesem seinen Werke das Geheimnis ihrer eigenen
Schöpfungen ausgesprochen finden und es ausdrücklich bekennen:
so ist es und nicht anders.
Die Kritik der Urteilskraft ist der Schlußstein des Kantischen
Gedankenbaues : aber sie ist zugleich der mächtigste Eckstein für
den Weiterbau der Nachfolger geworden. Denn die glücklichste
aller Fügungen wollte es, daß, was Kant in ihr begrifflich er-
kannte, in der unmittelbaren Gegenwart lebendig wirkte. Für
den gesamten Zusanomenhang des deutschen Geisteslebens am Ende
des XVIII. Jahrhunderts ist kein Werk bedeutsamer geworden als
dies. Es enthält in sich den größten und einflußreichsten Moment
unserer Kultm^geschichte : der große Philosoph denkt den großen
Künstler — Kant konstruiert den Begiiff der Goetheschen Dichtung.
III. Teil.
Die nachkantischc Philosopliie.
Kants Lehre macht in der Geschichte des modenien Denkens
die grollte Epoche aus, die es erfahren hat. Aber mannigfache
Umstände vereinigten sich, imi ihre Wirkungen zunächst auf die
deutsche Geistesbewegung zu beschränken. Die anderen Nationen,
überdies nicht gewohnt, aus Deutschland Anregungen für das philo-
sophische Denken zu empfangen und sich mit der deutschen Lite-
ratur eingehend zu beschäftigen, waren zugleich aus verschiedenen
Gründen nicht dazu angetan, den Kantischen Gedanken Folge
imd Ausbildimg zu geben. In England war die philosophische
Energie mit der großen Bewegimg von Locke zu Hume erschöpft.
Die schottische Schule mit ihren bequemen psychologistischen
Untersuchungen des Commonsense beherrschte so gut wie aus-
schließlich alles, was sich von philosophischen Tendenzen noch
regte. In Frankreich dagegen trat für alle bedeutenderen Geister
mit dem Beginne der Revolution und allen ihren großartigen Folge-
erscheinungen das theoretische Interesse hinter das politische und
soziale noch mehr zurück als früher, und die Franzosen hatten
damals am wenigsten Zeit, sich mit den tiefsinnigen Untersuchungen
eines Kant zu beschäftigen. Auch ihre philosophische Bewegung
war bei den letzten Resultaten angelangt, die in ihrer anfänglichen
Tendenz angelegt gewesen waren, und nachdem das letzte Wort
des Systeme de la nature einerseits und Rousseaus anderseits aus-
gesprochen worden war, gab es auch in der französischen Auf-
klärung zunächst keine Veranlassung mehr zu weiterer selbständiger
Bewegung, Für Italien dauerte die Unselbständigkeit des philo-
sophischen Interesses, welche es seit der Gegenreformation des
XVI. Jahrhunderts im ganzen gezeigt hatte, noch fort, und die
184 I^ie nachkantische Philosophie.
Verwicklung in die große politische Bewegung, bei der die ersten
Regungen seines nationalen Selbstgefühls wieder zutage traten,
war eben auch nicht geeignet, eine besondere philosophische Leistung
hervorzurufen.
Um so günstiger lagen die Verhältnisse in Deutschland. Erst
seit einem halben Jahrhundert waren hier die bürgerlichen Klassen
in die geistige Bewegung der Aufklärung eingetreten und hatten
jetzt erst recht das brennende Interesse gewonnen, in einer geistigen
Gemeinschaft die nationale Zusammengehörigkeit zu finden, die
ihnen politisch abging. War ihnen die Sehnsucht danach durch
die gewaltige Erscheinung Friedrichs des Großen neu erweckt
worden, so zeigte sich der zerrissene und kleinliche Zustand der
politischen Verhältnisse so wenig kräftig, das Interesse der be-
deutenderen Geister auf sich zu ziehen, daß diese vielmehr nur
in ihrem intellektuellen und ästhetischen Leben die nationale Ge-
meinschaft finden zu sollen glaubten. Diese Abwendung des Inter-
esses der Gebildeten von dem öffentlichen Leben ist vielleicht
neben den alten Sünden einer jahrhundertelangen politischen Zer-
fahrenheit eine Veranlassung dafür geworden, daß der ganze po-
litische Bau der deutschen Nation wie ein Kartenhaus über den
Haufen geworfen wurde. Aber die Konzentrierimg dieses Inter-
esses auf eine gemeinsame wissenschaftliche und künstlerische Arbeit
hat mitten in dem Untergange der alten politischen Institutionen
eine nationale Bildung aufgerichtet, aus der dann als aus ihrer
kräftigsten Wurzel und zugleich mit der sittlich größten Berech-
tigung im XIX. Jahrhundert die Neubegründung der deutschen
Nationalität hervorgegangen ist.
An dieser nationalen Bildung, die das wahre Fundament der
heutigen Zustände bildet, haben zwei Mächte des geistigen Lebens
gleichen Anteil: die Dichtung und die Philosophie. Wenn aber
die deutsche Aufklärung, sich selbst überlassen und nachdem sie
die ausländischen Anregungen vollständig in sich aufgesogen hatte,
schließlich doch derselben trostlosen Versandung des philosophischen
Denkens verfiel wie das Ausland, so ist die Stellung Kants in
der Geschichte der deutschen Nation dadurch in ihrer ganzen
eminenten Bedeutung bezeichnet, daß es seine Lehre war, welche
dem philosophischen Interesse einen neuen Inhalt und eine uner-
schöpflich fruchtbare Energie verschaffte, vermöge deren sie jähr-
lOiiiteilung dur iiaühkantiiichen Philosopliio. 185
zohntelang zu oincin Gcsamtintorosso (h r nationalen Bildung und
ihre Fortentwicklung zu einem Sammelplatz der lieivorragendsten
C^eister werden konnte.
So kam es durch die Gunst der Verhältnisse und durch die
Macht des Gedankens, daß sich an Kant unmittelbar in Deutsch-
land eine der lebhaftesten und rapidesten philosophischen Be-
wegungen anschloß, welche die Geschichte je gesehen hat. Die
große Mannigfaltigkeit der in seiner Lehre verarbeiteten Prin-
zipien gab den Kaum für einen nicht minder großen Reichtum
von Systemen der Philosophie, die sich in rascher Folge aus dem
eeinigen entwickelten. Die Darstellung der nachkanti sehen Philo-
sophie hat daher in erster Linie diese systematische Entwicklung
zu ihrem Gegenstande zu machen, worin die Kantische Philosophie
alle ihre Anlagen zu selbständiger Gestaltung herausbildete. Diese
Zeit reicht bis in die dreißiger Jahre des XIX. Jahrhunderts. Nach
ihr tritt in Deutschland jene Erschlaffung ein, welche den Zeiten
bedeutender Produktion zu folgen pflegt. Von hier aus muß sich
der Blick der Geschichte auf die Beweoun^en des ausländischen
Denkens zurücklenken, um zu sehen, wie inzwischen die anderen
Nationen allmählich wieder teils mit originelleren Schöpfungen,
teils besonders durch die Anregungen von Seiten Kants und der
übrigen deutschen Denker in die philosophische Bewegung ein-
treten und bis in die neueste Zeit hinein mit steigendem Liter-
esse und steigendem Erfolge sich daran beteiligen. Endlich ver-
langt die frischere Bewegung, welche etwa seit der Mitte des
Jahrhunderts auch in Deutschland wieder eingetreten ist, und
welche teilweise auch auf Rückströmungen aus England und Frank-
reich hinweist, die Darstellung der neuesten deutschen Philosophie,
mit der die Geschichte von selbst in die kritische Betrachtuns
der Gegenwart ausläuft. In dieser Weise wird die Geschichte der
nachkantischen Philosophie in vier Kapiteln darzustellen sein.
Das erste behandelt die systematische Entwicklung der deutschen
Philosophie nach Kant, das zweite die französische, das dritte die
englische Philosophie des XIX. Jahrhunderts. Das vierte Kapitel
wird der Darstellung der neuesten Philosophie in Deutschland ge-
widmet sein*).
*) Von diesen vier Kapiteln enthält dieser Band nur noch das erste.
Vgl. das Vorwort zur ersten Auflage.
186
I. Kapitel.
Die systematische Entwicklung der deutschen Philosophie
nach Kant.
Die Entwicklung der deutschen Philosophie nach Kant ist an
dem Sternenhimmel der Geschichte der Philosophie die dichtest
besetzte und leuchtendste Stelle. Zu keiner anderen Zeit drängen
sich Sterne erster Größe so nahe wie hier zusammen, und nirgends
sind sie von einer solchen Fülle mitleuchtender kleinerer Genossen
umgeben. Wohl mag es manche Zeiten in der Geschichte geben,
welche ein ähnlich intensives Interesse einer ganzen Nation an
philosophischen Fortschritten erkennen lassen. Die griechische
Bildung in der Zeit um Sokrates und das französische Geistes-
leben um die Mitte des XVIII. Jahrhunderts zeigen eine ähnliche
Breite des nationalen Interesses an der Philosophie wie die deutsche
Bewegung nach Kant. Aber so dicht beieinander, so in unmittel-
barer Folge von kaum mehr als drei Jahrzehnten hat selbst die
attische Philosophie nicht ihre großen Systeme erzeugt, wie die
deutsche. Die letztere zeigt eben darin, daß sie mit der lauge
zurückgestauten Hochflut der deutschen Geistesbewegung wächst
und einen ihrer wesentlichsten Teile ausmacht. Die Kantische
Philosophie mit ihrem unerschöpflichen Ideenreichtum und mit
ihrer nach allen Eichtungen fruchtbar auszubildenden Methode
wurde sehr bald von der gesamten nationalen Bildung als ein ge-
waltiges Mittel ergriffen, um den Kulturstoff durchzuarbeiten und
abzuklären, der gleichzeitig dem deutschen Geiste neuen Inhalt
und neue Aufgaben gegeben hatte. Die kritische Philosophie fiel
in die Zeit der zweiten, der gereiften Renaissance, welche Deutsch-
land erlebt hat, und welche den in der Mitte abgebrochenen
Prozeß der ersten zu Ende zu führen bestimmt war. Es war die
Zeit, in der die deutsche Kirnst und die deutsche Dichtung neu
in die Schule der Alten gingen und in der auch die Wissenschaft
mit reinerem und vollerem Verständnis zu den ewigen Quellen
menschlicher Kultur zurückstieg, die in Hellas fließen. Es war
die Zeit, wo der deutsche Geist der Einwirkungen der beiden west-
lichen Nationen, die ihn zuerst wieder aus dumpfem Schlafe ge-
weckt, Herr zu werden und sich in seiner eigenen Selbständigkeit
DüulBchlundH /.weite Renaiittnco. 187
zu fiihlon bo«;ann. Es war mit ciuem Worlc die Zeil, wo dcT
deutsche Geist sich anschii kto, in (Ut «ganzen Allseitigkcit seiiicä
Wesens das Fazit zu ziehen aus zwei ^roüeii Kultwrperioden und
damit die Bewegung abzuschließen, die in der Renaissance be-
gonnen hatte. Wenn Kants rhilosophie als das reife Resultat
aller der phÜDSophisehen Bewegungen angesehen werden muß, deren
Beginn wir in den zerstreuten Anfängen des modernen Denkens
verfolgt haben, so begreift .<ich, weslialb gerade seine PhilüS()[)hie
geeignet war, den philosopliischen Keim zu bilden, der in meinem
Wachstum die ganzt^ reiche Ideenwelt dieser zweiten Renaissance
zu assimiheren vermochte und so zu einem Baume heranwuclis,
in dessen Schatten ein Jahrhundert wohnen sollte.
Es kann hier nicht ausgefülirt w^erden, wie sich genau der-
selbe Prozeß um dieselbe Zeit in der poetischen Literatur der
Deutschen vollzog, wie auch hier die modernen Ideen mid Formen
in eine kongeniale Erneuerung des klassischen Geistes einschmolzen,
und wie es auch hier eine große dominierende Persönlichkeit war,
in der alle Fäden dieser Bewegung zusammenliefen. Die Parallel-
stellung Kants und Goethes hat in dieser Richtung jener ganzen
unvergleichlichen Zeit ihren Charakter aufgeprägt. Sie sind die
beiden königlichen Geister, um welche sich alle übrigen, die einen
dem einen, die andern dem andern näher, gruppieren. Sie sind
die beiden Pole, um welche die ganze Bewegung der Geister sich
dreht. Ihre Verwandtschaft und noch mehr ihr Gegensatz ist das
treibende Moment der folgenden Entwicklung.
Deshalb zeichnet sich diese höchste Blütezeit des deutschen
Kulturlebens vor allen anderen Epochen der Geschichte durch eine
so innige Gemeinsamkeit der philosophischen und der poetischen
Bewegung aus, wie sie niemals vorher dagewesen ist. Zu keiner
Zeit waren die Dichter philosophischer, zu keiner Zeit standen
die Philosophen so immittelbar unter dem Einflüsse der Poesie.
Zu keiner Zeit war die Bildung einer Nation so gleichmäßig
poetischen und philosophischen Charakters wie zu dieser. Die
äußere Veranlassung dazu lag eben darin, daß beide und beide
allein die geistige Grmidlage der nationalen Einheit bildeten. Die
innere lag darin, daß die Philosophie aus ihrem eigensten Be-
dürfnis heraus Fühlung mit dem künstlerischen Leben suchte imd
suchen mußte. Die letzte Synthese der kritischen Philosophie
188 Philosophie und Dichtung.
bildete der Begriff des künstlerisclieii Genies. Darin lag eine not-
wendige Gedankenverbindung zwischen Philosophie und Dichtung,
welche beide Teile zueinander hinziehen und schließlich zu dem
Versuche voller Verschmelzung zwischen ihnen führen mußte.
Eine besondere äußere Veranlassung trat hinzu, um das, was
die geistige Verwandtschaft notwendig machte, in kürzester Zeit
zur wirklichen Erscheinung werden zu lassen. Durch eine Anzahl
von persönlichen Beziehungen wurde seit der Mitte des neunten
Jahrzehnts des XVIII. Jahrhunderts die Universität Jena »die
zweite Heimat« der kritischen Philosophie. Damit trat der Ge-
danke Kants aus der Einsamkeit seines Urhebers mitten in eine
lebhafte Bewegung ein, die wesentlich poetischen Charakters war.
Es ist das nie genug zu rühmende Verdienst Karl Augusts von
Sachsen- Weimar, daß er die Träger der poetischen und ebenso
diejenigen der philosophischen Entwicklung so miteinander ver-
einigt hat, daß sie in stetiger persönlicher Berührung jene große
Verschmelzung der Ideen herbeiführen konnten. Weimar und
Jena wurden in wenigen Jahren und für mehr als ein Jahrzehnt
die Hauptstädte des geistigen Deutschlands. Sie büdeten in der
politisch zerrissenen Nation einen Mittelpunkt, nach welchem alles
hinstrebte, was in die Bildung der Zeit eintreten und sie fördern
wollte. Hier fand eine Berührung und eine rapide Gesamtent-
wicklung der Geister statt, ähnlich wie diejenige in Paris während
der Mitte des XVIII. Jahrhunderts, nur mit dem Unterschiede,
daß der Inhalt dieser Entwicklung und deshalb auch ihr Resultat
ungleich bedeutender war als dort.
Die Jenenser Universität ist deshalb der Mittelpunkt, an welchem
die philosophische Seite dieser Bewegung, soweit sie von der poe-
tischen trennbar ist, verfolgt werden muß. Hier folgen sich Schlag
auf Schlag die großen Systeme der deutschen Philosophie. Sie
entstehen im Uni versitätsleben ; aus dem Haupte ihrer Schöpfer
setzen sie sich sogleich in die Überzeugungen lernbegieriger Männer
und Jünglinge um und werden hinausgetragen in alle Schichten
des Volkes, um in kürzester Zeit das geistige Leben der Nation
zu durchdringen und ihm einen neuen Inhalt zu geben. Zu der-
selben Zeit, wo der europäische Staatenbau aus den Fugen geht
und das Deutsche Reich zusammenbricht, reichen sich Dichtung
imd Philosophie die Hände, um die eherne Schlange einer natio-
Jena und Weimar. 189
iialeii Bildung zu criiclitcn, in der die* Zukunft ihr JL ii finden
sollte.
Aber aucli den Tiägern des philoso|)hisclien Gedankens erwies
sich ihre Wirlc^^andvcit an der Univei^ilät als ein mächti;.^er Anreiz
für die Weiterentwicklung. Sie sind die leuchtenden Typen für
jenes »docendo discitur«, welches die Signatur des akademischen
Lebens in Deutschland bildet. Genötigt, den philosophischen Ge-
danken vor einer in die liöchste Bildung eingolebten oder zu ihr
aufstrebenden Zuhörerschaft immer neu zu produzieren, müssen
sie auf die geheimsten Beziehungen und Wendungen darin auf-
merksam werden und befinden sich aus diesem Grunde in einer
stetigen Umbildung zunächst der Form und dann auch des In-
halten der Philosophie. In dieser rastlosen Arbeit kommen dann
alle die zahlreichen Motive des Kantischen Systems nacheinander
zu überwiegender Geltung und verbinden sich je nach ihrem In-
halte mehr oder minder fest mit den übrigen Elementen der
nationalen Bildung. So sind es gerade die Vielseitigkeit und der
innere Antagonismus der Teile der Kantischen Lehre, welche in
Verbindimg mit der Reichhaltigkeit des übrigen Bildungsmaterials
die Vielgestaltigkeit der folgenden Philosophie und die verhältnis-
mäßig große Anzahl bedeutender Systeme ermöglicht haben, worin
sich diese ausprägte.
Den Grundstock dieser Entwicklung bilden somit die Systeme,
die in Jena selbst erzeugt worden sind; an sie schUeßt sich alles
an, was auch außerhalb und teilweise im Gegensatze zu ihnen
mit wirklich fruchtbarer Originalität zutage getreten ist. Aber
auch hier wie in dem Paris des XVIII. Jahrhunderts hat man
es mit einer Gesamtentwicklung zu tun. Auch hier ist der Gang,
welchen der einzelne Denker nimmt, durch die gemeinsame Arbeit
bestimmt. Auch hier ist es oft schwer, den Anteil, den der ein-
zelne daran hat, genau gegen denjenigen des anderen abzugrenzen.
Auch hier sind bei aller persönlichen Initiative die einzelnen Werke
nur die Etappen eines gemeinsamen Fortschrittes. Die führenden
Persönhchkeiten unterHegen zum Teil selbst den Wandlungen,
welche durch das Zusammenströmen der verschiedenen Tendenzen
in der Atmosphäre dieser Bildung entstehen, und sie begegnen
uns deshalb in verschiedener Gestalt an verschiedenen Punkten
der Gesamtentwicklung.
■■
190 Erste Wirkungen der kritischen Philosophie.
§ 62. Die ersten Wirkungen der kritischen Philosophie.
Der erste Erfolg der Kritik der reinen Vernunft entsprach
einerseits der Schwierigkeit ihrer Untersuchungen und der voll-
kommenen Neuheit ihres erkenntnistheoretischen Standpunktes,
anderseits dem Umstände, daß das System Kants darin nur zur
Hälfte niedergelegt war und seiner Ergänzung noch bedurfte. Sie
wurde in den ersten Jahren wenig beachtet und, wo man sie las,
mißverstanden. Wenn später einmal von Seiten der preußischen
Zensur das Imprimatur für eine der religionsphilosophischen Ab-
handlungen Kants mit der Begründung erteilt wurde, »daß doch
nur tiefdenkende Gelehrte die Schriften des Herrn Kant läsen«,
so waren solche tiefdenkenden Gelehrten die Häupter der zeit-
genössischen Popularphilosophie nicht. Sie, die mit ihren dogma-
tischen Begriffen oder mit ihreno,, gesunden Menschenverstände ' am
Ende des Wissens angekommen waren, hatten kein Organ mehr,
um auch nur die Probleme zu verstehen, an welchen der große
Denker sich abmühte. Sie fanden in der Kritik nur dasjenige
wieder, was sie selbst oder ihre Gegner gesagt hatten, und sie
waren auf das äußerste darüber entrüstet, daß nun doch dieses
Werk ihre sauberen Beweise für das Dasein Gottes und für die
Unsterblichkeit der Seele als eitel Schein und Sophisterei zer-
störte. Die einen hielten Kant für einen Leibnizianer, weil er
die Möglichkeit apriorischer Erkenntnis behauptete; die andern
stellten ihn zu Locke, weil er das menschliche Wissen auf die
Erfahrung beschränkte: die meisten sahen in ihm eine der vielen
Verschmelzungen von Leibniz und Locke, welche die deutsche
Philosophie versucht hatte. Den Kern der Sache verstand niemand.
Und doch bemächtigte sich vieler ein gewisses unbehagliches Ge-
fühl davon, daß man es mit einem großen Ereignis zu tun habe,
das man nur noch nicht recht zu fassen vermöchte, und daß
man sich gegen diese neue Lehre auf Tod und Leben zu ver-
teidigen haben würde. Ein Nicolai freilich meinte noch spät, als
der Sieg bereits entschieden war, die »vonvornige<< Philosophie
durch seine albernen Satiren, wie die »Geschichte eines dicken
Mannes« (1794) und »Leben und Meinungen Sempronius Gundi-
berts« (1798) abgetan zu haben. Aber ein Mendelssohn gab schon
seine »Morgenstunden« (1785) mit den alten Beweisen vom Dasein
Eindruck der Kritik. 191
Gt)ttes in einer Art von wohniiitig(Mn ({cfühl Heiner Überlebt iieit
dem »alles zermalmenden« Kant ^ej^enüber heraus.
Immerhin <;ini>;en die ersten breitereu Wirkim<i;en der Kantischen
Philosophie nicht von der Kritik» der reinen Vernunft, sondern
von anderweitigen Darstellungen aus. Das Ha\iptwerk selbst fand
nur sehr wenige und äußerst unbedeutende Besprecliungen , die
hauptsächlichste noch in den »Göttinger gelehrten Anzeigen«. Von
Garve ursprünglich verfaßt (sie ist später in dieser Gestalt mit
mancherlei Zusätzen in Nicolais »allgemeiner deutscher Bibliothek«
reproduziert worden) und von Feder redaktionsmäßig zusammen-
geschnitten und überarbeitet, zeigt sie durch die Behauptung,
Kant stehe etwa in der Nähe von Berkeley, eine so völhge Un-
fähigkeit, die neuen Untersuchungen zu verstehen, daß Kant ihr
in den » Prolegomena « eine scharfe Zurechtweisung erteilte. Aber
auch die Absicht dieser Schrift, die kritische Lehre dem allgemeinen
Verständnis näher zu bringen, hatte wenig Erfolg, und erst Kants
Freund und Kollege, der Hofprediger und Professor der Mathe-
matik Johann Schulze (1739 — 1805, auch Schultz geschrieben),
erwarb sich durch seine »Erläuterungen über des Herrn Prof. Kant
Kritik der reinen Vernunft<< (1784) das Verdienst, der neuen
Philosophie Freunde zu werben. Er zielte darin, wie auch später
in der »Prüfung der Kantischen Kritik der reinen Vernunft«
(2 Bde., 1789 und 1792) hauptsächlich auf den Nachweis der
religiösen Ungefährlichkeit des kritischen Systems. Seine Dar-
stellung, viel elementarer als die Kantische, führte dem Kriti-
zismus viele Jünger zu. Von noch größerer Wichtigkeit aber
wurde es, daß die beiden Herausgeber der Jenenser »Allge-
meinen Literaturzeitung« (seit 1785), Schütz und Hufe-
land, sich auf den Kantischen Standpunkt stellten und dieses
Journal geradezu als Organ der kritischen Philosophie behandelten.
Damit begann die Einströmung der Kantischen Lehren in die
besonderen Wissenschaften. NamentHch gewann durch Hufeknd
selbst die Jurisprudenz Fühlung mit den Kantischen Prinzipien,
mid Rehberg, der bekannte Staatsmann und Publizist, gab
später seine geistreiche Beurteilung der Literatur über die fran-
zösische Revolution ganz von den Gesichtspunkten der kritischen
Rechts- imd Geschichtsphilosophie aus. An der allgemeineren
philosophischen Verteidigung Kants beteiligte sich neben den
292 Erste WirkuDgen der kritischen Philosophie.
beiden Herausgebern in diesem Journal besonders Kraus (1753
bis 1807), Kants Spezialkollege in Königsberg, obwohl er in seinen
ei^^enen Ansichten skeptischer war. Die entscheidende Tat aber
für den Durchbruch der kritischen Philosophie geschah durch
K. L. Reinhold. Seine »Briefe über die Kantische Philosophie«
(1786 und 1787 in Wielands »Deutschem Merkur« erschienen und
darauf besonders gedruckt) haben das Interesse der gebildeten
Welt in Deutschland wie mit einem Schlage für Kant erobert.
Es gelang ihnen deshalb, weil sie mit glühender Begeisterung und
in beredter, schöner Sprache diese Lehre so schilderten, wie sie
auf den Verfasser selbst gewirkt hatte : als eine neue sittlich-
religiöse Überzeugung, welche mit der höchsten Klarheit des
Denkens die wertvollsten Gegenstände des Glaubens umfaßte.
Nicht mehr die religiöse Ungefährlichkeit des Kritizismus wollte
er dartun, sondern dieser galt ihm selbst als eine neue Religion.
Als dann Reinhold 1787 auf die Jenenser Professur berufen wurde,
als neben ihm mit Wort und Schrift der unermüdliche Erhard
Schmid (1761 — 1812) für die Ausbreitung des Kantianismus wirkte,
da war der Bann gebrochen, und mit rapider Geschwindigkeit
^Yurde die kritische Philosophie zu einem Gegenstande des lebhaf-
testen Interesses in ganz Deutschland.
Inzwischen waren nun auch Kants moralphilosophische Werke
erschienen, und 1790 kam die Kritik der Urteilskraft. Immer
allseitiger offenbarte sich die Revolution, welche der große Mann
in das philosophische Denken brachte, immer breiter wurde die
Berührung, die seine Lehre mit den allgemeinen wie mit den
besonderen Interessen der wissenschaftlichen und der literarischen
Bildung gewann, immer stattHcher wuchs die Zahl der Anhänger;
aber desto lebhafter und eifriger regte sich auch der Widerspruch
der Gegner. Schon im Jahre 1791 war die Bewegung so groß
geworden, daß die Berliner Akademie, in welcher die Wolffsche
Schule und die Popularphilosophie in Eintracht herrschten, sie
nicht mehr ignorieren konnte und im Hinblick auf sie die Preis-
frage stellte, »welche Fortschritte die Metaphysik seit Leibnizens
imd Wolffs Zeiten in Deutschland gemacht habe«, worauf sie
dann einige Jahre nachher die Antwort eines Wolffianers strenger
Observanz, Schwab in Stuttgart, krönte, weil diese dahin lautete:
die Metaphysik habe keine Fortschritte seit Wolff gemacht, und
Freunde und Feinde. 193
nie bedürfe ilersolben auch nic'bt . Abor nchon vorher hagelten die
(Jcgenscbvifton dicht. Von der Ausdebmni«; der Bewegung gibt
jianicntlicli die Fülle von Broschüren und akademischen DisHcr-
tationen Zeugnis, welche sich nnt den Kantischen Problemen,
wenn auch noch so ablehnend, beschäftijj^ien. Am absprechendsten
urteilten die Popularphilosophen. Die »all};emeinc deutsche
Bibliothek« eröffnete mit den Waffen des Ernstes und des »Scherzes
einen langjährigen Krieg gegen den Kritizismus, Meiners erklärte
in seinem »Grundriß der Geschichte der Weltweisheit« (Lemgo 1786)
Kant für einen modernen Sophisten, Feder schrieb eine triviale
Schrift »über Raum und Kausalität, zur Prüfung der Kantischen
Philosophie« (Göttingen 1787), deren spärliche Gedanken von
seinen Anhängern Weishaupt und Tittel in Büchern und Re-
zensionen ausgetreten wurden; die beiden ersteren gaben schließ-
lich sogar eine »Philosophische Bibliothek« zur Bekämpfung
Kants heraus. Stellte sich die Popularphilosophie bei ihren An-
griffen meist auf den Standpunkt des Empirismus, worin sie bei
Empiristen niederen Ranges wie Seile, Ouvrier u. a. Unter-
.stützung fand, so machte anderseits der schulmäßige Ratio-
nalismus Kant den Vorwurf, Leibniz und AVolff verlassen und
dafür teils zu Locke, teils zu Hume gegriffen zu haben. Das
große Wort führte hier Eberhard in Halle, der gegen den Kriti-
zismus zwei Zeitschriften hintereinander, das »Philosophische
Magazin« (1789 — 1792) und das »Philosophische Archiv«
(1792 — 1795) gründete. Im ersteren führte er selbst den Angriff,
den Kant in seiner Rephk ȟber eine Entdeckung, nach der alle
neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrhch
gemacht werden soll« (Königsberg 1790) vorzüglich parierte. An
dem letzteren wirkte hauptsächlich auch Schwab mit, der außer-
dem eine Anzahl eigener Schriften gegen die Kantischen Lehren
verfaßte. In dieselbe Posaune stieß mit dem Brustton Wolff scher
Orthodoxie Flatt in Tübingen, der zwar auch die übrigen Teile der
kritischen Philosophie, vorzügUch aber Kants Moraltheologie (1788)
angriff. Besonders eifrig tat sich auch als Gegner der neuen Philo-
sophie in dieser Richtung J.G.E.Ma aß in Halle (1766 — 1823) hervor,
der unter anderem seine scharfsinnigen »Briefe über die Antinomie
der Vernunft« (1788) brachte und später sich ganz der empirischen
Psychologie mit zahlreichen beachtenswerten Schriften gewidmet hat.
WindeUand, Gesch. d. n. Philos. H. 13
2^94 Erste Wirkungen der kritischen Philosophie.
Während aber bei all diesen Männern der Angriff wesentlich
darin bestand, daß sie zeigten, wie wenig sich Kant an das ihnen
Feststehende gehalten hatte, und daß sie die Lehren der früheren
Richtungen gegen ihn ins Feld führten, erfuhr der Kritizismus
verständnisvollere und tiefere Einwürfe von selten der Gefühls-
und Glaubensphilosophie. Hamann zwar veröffentlichte aus
persönlichen Gründen weder seine » Rezension << (1781 geschrieben
und erst 1801 in Reinholds »Beiträgen« gedruckt) noch die »Meta-
kritik über den Purismum der Vernunft« (1784): aber er hatte
darin vor allem den Gedanken ausgesprochen, daß die Kritik der
reinen Vernunft an der Trennung von Sinnlichkeit und Verstand
leide; daß diese beiden Stämme der menschlichen Erkenntnis ver-
dorren müßten, wenn man sie von ihrer »gemeinsamen Wurzel«
ablöse. Er hatte hier wie sonst darauf hingewiesen, daß in der
Sprache diese konkrete Einheit zutage trete, und daß es falsch
sei, sie in der Abstraktion auseinanderzureißen. Jener Gedanke,
daß die »Vermögen«, die Kant analysierte, auf ihre Grimdeinheit
zurückgeführt werden müßten, hat in der Tat später die auf Kant
folgende Entwicklung nach mehr als einer Richtung beherrscht,
aber freilich in ganz anderer Weise, als es Hamann dachte.
Schwieg Hamann, so sprach Herder um so lauter imd um so
gereizter. Ihn hatte die Rezension, welche Kant im ersten Hefte
der »allgemeinen Literaturzeitung« von seinen »Ideen« gab, er-
bittert. Er fühlte, abgesehen von allen persönlichen Beziehungen,
daß sein Prinzip der Geschichtsphilosophie dem Kantischen gegen-
über berechtigt sei. Aber wie es zu gehen pflegt, sahen die beiden
Standpunkte, die sich zu ergänzen berufen waren, zunächst nur
ihren Gegensatz. Herder hatte für die Auffassung der Geschichte
den Gesichtspunkt der natürhchen Entwicklung geltend gemacht:
Kant betonte, daß die Beurteilung der Fortschritte der historischen
Entwicklung nur unter Voraussetzung ihres Ziels und Plans möglich
sei. Aber der tiefere Gegensatz lag allerdings vor, daß der Leib-
nizianer Herder die Kluft zwischerf Natur"* und ^tthcher Willens-
tätigkeit", die Kant statuierte und auch auf die Geschichtsphilo-
sophie anwendete, nicht annehmen konnte. Sein in der Geschichts-
philosophie entwickeltes Prinzip, die menschliche Kultur und die
in ihr sich stufenweise vervollkommnende »Humanität« als das
gesetzmäßig entwickelte Schlußergebnis des Naturlebens verstehen
llaiuaiin, llonler, Jacobi. 19:")
zu wollen, stand mit den Grundlehrou Kants in i-Äiwin für ihn
nicht lösbaren Widerspruche. So richtete sich denn auch Herders
unwürdi<]; gereizte und nörüclnde Schrift »Verstand und Erfahrung,
eine Metakritik zur Kritik der Feinen Vernunft« (1799) auf die
Ausführunii des Haniannschen dedankens, daß alle die schroffen
Gei;ensätze in der Kantischen Lehre, Sinnlichkeit und Verstand,
Erfahrung und reine Begriffe, Inhalt und Form des Denkens,
Natur und Freiheit, Neigung und Pflicht — lauter Gegensätze,
die ja alle auf demselben Grunde beruhen — falsch seien, daß
die »Physiologie der menschlichen Erkenntnis« ihren allmählichen
Übergang ineinander erkennen und ihre Einheit zum Prinzip
machen müsse — -eine Aufgabe, die freilich, als die »Metakritik«
erschien, schon von ganz anderen Männern und in ganz anderer
Weise gelöst war. Noch schwächer endlich fiel Herders Be-
streitung der Kantischen Ästhetik in seiner »Kalligone« (1800)
aus, obgleich er sachlich auch hier mit seiner Betonung der »Be-
deutsamkeit« des Schönen gegen den Formalismus, der in der
Kantischen Lehre lag und besonders in ihrem Wortlaut zunächst
aufgefaßt wurde, nicht so ganz im Unrecht sein mochte.
Bestimmter und einschneidender waren die Einwürfe, welche /l /
Jacobi gegen die Kantische Erkenntnistheorie in seiner Schrift lA^^
»David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus </
(1787) machte und später in der Abhandlung »über das Unter-
nehmen des Kritizismus, die Vernunft zu Verstände zu bringen«
(1801) und in der »Einleitung in seine sämtlichen philosophischen
Schriften« (1815) über den gesamten nachkantischen Idealismus
ausdehnte. Er sah diese Entwicklung teilweise prophetisch voraus.
Die Tiefe seines Einblicks in den Antagonismus der Kantischen
Gedankengänge beweist am besten die Energie, womit er seine
Kritik auf die Achillesferse der kritischen Erkenntnistheorie
richtete: auf den Begriff des "Dinges an sich? Er zeigte zuerst,
daß Kant in der Begriffsbestimmung der Sinnlichkeit von der
naiven Voraussetzung der Dinge an sich ausgeht, und daß die
spätere Untersuchung nicht nur diese Voraussetzung in Frage
stellt, sondern eben damit den Begriff der Sinnlichkeit wieder
aufhebt. Die Sinnlichkeit ist das »Vermögen affiziert zu werden«,
und zwar soll sie durch ^Dinge an sich"' affiziert werden; aber
»affiziert werden« ist jedenfalls ein kausales Verhältnis, und die
18*
][96 Erste Wirkungen der kritischen Philosophie.
transzendentale Analytik verbietet, das Ding an sict in irgend welche
kategoriale, also auch in kausale Relation zu setzen. Die Kritik
der reinen Vernunft lehrt, daß unsere ganze Vorstellungswelt ohne
Beziehung zu den Dingen an sich betrachtet werden muß, während
sie anfänglich allen Inhalt unseres Vorstellens aus einer Einwirkung
eben dieser Dinge ableitet. Man kann ohne die Voraussetzung des
Realismus in Kants Lehre nicht hineinkommen und mit derselben
nicht darin bleiben. Der transzendentale Idealist wird daher den
Mut haben müssen, den stärksten Idealismus zu behaupten, der
je behauptet worden ist: er wird den Begriff des Dinges an sich
aufheben müssen. Das war die Antezipation der Fichteschen Lehre.
Aber wenn das geschieht, so ist die ganze Vorstellungswelt zu
einem sinnlosen Traume geworden. In einem zwiefachen Hexen-
raume, Raum und Zeit genannt, spuken Erscheinungen, in denen
nichts erscheint. Kant redet von Erscheinungen und behauptet,
daß in ihnen nichts von dem wahrhaft Wirklichen und wirkUch
Wahren erscheint. Die Seele stellt vor, aber nicht sich selbst
noch andere Dinge, sondern was weder sie selbst noch andere
Dinge sind. Kants Vernunft nimmt nur sich selbst wahr, wie
ein Auge, das nur sich sehen, wie ein Ohr, das nur sich hören
wollte. Das Erkenntnisvermögen schwebt zwischen einem pro-
blematischen X des Subjekts und einem gleich problematischen X
des Objekts: die Sinnlichkeit hat nichts vor sich, und der Verstand
hat nichts hinter sich. So ist Jacobi unermüdlich, die Wider-
sprüche dieser »positiven Unwissenheit« in geistreichen Antithesen
auszudrücken.
Während aber diese Einwürfe der zukünftigen Entwicklung
unverloren blieben, hielten sie zunächst den Siegeszug der Kan-
tischen Philosophie nicht auf. Einmal durchgedrungen, ergriff
diese unwiderstehlich die junge Generation, und im letzten Jahr-
zehnt des XVIII. Jahrhunderts eroberte sie nach und nach fast alle
deutschen Katheder, so daß sie auf jeder Universität eine lebendige
Vertretung fand. Die Männer dieser Kantischen Schule, deren
Namen in den Handbüchern aufbewahrt sind, waren nun freilich
zum größten Teile auch nicht fähig, dem Meister bis in die innerste
Tiefe seiner Gedanken zu folgen, und sie bewiesen dies sehr bald
dadurch, daß, als Reinhold die Kantische Lehre in eine gröbere
und populärere Form brachte, sie in hellen Haufen zu ihm über-
Kuiitiauor. 197
^ini>iMi. Xhvr schon dincl» ilnc lit'hitilti;^lvoit sickerten doch all-
iniihlieh die Prinzij)ien der niMien I*hih)sophie in das allgemeine
Bewußtsein durch, und nicht ndnder wirkte dafür die >;Kärrner-
arheit<< ihrer teilweise nehr zahh-^'ichen Schriften, in denen sie
Kant umschrieben, erläuterten und verteidi;;ton, sowie d^e Zeit-
schriften, die sie für denselben Zweck im Ge^^ensatze zu den anti-
kantisehen gründeten, z. B. das>>Neue })hilosophische Magazin
zur Erläuterung des Kantischen Systems«, welches Abicht
und Born, der Übersetzer der Kritik ins Lateinische, 1789 — 1791
herausgaben, otler die von dem Hallenser Jacob redigierten
»Annalen der Philosophie und des philosophischen
Geistes« (1795 — 97). Auf diese Weise strömten Kants Lehren
auch in die besonderen Wissenschaften ein. Ani wenigsten wurde
davon um diese Zeit verhältnismäßig die Naturforschung berührt;
denn alle Regungen, die sich namentlich in betreff der dyna-
mischen Naturauffassung zeigten, wm'den sehr schnell von Schellings
Naturphilosophie (vgl. § 64) aufgenommen. Wichtiger wurden
Kants Lehren für die Jurisprudenz und die historische Gesanit-
auffassung. Nach Hufeland und Rehberg sind hier Schmalz,
Pölitz, Zachariae, besonders aber der bekannte Kriminalist
und Strafrechtstheoretiker Anselm v. Feuerbach zu nennen: sie
führten die Gedanken der Kantischen Rechtsphilosophie in die
Behandlung der juristischen Probleme ein. In der Geschichts-
wissenschaft dürfen K. v. Rotteck und im weiteren Sinne auch
Schlosser, der berühmte Historiker des XVIII. Jahrhunderts,
als Kants Schüler gelten. Am tiefsten empfand den Einfluß der
kritischen Philosophie die protestantische Theologie. An-
fangs freilich wurde Kants ReHgionsphilosophie sowohl von dem
orthodoxen Supranatm:alismus als auch von dem aufklärerischen
Rationahsmus lebhaft genug bekämpft: jenem mißfiel seine mo-
ralische Deutung, diesem seine spekulative Anerkennung der posi-
tiven Lehren des Christentums. Neue Gedanken brachten aber
beide in ihren Dogmatismus eingesponnenen Teile nicht hervor,
und je mehr die philosophische Büdung, welche die Theologen
auf den Universitäten erhielten, unter den Einfluß Kants trat,
imi so größer wurde die Ausdehnung, worin bald jene beiden Gegner
die Waffen ihres fortdauernden Streites aus der kritischen Rüst-
kammer holten. Kants Zwischenstellung erlaubte ähnlich wie
198 Erste Wirkungen der kritischen Philosophie.
einst die Doppellehre Wolffs, daß innerhalb des Eahmens seiner
philosophischen Grundlehren alle theologischen Parteien Platz
fanden. Männer wie Süskind, Ammon, Tieftrunk konnten
leicht die negativen Resultate der Vernunftlcritik mit einer Offen-
barungslehre verknüpfen und gaben dem »moralischen Beweise«
eine immer mehr dogmatische, damit freilich von Kants Geist
entschieden abführende Form. Rationalisten anderseits, wie
Röhr, Gesenius, Paulus u. a. brauchten nur die »Vernünftig-
keit«, die Kant überall für den Glauben in Anspruch nahm, und
seinen Gegensatz gegen das »Statutarische« der positiven Reli-
gionen schärfer hervorzuheben, um zu ihrer theoretischen Über-
zeugung und ihrem negativen Verhalten gegen die Dogmen eine
neue, scheinbar tiefere philosophische Begründung zu finden.
Langsamer und der Natur der Sache nach auch weniger nachhaltig
war der Einfluß Kants auf die katholische Theologie, von
der seine Lehre teils ignoriert, teils a limine abgelehnt wurde.
Und wenn später Hermes (1775 — 1831) den Versuch machte,
mit eingehender Benutzung der Kantischen Erkenntnistheorie und
namentlich der Lehre von den praktischen Postulaten den rationalen
Teil der katholischen Theologie zu reformieren, zu welchem Zwecke
er den ersten Band seiner »Einleitung in die christkatholische
Theologie« (1819) schrieb, so bildete er damit zwar zunächst eine
stattliche Schule; allein einerseits war doch seine Umformung
und Abänderung der Kantischen Lehren nicht bedeutend genng,
als daß sich eine nennenswerte philosophische Bewegung daran
angeschlossen hätte, anderseits genügte bald nach seinem Tode
die gegen seine Lehre von der kirchlichen Macht ausgesprochene
Zensur, um diesen Versuch auch innerhalb seines Gebietes keine
größere Ausdehnung gewinnen zu lassen.
Drang so der Kritizismus wenigstens teilweise in die besonderen
Wissenschaften ein, so konnte es inzwischen nicht ausbleiben, daß
er sich auch auf dem philosophischen Gebiete mehr oder minder
glücklich mit den älteren bestehenden Lehrmeinungen vermischte.
Die Anhänger Kants kamen ja meistens von irgend einem der
früheren Systeme her und suchten von diesem so viel wie mög-
lich mit der neuen Überzeugung zusammen festzuhalten. Deshalb
ist die Grenzscheide zwischen den Kantianern und den sogenannten
Halbkantianern so flüssig und schwer zu bestimmen. Aber
lU'iuhüld. WJ
auch die letzt crcn hahon rs zu koinerlci bedoiitciKlcien oder fruchfc-
barorcn LoiiStuiigon gebracht- und sind Hchbeßlich alle durch die
große Bewegung fortgeschwemmt worden, iu welcher «ich die
kritisclie Philosopliie den gesamten allgemeinen Bildungsstoff der
Nation assimilierte. Die Träger dieser Bewegung aber sehen wir
in der Reihe der IMännei-, die in Jena die Kantische Lehre fort-
bildeten. An ihrer Spitze steht derselbe Mann, der auch weit
über den akademischen Wirkungskreis liinaus die meisten Schüler
für das neue System gesammelt hatte.
Karl Leonhard Reinhold, 1758 in Wien geboren und in
einem Jesnitenkloster erzogen, trat nach dei- Aufhebung des Ordens
unter Clemens XIV. in das BarnabitenkoUegium ein, wo er bald
seiner hervorragenden Begabung nach zum Lehrer der Philosophie
gemacht wurde. Aber er atmete zu sehr die Luft des Josephi-
nischen Zeitalters ein, als daß er in dieser Stellung lange hätte
bleiben können, und entfloh 1783, um bei Wieland, an den er
empfohlen war, eine Zuflucht zu finden. Er wurde später dessen
Schwiegersohn und dankte es seiner Vermittlung, daß, nachdem
er die erwähnten »Briefe über die Kantische Philosophie« heraus-
gegeben hatte, er in Jena Professor wurde. Hier eröffnete er die
Reihe jener glänzenden Lehrer, welche auf dem Katheder für die
Kantische Lehre und ihre Weiterentwicklung eintraten. 1794 ging
er von dort nach Kiel, wo er bis zu seinem Tode 1823 in wissen-
schaftlicher Hinsicht allmählich verkümmert ist. Reinhold war
kein schöpferischer Philosoph: er war eine Natur von großer
Empfänglichkeit, aber auch von ebenso großer Unselbständigkeit,
Er hat nacheinander die Standpunkte von Kant, Fichte, Schelling
imd Jacobi geteilt, er hat schießlich sein Heil in Bardili und
sogar in den etymologischen Spielereien seines Freundes Thorild
gefimden. Seine Bedeutung beruht nur auf den Jahren seiner
Jenenser Wirksamkeit: aber sie beschränkt sich nicht auf die
mächtige Anregmig, die seine glänzende Redegabe für die An-
erkennung der kritischen Philosophie gegeben hat, sondern erstreckt
sich auch auf einen Versuch der Neubegründung der Kantischen
Lehre, welcher zwar ihrem tiefsten Sinn in keiner Weise gerecht
wurde, aber durch seine scharfe Formulierung in negativer und
in positiver Richtung die nächste Veranlassung zu ihrer Weiter-
entwicklung gegeben hat.
200 Erste Wirkungen der kritischen Philosophie.
Es ist merkwürdig, daß Reinhold zwar persönlich, wie es gerade
die »Briefe« bestätigen, von der sittlich -religiösen Seite her für
die Kantische Lehre gewonnen worden war, daß er aber von dem
wahren Zusammenhange, worin die kritische Moral mit der kri-
tischen Erkenntnistheorie steht, so gut wie gar keine Vorstellung
gehabt hat. Er glaubte vielmehr, die Grundlehren von Kants
Philosophie auf eine rein theoretische Weise entwickeln zu können,
und brachte gerade dadurch die Lehre vom Ding an sich in eine
so verfehlte und so widerspruchsvolle Position, daß sie zum Haupt-
angriffspunkte der Gegner und zum Hauptprobleme der Anhänger
der Kantischen Lehre gemacht wurde. Es war offenbar seine
genauere Vertrautheit mit der früheren Philosophie, welche ihn,
ohne daß er die Tragweite davon ahnte, zu dem theoretischen
Rationalismus zurückführte und ihn an den ganzen Umfang der
Kantischen Kritik eine neue und sehr folgereiche Forderung heran-
bringen ließ. Kant hat die verschiedenen Funktionen der mensch-
lichen Vernunft untersucht, von jeder die Bedingungen festgestellt,
jeder die Grenze ihrer Anwendung zugewiesen. Warum haben
alle diese nach Reinhold unwiderleglichen Untersuchungen nicht
die allgemeine Anerkennung gefunden, warum nicht das Bedürfnis
erfüllt, daß endlich einmal die Philosophie aus der Mannigfaltigkeit
persönHcher Meinungen auf den Boden einer gemeinsamen wissen-
schaftlichen Arbeit geführt wurde, daß aus den vielen Philosophien
die Philosophie, die Philosophie ohne Beinamen wurde? Der
Grund ist der, daß es der Kantischen Philosophie an der aus-
drücklichen Aufstellung des zentralen Satzes mangelt, der allen
ihren besonderen Untersuchungen als letzter und höchster zu-
grunde liegt. Reinhold ist überzeugt, daß es einen solchen gibt,
daß Kant es nur unterlassen hat, ihn wissenschaftlich zu formu-
lieren, und daß es die Aufgabe einer Fundamentalphilosophie,
Philosophia prima oder einer Elementarphilosophie sei, diesen
Satz über allen Zweifel zu erheben und zu zeigen, wie sich aus
ihm alle Lehren der kritischen Philosophie mit Notwendigkeit er-
geben. Es ist Descartes' Forderung eines Universalprinzips für
alles philosophische Wissen, welche Reinhold für die deutsche
Philosophie erneuert. Es gilt, das was Kant mit seiner induk-
tiven Analyse von der Peripherie aus gefunden hat, aus dem
Zentrum her zu deduzieren. Das ist nur möglich, wenn es eine
Roinholtla Kloincntari)hilo80phie. 201
ztMitrale Funktion aller Verniinfttätij^keit ^ibt, deifii wesentliche
JVk'rkmalo .sich in allen besonderen Funktionen wiederfinden miiü.sen.
liuleni Reiidiold als diese die Vürst<.'llungstiitigkeit bezeichnet,
merkt er nicht, daß er Kants Prinuit der praktischen über die
theoretische Vernui\l't damit aufgibt und zu dem psychülo;^if":chen
Prinzip des dogmatischen llationalismus zurückkchit. Seine beiden
bedeutendsten Schriften sind der »Versuch einer neaen Theorie
des monschlichtui Vorstellungsvermögens« (1789) und »das Fun-
dament des philosophischen Wissens« (1791); auch die »Beiträge
zurBeiichtiuuug bisheriger Mißverständnisse der Philosophie« (1790)
bringen wichtige Ergänzungen dazu. In der Hauptsache lehrt
Keinhold, daß der verlangte Fundamentalsatz seinem Begriffe
nach nicht beweisbar, sondern unmittelbar evident sein müsse: des-
halb könne er nur ein »Faktum«, aber ein allgemeines und not-
wendiges Faktum, das absolute Faktum aller Vernunfttätigkeit
enthalten, während er eben dadurch vollständig in sich selbst be-
stimmt sei. Dieses »Faktum« sei das Bewußtsein als das »Ver-
mögen« aller Vorstellungstätigkeit überhaupt. Nuii enthalte jede
Vorstellung das BewußtseinAron einem Subjekt, das sie ausführe,
und^-on einem Objekt, worauf sie sich beziehe, und von beiden
werdej^die Vorstellungstätigkeit als solche imterschieden. Der Fun-
damentalsatz, durch den alle Lehren der kritischen Philosophie
bedingt seien, laute daher: Im Bewußtsein wird die Vorstellung
durch das Subjekt vom Subjekt und Objekt unterschieden und
auf beide bezogen. Reinhold berührt hier wirklich die letzte Tat-
sache aller psychologischen Analyse des Vorstellungsprozesses,
jene geheimnisvolle Verschmelzung des Vorstellungsinhaltes mit der
Position des Seins. Aber er benutzt diese Analyse nur, um dar-
aus gerade die Ansicht des naiven Realismus von einer zwischen
Subjekt und Objekt schwebenden Vorstellungstätigkeit als tatsäch-
liche imd in sich selbst evidente Wahrheit abzuleiten, — gerade
das also, worin die theoretische Kritik Kants das Problem aller
Probleme gesehen hat.
Von diesem Satze her ist es dann natürlich leicht, den Kan-
tischen Gegensatz von Form und Inhalt des Denkens zu be-
gründen. Muß in der Vorstellung etwas sein, was sich auf das
Subjekt, und etwas, was sich auf das Objekt bezieht, so ist klar,
daß der Inhalt von den Objekten, die Form vom Subjekt
202 Erste Wirkungen der kritischen Philosophie.
herstammt. Dabei ist natürlich der Stoff das Gegebene, die Form
das aus dem Wesen des Geistes her Produzierte. Der Kantische
Gegensatz von SinnHchkeit und Verstand in Beziehung auf den-
jenigen von Kezeptivität und Spontaneität erscheint danach als
das Selbstverständlichste von der Welt. Um unsere Vorstellungen
zu erklären, müssen wir annehmen, daß ihr gjgf| aus der Affi-
zierung unserer Sinnlichkeit durch die Dinge entspringt, und daß
wir von uns aus die Form hinzutun. Aber die Wirkungen der
Dinge auf uns sind nicht die Dinge selbst; die »Dinge an sich«
lassen sich also denken, müssen gedacht werden, sind aber selbst
nicht zu erkennen. Es ist klar, daß Keinhold damit aus dem
Kantischen in den Lockeschen Phänomenalismus dem Prinzip nach
zurückfällt, wenn er auch hinsichtUch der Lehren von Raum und
Zeit (oder der primären Qualitäten) durchaus auf seilen Kants
steht. Es ist deshalb unnötig, zu verfolgen, wie Reinhold aus
dem so aufgestellten Prinzip die einzelnen Teile der Kantischen
Lehre systematisch abzuleiten versuchte. Er zeigt seine Verwandt-
schaft mit der vorkantischen Philosophie auch darin, daß er auf
diese theoretischen Bestimmungen weiterhin die praktischen gründete
und den Kantischen Gegensatz von sinnlichen und Vernunfttrieben
als denjenigen von »Stoff trieb« und »Formtrieb« bezeichnete,
woraus sich sovfohl die Autonomie der ihr eigenes Formgesetz be-
folgenden Vernunft als auch die Heteronomie jedes auf einen sinn-
lichen Gegenstand gerichteten Wollens ergab. Kants Lehre war
unter den Händen Reinholds scheinbar einfacher und durchsichtiger
geworden. Aber sie hatte dabei mit ihren Schwierigkeiten einen
großen Teil ihrer Tiefe verloren. Reinhold war der praktischen
Überzeugung Kants allerdings darin gefolgt, daß er den darauf
begründeten Dualismus in schroffster Form auch zum Prinzip der
theoretischen Philosophie machte. Aber er meinte diesen theo-
retischen Dualismus auch durch theoretische Gründe stützen zu
können und knüpfte infolgedessen den Kantischen Phänomenalis-
mus an die Weltanschauung des naiven Realismus an. So machte
er die Kantische Lehre genau zu dem Ungetüm, als welches Ja-
cobi den kritischen Idealismus geschildert hatte. Bei ihm schwebte
in der Tat die Erscheinungswelt auf unerklärliche Weise zwischen
einem unerkennbaren X von Ding an sich und einem ebenso un-
erkennbaren X von Subjekt.
Acru'BidcTnus - Schulze. 2()'i
In dieser Forniiilieruii<,^ der kritiHchcii Philosophie waren die
( Gegensätze der verschiedenen Kantisrlien Gedankengänge und da-
mit die Widersprüclie, welche die Kritik der reinen Vernunft ent-
hält, wenn man sie als ein für sich^ bestehendes Ganzes betrachtet,
gewissermaßen handgreiflicher geworden, \md gegen sie richtete
sich deshalb auch der Hauptangriff von seiten des Skeptizismus.
Während andere Skeptiker, wie Tiedemannes schon 1784 in den
»Hessischen Beiträgen zur Gelehrsamkeit« aussprach, die Ver-
nichtung der rationalistischen Metaphysik mit Freuden begrüßten,
aber hinsichtlicli der a])riorischen Vernunfterkenntnis Kant vor-
warfen, nicht skeptisch genug verfahren zu sein, gab Gott lieb
Ernst S_chulze (1761—1833, erst Dozent in Wittenberg, dann J^^
Professor in Helmstädt, seit 1810 in Göttingen) in seinem »Aene-
sidemus« (anonym 1792) eine vernichtende Kritik der Reinhold-
schen Elementarphilosophie. Er hat den glänzenden Scharfsinn,
der diese einflußreiche Schrift auszeichnet, später noch einmal in
seiner allgemeineren »Kritik der theoretischen Philosophie«
(2 Bände, Hamburg 1801) betätigt, in der Folgezeit aber sich
mehr der Jacobischen Lehre und der empirischen Psychologie an-
geschlossen. Sein Hauptwerk sucht zu zeigen, daß auch die kri-
tische Philosophie, die gegen den Eationalismus so vornehm tue,
mit einer Reihe von dogmatischen Voraussetzungen weiter operiere,
ohne auf die unwiderlegten Einwürfe der Skeptiker, insbesondere
Humes, Rücksicht zu nehmen. Der »Satz des Bewußtseins« sta-
tuiere für die Möglichkeit der Vorstellungen die vermeintlichen
Bedingungen nach dem Grundsatze, daß, was nicht anders gedacht
werden kann, auch so sei, wie es gedacht werden muß. Reinholds
Theorie des Vorstellungsvermögens setze für alle Vorstellungstätig-
keiten ein gemeinsames Vorstellungsvermögen voraus. Aber dies
könne sie nur dadurch erschließen und seine Existenz nur darauf
begründen, daß sie für die gleichartigen Vorstellungsfunktionen
den Begriff einer sie alle erzeugenden Kraft hypostasiere, welche
wieder nicht anders zu definieren sei, als durch die aus ihr her-
vorgehenden Wirkungen selbst. Das ^ Vorstellungsvermögen ist
selbst keine Tatsache. Die Lehre davon schließt also über die
Erfahrung hinaus mit dem Begriffe der Kausalität. Allein ein
solcher Schluß ist wertlos, selbst wenn er berechtigt wäre: denn
es ist keine Vermehrung und Erweiterung der Erkenntnis und
204 Erste Wirkungen der kritischen Philosophie.
Einsicht, sondern lediglich ein formales Postulat, wenn man als
Ursache einer Anzahl einander ähnlicher Tätigkeiten eine Ejraft
ansetzt, die man selbst wieder nur durch eben diese Tätigkeiten
bzw. ihre Gattungsmerkmale bestimmen kann. Das ist nur eine
Übersetzung des Assertorischen in das Problematische. Insbesondere
gilt dies — und hierin liegt eine wertvolle, später von Herbart
prinzipiell ausgeführte Einsicht Schulzes — für alle die »Ver-^
mögen«, mit denen die empirische Psychologie jener Tage die
Seele ausstattete: sie alle sind nur Gattungsbegriffe, die durch
das leere Anhängsel des Ej:aftmerkmals metaphysischen Wert er-
halten sollen.
Diese Widerlegung trifft nun aber auch die Kritik der reinen
Vernunft. Auch diese will ja nur die Bedingungen der Erfahrung
imtersuchen und findet sie nach der Auffassung des >>Aenesidemus«
nicht innerhalb, sondern außerhalb der Erfahrung. Auch sie
lehrt wie Reinhold, daß die Bedingung für die sinnlichen Emp-
findungen in der /Einwirkung der iDinge an siclT liege. Auch sie
statuiert in den reinen Formen der Yernunfttätigkeit allgemeine
»Vermögen«, welche der Erfahrung zugnmde liegen sollen. Die
Vernunft ist in Kants Kritik selbst ein Ding an sich, und doch
will die Kritik gerade von diesem Ding an sich die allergenaueste
Kenntnis haben. Die Kritik der reinen Vernunft behauptet, daß
nicht nur die Vernunft vermögen, sondern auch die Dinge an sich
als Bedingungen, d. h. doch wohl als Ursachen, und zwar außer-
halb der Erfahrung liegende Ursachen der Erfahrung angenommen
werden müssen, und sie tut das in einem Atem mit ihrem Haupt-
satze, daß man mit den Kategorien, also auch derjenigen der
Kausalität, über die Erfahrung nicht hinausschließen dürfe. Diese
Einwürfe waren zum Teil schon auch von den Wolffianern, z. B.
von Schwab in dem Eberhardschen »Magazin« und von Flatt
in den »Tübinger Anzeigen«, hinsichtlich der Lehre vom Ding an
sich und ihres Verhältnisses zu Kants Theorie der Sinnlichkeit
gemacht worden: bei Aenesidemus-Schulze treten sie als eine ge-
schlossene und unwiderstehliche Phalanx auf, und darin besteht
die auch von Fichte sogleich erkannte Bedeutung dieses Werkes.
In ihm kommt der geheime Antagonismus ans Tageslicht, der
zwischen der transzendentalen Ästhetik imd der transzendentalen
Analytik besteht, und der sich historisch daraus erklärt, daß jene
Ding an sich. 205
noch unter Voranssctzun«; dos Standpunktes der Inanj^uraldisser-
tation entworfen und znni «großen Teil auch auH^'eführt, diese da-
<^egen, die Analytik, diircli die kritit^che jjelire von der Synthcsifl
bestimmt ist. Innerlialb der Ktgitisclien Erkenntnistheorie, wie
sie min einmal in den verschiedenen Teilen der Kritik der reinen
Vernunft vorliegt, ist es in der Tat der schreiendste aller Wider-
sprüche, die »Ursache« der Erfalirung in^Dingen an sich imd in
transzendentalen ^Vermögen zu suchen. Wenn die Kritik der
reinen Vernunft die Bedingungen der Erfahnmg, d. h. etwas,
was der Möglichkeit der Erfahrung »vorhergeht <^, analysieren und
erweisen soll, so setzt sie sich eine Aufgabe, deren Lösung sie
selbst für unmöglich erklärt. Und wenn darin kein Widerspruch
wäre, so bliebe es doch eine vollständig nutzlose Theorie: denn
eine Ableitung des Erkennbaren aus dem Unerkennbaren macht
das Erkennbare in keiner Weise begreiflicher. Namentlich aber
zeige Kants und Reinholds Behandlung des Kausalitätsbegriffs
und ihre widerspruchsvolle Anwendung dieser Kategorie, daß
durch sie die Humesche Skepsis nicht im mindesten überwunde^^^^
sei, sondern noch immer in voller Energie bestehe.
Man muß bei allen diesen Bewegungen noch besonders be-
denken, daß sie sich durchaus nur auf die Kritik der reinen Ver-
nunft bezogen, und daß von keinem dieser Männer der letzte
Zusammenhang der Kantischen Kritiken auch nm* annähernd
verstanden war. Eben deshalb wurde der Begriff des ^Dinges
an sich^, welcher bei Kant das Bindeglied zwischen der theore-
tischen Philosophie und der praktischen enthält, hier zunächst
ledidich in seiner theoretischen Bedeutung; und Be^ründuns auf-
gefaßt und in dieser mit Kecht als unhaltbar erfunden. Da-
durch aber ist es gekommen, daß dieser Begriff, der für das
eigentliche Interesse von Kants Erkenntnistheorie weit hinter
demjenigen der apriorischen Erkenntnis zurückstand, bei der
Weiterentwicklung in den Vordergrund trat, und daß man all-
gemein die Absicht der Kritik der reinen Vernunft, die in Wahr-
heit auf die Begründung einer apriorischen Erkenntnis hinzielte,
in ihrer Lehre vom Ding an sich suchte. Diese Wendung konnte
dadurch nur gefördert werden, daß die gToße Masse der Gegner
aus solchen Schul- und Popularphilosophen bestand, denen es in
erster Linie darum zu tun sein mußte, Kants Widerlegung der
206 Erste Wirkungen der kritischen Philosophie.
nationalen Erkenntnis von Dingen an sich als unberechtigt zurück-
zuweisen. Indem diese Einwürfe auf die Anhänger der Kantischen
Lehre zurückwirkten, mußte unter diesen das Bestreben entstehen,
den Begriff des Dinges an sich, der in der Eeinholdschen Fassung
gewiß unhaltbar war, von seinen offenbaren Widersprüchen zu
befreien. So lange aber, als man dabei nicht die praktische
Tendenz der Kantischen Lehre in ihrer Beziehung zu der theore-
tischen aufzufassen wußte und den Begriff des "^Dinges an sich
noch ebenso wie die Gegner von selten der rein theoretischen
Begründung nahm, bedurfte es, um deren Angriffen zu entgehen,
in der Tat einer wesentlichen Umbildung der Lehre vom Ding
an sich. Infolgedessen vollzog sich die Weiterentwicklung der
kritischen Philosophie zimächst an der Zersetzung des Be-
griffes des*l)inges an sich.^
Den ersten Schritt dazu tat Salomon Maimon. Ein pol-
nischer Jude, 1757 in Littauen geboren, hat sich dieser Mann mit
einer seltenen Begabung und mit eiserner Zähigkeit aus den
elenden Verhältnissen seiner Jugend auf die Höhe der deutschen
philosophischen Bildung emporgearbeitet. Als er sich aus den
verrotteten Zuständen seiner Heimat, von tiefstem Wissensdurst
getrieben, herausriß, mußte er zeitweise die letzte Neige der Not
und der Entwürdigung kosten. Erst die Gunst, welche ihm
Mendelssohn zuwandte, gab ihm ein menschenwürdiges Dasein
und ließ die Kräfte seines Geistes in dem Studium der Philosophie
mit staunenswerter Geschwindigkeit sich entwickeln. Aber wieder
rissen ihn die Beste seiner jugendlichen Verwahrlosung in das
Elend eines vagabundierenden Lebens hinein, und erst im letzten
Jahrzehnt seines 1800 endenden Lebens verdankte er der Pro-
tektion eines Grafen Kaikreuth eine ruhige Existenz, worin er
nach dem Studium Kants eine originelle Umbildung der kritischen
Erkenntnistheorie in seinen Schriften ausführen und sich neben
der »grenzenlosen Achtung« Fichtes und Schellings das Wort
Kants verdienen konnte, daß keiner seiner Gegner ihn besser ver-
standen habe als er. Von den darauf bezüglichen Schriften sind
hervorzuheben: der »Versuch über die Transzendentalphilosophie <<
(1790), »Über die Progressen der Philosophie« (1793), die
»Kathegorien des Aristoteles« (1791) und der »Versuch einer
neuen Logik oder Theorie des Denkens« (1798).
Maiinon. 207
Auf dem Standpunkte der theoretischen Venuinft, den Maimon
allein einnimmt, ist das I)in<; an sich der absolute Widerspruch.
Jedes Merkmal eines Begriffes existiert als Vorstellung im Bewußt-
sein, ist also vom Bewußtsein sdbst abhängig und hat nur inner-
halb desselben Sinn. J3ie Vorstellung eines vom Bewußtsein un-
abhängigen, mcrkmallosen (denn das heißt unerkennbaren) Dingo
an sicK ist deshalb undenkbar und völlig unmöglich. Das Din;:
an sich ist nicht nur nicht zu erkennen, es ist nicht einmal zu
denken. Für die Kritik der Erkenntnis gibt es nur das Bewußt-
sein mit seinen Vorstellungen. Maimon zuerst hat den Mut, sich
zu jenem strengsten Idealismus zu bekennen, den Jacobi als die
notwendige Konsequenz des transzendentalen behauptet hatte.
Alle Erkenntnis ist deshalb nur aus dem Bewußtsein abzuleiten
und reicht nur so weit als dieses selbst. Aber die Täuschung,
das ^Ding an sich sei wenigstens denkbar, besteht, und wie sie
entstanden ist, begreift man am besten, wenn man verfolgt, wie
Reinhold sie begründet. Er glaubt zur Annahme von Dingen
an sich genötigt zu sein, um den, Stoff der Vorstellimgen ihren
Formen gegenüber zu erklären. Darin ist das richtig, daß dieser
Stoff aus dem Bewußtsein nicht abgeleitet werden kann. Das
Bewußtsein findet ihn vielmehr in sich als ein nicht von ihm
Produziertes, als ein »Gegebenes« vor. Wenn sich nun jedoch
die Erklärung dieses Gegebenen aus einer Affizierung durch Dinge
an sich von selbst verbietet, weil darin der oben dargelegte Wider-
spruch liegt, so bleibt nur übrig, dem Begriffe des Stoffes unserer
Voirstellungen eine andere Formulierung zu geben. Indem er
dieses versucht, führt Maimon eine der wesentlichsten Lehren von
Leibniz neu und fruchtbar in die kritische Erkenntnistheorie ein,
ohne davor zurückzuschrecken, daß er damit der psychologischen
Annahme eines prinzipiellen Gegensatzes von Sinnlichkeit und
Denken, der Kant in seiner Entwicklung so viel verdankte, wieder
durchaus entgegentrat. Wie Leibniz machte er nämhch darauf
aufmerksam, daß wir ein »vollständiges« Bewußtsein nur von
demjenigen haben, was das Bewußtsein aus sich selbst erzeugt.
In jedem Falle also, wo wir in unserm Bewußtsein etwas vor-
finden, von dem wir nicht wissen, wie es zustande gekommen
ist, und das wir deshalb als'^gegeben oder 'empfangen zu bezeichnen
pflegen, haben wir von dem Gegenstande nur, ein unvollständiges
208 Erste Wirkungen der kritischen Philosophie.
Bewußtsein. Es sind die »petites perceptions« von Leibniz, welche
Maimon für die kritische Lehre fruchtbar macht. Diese Ver-
wandtschaft kommt auch im Ausdruck zutage: Maimon nennt
das Gegebene »die Differentiale des Bewußtseins«*). Kants
Gegensatz von Rezeptivität und Spontaneität ist nach Maimon
in Wahrheit derjenige von unvollständigem und vollständigem
Bewußtsein. Dieser aber ist nicht mehr prinzipieller, sondern
gradueller Art. Von dem vollständigen Bewußtsein her, welches
seine eigenen reinen Formgesetze zum Inhalt hat, bis zu dem
unvollständigen Bewußtsein der bloß gegebenen Empfindung ist
eine stetige Abnahme der Vollständigkeit des Bewußtseins in
unserer Erfahrung aufzuweisen. Und die Idee eines nur Gegebenen,
die Idee eines von dem Bewußtsein gar nicht produzierten Be-
wußtseinsinhaltes ist deshalb nach Kantischem Prinzip nur der
Grenzbegriff für diese unendliche Reihe, in der die Vollständig-
keit des Bewußtseins abnimmt. Das Gegebene also, der Stoff der
Vorstellung ist dasjenige, dessen Genesis im Bewußtsein dem Be-
wußtsein selber unbekannt ist; es ist das im Bewußtsein selbst
unbewußt Produzierte, und der Begriff des 'Dinges an sich ist
der Grenzbegriff für das vollständige Bewußtsein. Für die Kantisch-
Reinholdsche Fassung ist er nicht ein unbekanntes X, sondern,
um in der mathematischen Formel zu bleiben, eine gänzlich ima-
Lanäre Größe wie V — 1 : für Maimon ist er der Grenzbegriff einer
unendlichen Reihe oder die Bestimmung einer unlösbaren Aufgabe,
eine irrationale Größe wie )/2. Der Begriff des Dinges an sich
bezeichnet lediglich das Bewußtsein davon, daß es eine Grenze
gibt, an der unser Bewußtsein seinen Inhalt nicht mehr voll-
ständig zu durchdringen vermag. Er ist das Bewußtsein von
einer irrationalen Grenze der rationalen Erkenntnis.
So vollzieht Maimon mit voller Konsequenz diejenige Betrachtung
des Ding-an-sich-Begriffes, welche auf dem Standpunkte der bloß
theoretischen Vernunft die allein folgerichtige ist, und welche auch
bei Kant angeschlagen worden war, ohne zum vollen Austrag zu
kommen, da für den Kritizismus diese irrationale Größe der theo-
retischen Vernunft zugleich ein Objekt der praktischen Vernunft
darstellte. Jetzt erst, bei Maimon, ist das Ding an siel? zum
*; Vgl. Bd. I dieses Werkes, S. 485 f.
Maimons kritischer Skoi)tizinmu9. 209
wahren und reinen Grenzbegriffe geworden, indem es jede meta-
physische Realität abj^estreift hat.
Auf diesem Standpunkte hat nun natürlich auch di<^ Frage
nach der Erkenntnis der Dinge an sich gar keinen Sinn mehr,
sondern die erkenntnistheoretische Untersuchung hat nur auf den
Umkreis der Vorstellungen das kritische Prinzip der größeren oder
geringeren Vollständigkeit des Bewußtseins anzuwenden. Denn
es ist klar, daß von demjenigen, wovon wir nur ein unvollständiges
Bewußtsein haben, wir auch immer nur eine unvollständige Er-
kenntnis behalten müssen. Das kritische Kardinalprinzip, daß-
wir nur vollständig erkennen, was wir selbst erzeugen, stellt sich
bei Maimon in dieser neuen Form dar, daß nur die Gegenstände
des vollständigen Bewußtseins auch solche der vollständigen Er-
kenntnis sein können. Nun ist aber jeder Inhalt der Erfahrung
nur ein Gegenstand des unvollständigen Bewußtseins. Alle wahr-
hafte, vollständige Erkenntnis ist also auf die Formen des Be-
wußtseins beschränkt. Somit gibt es nur zwei absolut evidente
Wissenschaften: die Mathematik und die Transzendentalphiloso-
phie, jene die Lehre von den Formen der Anschauung, diese von
denjenigen des Denkens. Von der »gegebenen Erfahrung« da-
gegen gibt es immer nur unvollständige, niemals notwendige und
allgemeine Erkenntnis, da die Empfindung stets Gegenstand des
unvollständigen Bewußtseins ist. Dieser kritische Skeptizis-
mus nimmt den Zweifel an der Apodiktizität der Erfahrung in
den transzendentalen Apriorismus hinein und schränkt die Grenze
der notwendigen und allgemeingültigen Erkenntnisse noch mehr
ein. Jener Zweifel aber ist von dem Humeschen grundverschieden.
Er bezieht sich nicht auf die Notwendigkeits Verknüpfungen
zwischen den einzelnen Elementen der Erfahrung, sondern er be-
hauptet die Unvollständigkeit des Bewußtseins schon hinsichtlich
des einzelnen tatsächlichen Empfindungsinhaltes, während Humes
Empirismus gerade die reine und nackte Konstatierung von Tat-
sachen als die zweifelloseste Funktion unserer Erkenntnis bezeichnet
hatte. Dieser Unterschied des empiristischen und des kritischen
Skeptizismus hat aber zuletzt darin seinen Grund, daß für jenen
auf dem dogmatischen Standpunkte des naiven Realismus das
»Gegebensein« der Empfindung gar kein Problem bildete, während
es für die kritische Erkenntnistheorie zu dem schwersten aller
Windelband, Gesch. d. n. Pliilos. IL 14
y
210 Fichte.
Probleme werden mußte, sobald der problematische Charakter des
Ding-an-sich-Begriffes zum klaren Bewußtsein gelangte. Kant
noch hatte dies Problem nur gestreift. Teils war es in der pro-
duktiven Einbildungskraft der transzendentalen Analytik berührt,
teils in den Paralogismen dahin angedeutet worden, daß die Ver-
knüpfung des spontanen Denkens mit der sinnlichen Rezeptivität
in demselben Bewußtsein die unlösbare Grenzfrage der Psychologie
bilde. Es ist Maimons großes Verdienst, den skeptischen An-
griffen gegenüber dies Problem in seiner Reinheit herausgestellt
zu haben. Aber was seine Lehre gibt, ist auch nur die Stellung
der Frage und nicht die Lösung. Denn wie das Bewußtsein zu
jenen Funktionen der »Unvollständigkeit« kommt, welche sich
in der Empfindungstätigkeit darstellen, das blieb für ihn eine aus
dem Wesen des Bewußtseins selbst unableitbare Tatsache. Maimon
hatte die Grenze der theoretischen Vernunft erreicht; die Lösung
seines Problems war nur dadurch möglich, daß der Primat der
praktischen Vernunft in seiner ganzen auch erkenntnistheoretischen
Bedeutung erfaßt und systematisch zur Lösung der kritischen Ge-
samtaufgabe verwandt wurde. In dieser Einsicht liegt die große
und entscheidende Bedeutung Fichtes.
§ 63. Der ethische Idealismus.
Fichte.
Johann Gottlieb Fichte war 1762 in dem Dörfchen Rammenau
in der Oberlausitz als der Sohn eines Leinewebers geboren und
wurde durch die Unterstützung des Freiherrn von Miltitz in Schul-
pforta und später im theologischen Studium zu Jena und Leipzig
ausgebildet. Nach Beendigung der Universitätszeit hatte er lange
mit Not und Armut zu kämpfen, war an verschiedenen Orten
Hauslehrer und fand nur eine Zeitlang in Zürich eine freundliche
Existenz. Im Jahre 1790 lebte er sich in Leipzig auf äußere
Anregung schnell in die Kantische Philosophie ein, fand in ihr
und gerade in ihrem praktischen Teile die Erhebung über die
schweren Zweifel, in welche er durch den überwältigenden Ein-
druck des Spinozistischen Determinismus gestürzt worden war,
und beherrschte ihre Gedankenwelt imd ihre jMethode bald der-
artig, daß, als er kurz darauf nach Königsberg verschlagen wurde,
er dort dem großen Meister sein schnell geschriebenes Erstlings-
Leboü. 211
werk, die »Kritik aller Offonburuii'^« vorlegen konnte und dessen
vollen Beifall damit erwarb. Kant sorgte für ihn in zartfühlender
Weise nicht nur dadurch, daß er ihm eine angenehme Stellung
verschaffte, sondern indem er j^^ner Schrift zum Druck verhalf.
Der Zufall wollte es, daß der Name des Verfassers auf dem Titel
fortbheb, daß infolgedessen alle Welt in diesem Buche die mit
äußerster Spannung erwartete Religionsphilosophie Kants sehen
zu dürfen glaubte, und daß, als Kant den Namen des wahren
Verfassers öffentHch verkündete, sein Ruhm mit einem Schlage
begründet war. 1793 wiederum nach Zürich zurückgekehrt, trat
Fichte dort mit Pestalozzi und Baggesen in fruchtbare Berührung,
veröffentlichte seine »Beiträge zur Berichtigung der Urteile des
Publikums über die französische Revolution« und seine »Zurück-
f orderung der Denldreiheit von den Fürsten Europas«, und hielt
vor einem auserlesenen Kreise Vorträge über die Kantische Philo-
sophie und deren in seinem Kopfe sich bereits gestaltende Um-
bildung. Im folgenden Jahre ward er bei Reinholds Abgang auf
die Jenenser Professur berufen und begann nun nier eine glück-
liche imd großartige akademische Tätigkeit, welche mehr durch
seine eigene Hartnäckigkeit als durch den AViderstand feindKcher
Elemente getrübt und schließlich in traurigster Weise beendet
wurde. Fichte war ein Charakter von stählerner Energie, aber
auch von jener Rücksichtslosigkeit, welche, indem sie der Welt
ihr Gesetz vorschreiben will, an dem Widerstände der Welt zu
scheitern in Gefahr ist. Er war getragen von tiefem reforma-
torischen Bedürfnis; es war ein Prophetengeist in ihm. Ihm
war es völlig Ernst damit, daß die neue Philosophie ein Ideal
der Überzeugimg aufstelle, das berufen sei, die im argen liegende
Welt von Grund aus umzugestalten, und er besaß die Kantische
Hingebung an dies Ideal, er rang dafür, ohne nach rechts und
links zu schauen, und verkündete das Evangelium des katego-
rischen Imperativs, ohne darum zu fragen, ob seine eigene, ob
irgend eine andere Existenz darüber zugrunde ging. Er war der
Mann der Pflicht, wie sie Kant aufgestellt hatte, der eiserne
Wille, der nur selbst sich das Gesetz gibt. Aber er war unfähig,
mit den Verhältnissen der Wirklichkeit zu paktieren, und er
schadete mit seiner Starrköpfigkeit nicht nur sich selbst, sondern
am meisten der guten Sache, die er vertrat. Ein geborener Redner^
14*
212 i'ichte.
entwickelte er eine mächtige Wirkung auf die studierende Jugend
und bec^ann sogleich an der Umgestaltung des Studentenlebens
zu arbeiten, welches er in das wüste Wesen der Landsmannschaften
versunken vorfand. Trotz des großen Erfolges ergaben sich daraus
bald Konflikte mit den Kirchenbehörden und mit der Studenten-
schaft, welche ihn veranlaßten, den Sommer 1795 in Osmannstädt
zuzubringen. Am schärfsten aber trat seine ganze weltfremde
Rücksichtslosigkeit in dem Atheismusstreite zutage. In einem
von ihm imd Niethammer herausgegebenen »philosophischen
Joumal<< hatte sein Schüler Forberg eine »Entwicklung des Be-
griffs der Eeligion<< gegeben, welcher Fichte selbst einen Auf-
satz »Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Welt-
regierung << beifügte. Eine anonyme Denunziation, die vielleicht
seinen akademischen Feinden nicht fern stand, brachte es dahin,
daß das Journal wegen des »Atheismus« seines Inhaltes von der
kursächsischen Regierung konfisziert und von derselben die
Weimarische Regierung zu einem Vorgehen gegen Fichte gedrängt
wurde. Goethe gab sich alle erdenkliche Mühe, die Sache auf
diplomatischem Wege beizulegen. Aber Fichte machte die gute
Absicht zunichte: einerseits gab er seiner begründeten Entrüstung
über die niederträchtigen Verdächtigungen in seiner »Appellation
an das Publikum wegen der Anklage des Atheismus« und in der
darauf an die Behörden eingereichten »gerichtlichen Verant-
wortungsschrift« den schärfsten und zugespitztesten Ausdruck,
anderseits ließ er sich in dem naiven Vertrauen, die Kollegen
würden das Versprechen, mit ihm aus Jena wegzugehen, im Falle
der Entscheidung halten, dazu hinreißen, daß er der Regierung
mit seinem und vieler anderen Professoren Abgang drohte, sobald
er auch nur einen Verweis erhielte. Eine solche Sprache konnte
die Regierung, sowenig sie es gewollt hatte, nur mit dem Ver-
weise beantworten, und Fichte ging 1799 von Jena fort — allein.
Er wandte sich nach Berlin, wo er in den Kreisen der Roman-
tiker einen für die Umwandlung seiner Anschauungen wichtigen
Umgang fand und in den nächsten Jahren private Vorlesungen
hielt. 1805 folgte er einem Ruf an die damals preußische Uni-
versität Erlangen mit der Erlaubnis, im Winter in Berlin seine
privaten Vorlesungen fortzusetzen. Aber das folgende Jahr riß
s^uch seine äußere Existenz zu Boden. Als Preußen nieder-
Lebrn und Wirken. 213
j;eworfen und Berlin in die Hände dos Feindes gefallen war, suchte
er im Otiten eine Stätte freien Wirkens, hielt vorübergehend in
Königsberg Vorlesungen und inuüto .chließiich über Memel und
Kopenhagen fliehen. Trotzdenfu kehrte er nach Bcrhn zurück und
liielt hier mitten in der Napoleonischen Herrschaft unangefochten
jene gewaltigen »Reden an die deutsche Nation« (1808), welche
das lebendige Denkmal seiner feurigen Überzeugung bleiben und
in der Geschichte der Erweckung des deutschen Nationalgefühls
einen der ersten Plätze einnehmen. Sie enthalten in populärer
Form und in ergreifender Rhetorik den Ausdruck für jene größte
Tatsache der deutschen Geschichte, daß unsere Nation die Existenz,
die sie in der äußeren Welt durch ihre Schuld verloren, nur durch
eine Wiedergeburt der Gesinnung und der Bildung zurückgewinnen
konnte. Als aus diesem Geiste heraus die Berliner Universität
gegründet wurde, geschah das zwar nicht nach dem völlig un-
durchführbaren Plane Fichtes, sondern mehr nach dem Schleier-
machers. Aber Fichte wurde nicht nur der erste Professor der
Philosophie, sondern auch der erste gewählte Rektor der neuen
Hochschule; freilich sah er sich durch Konflikte, in die er wegen
der akademischen Disziplin mit seinen Kollegen kam, zur Nieder-
legung des Amtes genötigt. Als dann die deutsche Nation in
neu entflammter Gesinnung und mit dem ganzen Ernste einer
sittlichen Überzeugung auszog, um sich von der äußeren Knecht-
schaft zu befreien, als es sich Fichte versagt sah, in den Reihen
der Kämpfer selbst aufzutreten, da ließ er sein mächtiges W^ort
»über den wahren Krieg« erschallen imd widmete sich mit seiner
Gattin der Pflege der verwundeten Krieger. In dieser hingebenden
Pflichterfüllung fand er seinen Tod, indem ihn das Lazarettfieber
1814 dahinraffte.
Fichtes Stellung zur Kantischen Philosophie war diejenige,
daß er vermochte, was Reinhold forderte: die methodische Ab-
leitung aller ihrer Lehren aus einem Prinzip. W^enn Reinhold
mit der Aufstellung dieser Forderung seine Bedeutung erschöpft
hatte, so kam das daher, daß er ein viel zuwenig systematischer
Kopf war, um für diese Ableitung eine Methode zu finden. Bei
Fichte liegt deshalb die Hauptsache in dem methodischen Prinzip.
Die stetigen Umarbeitungen, denen er seine » W'issenschaf tslehre «
unterzogen hat, und die sogar eine Veränderimg seiner philo-
214 Fichte.
sophischen Weltanschauung mitgemacht haben, bewegen sich doch
sämtlich innerhalb derselben Methode, welche er seit 1794 in seinen
Schriften wie auf dem Katheder anwandte. Wenn es sich darum
handelt, die einzelnen Funktionen der Vernunft, die Kant aus
den einzelnen Problemen heraus analysiert hat, als die notwen-
digen Ausgestaltungen einer allgemeinen Grund tätigkeit zu ent-
wickeln, so ist es nur eine äußerliche Lösung dieser Aufgabe, daß
Reinhold einen zentralen Satz aufgestellt und aus dessen formaler
Anwendung auf die verschiedenen empirischen Tätigkeiten die be-
sonderen Lehren abgeleitet hat. Was Fichte verlangt, ist die
Einsicht in die innere Notwendigkeit, womit sich die allgemeine
Vemunf tfunktion gerade in diese bestimmten, aus der Erfahrung
bekannten besonderen Funktionsarten ghedert. Diese Erkenntnis
aber ist nicht selbst aus der Erfahrung zu gewinnen. Sie kann
nur dadurch zustande kommen, daß man die Vernunfttätigkeit
selbst auf ihre immanenten Notwendigkeiten hin untersucht. Allein
diese Notwendigkeiten können keine von vornherein gegebenen
und damit in letzter Instanz irgendwo anders herstammenden
sein. Denn die Vernunft kennt theoretisch wie praktisch nichts
als sich selbst. War daher Kants Kritik überall bei der Orga-
S^^ nisation der Vernunft, bei dem »Bewußtsein überhaupt« als bei
dem Letzten und Höchsten stehen geblieben, so stellt die Fichtesche
Philosophie sich die Aufgabe, diese Organisation zu begreifen : aber
sie kann nach Kantischem Prinzip aus nichts anderem als aus
sich selbst begriffen werden. Sie ist autonom: sie selbst, diese
Organisation, muß als ein System gedacht werden, das in allen
seinen besonderen Funktionen durch die Idee des Ganzen be-
dingt ist. Soll der Zusammenhang der Vernunfttätigkeiten ver-
standen werden, so ist er nicht durch naturgesetzliche Notwen-
digkeit aus irgend etwas anderem abzuleiten; denn von dieser
naturgesetzUchen Notwendigkeit hat die Kritik der reinen Ver-
nunft bewiesen, daß sie selbst nur eine Vernunftform der Er-
scheinungswelt ist. Der Zusammenhang der Vernunfttätigkeiten
ist nur aus einem absoluten Prinzip der Vernunft selbst abzu-
leiten. Ein solches absolutes Prinzip aber ist nur der Zweck.
Will man die Organisation der Vernunft deduzieren, so ist das
nur dadurch möglich, daß man alle ihre einzelnen Funktionen
als die notwendig zu ergreifenden IJlIittel entwickelt, die dem
Dus Syatom der Vernunft. 215
lotztx^n Zwocke der Veniunfttäti^^'keit dienen raü.sscn. Das isfc
der Fichtesche (Jriind^^edanke. Es ist die vollige JJurclifüluung
des Primats der praktischen über die theoretische Vernuaft, und
dies ist der Grund für die aufc^schließlich teleologische (iestalt,
welche die Fiehtesche Lehre bis in ihre einzelnen Teile hinein
trägt. Die Deduktion der Wissenschaffcslehre hat nur die Auf-
gäbe, aus dem höchsten Zwecke der Vernunft das System aller
der Tätigkeiten zu entwickeln, mit denen sie diesen Zweck reali-
siert. In diesem Sinne nennt sich Fichtes Lehre eine »Geschichte
des Bewußtseins«. Aber diese Geschichte ist keine Erzählung
kausal notwendiger, sondern eine Entwicklung teleologisch not-
wendiger Prozesse. Alles, was Kant von reinen Formen der
Vernunftorganisation gefunden hat, findet darin eine Stelle, an
der es als die notwendige Lösung einer notwendigen Aufgabe er-
scheint. Alle Vernunftformen bilden ein teleologisches System,
welches durch eine letzte und höchste Aufgabe bedingt ist.
Ein solches System ist nur dadurch möglich, daß das gesamte
Wesen der Vernunft in einer Tätigkeit gesucht wird, die um eines
in ihr selbst begründeten Zweckes willen sich vollzieht. Die
Fichtesche Lehre muß so in ihren Begriff der Vernunft einen
ursprünglichen Gegensatz zwischen der ihr durch sie selbst ge-
setzten Aufgabe und ihrer Tätigkeit aufnehmen, und sie muß
diesen Gegensatz als einen der Vernunft wesentlichen betrachten,
weil sich nur aus ihm jede besondere Vernunftfunktion erklärt.
Der Gegensatz einer Aufgabe und eines in unendlicher Annähe-
rung auf deren Realisierung gerichteten Strebens bestimmt des-
halb den Fichteschen Begriff der Vernunft. Jener sittliche Ge-
sichtspunkt, den Lessing und Kant aufgestellt hatten, wird von
Fichte zum Kardinalprinzip der Philosophie gemacht, und die
Überzeugung, daß der Grund aller "Wirklichkeit in dem Ideal zu
suchen sei, das sie erfüllen soll, diese Grundüberzeugung prägt
seiner Lehre den Charakter des ethischen Idealismus auf.
Daraus ergibt sich aber auch unmittelbar die so folgenreiche
Methode der »V^issenschaftslehre«. Gelten alle Vernunfthandlungen
als das System von Mitteln für die Erfüllung einer Aufgabe, so
muß innerhalb der Vernunft selbst ein Widerspruch existieren
zwischen dieser Aufgabe und ihrem Tim. Denn die völlige Über-
einstimmung beider müßte das ganze Wesen dieser Funktionen
216 Fichte.
ebenso hinfällig machen, wie für Kant das Sittengesetz gegen-
standslos erschien, sobald seine völlige Verwirklichung gesichert
war. Der Begriff des^SoUensJ der nun von Fichte zum Zentral-
begriff der gesamten Philosophie gemacht wird, verlangt den
Widerspruch zwischen der Aufgabe und dem wirklichen Tun, und
diesen Widerspruch verlegt die Wissenschaftslehre in das Wesen der
Vernunft. Ihre teleologische Deduktion der Vernunfthandlungen
läuft darauf hinaus, daß gezeigt wird, wie durch den Widerspruch
zwischen der Aufgabe und dem ersten Tun sich die Notwendig-
keit eines zweiten ergibt, wie auch dieses sich als unzulänglich
erweist und dadurch ein drittes bedingt usf., bis entweder ein
Processus in infinitum sich darstellt oder durch die Rückkehr zu
der ersten Tätigkeit der gesamte Kreis der Vernunfthandlungen
sich systematisch abschließt. In diesem Sinne ist Fichtes Methode
diejenige der Widersprüche, und seine Entwicklung der Vernunft-
formen aus dem Grundprinzip ist deshalb Dialektik. Auf eine
solche dialektische Methode, welche sich am liebsten in der
trichotomischen Einteilung und in dem Verhältnis vonjhesis,
Antithesis und Synthesis bewegt, hatte gelegentlich schon Kant
hingewiesen; ja, die ganze Dreiteilung seines Systems beruhte ja
darauf, daß zwischen theoretischer und praktischer Philosophie
ein Gegensatz obwaltete, aus welchem sich die Aufgaben der
ästhetischen entwickelten. Hatte Kant als Grundverhältnis hier
gelehrt, daß die zunächst einander fremden Funktionen des Wissens
und des Begehrens in der Form des Gefühls eine Synthesis zu
finden vermögen, hatte z. B. auch seine theoretische Philosophie
in bezug auf den Gegensatz von Sinnlichkeit und Verstand in
der Einbildungs- oder der Urteilskraft eine iVndeutung von der
gemeinsamen Wurzel beider Funktionen hervortreten lassen, so
macht Fichte dies Verhältnis zu einer dialektischen Methode,
womit er das ganze System der Vemunfthandlungen aus ihrer
letzten Aufgabe zu entwickeln unternimmt.
Ist damit der Grundcharakter von Fichtes Philosophie ge-
kennzeichnet, so hatte sie diese ihre Aufgabe erst aus dem ge-
gebenen Standpunkte der philosophischen Forschung heraus und
anderseits aus dem allgemeinen Denken zu entwickeln. Die
häufigen Umarbeitungen der Wissenschaftslehre beweisen, daß
Fichte sich damit immer nicht genug tat, und doch mögen
WissenscliartHlchro. 217
manche der anfiln;j;liclu'n I)arstt'llun«^en die bcHten «geblieben nein.
Die un<^owöhnliclic Höbe der Abstraktion, auf der sich diese
Untersuchungen bewegen, und die vollkommene Neuheit der «ich
darin entwickelnden Ansichten l^ildetcn für die sprachliche Dar-
stellung außerordentlich große Schwierigkeiten, und so sehr es
dem Denker an gewissen Punkten gelang, darüber Herr zu werden,
so gewalttätig mußte er an andern der gewöhnlichen Sprache
gegenüber verfahren. Für den modernen Geschmack, der es liebt,
die Gedanken so platt ausgedrückt zu finden, daß er selbst so
wenig wie möglich Arbeit daran hat, werden daher alle jene Be-
arbeitungen Fichtes ungenießbar bleiben. Um so unberechtigter
ist die Keckheit, mit der lange Zeit solche, die nie einen Satz
von ihm verstanden hatten, über ihn abzusprechen pflegten. Für
die Einführung in den Standpunkt der Wissenschaftslehre dürften
die beiden Einleitungen dazu (1797), eine Meisterleistung von
dialektischer Entwicklung, für die Vertiefung in das Ganze die
»Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre« (1794) das Geeig-
netste sein. Die populärste Darstellung des Zusammenhanges
seiner theoretischen und seiner ethischen Lehre hat er in der
»Bestimmung des Menschen« (Berlin 1800) gegeben, wobei jedoch
nicht zu übersehen ist, daß sich in dieser Schrift schon die An-
fänge seiner später (§ 67) zu berührenden Umwandlung der meta-
physischen Ansicht zeigen.
Wenn Fichte der Philosophie den deutschen Namen der Wissen-
schaftslehre gab, so bezeichnete er damit die volle Geltung,
die durch Kant der erkenntnistheoretische Standpunkt im Mttel-
punkte des philosophischen Denkens gewonnen hatte. Sind die
übrigen Tatsachen gruppenweise auf die anderen Wissenschaften
verteilt, so ist es die Erklärung des Wissens, welche der Philo-
sophie eine besondere Aufgabe gibt und eine besondere Methode
aufnötigt. Zu dieser Erklärung hat das naive Bewußtsein den
Gegensatz von Subjekt und Objekt. Der Dogmatismus erklärt das
Bewußtsein aus Dingen an sich, der Idealismus erklärt die Dinge
aus dem Bewußtsein, der Synkretismus versucht mehr oder minder
geschickte Verschmelzungen von beiden und ist als Halbheit für
Fichte von vornherein verdammt. Der Dogmatismus, als dessen
Typus er die Lehre Spinozas betrachtet, ist unfähig, aus dem
Sern die Vorstellung abzuleiten. So konsequent er in sich sein
218 Fichte.
mas:, er scheitert an dem Problem des Ich, des Selbstbewußtseins.
Deshalb bleibt nur die andere volle Konsequenz übrig, den Idea-
lismus so auszubilden, daß aus dem Subjekt das Objekt, aus der
Vorstellung das Sein erklärt wird. Dieser Idealismus EaFdarinr
auch seinen besonderen Grund, daß, wie es auch metaphysisch
um die Dinge bestellt sein möge, das Bewußtsein jedenfalls sich
selbst das Nächste ist und nur von sich aus auch zur Vorstellung
des Seins gelangen kann.
Der Begriff des"^ Wissens kann deshalb auch bei Fichte nicht
in der Übereinstimmung von Gegenständen und Vorstellungen ge-
sucht werden, sondern setzt die immanente Bestimmung voraus,
daß es innerhalb der Vorstellungen solche gibt, welche mit dem
Gefühle der Notwendigkeit auftreten. Kant hat diese einzeln auf-
gesucht, aber Keinhold hat mit Recht gelehrt, daß das Wissen
nur als System mögüch ist. Wenn es ein Wissen als kritisches
System geben soll, so kann es nur in einem System notwen-
diger Handlungen der Intelligenz gesucht werden. Aber
zu dieser Aufsuchung muß die Philosophie von einem Satze aus-
gehen, der in Form und Inhalt durch sich selbst notwendig be-
stimmt ist. Allein dieser Satz darf nicht der Reinholdsche sein.
Er darf nicht ein totes Wissen von irgendwelchen Verhältnissen
und Beziehungen enthalten wollen, sondern er muß notwendig
die voraussetzimgslose Urhandlung aller Vernunft, er muß den
ursprünglichen Prozeß des Denkens in sich tragen. Er darf nicht
der Ausdruck einer Tatsache sein, sondern derjenige einer Funk-
tion, einer Handlung, welche nichts voraussetzt und alles zu ihrer
Folge hat, welche deshalb eine freie Tat im eigentlichsten Sinne
des Wortes ist — der Ausdruck einer »Tathandlung«. Diese ur-
sprünglichste und allgemeinste, durch keinen weiteren Inhalt und
durch keine Formbeziehung oder Kategorie bedingte Tathandlung
besteht darin, daß das Bewußtsein sich selbst denkt. Die rätsel-
hafte Rückbeziehung auf sich selber, welche darin hegt, bezeichnet
die Sprache mit dem Worte Ich. In diesem Sinne, nicht als das
empirische Selbstbewußtsein einer einzelnen Persönlichkeit, sondern
als das allgemeinste und ursprünglichste Handeln des vernünftigen
Denkens ist das Ich oder das reine Selbstbewußtsein das
Prinzip der Philosophie.
»Das Ich" setzt sich selbst.« Dieser Satz soll im Beginne der
Da« Icl.. 219
Fichtcschcii Phil()S()j)hi(' nicht eine Tatsache behaupten, ein '/Fak-
tum« wie Keinholds Satz des BewiiütHcins, sondern er soll viel-
mehr die Funktion aussprechen, durch welche_alles Denken be-_
dingt ist. Die Philosophie soll ijicht mit einer Behauptung be-
ginnen. Behauptungen sind immer anfechtbar und niemals ein
absolutes Prinzip. Den Anfanu' der Philosophie bilde nicht irgend
ein Satz, über den sich streiten läßt oder der Voraussetzungen
enthält, sondern vielmehr eine Forderung, die Urhandlung alles
vernünftigen Denlcens auszuführen. Wie der Geometer damit be-
ginnt, daß er verlangt: Stelle den Raum vor, — so der Philosoph
der Wissenschaftslehre mit dem Postulate: Denke dich selbst.
Mit diesem Akte des Selbstdenkens wird die Vernunft erzeugt.
Sie ist nur durch diesen Akt. Sie ist deshalb nicht etwas von
irgendwo andcrsher Gegebenes oder Ableitbares. Sie entsteht nur
durch diesen rätselhaften Akt des Sich- sei ber-Denkens. Die Ver-
nunft ist die sich selbst schaffende Handlung, das sich selbst er-
zeugende Tun, und die Philosophie fordert jeden auf, dieses Tun
in sich zu erzeugen. Fichtes Verhältnis zu Kant laßt sich hierbei
am besten übersehen. Für Kant war die Vernunft mit ihren
Formen eine gegebene Organisation, welche in der kritischen
Reflexion sich als allgemeine überindividuelle Tatsache offenbarte.
Für Fichte besteht diese Organisation nur in der Selbsterzeugung
der Vernunft. Seine Lehre enthält die Ausdehnung des Begriffes
der Autonomie über die gesamte und speziell über die theoretische
Vernunft. Er will zeigen, daß jene überindividuelle Organisation,
in welcher Kant den Grund aller Apriorität suchte, überall, an
welchem Inhalte sie sich auch entwickle, eine sich selbst er-
zeugende Tat des vernünftigen Denkens enthalte. Kant hatte
diesen Gedanken in der Lehre von der transzendentalen Apper-
zeption'berührt, er hatte darin gezeigt, daß die Kategorien nur
die Funktionsformen des reinen Selbstbewußtseins sind, und dieser
dunkelste Teil seiner Lehre wurde hier zu dem Lichte, welches
den Nachfolgern den Weg zeigte. Der Akt des Selbstbewußtseins,
das ist die Summe der Fichteschen Erkenntnistheorie, ist die ur-
sprüngliche Handlung, aus der die gesamte Vorstellungswelt mit
ihrem Inhalte und ihrer Form sich ableitet. Nur wenn man von
diesem Standpunkt aus die K^ntische Lehre betrachtet, ver-
schwinden die Widersprüche, welche sich aus der realistischen
220 Becks Standpunktslehre.
Fassung vom ' Ding an sicH ergeben haben. Es ist unmöglich,
die Vorstellung durch Dinge bestimmt zu denken. Aber es ist
möglich, in den notwendigen Handlungen der Intelligenz diejenige
aufzudecken, durch welche die Vorstellung von Dingen und ihrer
Realität hervorgebracht und begründet, d. h. als notwendig ver-
langt wird. Wenn es unter den Funktionen des empirischen
Bewußtseins keine solche gibt, so muß der Grund für die Vor-
stellung von Dingen in einem ursprünglichen Vorstellen, in jenem
reinen Selbstbewußtsein gesucht werden, ohne welches auch nach
Kant kein empirisches möglich ist. In diesem Sinne erkläite
Fichte auch gegen den ausdrücklichen Widerspruch von Kant,
daß seine Lehre nichts als der_ wohlverstandene und konsequent
durchgeführte Kritizismus sei, und in diesem Sinne stimmte ihm
hinsichtlich der theoretischen Deduktionen Sigismund Beck
(1761 — 1842, später Professor in Rostock) bei, welcher unter
Billigung des Meisters einen »erläuternden Auszug aus den Schriften
des Herrn Professor Kant« herausgegeben hatte und nun, vielleicht
schon unter dem Einfluß der Wissenschaftslehre, einen dritten
Band unter dem Titel: »Einzig möglicher Standpunkt, aus
welchem die kritische Philosophie beurteilt werden muß« (1796)
hinzufügte. Der Idealismus, den diese interessante »Standpunkts-
lehre« vertrat, wendet sich namentlich gegen Reinhold, welcher
Kant durch seine Fassung der Lehre vom Ding an sich zum
Dogmatiker gemacht habe, und sucht den wahren Schlüssel zum
Verständnis Kants in der Lehre von der transzendentalen Apper-
zeption. Es gibt kein Band zwischen Vorstellungen und Dingen
an sich. Gegenstände, die als Norm der Richtigkeit dem indi-
viduellen Bewußtsein gegenübergestellt werden sollen, sind mit
den Vorstellungen des letzteren nur dann vergleichbar, wenn sie
selbst Vorstellungen sind, und sie können als solche nur dadurch
aufgefaßt werden, daß sie als Produkte eines »ursprünglichen
Vorstellens« gelten, das allem individuellen Bewußtsein vorher-
geht. Es ist nicht zu leugnen, daß zwischen diesem Beckschen
Standpunkte und dem Berkeleyschen nur äußerst schwierig die
Grenzen zu ziehen sein würden. Aber auf ihm standen auch
weder Kant noch Fichte; Kant nicht, insofern er an der Realität
der Dinge an sich festhielt, Fichte nicht, insofern er der spiri-
tualistischen Grundlage des englischen Denkers gänzlich fern stand.
Das urs|irünf(liche N'oretellen. 221
namontlich aber iusoftMii or die V()i}iiisHotzun<,'('n für jenes ur-
{5[)rüii<^li('lie Vorstollen in dci praktischen Venninft suchte. Auch
Beck hat die Lehre vom J)ing an si(;h ledi^jlich als ein theo-
retisches Problem behandelt, und ^leshalb könnt»' auch sein Stand-
punkt nicht der abschließende sein. Aber in seiner Auffassung
tritt deutlich die Tendenz zutage, Kants »Bewußtsein über-
haupt« metaphysisch zu deuten und das »ursprüngliche Vorstellen«
als ein überindividuelles Subjekt zu behandeln, — eine Vorstellungs-
weise, welche in der theoretischen Entwicklung der Kantischen
Prinzipien keine Stelle hatte.
Aus jenem Grundprinzip der Fichteschen Lehre ergibt sich
aber sogleich eine Foli2;erunc; , welche sie mit allen ihren dialek-
tischen Konsequenzen in einen unversöhnlichen Gegensatz zu der
gewöhnlichen Weltauffassung versetzte. Es ist besser, diesen Gegen-
satz ganz scharf herauszuheben, als ihn zu verdecken: er enthält
den letzten Grund für alles dasjenige, was in der idealistischen
Philosophie als Paradoxie erschienen ist und noch heute erscheint.
Das naive Bewußtsein kami sich eine. Funktion nur denken als den
Zustand oder die Tätiojkeit eines funktionierenden Wesens. Wie
man sich auch dies Verhältnis vorstellen mag, immer denkt das
nach den gewöhnlichen Kategorien sich vollziehende Denken zuerst
Dinge und dann erst Funktionen, welche diese ausführen. Die
Fichtesche Lehre stellt dies Verhältnis auf den Kopf. Was wir
Dinge nennen, betrachtet sie als Produkte von Tätigkeiten. Wenn
man sonst die Tätigkeiten als etwas ansieht, was ein Sein voraus-
setzt, so ist für Fichte alles Sein nur ein Produkt des
ursprünglichen Tuns. Die'Funktion ohne ein funktionierendes
Sein^ ist für ihn das metaphysische Urprinzip. Für das gewöhn-
liche Bewußtsein scheint eine solche Funktion in der Luft zu
schweben und unvorstellbar zu sein. In der Natur, um es am
besonderen Beispiel zu erläutern, denkt das naive Bewußtsein die
Kräfte und die Bewegungen an existierende Stoffe oder an seiende
Atome gebunden : schon Kants dynamische Naturphilosophie lehrte,
daß, was als Stoff erscheint, nur ein Kraftprodukt sei. Bei Fichte
führt die konsequente Erweiterung dieses Gedankens zur Zer-
trümmerung des "Ding-an-sich-Begriffes : für ihn ist alle Realität
nur ein Produkt des Tuns.
Hier sieht man am deutlichsten den weiten Abstand, der den
222 Fichte.
deutschen Idealismus von demjenigen eines Descartes oder eines
Berkeley trennt. Diese mochten wohl die Körper weit zum Teil
oder ganz in Vorstellungen auflösen, aber die Vorstell imgen selbst
betrachteten sie mit der naiven Weltauffassung als Funktionen
denkender Substanzen. Für Fichte ist das Selbstbewußtsein eine
Tathandlung, die, statt eine denkende Substanz vorauszusetzen,
vielmehr ihrerseits erst eine solche Substanz erzeugt. Der denkende
Geist »ist« nicht erst und kommt dann hinterher durch irgend-
welche Veranlassungen zum Selbstbewußtsein, sondern er kommt
erst durch den unableitbaren, unerklärlichen Akt des Selbst-
bewußtseins zustande. Die wahre Geburtsstunde des Menschen
ist der Moment, wo er zum ersten Male »ich« sagt.
Beginnt also die Philosophie damit, daß sie jeden auffordert,
die schöpferische Tätigkeit des Selbstbewußtseins zu ^vollziehen,
so besteht ihr Fortschritt lediglich in der Reflexion auf dasjenige,
was in dieser Handlung geschieht, und was notwendig mit ihr
als weitere Funktion verbunden ist. Dazu gehört nun in erster
Linie, daß das Ich, um sich selbst zu bestimmen, sich von allem
anderen unterscheiden, daß es sich ein »Nichtich« gegenübersetzen
muß. Aber dieses Nichtich ist doch selbst immer wieder etwas
Vorgestelltes, es ist also vom Bewußtsein und im Bewußtsein
gesetzt. »Das Ich setzt das Nichtich im Ich.« Somit entsteht
durch den Akt des Selbstbewußtseins in diesem ein doppelter
Inhalt, und, im Bewußtsein vereinigt, heben _Ich und Nichtich
einander teilweise auf und beschränken sich gegenseitig. Keines
von beiden nimmt das ganze Selbstbewußtsein ein, und jedes ist
nur in Beziehung auf das andere gesetzt und durch dies andere
bestimmt. Subjekt und Objekt — wenn man diese populären
Bezeichnungsweisen mit der Vorsicht anwenden will, daß die
Kategorie der Substantialität von beiden noch fern gehalten
wird — sind die beiden notwendigen Urgegensätze , welche im
Akte des Selbstbewußtseins enthalten sind, und welche nur in
Beziehung aufeinander gedacht werden können. Sowenig wie ein
Subjekt an sich ohne Objekt, sowenig ist ein Objekt an sich ohne
Subjekt zu denken. ])iese gegenseitige Beziehung entwickelt sich
in der Kategorie der Wechselwirkung und führt so zu dem Grund-
satze, daß das Ich und das Nichtich einander wechselseitig be-
stimmen. Denkt man die beiden Verhältnisse, die darin vereinigt
Das Hewuütlosi! im Ich. 22'{
blind, gesüiulert, so zoi<;t sicli iiuf der einen Suite eine Jiesiiinnit-
licit des Ich durch das Niclitich, auf der andern eine Bestimmtheit
des Nichtich durch das Ich. Wird im Selbstbewußtsein das Subjekt
durch das Ohjekt 1 estimmt, so ist die KausaHtät diejenige des
(Jrundes, und das Ich verhält sich theoretisch: wird umgekehrt
das Objekt durcli das Subjekt bestimmt, so ist die Kausalität
diejenige des Zwecks und der Tat, und das Ich verhält sich
praktisch. So teilt sich nach diesen allgemeinsten Begriffsbe-
stimmungen die Wisseuschaftölchre, die Fichtesche Philosophie,
in einen theoretischen und einen praktischen Teil.
Die Aufgabe des ersteren besteht also in der Entwicklung der-
jenigen notwendigen Vernunfthandlungen, welche sich aus der Be-
stimmtheit des Ich durch das Nichtich ergeben. Es ist klar, daß,
wenn das Nichtich als Objekt des Ich erscheint, es nur von diesem
produziert sein kann. Es ist ebenso klar, daß, wenn es nichts
gibt als das Ich und seinen selbstgeschaffenen Inhalt, das eigent-
liche Problem darin zu suchen ist, daß die an sich unendliche
und unbeschränkte Tätigkeit des Ich sich bei jedem besonderen
Bewußtseinsakte, der irgend ein Nichtich zum Inhalt hat, selbst
beschränkt. Das Nichtich beschränkt die Tätigkeit des Ich, aber
es ist ja selbst nur eine Funktion im Ich. Es ist also diejenige
Funktion, durch welche das Ich sich selbst beschränkt. Der ein-
zelne Inhalt des Bewußtseins also in der ganzen Notwendigkeit,
womit er darin sich geltend macht, kann nicht aus einer Abhängig-
keit des Bewußtseins von irgendwelchen Dingen an sich, sondern
nur aus dem Ich selbst erklärt werden. Nun ist aber alles be-
woißte Produzieren durch Gründe bestimmt und setzt deshalb
immer wieder besonderen Vorstellungsinhalt voraus. Das ur-
sprüngliche Produzieren, wodurch zu allererst das Nichtich im Ich
gewonnen wird, kann nicht bewußt, sondern nur bewußtlos sein.
Es ist auch nicht durch Gründe bestimmt, sondern absolut fiei
und grundlos. Die Funktionen also, welche Beck als das »ur-
sprüngliche Vorstellen« bezeichnete, sind für Fichte grundlos freie
Akte, die eben deshalb nicht als solche, sondern erst in ihren
Produkten zum Bewußtsein kommen. Dem empirischen Bewußt-
sein, für welches der Reinholdsche Satz von dem Verhältnis der
Vorstellung zum Subjekt und zum Objekt gilt, muß ein unbe-
wußtes Vorstellen vorhergehen, welches, selbst frei und grundlos.
wm
224 Fichte.
den Grund für die Notwendigkeit enthält, womit der besondere
Inhalt dem Bewußtsein sich aufnötigt.
Dies ist der wichtigste Schritt, den Fichte über Kant hinaus
tut. Es leuchtet ein, daß dieses . bewußtlose, grundlos freie Vor-
stellen als eine Funktion eben derselben überindividuellen Ver-
nunfteinheit gedacht wird, welche Kant als transzendentale Apper-
zeption bezeichnete. Während aber Kant auf diese nur die for-
malen synthetischen Verknüpfungen des Empfindungsmaterials
zurückführte, ohne sich um die Begründung des letzteren zu
kümmern (da er vielmehr dessen Notwendigkeit und Allgemein-
gültigkeit leugnete), sucht Fichte in der produktiven Ein-
bildungskraft den Ursprung der Empfindung. Die Besonderheit
der einzelnen Empfindung ist allerdings auch auf diesem Stand-
punkt nicht zu begründen: aus dem empirischen Bewußtsein nicht,
weil dieses nicht weiß, wie es dazu kommt; durch Dinge an sich
nicht, weil diese überhaupt nicht gedacht werden können; durch
die Vereinigung von beiden erst recht nicht. So bleibt nur übrig,
sie als eine absolute Urposition zu betrachten und als das Produkt
einer vollkommen freien, grundlosen Handlung anzusehen, deren
Ursprung in dem überindividuellen Ich zu suchen ist.
Diese Lehre Fichtes hat, recht verstanden und von den Formeln
der Wissenschaftslehre befreit, eine enorme Tragweite. Ihr tiefster
Gehalt ist der, daß alles Bewußtsein sekundärer Natur ist und
auf ein Bewußtloses hinweist, welches ihm den Inhalt gibt. Alle
Versuche des Rationalismus, aus dem Wesen des Bewußtseins,
aus seinen Formen und Gesetzen auch den Inhalt des Denkens
herauszuklauben, werden hier an einer noch viel tieferen Wurzel
abgeschnitten als bei Kant. Das empirische Bewußtsein ist nur
möglich, wenn sein Inhalt gegeben ist. Der Empirismus war
schnell mit der Behauptung bereit, daß es eben die Dinge an
sich seien, von denen dieser Inhalt des Bewußtseins stamme. Aber
die Kantische Kritik, wie Fichte sie auffaßt, hat die Möglichkeit
dieser Erklärung vernichtet. Auch Dinge an sich sind Vor-
stellungen. Deshalb sieht Fichte den einzigen Ausweg für die Er-
klärung des gegebenen Bewußtseinsinhaltes darin, daß dieser aus
einem Vorstellen höherer Art, einem freien unbewußten Vorstellen
herstamme. Zum zweiten Male wird hier in der deutschen Philo-
sophie der Begriff einer unbewußten Vorstellungstätigkeit
ThoorotiHcheH Ich. 226
ontdorkt, abor mit pjanz andormi Sinno inid in panz anderem Zn-
samfnonhan^o als bei Leibniz. Dort handelte eH Hich (und Mai-
mon hatte diesen Gedanken innerhalb deHKritizismiisernenert)umdie
♦illmähbehe Abnahi\)e (Ut I5ewiißts*^insener<^Me bis zu verschwindend
kleiner Größe, liier ist es eine toto coelo verschiedene Funktion,
als welche das unbewußte dem bewußten Vorstellen j^e;^'eniiber-
tritt. Jenes ist grundlos und frei, dieses ist begründet und not-
wendig; jenes ist ursprünglich und originell, dieses ist abgeleitet
und abbildlich. Damit rundet sich die idealistische Erkenntnis-
theorie zu dem geschlossensten System ab', das sie je gefunden
hat und finden kann. Was das naive Bewußtsein als eine fremde
Welt von Dingen an sich ansieht, ist das Produkt einer unbe-
wußten Vorstelhingstiitigkeit, welche als die ursprünglichste
theoretische Funktion allem empirischen Bewußtsein zugrunde
liegt.
Ist so die Empfindung als allgemeine Funktion aus dem über-
individuellen Ich deduziert worden, so enthält sie einen Wider-
spruch im Wesen des Ich und damit eine Aufgabe, welche die
Reihe der notwendigen Formen bedingt, in denen sich die theo-
retische Vernunft entwickelt. Bei der Konstruktion dieser Reihe,
welche im wesentlichen darauf hinausläuft, alle die Vernunft-
formen darzustellen, die Kants Erkenntnistheorie analysiert hatte,
bewegt sich Fichte mehr oder minder ausgesprochen in einem
räumlichen, teilweise an optische Verhältnisse erinnernden Bilde.
Die an sich unendliche Tätigkeit des Ich setzt sich durch die
freien Handlungen der produktiven Einbildungskraft überall
Schranken. Aber sie ist infolgedessen bei jeder solchen Handlung
begrenzt und unbegrenzt zugleich, und sie kann das nur dadurch
sein, daß sie, indem sie sich diese Schranke setzt, zugleich auch
darüber wieder hinausgeht. Dies Darüberhinausgehen aber ist
selbst nur wieder eine Tätigkeit des Ich, also ein Vorstellen, und
muß darin bestehen, daß das Ich sich die Schranke, welche es
sich selbst gesetzt hat, zum Objekt des Bewußtseins macht. Die
Reflexion auf die Empfindung ist die »Anschauung«, in der eben
deshalb die Empfindung als ein dem Bewußtsein Fremdes, Äußer-
liches und Gegebenes erscheint, und dieser Prozeß wiederholt sich
immer wieder. Über die Anschauung hinaus geht die Tätigkeit
des Ich zu der »Einbildungskraft« über: hier wird der Inhalt der
Windelband, Gesch. d. n. Philos. U. lÖ
w^
226 Fichte.
Anschauung als ein Bild mit der synthetischen Anordnung seiner
Bestandteile betrachtet, welche durch die Kategorien bestimmt
wird. So erscheinen bei Fichte die Kategorien und mit ihnen
auch die sinnlichen Formen von Raum und Zeit als Funktionen
der Einbildungskraft, die bei Kant die Beziehung beider vermittelt
hatte. Aber auch über das Bild hinaus muß das Ich seine Tätig-
keit entwickeln, indem es als »Verstand« das Bild für einen
realen Gegenstand erklärt, der die Ursache der Empfindungstätigkeit
enthalte. Deshalb stellt sich bei Fichte die Kategorie der Kau-
salität als Grundform der Verstandestätigkeit dar. Diese Ver-
standesreflexion aber weist ihrerseits auf die Fähigkeit des Be-
wußtseins zurück, sich seinem eigenen Inhalte in freier Abstraktion
gegenüberzustellen, und wenn diese Fähigkeit die »Urteilskraft«
genannt wird, so wurzelt sie wieder in jenem allgemeinsten Ver-
mögen, mit dem das Ich über jede beliebige Schranke hinaus-
gehen, sie in der Abstraktion fixieren und auf sie als sein eigenes
Objekt reflektieren karm. Indem Fichte dieses allgemeinste Ver-
mögen im engeren Sinne als »Vernunft« bezeichnet und dabei
auf den Kantischen Wortgebrauch zurückweist, betrachtet er da-
mit die theoretische Reihe der Handlungen des Ich als ge-
schlossen; denn als der tiefste Grund aller dieser Funktionen ist
dieselbe allgemeine Tätigkeit gefunden worden, die anfänglich das
Problem bildete. Damit aber ist zugleich erkannt, daß die theo-
retische Wissenschaftslehre zwar ein in sich vollständig geschlossenes
System bildet, aber ein Grundproblem enthält, welches sie selbst
zu lösen nicht imstande ist.
Es ist keine Frage, daß die Konstruktion, deren Grundzüge
hier nur angedeutet wurden, neben den vielen geistreichen Wen-
dungen und feinen Beobachtungen, welche sie enthält, im ganzen
doch durchaus künstlich und zum Teil überaus willkürlich ist.
In dem Aufbau der Vernunftformen spielen dabei namentlich die
Kategorien die sonderbare Rolle, daß sie an verschiedenen Punkten
wiederkehren, und daß somit ihre völlig systematische Ableitung
nicht als gelungen betrachtet werden kann. Es kommt hinzu,
daß das Grundprinzip, wonach jede der deduzierten Handlungen
erst durch das System der folgenden begründet erscheinen soll,
zwar eine gewisse Berechtigung dafür gibt, daß die späteren Funk-
tionen unvermerkt schon in den früheren mitspielen, daß aber
PraktiHrhcH Ich. 227
dadurch v'm DurcheinanderKcliillcrn ullor dieser Tätipkriton zu-
wep;o gebracht wird, welches pe^en die Bor^samo Scheidung, die
Mch Kant überall zur Auf^nibe gemacht hutU;, wenig vorteilhaft
wirkt. Es zeigt sich scliun hier% die (iofährlichkeit des dialek-
tischen Prinzips, wonach die verschiedenen Funktionen unter der
treibenden Macht einer gemeinsamen Aufi^abc auseinander hervor-
gehen und ineinander umschlagen sollen. Aber es tritt auf der
anderen Seite auch die ganze Großartigkeit des Gedankens her-
vor, die gesamten Formen der Intelligenz als ein System aus einem
Guß zu begreifen und dessen Grundaufgabe in allen einzelnen
Formen wiederzuerkennen.
Dies ganze System enthält also nichts als die Reihe der Hand-
lungen, mit denen die Vernunft über jede selbstgesetzte Schranke
immer wieder hinausstrebt: das Wesen der theoretischen Vernunft
ist diese Bewegung, sich selbst Grenzen zu setzen und diese immer
wieder zu überschreiten. Sie hängt also an der Empfindung als
der ersten grundlosen und deshalb theoretisch unbegi-eif liehen
Schranke, welche das Ich sich setzt. Den Gegensatz der unbe-
schränkten und der beschränkten Tätigkeit findet das theoretische
Ich als den Grund seiner ganzen Entwicklung vor, ohne ihn ver-
stehen zu können. Jener erste Anstoß für die Entwicklung der
ganzen Reihe, der in der Empfindung gesucht werden muß, macht
die ganze theoretische Vernunft erst möglich und ist deshalb aus
ihr nicht abzuleiten. Die theoretische Vernunft kann keine Rechen-
schaft darüber geben, weshalb das Ich seine unendliche Tätigkeit
durch die freien und grundlosen Handlungen beschränkt und da-
mit den ganzen Prozeß veranlaßt, der von da aus notwendig
durch alle die deduzierten Formen hindurch sich entwickelt. Der
Grund dieses Anstoßes kann deshalb nur darin gesucht werden,
daß das Ich seinem tiefsten Wesen nach praktischer Natur ist.
Die unendliche Tätigkeit, welche das reine Ich ausmacht, würde
inhaltlos sein, wenn es für sie nichts zu tun gäbe. Eine Kraft
kann sich nur dadurch wirksam erweisen, daß sie einen Widerstand
überwindet. Eine unendliche Tätigkeit ist nur dadurch möglich,
daß es immer wieder eine Schranke gibt, welche sie zu überwinden
hat. Um daher unendliche Tätigkeit zu bleiben, muß das Ich
sich Schranken setzen, die es zu überwinden hat. Der Anstoß
für die ganze theoretische Reihe, die ursprünghche Selbst-
15*
mmmmm
228 Fichte.
beschränkung des Ich in der Empfindung, geht daraus hervor, daß
das Ich eine unendliche Tätigkeit sein soll und als solche eines
Widerstandes bedarf, um sich an ihm zu entfalten. Das Ich setzt
sich die Schranke, um sie zu überwinden: es ist theoretisch,
um praktisch zu sein.
Den tiefsten Charakter des Ich bildet also die UnendHchkeit
seiner Funktion; aber es ist das keine Unendlichkeit des Seins,
denn das wäre eine fertige Unendlichkeit, sondern eine Unend-
lichkeit des Tuns und des Streben s. Es liegt im Wesen der un-
endlichen Tätigkeit, daß sie ihr Ziel nicht erreichen kann. Sie
wäre nicht mehr unendlich, sobald das Streben erfüllt wäre und
darin sein Ende hätte. Die Tätigkeit des Ich kann daher nur
darin bestehen, daß sie notwendig durch die Setzung der Schranken
sich immer neue Aufgaben steckt und über deren Lösung zu neuen
Aufgaben fortschreitet. Der empirische Wille findet den Wider-
stand, an dem er sich betätigen soll, im Nichtich vor: das un-
endliche Streben des reinen Ich findet keinen Widerstand vor und
muß deshalb selbst ihn sich setzen. Daher seine Selbstbeschränkung
in der unbewußten Vorstellung, deren Produkt die'Hlmpfindung'
und das 'Nichtich ist. Auch aus der praktischen Vernunft kann
nicht deduziert werden, weshalb deren einzelner Inhalt gerade
so und nicht anders bestimmt ist, wie er im Bewußtsein als ge-
geben erscheint; denn es sind^ freie, grundlose Tätigkeiten, um
welche es sich dabei handelt; aber es läßt sich im allgemeinen
feststellen, welches der Zweck ist, um deswillen alle diese grund-
losen Akte des unbewußten Vorstellens geschehen, aus denen die
objektive Welt hervorgeht.
Die Grundbestimmungen der Wissenschaftslehre sind danach
folgende. Das reine oder absolute Ich ist die unendliche, nur auf
sich selbst gerichtete Tätigkeit (das Tun des Tuns, wie es Jacobi
ausdrückte). Diese unendliche Tätigkeit, die keinen anderen Gegen-
stand hat als sich selbst, ist aber keine Tatsache; es widerspricht
ihrem Begriffe, fertig zu sein, und sie existiert daher nur als un-
endliches Streben oder Trieb. Um der VerwirkHchung dieses
Triebes willen setzt das reine Ich durch freie Handlungen sich
selbst Gegenstände, an denen sich besondere endliche Tätigkeiten
entwickeln können, und erzeugt auf diese Weise die Welt der Vor-
stellung oder die objektive Welt. Der Grund der Welt also ist
Slaiulpunkt der LleutitUt. 229
nicht eine Ursache, die sio mit Notwendigkeit erzeugte, wie im
Spiiiüzistischen System, somlern ein Zweck, der durch Hie ver-
wirklicht werden soll. Dieser Zweck ist die Tätigkeit, und zwar
die Tätigkeit, die um ihrer selbst» willen und nicht zur Herbei-
führung irgend anderer Zwecke da sein soll, die Tätigkeit als
Selbstzweck. Das reine Ich ist also nicht gegeben, sondern viel-
mehr aufgegeben. Die unendliche Tätigkeit ist die Aufgabe, die
selbst niemals erfüllt wird, und um derenwillen alle besonderen
Tätigkeiten mit allen ihren Produkten, d. h. mit der ganzen ob-
jektiven Welt da sind. Die Tätigkeit als Selbstzweck ist aber
nichts anderes als die absolut autonome, nach Kantischer Be-
stimmung die sittliche Tätigkeit. Wie der kategorische Im-
perativ das Gesetz der Gesetzmäßigkeit, so ist das unendliche
Streben der Trieb, Trieb zu sein, der nur auf sich selbst ge-
richtete Trieb oder der Selbstzweck. Das Sittengesetz also,
d. h. die Forderung eines Handelns, das lediglich sich selbst zum
Zwecke hat, ist der die Welt erzeugende Trieb des absoluten Ich.
Auf diesem ihren Höhepunkte zeigt sich nun die Fichtesche
Lehre zugleich in ihrer ganzen Abhängigkeit mid in ihrer ganzen
Verschiedenheit von der Kantischen. Der Primat der praktischen
Vernunft über die theoretische ist vollständig durchgeführt: die
letztere gilt nur noch als ein Ausfluß der ersteren, und die Um-
legung des metaphysischen Standpunktes aus der theoretischen
in die praktische Vernunft ist so vollständig vollzogen, daß die
letztere als der Urgrund der gesamten Wirklichkeit betrachtet
wird. Zugleich aber gilt die Analyse der notwendigen Vernunft-
tätigkeiten nicht mehr bloß als solche, sondern als die meta-
physische Erkenntnis. Die Wissenschaftslehre ist nickt nur Er-
kenntnistheorie, sondern zugleich Metaphysik, weil es zu ihren
ersten Prinzipien gehört, daß*Dinge an sich^ überhaupt undenkbar
sind, und daß es nichts weiter geben kann, als die Vernunft und
ihre notwendigen Produkte. Geht man von der landläufigen Be-
trachtungsweise aus, \velche Denken und Sein einander gegen-
überstellt, so lehrt diese Konsequenz des transzendentalen Idealis-
mus die absolute Identität des Seins mit den notwendigen
Handlungen der Vernunft, und in diesem Sinne pflegt die von
Fichte begonnene Kichtung als Identitätsphilosophie be-
zeichnet zu werden. Sie charakterisiert sich in bezuo; auf die
230 Fichte.
philosophischen Disziplinen durch die Identifizierung von Logik
und Metaphysik und hat in dieser Hinsicht ihre Wurzeln in
Kants transzendentaler Logik insofern, als schon in dieser die
synthetischen Formen der Denktätigkeit als die bestimmenden
Gesetze der objektiven Welt erkannt wurden. Die Restriktion
jedoch, welche Kant durch seine Lehre vomtDing an sich gemacht
hatte, fiel schon bei Fichte fort, und aus der Metaphysik der
Erscheinungen wurde wieder eine absolute Metaphysik. Diese
Umänderung kam sogleich an der Behandlung desjenigen Be-
griffes zutage, der bei Kant das Kriterium für die Möglichkeit
einer absoluten Metaphysik gebildet hatte, der intellektuellen
Anschauung. Mit diesem Ausdruck hatte Kant den höchsten
Grenzbegriff seiner »Metaphysik des Wissens« bezeichnet: die An-
nahme eines schöpferischen Geistes, der mit den Formen seines
Denkens zugleich auch deren Inhalt, die Noumena, die Dinge an
sich erzeugt. Diese Bedeutung des Begriffs wurde für Fichte mit
dem des Dinges an sich gegenstandslos und hinfällig. Er ver-
stand vielmehr unter intellektueller Anschauung nur die sich
selbst und ihren Tätigkeiten zuschauende Funktion des Intellekts,
worin eben für ihn das ganze Geschäft der Wissenschaftslehre
bestand. Aber eben diese Selbstanschauuno des Bewußtseins
sollte nun in sich jene grundlos freien, aus der praktischen Auf-
gabe des Ich stammenden Handlungen der Empfindung entdecken,
deren Inhalt den Bestand der empirischen Wirklichkeit ausmacht.
So unbegreiflich der Inhalt dieser Urtätigkeit des theoretischen
Ich blieb, so deutlich lag der Sinn und der Zweck der Tätigkeit
selbst vor jener Selbstanschauung da. Und damit wurde die
Reflexion, womit in der Wissenschaftslehre das philosophierende
Bewußtsein sich selbst zuschaut, zu einem Verständnis des Zu-
sammenhanges der Dinge, das an die Stelle derjenigen Unter-
suchungen trat, welche man früher als Metaphysik im dogmatischen
Sinne getrieben hatte. Doch darf dabei nicht übersehen werden,
daß diese auf der intellektuellen Selbstanschauung des Ich be-
gründete Metaphysik zu ihrem Inhalte schließlich auch eben nur,
genau wie die Kantische Vernunftkritik, das System der Ver-
nunftformen hat: Fichte hat niemals verkannt, mit der Zeit aber
immer mehr betont, daß seine idealistische Deduktion bis zu den
besonderen Inhalten der Empfindung und Erfahrung nicht hinab-
Dua Sollen. 2'\\
reich(Mi kcinnc. Wenn or einmal im »Naturrecht« so weit ^'ing,
das organisiho Leben als Mittel für die sitt liehe Pflichterfüllung
zu konstruieren , so hat er sehr bald danaeh um ho deutlicher
darauf lnn»^ewiesen , daß aller l)e}*on(lei(^ Inhalt der Wirklichkeit
nach seinem Sein wie nach seinem Werte niemals aus den all-
<;emeincn Formen der Vernunft zu bestimmen, sondern immer
nur zu er_ltiben sei.
Das reine' Icli, welches den letzten Punkt dieser ganzen Kon-
struktion der Vernunftformen bildet, ist also kein Sein, sondern
eine Tätigkeit und nicht einmal eine wirkliche Tätigkeit, sondern
die Aufgabe einer solchen. Der letzte Grund aller Wirklichkeit
liegt im Sollen. Das Ich soll unendlich tätig sein. Darum er-
zeugt es die Welt seiner Vorstellungen als das Objekt für diese
Tätigkeit. Das praktische Ich ist der Trieb zum Handeln. In
dem einzelnen empirischen Ich ist somit das Sittengesetz nur das
Bewußtsein davon, daß das Ich reines Ich, d. h. unendliche, auf
sich selbst gerichtete Tätigkeit sein soll und es nicht ist. Aus
diesem Widerspruche geht in ewiger Erzeugung die wirkliche Welt
hervor. Nicht aus dem Bewußtsein der wirklichen Welt ist das
Bedürfnis des Handelns abzuleiten, denn sonst wäre es heteronom
und imsittlich: sondern umgekehrt der Trieb zur Tätiokeit schafft
die wirkliche Welt. Er schafft sie nur als ein Objekt der Tätig-
keit: die^Natur^hat Sinn nur als Material unserer Pflichterfüllung.
Deshalb gibt es für die Fichtesche Lehre keine Naturphilosophie
im sonstigen Sinne des Wortes. Er hätte sie nicht geben können,
weil ihm, wie es scheint, bei der Einseitigkeit seiner Jugend-
bildung genaue und spezielle naturwissenschaftliche Kenntnisse
mangelten. Aber die Prinzipien seiner Philo3ophie erlaubten sie
ihm gar nicht. Als einen in sich bestehenden ^ausalmechanismus
konnte die Wissenschaftslehre die Natur nicht betrachten. Von
einer '^immanenten Zweckmäßigkeit der Natur zu sprechen, war
Fichte ein Greuel. Seine teleologische Natuiauffassung besteht
nur darin, daß er deduzieren will, die Natur, wie sie da ist, habe
erzeugt werden müssen, um als ein Widerstand die Verwirk-
lichung der sittlichen Aufgabe möglich zu machen. So überträot
sich auch in Fichtes Naturauffassung der Widerspruch, bei dem
Kant stehen geblieben war. Beiden Denkern gilt das natürliche
Wesen und vor allem das dazu gehörige sinnliche Trieblebeu des
i
232 Fichte.
Menschen als etwas dem Sittengesetze Widerstrebendes und seine
Erfüllung Hemmendes. Aber beiden erscheint doch anderseits
dieses selbe natürliche Wesen notwendig, um das sittliche Handeln
überhaupt zur Entfaltung zu bringen, und beide betrachten des-
halb diesen Widerstand als einen für die sittliche Aufgabe zweck-
mäßig eingerichteten, der ihre Erfüllung nicht nur hemmt, sondern
vielmehr anderseits nur um ihretwillen da ist und durch sie in
seinem ganzen Wesen bestimmt wird. Eben deshalb ist dje_Welt
für Fichte der^gesetzte Widerspruch 'und die Dialektik die Methode
ihrer Erkenntnis.
In der besonderen Ausführung der praktischen Philosophie
(System der Sittenlehre 1798) geht somit auch Fichte von dem
Gegensatz des Sinnlichen und des Sittlichen oder des sinnHchen
imd des reinen Triebes aus, und dieser Gegensatz bestimmt für
ihn auch die Auffassung dessen, was Kant das "^Radikalböse in
der menschHchen Natur genannt hat. Wie der eigene rastlos
tätige Charakter imd das titanische Streben, welche das Wesen
von Fichtes Persönlichkeit ausmachen, sich positiv darin kund-
geben, daß für ihn das sittliche Handeln die Tätigkeit ist, die
nur um der Tätigkeit willen geschieht, so kommen sie negativ
darin zutage, daß für ihn das radikale Übel der menschlichen
Natur in der Trägheit besteht. Der sinnliche Trieb geht auf
die Behaglichkeit, auf die Euhe und den Genuß, er ist die Schlaff-
heit des Fleisches. Der sittliche Trieb geht auf die Arbeit, auf
das immer neue Ringen und Kämpfen. Wer da handelt, um sich
des Fertigen zu freuen, der handelt heteronomisch und imsittlich.
Nur der ist der sittliche Mensch, der eine Aufgabe erfüllt zu dem
Zweck, um in ihrer Lösung eine höhere Aufgabe zu finden. Wie
das ewige Soll den Urgrund aller Wirklichkeit bildet, so verlangt
auch das Sittengesetz, daß jede menschliche Handlung auf ein
Ideal gerichtet sei, das, niemals vollkommen erreichbar, doch jede
besondere Aufgabe des Lebens zu bestimmen hat.
In der Formulierung dieser Aufgabe überschreitet Fichte den
subjektiven Standpunkt der Kantischen Moral dadurch, daß er
noch energischer als dieser die Stellung des Menschen als eines
Gliedes der sittlichen Weltordnung ins Auge faßt. Er deduziert,
daß die Verwirklichung des sittlichen Endzwecks die VieDieit der
endlichen Ich, der empirischen Persönlichkeiten notwendig mache.
Kthik und llochtHlehre. 283
Aber auch diese Vielheit ist nicht als ein Aggregat oder als eine
Masse, sondern als ein System zu denken, und sie kann dies nur
dadurch sein, daß in dem großen Plane der Erfüllung des sitt-
lichen Zwecks jedem einzelnen Igli eine besondere Bestimmung
zugewiesen ist. Diese seine Bestimmung hat das Individuum aus
seiner empirischen Existenz und aus seinem sittlichen Bewußtsein
zu erkennen und sie als oberste Maxime allen seinen Lebenstätig-
keiten zugrunde zu legen. Seiner Stellung in dem Reiche ver-
nünftiger Wesen macht sich der Mensch nur dadurch würdig, daß
er mit dieser seiner Bestimmung all sein Denken, Wollen und
Handeln durchleuchtet, daß er sich ihrer in jedem Augenblicke
bewußt bleibt und aus ihr heraus sein ganzes Leben gestaltet.
Er weiß sich eben dadurch als ein Glied der gesamten sitthchen
Weltordnung und findet seinen Wert darin, sie an seinem Teile
zu verwirklichen. Er denkt nicht an sich, er lebt für das Ganze,
für die Gattung: er opfert sich und seine Glücksehgke^t dem
Ideal seiner Aufgabe, die in der sittlichen Gemeinschaft der Gat-
tung wurzelt. Für Fichte nimmt daher der kategorische Impe-
rativ die inhalthche Form an: Handle stets nach deiner Bestim-
mung. Deshalb war er imstande, in viel tieferer Weise als Kant
die sitthche Bedeutung der wirklichen Lebensverhältnisse, vor
allem z. B. der Ehe, aufzufassen und viel inniger die großen In-
stitutionen der menschlichen Gesellschaft in ihrem ethischen Werte
zu begreifen.
In hervorragender Weise hat sich diese hohe sittliche Lebens-
auffassung bei Fichte selbst in der Umwandlung seiner Auffassung
vom Wesen des Staates betätigt. Als er seine »Grundlage des
Naturrechts« (1796) herausgab, stand er noch völlig imter der
äußerlichen Auffassung des XVIII. Jahrhunderts. Er konstruierte
zwar hier aus dem Prinzip der Wissenschaftslehre die Vielheit
der leibhch organisierten PersönUchkeiten und fand, daß in deren
äußerem Zusammenleben die Freiheit jeder einzelnen durch die-
jenige aller anderen eingeschränkt werden müsse. Aber wenn er
den. Staat als das Mittel dazu betrachtete, so bezog er dessen
Funktionen eben nur auf den äußeren Zusammenhang und nicht
auf sittliche Zwecke. Im besonderen stellte er sich ganz auf den
Rousseauschen Standpunkt des Staatsvertrages und der Volks-
souveränität, fand jedoch, daß die letztere nicht in einer
234 Fichte.
demokratischen Verfassung zum Ausdruck komme, sondern ver-
langte, daß die monarchische Exekutive in ihrer Ausführung des allein
gesetzgebenden Volkswillens durch ein Ephorat kontrolliert werden
solle. Im wesentlichen faßte er damals den Staat von seiner
polizeilichen Seite und als eine Kegulierungsmaschine für die ge-
sellschaftlichen Assoziationen auf. Für sein nationales Wesen
zeigt Fichte um diese Zeit bei einer ausgesprochenen Hinneigung
zu kosmopolitischen Vorstellungen keinerlei Verständnis. Von
einer Andeutung ethischer Aufgaben des Staates finden sich nur
einzelne Spuren. Dazu gehört seine Theorie des Strafrechts,
welches er auf einen Abbüßungsvertrag gründet, vermöge dessen
der Schuldige, um der durch die Verletzung der Staatsgesetze
verwirkten Ausschheßung zu entgehen, eine Buße freiwillig über-
nähme, deren Charakter auf seine eigene Besserung und auf die
Abschreckung der übrigen berechnet sein müsse. Ähnlich ver-
hält es sich auch mit Fichtes Verlangen, daß der Staat die Pflicht
habe, jedem seiner Bürger das sittliche Grundrecht, von seiner
Arbeit leben zu können, vollauf zu gewährleisten. Diesem Grund-
gedanken des Sozialismus hat Fichte eine genaue und höchst inter-
essante Ausführung in dem »Geschlossenen Handelsstaat« (1800)
gegeben. Er entwickelt hier, jenes Verlangen sei nur dadurch zu
erfüllen, daß der Staat nicht den Naturmechanismus der Kon-
kurrenz walten lasse, sondern die gesamte Organisation der Arbeit
in seine Hand nehme, daß er deshalb jedem Bürger seine Arbeits-
tätigkeit anweise und ihm den Lohn dafür in dem entsprechenden
Mitgenuß an dem Gesamterwerbe des Staates zukommen lasse.
Diese Organisation aber setzt voraus, daß der Staat selbst alle
Einfuhr und Ausfuhr, d. h. allen Handel mit anderen Staaten
in die eigene Hand nimmt. So entwarf Fichte mit seiner rück-
sichtslosen Konsequenz von jenem Prinzip aus eines der frühesten
und interessantesten Bilder des sozialistischen Staatsideals. Aber
damit schon hörte der Staat für ihn auf, ein bloßes Polizeünstitut
zu sein und wurde ihm vielmehr ein gesellschaftlicher Organismus.
Noch weiter aber gestaltete sich seine Auffassimg um, als der
Umsturz der Polizeistaaten in den Napoleonischen Kriegen dem
Gedanken einer sittlichen Neubegründung des politischen Lebens
Raum und Veranlassung gab. Je mehr dieser letzte Versuch, ein
kosmopolitisches Reich zu gründen, den Charakter einer franzö-
Reden un die deutsche Nation. 2)^5
sischon Erobcnmjrspolitik an sich trug, um so energischer wurde
gerade dadurch das lange sclilummcrnde Nationalgefühl der
Deutschon geweckt. Jndoni Fichte von diesen Bestrebungen be-
rührt wurde, mußte er sie sogleifh auf seinen ethischen Grund-
gedanken beziehen und dem Probleme nachgehen, ob nicht ebenso
wie den einzelnen Persönlichkeiten, auch den einzelnen Nationali-
täten in dem großen Weltplan eine besondere Bcietimmung ' zu-
"Eomme, in der niil der Pflicht, sie zu erfüllen, auch das sitt-
liche Recht ihrer politischen Selbständigkeit beruhe. Diesen Ge-
danken verfolgte er dann mit lebhafter Energie, und in der
konstruktiven Weise, die ihm eigen war, deduzierte er in den
Reden an die deutsche Nation für diese eine so gewaltige und
hohe Kulturbestimmung, daß sie fast allein neben den Einseitig-
keiten der übrigen Nationen zur Erfüllung des Ideals der Humanität
berufen erschien. Was sich in dieser Überschwenglichkeit von
Fichtes Nationalenthusiasmus ausspricht, ist das Selbstgefühl der
Nation, die in ihren großen Dichtungen diesem Ideal so nahe
gekommen war. Es ist zugleich der radikale, immer gleich bis
an die äußersten Grenzen gehende Charakter seines Denkens,
welcher Fichte zu der Überzeugung führt, daß allein aus der
Regeneration des deutschen Volkes das Heil für die gesamten
verfahrenen Zustände des Zeitalters erhofft werden könne. So
betrachtet er die Selbstbefreiung des deutschen Geistes als eine
Pflicht, welche die Nation im Hinblick auf ihre Bestimmung zu
erfüllen hat. Aber die Deutschen besitzen keine politische Natio-
nalität, sie müssen sie erst erwerben. Nicht durch eine äußere
Macht, sondern nur durch eine sitthche Überzeugung kann der
deutsche Nationalstaat gegründet werden. Diese Überzeugung
muß also geweckt werden, imd die Aufgabe der bestehenden
Generation kann nur die sein, durch eine nationale Erziehung
den Boden für die Zukunft zu bereiten. Das einzige Mittel, die
Freiheit wieder zu gewinnen, liegt in der Befestigung der sitt-
lichen Überzeugung und in der Begründung einer gemeinsamen
Bildung. Diese allgemeine Tendenz der »Reden« ist wertvoller
als vielleicht die einzelnen Vorschläge, die zum Teil auf Lehren
Rousseaus, Pestalozzis und des Philanthropinismus zurückweisen.
Die Nation soll zum Pflichtbewußtsein erzogen werden: das ist
das Alpha und Omega der Ficht^schen Predigt. Es ist ein
236 Fichte.
unvergeßliches Verdienst, daß Fichte diese großen und bleibenden
Wahrheiten mit seinem feurigen Wort den Zeitgenossen ins Herz
geredet hat. Die »Reden« haben nicht zum wenigsten die Be-
geisterung jener Freiheitskämpfer entflammt, welche wenige Jahre
darauf auszogen, um für die Neugründung der deutschen Natio-
nalität freilich nur den ersten Kampf auszukämpfen. Auf ihren
Fahnen stand in der Tat der kategorische Imperativ. Der große
Korse mochte meinen, daß er den »Ideologen« ruhig in Berlin
seine Vorträge halten lassen könne. Aber in der geistigen Schlacht,
die entbrannte, war es in erster Linie der sittliche Mut der
Kantischen und Fichteschen Philosophie, welcher dem Genius
Bonapartes die Stirne bot.
So überzeugte sich denn Fichte, daß der Staat selbst eines
der höchsten sittlichen Güter sei, und daß er anderseits wertvolle
sittliche Aufgaben zu erfüllen habe. Denn von einer nationalen
Erziehung kann zuletzt nur in dem Falle die Rede sein, daß der
Staat selbst die Erziehung in die Hand nimmt, und daß er sich
zum alleinigen Herrn darüber macht. Deshalb stellte Fichte in
seiner späteren Zeit eine der Platonischen sehr nahe kommende
Forderung von dem absoluten Erziehungsrecht und der absoluten
Erziehungspflicht des Staates auf, und wie für Piaton, so wurde
konsequenterweise auch für ihn der Stand, welcher die Bildung
trägt imd die Erziehung leitet, nicht nur ein integrierender, son-
dern geradezu der wichtigste Bestandteil der Verfassung. Seine
»Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten« (zuerst Jena
1794) nahmen bei ihrer Wiederholung in Erlangen und Berlin
immer mehr die Tendenz an, daß die höchste Aufgabe des Ge-
lehrten die Leitung des Staates sei. Darin drückte sich die
Überzeugung aus, daß der Staat kein Mittel zu äußerlichem
Rechts- und Eigentumsschutz, sondern vielmehr eine Organisation
sein solle, in der ein ganzes Volk mit gemeinsamer Hingebung
an seiner geistigen imd sittlichen Bildung arbeite, um dadurch
seiner Bestimmung in der Gesamtaufgabe des menschlichen Ge-
schlechts gerecht zu werden. Fichte hat sich durch sein ethisches
Prinzip zu der höchsten und edelsten Auffassung vom Wesen des
Staates emporgearbeitet, wenn er sie auch nicht spezifisch wissen-
schaftlich formulierte, sondern ihr nur einen beredten Ausdruck
in seinen populären Vorträgen gab.
GeRchichiHphilonophio. 237
Dio Tjchro von der Bestimmung der einzelnen Nationen weißt
aber auf eine durch einen ^gemeinsamen Plan bestimmte GcBamt-
entwicklimi^' des menschlichen (Geschlechts hin und vollendet sich
deshalb nur in einer <T;eschichtÄj:>}iilosophischen Auffassunp^. Es
^(^hört zu den Eigcntiimlichki'iten der von Kant abhängigen
Philosophie, daß unter ihren notwendigen Bestandteilen eine Ge-
schichtsphilosophie auftritt, welche, statt wie die von Herder be-
gründete Richtung die natürliche Notwendigkeit, ihrerseits viel-
mehr das ethische Ziel des historischen Prozesses als den ent-
scheidenden Gesichtspunkt betrachtet. Fichte zuerst ist dem
Beispiel Kants gefolgt und hat in den »Grundzügen des gegen-
wärtigen Zeitalters« (1806) die im Titel ausgedrückte Aufgabe so
zu lösen gesucht, daß er die Stellung der Gegenwart innerhalb
der Reihe der notwendigen Entwicklungsperioden des Menschen-
geschlechts fixieren wollte. Er ist sich dabei sehr wohl bewußt,
daß eine solche Trennung der »Zeitalter« keine absolute ist, daß
diese vielmehr, namentlich sofern es sich rnn die besonderen
Persönlichkeiten handelt, sich vielfach ineinanderschieben. Eine
philosophische Geschichtskonstruktion hat selbstverständlich nur
den allgemeinen und durchschnittlichen Charakter der Zeiten zu
ihrem Gegenstande. Fichte entwirft sie im entschiedenen An-
schluß an Kant als einen Entwicklungsprozeß, der von dem Stande
der Unschuld durch die Sünde hindurch bis zur vollendeten Ver-
nunftherrschaft führt. Da für ihn das ganze natürliche Wesen
als ein Produkt des Ich gilt, so bezeichnet er den paradiesischen
Anfangszustand als denjenigen des »Vernunftinstinktes«, in welchem
das Vernünftige bewußtlos durch den natürlichen Trieb vollzogen
wird. Wenn darauf das Vernunftgesetz zum Bewußtsein kommen
soll, so tritt es dem Menschen zunächst als ein fremdes, als eine
äußerhch gebietende Macht entgegen. Das Gesetz des Ganzen er-
scheint als »Autorität« dem Individuum gegenüber, als Autorität,
der es sich zu fügen gewöhnt ist, und gegen die es doch schon
sich aufzulehnen vermag. Auf dieses »Zeitalter der beginnenden
Sündhaftigkeit« folgt durch die immer fortschreitende Abwerfung
der Autorität die vollkommene Entfaltung der individuellen Selb-
ständigkeit. Aber das Individuum, das sich gegen die Autorität
aufgelehnt hat, findet zunächst nur in sich selbst den Maßstab
seines Denkens und Tuns. Der Freiheit ungewohnt, verfällt das
238 Fichte.
Geschlecht der Willkür, der Anarchie und dem Egoismus, der
»vollendeten Sündhaftigkeit«. Erst aus dem Elend dieses Zu-
standes heraus beginnt das Individuum seine Freiheit auf das
rechte Ziel zu lenken und zunächst seine Erkenntnis der Gattungs-
vernunft zu unterwerfen. Dieses »Zeitalter der beginnenden Ver-
nünftigkeit« muß dann allmählich in das letzte überführen, in
die »vollendete Vernünftigkeit« oder die »Vernunftkunst«, in der
der Wille des Individuums seine volle und wahre Freiheit durch
bewußte und bedingungslose Unterwerfung unter das Sittengesetz
findet und in dem Rahmen des allgemeinen Vernunftlebens seine
darin enthaltene besondere Bestimmung erfüllt.
Diese Gedanken sind außerordentlich tief und zu gleicher Zeit
außerordentlich charakteristisch für ihren Urheber. Sie kenn-
zeichnen das historische Leben durch das Verhältnis des Indivi-
duums zur Gattung. Sie zeigen, wie die Geschichte damit be-
ginnt, daß das Individuum sich gegen die Gattung auflehnt, und
darauf hinleitet, daß es aus eigener Einsicht und eigenem Willen
sich der Gattungsvernunft unterordnet, ohne darum seinen per-
sönlichen Eigenwert preiszugeben. Sie berühren jene wunder-
barste Tatsache, daß von allen Wesen, die wir kennen, der
Mensch auf der einen Seite das zur selbständigsten Ausbildung
der Individualität befähigte und zugleich auf der andern Seite
das am meisten durch den sozialen Zusammenhang der Gattung
bedingte ist. Sie sind um so interessanter, als Fichte selbst
eine überaus scharf ausgeprägte, ihre Selbständigkeit bis auf
die äußerste Grenze festhaltende Individuaütät war, und als es
anderseits gerade in ihm die bedingungslose Unterwerfung unter
das Sittengesetz war, welche er zum innersten Halt seiner Per-
sönlichkeit machte. Aber diese Gedanken werfen noch weiter
ein überraschendes Licht um sich. Sie zeigen in noch schärferer
Formulierung die überlegene und zugleich vollendende Stellung,
welche die neue Philosophie zur Aufklärung einnimmt. Denn
jenes dritte Zeitalter, dasjenige der autoritätslosen Anarchie und
des egoistischen Glückseligkeitsbestrebens, dies »Zeitalter der
vollendeten Sündhaftigkeit« trägt an sich alle Züge der — Auf-
Gärung. Ihr dogmatisches Freigeistertum, ihr flacher Eudä-
monismus mit seiner Nützlichkeitstheorie, ihre ideallose Selbst-
gefälligkeit werden von Fichte mit schonungslos einschneidender
RcligionaphiloHOphio. 23!)
Kritik gebraiulniavkt, luul der einzige Woi-t, den er diesem f^e-
fährlichen Abschütteln der Autorität zuerkennt, ist der, daß es
scliließlich doch die Vorbedinj^un<^ für jenes selbständige Denken
bildet, wodurch die individuelle V'ernunft in sich die höhere Ge-
setzgebung aufzufinden vermag. Von der Aufklärung, wie Kant
und Fichte auf sie herabsehen, gilt das Wort: >>Es sind nicht
alle frei, die ihrer Ketten spotten <<, und wenn Fichte in seiner
Zeit die ersten Anfänge für das Zeitalter der beginnenden Ver-
nünftigkeit sah, so fand er sie nur in dem Sinne, daß die neue
Philosophie mit dem ganzen sittlichen Ernst ihrer Denkarbeit
und ihrer Weltansicht berufen und befähigt sei, das Bewußtsein^
der Gattungsvernunft in den Individuen zu begründen und zu ^
bekräftigen. In diesen geschichtsphilosophischen Fundamental-
begriffen von Kant und Fichte liegt die tiefste Selbsterkenntnis
der modernen Denkbewegung. Mit der Entfesselung des Indivi-
duums, mit der Abwerfung der Autorität beginnt sie, und mit
der kritischen Versenkung in die menschliche Gattungsvernunft
und deren sittlichen Grundcharakter vollendet sie sich.
Alle moral- und geschichtsphilosophischen Untersuchungen
Fichtes weisen durch den teleologischen Grundbegriff der »Be-
stimmung« auf eine sittliche Weltordnung hin, und deren
Begriff kann bei Fichte nur mit dem höchsten philosophischen
Prinzip, mit dem'"absoluten Ichidentisch sein. Der letzte Grund
aller Wirklichkeit, das letzte Ziel alles Geschehens liegt in der
*^ sittlichen Weltordnung. Sie ist das" Absolute in Fichtes Lehre.
Wie bei Spinoza, den Fichte immer als seinen äußersten Gegen-
satz betrachtet, und von dem er gerade deshalb schon in seiner
ersten Periode der Wissenschaftslehre mehr abhängig war als er
glaubte, wie bei Spinoza die absolute Substanz, die causa sui,
als natura naturans bezeichnet wurde, so wird von Fichte das
absolute Ich, der Selbstzweck, der ordo ordinans genannt: und
wie für Spinoza die Naturnotwendigkeit, so ist für Fichte die
sittliche Weltordnung — Gott. Die Keligionsphilosophie ist
auf diesem ersten Standpunkte der Wissenschaftslehre derjenigen
Kants in der Begründung durchaus verwandt, in ihrem Inhalte
dagegen doch wesentlich davon verschieden. Auch Fichte lehrt
lediglich eine Moraltheologie. Auch bei ihm stützt sich der
Glaube an die Gottheit durchaus auf das sittliche Bewußtsein,
240 Fichte.
wenn auch Fichte vermöge des innigen Ineinandergreifens, das
die Wissenschaftslehre zwischen der theoretischen und der prak-
tischen Vernunft ansetzte, den Gegensatz des Erkennens und des
Glaubens nicht mehr so scharf wie Kant betonte. Für ihn
stützt sich jedoch der Glaube an die sittliche Weltordnung, der
ihm mit demjenigen an die Gottheit identisch ist, auch nur auf
die ethische Überzeugung, daß nicht nur der Wert, sondern auch
die Wirklichkeit aller Dinge in dem sittlichen Streben und in
ihrer ethischen Bestimmung begründet ist. Für den populären
und konfessionellen Standpunkt war diese Lehre freilich in der
Tat Atheismus. Auf dem Standpunkte der Wissenschaftslehre
kann die Gottheit gar nicht als Sein, als ein existierendes Wesen
gedacht werden. Denn sie wäre in diesem Falle nicht ursprüng-
lich, sondern abgeleitet, da alle Kealität für Fichte erst ein Pro-
dukt des Tuns ist. Fichte macht vielmehr von der allgemeinen
Gewöhnung der Philosophen Gebrauch, den Namen der"tjrottheit
für den höchsten metaphysischen Begriff in Anspruch zu nehmen,
und dieser ist eben bei ihm das Tun des reinen Ich oder die
absolute Funktion der sittlichen Weltordnung. Auch für Fichte
hat deshalb Gott die Merkmale der Weltschöpfung und Welt-
regierung. Aber man muß seine Philosophie ganz verstanden
haben, um einzusehen, weshalb sein Gottesbegriff nicht die Merk-
male der ^Realität, der Substantialität, der Persönlichkeit tragen
konnte, die für den populären Gebrauch des Wortes unerläßlich
erscheinen. Für Fichte ist die Gottheit das absolute sittliche
Ideal, welches, obwohl selbst niemals real, doch den Grund aller
Realität in sich trägt. Unser Glaube an sie beruht deshalb
lediglich auf dem Bewußtsein dieses Ideals, auf jenem wahren
und höchsten Selbstbewußtsein, welches uns sagt, daß wir das
rejn^ Ich sein sollen, und daß wir nur das empirische sind, auf
dem Gewissen, welches die Triebkraft unserer ganzen Existenz
bildet. Man darf diese Lehre als ethischen Pantheismus
bezeichnen: das Sv xat ttocv ist für sie das Sittengesetz. Fichtes
viel verschlungene Lehre vom Selbstbewußtsein enthält das pan-
theistische Problem in seiner rein ethischen Gestalt. Den innersten
Widerspruch im individuellen Selbst bildet das sittliche Bewußt-
sein davon, daß dieses Selbst bestimmt ist, in das absolute Ich
aufzugehen, und daß es dieser Aufgabe niemals genügen kann.
Sohollingr. 241
So zeigt sich auch hier Ficlitcs Lohro in ihron (Jnnulziigen durch
das Problem bedingt, welche Stelhmg das Individuum dem Uni-
versum gegenüber hat. Der für die gesamte moderne Phih)sophio
so überaus wichtige Gegensatz des Individuahsmus und des Uni-
vcrsalismus tritt bei ihm in seiner rein ethischen IMeutung her-
vor und ist deshalb geradezu in das Gewissen hineinverlegt.
Die Lehre von der Gottheit als dem »ordo ordinans« mit
ihrer Leugnmig des^Scins' der Gottheit ist die strikte Konsecjuenz s^
der »Philosophie des Tuns«, welche den ersten Standpunkt der / j
Wissenschaftslehre charakterisiert. Von ihr aus muß die von '
den Historikern der Philosophie vielfach erörterte Frage ent-
schieden werden, ob die Darstellungen der Wissenschaftslehre
nach 1800 ein zweites, ein verändertes System zu ihrem Inhalte
haben. Und von diesem Gesichtspunkt aus muß die Frage ent-
schieden bejaht werden. Denn in der zweiten Lehre erscheint ^y
bei Fichte die Gottheit als das absolute Sein, was sie auf dem
ersten Standpunkte gar nicht sein konnte. Diese Veränderung
war nur dadurch möglich, daß jener »Philosophie des Tuns«,
die Fichte zuerst vertrat, inzwischen die Spitze abgebrochen
worden war. Welche Veranlassungen jedoch dazu vorlagen, kann
erst an späterer Stelle besprochen werden; denn sie bestehen in
Rückwirkungen, welche Fichte selbst von den Konsequenzen er-
fuhr, die andere aus seiner ersten Lehre gezogen hatten.
§ 64. Der physische Idealismus.
Schelling und die Waturphilosopbie.
Die große historische Wirkung Fichtes beruht nicht auf der
Büdung einer Schule im engeren und eigentlichen Sinne des
Wortes. Die Wissenschaftslehre war ein viel zu sehr von der
Individualität ihres Urhebers bestimmtes und getragenes System,
als daß sie eine strenge Heeresfolge in weiterer Ausdehnung
hätte hervorrufen können, und sie stand mit ihrer abstrakten
Tendenz auch den übrigen Wissenschaften zu ferne, um un-
mittelbar darauf zu wirken. Dies war mittelbar nur dadurch
möglich, daß Männer von ausgebreiteterer Kenntnis und von
persönlich lebhafterer Berührung mit den übrigen Wissenschaften
das Prinzip der Fichteschen Lehre für deren Behandlung flüssig
Windelband, Gesch. d. n. Philos. U. 16
242 Schelling.
ZU machen suchten. Dabei erfuhr es jedoch notwendig mancherlei
mehr oder minder tief greifende Umgestaltungen. In diesem
weiteren Sinne darf der ganze Kreis der folgenden Träger der
deutschen Philosophie als die Schule Fichtes ebenso sehr wie
als diejenige Kants bezeichnet werden. Von Fichte sind per-
sönlich und sachlich alle die großen systematischen Formen der
Philosophie angeregt, welche in diesem Kapitel noch darzustellen
sind, und dadurch ist er der entscheidende Durchgangspunkt für
das Hervorgehen aller folgenden Systeme aus Kant geworden.
Seine nächsten Anhänger, die an der Wissenschaftslehre fest-
zuhalten suchten, Männer wie Niethammer, Forberg, Schad,
Memel, Schaumann u. a. haben es zu keiner Bedeutung ge-
bracht: um so wichtiger ist diejenige positive Weiterentwicklung
der Wissenschaftslehre geworden, deren hervorragendster Träger
in mehreren Phasen Schelling ist.
JiLt/yi^f Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, 1775 zu Leonberg
77
_ in Württemberg geboren, erhielt seine Ausbildung hauptsächlich
auf der lateinischen Schule zu Nürtingen und auf dem Seminar
zu Bebenhausen und bezog im Jahre 1790 die Tübinger Uni-
versität, wo er als Schüler des Stifts eine vertraute Freundschaft
mit Hölderlin und Hegel schloß. Die Ideale des klassischen
Altertums, dessen Studien mit demjenigen der Philosophie an
dieser Anstalt als Basis für das theologische Fachstudium gelten,
wurden für die Bildung der drei Freunde in gleicher Weise be-
deutsam und entscheidend. Für Hölderhn haben sie das tragische
Geschick seines Geistes bedingt: für die beiden Philosophen da-
gegen ist die griechische Gedankenwelt der fruchtbare Boden ge-
worden, in welchen sie das junge Keis der neuen Philosophie ein-
pflanzten, um es zur Blüte und zur Frucht zu bringen. Das
inm'ge Verständnis, das beide der klassischen Bildung entgegen-
brachten, hat sie — und Hegel freilich noch mehr als Schelling —
dazu befähigt, auf dem Gebiete des philosophischen Denkens die-
selbe Versöhnung des deutschen und des griechischen Genius her-
beizuführen, welche Goethe und Schiller in ihren Dichtungen
darstellen. / Schellings allseitige Natur verlangte jedoch bald nach
einer Ergänzung dieser humanistischen Bildung durch die moderne
Naturwissenschaft, und nachdem er die theologische Laufbahn
aufgegeben hatte, benutzte er eine Hofmeisterstellung in Leipzig,
\
Leben und Entwicklung. 243
um sich eingehend solchen Studien zu widmen. Inzwischen hatte
er sich vollkommen in die Spinozistische, zugleich aber auch in
die Kantische und Fichtesche Leh^c hineingearbeitet und schon
während der Jahre 1794 — 1790 eine Reihe von Schriften veröffent-
licht, in denen er die Prinzipien des transzendentalen Idealismus
nach der Fichteschen Auffassung teilweise glücklicher und faßlicher
entwickelte als Fichte selbst, indem er ihre metaphysische Tendenz
durch einen Einschlag spinozistischer Gedanken illustrierte, und
er beherrschte in dieser frühen Jugend die Gedanken dieser Lehre
derartig, daß er bereits 1797 daran gehen konnte, seine An-
wendung der Wissenschaftslehre auf die philosophische Natur-
erkenntnis zu veröffentlichen. Infolgedessen wurde er 1798 als
außerordentlicher Professor nach Jena berufen und begann zuerst
neben Fichte eine nicht minder erfolgreiche akademische Wirk-
samkeit. Allein bald brachte seine Fortbildung der Wissenschafts-
lehre eine Umgestaltung dieser Philosophie hervor, die Fichte
ebensowenig anerkannte wie Kant Fichtes Auffassung seiner Lehre.
Dazu kam, daß der Umgang mit den Vertretern der romantischen
Schule, vor allem den beiden Schlegels, der zuerst in Dresden
angesponnen ward und sich dann in Jena fortsetzte, Schellings
Auffassungen denjenigen Fichtes immer mehr entfremdete, und
, so vollzog sich allmählich zwischen beiden Männern ein Bruch,
j der auch äußerlich und öffentlich die bedauerliche Form gegen-
\ seitiger Beschuldigungen und Verdächtigungen angenommen hat.
(Ähnlich ist es später zwischen Schelling und Hegel gegangen, noch
akuter und gereizter ist das Verhältnis, in dem sich Jacobi und
Herbart, sowie später Schopenhauer gegenüber der Identitäts-
philosophie befanden, und so muß leider gesagt werden, daß das
Bild jener großen Zeit vielfach durch persönliche Zwistigkeiten
getrübt ist. So zweischneidig war Fichtes Gedanke, daß, was für
eine Philosophie man wähle, davon abhänge, was für ein Mensch
man sei: die Wärme der Überzeugung, mit der diese Männer
ausnahmslos von der Wahrheit ihrer Lehren durchdrungen waren,
machte sie in der Behandlung der Andersdenkenden rücksichtslos
und der bedeutsame Kampf ums Dasein, den hier die Weltan-
schauungen führten, brachte teilweise eine grobe und leidenschaft-
liche Form der Polemik hervor.^
Als Fichte Jena verlassen hatte, beherrschte einige Jahre lang
16*
mmti
244 Schelling.
Schelling dies Zentrum der philosoplii sehen Bewegung. Dann trat
Hegel hinzu, mit dem jener in den ersten Jahren des neuen Jahr-
hunderts das »Kritische Journal der Philosophie« herausgab. In-
zwischen gestalteten sich Schellings persönliche Verhältnisse in
Jena mit und ohne seine Schuld immer unerfreulicher, und er
folgte daher gern dem Rufe nach Würzburg, wo die neue bayrische
Regierung eine bedeutende Universität zu schaffen versprach.
1806 siedelte er dann an die Münchener Akademie der Wissen-
schaften über, und als wenige Jahre darauf ihm seine Frau, die
ehemalige Gattin Wilhelm Schlegels, Karoline, entrissen worden
war, verfiel er für lange Zeit in literarische Untätigkeit. Er hielt
gelegentlich in Stuttgart Privatvorlesungen; er trat auch einmal
in ein freies Verhältnis zur Universität Erlangen, vermöge dessen
er an ihr Vorlesungen hielt. Erst als König Ludwig die Uni-
versität München gründete, übernahm Schelling 1727 dort die
Vertretung der Philosophie. Inzwischen hatte sich nach auswärts
die Meinung verbreitet, daß er in der Stille ein neues philo-
sophisches System entwickelt habe, welches nicht nur den Hegel-
schen Rationalismus von Grund aus widerlege, sondern auch dem
religiösen Bedürfnis vollkommen Rechnung trage. In dieser
Meinung wurde er von Friedrich Wilhelm IV. bei dessen Regierungs-
antritt an die BerHner Akademie berufen und ging 1841 darauf
ein. Aber die hochgespannten Erwartungen, welche man auf
seinen Erfolg gesetzt, wurden getäuscht. Der Eindruck, den er
anfangs machte, verblaßte sehr schnell, und so zog er sich nach
wenigen Jahren gänzlich aus der Öffentlichkeit zurück. Er ist
. 1854 im Bade Ragaz gestorben.
Schelling ist der Hauptträger für die Entwicklung der Iden-
j.V^ titätsphilosophie. Er hat die meisten ihrer Phasen nicht nur
mitgemacht, sondern mit schöpferischer Initiative hervorge-
rufen. Er ist durch sein ganzes Leben hindurch, dem eigenen
Triebe und den mannigfachsten Einflüssen folgend, in einer
stetigen Umbildung seiner Lehre begriffen gewesen. Nur die Kon-
tinuierlichkeit dieser Umbildung läßt es erklären, daß er selbst
fortwährend behauptete, nur immer in neuer Form denselben
Gedanken auszuprägen, und daß er sich über die großen Gegen-
sätze täuschte, die zwischen den Lehren seiner verschiedenen
Perioden obwalten. In der Tat könnte man ihm kein größeres Un-
Natuqihiloflophie. 245
recht tun, als wenn man ihn beim Worte nehmen und die ge-
samten 14 Bände seiner gesammelten Werke (1856 — 61) als ein
einheitliches System interpretieren wollte. Sie zeigen vielrnelir
den Gang, den ein bedeutender jGeist vom Jüngling bis zum
Greise gegangen ist, und den die deutsche Philosophie mit ihm
mitgemacht hat. Eine gewaltige und geniale Kraft ist es, welche
diese Metamorphosen erlebt hat, und welche nur vermöge der
ungewöhnlichen Reichhaltigkeit ihrer geistigen Interessen hinter-
einander so verschiedene Woge einzuschlagen vermocht hat. Sieht
man von jenen Jugendjahren ab, in denen Schelling als ein zwar
völlig reifer Schüler, aber doch eben nur als ein Schüler von
Spinoza und Fichte erscheint, so sind es fünf verschiedene Perioden,
die mit teilweise sehr leisen und kaum merklichen Übergängen
sich in seiner Entwicklung unterscheiden lassen und ihn mit allen
Gedankenströmungen der nachkantischen Bewegung in wechseln-
dem Kontakt zeigen. Ungefähr mit Jahreszahlen begrenzt, können
sie folgendermaßen bezeichnet werden: die Naturphilosophie 1797
bis 1799, der ästhetische Idealismus 1800 und 1801, der absolute
Idealismus 1801 — 1804, die Freiheitslehre 1804 — 1813 und die
positive Philosophie, der Standpunkt seines Alters.
Der Pimkt, an welchem Schelling die Fichtesche Lehre zu-
nächst fortzubilden beabsichtigte und dann unwillkürlich umzu-
bilden sich genötigt sah, betraf die darin entschieden verkümmerte
Naturerkenntnis. In der Wissenschaftslehre galt die Natur nur
als Mittel zur Eealisation des sittlichen Zweckes. Aber sie sollte
doch auch hier so betrachtet werden, als ob sie eben um dieses
Zweckes willen von der Vernunft gesetzt wäre, d. h. als ein Produkt
der Vernunft, welches deshalb die Züge seines Ursprunges an der
Stirn tragen müsse. Nun hatte zwar auch Kant eine Abhängigkeit
der Natur von der Intelligenz gelehrt. In der transzendentalen
Analytik schrieb der Verstand der Natur ihre Gesetze vor. Aber
diese Gesetzmäßigkeit war bei Kant nur die mechanische, und
die transzendentalphilosophische Erkenntnis beschränkte sich für
ihn auf die allgemeinen, durch Kategorien und reine Anschauungen
begründeten Formen der Gesetzmäßigkeit für die Erscheinungs-
welt. Die teleologische Betrachtung galt ihm daneben nur als
,, Betrachtung und nicht als eine theoretische Erklärungsweise des
Naturzusammenhanges. Und gerade indem er die teleologische
246 Schelling.
Betrachtung für die erklärende Theorie abwies, hatte Kant auf
die wissenschaftliche Erkenntnis vom Ganzen der Natur und von
der Rolle, welche darin die besondere Eigentümlichkeit der ein-
zelnen Erscheinung spiele, Verzicht getan. Fichte umgekehrt, der
Kenntnis der kausalen Gesetzmäßigkeit fern stehend, hatte die
Natur lediglich in allgemeinster Weise teleologisch deduziert oder
höchstens gelegentlich einzelne ihrer Formen, z. B. den menschlichen
Organismus, aus besonderen Zwecken erklärt. Er war aber nicht
darauf ausgegangen, diesen Gesichtspunkt bis in die Gliederung
der besonderen Naturerscheinungen zu verfolgen. Er hatte nur
im allgemeinen behaupten, aber nicht beweisen können, daß die
ganze Natur ein zweckmäßiger Zusammenhang sei, der zur Lösung
der sittlichen Aufgabe diene.
Hierauf richtet sich das jugendliche Denken von Schelling.
Diese Idee soll ausgeführt, die NaJLur soll als ein großes System
erkannt werden, das aus der Vernunft hervorgegangen ist, um
ihren, Zweck zu erfüllen. In der Wissenschaftslehre erschien der
einzelne Inhalt der Empfindung, aus der wir unsere Erfahrung
von der Natur schöpfen, als eine freie Handlung der produktiven
Einbildungskraft, also der unbewußten Intelhgenz, und war des-
halb nicht deduzierbar, d. h. aus der allgemeinen Gesetzmäßigkeit
nicht ableitbar. Aus dem unbewußten Wesen jener Schöpfer-
tätigkeit des Ich erklärte sich der mechanische Charakter, welchen
der Naturprozeß an sich trägt, und welchen Kant hinsichtlich
der wissenschaftlichen Behandlung hervorgehoben hatte. Aber es
sollte doch Vernimft sein, was dabei in der unbewußten Form
wirkte, und daraus erklärte sich das zweckvolle Ineinandergreifen
dieses Kausalmechanismus, welches für Kant nur ein Gegenstand
der Betrachtung gewesen war. Soll aber die Natur als ein teleo-
logisches System erscheinen, so kann der Zweck, urn deswillen
das Ganze da ist, immer nur wieder in der Vernunft gesucht
werden. Es kann jedoch nicht die sittliche Handlung selbst sein,
da diese Jiiemals durch den natürlichen Mechanismus, sondern
immer nur durch Freiheit möglich ist. Der^weck der Natur kann
also nur darin bestehen, eine Bedingung zu realisieren, unter der
die sittliche Handlung allein möglich ist. Diese Bedingung ist
die bewußte Intelhgenz, das theoretische Ich, und wenn deshalb
auf dem Standpunkte der Wissenschaftslehre mit dem Versuch
Natur als ZweckoiDheit. 247
einer tele{)Io«j;ischon Deduktion der Natur Ernat gemaclit werden
soll, so muß diese als ein System von Prozessen aufgefaßt werden,
dessen höchsten Zweck die Produktion der' bewußten Intelligenz'
bildet. Die Jbfatur muß als die unbewußte Form des Vemunft-
iebens aufgefaßt werden, die keinc^ andere Tendenz hat, als die
bewußte zu erzeugen. Die Natur ist die Odyssee, in welclier
nach mancherlei Irrwegen der Geist zuletzt schlafend seine Heimat,
d. h. sich selbst findet. Auch im System der Wissenschaftslehre
wird die Empfindung nur produziert, damit die Intelligenz in der
bewußten Anschauung darüber hinausgehe. Die Basis aber, auf
der dieser Zweck allein erfüllt wird, ist das organische Leben
mid im besonderen das menschhche. Das animalische Leben
also ist jenes höchste Produkt der unbewußten Intelligenz, worin
ihr Zw^eck, das Bewußtsein, zur Verwirklichung kommt. Soll es
eine philosophische Naturerkenntnis geben, so besteht sie darin,
den gesamten Naturprozeß als ein zweckmäßiges Zusammenwirken
von Kräften zu betrachten, die von den niedersten Stufen aus
in immer höherer und feinerer Potenzierung zur Genesis des anima-
lischen Lebens und des Bewußtseins führen. Die Natur darf nicht
als ein zufälliges Nebeneinander von Erscheinungen und Gesetzen,
sondern sie muß selbst als ein großer Organismus gedacht werden,
dessen gesamte Teile nur dazu da sind, das Leben und das Be-
wußtsein zustande zu bringen. Die Philosophie der Natur ist
die Geschichte des werdenden Geistes. Sollte bei Fichte die ge-
samte Wissenscliaftslehre eine »Geschichte des Bewußtseins« sein,
so wendet Schelling diesen Begriff auf die Natur als auf das
Produkt der Vernunft an und verlangt, daß die verschiedenen
Stufen ihres Lebens als die »Kategorien der Natur«, d. h. als die
notw^endigen Formen begriffen werden, in denen die Vernunft aus
der unbewußten in die bewußte Gestalt emporstrebt. Damit
aber war dem transzendentalen Idealismus — weit iiber Kants
und Fichtes Meinung hinaus — , die Aufgabe gestellt, auch die
einzelnen empirischen Bestimmimgen der natürlichen Wirklichkeit
aus der allgemeinen Formgesetzgebung des Ich zu deduzieren
oder zu »konstruieren«.
Jener Grundgedanke von Schellings Naturphilosophie aber kam
in sehr glücklicher Weise den Strömungen entgegen, die zu seiner
Zeit in der Naturwissenschaft sich geltend machten. Diese zeigt
248 Schelling.
seit der Kenaissance eine Art von oszillatorischer Bewegung
zwischen der Vertiefung in die Aufgaben der besonderen Forschung
und dem zusammenfassenden Überblick über die Einheit der von
ihr gewonnenen Naturerkenntnis. Ist sie in dem einen Falle in
Gefahr, sich in die Kuriositäten der Detailforschung zu verlieren,
so hat sie in dem andern Falle darüber zu wachen, daß sie den
Boden der tatsächlichen Begründung nicht unter den Füßen ver-
liert. Jedesmal, wenn eine Zeitlang eine dieser Richtungen vor-
wiegend befolgt worden ist, macht sich die entgegengesetzte
Strömung wieder geltend, und nur ein anderer Ausdruck für
diese Tatsache ist es, daß die moderne Naturforschung ab-
wechselnd bald die Philosophie flieht, bald zu ihr sich hinwendet.
Schellings Bestrebungen fielen in eine Zeit, in der wieder einmal
das letztere der Fall war, und in welcher sich der Naturforschung
selbst überall die Tendenz bemächtigt hatte, den Zusammenhang
der Naturkräfte ins Auge zu fassen und die Verwandlungen der
identischen Grundkräfte in die scheinbar spezifisch verschiedenen
Erscheinungsformen zu beobachten. Auf diesem Bestreben be-
ruhte die große Bewegung, die um jene Zeit sich der gesamten
Naturforschung bemächtigte und durch eine Reihe neuer Ent-
deckungen begünstigt wurde. Von besonderer Wichtigkeit war
dabei die Elektrizitätslehre, welche seit der Mitte des XVIII. Jahr-
hunderts in rapider Weise gefördert worden war und bereits zu
der für die Naturphilosophie namentlich wichtigen Coulombschen
Theorie des Gegensatzes von einem positiven und einem negativen
elektrischen Fluidum geführt hatte. Schon ahnte man, daß
zwischen dieser und der magnetischen Polarität ein geheimnis-
voller Zusammenhang obwalte. Schon begann man auch die Be-
ziehungen zu studieren, in denen die Elektrizität zum chemischen
Prozesse steht, und schon hörte infolge der Entdeckung der
Oxydation durch Priestley und Lavoisier die alte phlogistische
Theorie auf, die Anschauungen der Chemiker zu beherrschen.
Von besonderer Wichtigkeit aber war in dieser Bewegung Galvanis
Entdeckung der sogenannten tierischen Elektrizität. Der elek-
trische Prozeß, der sich für die Übergänge in den anorganischen
Erscheinungen, für den Zusammenhang physikalischer und che-
mischer Vorgänge so wichtig erwies, sollte auch für die organische
Natur eine entscheidende Bedeutung gewinnen; er schien so
NaturwiflsenHchaften. 249
gewisscrniaßoii den Übcrf^aiij^ auH dem iinorgaii Ischen in das
organisfho Dasein zu vermitteln mid eine Lösung der alten
Rätselfrage zu versprechen, wie man sich den einhcitliclien
Charakter der Natur in dem Ge«iXMisatzc dieser beiden Reiche
gewahrt denken sollte. Die Frage nach dem Verhältnis der
Organismen zu dem Mechanismus der imorganisclien Welt hatte
das XVIII. Jalirhundert auf das lebhafteste bewegt, und auch
in Deutscldand waren die Bestrebungen im Fluß, welche keine
Kluft zwisclien beiden annehmen wollten, welche aber gerade
deshalb auch zu einer neuen Auffassung von dem Zusammen-
hange der Organismen untereinander gedrängt wurden. Es galt
den Proteus des Lebens in der Identität zu erfassen, die allen
seinen wechselnden Gestaltungen zugrunde liegt. Schon 1759
hatte Kaspar Friedrich Wolff seine »Theoria generationis «
herausgegeben, welche die Identität der physiologischen Grund-
form im Tier- und Pflanzenreiche behauptete und zum Staunen
des Zeitalters den Parallelismus in dem morphologischen Bau
der Fledermaus und des Pflanzenblattes nachwies. In dieselbe
Richtung gehören die bahnbrechenden Untersuchungen Goethes.
Seine Entdeckung des Zwischen knochens fügt den menschlichen
Organismus morphologisch dem gemeinsamen Schema der höheren
Wirbeltiere ein. Seine »Metamorphose der Pflanze« darf als der
erste Versuch zur Ausführung der biologischen Theorie angesehen
werden, die von dem Grundsatz aus, daß jeder Organismus
immer nur wieder aus organischen Teilen besteht, die Diffe-
renzierung der einheitlichen Grundform durch alle Gebilde des
Lebens hindurch verfolgt. So begann die junge Wissenschaft der
vergleichenden Morphologie,^ die später durch Goethes und Okens
Theorie von der Bedeutung des Schädels als eines entwickelten
Wirbels lebhaft gefördert wurde,"! die Täuschung zu durchschauen,
welche in dem gewöhnlichen Bewußtsein durch die Verschieden-
heit der äußeren Konfiguration der Organismen entsteht, als ob
jede Art völlig unabhängig von den übrigen auf einen besonderen
Ursprung zurückgeführt werden müsse, und es dämmerten die
ersten Ahnungen davon herauf, daß das ganze organische Reich
in der Reihenfolge seiner Formen eine einzige große Entwicklung
darstelle, einen Lebensprozeß, welchem nicht nur die Individuen,
sondern auch die Arten unterworfen seien, daß es vor allem ein
250 Schelling.
und dasselbe allgemeine Gesetz sei, das allen Entwicklungsstufen
des Individuums und der gesamten organischen Natur gleich-
mäßig zugrunde liege. Und schon fing man an, daran zu denken,
daß auch die abnormen und pathologischen Erscheinungen auf
dieselben Gesetze, wie die normalen, in letzter Instanz zurück-
geführt werden müßten. Jene entwicklungsgeschichtliche Auf-
fassung des organischen Lebens war schon von den französischen
Philosophen und Naturforschern mehrfach geäußert worden;
namentlich Männer wie Robinet und Bonnet, welche mit dem
Leibnizschen Systeme vertraut waren, hatten darauf hingewiesen.
Auch Kant gab in der Kritik der Urteilskraft wenigstens die
Möglichkeit eines solchen »kühnen Abenteuers der Vernunft« zu,
und nach seiner Anregung veröffentlichte 1793 Kielmeyer seine
bedeutende Schrift »über das Verhältnis der organischen Kräfte
in der Reihe der verschiedenen Organisationen«. Es kam dabei
der Grundgedanke zutage, daß die Verschiedenheit der Organismen
zuletzt auf das verschiedene Maßverhältnis der organischen Grund-
kräfte zurückgeführt werden könne, die, überall dieselben, durch
ihre verschiedene Verteilung die Besonderheiten der einzelnen
Arten und Individuen bedingen. Von solchen Vorstellungen ließ
sich leicht die pathologische Hypothese ableiten, welche die
Genesis der anomalen Zustände in eine Verschiebung des normalen
Gleichgewichts der Grundkräfte versetzte. In dieser Beziehung
gelangte namentlich Hallers Lehre von der Irritabilität des
Nervensystems und die sogenannte Erregungslehre von John
Brown zu großer Wichtigkeit.
Alle diese Bewegungen in einem Kopfe vereinigt und unter
den gemeinsamen Gesichtspunkt der Wissenschaftslehre gebracht,
geben Schellings Naturphilosophie. Diese ist zuerst in seinen
»Ideen zur Philosophie der Natur« (1797), dann in der Abhand-
lung »Von der Weltseele, eine Hypothese der höheren Physik«
(1798), weiterhin in dem »Entwurf eines Systems der Natur-
philosophie« (1799) dargestellt. Außerdem kommen die später
geschriebenen Einleitungen und Vorreden zu diesen Schriften,
besonders aber eine Reihe von Abhandlungen in den Zeitschriften
in Betracht, welche Schelling im Interesse der Naturphilosophie
herausgab, auch als er diese bereits einem höheren Gesichtspunkt
unterordnete, der »Zeitschrift für spekulative Physik«, die er
NaiurphiloHophio. 251
1800 «^liiudcic, der »Neuen Zeitschrift für spekulative Physik«,
die 1804 erschien, und der »Jahrbüclier der Medizin als Wissen-
schaft« (180G — 1808). Es kann kein Zweifel darüber sein, daü
die Angriffe, welche diese Lehren später von Seiten der Natur-
forscher erfahren haben, zum «großen Teile berechtigt waren.
Aber die Unrichtigkeiten, denen Öchelling verfiel, wurzelten zum
größeren Teile in dem unvollkommenen Zustande der damaligen
Naturwissenschaft selbst. Für die Ausführung des Gedankens,
eiii »Systeni der Natur << zu konstruieren, war die exakte For-
schung damals noch weniger reif, als sie es heute ist, und wo
in der empirischen Kenntnis die Zwischenglieder fehlten, da
glaubte Schelling diese Lücken durch Hypothesen ausfüllen zu
dürfen, die er aus seinem Grundgedanken konstruierte. Wo er
damit fehlgriff, da hat die spätere Forschung von ihrer experi-
mentellen Sicherheit her auf ihn herablächeln zu können ver-
meint; wo er damit späteren Theorien und Nachweisen Vor-
griff, da hat man von glücklichen Zufällen und unbewiesenen
Einfällen gesprochen. Aber man hat nicht bedacht, wie oft es
gerade diese genialen Konzeptionen waren, welche die exakte
Forschung der Folgezeit auf den Weg der Untersuchungen ge-
führt haben, mit denen sie jene Einfälle durch positive Er-
kenntnis widerlegen oder beweisen konnte. Man hat vor allem
vergessen, daß gerade für die Entwicklung der exakten For-
schung der naturphilosophische Gedanke, die Natur wieder als
ein Ganzes zu fassen und die Identität ihres Wirkens in der
Mannigfaltigkeit ihrer Formen zu verstehen, eine mächtige För-
derung gew^esen ist. Wenn die Tendenz einer einheitlichen Natur-
erklärung den heutigen Naturforschern als selbstverständlich er-
scheint, so mögen sie nicht übersehen, daß die Ausführung dieser
Aufgabe durch das Prinzip, die Umsetzung der Natmkräfte in-
einander^ zu verstehen, in universeller Weise zuerst von Schelling
versucht worden ist.
Diese Bedeutung der Naturphilosophie bleibt bestehen, auch
wenn sich herausstellen sollte, daß ihr Versuch, das identische
Wesen des ganzen Naturprozesses aus dessen "allgemeiner Zweck-
bestimmtheit* zu begreifen, mißlungen ist. In der Art, wie
Schelling von der Wissenschaftslehre aus diese Aufgabe erfaßte,
lag es begründet, daß sein Versuch ihrer Lösung nur teleologisch
252 Schelling.
ausfallen konnte. Die Natur ist die werdende Intelligenz.
Sie ist die bewußtlose Vernunft, welche Ich werden will. Ihr
Wesen besteht daher in dem Triebe, der sein Ziel im Bewußt-
sein hat. Sie erreicht dies Ziel im animalischen Leben, und das
Leben ist deshalb der Eichtbegriff der gesamten Naturphilosophie.
Schelling geht dabei von dem Kantischen Gedanken aus, der für
den Standpunkt der damaligen Naturforschung noch mehr als
heute berechtigt war, daß aus einer Natur, deren Prinzipien
man von vornherein mechanisch gefaßt habe, das Leben niemals
begriffen werden könne. Deshalb muß man die Sache umkehren
und die Natur aus dem Zwecke des Lebens begreifen, welcher
in der Wissenschaftslehre aus dem Wesen des Ich deduziert
worden ist. Somit sieht Schelling als das ursprüngliche und
einheitliche Wesen der Natur ihr Leben an. Was in ihr ^tot
erscheint, ist nur erstarrtes oder noch nicht vollkommenes Leben.
Man darf ihre Erscheinunoen nicht in ihrer Vereinzeluno auf-
fassen; sie ist vielmehr nichts als ein großer Lebenszusammen-
hang, ein ewiges Ineinandergreifen der Kräfte, Ibei welchem es
nur auf die Lebendigkeit des Ganzen ankommt. Das war der-
selbe Gesichtspunkt der Naturauffassung, den aus seinem ästhe-
tischen Bewußtsein heraus Goethe vertrat, und dieser bildete
daher den ersten Berührungspunkt zwischen Schelling und dem
großen Dichter. Eine merkwürdige und höchst interessante Be-
ziehung gewann diese Lehre zu Spinoza. Die Lehre des ver-
gessenen und geschmähten Juden hatte in dem 9. Jahrzehnt des
XVIII. Jahrhunderts in Deutschland plötzHch eine neue Macht
gewonnen. Es ist das Verdienst Lessings, ihre Bedeutung er-
kannt zu haben, und dazu trat ein ungewolltes Verdienst Jacobis.
Durch den Streit, der sich zwischen ihm und Mendelssohn über
den Spinozismus Lessings im Anschluß an Jacobis »Briefe über
die Lehre Spinozas« (Berlin 1785) entwickelte, wiurde die Auf-
merksamkeit darauf noch mehr gelenkt, als durch seine eigene
Behauptung, der Spinozismus sei die vollendete Form aller Wissen-
schaft. Jedenfalls wurde Spinozas Lehre um dieselbe Zeit, als
die Kritik der reinen Vernunft ihre ersten Erfolge erlangte, zu
einem Gegenstand eifrigen Studiums in Deutschland, und be-
sonders wirksam wurde der Gegensatz, in welchem sie zur
Kantischen Freiheitslehre stand. Daß dieser Gegensatz nicht
Natur als Lebon. 253
uniibcrbrückbnr war, beruhte auf Kant« Anerkennunf^ der ab-
soluten kiiusalon N()twondi«^keit in der Jlirscheinungswclt: so er-
wuchs eine große metaphysische Aufgabe für den tran.szendentah'n
Idealismus, und diese gestaltete sich schon bei Fichte zu einem
wichtigen Moment in der Weiterentwicklung des pliilosophLschen
Geistes. Für die Wirkung jedoch, welche dies Moment ausübte,
war weniger der Spinozisnius selbst als die Auffassung entschei-
dend, welche Herder und Goethe davon hatten, und welche
sich nun auch Scholling mitteilte. Sie übersahen dabei allerdings
vollständig den Gegensatz, worin sie sich mit ihrer im tiefsten
Grimde vitalistischen Naturauffassung zu der rein mechanischen
Formalität Spinozas befanden, und sie bewunderten an diesem
nur seinen großen Gedanken eines absolut einheitlichen, unend-
lichen Naturzusammenhangs. Aucb Spinoza freilich hatte zwischen
anorganischer und organiscber Natur keinen Sprung und keine
Verschiedenheit anerkannt, und diese Universalität des Prinzips
zog Herder, Goethe und Schelling zu ihm hin. Aber es wurde
dabei übersehen, daß das Prinzip der Natureinheit bei Spinoza
das mechanische, hier das organische war.
Auch darin fühlte sich die Naturphilosophie wie damals Goethe
diesem poetisierten Spinozismus verwandt, daß beide ihren BHck
auf das allgemeine Leben der gesamten Natur richteten.
Für beide galt deshalb das Individuum nur als eine vorüber-
gehende Erscheinung in dem Gesamtprozeß. Auch für die Wissen-
schaftslehre war wenigstens in gewissem Sinne das individuelle
Ich nur ein Mittel für das allgemeine, das individuelle Bewußt-
sein nur der notwendige Durchgangspunkt für die ewige imd
unendliche Realisierung des absoluten Zweckes. Deshalb sind
auch der Naturphilosophie die Individuen mit ihrem Sonder-
bewußtsein nicht die letzte Absicht der Natur, aber ihre not-
wendigen Mittel. Denn das Leben, auf das es allein ankommt,
ist, wie Fichte deduziert hat, nur im Kampf und im Austausch
der Kräfte möglich, und das Individuum beruht, wie schon sein
Springpunkt, die Empfindung, nur darauf, daß entgegengesetzte
Kräfte einander hemmen, binden und beschränken. Alles indi-
viduelle Dasein in der Natur ist ein vorübergehendes Gebilde,
in welchem das Wechselspiel der Kräfte zum Stillstand kommt,
um sogleich wieder zu beginnen.
■I
254 Schelling.
Der Antagonismus entgegengesetzter Kräfte ist also das
eigentliche Wesen der Natur, worauf ihr Leben ruht. Dualis-
mus und Polarität bilden die Grundform alles natürlichen
Geschehens, und dieses besteht immer in der Synthesis anta-
gonistischer Momente. So wird das triadische System der
Wissenschaftslehre zum Prinzip für die gesamte Deduktion der
Naturphilosophie, und in diesem Sinne wird für Schelling der
JJagnet in seiner untrennbaren Vereinigung polar entgegengesetzt
wirkender Kräfte zum Typus der gesamten Naturkonstruktion.
Alles Leben ist das Produkt entgegengesetzter Kräfte, und jede
einzelne Naturerscheinung kommt nur als Synthesis antithetischer
Kräfte zustande. Damit betritt Schelling den Boden von Kants
dynamischer Naturanschauung. Was in der Natur als "^ Ding
erscheint, was*^ Stoffe oder 'A^toni genannt wird, ist nur das Pro-
dukt von Kräften. Die Naturphilosophie verlangt dieselbe Ab-
straktion von der naiven Weltauffassung wie die Wissenschafts-
lehre. Was als^ Seiendes^ erscheint, ist ein Produkt des Tuns.
Auch in der Natur sind nicht zuerst Dinge da, Körper, Stoffe,
Atome, oder wie man sie sonst genannt hat, welche Kräfte
haben und mit ihnen funktionieren, sondern das Wesen der
Natur ist der Trieb und die Kraft, und die physische Realität
entspringt erst als deren Produkt.
Nur so ist nach der Natiurphilosophie die Einheit des Natur-
lebens zu verstehen. Sie ist unbegreiflich, wenn lauter selb-
ständige Dinge existieren sollen, die nach den Gesetzen, von
denen niemand weiß, woher sie kommen und was sie mit diesen
Dingen zu tun haben, in Zusammenhang treten. Sie ist aber
völlig verständlich, wenn diese Dinge nur die Produkte von
Trieben und Kräften sind, welche sämtlich die Ausgestaltungen
eines ürtriebes bilden, der sich in die Gegensätze spaltet, um
zu leben und um sein Ziel zu erreichen. Nicht als ein Aggregat
von Atomen in mechanischen Beziehungen, sondern als das ein-
heitliche Leben einer Urkraft, die in immer wechselnder Gestal-
tung ihrem Ziele zustrebt, ist das System der Natur zu begreifen.
Diese Ahnung schwebte den Denkern vor, welche von einer
>>^Weltseele« gesprochen haben, deren lebendige Entfaltung das
Universum sei. Weltseele ist das Ich, das aus dem unbewußten
Triebe zum bewußten Leben kommen will und durch alle Ge-
Katep;orion der Natur. 255
stalten der iinorganischon und der orj^'anischen Natur t^'ivh zu
dieser Selhsterfassung emporrin^t; es ist der »Uiesengei.st«, der
.sich versteinert findet, dvr sich wunderlicli reckt und dehnt, die
rechte Form und Gestalt zu finden, und der endlicli in einem
Zwerge — »heißt in der Sprache Menschenkind« — vor sich
selber staunt.
Hinter dieser großartigen Konzeption des Ganz<'n bleibt nun
freilich die besondere Deduktion, womit die Naturphilosophie die
notwendige Umbildung der Naturkraft aus den niederen in die
höheren Formen zu konstruieren unternimmt, bedeutend zurück.
Es zeigt sich dies vor allem darin, daß Schelling selbst in den
verschiedenen Darstelluncfen die »Kategorien der Natur« nicht
immer in der gleichen Reihenfolge und die teilweise sehr ge-
künstelten Übergänge aus der einen in die andere auf sehr ver-
schiedene Weise entwickelt hat, wenn auch selbstverständlich die
GrundzÜ2[e des Systems dieselben geblieben sind.
Den Ausgangspunkt bildet immer Kants dynamischer Begriff
von der Materie. Der Gegensatz der zentrifugalen und der zentri-
petalen Kraft erschien um so fundamentaler, als auch Fichte in
der Deduktion der Empfindung das Verhältnis der unendlichen
zu der beschränkenden Tätigkeit des Ich darauf zurückgeführt
hatte. Hatte dieser daraus die subjektive Erscheinung der Emp-
findung abgeleitet, so deduziert nun Schelling mit Kant die ob-
jektive Erscheinung der Materie aus demselben Gegensatze, welcher
in diesem Fall als derjenige der Repulsion und der Attraktion
auftritt. Auf das Intensitätsverhältnis dieser beiden Kräfte sucht
Schelling mit Kant die Funktionen der Schwere, der Kohäsion,
der Elastizität, besonders aber die verschiedenen Aggregatzustände
und in einigen Darstellungen sogar einen Teil der chemischen Eigen-
schaften zurückzuführen. Der gesamten ponderablen Materie tritt
aber sodann als der notwendige Gegensatz die imponderable oder
der Äther hinzu, und aus der Synthesis, aus der gegenseitigen
Hemmung beider deduziert Schelling das Licht und die Wärme.
Erst auf der höheren Stufe jedoch tritt das der Natur eigentüm-
liche und auch in dem Verhältnis der ponderablen zur impon-
derablen Materie noch verdeckte Grundgesetz der Dualität und
der Polarität klar und deutlich hervor. Diese höhere Stufe be-
ginnt mit den elektrischen Erscheinungen, deren tieferen Grund
256 ScheUing.
Schelling im Magnetismus sucht. Wenn die spätere Forschung
das Verhältnis geradezu umgekehrt hat, so ist doch nicht zu ver-
gessen, daß es wesentlich auf Veranlassung dieses Schellingschen
Hinweises war, als die ersten experimentellen Untersuchungen
über den Zusammenhang der Elektrizität und des Magnetismus von
Oerstedt gemacht wurden. Die höchste Form der unorganischen
Polarität glaubte endlich Schelling in den chemischen Wirkungen
des elektrischen Prozesses sehen zu dürfen, und in dieser Beziehung
wurde die Entdeckung der Voltaschen Säule (1800) für die
Naturphilosophie von großer Bedeutung. Denn so bildet der Gal-
vanismus den Übergang in die organische Welt. In dieser hält
sich die Schellingsche Konstruktion wesentlich mit Kielmeyer an
das Verhältnis der drei Grundkräfte der Keproduktionsfähigkeit,
der Irritabilität, d. h. der physiologischen Reizbarkeit, und der
Sensibilität, d. h. der animalen Empfindungsfähigkeit. Bei den
niederen Organismen überwiegt die Reproduktion nicht nur in
der Ungeheuern Masse der Vermehrung, sondern auch darin, daß
das einzelne Individuum fast nichts anderes als ein Durchgangs-
punkt in der Kontinuität der Gattung ist, und daß seine selb-
ständige Funktion und noch mehr seine Empfindungstätigkeit von
der allergeringsten Ausdehnung ist. In dem Stufenreiche der Or-
ganisation kehrt sich dies Verhältnis allmählich um; die Repro-
duktion nimmt immer mehr ab, sowohl hinsichtlich ihrer Masse,
als auch hinsichtlich der Bedeutung, welche sie im Leben des In-
dividuums einnimmt, dagegen wächst um so mehr die Verschieden-
heit in der Reaktion auf äußere Einflüsse, und die Fähigkeit der
spezifischen Reaktion auf spezifische Reize gipfelt endlich in der
bewußten Empfindung. In den höchsten Organismen überwiegt
deren SensibiHtät derartig, daß die beiden anderen Funktionen
untergeordnet erscheinen, und dabei erreicht zugleich die Re-
produktion ihre vollkommenste, die polare Form: sie tritt als ge-
schlechtliche Zeugung auf. So zeigt sich das ganze Reich der
Organismen als eine Variation des Verhältnisses dieser drei Funk-
tionen. Diese seine Einheit tritt in dem gemeinsamen Typus der
Organisation hervor, den die vergleichende Anatomie zutage ge-
fördert hat. Die Verschiedenheit dagegen tritt in der Gestalt
eines kontinuierlichen Fortschritts auf, womit durch die feinsten
und zartesten Übergänge die niedere Form allmählich in die
Kntwiükluiif^Hlehro. 2i)l
liöluMV übergeht. Dieses Verhältnis bezeichnet Schellinf^ als Ent-
wickliin«^. Er hat weder geleugnet noch anderseits ausdriickhcli
behauptet, daß dieser Übergang des Unvollkommenen in das Voll-
kommenere eine historische TatsaclRi, d. h. ein zeitlicher Prozeß
sei, und seine Entwicl<lungslehre ist daher nicht im eigentlichsten
Sinne als Deszendenztheorie aufzufassen. Die »Entwicklung« ist
für ihn ein ideelles Verhältnis, dasselbe wie bei den großen Plii-
losophen des Altertums und wie bei Leibniz; sie will nur sagen,
daß die Stufenleiter der Natur ein System von Erscheinungen
bilde, in welchem jede einen bestimmten Platz im Verhältnis zu
den übrigen einnimmt, und in dessen Zusammenhange sich die
Grundidee mit allen ihren Beziehungen ausbreitet. Diese Ent-
wicklunsjslehre enthält somit nicht sowohl eine Theorie der kau-
salen Erklärung, als vielmehr eine Deutung der Erscheinungen.
Sie will die Bedeutung begreifen, die im System des Ganzen
dem Einzelnen gebührt; sie ist in letzter Instanz eine Lehre von
dem Werte, welcher den einzelnen Erscheinungen in bezug auf
den Gesamtzweck der Natur zukommt. Darum sind alle ihre De-
duktionen, alle ihre Vermittlungen und Übergänge teleologisch
gemeint, und sie wird nur in dem Sinne auch zu einer Deszendenz-
theorie, als sie von dem Gesichtspunkte der Wissenschaftslehre
ausgeht, daß der Ursprung aller Dinge in dem Zweck zu suchen
sei, den sie zu erfüllen haben. Der Übergang der Naturformen
ineinander ist bei Schelling nicht mechanisch, sondern teleologisch
bedingt. Das war der Grund, weshalb die Naturforschung mit
seinen Auffassungen des Zusammenhanges der einzelnen Natur-
kräfte und insbesondere der organischen Arten direkt nichts an-
zufangen wußte. Er will gar nicht die mechanische Kausalität
verstehen, wodurch diese^ Umwandlung vollzogen wird, sondern
er begnügt sich damit, zu zeigen, daß der allgemeine Zweck der
Natur diese Umwandlung notwendig mache, und er betrachtet
diese teleologische Notwendigkeit als den zureichenden Grund der
Wirklichkeit. Darin liegt sein großer Abstand von der Kantischen
Teleologie. Für Kant war die Betrachtung der Zweckmäßigkeit
das heuristische Prinzip für die Aufsuchung des kausalen Mechanismus,
für Schelling ist sie ein metaphysisches Prinzip der Erklärung.
Dieser Abstand ist gerade so weit wie derjenige zwischen dem
Kritizismus, der die Metaphysik auf die Erscheinungen beschränkt,
Windelband, Gesch. d. n. Philos. H. 17
258 Anhänger der Naturphilosophie.
und der Wissenschaf tslehre , welche durch Aufhebung des Ding-
an-sich-begriffes den Boden für eine neue Metaphysik gewann.
In der Sensibilität der Organismen gipfelt das System der
Natur. Sie endet da, wo die bewußte Intelligenz anfängt: bei
der Empfindung. Durch die Stufenreihe der Kräfte hindurch er-
reicht sie zum Schluß den Zweck, auf den sie in bewußtloser
Notwendigkeit hindrängt. In dem ganzen Formenreiche ihrer Er-
scheinungen ist sie nichts als werdender Geist. Sie ist deshalb
im eigentlichen Sinne die sichtbar gewordene Vernunft. Die natür-
liche und die vernünftige Welt sind im tiefsten Grund identisch.
Die eine enthält unbewußt, was die andere im Bewußtsein hat,
und der ewige Prozeß der Natur ist nur der, in ihrem bewußt-
losen Triebe den Geist zu erzeugen. Mit dieser Durchführung
des naturphilosophischen Prinzips überschritt SchelHng, ohne daß
er es wollte, den Standpunkt der Kantischen und Fichteschen
Weltauffassung. Der ethischen Metaphysik, welche diese beiden
lehrten, war der Gegensatz von Natur und Vernunft wesentlich
gewesen. Aber sie waren freilich in mehr als eine Schwierigkeit
dadurch verwickelt worden, daß auch sie die Vernunftgesetzgebung
in der Natur nach der einen oder der andern Richtung hin an-
zuerkennen genötigt waren. Indem Schelling damit völlig Ernst
machte und die Natur restlos in Vernunft aufzulösen suchte,
gab er jenen Gegensatz auf, und so wurde für ihn die Natur
ein reines Vernunftprodukt. Damit charakterisiert sich diese
Lehre, welche in der Natur nichts anderes als die bewußtlose
Erscheinung der Vernunft sehen will, als physischen Idea-
lismus.
Die Naturphilosophie hatte einen mächtigen Erfolg und gewann
in kürzester Zeit eine Reihe bedeutender und begeisterter An-
hänger. Ihr ideenreicher Versuch, in der Natur den Geist wieder-
zuerkennen, übte eine zündende Anregung aus. Aber diese Wirkung
war zum Teil nicht so glücklich, wie sie lebhaft war. Schellings
eigene Lehre schon überschritt die rein wissenschaftliche Behandlung
der Natur und betrachtete ihr Objekt vielfach unter Analogien
und Deutungen, die, mochten sie noch so geistreich konzipiert
sein, doch schließlich mehr der Phantasie als dem strengen Denken
angehörten. Dies Verhältnis trat, wie immer, noch weit mehr bei
Novaliü. 25ü
(Ich SchiiNMii horvor. Es l)einii(h(it;te nicli der ihm NahcHtchciMlcn
eine Art von Rausch der Nulurspekulation, und die Phantasie
boj^ann mit ihrem Spiel von Deutungen, Ver^Moichun^en und Kom-
binationen jene Or<^ncn zu feiern, welche ihr später die Verachtuii;^
der exakten Wissenschaft zum'zoi^en und den Namen der Natur-
philosophie zu einem »Schmiiliwort «gemacht haben. Am meisten
wirkte Schellings Lehre auf poetisch anj;ele<^e Gemüter. Seine
Konstruktion der Natur war ja selbst mehr ein großartig gedachtes
Gedicht als ein wissenschaftliches System, ein Gedicht von reizender
Schönheit, für welches nur, wie bei Dichtungen üblich, die Be-
weise fehlten. Wenn er im Leben der Natur das leise Herauf-
dämmern des Geistes schilderte, so ist es begreiflich, wie ihn
freudig die Dichter begrüßten, die in den Gestalten der Natur,
in den phantastischen Bildungen des äußeren Daseins die
Stimmungen und die Geschicke der Seele wiedergespiegelt fanden.
So sab sieb Tieck von der Naturphilosophie ergriffen, und vor
allem die Märchendichtung, deren Art es ja ist, den Geist in die
Natur hineinzutragen, mußte der Schellingschen Lehre wie ihrem
wissenschaftlichen Zwillingsbruder entgegenkommen. Auf diese
Weise begannen in der Naturphilosophie Poesie und Wissenschaft
ineinander zu verschwimmen. In der analogischen Betrachtung
der Natur verwischten sich ihre Grenzen, und die Phantastik fing
an, sich für Wissenschaft zu halten. Als ein Typus dafür dürfen
die abgerissenen Bemerkungen gelten, welche Novalis (Friedrich
von Hardenberg 1772 — 1801) in seinen »Fragmenten« niederlegte.
Sie beruhen alle auf einer Grundauffassung, die tief in Fichtes
Wissenschaftslehre und zugleich in des philosophischen Dichters
eigenes Gemüt zurückweist. Sie betrachten alle äußere Natur als
Erscheinung und Symbol des inneren Trieblebens, sie suchen hinter
dem Mechanismus ein geistiges Gestalten und betrachten so die
gesamte Welt in Raum und Zeit unter dem Gesichtspunkte des
magischen Idealismus. Wie Novalis selbst wünschte und
hoffte, von seinem Innenleben des Willens her den starren Zu-
sammenhang der Naturnotwendigkeit zu durchbrechen, geistige
Beziehungen über den Tod hinaus fortzusetzen, so verwandelten
sich ihm die Geheimnisse der Naturerkenntnis in phantastische
Allegorien. Neben feinen und geistreichen Wendunsfen finden sich
hier Sätze, in denen das empirische Denken kaum mehr den Rest
17*
260 Steffens.
eines Sinnes zu entdecken vermag. Da heißt die Natur eine ver-
steinerte Zauberstadt oder ein enzyklopädischer Index unseres
Geistes, da heißt aber auch der Raum ein Niederschlag aus der
Zeit, das Wasser eine nasse Flamme, heißt Farbe das Bestreben
des Stoffes, Licht zu werden und umgekehrt, — da ist Denken
Galvanisation, da soll im Schlaf der Körper die Seele ver-
dauen usf.
Geht dabei die geistreiche Analogie in Phrase über, welche
um so gefährlicher ist, als sie eine tiefe Erkenntnis zu sein
glaubt, so sind anderseits auch viel wertvollere Wirkungen von
der Naturphilosophie ausgegangen. Sie bot eben doch neben
diesen spielenden Deutungen eine Eeihe bedeutender Gesichts-
punkte dar, welche sich für die Naturwissenschaften fruchtbar
'^fu^v. erweisen sollten. So wendete vor allen Steffens (ein geborener
Norweger, 1773 geboren, in Deutschland gebildet und als deutscher
Universitätslehrer tätig, in BerHn 1845 gestorben) in seinen
»Beiträgen zur inneren Naturgeschichte der Erde<< (1801) das
Schellingsche Prinzip auf die in der Umwälzung begriffene und
durch seinen Lehrer Werner in Freiberg mächtig geförderte Wissen-
schaft der Geologie an und stellte zuerst auf Grund der Tat-
sachen die Idee einer »geologischen« Entwicklungsgeschichte des
Planeten auf, vermöge deren dieser sich in allmählicher Um-
bildung zum Träger des organischen Lebens gestaltet und zu
dessen immer höherer Ausbildung befähigt habe. So verfehlt die
einzelnen Hypothesen gewesen sein mögen, in denen er diesen
Gedanken durchführte, so groß bleibt das Verdienst des letzteren
selbst, und auch dieser beruhte doch schließlich auf dem teleo-
logischen Grundprinzip Schellings, daß alles Leben auch der
sogenannten unorsjanischen Natur in dem Zwecke wurzele, den
Geist zu erzeugen. /Am meisten jedoch lassen sich selbstver-
ständlich die Anregungen Schellings auf dem Gebiete der orga-
nischen Naturforschung verfolgen. Es war ausdrückhch unter
\f>y^xxy^ seinem Einfluß, daß Carus (1789 — 1869) die vergleichende Ana-
tomie in Deutschland einbür<:erte. Der Nachweis der Identität
des Baues in der Fülle der Organismen galt auch ihm nur als
ein Beweis für die Einheitlichkeit des Plnnes, nach welchem das
gesamte Leben von der unvollkommensten bis zur vollkommensten
Form aufgebaut ist. Ein wahrhaft fruchtbarer Vertreter aber dieses
ükon. 2V)\
rrinzip.s war Lokmiz Okcn (1779—1851). Er int für Dcnt«chlan(l OA*
der Bü«^ründer clt^r ürL,'anül()»4i. cIkmi Entwicklunij^sgcscliicbtc; auch
er lehrte (»Die liedoutuii^ der Schiuh'lknochon« 1807), daß man
im Schädel nur eine höher cnt'wickelle Form des Wirbels zu
sehen habe; er beliauptcte bereits au.sdrückbch, daß das ^anze
Stufeureich der Or«;anisnien, die Tiere so gut wie die Pflanzen,
durch allmähliche Umbildung aus einem organischen Urschleim'^-'
entstanden sei, der, in unendlichen Formen differenziert, den
Stoff aller Organismen bilde. Er gliederte das ganze Tierreich
nach dem teleologischen Gesichtspunkte, daß die sechs verschie-
denen Systeme, die er in der physiologischen Funktion des
Menschen annahm, in den sechs Grundklasseu des Tierreiches die
innerhalb jeder einzelnen mannigfach variierten Typen darstellen
sollen, so daß das ganze Tierreich überall den zerstückten Menschen
enthält. Er betrachtet ebenso auch den ganzen Prozeß der Organi-
sation als einen Weg der Entwicklung, den die Natur durch viele
verfehlte Bildungen hindurch nimmt, um zu der Erreichung des
Zweckes der bewußten Intelligenz erst im Menschenleben zu ge-
langen. Aber ihm lösen sich diese Betrachtungen vollständig von
dem Prinzip der Wissenschaftslehre ab, ihm ist schon die Natur
— nicht ohne Einfluß Spinozas — eine vollkommen selbständige
Existenz, er tritt ganz zum physischen Pantheismus über und
sucht diesen in einer Weise zu begründen, deren Formeln bereits
auf Schellings absolutes Identitätssystem (vgl. unten § 66) zurück-
zuführen sind.
Aber das Prinzip der Naturphilosophie leitete noch über das
organische Leben hinaus in die Psychologie hinüber. Galt die
Natur als bewußtlose Intelligenz, so mußte der Übergang von
ihr zum Bewußtsein zuletzt in jenen dunklen Regionen des
geistigen Daseins gesucht werden, welche dem bewußten Vernunft-
leben in uns zugrunde Hegen. Vom Standpimkte der Naturphilo-
sophie aus mußte sich daher für die Psychologie das Bestreben
geltend machen, diese »Nachtseite« der menschlichen Psyche,
diesen unbewußten Untergrund des bewußten Lebens eingehend
zu erforschen und ihn als den wahren Übergang der organischen
Natur in das vernünftige Dasein zu begreifen. Solche Tendenzen
finden sich bei Carus (»Vorlesungen über Psychologie« 1831 und
»Psyche, zur Entwicklungsgeschichte der Seele« 1846), bei Steffens
262 Schellings transzendentaler Idealisraus.
(»Anthropologie«, Breslau 1822), bei Burdach (»Anthropologie«
1827), vor allem aber bei Schubert (1780—1860), der dem allge-
meinen Publikum wie Oken als Verfasser verbreiteter Handbücher
der Naturgeschichte bekannt ist. Seine »Ahndungen einer allge-
meinen Geschichte des Lebens« (1806 — 1821), mehr noch seine
»Geschichte der Seele« stellen diesen Gesichtspunkt in den Vorder-
grund, und von demselben aus beschäftigte er sich besonders mit
der unbewußten Grundlage der psychischen Störungen, mit den
geheimnisvollen Erscheinungen des Somnambulismus und jenem
rätselhaften Ineinandergreifen bewußter und unbewußter Tätig-
keiten, welches die menschhche Psyche auf der schwanken Grenze
der natürüchen und der vernünftigen Welt erscheinen läßt.
§ 65. Der ästhetische Idealismus.
Schiller und die Romantiker.
Die "Naturphilosophie, vom Prinzip der Wissenschaftslehre aus
begonnen und anfänglich ihr untergeordnet, war unter Schellings
Händen mehr und mehr zu einer selbständigen Disziphn gereift.
Sie erschien ihm jetzt als eine Ergänzung und ein Gegenstück
der Wissenschaftslehre. Zeigte die letztere, wie das Ich um seines
praktischen Zweckes willen die Natur als das Nichtich setzt,
zeigte sie, wie das Ich Natur wird, so hat die Naturphilosophie
die umgekehrte Aufgabe, zu entwickeln, wie die Natur zum Ich
wird. Indem Schelling noch daran festhält, sich mit Fichte einig
wissen zu wollen, faßt er dies Verhältnis so auf, daß die Philo-
sophie oder Wissenschaftslehre nach den allgemeinsten Grund-
bestimmungen sich in zwei, einander umgekehrt korrespondierende
Teile zerlege, einen objektiven, welcher als Naturphilosophie die
Entwicklung der Natur zum Bewußtsein darstelle, und einen sub-
jektiven, welcher die in Fichtes Wissenschaftslehre behandelte
»Geschichte des Bewußtseins« zu seinem Inhalte habe. Diesen
subjektiven Teil der Philosophie benannte Schelling jetzt mit
dem Namen der Transzendentalphilosophie oder des transzen-
dentalen Idealismus. Indem er aber an die selbständige Be-
arbeitung dieser zweiten philosophischen Grundwissenschaft geht,
bilden sich ihm unter der Hand die Fichteschen Gedanken der-
artig um, daß das Gesamtbild dieses notwendigen Systems der
BedouiuiiRf dcir Anthotik. 203
Vornuiiftliiiiullun^^cn ein wrHentlich anderes wird. Zu dem Gegen-
aatze der theoretischen und der praktischen Wissenschaftslehre,
welcher sich selbstverstiindlich in diese neue Phase des Scheüinj;-
schen Denkens hinüberzieht, tritJL der He^^riff einer dritten Ver-
nunltfunktion hinzu, die in der Versöhnung des Gegeiusatzes den
Abschhiß des Systems und die Krönung des Gebäudes bildet.
Aus den Grundbestimmungen dov Kantischen Philosophie und aus
der schon durch die Naturphih)8ophie bekundeten Einwirkung der
Kritik der Urteilskraft auf das Schellingsche Denken ist von
vornherein abzusehen, daß diese verknüpfende Funktion nur die
ästhetische sein konnte. Wenn aber so der ganze Entwurf, den
Schelling hier von der Transzendentalphilosophie machte, auf die
Überwindung des Gegensatzes von theoretischer und praktischer
Vernunft durch die ästhetische hinausläuft, so lagen die Prä-
missen dafür zwar vollständig schon in Kants Philosophie; allein,
bevor Schelling sich ihrer bemächtigte, hatten sie bereits eine
Weiterbildung erfahren, die jetzt für ihn bestimmend wurde. Diese
war nicht von allgemein philosophischem Interesse, sondern von
spezifisch ästhetischen Tendenzen ausgegangen, die durch Kants
Werk eine mächtige Anregung erfahren hatten. Ihre Träger waren
daher Dichter, welche sich in bezug auf die Theorie des ästhe-
tischen Lebens mit der neuen Philosophie auseinanderzusetzen
suchten und dadurch die für die Weiterentwicklung entscheidende
Verschmelzung der philosophischen und der poetischen Bewegung
herbeiführten. So wurde die Ästhetik nicht nur das lebendige
Zwischenglied zwischen beiden, sondern auch auf der einen Seite
eine Macht in der poetischen Produktion, auf der andern Seite
ein wesentliches Moment für die philosophische Weltauffassung.
Nach beiden Richtungen hin ist diese Wirkung eine mächtige ge-
wesen, aber sie hatte auch nach beiden ebenso ihre gefährlichen
wie ihre segensreichen Folgen. In der Dichtung gab sie zu einer
philosophischen Vertiefung Anlaß, welche die höchsten und wert-
vollsten Interessen des menschhchen Denkens zu Gegenständen
einer poetischen Darstellung machte, von der Schillers sogenannte
philosophische Gedichte das unerreichte und unvergleichliche Muster
sind. Aber sie führte zugleich durch das Überwiegen des theo-
retisierenden und reflektierenden Moments eine Absichtlichkeit und
Gekünsteltheit herbei, die der poetischen Produktion schadete,
264 Schiller.
wie es namentlich bei den Romantikern ersichtlich ist./ Die Philo-
sophie anderseits gewann dadurch nicht nur einen Blick auf den
Zusammenhang des menschlichen Kulturlebens, wie er in dieser
großartigen Allseitigkeit bis dahin gemangelt hatte, sondern auch
für ihre Darstellung eine viel lebendigere Form, vermöge deren
sie mit dem allgemeinen Bewußtsein eine viel innigere Fühlung
erzielen und erhalten konnte als in der abstrakten Schulmäßigkeit ;
aber es drang zugleich damit in sie, wie es schon bei der Natur-
philosophie der Fall war, die phantasievolle Deutung und das
ästhetische Bedürfnis überhaupt in einer Ausdehnung ein, welche
der strikten Wissenschaftlichkeit feindselig war und dadurch
den Erkenntniswert ihrer Konstruktionen auf das lebhafteste ge-
schädigt hat.
Der Führer dieser Bewegung ist Schiller. Als Dichter wohl
hie und da überschätzt, ist er in seiner wahrhaft großartigen
Bedeutung für das deutsche Geistesleben selten voll gewürdigt
worden. Sie besteht eben darin, daß er die Bahn eröffnet hat,
auf der ein Jahrzehnt lang das poetische und das phüosophische
Schaffen der deutschen Nation Hand in Hand gegangen sind.
Und er hat diese Bedeutung dadurch gewonnen, daß er zuerst
mit gleich innigem, mit gleich tiefem Verständnis das Wesen Kants
und dasjenige Goethes begriff, daß er ihren Gegensatz in sich aus-
zusöhnen und aus ihrer Verknüpfung das Ideal der höchsten Bil-
dung zu gewinnen suchte. Von allen den Geistern, in denen der
Einfluß jener beiden Genien sich kreuzte, ist er der erste ge-
wesen, ist er mit Schelling der vornehmste geblieben. Er ist zur
vollen Reife seines eigenen Geistes und seiner poetischen Schöp-
fungen erst dadurch gediehen, daß er mit diesen beiden Männern,
die ihn merkwürdigerweise anfangs beide abstießen, die innigste
Fühlung gewonnen hat. In seinem Wesen ist schon von Juueiid
an eine wunderbare Mischung des künstlerischen Geistes, in welchem
er schließlich seine Verwandtschaft mit Goethe fand, und des rin-
genden Charakters, worin er Fichte ähnelte, und von dem aus
er wie dieser das Verständnis Kants gewann.
Der Gegensatz dieser Elemente bedingte die stürmischen Um-
wälzungen, die migelösten Widersprüche seiner Jugend, und erst
auf der Höhe seines Lebens in Jena und Weimar klärte er sich
zu bewunderungswürdiger Reife ab. Es war in ihm ebenso viel
ÄsthetiBohc AbhttnUluugen. 205
sprülieiulc und spruih Indc (Icniaiitiit wie sittenstrenger Ernst uwd
Neigun«4 zur bojArifflichcn AbHlraktion. J)er RigoriBmuH Kant»
schlug in Briiiom Cliarakter niclit minder verwandte Saiten an
als die schöne Freiheit in der individueUcn Iveben.sgestaliung bei
Goethe, und die (Jaben des Denkers waren ihm ebenso eigen wie
dieieuigen des Künstlers. Er besaß die naive Kindlichkeit des
wahren Dichters und daneben die männliche Reflexion des Cha-
rakters, der alles aus Prinzipien zu gestalten und zu begreifen
denkt. Es gibt unter seinen Schöpfungen solche, in denen das
eine oder das andere Element rein und mit ungeteilter Kraft
waltet, es gibt viele darunter, in denen namentlich das letztere
das erstere beeinträchtigt, und die höchsten sind die, in denen
beide einander die Wage halten. Das gerade ist der Charakter
seiner Abhandlungen, mit denen er in die ästhetisch -philoso-
phische Bewegung bedeutsam eingegriffen hat. Sie behandeln
zum Teil besondere Gegenstände der ästhetischen Theorie, sie be-
sprechen den >> Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen «
(1792) oder »das Wesen der tragischen Kunst« (1792), sie ent-
wickeln die Begriffe von »Anmut und Würde« (1793), den des
»Pathetischen« (1793) oder den des »Erhabenen« (1793 und um-
gearbeitet 1801); aber sie beziehen immer jedes besondere Problem
auf das allgemeine, und sie bewegen sich alle um die gegen-
seitigen Beziehungen des ästhetischen und des moralischen Lebens.
Der Dichter Schiller sah in der ästhetischen Funktion die wert-
vollste und vollkommenste Ausprägung des menschlichen Wesens,
der Charakter Schiller unterwarf mit strenger Überzeugung alles
menschliche Tun dem sittlichen Zweck. Nennt man das eine das
Goethesche, das andere das Kantische Ideal, so war der Geist
Schillers von beiden so sympathisch berührt und von beiden so
gleichmäßig erfüllt, daß man vom Anfang bis zum Ende in seiner
schriftstellerischen Tätigkeit beide Elemente verfolgen kann. Ja,
oft in derselben Schrift überwiegt bald das eine und bald das
andere, je nachdem der Gegenstand das lebhafte Wiesen des
dichterischen Denkers nach der einen oder nach der andern Seite
mit sich reißt. Dieser Kampf der Elemente hat weder mit dem
Siege des einen oder des andern, noch mit einer vollen und all-
seitigen Versöhnung zwischen ihnen geendet, sondern er ist viel-
mehr bis in die letzten Äußerungen Schillers hinein zu erkennen;
266 Schiller.
aber immer neue und neue Versuche hat er gemacht, damit zum
Abschluß zu kommen.
Alle diese Versuche bewegen sich in einer Richtung, die
Schillers Lehre in einem interessanten Parallelismus zu Kants
Religionsphilosophie erscheinen läßt. Wenn es sich um die Auf-
stellung des moralischen Gesetzes und um die einzelnen Aufgaben
handelt, die der vom Naturtriebe beherrschte Mensch zu erfüllen
hat, so steht Schiller niemals und auch in seinen letzten Schriften
nicht an, dem vollen Rigorismus der Kantischen Moral zu hul-
digen; dann gilt auch für ihn als sittlich nur eine bedingungs-
lose und durch die bewußte Maxime herbeigeführte Unterwerfung
des sinnlichen unter den geistigen Menschen. Aber anders ist
es, wenn man den Menschen in seiner gesamten Entwicklung be-
trachtet; hier ist er ein sinnlich-übersinnliches Wesen, hier wirkt
in ihm die ganze imwiderstehliche und als Bestandteil seines
Wesens berechtigte Gewalt des Naturtriebes, und hier wäre zu
befürchten, daß, wenn wir ihm das Sittengesetz nur im Gegen-
satze zu seinem natürlichen Wesen zeigten, er vor der Majestät
des Gebotes nur zurückschreckte, und daß er in der physischen
Notwendigkeit unterginge, ehe er sich zum sittlichen Bewußtsein
erhoben hätte. Der im Kampfe begriffene Mensch bedarf einer
Unterstützung seiner sinnlichen Natur, um zum mora-
lischen zu werden. Auch Kant hatte das verstanden, und er
hatte diese Unterstützung in der Religion gesucht. Schiller hat
an vielen Stellen seiner Schriften darauf hingedeutet, daß neben
der Religion für diesen Zweck ästhetische Bildung das wesent-
lichste Mittel sei. Durch sie soll das natürliche Triebleben ver-
edelt und verfeinert werden, um zu dem Übergange in das mora-
lische Leben fähig zu werden.
Hiernach gewinnt es den Anschein, als solle nach Schillers
Überzeugung — ähnlich wie es in der aufklärerischen Ästhetik
betrachtet worden war — das ästhetische Leben wesentlich nur
das notwendige Mittel sein, um den Menschen aus dem sinnlichen
in den sittlichen Zustand überzuführen. Und unter diesem Ge-
sichtspunkte entwarf Schiller in der Tat seine großartigen »Briefe
über die ästhetische Erziehung des Menschen« (1795 — 1796). Aber
die Ausführung dieses Planes geht in mehr als einer Beziehung
über den Kantischen Standpunkt der Ethik hinaus. Sie nimmt
Wort und Wesen der äBthotischen Bildiinpf. 2^)7
zunächst schon ihr Problem nicht in der Auf;;abc des einzelnen
Menschen, sondern in derjenij^en des ganzen (ie.H<hlechts. »Sie folgt
in dieser Hinsicht in entschiedener Weise der Geschichtsphilosopie
des Königsber^er Dcnivcrs. Sic» sieht die moralische Ordnung
oder, wie Schiller sagt, den »moralischen Staat« als die Aufgabe
an, zu welcher sich die Menschheit aus dem Stande des »phy-
sischen Staates«, der durch die natürliche Notwendigkeit herbei-
geführten Gewaltherrschaft, entwickeln soll, und sie konstruiert
als das unumgängliche Zwischenglied den »ästhetischen Staat«,
d. h. den Stand des veredelten Naturtriebes, durch den allein die
Kluft zwischen der physischen Wirklichkeit und der moralischen
Aufgabe ausgefüllt werden kann. Im physischen Zustand erleidet
der Mensch die Macht der Natur, er entledigt sich ihrer im ästhe-
tischen, und er beherrscht sie im moralischen. Diese Klimax ent-
wickelt Schiller noch in einem der letzten dieser Briefe; aber in-
dem er an der Hand der Kantischen Begriffsbestimmung das
Wesen des ästhetischen Zustandes untersucht, gewinnt ihm dieser
einen von seinem moralischen Nutzen völlig unabhängigen Wert,
und während er ursprünglich eine durch das ästhetische Element
sich vollendende Erziehung zur Moralität schildern wollte, gibt
er in der Mitte der »Briefe« eine Theorie der Erziehung zum
ästhetischen Leben selbst.
Schillers Auffassung ist dabei wesentlich durch die KantisChe
bedingt, und ihre Darstellung bewegt sich teilweise in den durch
Eeinhold und Fichte geschaffenen Formen. Die letzte Unter-
scheidung, welche wir in uns finden, ist diejenige unserer iden-
tischen Persönlichkeit und ihrer wechselnden Zustände; jene ist
die rein geistige Form, diese sind durch den gegebenen Stoff
unserer sinnlichen Natur bestimmt. Aus jener stammt daher der
»Formtrieb« als die sittliche Betätigung unseres übersinnlichen
Wesens, aus diesen der »Stoff trieb« als die naturnotwendige Ent-
faltung unserer sinnlichen Natur. In beiden Fällen handeln w^ir
um bestimmter Zwecke willen, gleichviel ob wir diese autonom
bestimmen oder ob wir darin von dem Einfluß der sinnlichen
Reize abhängig sind.
Ein unmittelbarer Übergang nun aus der einen in die andere
Art der Bestimmtheit ist nicht denkbar. Der plötzliche Umschlag
der sinnlichen Bestimmtheit in die sittliche Selbstbestimmung des
268 Schiller.
Willens ist im psychologischen Mechanismus nicht möglich. (Auch
Kant betrachtete die »Wiedergeburt« als eine imerklärbare Tat
des intelligiblen Charakters.) Dieser Übergang muß also dadurch
vermittelt werden, daß es einen Zwischenzustand gibt, worin weder
der Stoff trieb noch der Formtrieb herrscht und der Wille weder
sinnlich noch sittlich bestimmt, sondern völlig unbestim.mt, d. li.
auch unwirksam ist. Dieser Zwischenzustand ist derjenige der
interesselosen Betrachtung, d. h. nach Kant der ästhetische. Er
ist derjenige, in welchem wir dem Gegenstande nur anschauend,
d. h. weder mit sinnlichem noch mit sittlichem Bedürfnis, sondern
lediglich mit der ^Betrachtung ^gegenüberstehen. Er befreit uns
deshalb von der Herrschaft der sinnlichen Triebe und macht uns
gerade durch seine Unbestimmtheit fähig, dem sittlichen Triebe
zu folgen. Der ästhetisch empfindende Mensch steht nicht mehr
unter der Herrschaft der sinnlichen Natur und ist darum dem
sittlichen Motive zugänglich geworden. Die Überführung aus dem
natürhchen in den sittlichen Stand, für welche Kant die Mysterien
des religiösen Glaubens in Anspruch nahm, wird von Schiller in
der ästhetischen Bildung gesucht. In diesem Zwischen zustande
schweift sowohl die sinnliche Bederde als auch der Ernst
des sittlichen Strebens. Er ist der bewußten Anspannung des
Willens gegenüber derjenige des Spiels; wir wollen nichts von
den Dingen, wir spielen nur mit ihnen, indem die Anschauung
auf ihnen ruht. Diesen Zustand herbeizuführen, gibt es in unserem
Wesen eine ursprüngliche Tendenz, das ästhetische Bedürfnis oder
den Spieltrieb. Seine Tätigkeit besteht also darin, den Form-
trieb und den Stofftrieb gleichmäßig zu paralysieren und alle
unsere Tätigkeiten in einem absichtslosen Spiele zu entfalten.
Ist so der, Spieltrieb ursprünghch als das Mittel gedacht, ver-
möge dessen der sinnliche Mensch fähig wird, dem sittlichen Motive
die Bestimmung auf seinen Willen zu gewähren, so erweist er sich
nun bei Schiller in seinen Wirkungen derart, daß durch ihn erst
das gesamte Wesen des Menschen zur vollkommensten Entfaltung
gelangt. Ist der Mensch nun einmal, was auch die Kantische
Moral nicht leugnen kann, ein zugleich siimliches und übersinn-
liches Wesen, so ist die interesselose Betrachtung derjenige Zu-
stand, in welchem keine der beiden Seiten seines Wesens auf
Kosten der anden n überwiegt, in welchem er für die Einflüsse
Spioltricl). 26<)
von boidon Seiten hvr L'lcicli ciiipfäü^licli ist, inid in welclioin
(leshalb Heine jj;anze, ihm Hpezifisch ei<;one Natur als reinste und
vollkoiunienste Harmonie zum Ausdruck kommt. »Der Mensch
ist nur da wahrhaft Mensch, wo *er spielt.« Seine sinjdi^e Natur
teilt er mit den niederen Wesen, seine sittliche lieatimmunf^ mit
höheren Geistern; das ästhetische Leben, die harmonische Aus-
gleichung des sinnlichen und dos übersinnlichen Elements besitzt
er allein. Es ist zu bemerken, das Schiller diesen Gedanken völlig
selbständig bereits in den »Künstlern« aussprach, einem Gedichte,
dessen Gesamttendenz in einer an Herders Geschichtsphilosophie
anklingenden Weise auf die Herbeiführung der höchsten intellek-
tuellen und sittlichen Kultur durch die Kunst angelegt ist. Der
Antagonismus beider Auffassungen steckte in Schiller schon, ehe
er von Kant einerseits iind von Goethe anderseits abhängig wurde.
Nur die theoretische Formulierunuf änderte sich. So erscheint
denn in seinem Briefwechsel mit Körner und Humboldt und in
den Schriften der neunziger Jahre der ästhetische Zustand
als der spezifisch menschliche und zugleich als derjenige, in
welchem das sinnlich - übersinnliche Wesen des Menschen seine
höchste Ausojestaltunfif findet. Schönheit ist Freiheit und Z\veck-
mäßigkeit in der Erscheinung, ist die Harmonie der sinnlichen
und der übersinnlichen Welt und damit die Vollendung des mensch-
lichen Geistes, der, sonst um die Grenze beider herüber und hin-
über scliwankend, hier die Ruhe in beiden findet. Dies ästhetische
Ideal sieht Schiller in den^ olympischen Göttern verkörpert, und
das ist bei ihm der kongeniale Zug, der ihn zu den Griechen, der
ihn zu Goethe hinführt.
Vor dem Glänze dieses ästhetischen Ideals verblaßt, wo
sich Schillers Betrachtung darin versenkt, das Kantische Moral-
prinzip, dem der Dichter an anderen Stellen bedingungslos huldigt.
Aus solchen Stimmungen erklärt sich der Widerspruch , den er
schon früh gegen den Rigorismus des Philosophen in Ernst und
Scherz äußerte, und der in seinen Schriften bis zum Schluß immer
wieder mit der Anerkennung desselben abwechselt. Von diesen
Gedanken aus verwarf er dann auch auf dem rein ethischen
Gebiete die Notwendigkeit des Antagonismus von Pflicht und
Neigung, der bei Kant geradezu als Merkmal der moralischen Hand-
lung erscheint. Er stellt dagegen das höhere Ideal auf, daß durch
270 Schiller.
die ästhetische Gewöhnung das natürliche Triebleben des Menschen
selbst zu einer Veredlung gelange, worin er nicht mehr nötig hat,
die Regungen der sinnHchen Natur durch die sittliche t 'berzeugung
in erhabenem Ernste zu unterdrücken, sondern von selbst und
durch die Notwendigkeit seiner edlen Natur tut, was das Gesetz
verlangt; er ist dann nicht mehr Sklave der Pflicht, sondern hat
das Sittengesetz zum Naturgesetz seines Wollens gemacht. Dabei
gibt Schiller immer zu, daß ein solches Handeln der »schönen
Seele <<, wenn es aus bloß natürhcher Anlage folgt, moralisch in-
different sei; aber er hält dem Kantischen Rigorismus gegenüber
daran fest, daß eine solche Veredlung der Natur, wenn sie das
unter Mitwirkung des ästhetischen Lebens gewonnene Resultat
der Bildung und der sittHchen Erziehung ist, die höchste Voll-
endung des menschlichen Wesens enthalte, und er begründet den
Wert dieses höheren Ideals namentlich auch mit dem Hinweise,
daß durch diese AVirkung der veredelten Natur der Zustand der
Gesellschaft aus der rohen Natürlichkeit in die Herrschaft des
Vernunftgesetzes übergeführt werde. Er macht damit den Versuch
einen ethischen Wert auch der Handlungen als solcher zu be-
haupten, worauf sich ja schließlich auch Kant in der Rechtslehre
gedrängt sah, und beginnt somit die Bewegung, welche den streng
subjektiven Charakter der Kantischen Ethik wieder verließ, um
ein objektives Prinzip der praktischen Philosophie zu suchen, —
eine Bewegung, von der, wie es sich zeigte, auch Fichte in seinen
späteren Jahren mehr und mehr ergriffen wurde.
Aus dieser verwickelten Stellung Schillers zu Kant erklärt sich
nun der große Einfluß, welchen des letzteren Geschichtsphilosophie
auf den ersteren ausübte. Dies Verhältnis war außerdem durch
die gemeinsame Hinneip^ung zu Rousseau bedingt. Für beide
Männer ist die Geschichte der Prozeß, welcher von der Natur
zur Freiheit führt, aber für Schiller war auf diesem Wege das
Wesentlichste die ästlietische Bildun<i. Schon ehe er mit der
Kantischen Lehre vertraut war, hatte er in den >> Künstlern << den
Gedanken ausgeführt, daß das ästhetische Leben berufen sei, das
verlorene »Arkadien« in höherer Form, als »Elysium«, wieder
herbeizuführen \md den Menschen durch die Befreiung von der
sinnlichen Bedürfti;^keit zur Vollendung seines Wesens zu führen.
Während er so die Kunst zu einem wesentlichen Momente der
Naiv und nontimcnialigch. 271
hiatoriHcluMi I^^iiiwickhin;^' machte, führte er uni^ckolirt in dio
Ästhetik (las Prinzip der j^oHchichtsphilosophischcn
Konstruktion ein. Die reifste und bedeutendste seiner ästhe-
tischen Schriften, diejenige Ȇb^r naive und sentimen talische
Dichtung« (1795— 17%), ist für die Entwicklung der Ästhetik
nicht minder entscheidend geworden als die Kritik der Urteils-
kraft. Ihr Schwerpunkt ist darin zu finden, daß j-ie sowohl die
einzelnen ästhetischen Grundbegriffe, als auch die Arten des künst-
lerisclien, insbesondere des dichterischen Schaffens aus dem ver-
schiedenen Verhalten abzuleiten sucht, worin sich während der
Entwicklung der menchlichen Kultur der Geist zu dem natür-
lichen Zustande des Menschen befindet. Der große Gegensatz des
Naiven und des »Sentimentalischen«, aus dem dabei alles Weitere
abgeleitet wird, läuft darauf hinaus, daß in dem ersteren das
geistige Wesen noch einfach und unbefangen in das natürliche
Dasein eingelebt ist, daß dagegen die Wurzel der Sentimentalität
in dem Gegensatz der geistigen Kultur zur ihrer natürlichen
Grundlacfe beruht. Ist einmal die unbefanüene Einheit der beiden
Seiten der mcnschHchen Natur verloren, so ist das ganze Be-
streben des ästhetischen Triebes darauf gerichtet, sie wieder zu
gewinnen. Während der naive Zustand sich dieser Einheit nicht
als solcher bewußt ist, da in ihm die Gegensätze noch nicht
hervorgetreten sind, empfindet der sentimental^ sie als ein ver-
lorenes Ideal oder als eine Aufgabe, die er nicht völlig zu er-
füllen imstande ist. Aus diesem Grunde deckt sich in der Schiller-
schen Konstruktion der Gegensatz des Naiven und des Sentimentalen
mit demjenigen des Antiken und des Modernen. Die antike Kunst j
und ebenso das antike Leben gelten ihm als wesentlich natürlicb"^^ *-7- ^
und naiv^ Aber dieser Zustand, den die Menschheit verloren hat,^^^^y^^5^
und der für die moderne Sentimentalität als das goldene Zeit-
alter erscheint, ist als solcher nicht wieder zu gewinnen. Für
unsere Kultur ist die Entfremdung von der Natur ein Mangel, /:->,^->5^.
den wir wie eine Krankheit empfinden, und alle Tendenz des
modernen Lebens läuft darauf hinaus, jenen Zustand in einer
höheren, durch das Bewußtsein hindurchgegangenen Form durch w-^^^^
die Kultur selbst wiederzufinden. Die Erreichung dieses Zieles
ist für Schiller wie für Kant und Fichte das Ende, das Ziel des
historischen Prozesses. Und das Streben danach wird deshalb
272 Schiller.
erst in der unendliclien Ferne enden. Aber was die wirkliche
Kultur des Menschen nicht völlig erreichen kann, das vermag die
Kunst in der Anschauung zu leisten. Im ästhetischen Leben ist
jene Zurückführ ung des Kulturgeistes zur naiven Natürlichkeit
möglich, welche im wirklichen Leben niemals ganz gewonnen
werden kann. In der Welt des Schönen ist die Aufgabe erfüllt,
die in dem Gedränge der Wirklichkeit immer wieder in die Ferne
weiter rückt. Ist der Dichter von der Aufgabe dieser Arbeit
selbst erfüllt, und stellt er ihre niemals völlige Erfüllbarkeit in
seinen Werken dar, so ist er der große Idealist; hat er in seiner
ästhetischen Produktion die Aufgabe gelöst, hat er mitten aus
der modernen Sentimentalität heraus die antike Naivität wieder-
gefunden, und vermag er den ganzen Inhalt der mühsam ar-
beitenden Kultur als ein harmonisches Gebilde natürlicher Ein-
fachheit zu gestalten, so ist er der große Eealist. Wenn bei
dieser Gegenüberstellung zweifellos die höhere ästhetische Voll-
endung dem Realisten zufällt, und wenn bei der Zeichnung dieses
Gegensatzes dem Dichter auf der einen Seite die eigenen, auf der
andern die Züge Goethes vorgeschwebt haben, so vollzog er da-
mit eines der größten und edelsten Selbstbekenntnisse. Auch er
verehrte in Goethe das Ideal einer Bildung, in der das natür-
liche und das sittliche Wesen des Menschen aus ihrer Entzweiung,
welche die Kultur mit sich gebracht hat, zu ihrer harmonischen
Versöhnung zurückgekehrt sind, einer Bildung, die dem Natur-
zustand darin gleich und doch über ihn unendlich erhaben isl,
daß sie dasselbe, was jener als Gabe und Instinkt besitzt, ihrer-
seits als ein Bewußtes und Erworbenes genießt.
So nimmt schon bei Schiller die Ästhetik gerade vermöge ihrer
Be^^ründuno; in der Kantischen Lehre die Tendenz, eine bewußte
Zeichnung des Goetheschen Genies zu werden und zugleich das
Ideal jener Bildung aufzustellen, deren Typus eben Goethe ist.
Gerade im Bewußtsein dieser Bildung überragten die beiden
großen Dichter riesenweit das Zeitalter der Aufklärung, aus dem
sie so gut wie Kant hervorgewachsen waren, und sie gaben dieser
Überlegenheit in den Xenien den klassischen Ausdruck. Wenn
später namentlich durch die Romantiker die »Bildung« geradezu
das Stichwort im Gegensatz zur Aufklärung wurde, so lag die
Berechtigung dazu eben in dem, was die beiden großen Dichter
Zweite deulRcho Konaisitnoe. 27.'^
erroidii liatton. Das XVIII. .laiirliundert vorstand unter »Kultur«
des (lüistes eine nüchttM-no llieoretische Erkenntnis und eine nicht
minder nüchterne I\Ioral der Gcnieinniitzigkeit. lli<'r dagej^en ist
Bildung volle und allseitige EntfaRung des nienachlichen Wesens,
daß nichts in ihm verkiunmero, daß jede seiner Tätigkeiten und
Eiihigkeiten ihre ungehemmte Entwicklung in der Harmonie seiner
ganzen Natur finde. Dies Ideal der Bildung, das schon in Shaftes-
burys »Virtuosität« sich angekündigt hatte, erstreckt sich haupt-
sächlich auf die gleichmäßige Entwicklung der sinnHchen und
der übersinnlichen Seite des menschlichen Wesens, und es ist eben
darum in seiner tiefsten Bestimmung ästhetischen Charakters.
So verstanden, ist dies Bildungsbewußtsein der Höhepunkt der
modernen Kulturentwicklung und die wahre Vertiefung der
modernen Kultur in sich selbst. Diese zweite Renaissance der
Deutschen ist nicht nur die Vollendung der ersten, die in der
Mitte unterbrochen worden war, sondern sie enthält auch erst
die Sielbstbewußtwerdung des Grundtriebes, welcher die gesamte
europäische Renaissance beseelte. Hier erst wird man sich be-
wußt, w^elches der tiefste Sinn aller Gegensätze ist, in deren Ver-
söhnung die moderne Kultur ihre Aufgabe findet. Die beiden
Seiten des menschlichen Wesens, deren harmonische Ausgleichung
den Inhalt der Bildung darstellt, haben in der historischen Be-
wegung mannigfache Verhältnisse angenommen. In der antiken
Kultur überwiegt der sinnliche, in der christlichen Kultur der
übersinnliche Mensch. Die volle Versöhnung dieser beiden Ent-
wicklungen zu finden, war von Anfang an die Tendenz der
modernen Kultur. Das sinnliche Wesen des Menschen beherrscht
seine wissenschaftliche Erkenntnis, das übersinnliche bedingt sein
sittliches Bewußtsein und den daran geknüpften Glauben. Und
diese »zwiefache Wahrheit« auszugleichen, ist das stetige Be-
streben des modernen Denkens. Aber die sinnlich- übersinnliche
Natur des Menschen offenbart sich als fertige Totalität nur in
seiner ästhetischen Funktion. Darum war die ganze Renaissance
in erster Linie künstlerisch bewegt. Und darum war das Selbst-
bewußtsein der modernen Kultur in der deutschen »Bildung«,
dieses Selbstbewußtsein, welches sich als die aussöhnende Ver-
schmelzung des antiken und des christlichen Prinzips fühlte, durch
die Einsicht Kants bedingt, daß die ästhetische Funktion die
Windelband, Gesch. d. n. Philos, U. 18
274 Wilhelm von Humboldt. Ästhetischer Humanismus.
Synthesis der theoretisclien und der praktischen Vernunft sei.
Das eben war die große Epoche, daß zu gleicher Zeit diese Syn-
thesis des sinnlichen und des übersinnlichen Menschen in dem
modernen Griechen, in Goethe, lebendig war, imd es ist das un-
sterbliche Verdienst Schillers, diesen Moment bis in seine tiefste
Bedeutung begriffen und seinen Sinn nach allen Richtungen hin
formuliert zu haben. Er ist in Wahrheit der Prophet des Selbst-
bewußtseins der modernen Kultur.
Als einer der hauptsächlichsten Vertreter dieser vollbewußten
. • modernen Bildung ist neben Schiller Wilhelm von Humboldt
l^islir zu nennen. Auch ihm ist das Gleichgewicht des geistigen und
des sinnlichen Wesens das Ideal der menschlichen Ausbildung,
auch für ihn gilt Goethe als die Verkörperung dieses Ideals, auch
sein Interesse breitet sich mit gleichmäßiger Wärme über alle
Wendungen des Kulturlebens in der Geschichte aus, und der
ästhetische Humanismus, der alle diese Bildungsmomente
mit künstlerischer Ausrundung in sich aufgenommen hat, macht
den Grundcharakter seines reichen und vielseitigen Geistes aus.
Aber der feurigen Begeisterung Schillers gegenüber erscheint Hum-
boldt kühler; der ästhetische Humanismus wird bei ihm oft recht
eigentlich eine »interesselose« Betrachtung, und namentlich kommt
gelegentlich bei ihm auch die Exklusivität zur Geltung, wie sie
einem solchen Bildungsideal in der Tat notwendig eigen sein muß.
Auf der anderen Seite ist gerade Humboldt theoretisch und praktisch
dafür eingetreten, den großen Gedanken Schillers von einer ästhe-
tischen Erziehung des Menschen zur Durchführung zu bringen.
Er machte in dieser Beziehung eine ähnliche Wandlung durch
wie Fichte, und während er anfangs versuchte, die »Grenzen der
Wirksamkeit des Staates« ganz nach den Auffassungen des
XVIII. Jahrhunderts zu bestimmen, hat ihm später die Erziehung
des Volkes und als ihre Krönung die ästhetische Bildung für
eine der wichtigsten Aufgaben des Staates gegolten, eine Aufgabe,
an deren Erfüllung er selbst als preußischer Minister besonders
bei der Gründung der Berliner Universität in der segensreichsten
Weise gearbeitet hat. Derselbe allgemeine Begriff der »Bildung«,
in der das ganze Wesen der Menschheit mit harmonischer Aus-
gleichung sich zu entfalten habe, weist endlich auch auf die Ge-
danken zurück, durch welche Humboldt später neben Herder zum
HiHtorischo Bildung. 275
Bc^riiiulrr der Spra eil plii lose )pliic «geworden iat; denn er sieht
in der Sprache, als dem zentralen Herde aller incn.schlichen Kultur,
die Tiiti«;keit des Geistes, sich ini sinnlichen I^aute darzustellen.
Gleich sehr physiologisch und psychologisch, ^deich sehr durch
das Bedürfnis des Gedankens und durcli die Notwendigkeit des
leiblichen Mechanismus bedingt, ist die Sprache die fundamentale
Lebensform, worin das Gleichgewicht der sinnlichen und der
geistigen Natur des Menschen zum Ausdruck kommt, und alle
ihre Bewegungen und Entwicklungen sind durch das Bestreben
reguliert, dies Gleichgewicht, welches sich stets nach der einen
oder andern Seite zu verschieben droht, immer wieder her-
zustellen. Hat er auf diese Weise für die philosophische Be-
handlung der Sprache eine neue Anregung gegeben, der später
besonders August Wilhelm von Schlegel gefolgt ist, so ist es auf
der anderen Seite bekannt, wie er den ersten Schritt zur Be-
gründung der vergleichenden Sprachwissenschaft getan und da-
mit die exakte Forschung in die Bahnen gelenkt hat, welche sie
jetzt geht.
Zu dem Wesen dieses ästhetischen Humanismus gehört in erst'fer
Linie die Universalität der historischen Bildung; er führt
jenes von Herder begonnene Bestreben fort, die Entwicklung der
menschlichen Kultur durch alle ihre Formen hindurch zu ver-
folgen, die Stellung zu begreifen, die innerhalb des ganzen Pro-
zesses die einzelnen Völker mit ihrer Bildung einnehmen, imd
deren reifste Früchte in das eigene geistige Besitztum aufzunehmen.
So beruht auf dieser Tendenz der mächtige Assimilationsprozeß,
durch welchen um jene Zeit der deutsche Geist in einer Reihe
musterhafter Übersetzungen die größten Leistungen fremder
Literaturen sich zu eioen machte und die Schriftsteller anderer
Völker geradezu in deutsche Xationalschriftsteller umwandelte.
So wurde Homer, so wurde bald darauf auch Piaton, so Shake-
speare, so die romanischen Dichter, so wurden schließlich auch
die Schätze der älteren deutschen Literatur für die deutsche Bildung
erobert, und so wurden die Lebenssäfte der früheren Kultur in
das Blut des deutschen Geistes aufgenommen. Den Mittelpunkt
dieser Bewegung bildete die romantische Schule. Ihre Be-
strebungen waren prinzipiell ebenfalls durch den ästhetischen Ge-
sichtspunkt bedingt, den Schiller ausgesprochen hatte, daß nämlich
18*
276 ^^® Romantiker.
die ästhetischen Grundbegiiffe und die poetischen Ideale der
Älenschheit aus einer geschichtsphilosophischen Auffassung ge-
wonnen werden müßten.
Der Kreis der Komantiker ist eine der bedeutsamsten Er-
scheinungen in dieser großen Zeit. So zufäUig und verwickelt
die persönlichen und die literarischen Beziehungen gewesen sein
mögen, durch welche er zusammengeführt wurde, so sehr
tritt doch in ihm die ganze Konzentration eines Ungeheuern
Bildungsstoffes, die den Charakter der Zeitbewegung ausmacht,
in klarer Gestalt hervor: eine unendhche geistige Regsamkeit,
eine unvergleichliche Fülle des Interesses vereinigt in dem Denken
dieser Männer die verschiedensten Richtungen, um sie durchein-
ander zu befruchten. Drei Hauptgesichtspunkte sind es, welche
sie leiten: der literarisch-ästhetische, der philosophische und der
politische; und indem sie diese zu vereinigen suchen, leben sie
dem Ideale, daß eine völlige Neugestaltung des gesamten mensch-
lichen Kulturlebens vor der Tür stehe: es gelte, durch ein reifes
Verständnis alle großen Produkte des menschlichen Geistes in
einer allseitigen Entwicklung zu verbinden und die neue Periode
seiner vollendeten Entfaltuna; herbeizuführen. Nach allen drei
Richtimgen ist es deshalb die historische Erkenntnis, welche für
sie den Boden der Verständigung bilden soll. Selbst im geringen
Maße schöpferisch, zeichnen sie sich durch die Feinheit des
historischen Sinnes und durch die Fähigkeit aus, die Aufgaben
der Gegenwart aus dem vollen Verständnis der Leistungen der
Vergangenheit zu begreifen. Von ihnen ist deshalb zweifellos die
Bewegung ausgegangen, welche das historische Interesse als be-
deutsames Moment in die wissenschaftliche Bildung eingeführt
hat, und sie sind auch in diesem Sinne die äußersten Gegenfüßler
der Aufklärung7 deren größter Mangel in ihrer Unfähigkeit be-
stand, den Wert der Geschichte zu verstehen. An Lessing und
Herder sich anschließend, sind sie die Schöpfer der Literatur-
geschichte und der Kulturgeschichte geworden. Durch sie vor
allem hat die historische Forschung aufgehört, eine Kuriositäten-
sammlung zu sein, und zwar deshalb, weil sie daran den philo-
sophischen Maßstab einer Gesamtentwicklung legten, deren Fazit
die Gegenwart zu ziehen habe. Es ist auch bei ihnen der Kan-
tische Gedanke mächtig, daß nur, wo von einem ^ Ziel der Ge-
PliiloHophiHcli-UsthetiHche Bildung. 277
schichte «^esprodicn wird, sich beurteilen läßt, was in ihr als
^"Fortschritt^ charalvtcrisiort worden darf. So sehr sie sich dabei
im cinzehicii ver<^Tiffen haben, so oft sie genöti;;t gewesen sein
niöjijcn, die noch so «großen Lücken ihres historischen Wissens
durch Konstruktionen auszufidlon, welche sie ihrer allgemeinen
pTiilosophischen und iistlietischen Tendenz entnahmen, und so Hy-
pothesen aufzustellen, welche die strenge Kritik der späteren
Forschung vorwerfen mußte, so sollte doch diese Kritik nicht
vergessen, daß der historische Geist, der ihr Gewissen bildet,
gerade durch den ausgedehnten Einfluß der Romantiker am leb-
haftesten geweckt worden ist.
Als nach mancherlei Vorbereitungen dieser Kreis sich zuerst
in Jena zusammenfand, waren es drei große Interessen, die ihn
belebten: die französische Revolution, die Goethesche Dichtmig
und die Kantisch-Fichtesche Philosophie. Aus ihrer Vereinigung
sahen die Romantiker die Morgenröte der neuen Zeit herauf-
dämmern, und deren Licht suchten sie in einer Bildung, durch
welche diese drei »Tendenzen« sich gleichmäßig konzentrieren
sollten. Die Herbeiführunor eines vernünftigen Zustandes der
menschlichen Gesellschaft, welche den Trieb der Revolution bil-
dete, schien ihnen nur dadurch möglich, daß der Geist der
Vernunftüberzeugung, den Fichte predigte, zum Durchbruch
kommt, und ein allgemeiner Durchbruch dieses Geistes schien
ihnen wiederum nur durch den Sieg jener universellen und har-
monischen Bildung möglich, welche Goethe repräsentierte. Die
Hoffnung der Gesellschaft müsse deshalb darauf gerichtet sein,
daß die Philosophie der Vernunft und die ästhetische Bildung
sich miteinander vereinigten. Alle Linien der menschhchen
Kultur laufen an dem Punkte zusammen, wo der Dichter und
der Philosoph auf derselben Stelle stehen müssen. Die Philo-
sophie soll den ganzen Gehalt der ästhetischen Bildung in sich
aufnehmen, und damit soll zugleich die ästhetische Bildung ihre
bewußte Vollendung finden, um die Macht des öffentlichen Lebens
und die Grundlage einer neuen Form der Gesellschaft zu werden.
Der leitende Gedanke der Romantiker ist das totale Ineinander-
auf gehen von Dichtung und Philosophie. Sie waren weder große
Dichter noch große Philosophen. Darum konnten ihnen die
Grenzen beider Gebiete sich verwaschen. Sie waren Männer von
278 Novalis.
universeller Bildung, Kritiker von bedeutenden Gesichtspunkten
und feinfühlende Bearbeiter der großen Gedanken, welche die
Zeit produziert hatte, und welche sie mit einem einzigen Griffe
zusammenzufassen hofften.
In philosophischer Hinsicht sind sie durchgängig von Fichte
beeinflußt, unter dessen persönlicher Einwirkung sie sich in
Jena befanden, und unter den Grundbegriffen seiner Lehre ist
es hauptsächlich derjenige der ^ produktiven Einbildungskraft,
welcher die Brücke zu den ästhetischen Interessen bildete, von
denen sie anfangs herkamen. Fichte gründete im Sinne des
transzendentalen Idealismus die äußere Welt auf eine Funktion
der schöpferischen Phantasie,' — derselben Phantasie, schien es,
welche im Künstler tätig ist. Bei geringer Neigung zu begriff-
licher Schärfe sahen die Dichterphilosophen der Romantik darin
eine vollkommene Gleichsetzung beider Funktionen, und so ver-
,JU^3 wandelte sich für Novalis die natürliche Wirklichkeit in eine
traumhafte Schöpfung der Phantasie. Wie er als Anhänger der
Naturphilosophie sich ganz in ein spielerisches Analogisieren verlor,
so nahm sein »magischer Idealismus« eine schillernde Doppel-
stellung zwischen Dichtung und Philosophie ein. Zwar biUigte
er in persönlicher Überzeugung den ethischen Idealismus, mit
dem Fichte die Welt als ein Material der Pfhcht ansah, aber er
selbst war im Gegensatz dazu eine weiche, träumerische Natur,
und so ist ihm auch die weltschöpferische Tätigkeit des Ich
nicht die ernste Arbeit des sittlichen Willens, sondern vielmehr
ein träumerisches, phantastisches Walten. »Die Welt wird Traum,
der Traum wird Welt.« Das JMärchen, als die Dichtungsart, in
der Wirklichkeit und Phantasie am meisten ineinander über-
gehen, in der alle Gestalten mit unbestimmter Vieldeutigkeit in-
einanderfließen, gilt ihm recht eigentlich als die höchste mensch-
liche Produktion. In Märchen entwickelt sich seine poetische
Philosophie, und in ihr gewinnt deshalb die Welt selbst einen
märchenhaften Charakter, vermöge dessen alle bestimmten Ge-
stalten in die allgemeine Verwandelbarkeit untergetaucht werden.
Sein unvollendeter Roman »Heinrich von Of terdingen «, der zugleich
eine Philosophie und eine Dichtung sein will, ist ein wunderlicher
Vexierspiegel, in welchem vor lauter Gleichnissen, Verwandlungen
imd Allegorien jeder faßbare Inhalt in ungreifbare Ferne zurückflieht.
Friedri(^h voi» Schlegel. 279
Wenn (losluill) boi Novalis die Diclitun^ und die PliiloHophie
glcic'liniülii^^ sich in eine tniuinhaftc Diimnicrunp; auflÜHen, so
treten die Tendenzen der Romantiker mit um so schärferer Zu-
spitzung bei Friedrich von "Schlegel (1772 — 1820) h<MV<;r.
Dieser merkwürdig begabte und doch im letzten Grunde pro-
duktionslose Kritiker hat jede Wendung, welche das romantische
Denken in dem Jahrzehnt von 1794 bis 1804 durchgemacht hat,
auf den schärfsten Ausdruck gebracht, mit übermütiger liück-
sichtslosigkeit zugespitzt und durch die Übertreibung selbst wieder
zerstört. Persönlich eine intrigante und skandalsüchtige Natur,
ist er der Trommelschläger der Romantik gewesen und zeigt nach
den guten und nach den schlechten Seiten hin vielleicht am voll-
kommensten das merkwürdige Wesen dieses interessanten Kreises.
Von Lessing und Schiller ausgegangen, an Goethe und Fichte
emporgerankt, hat er das Prinzip der Romantik auf seine typische
Form gebracht und hat schließlich zu derselben Zeit, als Sclielhng
seine theosophische Wendung nahm, aus Verzweiflung an der
Durchführung jenes romantischen Ideals einer neuen Gestalt der
menschlichen Kultur im Schöße der römischen Kirche geendet.
Wie Schiller das Griechentum, so idealisierten die Romantiker
das Mittelalter. Schon bei Novalis tritt die Neigung hervor,
jene inmgeVerschmelzung der philosophischen, literarischen und
poHtischen Bestrebungen, jene volle Dm-chdringmig aller mensch-
lichen Lebenstätigkeiten, welche die Romantik suchte und selbst
nicht zu schaffen vermochte, in einer ähnlichen Unterwerfung
der gesamten Kultur miter ein religiöses Prinzip zu finden, wie
sie das Wesen des Mittelalters ausmacht, und Friedrich Schlegel
ist der erste von den zahlreichen Vertretern des romantischen
Prinzips gewesen, welcher in der radikalen Art, die ihm bei-
wohnte, durch den Übertritt zur katholischen Kirche diesen Weg
in der Tat einschlug. Das lag weit ab von den Bahnen, die er
anfangs gewandelt w^ar. Zu dem Opfer der persönlichen Über-
zeugung gelangte er erst, nachdem er von der schwindelnden
Höhe der äußersten Subjektivität herabgestürzt war.
Die Theorie, womit er die Romantik zu begründen gedachte,
entwickelte sich in ihm aus seiner Auffassung Schillerscher imd
Fichtescher Gedanken, welche mehr ein Mißverständnis als eine
absichtliche Umdeutung enthielt; sie ist hauptsächlich in den
fiJüUt
2g0 Friedrich von Schlegel.
>> Cliarakteristiken und Kritiken« (1801) und in den Fragmenten
niedergelegt, welche er in dem von ihm und seinem Bruder 1799
und 1800 herausgegebenen »Athenäum« veröffentlichte. Den
Schillerschen Gegensatz von naiv und sentimental führte er zu-
erst sehr glücklich namenthch nach der Eichtung aus, daß der
naive oder »klassische Dichter« derjenige sei, welcher gewisser-
maßen in seinem Stoff aufgehe und dahinter verschwinde, wäh-
rend bei dem sentimentalen oder »romantischen« Dichter seine
Persönlichkeit im Vordergrunde stehe und auf den behandelten
Stoff ihr eigenes Licht werfe. Den antiken Dichter vergessen
wir und versenken ims in die Welt, die er darstellt; zu dem
modernen Dichter haben wir ein persönhchcs Verhältnis und
beziehen den von ihm behandelten Stoff auf ihn selbst. Das
Wesen der modernen oder »romantischen« Dichtung besteht
also in dem Vorwalten der Subjektivität. Der moderne Künstler
ist die große bedeutende Persönlichkeit, welche freigestaltend
über ihrem Stoffe schwebt und ihn aus ihrer Phantasie erzeugt.
So erscheint hier die produktive Einbildungskraft nicht mehr
wie bei Fichte als allgemeine Vernunfttätigkeit, sondern als die
schöpferische Phantasie des Dichters; diesem wird von Schlegel
die absolute, grundlose Freiheit zugeschrieben, und die Vernunft-
notwendigkeit verwandelt sich in die Willkür des genialen Indi-
viduums. Das gilt bei den Romantikern zunächst hinsichtlich
der Ästhetik. Was man Gesetze oder Regeln der Kunst ge-
nannt hat, sind die Launen der großen Künstler, und der ästhe-
tische Genuß ist das kongeniale Mitleben in ihrer schöpfe-
rischen Willkür, ist die Bewunderung der Größe und Freiheit
ihrer Persönhchkeit. So gestaltet sich bei diesen Männern das
ästhetische Leben wesentlich zu einem Kultus der Genialität,
und ihre Theorie enthält nach dieser Seite hin die bewußte
Vertiefung jener ersten leidenschaftlichen Bewegung, welche als
»Sturm und Drang« sich gegen die Knechtung des künstlerischen
Triebes unter regelrechte Formen aufgebäumt hatte; sie wendet
sich zugleich, Herders Gedanken fortführend, mit verächtlichem
Hohne gegen die »platte« Aufklärung, die auch das Dichten zu
einer verstandesmäßigen Arbeit hatte machen wollen.
Aber Friedrich Schlegel führt dies Prinzip mit kecker Rück-
sichtslosigkeit auch in die Moral hinüber. Auch hier statuierte
Oonialo INForrtl. 281
er wie Jacobi das Kocht dos genialen Individuums, sich selbst
das Gesetz zu <:;eben und sich über die Kej^elii zu (Theben, die
im gemeinsamen Leben für den Philister mit seiner prosaischen
Nüchternheit gelten. Auch Ficlit«' war, damit Jacobi sich nähernd,
in seinen Lehren um die Wende der beiden .lalirliunderte, mehr
und mehr von dem Kantischen Prinzip abj^ekommen, wonach
alle ethische Wcrtbcstimmun^^ von der Erfüllun«,' allgemeiner
Maximen abhängig gemacht werden sollte; auch er hatte mehr
und mehr das sittliche Eigenrecht der individucllenUestimmung*
und den Freiheitswert der Persönlichkeit anerkannt. Aber bei
den Romantikern nahm nun der Kultus der Genialität auf dem
moralischen Gebiete die Form der bedenkhchsten Exklusivität
an. Es gehört zu den Eigentümlichkeiten der geistigen Bewegung
des XV in. Jahrhunderts, daß sie sich auf enggeschlossenem ge-
sellschaftUchen Boden abgespielt hat, und dieser Umstand ist bei
den Romantikern zu einem bewußten Gegensatze zwischen ihrer
eigenen genialen Freiheit und der großen Masse der Alltags-
menschen'' geworden. Wie sie sich in ihrem wirklichen Leben
nicht scheuten, sich über die Regeln der allgemeinen Moral hin-
wegzusetzen, so besaß Friedrich Schlegel den Übermut, diese ge-
setzlose Willkür als ein Recht der genialen Naturen in Anspruch
zu nehmen. Sein Roman >>Lucinde« (1799) proklamierte eine ^ ^j
geniale Moral, der es wesentlich sei, die Schranken der gewohnten ''
Sitte zu durchbrechen, und entwickelte diese hauptsächlich in
einer Polemik gegen diejenige Institution, an welcher die Roman-
tiker selbst am meisten sündigten, gegen die Ehe. Indem er
den ästhetischen Begriff einer"^ freien Liebe^ aufstellte , worin das
sinnhche und das geistige Wesen des Menschen gleichmäßig zur
Geltung kommen sollen, mochte er manchen prosaischen und
hyperspirituellen Auffassungen gegenüber so weit im Rechte sein,
daß Schleiermacher diesen im Grunde genommen auf Schillers
Ästhetik zurückweisenden Gedanken in seiner durchaus idealen
Weise durch die »Vertrauten Briefe über die Lucinde« (1800)
verteidigen konnte. Aber die Durchführung jenes Gedankens in
Schlegels Roman selbst, weit entfernt, eine harmonische Ver-
schmelzung des sinnlichen und des geistigen Elementes der Liebe
zur Darstellung zu bringen, erging sich vielmehr teils in Lüstern-
heit, teils in völlig verfehlter Phantastik. Die geniale Moral der
282 Friedrich von Schlegel.
Lucinde zeigt aber auch darin ihren ästhetisierenden Charakter,
daß sie die interesselose Betrachtung als ethischen Selbstzweck
ansieht. Die sittHche Funktion des Genies ist der Selbstgenuß
seiner schöpferischen Phantasie, sie richtet sich nicht auf irgend-
welche praktische Tätigkeit, sie dient weder dem eigenen noch
_ dem fremden Nutzen; keines der Ziele, welche man im gemeinen
Leben*^ sittlich nennt^ hat sie zu ihrem Gegenstande, sie ist keine
, Arbeit, sondern der in seiner eigenen Freiheit schwelgende Genuß.
Der Müßiggang ist das Ideal des, Genies und die Faulheit die
romantische Tugend. Aus der rastlosen Arbeit des ethischen Ich
ist bei Schlegel das ästhetische Spiel der Phantasie geworden.
Arbeit mit allen ihren Zwecken des Alltagslebens bleibe dem
Philister: das Genie hat, wie die olympischen Götter, in seiner
Freiheit nur die Aufgabe, sich selbst auszuleben und sich selbst
zu genießen.
Die Abhängigkeit und die Verschiedenheit des romantischen
von dem Fichteschen Denken tritt hier in voller Klarheit hervor.
Auch das Fichtesche Ich ' war nur mit sich selbst beschäftigt ;
aber in der sittlichen Arbeit, die Aufgabe zu realisieren, die sein
Wesen ausmacht, war es unendliches Streben. Das romantische
Ich soll in seiner Selbstbeschäftigung nur den Launen seiner
Phantasie folgen, es ist unendliches Spiel. Von diesem Gegensatz
V aus gewinnt Schlegel die tiefste Begriffsbestimmung des roman-
^/^v^' tischen Prinzips unter dem Namen der Ironie. Er knüpft sie
an Fichtes Bestimmung, daß das Ich über jede selbstgesetzte
Schranke wieder hinausgeht, und überträgt diese Lehre auf die
Phantasie des Genies. Die Ironie des künstlerischen Schaffens
besteht darin, daß das Spiel der Phantasie jedes ihrer eigenen
Produkte wieder auflöst, daß sich die Freiheit der Subjektivität
in der Willkür offenbart, mit der sie in keinen ihrer Gegenstände
aufgeht, sondern, stets darüber herrschend, ihr Spiel beliebig fort-
setzt und diesen ihren Triumph über den Stoff genießt. Das
war die theoretische Ansicht, welche m Verbindung mit dem
Mangel an wahrer Gestaltungskraft den Produkten der Roman-
tiker, besonders von Novalis und Friedrich Schlegel selbst, den
Charakter der Formlosigkeit aufdrückte: schon die Lucinde,
welclie das Muster dieser Art poetischen Schaffens sein sollte,
war nach dem treffenden Ausspruch der romantischen Chor-
Ironie. 283
fiihrorin Caroline ein totgeborenes Kind, das der PedantiHmu»
mit der Sünde statt mit der Pliantasie Rezeugt hatte. Die iro-
nische Willkür läßt es zu keiner bestimmten Gestaltung kommen,
jeder Versuch dazu wird wieder vernichtet, und der an sich end-
lose Prozeß dieser Selbstironisierun;^ wird srhlicüiicli nur will-
kürlich abgebrochen. Hierin besteht der wahre Gegensatz des
romantischen ffegen das klassische Prinzip. Während nach dem
letzteren jeder Gegenstand in der künstlerischen Anschauung seine
volle Ausprägung findet, ist in der romantischen Kunst alles nur
__angedeutet, oft nur allegorisch versucht, und das ganze W^erk
zeigt ein unendliches Ringen, zu einem Abschluß zu kommen, der
nie erreicht wird — ein Ergebnis, das auf einem anderen Gebiete
der Gegenwart als die »unendliche Harmonie« in der Zukunfts-
musik bekannt ist. Darin wieder zeigt sich die nahe Verwandt-
schaft dieses Prinzips mit dem Fichteschen.
Aber der Begriff der stetigen Beschäftigung mit sich selbst
führt Schlegel noch weiter: der Standpunkt der Ironie verlangt
von der Philosophie, immer nur das Philosophieren selbst, von
der Dichtung, immer nur das Dichten selbst zu ihrem Gegen-
stande zu machen. Für die romantische Auffassung wird des-
halb der reale Inhalt sowohl des phüosophischen Problems als
auch der poetischen Darstellung gleichgültig. Sie philosophiert
nur, um zu philosophieren, sie dichtet nur, um zu dichten, und
ihr Interesse liegt deshalb nur bei der Form ihrer eigenen Tätig-
keit, worin deren Freiheit zum Genüsse des künstlerischen Be-
wußtseins kommt. Das »Tun des Tuns« wird ernsthch durch-
geführt. Das W^esenthche der Philosophie ist, sich mit den
Formen zu beschäftigen, welche sie schon entwickelt hat, und in
der Zusammenfassung von deren geschichtlichem Wechselspiel ihr
eigenes Wesen zu gestalten, und in den poetischen Versuchen der
Romantiker nimmt das Wesen des Dichtens und des Dichters
eine große Ausdehnung unter ihren Gegenständen ein. Damit
hängt denn auch die historische Tendenz zusammen, welche die
Romantiker zur Geschichte der Philosophie und der schönen
Literatur führte.
Die Anschauungen des romantischen Kreises würden jedoch
auf die allgemeine Entwicklung der deutschen Phüosophie keinen
so großen Einfluß gewonnen haben, wie es wirklich geschehen ist,
284 Schelliog.
wenn ihm nicht der Hauptträger dieser Entwicklung angehört
hätte. Durch persönliche Beziehungen war Schelling in den letzten
Jahren des Jahrhunderts mit den Romantikern so verbunden, daß
er völlig zu ihnen gezählt werden muß. Zu dem unendlichen
Reichtum seiner Begabung gehörte nicht nur die dichterische
Produktivität, sondern vor allem auch eine hohe ästhetische
Empfänglichkeit. Die Bewunderung Goethes ist dabei ein wesent-
liches Bindeghed zwischen ihm und den Dichtern, Kritikern und
Rezensenten, die sich um die romantische Fahne scharten. Allein,
was Schlegel zwar immer geistreich, aber meist paradox und oft
als unverdauten Einfall hinwarf, das gestaltete sich in dem großen
Sinne Schellings zu einer klar gedachten Theorie, und so sehr
sich die Romantiker persönHch von Schiller entfernen mochten,
so war es doch die Aufnahme des Schillerschen Gedankens in
die Transzendentalphilosophie, vermöge deren Schelling eine Um-
wandlung seiner Lehre vollzog, welche als die abgeklärteste Gestalt
der romantischen Philosophie und als das vollkommenste Denkmal
der Durchdringung des philosophischen und des ästhetischen
Denkens angesehen werden muß. Diese Wandlung besteht der
Hauptsache nach in einer allgemeinen philosophischen Ausbeutung
der ästhetischen Theorie, die Schiller als echter Kantianer auf
den subjektiven Prozeß der ästhetischen Funktion des Menschen
bezogen, aber doch auch schon teilweise in eine objektive Be-
stimmung umgedeutet hatte. Sie ist niedergelegt in der Schrift:
»Der transzendentale Idealismus« (1800) und in den Vorlesungen
über die Philosophie der Kunst, die Schelling zuerst im Winter
1799 auf 1800 in Jena hielt, und deren Inhalt, allerdings in der
Redaktion, welche sie erst bei ihrer Wiederholung in Würzburg
erhielten, in seinen Werken vorhegt.
Der transzendentale Ideahsmus soll die Lehre vom Ich sein,
wie die Naturphilosophie die Lehre vom Werden des Ich ist. Zum
Wesen des Ich aber gehört nach Fichte der Gegensatz der be-
wußtlosen und der bewußten Tätigkeit; der Akt, durch welchen
der Inhalt des Bewußtseins erzeugt wird, ist als solcher not-
wendig immer bewußtlos. Aus dem gegenseitigen Verhältnis dieser
beiden Elemente ergab sich die Disjunktion der theoretischen
imd der praktischen Wissenschaftslehre. Diese wird von Schelling
im wesentlichen unverändert übernommen. Aus der Abhängig-
IMiiloHophio der Kuntt. 285
koit (1<M' l)(*\vußl(Mi von drr unhcwiiüton Täii/^'kelt cr^'ibt kJcIi <Iio
thoorotisrho Reihe dos Hewuüt.scinH, die, von der Einjifiiidun^
jinhebcnd, durrh die Anschauung' und das Denken bis zur vollen
Freiheit des Selhstbewußlseins iftifstei«^t, worin das Ich sich selbst
schließlich als Wille begreift und verwirklicht. Aus der BcRtirnmt-
heit der bewußtlosen durcli die bewußte Tätigkeit ergibt sich die
j)raktische Reihe des Bewußtseins, die sich in der gemeinsamen
Jjebenstätigkeit der Individuen als die Entwicklung der Freiheit
durch die Oeschichtc darstellt.
Nach diesen beiden Richtungen folgt Schelling den Lehren von
Kant und Fichte besonders in der Erkenntnistheorie und Geschieh ts-
philosophie und zeigt dabei doch eine große Selbständigkeit teils
in der dialektischen Anordnung des reichen Stoffes, teils in
der Auffassung der einzelnen Probleme: allein darüber hinaus
fügt er nun jenen beiden Reihen eine abschließende Synthese hinzu,
die zwar auf der Kritik der Urteilskraft und auf der Schillerschen
Lehre vom Spiel trieb prinzipiell beruht, aber doch in dieser Aus-
führung völhg originell ist. Während das Ich sowohl in der theo-
retischen als auch in der praktischen Reihe mit einseitiger Be-
stimmtheit auftritt, muß eine höchste Form seiner Entwicklung
gesucht werden, in welcher es zu seiner vollendeten Erscheinung
kommt. Bei Fichte wie bei Kant ist der Gegensatz des Theore-
tischen und des Praktischen derjenige zweier Linien, die sich erst
im Unendlichen treffen; aber das Ich ist einheitlich, und so muß
diese seine Einheit des bewußtlosen und des bewußten Tuns auch
zur Erscheinung kommen: es muß neben dem theoretischen und
dem praktischen Ich eine Funktion der Vernunft geben, worin
der Gegensatz jener beiden Tätigkeitsformen aufgehoben ist. Diese
Funktion ist die ästhetische; denn das Genie, durch welches sie
bedingt ist, ist die bewußtlos-bewußte Tätigkeit des Ich; sein Pro-
dukt, die Kunst, ist deshalb die vollendete Darstellung vom Wesen
des Ich. Die Wissenschaft als das Produkt des theoretischen Ich
und die Moral in ihrer Entwicklung; durch die Geschichte als das
Produkt des praktischen Ich enthalten beide einen progressus in
infinitum; nur die Kuns^; als das Produkt des ästhetischen Ich
enthält die fertige Lösung der Aufgabe, an der jene beiden ar-
beiten. Soll in der theoretischen Funktion das Bewußte vollständig
durch das Bewußtlose, soll umgekehrt in der praktischen Funktion
;
286 Schclling.
das Bewußtlose vollständig durch das Bewußte bestimmt sein,
80 erreichen beide ihr Ziel erst in der Unendlichkeit, d. h. in der
Erfahrung niemals. Die Kunst dagegen zeigt in der Erscheinung
selbst das Gleichgewicht der bewußtlosen und der bewußten Tätig-
keit, worin sie sich gegenseitig vollständig bestimmen, und worin
keine über die andere überwiegt. Das Genie ist die Intelligenz,
die_als Natur wirkt. In der Kunst allein decken sich die sinn-
liche und die geistige Welt, die sonst überall entweder aus-
einander oder aufeinander zu streben. Das Kunstwerk ist daher
die vollkommene Darstellung des Ich in der Erscheinung, die Kunst
ist daher das höchste Organon der Philosophie; denn sie enthält
die Lösung des Problems, an welchem das philosophische Denken
arbeitet. Jedes wahre Kunstwerk ist eine Welt in sich, eine zur
vollkommenen Ausgestaltung gelangte Erscheinung der absoluten
Welteinheit; in ihm ruhen der Trieb des Denkens und der Trieb
des Willens. Ihr Gegensatz ist aufgehoben, und die Arbeit des Ich,
das sich selbst realisieren will, ist vollendet in der Anschauung, welche
die Tätigkeit des Ich zu vollkommener Harmonie entwickelt hat.
Getreu dem Zuge der idealistischen Weltanschauung deutet
SchelUng die psychologischen Bestimmungen, unter denen Kant
und Schiller die künstlerische Produktion und den ästhetischen
Genuß begriffen hatten, zu allgemeinen philosophischen Auf-
fassungen um, und die abschließende und vollendende Stelle, welche
nach Schiller die Romantiker dem ästhetischen Moment für die
Entwicklung des menschlichen Geistes zuwiesen, führt bei SchelUng
dazu, daß die Kunst als der Kulminationsbegriff in der meta-
physischen Konstruktion der Transzendentalphilosophie erscheint.
Die Kunst ist die Vollendung des Weltlebens, sie ist die reifste
Erscheinung des Ich, das den Urgrund aller Wirklichkeit bildet.
Damit ist das ästhetische Moment zu dem bestimmenden der
Weltauffassung geworden, aus dem Kantischen und Fichtescheu
hat sich der ästhetische Idealismus entwickelt.
Damit ist aber zugleich die Ästhetik nicht nur zu einer,
sondern zu der abschließenden Disziplin der Philosophie geworden.
Sie ist unter diesem Gesichtspunkte wesentlich eine metaphysische
Lehre von der Kunst. Sie betrachtet alles ästhetische Leben
nur in Beziehung auf die künstlerische Tätigkeit. Der Genuß
eines Naturschönen gilt hier nur als abgeleitet und analogisch,
IdeuiifdiBiystcm. 2H7
und die Äsilioiik entwickelt »ich demnach in eine Deduktion de«
Systeuia der Künste. Nach dem diah^ktiHchen Schema werden
diese aus dem alli^^cmeincn Wesen der Kunst abgeleitet, und es
wird schließlich «;ezeit^t, daß jehes all^jcmeine Wesen der Kunst
am reinsten und vollkommensten in der Poesie zur Darstellun«^
kommt. Mit icicher Sachkenntnis und feinstem Geschmack ent-
ledigt sich Schclling dieser Auf{j;abc, und diese seine Vorlesungen
über die Philosophie der Kunst sind, obwohl erst nach seinem
Tode gedruckt, doch durch ihren persönliclicn Einfluß das
Fundament geworden, auf dem jahrzehntelang der Ausbau der
ästhetischen Theorien in Deutschland erfolgt ist.
§ 66. Der absolute Idealismus.
Schellings Identitätssystem.
Der Einfluß des ästhetischen Moments auf die Entwicklung
der deutschen Philosophie zeigt sich nicht nur materiell in der
Bedeutung, welche die Kunst für die Weltanschauung gewann,
sondern mit gleicher Bedeutsamkeit auch formell. Es ist
wesentlich das ästhetische Bedürfnis, vermöge dessen in jener
Zeit von den verschiedensten Seiten her verlangt wurde, daß die
Philosophie ein in sich geschlossenes System absoluter Totalität
sein sollte, das aus seinem inneren Wesen heraus den Gegensatz
aller seiner besonderen Aufgaben erzeuge und sich in ihrer Lösung
schließlich zu einer harmonischen Versöhnung zusammenfasse.
Diesen Gedanken, den schon Hamann in seiner mystischen Un-
klarheit hingeworfen hatte, vertritt auf dem Fichteschen Stand-
punkte die interessante Abhandlung, mit der Hülsen die Preis-
frage der BerHner Akademie über die Fortschritte der Metaphysik
seit Leibniz und Wolff beantwortet hatte (gedruckt 1796). Derselbe
Gedanke bewegte und beseelte die poetischen, aber nicht zur
Klarheit vordringenden Spekulationen, mit denen sich Hölderlin,
Schellings und Hegels Freund, abmühte und später auf Hegel
bedeutungsvoll einwirkte. Das gleiche Ziel betont sowohl in
seiner Korrespondenz als auch in den Fragmenten Friedrich
Schlegel. Aber die wichtigsten Folgen, welche dies Prinzip gehabt
hat, zeigen die großen Systeme Schellings und Hegels. Von ihm
aus erhielt Ficht es dialektische Methode eine neue Bedeutung.
288 Schelling.
Ihre ^riplizität mit dem Schema von Thesis, Antithesis und
Synthesis brauchte nur vollständig auf alle Teile der Philosophie
angewendet zu werden, um diese im ganzen wie im einzelnen
dem ästhetischen Bedürfnis entsprechend zu gestalten. So haben
sich die Lehren der deutschen Philosophie zu dialektischen Be-
griffsdichtungen entwickelt, Weltgedichten, die mit künstlerischer
Komposition auf die Entfaltung der Gegensätze und ihre schUeß-
lich harmonisch austönende Ausgleichung gerichtet sind.
Dies ästhetisch - philosophische Bedürfnis wendet sich bei
Schelling zunächst dem Gegensatze der Naturphilosophie und der
Transzendentalphilosophie zu. Er hatte das Verhältnis dieser
Wissenschaften zueinander zwar aus den Prinzipien der Wissen-
schaftslehre abgeleitet, aber beide Teile hatten sich ihm unter
den Händen derartig umgebildet, daß er sie nicht mehr darauf
zurückführen konnte. Die Natur war ihm durch die philosophische
Behandlung selbständig geworden und stand ebenbürtig dem
Ich gegenüber, dessen Funktionen die Transzendentalphilosophie
deduzierte. Aber beide Teile wiesen stetig aufeinander hin. Der
Prozeß der Natur hat zu seinem Ziele die Genesis des Ich, und
dieses wieder entfaltet den Gegensatz seiner theoretischen, prak-
tischen und ästhetischen Funktionen nur durch die Verschieden-
heit der Beziehungen, worin es sich zur Natur befindet. Darin
zeigt sich, daß die Natur und das Ich beide auf demselben
Grunde beruhen, und daß jene beiden Teile der Philosophie einer
höchsten Begründung bedürfen, vermöge deren ihre Gegenstände
aus dem gerr einsamen Grunde abgeleitet werden. Diesen aber
konnte Schelling nicht mehr wie Fichte als das reine oder ab-
solute Ich bezeichnen, zumal da er sich mehr und mehr daran
gewöhnt hatte, das Wort Ich in dem gewöhnlichen Sinne des
individuellen Selbstbewußtseins zu gebrauchen; sondern er nannte
ihn jetzt schlechthin das Absolute oder die absolute Vernunft.
Das hatte zugleich seinen Grund darin, daß diese Tendenz den
romantischen Denker immer energischer von Kant und Fichte
zu Spinoza zurückzog, dessen Einfluß, wenn auch in jener von
Herder und Gv-ethe vermittelten Form, bereits in den noch un-
entwickelten Darlegungen seiner Jugendschriften und besonders
in dem pantheistischen Zuge der Naturphilosophie sich fühlbar
gemacht hatte. Jetzt war Schelling durch die eigene Entwicklung
Nü08|)MH>/iHIUUH. 2H'J
in (Ion briiloii ToIUmi seiner Lehre auf einen («cpensatz von Natur
und deist gestoßen, welcher dem Spinozistischcn der göttlichen
Attribute Ausdohnunj' und Denken nahe verwandt schien, urul
die Absicht, für die NaturphiIos()i)hie und die Transzendentiil-
philosophie eine geiueinaanie Begründung zu finden, führte von
selbst zu einer Lehre, welche in Natur und Geist die beiden Er-
scheinungsweisen des Absoluten" sah; bald hat denn auch Schelling
wie Spinoza und mit gleich viel und gleich wenig Kecht wie
dieser, das Absolute Gott genannt. Mit dieser Wendung Schellings
beginnt daher dasjenige, was man als Neospinozismus der
tieutschen Philosophie bezeichnet hat. Wenn man diese Eichtung
mit Recht als eine Verschmelzung der Kantischen und der Spino-
zistischcn Prinzipien ansieht, so darf man doch eben nicht ver-
gessen, daß die Auffassung Spinozas dabei wesentlich immer durch
das vitalistische Prinzip alteriert war, das schon bei Herder aus
der Einwirkung von Leibniz herstammte. Die Stärke des Ein-
flusses Spinozas zeigt sich aber auch äußerlich darin, daß Schelling
sogar die geometrische Methode der Ethik mit ihren Axiomen,
Lehrsätzen, Beweisen und KoroUarien in der »Darstellung meines
Systems der Philosophie« (1801) nachahmte, einer Schrift, die
freilich schon bei der Naturphilosophie abbrach und auch wesent-
lich nur nach dieser Seite in anderen gleichzeitigen Abhandlungen
ergänzt wurde. Sa veröffentlichte er den Aufsatz »Über den
wahren Begriff der Naturphilosophie« in der »Zeitschrift für
spekulative Physik« (1801) und die »Ferneren Darstellungen aus
dem Systeme der Philosophie« in der »Neuen Zeitschrift für
spekulative Physik« (1802), so das Gespräch »Über das ab-
solute Identitätssystem« und den Aufsatz »Über das Verhältnis
der Naturphilosophie zur Philosophie überhaupt« in dem »Kri-
tischen Journal der Philosophie«, so trug er endlich das »System
der gesamten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere«
in den AVürzburger Vorlesungen vor, die erst aus dem hand-
schriftlichen Nachlaß herausgegeben worden sind.
Die^ intellektuelle Anschauung, von welcher der metaphysische
Idealismus nach Kant ausgehen mußte, ist bei Schelling nicht
mehr die Fichtesche Selbstanschauung des Ich, sondern mit einer
gewissen Zurückbiegung zu dem Kantischen Begriffe, aber mit
einer metaphysischen Umbiegung seines erkenntnistheoretischen
Windelband, Gesch. d. n. Philos. U. 19
290 Schelling.
Sinnes, die ^^ Anschauung des Absoluten. Diese kann nicht
auf irgend einem Wege des Denkens erworben und demonstriert
werden; sie ist vielmehr eine geniale Intuition, ohne welche für
diesen Standpunkt keine Philosophie möglich ist. Da aber auch
der anschauende endliche Geist eine Funktion und Erscheinung
des einen Absoluten ist, so enthält die Anschauung, welche der
Philosoph von Gott hat, doch zugleich eine Selbstanschauimg
des Absoluten selber, und es ergibt sich daraus der Begriff
des "absoluten ^ als Jdentität von Subjekt und Objekt. Indem
aber diese Identität, wie es der Begriff des Wissens verlangt,
vollständig sein soll, ist das Absolute die vollkommene, unge-
schiedene Einheit von Subjekt und Objekt, es ist keines von
beiden, sondern die völlige Indifferenz beider. Der Gegensatz
von Subjekt und Objekt setzt sich aber bei Schelling sogleich
in denjenigen von Ideahtät und Realität oder in denjenigen von
Geist und Natur um. Das Absolute ist weder ideal noch real,
es ist weder Geist noch Natur, sondern die absolute Identität
oder die Indifferenz beider Bestimmungen. Der Magnet ist nicht
nur der naturphilosophische, sondern der allgemeine metaphysische
Typus. Wie der ganze Magnet weder Nordmagnetismus noch
Südmagnetismus, sondern die Identität beider ist und in seinem
Mittelpunkte ihre Indifferenz enthält, so ist das Absolute die
ungeschiedene Vereinigung aller Gegensätze. Deshalb ist in ge-
wissem Sinne das Seh elHngsche "Absolute ebenso wie die Gottheit
der Mystiker und wie die Substanz Spinozas — das Nichts, und
es erklärt sich daraus, weshalb einer seiner naturphilosophischen
Schüler, Oken, zum Ausgangspunkte der dialektischen Konstruktion
das Zero (dz 0) nehmen konnte. Dagegen enthält das Absolute
bei Schelling als Indifferenz die Möglichkeit seiner Differenzierung,
vermöge deren es sich als Universum zu dem System der ver-
schiedenen Erscheinungen entwickeln kann. Wenn im Absoluten
die Gegensätze mit völliger Gleichheit sich gegenseitig aufheben,
so befinden sie sich an den einzelnen Erscheinungen in einer
Differenz, vermöge deren der eine oder der andere Teil über-
wiegt. Auch hier liegt das Schema des Magneten vor; wie bei
diesem an jrdcm Punkte sowohl der Süd- als auch der Nord-
magnetisiiuis tätig sind, wie die Lage des Punktes zwischen dem
Indifferenzpunkt und einem der Pole das größere oder geringere
ItlciititHtfifiyHleni. 291
t^borwio«»«»!! (In- vhwn üIxt die andoro Knift bestimmt, .so JHt
aiK'h in jodor der bcsondorcn ErHcheinuii^^cn Subjcktivitilt und
Objektivität, Oeist und Natur ho enthalten, daß in dem (juan-
iitativen Verhältnis beider das spezifische Wesen dicHer Krsehei-
nuni^ be«j:riindet ist. Der i^Toße Weltnui«^Miet, der die Indifferenz
von Geist und Natur enthält, würde, wenn man ihn zerteilte,
auch in seinem i^erin^sten Teile dieselbe Polarität zei^^'en. Da
er aber ein einheitliches Leben darstellt, so besitzt jeder Punkt
in ihm ein besonderes Verhältnis der beiden Grundbestimmungen,
deren Indifferenz das Wesen des Ganzen ausmacht.
Die Verschiedenheit der endlichen Dinge besteht also in der
quantitativen Differenz des natürlichen und des gei-
stigen Moments, die in allen enthalten sind. Darin besteht
der Unterschied dieses Neospinozismus von dem Spinozismus
selbst; für diesen teilten sich die endlichen Dinge in zwei große,
vollkommen geschiedene Reiche, von denen das eine nur die
Natur und das andere nur der Geist war. Für Schelling ent-
wickelt sich die absolute Vernunft in zwei Reihen, welche sich
aus der Abstufung in dem quantitativen Verhältnis des natür-
lichen und des geistigen Elements derartig konstituieren, daß
in der einen die Natur oder das »reelle Moment«, in der
andern der Geist oder das »ideelle Moment« überwiegt. Jede
dieser Reihen stellt deshalb eine Entwicklung dar, die von dem
äußersten Pole her, bei welchem das in ihr überwiegende Mo-
ment am selbständigsten und von dem entgegengesetzten am
meisten frei ist, bis in die Nähe des Indifferenzpunktes zu einer
Erscheinung führt, worin es sich mit dem entgegengesetzten
Moment am vollkommensten identifiziert. Die einzelnen Stufen
dieser Entwicklung bezeichnet ScheUing als die Potenzen, und
deshalb ist diese seine Lehre auch als Potenzenlehre charak-
terisiert worden.
Das ganze System sollte also eine doppelte Entwicklung ent-
halten, innerhalb deren jede besondere Erscheinung ihren Platz
durch das Verhältnis angewiesen erhielte, welches in ihr zwischen
dem geistigen und dem natürlichen Element obwaltet. Ausge-
führt hat ScheUing nur die reale Reihe, diejenige der Natur.
Die ideale Reihe, diejenige des Geistes oder der Geschichte, hat
er nur angedeutet. Den äußersten Pol der realen Reihe bildet
19*
292 Schelling.
die Materie (oder in den späteren Darstellungen der Raum),
worin das objektive Element über das subjektive vollständig
überwiegt. Als zweite Potenz folgt das Licht, als dritte und
abschließende der Organismus, in dessen höchsten Formen und
Lebensbewegungen zwar immer noch das physische Element über-
wiegt, aber doch anderseits das ideelle die größte Bedeutung
erreicht hat, die es innerhalb der natürlichen Reihe gewinnen
kann. Zwischen diesen drei Stufen sollte in einer Weise, die
sich in Schellings Auffassung mehrfach variiert hat, die gesamte
Konstruktion der Naturphilosophie Platz finden. /Darf man an-
derseits nach Andeutungen und nach den Prämissen des Schel-
lingschen Denkens die Gestalt vermuten, welche die ideelle Reihe
gefunden hätte, so würde hier der geistige Pol in dem sittlichen
Selbstbewußtsein geruht haben, das sich zur Natur im Gegensatz
weiß, es würde als zweite Potenz die gesamte theoretische Reihe
mit ihrer Unterordnung unter das Bewußtlose gefolgt sein, und
endHch würde sich diese Konstruktion mit der ästhetischen Tätig-
keit abgeschlossen haben, deren Produkt, wenn auch überwiegend
ideellen Charakters, doch das Sinnlichste und Natürlichste ist,
was die Intelligenz erzeugt.
Wenn sich so aus der Indifferenz des Absoluten die beiden
Reihen der differenzierten Erscheinungen entwickeln, so erreicht
doch in keiner darunter das Absolute selbst seine volle Dar-
stellung; auch im menschlichen Organismus überwiegt das phy-
sische, auch im besten Werke des Künstlers überwiegt das ideelle
Moment. Die letzte Synthese, die vollkommenste Entfaltung der
absoluten Vernunft, ist in einer besonderen Erscheinung nicht
möglich. Aber sie muß vollzogen werden, damit das System
sich abschließe, und sie kann deshalb nur in der Totalität aller
Erscheinungen, d. h. im Universum gesucht werden. Das Uni-
versum ist die vollendete Selbst ersch einung des Absoluten, die
totale Entwicklung der Vernunft, es ist die Potenz, worin das
Absolute aus dem Indifferenzpunkte' durch die ganze Fülle der
Differenzierungen hindurch seine Identität wiederherstellt. Es
ist deshalb der Punkt, an welchem die reale und die ideale
Reihe sich treffen und zur absoluten Einheit gelangen; es ist
der vollkommenste aller Organismen und zugleich das vollkom-
menste Kunstwerk; es ist die Identität des absoluten Or-
Pütouzen und Ideen. 293
ganisiniis und des absoluten Kunstwerkes. Von hier aus
fiililte sich Schclliu;^ zu der [^roßartii^^en Weltdichtuu^ hin<^czogen,
womit die Naturpliilosophie der Keiiaissance das Universum als
einen Organismus und als ein iCunstwerk betrachtet hatte, und
er legte diese Lehren, in denen Wahrheit und Schönheit eins
geworden sein sollen, dem größten der italienischen Naturphilo-
sophen in den Mund. Sein Dialog »Bruno oder über das gött-
liche und natürhche Prinzip der Dinge« (1802) bringt diese Phase
seiner Entwicklung zur vollständigsten Darstellung. Das Identitäts-
system oder der absolute Idealismus ist ein ästhetischer Pan-
theismus, der die Einheit des sinnlichen und des geistigen Ele-
ments, welche die Ästhetik bei Schiller als maßgebendes Prinzip
gewonnen hatte, durch alle Erscheinimgen der wirklichen Welt
hindurch verfolgt und dadurch die starren Linien des Spinozi-
stischen Naturalismus in die schöne Wellenbewegung eines leben-
digen Zusammenhanges verwandelt.
Aber bereits in die Darstellung des »Bruno« drängt sich ein
anderer Einfluß und mit ihm eine Veränderung der Auffassung
ein, wodurch schon leise die Motive einer späteren, vom Identitäts-
system wieder abführenden Entwicklung Schellings anklingen. Die
dialogische Form ist sichtlich Piaton nachgebildet und von allen
modernen Nachahmungen des großen hellenischen Vorbildes sicher
die vollkommenste. Allein der Einfluß Piatons auf Schelling w^ar
nicht nur formell, sondern er wurde in den ersten Jahren des
neuen Jahrhunderts auch sachlich sehr bedeutsam. Das System
der absoluten Vernunft kam aus eigenem Bedürfnis der Ideenlehre
entgegen. Es ergriff sie, zog sie in sich hinein und begann sich
dadurch innerlich umzubilden. Der große Assimilationsprozeß,
in welchem der deutsche Geist die Kesultate aller früheren Kultur
verarbeitete, warf sich nun auch auf die reifsten Produkte der
griechischen Philosophie. Es ist höchst wahrscheinlich, daß für
Schelling die Hauptanregung dazu von der neuen persönlichen
Berührung mit Hegel ausging, welcher nicht so wie jener durch
seine Entwicklung auf das naturwissenschaftliche Interesse ab-
gelenkt worden war, sondern in der Stille das antike Moment
ihrer Jugendbildung zm* vollen Kraft in sich hatte ausreifen lassen.
Er sollte später die Verschmelzung der deutschen und der antiken
Philosophie auf den vollkommensten Ausdruck bringen, und er
i
294 Schellin^.
war es schon jetzt, der in Schellings Denken das bereits vor-
handene Platonische Element derartig verstärkte, daß es in der
Darstellung des Identitätssystems immer mehr überwog. Freilich
wurde die Lehre Piatons dabei nicht in ihrem reinen und ur-
sprünglichen Sinne aufgefaßt, und es ist erst ein Verdienst von
Herbart gewesen, das historische Verständnis des großen attischen
Philosophen im Gegensatz gegen die Identitätsphilosophen wieder-
herzustellen. Schelling und Hegel folgten der Deutung des Pla-
tonischen Systems, die von den Neupythagoreern und den Neu-
platonikern an das ganze Mittelalter und die neuere Zeit hindurch
geherrscht hatte: sie sahen in Piatons Ideen nicht übersinnliche
Wesenheiten, sondern^ Gedanken Gottes^
Diese Auffassung verband sich bei Schelling mit dem Begriffe
der intellektuellen Anschauung als einer Selbstanschauung des
Absoluten. Soll sich nämlich die letztere auch auf das voll ent-
wickelte und durch die Differenzierungen zur TotaUtät des Uni-
versums hindurchgegangene Absolute erstrecken, so muß dieses auch
alle seine Differenzierungen in sich anschauen. Jene Differen-
zierungen oder » Potenzen « sind danach doppelt vorhanden, einmal
als objektive Erscheinungen, d. h. als reale Entwicklungsformen
des Absoluten und zweitens als die Formen der Selbstanschauung
des Absoluten. In diesem zweiten Sinne nun nennt sie Schelling
Ideen, und je mehr er diesen Gedanken verfolgt, um so mehr
gewöhnt er sich, das in ihnen sich selbst anschauende Absolute
Gott zu nennen. Die Gottheit schaut sich selbst in jenen Ideen
an und realisiert sie in den objektiven Erscheinungen der Natur
und der Geschichte. So ist aus der Potenzenlehre eine Ideen-
lehre geworden; die Potenzen der empirischen Wirklichkeit sind
nicht die unmittelbaren Differenzierungen des Absoluten, sondern
die Veiwirklichungen und Verselbständigungen der Ideen, in welche
die Gottheit sich bei ihrer Selbstanschauuug differenziert. Eine
gewisse Zweideutigkeit entstand dabei in der Anwendung des
Terminus ideal oder ideell. In den Potenzen der empirischen
Wirklichkeit wurden die reale und die ideale Reihe als ebenbürtig
behandelt. Aber indem nun ihnen beiden eine Ideenwelt als Ur-
bild im Platonischen oder neuplatonischen Sinne vorhergehen sollte,
erschien das ideelle Moment als das ursprüngliche und das natür-
liche oder reelle als das abgeleitete. Andere Begriffe kamen hinzu,
SyBtom dftr WiBSüiiHnhafton. 295
um die Darstellung dieser Phase der Schcllin/^scheu Lehre eher zu
verwiekeln als zu verdeutliehen. War nÜFiilieli das Absolute selbst
als das Unendliche den endlichen Erscheinungen gegenübergestellt
worden, so offenbarte sich nun «das unendliche Wesen der Gott-
iieit in ihren Ideen. Der Gegensatz der* Ideen und der Er-
scheinungen fällt mit demjenigen des Unendlichen und des End-
lichen zusammen, und die (;}ottheit wird nun gerade in dem Sinne
die absolute Identität genannt, daß sie zugleich unendlich in der
Idee mid endlich in der Erscheinung und dabei in beiden Formen
dasselbe ist.
Von diesem Standpunkt aus entwarf nun Schclling das System
der Wissenschaften in seinen »Vorlesungen über die Methode des
akademischen Studiums«. Ihre Niederschrift (1803) gehört zu dem
Formvollendetsten, was in der deutschen Philosophie je geschaffen
worden ist; sie ist auch äußerKch ein leuchtendes Denkmal jener
Zeit, welcher Schönheit und Wahrheit wie den Griechen als iden-
tisch galten. Sie enthält \vieder den ersten Versuch, aus dem
philosophischen Gedanken heraus den gesamten vielgliedrigen Or-
ganismus der Wissenschaften zu entwickeln imd damit jeder ihre
Aufgabe und ihre Methode anzuweisen. Wenn dabei auch die
universalistische Tendenz verfehlt sein mag, wonach die besonderen
Wissenschaften bis in ihre einzelne Arbeit hinein von der Philo-
sophie aus durch deren dialektische Methode geregelt erscheinen
sollen, so ist doch anderseits die gemeinschaftliche Aufgabe und
der ideelle Zusammenhang aller wissenschaftlichen Tätigkeiten nie
so glänzend dargestellt und so tief begründet worden wie in diesen
Vorlesimgen. Sie verbinden damit den anderen Zweck, ein ideales
Bild von dem Wiesen und der Aufgabe der deutschen Universi-
täten zu entrollen. Sie sehen darin diejenige Institution, durch
welche jener in sich zusammenhängende Organismus der Wissen-
schaften zum lebendigen Ausdruck kommen soll. Die Universität
ist kein A^orregat von Schulen des Brotstudiums, in denen man
lediglich sich für bestimmte technische Fertigkeiten vorbereiten
soll; sie ist noch weniger ein Sammelplatz für Jünglinge, die einige
Jahre ohne praktische Tätigkeit ihre Freiheit genießen wollen;
sondern sie ist eine Schule der wissenschaftlichen Arbeit, an der
alle Aufgaben der menschlichen Erkenntnis durch ihr stetiges
Ineinandergreifen und durch die Gegenseitigkeit der persönlichen
296 Anhänger des Identitätssystems.
und sachlichen Unterstützung zu immer höherer Lösung gedeihen
sollen, und an welcher jeder einzelne lernen muß, den Inhalt
seines einstigen praktischen Berufs unter dem wissenschaftlichen
Gesichtspunkt und in seinem innigen Zusammenhange mit dem
ganzen übrigen Kulturleben zu verstehen. Wer den vollen und
reinen Idealismus kennen lernen will, der den innersten Lebens-
trieb der deutschen Universitäten in dieser ihrer großen Ver-
gangenheit gebüdet hat, soll diese Schrift lesen; sie ist zugleich
das edelste Zeugnis von der Auffassung, die Schelüng selbst von
seinem akademischen Berufe hatte.
Das Identitätssystem war in der Gesamtentwicklung der deut-
schen Philosophie ein verhältnismäßig nur kurzer Moment. Schelling
selbst verließ es bald und geriet auf theosophische Wege (vgl. § 69),
und die Aufgabe, die er sich darin gestellt hatte, wurde nachher
in viel durchgreifenderer Weise von Hegel gelöst. Gleichwohl ist
eine Keihe von Abzweigungen aus dem Hauptstamme der Ent-
wicklung von diesem Punkte ausgegangen. Als Anhänger Schellings
in dieser Phase seines Philosophierens köimen Klein (»Beiträge
zum Studium der Philosophie« 1805) und Stutzmann (»Philo-
sophie des Universums« 1806) gelten. Die Geschichte der Philo-
sophie behandelte von diesem Standpunkt aus Friedrich Ast
(»Grundriß einer Geschichte der Philosophie« 1807); derselbe gab
auch ein Handbuch der Ästhetik (1805) heraus, und überhaupt
wurde das Identitätssystem namentlich in seiner platonisierenden
Form für die Behandlung der Ästhetik ganz außerordentlich
fruchtbar. Schon Schiller konnte in der Lehre von dem "Abso-
luten als der Indifferenz des Geistigen und des Natürlichen seinen
eigenen Grundgedanken wiedererkennen und diesen deshalb in dem
Vorworte zu der »Braut von Messina« auf Formen bringen, die
sich durchaus an die Schellingsche Sprache anschließen. In der
Folge aber wurde für die Ästhetik namentlich das Verhältnis
der unendlichen Idee zu der endlichen Erscheinung bestimmend.
Während das ideelle Wesen der Gottheit in keiner wirklichen
Erscheinung voll zur Entfaltung kommt, ist es die Aufgabe der
Kunst, die Identität des UnendHchen und des Endlichen, welche
von der wissenschaftlichen Erkenntnis niemals vollständig erreicht
werden kann, in jedem Kunstwerke derartig darzustellen, daß die
Idee vollständig in die Erscheinung, die Erscheinung vollständig
Solger. 297
in die Idee aufgeht. Wahrheit und Schönheit «ind eins, sie ent-
halten beide nichts anderes als die Idee in der Erscheinung und
sind in diesem Sinne die Synthesis des Sinnlichen und des Über-
sinnlichen, des Natürlichen und des Geistigen. Mit diesem Begriffe
wird in die Ästhetik das Moment des i> Bedeutsamen« aufgenommen,
das Herder in seiner Kalligone (1800) im Gegensatz zu dem For-
malisnms der Kantischen Ästhetik geltend machte, auch hier wie
in der Geschichtsphilosophie mit Recht, sofern es sich um die
Ergänzung, mit Unrecht, sofern es sich um die gereizte Be-
streitung des gegnerischen Standpunktes handelte. Indem nun
so der Grundsatz sich befestigte, daß das Schöne das sinnliche
Erscheinen der "Idee"^ sei , gestaltete sich die deutsche Ästhetik
immer ausgesprochener zu einer Theorie der Kunst und wurde
darin durch den Umstand bekräftigt, daß ihre Ausbildung haupt-
sächlich in den Händen von Männern der literarischen Kritik lag,
welche in der Dichtung mit Recht nach der Darstellung von Ideen
zu fragen hatten. Auch die geschichtsphilosophisc^he Tendenz in
der Konstruktion der ästhetischen Grundbegriffe konnte dieser
Wendung gut folgen; bei der antiken oder klassischen Kunst fand
man ein unbefangenes und naives Walten der Idee in der sinn-
lichen Gestaltung; als das Wesen der modernen oder romantischen
Kunst dagegen begriff man ein Streben des Künstlers, den zum
Bewußtsein gekommenen Gegensatz von Idee und Wirklichkeit cf ^^
wieder zu überwinden. Mit diesen Begriffen hat später Solger
(1780 — 1819) das romantische Prinzip der Ironie^auf eine neue "^^2i
Formel gebracht, die zu ihrer Zeit um so origineller erschien als
Schellings eigene Philosophie der Kunst noch nicht veröffentlicht
war. Solgers »Erwin« (1815) und seine »Philosophischen Ge-
spräche« (1817), deren tiefste Begründung erst durch die posthum
(1829) herausgekommenen »Vorlesungen über Ästhetik« zur vollen
Klarheit gebracht wiu:de, entwickeln den romantischen Grund-
begriff dahin, daß es sich in dem ironischen Verfahren des mo-
dernen Künstlers, bei welchem Idee und sinnliche Darstellung nie
mehr zur vollen Deckung gelangen, sondern stets die erstere über
die letztere überwiegt, wesentHch darum handelt, das EndHche
dem Unendlichen, die Erscheinung der Idee, das Individuum dem
Absoluten aufzuopfern, und daß in dieser Aufopferung das tra-
gische Schicksal des Schönen bestehe, — eine Auffassung, die
298 Wagner, Krause.
ganz von selbst duicli das Aufgehen alles Besonderen in die Gott-
heit eine religiöse Färbung der Ästhetik mit sich brachte.
Unter den Männern, die vom Identitätssystem aus eine
verhältnismäßig selbständige Laufbahn beschrieben, ist zuerst
J. J. Wagner (1775 — 1841) zu nennen. Dieser war schon in
^'' der naturphilosophischen Periode als Anhänger Schellings mit
mehreren Schriften hervorgetreten und machte auch die Phase
des absoluten Idealismus mit, trennte sich jedoch, auf dem letz-
teren Standpunkte prinzipiell beharrend, in seinem »System der
Idealphilosophie« (1804) von der theosophischen Richtung, die
der Meister einzuschlagen begann. Später versuchte er das tri-
adische Schema des Identitätssystems durch ein tetradisches der
Kreuzung von Gegensätzen zu ersetzen und verrannte sich mit
seiner »Mathematischen Philosophie« (1811) und seinem »Organon
der menschlichen Erkenntnis« (1830) derartig in einen trockenen
Schematismus des Methodisierens, daß er alle menschlichen Tätig-
keiten nach dieser vierteiligen Methode geregelt wissen wollte.
Die Überzeugung der Identitätsphilosophie, daß die Denkgesetze
Weltgesetze seien, dehnte er hauptsächUch auf die mathematische
Berechnung aus und behauptete, daß sich nach seiner tetra-
dischen Methode alles müsse rechnungsmäßig konstruieren lassen.
Seine »Dichterschule« wendete diesen Gedanken schließlich sogar
auf die poetische Produktion an, wobei nur anzuerkennen ist,
daß er dafür keine Proben der Ausführung veröffentlicht hat.
Weit erhaben über diese Pedanterie, die von dem tiefen,
sachlichen Denken Schellings so weit abführt, ist ein anderer
^^^^Fortbildner des Identitätssystems: Friedrich grause. 1781
geboren, 1802 als Privatdozent in Jena habilitiert, ist er nach
stetigen Mißerfolgen in der akademischen Lehrtätigkeit, die ihn
auch in Berlin und Göttingen verfolgten, und nach einem mit
Not und Sorge durchrungenen Leben 1832 in München gestorben.
Eine edle Natur, von reinstem Eifer erfüllt, ist er an dem un-
praktischen Idealismus seines Wesens und an der Wunderlichkeit
seiner philosophischen Darstellung zugrunde gegangen. In der
an sich berechtigten Absicht, die zufällig zusammengesetzte Ter-
minologie der Philosophie durch eine rein deutsche Darstellung
zu verdrängen, hat er sich in eine neue, völlig willkürhche und
individuelle Terminologie verirrt, welche er die Marotte hatte
Panentlioismus. 299
für echt deutsch zu halten, und welche seine Schriften für den
uneinjjjeweihten Deutschen unlesbar macht. Er hat damit zu-
gleich seine liistoiische Stellung verhüllt, indem er die Grund-
gedanken der deutschen PhilüSü\)hie, die er Kant, Ficlite und
Schelling verdankte, in seine Sünderlingssprache übersetzte und
dadurch aucli bei sich selbst den Anschein erregte, als seien es
originelle Schöpfungen. Als daher sein Schüler Ahrens die
Krausesche Lehre durch Vorträge und Schriften in das Fran-
zösische übersetzte (z. B. Cours de philosophie, Paris 183G und
1838), da perlten die allgemeinen Grundgedanken der deutschen
Philosophie reih aus der Krauseschen Schale heraus, und so er-
klärt sich der große Erfolg, den sie dann im romanischen Aus-
lande hatten, wo Krause lange Zeit als der größte deutsche
Philosoph gegolten hat. Eine ähnliche Übersetzung ins Deutsche
steht noch aus; die wichtigsten und verhältnismäßig lesbarsten
seiner Schriften sind der »Entwurf eines Systems der Philosophie«
(1804), das »Urbüd der Menschheit« (1811), die »Vorlesungen
über das System der Philosophie« (1828) und diejenigen »Über
die Grundwahrheiten der Wissenschaft« (1829)*). Was Krause
dem Identitätssystem hinzugefügt hat, besteht einerseits in einer
größeren Verselbständigung des x4bsoluten den Erscheinimgen
gegenüber, anderseits in einer neuen methodischen Behandlung
des Ganzen. Er betont vor allem, daß die Gottheit (oder
»Wesen«, wie er sie nennt) in ihrer ideellen Selbstanschauimg
ajs Selbstbewußtsein oder Persönlichkeit gedacht werden muß,
und da gleichwohl alle endhchen Dinge nur den Prozeß dar-
stellen, worin diese absolute Persönlichkeit sich selbst entwickelt,
mid so nur m ihr und durch sie leben und subsistieren, so be-
zeichnet Krause seine Lehre nicht mehr als Pantheismus, sondern
als Panentheismus. Es ist der Versuch, durch das System
der Entwicklung Pantheismus und Theismus zu verschmelzen.
Aber die intellektuelle Anschauung, vermöge deren wir uns so als
Teile des göttlichen Selbstbewußtseins wissen, soll nach Krause
nicht als ein Vorzug begabter Naturen, wie bei Schelling, oder
*) Auch die massenhaften Veröffentlichungen aus Krauses Nachlaß , die
später von unermüdlichen Schülern herausgegeben worden sindj^.^i^b'yi ß^
dem Gesamtbilde seiner Lehre nichts lindern können. ^x'"""^' •^' ~'^^
ri, .^
300 a-' 1^ Krause
als ein bloßes Postulat der Philosophie gelten, sondern wissen-
schaftHch gefunden, erworben und einleuchtend gemacht werden;
in diesem Verlangen besteht die Verwandtschaft Krauses mit
Hegel. Wenn daher auch seine Philosophie in ihrem konstruk-
tiven Teile von der Gottesanschauung wie das Identitätssystem
ausgeht, so bedarf sie doch eines vorbereitenden Teils, worin
jene Anschauung erst gefunden werden soll. Infolgedessen nimmt
Krauses Lehre, wie es besonders in der ersten Abteilung von
seinem »Abriß des Systems der Philosophie« (1825) hervortritt,
methodisch eine Gestalt an, die als Kopie des Cartesianismus
erscheint. Sie bildet wie dieser eine Parabel, deren aufsteigender
Ast, der subjektiv-analytische Lehrgang, durch die ganze Keihen-
folge der endlichen Dinge und ihre sich immer höher poten-
zierenden Lebensformen bis zu dem höchsten Punkte führt, von
dem aus der absteigende Ast, der objektiv-synthetische Lehr-
gang, die Konstruktion des Universums aus dem Grundprinzip
entwickeln soll; und den Kulminationspunkt dieser Parabel bildet
nicht wie bei Descartes das" Selbstbewußtsein, sondern etwa wie
bei Malebranche die intellektuelle Anschauung, vermöge deren
wir nicht nur uns selbst, sondern auch alle Dinge in Gott
schauen. In diesem Schema fanden dann, stets in Krauses
eigentümliche Terminologie gepreßt, nicht nur alle die Grund-
lehren der deutschen Philosophie ihre entsprechende Stelle, son-
dern es ergab sich auch eine universalistische Entwicklimg des
Systems der Wissenschaften. Von besonderem Wert ist dabei
die Betonung, welche Krause auf die Geschichtsphilosophie legt.
Von rechtlichem, sittlichem und religiösem Idealismus getragen,
sucht er die notwendigen Entwicklungsformen zu begreifen, die
alles menschliche wie das organische Leben im Individuum und
in der Gattung als parallele Prozesse durchzumachen hat, und
sieht die Aufgabe des Menschengeschlechts in der durch äußere
Zusammengehörigkeit ebenso wie durch innere Gemeinschaft sich
ausprägenden Vereinigung der Geister. Jede derartige Institution
schildert er — nicht ohne der Analogie des Freimaurerbundes
zu folgen — als einen »Bund«^ der schließlich in den allgemeinen
Menschheitsbund aufzugehen habe. Aber seine Phantasie führt
ihn weiter und hofft, daß einmal auch dieser sich als Erden-
menschheit dem allgemeinen Bunde der Menschen des Sonnen-
\)cr rolij^iöfto IdcaÜBinui. HOl
syatiMna oififii«;on \iiul so d'w Tio})ons^'cinoinHcliiift nii( allen ver-
nünftigen Cci8tern nnd mit der (Jottheit, zu der wir bentimmt
sind, erreichen werde.
§ 07. Der religiöse Idealismus.
Fichte und Schleiermacher.
Mit dem Identitätssystem liat die idealistische Richtung eine
Wendung gewonnen, welche sie über den subjektiven Charakter
des Kantischen und Ficliteschen Denkens weit hinausführt. Der
Konstruktionspunkt der dialektischen Methode wird nicht mehr
im Ich, sondern im Absoluten genommen, und die Entwicklung_
des Unendlichen in die AVeit der endlichen Dinge wird dadurch
zum wesentHchsten Probleme der Philosophie gemaclit. Dies
Problem ist aber mit dem religiösen identisch, und so
gewann der absolute Idealismus die religiöse Tendenz, welche
sich in ScheUings eigenem Denken, bei vielen seiner Schüler, in
der Umbildung seiner Lehre durch Krause und besonders bei
den Romantikern geltend machte. Hier war es zuerst Schleier-
macher, der das bestimmende Wort fand, und sodann wiederum
Friedrich Schlegel, der, wie er äußerlich durch seinen Übertritt
voranging, so auch in seinen Vorlesungen aus dem Jahre 1807
diese Wandlung theoretisch formulierte und das Verhältnis des
Unendlichen zum Endlichen für das Grundproblem der Philo-
sophie erklärte.
Eine merkwürdige Rückwirkimg aber hat in dieser Beziehung
Fichte von der allgemeinen Bewegung, die er selbst hervor-
gerufen hatte, in seiner späteren Zeit erfahren. Auch er wurde
von der Tendenz des absoluten Idealismus ergriffen, und dadurch
bildete sich ihm, zum Teil im Gegensatz gegen Schelling, die
Wissenschaftslehre zu einem neuen System um, in welchem ihre
besonderen Lehren sich um einen anderen Gesichtspunkt grup-
pieren sollten. Mit den Jahren milderte sich in ihm der sitt-
liche Rigorismus und die titanenhafte Unruhe des unendlichen
Strebens. Der Einfluß Schillers und teilweise auch der Roman-
tiker ist dabei unverkennbar. Immer wertvoller erscheint in der
Fichteschen Darstellung die Kunst und das ästhetische Leben,
immer mehr vertieft er sich in die Vorstellung, daß auf diesem
302 Fichte.
Wege und im Siime von Kants Kritik der Urteilskraft eine Er-
füllung der Aufgaben gewonnen werden könne, welche ihm an-
fänglich unmöglich zu sein und dem ethischen Begriffe selbst zu
widersprechen schien. Schon in der Abhandlung ȟber Geist und
Buchstab in der Philosophie«, die (1794) seinem Verkehr mit
Schiller entstammte und ursprünglich für dessen Hören bestimmt
war, klangen diese Gedanken an; dazu trat die immer mehr sich
Jacobi und den Romantikern nähernde Überzeugung von der
Eigenexistenz und Eigenwertigkeit der Individualität, wie sie
namenthch in dem »Sonnenklaren Bericht über das Wesen der
Philosophie« (1801) betont wurde. In der Geschichtsphilosophie,
die in den »Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters« (1805)
vorgetragen wurde, erschien bereits als Ziel der Entwicklung das
Zeitalter der »Vernunftkunst«, in welchem der vernünftige Zu-
stand des Lebens als ein Produkt der Freiheit, als das sittliche
Kunstwerk des individuellen Menschenlebens mit seiner Einstel-
lung in den zweckvollen Zusammenhang; des Ganzen erzeugt
werden soll. Aber diese Erzeugung setzt dabei ein Urbild der
absoluten Vernunft voraus, und dieser Begriff des »Urbildes« ist
es, an welchem man die Veränderung der Wissenschaftslehre viel-
leicht am einfachsten sich klar machen kann. Das absolute Ich
hatte in Fichtes erster Periode als eine Aufgabe gegolten, die
erfüllt werden soll, aber niemals vollkommen erfüllt wird, und
dieses selbst nie Reale sollte dann als der Grund aller Realität
erkannt werden. Aber der Trieb des Ich, absolutes Ich zu
werden, blieb doch schließlich unbegreiflich, wenn nicht sein Ziel
irgendwie real war. Es ist nicht zu verstehen, wie das Ich sich
eine Aufgabe setzen kann, deren Inhalt weder in ihm noch außer
ihm wirklich ist. Aller Idealismus des unendlichen Strebens ge-
winnt erst dadurch Sinn und Begreiflichkeit, daß das Ziel des
Strebens eine höchste Wirklichkeit ist, der es sich annähert.
Parallele Überlegungen waren auf dem theoretischen Felde durch
die Auffassung des Wissens in der Identitätsphilosophie nahe-
gelegt. Das absolute Wissen erschien hier als Identität von
Denken und Sein. Aber es mußte deshalb auch unmöglich er-
scheinen, solange man wie Fichte leugnete, daß es ein absolutes
Sein gebe. Wenn Jacobi bei seiner Bekämpfung des Idealismus
sich in seiner [wpulären Sprache so ausdrückte, die Wahrheit
VeräiulertcB Sy»lfm. 'M)'.i
des Wissens setze die »Koalitiit einer absoluten Wahrheit« vor-
aus, so folgte Fichte jetzt demselben (ledankenzu^^e und trat
damit in eine von beiden Seiten empfundene Verwandtschaft n)it
Jacobi. Der Begriff des absoluten Wissens, von dein die Wisscn-
schaftslehre ausgeht, wird nun dahin definiert, es sei das abso-
lute Bild des absoluten Seins. In diesem Begriffe des absoluten
Seins findet Fichte jetzt den höchsten l*unkt seines Philoso-
phierens und denjenigen, welcher noch über dem früheren Be-
griffe des absoluten Tui)^^ liegt. Das ist die entscheidende Ver-
änderung seiner Lehre. Ebenso wie Kant die Auflösung des
ganzen Weltinhaltes im Vorstellungsprozesse, die als Tendenz in
seiner Erkenntnistheorie angelegt war, nicht durchfijhrte, sondern
mit dem Begriffe des"^ Dinges an sich zu der Annahme einer ab-
soluten Wirklichkeit und damit zu den Voraussetzungen des
naiven Realismus zurückkehrte, ebensowenig blieb Fichte auf der
Höhe der ursprünglichen Abstraktion stehen, die alle Realität in
Funktionen auflöste, sondern kehrte nun zu der Ansicht des ge-
meinen Bewußtseins zurück, welche das Tun an ein ursprüng-
liches und absolutes Sein anheftet. Inwieweit dabei die Selbst-
kritik mitwirkte, welche ihm durch die schweren Folgen seines
Atheismusstreites aufgenötigt war, inwieweit ferner der Einfluß
des ästhetischen Bewußtseins dabei maßgebend wurde, wonach
das unendliche Werden und Tun der sinnlichen Erscheinung nur
das Bild einer bleibenden ideellen Wirklichkeit sein sollte, in-
wieweit die parallelen und doch im einzelnen anders gefärbten
Gedankenentwicklungen von Schellings Identitätssystem den Wider-
spruch Fichtes reizten und gerade dadurch auch positiv be-
stimmten, inwieweit endlich die erneute Beschäftigung mit Spinoza
die formelle Ausführung dieser Gedanken begünstigte und be-
dingte, — das kann hier nicht im besonderen ausgeführt werden.
Aber alle diese Momente wirkten zusammen, um aus der
»Philosophie des Tuns« wieder eine »Philosophie des Seins« zu
machen. Auch Fichte gravitierte von Kant zu Spinoza zurück
und trat mit seiner zweiten Lehre in die Bewegung des Neo-
spinozismus ein.
Der ewige Trieb des »reinen«, »allgemeinen« Ich, auf dem
sich erst das empirische und individuelle Ich aufbaut, muß
im Wissen wie im Handeln ein Ziel vor sich haben. Dieses
304 Fichte.
Ziel wurde früher im nie vollendeten Werden als das »abso-
lute« Ich gedacht, jetzt ist es für Fichte das absolute
Sein oder die Gottheit. Dieses erzeugt in ewiger Ruhe
in sich sein Abbild, das absolute Wissen, welches nun die
Stelle des reinen theoretischen Ich einnimmt, und dieses Bild
sucht sich ewig zu verwirklichen in einem unendlichen Stre-
ben. das mit dem reinen praktischen Ich zusammenfällt. In
der Konstruktion dieser Grundbegriffe folgt Fichte unverkennbar
der ümdeutung der Trinitätslehre, die Lessing analog den alten
Mystikern in der »Erziehung des Menschengeschlechts« aufge-
stellt hatte. Eine solche Deutung ist aber bei Fichte haupt-
sächlich in der Hinsicht wichtig, daß nun das »Bild« oder das
absolute Anschauen und Wissen sowohl der metaphysischen
Existenz als auch dem Werte nach als das Primäre dem Han-
deln gegenüber erscheint. Der Primat der praktischen Vernunft
hat wieder aufgehört. Wie bei Schelling die^Ideen der göttlichen
Selbstanschauung^ als die Urbilder für die' Potenzen der empi-
rischen Wirklichkeit gelten, so ist es auch bei Fichte das Abbild
der Gottheit, welches das Ziel aller Tätigkeit des Ich bilden soll.
Nicht mehr das »Tun um des Tuns willen«, sondern die Reali-
sierung des göttlichen Urbildes ist der höchste Zweck des Lebens,
ist der Inhalt des »Reichs«, dessen Gestaltung die höchste und
letzte Aufgabe der menschlichen Geschichte bildet. Das Tun ist
kein Selbstzweck mehr, sondern es hat seinen Zweck und sein
Maß in einem Ziele, das dadurch erreicht werden soll, und dies
besteht darin, daß das Ich sich mit dem absoluten Sein, mit der
Gottheit eins weiß und in dieser Anschauung das selige Leben
führt. Der Zweck des Tuns also ist jetzt die Ruhe des religiösen
Bewußtseins, worin das Ich sich mit dem göttlichen Abbild
identifiziert. Darin besteht die Seligkeit des Individuums: das
Tun um des Tuns willen führte ssine ewige Unbefriedigtheit mit
sich; das Tun um der Gottesanschauung willen kann sein Ziel
erreichen, wenn die Gottheit nicht mehr als die ewig werdende
sittliche Weltordnung, sondern als das absolute, bleibende und
ruhende Sein gedacht wird. So hat in der Kontemplation der
weit verbessernde Tatendrang des kategorischen Imperativs sein
Ende gefunden. Gott zu schauen und sich als sein Abbild zu
wissen, ist der wertvolle Zweck, zu welchem alles sittliche Leben
Sühleionnachor. 305
liiiiführcMi snil. Der yiUlichc Trid) fiiuL't sein Kiido, wenn er
das Ziel doH roli^iösen ZuHtandcs circicht hat. D<'r cthiKchn Idea-
lismus hat sich in den roliL^iosen verwandelt, und die Wisöcnschaftw-
lehrc wird eine »Anweisuni^^ zum "seligen Leben«.
Wenn so das Fichtesche Denken damit ;^eendet hat, daß die
ewige Unruhe des sittlichen Triebes in der Selii^keit des religiösen
Bewußtseins untergeht, so haben dabei zweifellos auch die Ein-
flüsse eines Mannes mitgewirkt, mit dem Fichte durch die Ver-
mittlung der Romantiker in Berlin in nahe persönliche Berührung
kam, und welcher innerhalb der idealistischen Denkbewegung der
vollkommenste Vertreter des religiösen Prinzips ist. Diese nach
allen Seiten hoch bedeutsame Persönlichkeit ist Friedrich jc/ilt^LeA
Schleier mache r. Er war 1768 als Sohn eines reformierten yy^A^^A^
Predigers in Breslau «geboren und wurde unter dem Einfluß der j^/q.
Überzeugungen der Herrnhuter Gemeinde, von der er sich später
trennte, zuerst auf dem Pädagogium zu Niesky und dann auf
dem Seminar zu Barby für das theologische Studium vorbereitet,
das er 1787 in Halle begann, und nach dessen Vollendung er
einige Jahre Hauslehrer wurde. Nachdem er sodann zwei Jahre
lang Hilfsprediger in Landsberg an der Warthe gewesen war,
ging er 1796 als Prediger an die Charite nach Berlin. Die sechs
Jahre, die er in dieser Stellung zubrachte, sind für seine Ent-
wicklung die wichtigsten geworden. In der Anknüpfung zahl-
reicher, feiner persönlicher Beziehungen entfaltete sich die Reich-
haltigkeit seiner mehr imd mehr in sich ausreifenden Persönlich-
keit, und von besonderer Wichtigkeit war dabei seine Stellung zu
den Romantikern, hauptsächlich seine Freundschaft mit Friedrich
Schlegel, der um diese Zeit wie sein Bruder August Wilhelm
einige Jahre in Berlin zubrachte.
Nur in sehr bedingter Weise freiHch ist Schleiermacher dem
romantischen Kreise beizugesellen; er hatte dazu auch in dieser
Zeit eine freiere und selbständigere Stellung, in der er ebensoviel
gab wie empfing. Während damals ScheUing auf dem Punkte
stand, ganz in den Naturalismus zu verfallen, dem er in dem
»Epikurisch Glaubensbekenntnis Heinz Widerporstens« einen so
großartig poetischen und teilweise so übermütigen Ausdruck gab,
betonte Schleiermacher von der anderen Seite in seinen »Reden
über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern«
Windelband, Gesch. d. n. Philos. U. 20
-/i/
i
306 Schlciermacher.
(1799) und in den »Monologen«, der Neujahrsgabe von 1800,
daß die allseitige und harmonische »Bildung«, welche die Roman-
tiker anstrebten, sich nur im religiösen Leben vollenden könne.
Jene innere Einheit aller Lebenstätigkeiten, welche die Romantik
anstrebte, war nach Schleiermachers Überzeugung nur in einem
religiösen Prinzip zu finden: damit warf er das entscheidende
Ferment in die Gärung der romantischen Ideen hinein. Freilich
war der Erfolg anders als er gewollt: da die Romantiker die
religiöse Einheit alles Kulturlebens nicht neu zu schaffen ver-
mochten, so suchten sie, ihrem historischen Wesen getreu, das
Ideal in der Vergangenheit und ideahsierten in diesem Sinne das
Mittelalter, ähnlich wie es Schiller im ästhetischen Interesse mit
dem Griechentum getan hatte. Novalis sprach diese Wendung
zuerst in dem damals auf Goethes klugen Rat nicht gedruckten
Aufsatz »Europa oder die Christenheit« aus, und Friedrich
Schlegel zog mit seinem Übertritt die praktische Folgerung. Auf
dieic Weise geriet die deutsche Romantik aus theoretischen
Bildungsmotiven auf dieselben rückläufigen Bahnen, welche die
französische Romantik von vornherein aus praktisch -pohtischen
Gründen eingeschlagen hatte.
Diesen Folgen seiner Mahnung stand niemand ferner als
Schleiermacher selbst. Seine eigene religiöse Überzeugung war
um diese Zeit durchweg außerkonfessionell, sie war individualistischer
und mystischer Art. In ihren theoretischen Formen lehnte sie
sich an Spinoza, in ihrem religiösen Gehalte knüpfte sie an das
Leben der Brüdergemeine und damit an ältere Traditionen der
deutschen Mystik an. Durch das Jahrhundert der Aufklärung
hindurch hören wir als feine Obertöne und Untertöne die leisen
Nachklänge der Mystik zittern: sie sind überall da vernehmlich,
wo die Geister weder durch das konfessionelle Christentum noch
durch den Deismus befriedigt sind. So zeigt es sich bei den zahl-
reichen Sekten, so anfänglich bei dem Pietismus, der die Einflüsse
der praktischen Mystik sehr stark erkennen läßt, so in ver f einer tster
Form in der Brüdergemeine, welche die reine Innerlichkeit des
christlichen Glaubens um so lebhafter betonte, je mehr der
Pietismus wieder ein orthodox konfessionelles Gepräge angenommen
hatte. Durch Schleiermacher wurden nun diese bis in die frühesten
Lrl.cu mi-l Wirkrn. HO?
Zeiten dcv (leutschon Spekulation zuriickreichcn-len Fiiden des
mystischen Lebens in die Entwicklung der naclikantischcn Philo-
sophie hineingesponnen.
Mit diesen Überzeugungen aber befand er sich auch zu der
protestantischen Kirche in solchem Gegensatze, daß er von der
vorgesetzten Behörde im Jahre 1802 als ITofprediger nach Stolpe
gemaßregelt wurde. Aus dieser Verbannung erlöste ihn nach
zwei Jahren eine Berufung als außerordentlicher Professor der
Philosophie und Theologie nach Halle. Als dann die Universität
Halle bei dem Zusammensturz der preußischen Monarchie ge-
schlossen wurde, ging er nach Berlin und fand erst 1809 eine
Anstellung als Prediger, in der er mit mächtigem Erfolg bis an
sein Lebensende wirkte. Schon im folgenden Jahre wurde er zu-
gleich als Professor der Philosophie an die z. T. nach seinem Ent-
wurf aeu[ründete Universität Berlin berufen und bildete in der
akademischen Wirksamkeit bis zu seinem Tode 1834 jene große
theologische Schule, die sich nach ihm nennt. Er ist neben Schelling
und Hegel der ebenbürtige Vertreter der universalistischen Bildung,
die damals der philosophischen Arbeit zugrunde gelegt wurde.
Der größte Theologe des Jahrhunderts, der erfolgreiche Förderer
der protestantischen Union, war er zugleich ein hervorragender
Philologe und hat dies auch hinsichtlich der Philosophie durch
zahlreiche Arbeiten über die Geschichte der gTiechischen Philo-
sophie und durch seine meisterhafte Übersetzung Piatons betätigt.
Er nimmt aber auch in der Entwicklung der Philosophie eine
höchst wertvolle und interessante Stelle ein. Von Kant, Fichte
imd Schelling gleichmäßig angeregt, hat er die Prinzipien der
deutschen Philosophie in eine originelle Verschiebung gebracht,
durch welche er von der philosophischen Seite her seine persön-
liche Überzeugung als religiösen Idealismus begründete.
Die theoretischen Grundlagen seiner Lehre sind wesentlich in
der » Dialektik « niedergelegt , die nach seinen Vorlesungen von
Jonas herausgegeben worden ist und sich in der dritten, philo-
sophischen Abteilung seiner gesammelten Werke (Berlin 1835 — 1864)
findet. Auch er nimmt darin seinen Ausgangspunkt vom Wissen ;
aber nicht wie Kant von der Tatsache, sondern wie Fichte von
dem Ideal des Wissens, und er faßt dieses mit Schelling als die
20*
308 Schleierraacher.
absolute Identität von Denken und Sein, welche deshalb formell
dem Kantischen Begriff der Apriorität entspricht^ d. h.^ notwendig
und allgemein gilt? Aber dies absolute Wissen ist im empirischen
Bewußtsein des Menschen nirgends vorhanden; es ist nur die
ewige Idee des Wissens, die nach Fichteschem Prinzip in unend-
licher, nie sich vollendender Verwirklichung begriffen ist. Deshalb
ist die Philosophie nicht Wissenschaft, sondern Wissenschaftslehre;
sie ist eine Kunstlehre des Denkens, welche zeigt, wie sich das
Denken als Erkennen seinem Ideale annähern soll ; sie ist in
die-sem Sinne Dialektik und entsteht nach sokratisch-platonischem
Prinzip durch das gemeinsame Untersuchen, worin wir uns der
Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit des Denkens bewußt werden.
yean aber die Apriorität nach dem Schellingschen Prinzip als
Identität von Denken und Sein aufgefaßt wird, so gestaltet sich
die Kunstlehre des Denkens, die man sonst, Xogik genannt hat,
von selbst auch zu einer Erkenntnis der Realität. Wie Kants
transzendentale Logik, so ist Schleiermachers Dialektik zugleich
Logik und Metaphysik. Allein der Standpunkt der Identität, den
er mit Schelling einnimmt, hebt dabei innerhalb gewisser, sogleich
näher zu bestimmender Grenzen die Kantische Restriktion auf,
wonach es nur eine Metaphysik der Erscheinungen war, mit der
die transzendentale Logik identisch sein sollte.
Alles Wissen setzt also Denken und Sein oder den Gegensatz
des Idealen und Realen voraus, wie ihn Schellinj^ definiert hat.
Es enthält infolgedessen von beiden etwas, einen idealen und
einen realen Faktor. In dem menschlichen Wissen zeigen sich
diese beiden Faktoren als die intellektuelle imd die organische
Funktion, die stets aufeinander bezogen und nie voneinander ge-
trennt sind. Die intellektuelle Funktion, für sich betrachtet,
nennen wir Denken, die organische, für sich betrachtet. Wahr-
nehmen; aber keine ist ohne die andere, es gibt weder reines
Denken noch bloßes Wahrnehmen; das eine würde, mit Kant zu
sprechen, leere Begriffe, das andere bhnde Anschauungen geben.
Denken und Wahrnehmen verknüpfen sich in der Anschauung,
und wenn sie bei dieser Verknüpfung in vollem Gleichgewicht
stehen, so ist diese Anschauung die ästhetische. Auch Schleier-
machers Ästhetik (von Lommatsch herausgegeben) weist auf
Schillers Lehre vom Spieltrieb und die ersten Theorien der Ro-
Dialektik. 30!l
iimntikor zurück, iiulrin das (ik'ichgcwicht der Binnliclien uihI
der geiatiijjen Natur dc^ Mcusohcii für hIo den Kiclitbc;^riff bildet.
In dem wirklichen Wis.scn aber scheiden sich die beiden Fakton^n
so, daß der eine (xler der andere teils im Objekt, teils in der
subjektiven I^ehandlung überwiest. Daraus erj^ibt sich eine Vier-
teilung der besonderen Wissenschaften. Das Wissen vom realen
Faktor ist die Physik, dasjenige vom idealen Faktor die Ethik.
Von beiden aber gibt es eine wahrnehmende und eine denkende,
eine empirische und eine theoretische Wissenschaft. So teilt sich
die Physik in Naturgeschichte und Naturwissenschaft, die Ethik
in Geschichte und Ethik in engerem Sinne. Die beiden Haupt-
zweige der Wissenschaft aber müssen nach dem Prinzip der Iden-
tität zuletzt auf dasselbe hinauslaufen. Die Erkenntnis des Phy-
sischen vollendet sich darin, daß, wie die Naturphilosophie gezeigt
hat, alles physische Dasein sich fortwährend in Intelligenz um-
setzt; die Erkenntnis des Ethischen begreift das Handeln in
seiner steten Beziehung auf das Physische und sucht dessen höchste
Aufgabe in der vollkommenen Durchdringung und Beherrschung
der Natur. Das letzte Ziel aller ethischen und physischen Er-
kenntnis liegt in der Ausführung des Spinozistischen Grundsatzes:
ordo rerum idem est atque ordo idearum. Aber innerhalb der
endlichen Dinge, innerhalb der'iVIodi der unendlichen Substanz,^
wie Spinoza, oder der" Potenzen der göttlichen Offenbarung, wie
Schelling gesagt hat, ist diese Erkenntnis nie vollständig; immer
überwiegt der eine oder der andere Faktor, und Physik und
Ethik befinden sich deshalb nur in stetiger, unendlicher An-
näherung aneinander. Das Wissen kommt nie zu Ende; es ist
nur als Wissenstrieb , als Denken. Das wirkliche Wissen des
Menschen also steht für Schleiermacher imter dem Fichteschen
Begriffe des unendlichen Strebens. Aber es ist nur zu verstehen
unter der Voraussetzmig , daß es eine absolute Identität von
Denken und Sein wirklich gibt, unter der Voraussetzung des
Identitätssystems und derjenigen Spinozas. Gott als die Identität
des Denkens und des Seins, des Idealen und des Kealen ist das
unerreichbare Ziel, auf welches alle wissenschaftliche Erkenntnis
hinstrebt; aber dies Streben ist nur zu begreifen, wenn sein Ziel,
die absolute Wahrheit, wenn die Identität von Denken und Sein
wirklich ist. Der Glaube an Gott ist die Voraussetzung aller Erkenntnis.
310 Scbleiermacher.
Das ist eine viel durchsichtigere Darstellung als die schwer-
fcälligen Formeln der AVissenschaf tslehre , in welche der spätere
Fichte denselben Grundgedanken preßte: sie trägt zugleich die
klaren Züge der Kantischen Erkenntnistheorie und ist die voll-
kommenste unter den positiven Synthesen, welche der Kritizismus
mit dem Spinozismus gefunden hat. Der Gedanke, der Kants
Ideenlehre zugrunde lag, daß der Trieb des Erkennens auf einem
durch dieses selbst nie erreichbaren Ideal beruhe, wird von Schleier-
macher mit den Besiriffen der Fichteschen und Schellinojschen
Lehre durchgeführt. Aber zu dem »Ideal der reinen Vernunft«
verhält er sich ganz anders als Kant: er verzichtet zwar wie
dieser auf dessen wissenschaftliche Erkenntnis; wenn er jedoch
trotzdem eine bestimmte Vorstellung von der Gottheit hat, so
gründet er sie nicht wie Kant auf eine moralische Überzeugung,
sondern auf ein Gefühl, dessen Vorstellungsinhalt sich mit dem
Spinozistischen Gottesbegriffe, wie dieser von den deutschen
Denkern aufgefaßt wurde, vollkommen deckt. Darin besteht die
eigentümliche und originelle Stellung, die Schleiermacher in der
Keligionsphilo Sophie einnimmt. Er ist nicht Offenbarungs-
theologe; denn von einer offenbarenden Tätigkeit der Gottheit
können wir ebensowenig etwas wissen wie von seinem Wesen.
Er ist ein Gegner des Rationalismus; denn die Gottheit ist un-
erkennbar. Er bestreitet aber auch die Kantische Moraltheologie,
die das religiöse Leben zum Vehikel des moralischen macht. Er
will die Religion ebenso sehr von der Moralität wie von der Er-
kenntnis frei machen. Seine Religionsphilosophie gründet sich
nicht auf die theoretische, nicht auf die praktische, sondern auf
die ästhetische Vernunft. Da Gott nicht gewußt werden kann,
so ist die ReligionsphilosojDhie nicht eine Lehre von Gott, sondern
eine Lehre von dem religiösen Gefühle. Sie ist der Versuch, das-
jenige zum klaren Bewußtsein zu bringen, was in dem religiösen
Gefühl als Voraussetzung enthalten ist, — den Inhalt des sub-
jektiven Gefühls sich objektiv zu machen. Das Wesen des reli-
giösen Grundgefühls sieht nun Schleiermacher darin, daß wir uns
von einem absoluten Weltgrunde, den wir nicht erkennen und
mit Rücksicht auf den wir deshalb auch unser Handeln nicht
einzurichten vermögen, in unserer gesamten Lebensbetätigung ab-
hängig fühlen. Er definiert es deshalb als das »fromme« oder
UolififionHphiloNO]»hio. }]]]
das »schlochthini'^o Ablu'iii^i;^'keits^rofiilil«, und es kann sic^h
nur auf jciUMi absoluten Wclti^rund, auf jene absolute Identität
von Denken und Sein, von KealeMi und Idealem, die Indifferenz
aller Ge«j;ensätze richten. SchleierniTieher bestreitet darum in echt
mystischer Weise die Möglichkeit, ir<^'endwelche besonderen Eigen-
schaften der Gottheit auch nur im Gefühle zu behaupten, und
ist in der Philosophie seiner jungen Jahre vollkommen klar
darüber, das Objekt des Abhängigkeitsgefühls nicht als Persön-
liclikeit^zu denken. Erscheint so sein religiöses Gefüld durch die
gesamte Tradition der Mystik, besonders aber durch den Gottes-
begriff des von ihm gefeierten Spinoza bestimmt, so ist doch ander-
seits zu bedenken, daß dieser Begriff von ihm wie von dem ganzen
deutsclien Neospinozismus nicht sowohl historisch korrekt als die
abstrakte Substanz der endlichen Modi, sondern vielmehr als der
Urquell des Lebens, als die lebendig schaffende Weltkraft auf-
gefaßt wird.
Es ist der Yi^alißtische Pantheismus, in den Herder, Goethe
und Schelling die Lehre Spinozas umgedeutet hatten, der auch
bei Schleiermacher den Inhalt des religiösen Gefühls bildet. Nach-
dem er so den Versuch durchgeführt hat, das fromme Gefühl ob-
jektiv zu fassen, kann er von diesem Standpunkt aus eine kritische
Behandlung der positiven Religionen geben, bei welcher das Christen-
tum als die reinste und vollkommenste Form erscheint, in der
sich jenes Abhängigkeitsgefühl ausgeprägt hat. Aber die ganze
Auffassung des Wesens der Religion wird durch diese Begründung
eine neue. Alle dogmatischen Lehren, die supranaturalistischen /;
gerade so gut wie die rationalistischen, gründen die Religion auf
eine Erkenntnis und suchen ihr Wesen in einem theoretischen
Fürwahrhalten. Die Moraltheologie, wie sie nach Voltaires und
Lessings Vorgange Kant aufgestellt hat, gründet die Religion auf
eine ethische Überzeugung und sucht ihr Wesen in der sittlichen
Gesinnung und Handlung, die sie hervorzurufen bestimmt ist.
Schleiermachers Gefühlsreligion — von der nur gleichnamigen ^)
Jacobis weit verschieden — sieht in der Religion, um sie ganz
selbständig zu machen, einen rein innerlichen Zustand des Grefühls;
sie ist ihm ein Durchdrungensein des ganzen Menschen von dem
Gefühle seiner Abhängigkeit dem Universum gegenüber. Dies
Gefühl bedarf keiner äußerlichen Gestaltung, weder in der
312 Schleiermacher.
Formulierung einer Ansicht noch in der Erzeugung irgendwelcher
Handlung. Es ist ein_ Zustand, vermöge dessen der Mensch die
Harmonie seines ganzen Wesens im Zusammenhange mit dem Welt-
leben genießt. Es soll das gesamte Leben des Menschen durch-
leuchten, aber es bedarf keiner eigenen und besonderen Funktion,
in der es sich nach außen absichtsvoll zu erkennen gäbe. Das
»fromme Gefühl« ist deshalb durch und durch persönHch und
individuell. Indem das Individuum sein eigenes Wesen in der
Tiefe erfaßt, fühlt es sich eben darin von dem Urgründe aller
Dinge und dem Gesamtleben des Universums abhängig. In dieser
Hinsicht ist Schleiermachers Religionsphilosophie eine der inter-
essantesten und bedeutendsten Synthesen der individualistischen
und der universalistischen Tendenz, welche sich durch das moderne
Denken antagonistisch hindurchziehen. Der Gegenstand des Ab-
hängigkeitsgefühls ist die absolute Welteinheit, in der alle Be-
stimmtheit untergegangen ist: der Ursprung dieses Abhängigkeits-
gefühls liegt in dem voll entwickelten Individuum. Die harmo-
nische Ausbildung der Persönlichkeit vollendet sich darin, daß es
sich in der ganzen Ausdehnung seines Wesens von dem göttlichen
Urgründe abhängig fühlt. Das fromme Gefühl ist für Schleier-
macher der Schlußstein in der harmonischen » Bildung « des In-
dividuums, und seine Lehre bezeichnet deshalb den Punkt, an
welchem das Bildungsideal der Romantiker sich als religiös be-
greift. Darum aber ist für ihn das religiöse Leben ein durchaus
individualistisches, es ist nicht auf Satzungen einer Konfession
oder einer Vernunfterkenntnis zu beschränken, und aller Fort-
schritt des religiösen Lebens der Menschheit geschieht nur durch
bedeutende Persönlichkeiten, welche dem Abhängigkeitsgefühl eine
neue Gestalt geben und diese in ihrer Umgebimg erwecken. Jede
positive Religion ist durch die Persönlichkeit ihres Stifters bedingt,
und in diesem Sinne führt Schleiermacher das Christentum auf
die sündlose Persönlichkeit Jesu zurück. Die feinere Beziehung
zu der romantischen Lehre, die sich bei Schleiermacher überall
durchfühlen läßt, zeigt sich auch darin, daß es das religiöse
Genie *) ist, worauf er die Epochen der Religionsueschichte gründet,
*) Der IJegritF des religiöseü'^Genies^'ist später von Schleiermachers be-
deutendstem Schüler Alexander Schweizer am eingehendsten und
glänzendsten entwickelt worden.
Kthik, 313
und die religiöse Clonialitiit besteht in einer originellen AushihJung
des Abhängigkeitsgefühls. Die wahre .liingersehaft dem Kcligions-
stifter gegenüber ist die kongeniale Versenkung in das fromme
Gefühl, in welchem er zuerst gelebt hat. Die Parallele zum Kunst-
genuß ist unverkennbar, und es zeigt sich, daß der religiöse
Idealismus seine Wurzeln in dem ästhetischen Zuge des deutschen
Denkens hatte. Allein diese reine Verinnerlichung, die Schleier-
macher mit dem Begriffe der Religion vollzog, um alles Äußer-
liche von ihr abzutun, hatte notwendig eine gewisse Unfähigkeit
zur Folge, mit der realen Organisation des religiösen Lebens
Fühlung zu gewinnen, und erst in seinen späteren Jahren hat
Schleiermacher durch mancherlei Konzessionen und Wendungen,
die von seinem philosophischen Standpunkt aus als Inkonsequenzen
erscheinen müssen, dieser Aufgabe Genüge tun können.
Mit der religionsphilosophischen geht die ethische Bedeutung
Schleiermachers Hand in Hand. Auch hier betont er, namentlich
während der ersten Zeit, in vollkommenster Weise die Idee der
Persönlichkeit und spricht damit auf viel reiferem Standpunkt
als Shaftesbury das Geheimnis seiner Zeit aus, in der die großen
und originellen Individuen sich gewissermaßen drängen. Gerade
diese Jahrzehnte zeigen auf allen Gebieten eine Fülle bedeutender
Persönlichkeiten, von denen jede den großen Reichtum der ge-
meinsamen Bildung in seiner selbständigen Weise für sich aus-
gestaltete. Von dieser Feinheit der persönlichen Kristallisation
eines gewaltigen Bildungsstoffes, von dieser Filigranarbeit eines
reichen inneren Lebens, von diesem Herausarbeiten der Indivi-
dualität aus einer miiversalistiscben Kultur haben wir Epigonen
nur noch eine schwache Vorstellung. Durchschnittsmenschen, die
nur in der Masse und dm'ch die Einfügung in diese wirken, finden
unsere Zeitgenossen schwer den Maßstab für jene Fülle eigen-
artiger und dabei doch unendlich vielseitiger Geister. Was unsere
Zeit ihre Größen nennt, ist fast immer die einseitige Entfaltung
einer gewaltigen Kraft, deren Züge unvergleichlich viel gröber
ausfallen, als bei den Heroen jener Zeit. Der Triumph der In-
dividualität über den ganzen Reichtum einer universalistischen
Bildung ist für uns ein Ideal der Vergangenheit geworden. ^ Wer
sich mitten darein versetzen will, findet es nirgends besser aus-
gesprochen als in Schleiermachers Ethik. Wir besitzen sie in den
^ ^>^ ''^^^*' >^tfv£*,^ J.:«.*,**«<i/ V
314 Schleiermacher.
beiden posthumen Ausgaben von Schweizer (1835) und Twesten
(1841). Sie ist schon formell ein sehr schön geschlossenes, liebe-
voll durchgearbeitetes, architektonisch bewunderungswürdiges
»System der Sittenlehre«. Aber sie sucht auch namentlich in
ihrem Inhalt alle Harten des Kantischen und Fichteschen Rigo-
rismus in dem Geiste abzuschleifen, den schon Schiller vertrat.
Auch sie wendet sich gegen den kategorischen Imperativ und vor
allem gegen die imperativische Behandlung der Moralphilosophie.
Das Sittengesetz gilt ihr als die innerlich notwendige Funktion
des intelligenten Wesens. Es steht deshalb mit dem Naturgesetze
nicht in einem notwendigen und prinzipiellen Gegensatze. Es
geht vielmehr eine Linie der Entwicklung und Vervollkommnung
aus der Natur in die Geschichte. Das Entwicklimgssystem von
Leibniz, Herder undSchelling wird von Schleiermacher im ethischen
Sinne gedeutet. Nur da, wo die niederen Triebe mit den höheren
streiten, erscheinen die letzteren im Bewußtsein als ein Gesetz
des Sollens. Aber das Ideal ist nicht, daß jene durch diese ver-
nichtet werden, sondern daß beide zu der harmonischen Aus-
gleichung gelangen, die durch ihr Wertverhältnis bestimmt ist.
Die sittliche Aufgabe besteht also in der vollendeten Ausbildung
des Individuums, welches in dem Gleichgewichte seiner ver-
schiedenen Kräfte sein inneres Wesen auszuleben hat. So hat
jeder Mensch eine persönliche Aufgabe — Fichte hatte es die
^Bestimmung^ des Menschen genannt — und erfüllt sie in einer
persönlichen Durchbildung, die alle Momente des gemeinsamen
Kulturlebens auf den einheithchen Zweck der individuellen Voll-
endung zu beziehen hat. Das wahre sittliche Leben ist ein Kunst-
werk, welches die allgemeinen Lebensbeziehungen in eine indivi-
duelle Gestalt konzentriert. Deshalb aber ist die sittliche Ent-
wicklung des Individuums nur auf der breiten Basis des all-
gemeinen Kulturlebens denkbar und besteht lediglich in einer per-
sönlichen Verarbeitung aller der Momente, die den Gehalt des
Ganzen ausmachen. Das reife sittliche Individuum muß sich mit
der Gesamtheit eins wissen, indem es diese in sich zu einer per-
sönlichen Form gestaltet hat. Von diesem ethischen Standpunkt
her gewann Schleiermacher die ideale Schätzung der großen Güter
des gemeinsamen Menschenlebens, so begriff er den Staat, die
Geselligkeit, die Universität und die Kirche, und so gab er in
■■i
(Jütorlehre. :\\f}
seiner Lehre das vollkommene Rild seiner eigenen, in sich ge-
schlossenen und doch überull mit dem (Jesumtlebcn in lebendigster
Fühlung begriffenen Persünliehkeit.
Auf der (lüterlchrc beruht nun*das lliiuptinteressc in dem ans-
geführten ethischen System des l^hil()so[)hen. Er behandelt darin
als »ethische Organismen« die konkreten Formen der menschlichen
Lebensgemeinschaft, welche das »höchste Gut«, d. h. die Ein-
heit von Natur und Vernunft zur geschichtlichen Erscheinunf;
bringen. Die Grundbegriffe des realen und des idealen Faktors,
welche der Schleiermachcrschen Dialektik zugrunde lagen, wieder-
holen sich hier in der Unterscheidung der »organisierenden« und
der »symboHsierenden« Tätigkeit. Unter den ersteren Begriff
fallen alle Handlungen und Verhältnisse, durch welche die Ver-
nunft das natürliche Leben durchdringt und für sich gestaltet;
als symbolisierend erscheint die Intelligenz überall da, wo sie
das von ihr durchdrungene und gestaltete Naturgebilde in ihr
eigenes Leben aufnimmt und als sich zugehörig bezeichnet. Indem
mit dieser Einteilung sich der Gegensatz des Identischen und des
Differenzierten, d. h. des Allgemeinen und des Individualisierenden
kreuzt, entstehen als die vier Gebiete des sittlichen Lebens der
Verkehr und das Eigentum, das Denken und das Gefühl. Auf
diese Weise gestaltet sich das System des Ethik zu einer in großen
Zügen entworfenen Lehre von dem sittlichen Gesamtleben der
Vernunft, welches als allgemeinste und höchste intellektuelle
Wirklichkeit den Untergrund für jene Lebensentfaltung des Indi-
viduums bildet. Zum Hauptgegenstande der Ethik wird damit
(dasselbe, was Hegel als den »objektiven Geist« bezeichnet, nämlich^
die menschliche Gattungsvernunft in ihrer geschichtlichen Aus-
prägung durch die Organisationen des öffentlichen Lebens. Wie
die Physik als Theorie neben die beschreibende Naturwissenschaft,
so tiitt die Ethik als Geschichtsphilosophie neben die erforschende
und erzählende Historie.
Die Wirkung Schleiermachers ist in der Theologie zweifellos
umfassender als in der Philosophie gewesen, und sie betrifft auch
auf jenem Gebiete wesentlich erst die Zeit, welche der späteren
Darstellung vorbehalten bleibt. In der Philosophie vollends wurde
Schleiermacher zmiächst beinahe gänzlich durch den umfassenden
Erfolg der Hegelscher» Lehre zurückgedrängt. Nur auf den
316 Hegel.
romantisclieii Kreis wirkte seine Betonung des religiösen Elements
der Bildung unmittelbar zurück. Freilich nur in der allgemeinsten
Weise. Denn auch die Bahnen der Theosophie, die SchelUng ein-
schlug, lagen weit von der Richtung ab, in die Schleiermacher
gewiesen hatte. Aber den Erfolg darf man ihm sicher zuschreiben,
daß die Gebildeten unter den Verächtern der ReHgion ihren Wert
wieder zu schätzen anfingen, wenn sie ihn auch anders auffaßten
als er. Hauptsächlich für die Naturphilosophie lag der Anschluß
an die Spinozistische Fassung des Gottesbegriffes, die Schleier-
macher gegeben hatte, nahe, und unter ihren Anhängern war es
namentlich Steffens, welcher durch die persönliche Berührung
in Halle zu Schleiermacher hinübergezogen wurde.
§ 68. Der logische Idealismus.
Hegel.
Die Lehre Schleiermachers ist in gewissem Sinne ein Versuch,
von Schellings Identitätssystem aus zu Kant zurückzukehren. Sie
betrachtet wie der absolute Idealismus die natürliche und die
geschichtliche Reihe der Erscheinungen als differenzierte Selbst-
objektivierungen des göttlichen Urbildes, aber sie hält das letztere
selbst für unerkennbar und gewinnt seine Vorstellung nur aus
dem religiösen Gefühle. Sie hat deshalb auch nicht im ent-
ferntesten eine Erkenntnis davon, wie ^ das Absolute' dazu kommt,
sich gerade in diesen und keinen andern Erscheinungen zu offen-
baren. Aber im Grunde genommen fehlte die Lösung dieses
Problems, das Schleiermacher gar nicht erst aufstellte, auch in
Schellings Identitätssystem. Hier wurde diese Differenzierung
zwar überall behauptet, aber nicht begriffen, und das war die
selbstverständliche Folge davon, daß das Absolute hier als quali-
tätslose Indifferenz aller Erscheinungen gedacht war. Wie sich
aus diesem bestimmungslosen Grunde die Bestimmtheit der ein-
zelnen Erscheinungen entwickeln sollte, war ebensowenig zu ver-
stehen wie die Verwandlung der Spinozistischen Substanz und
ihrer allgemeinen Attribute in die einzelnen Modi.
Aus der »Nacht des Absoluten«, in der alle Unterschiede ver-
dämmerten, war die feste Bestimmtheit der Gestalten in der
Tageshelle der Wirklichkeit nicht abzuleiten. So entstand in der
■■IHHBBHP
Der Geist als Entwicklung. 'A\7
idealistischen Riclitiiiij; ihre letzte und iiücliste Aufgabe, die Kr-
scheinun«;cn aus dem Absoluten ho zu deduzieren, daß sich ein-
sehen ließe, weslialb es sich ;^'erade in diese und keine andere
Wirklichkeit entwickeln muß: die transzendentale J.ogik sollte die
allgemeine Form der Vernunft so fassen und so formulieren, daß
sich daraus auch die wesentlichen Inlialtsbestimmungen der em-
pirischen Wirklichkeit ableiten ließen. J)iese Aufgabe war nur
dadurch zu lösen, daß der Begriff des Absoluten aus jener Un-
bestimmtheit, worin er die Indifferenz aller Besonderheiten enthielt,
in eine bestimmte Qualität übergeführt wurde, aus deren Wesen
heraus alle seine Entwicklungsformen herzuleiten waren. Dies
höchste Ideal aller menschlichen Wissenschaft, das man als solches
verstehen muß, auch wenn man es für unerreichbar hält, bildet
die Aufgabe, die sich He^^el setzte, und jene Bedingung ihrer
Lösung fand er darin, daß er das "^bsolute^als den sich
selbst entwickelnden Geist charakterisierte. Das ist der Sinn
seines Ausspruchs: die Substanz müsse zum Subjekt erhoben
werden. Mit diesem Bestreben führt die Philosophie in einer
ganz anderen Weise als bei Schleiermacher von Schelling zu Kant
zurück und zugleich über ihn hinaus. Daß alle philosophische
Erkenntnis aus der Organisation des Geistes stammt, ist das
Grundthema für die ganze Bewegung der deutschen Philosophie.
Diese Organisation ist für Kants kritische Methode diejenige des
menschlichen Geistes, sie beschränkt sich deshalb auf die Formen
des Denkens, und in diesem Sinne wird die Erscheiuungswelt von
dem wahren Wesen der Dinge unterschieden. Aber schon Kant
überschritt nicht nur diesen Ausgangspunkt auf der theoretischen
Linie mit dem Begriff des »Bewußtseins überhaupt«, sondern er
sah sich auch in der Kritik der praktischen Vernunft genötigt,
das Fundament jener Organisation als ein für alle vernünftigen
Wesen geltendes Gesetz zu betrachten. So durchbrochen, wurde der
anfängliche Subjektivismus in der Weiterentwicklung Schritt für
Schritt aufgehoben, und das Identitätssystem betrachtete wieder
auch die theoretische Vernunft als ein Weltgesetz. Die Identität
von Denken und Sein, von dem alten Rationalismus naiv an-
genommen, erschien, nachdem sie bei Kant als problematisch
beiseite geschoben war, in diesem neuen Rationalismus als ein
bewußtes und ausdrückliches Postulat wieder. Sie wurde von
318 Bardili.
Hegel gerade dem Kritizismuy gegenüber als der »Mut der Wahr-
heit«, als »der Glaube an die Macht des Geistes« proklamiert,
welcher die erste Bedingung aller Philosophie sei. Für diesen
Standpunkt ist die Kantische Kritik der Erkenntnis gegenstandslos
geworden: für ihn ist der „Geist, dessen Organisation die philo-
sophische Welterkenntnis bedingen soll, nicht mehr der "mensch-
liche, sondern der absolute Geist. Nun bezieht sich seine Or-
ganisation nicht mehr bloß auf die Formen, sondern auch auf
den Inhalt des Denkens. Nun beschränkt sich seine Erkenntnis
nicht mehr auf subjektive Erscheinungen, sondern sie umfaßt die
objektiven Entwicklungsformen des absoluten Geistes. Vom Stand-
punkte der Identität aus gesehen, ist die Organisation des Geistes
zugleich diejenige der realen Welt: es ist Kants »intuitiver Ver-
stand«, den die Philosophie jetzt sich zu eigen machen soll.
Dadurch wird von Seiten der metaphysischen Anschauung die
Welt zu einer Entwicklungsgeschichte des absoluten
Geistes; dadurch wird hinsichtlich der philcsophischen Methode
die Welterkenntnis zu einer dialektischen Deduktion der not-
wendigen Selbstent Wicklung des Geistes. Mit dem Postulat der
Identität verbunden, setzt sich Kants transzendentale Logik in
eine philosophische Grundwissenschaft um, welche das System der
Kategorien als dasjenige der absoluten Wirklichkeit betrachtet.
Die Vereinigung von Lo^ik und Metaphysik, die bei
Schleiermacher als das Ideal des absoluten Wissens auftrat, er-
scheint in Hegels Logik als eine gelöste Aufgabe.
Ähnliche Gedanken waren schon von anderen früher aufgestellt
/!/'/> worden. Namentlich Bardili (1761 — 1808) hatte von einem ver-
wandten Standpunkt aus die Kantische Lehre in seinem »Grundriß
der ersten Logik« (1800) und in der »Philosophischen Elementar-
lehre« (1802 — 1806) bekämpft, und sein und Reinholds »Brief-
wechsel über das Wesen der neuesten Philosophie und das Unwesen
der Spekulation« (1804) hatte diese Gedanken weiter ausgeführt.
Die Trennung des Denkens vom Sein, welche der Kritizismus mit
sich führt, sei Fein Grundfehler und mache alle wissenschaftliche
Erkenntnis unmöglich. Wenn das Denken, auf sich selbst be-
schränkt, nur seine eigenen Formen ausspinnt, so ist es ein Traum
und keine Erkenntnis, so ist es haltloser denn ein Spinngewebe,
weil es nichts hat, woi-an es sich anheften kann. In dieser Hin-
Berpcr. .'il!l ,
sieht synipatliisiorcn Keinliold uiul Hardili mit JawbiH Bcliaiiptun;:,
daß der Kritizisimis zum Nihilismus führe. Man muß sorgfältig; —
so knüpft diese Lehre an die »Elemmtarpliilosophie* an — zwischen
dem Vorstellen und dem Denken unterscheiden; letzteres ist das
notwendige, (^d. li. das mit der Realität identische Vorstellen. Was
notwendig gedacht wird, ist, und nur das Sein wird notwendig
gedacht. Deshalb nennt sich dieses System rationalen Realis-
mus. In ihm ist die Lehre vom Denken die Lehre vom Sein und
die Logik gleich der Metaphysik oder der Ontologie; sie wird in
diesem Sinne auch von Bardili als Dialektik bezeichnet. Daraus
folgt aber auch umgekehrt, daß alles Sein ein Denken ist; denn
die Erkenntnis besteht nur darin, daß unser Denken den Begriff^
welcher das Wesen des realen Dinges ausmacht, reproduziert.
Alles ursprüngliche Sein ist Gedanke oder reale Idee, und wir
erkennen die letztere, indem wir sie subjektiv in uns wiederholen.
W^enn sich auf diesen Grundlagen eine Metaphysik aufbauen soll,
so geschieht es nach dem Prinzip, daß alle Verschiedenheit des
Seins in der"^ Verschiedenheit der Intensität des Denkens^ seinen
Grund hat. Damit greift Bardili zu der Monadologie von Leibniz
zurück imd konstruiert ein System aufsteigender Formen des Seins,
welches die allmähliche Verdeutlichung des Denkens zum Maß-
stabe nimmt. Zugleich erinnert diese Lehre an die Schellingsche
Naturphilosophie und entnimmt ihr hauptsächlich den Gedanken,
welcher platonisch-aristotelischen Ursprungs ist, daß in der höheren
Potenz immer die niedere enthalten sein soll. In der Materie
r ^
sich passiv genießend, erscheint das Sein in der Pflanze vor-
stellend imd träumend und gelangt im Tier zum Bewußtsein,
um sich schließlich im Menschen zum Selbstbewußtsein zu steigern.
Ähnlich wie Bardili ist diu'ch Hegel Erich von_Ber^r (ArMaej,
(1772 — 1833, geborener Däne und Professor in Kiel) in Schatten ^^
gestellt worden. Er versuchte in seiner »Philosophischen Dar-
stellung der Harmonie des Weltalls« (1808) eine Vermittlung
der Wissenschaftslehre und des Identitätssystems, in der viel-
leicht schon ein Einfluß der Hegeischen Phänomenologie zu er-
kennen ist, und jedenfalls lassen ihn seine »allgemeinen Gnmd-
züge der Wissenschaft« (4 Bände 1817 — 1827) bereits mehr als
einen relativ selbständigen Schüler Hegels erscheinen. Er legt
das Postulat der Identität dahin aus, daß die Wirklichkeit nur
320 Hegel.
erkennbar ist, wenn sie selbst reales Denken enthält. Die,^ Ver-
nünftigkeit der Welt ist die Voraussetzung ihrer vernünftigen
Erkenntnis. Nur eine Welt, die selbst Vernunft ist, kann von
der Vernunft erkannt werden, und auch dies nur dann, wenn
die erkennende und die zu erkennende, wenn die subjektive und
die objektive Vernunft in ihrer Wurzel und in ihrem Wesen
identisch sind. Die Natur ist nur erkennbar, insofern sie reales
Denken ist. Dieses Prinzip hat Schelling durchgeführt. Aber
der Naturphilosophie muß deshalb die Wissenschaftslehre oder
die Logik als die Selbsterkenntnis der Vernunft vorhergeschickt
werden. Hieraus hat Berger später eine Dreiteilung der Philo-
sophie abgeleitet. Der Geist erkennt sich selbst in der Logik,
er erkennt sich als eine äußere und fremd gewordene Realität
in der Physik, und er erkennt sich als die dies »Andere« be-
herrschende Macht in der Ethik. Das Absolute ist die Idee,
welche in allem anderen erscheint, und welche darin sich selbst
realisiert und sich selbst erkennt. Die volle Ausführung und
systematische Entwicklung dieses Gedankens war die Lebens-
arbeit Hegels.
J(oA^ Georg Wilhelm Friedrich JLsj^^el war 1770 in Stuttgart
■ -^ geboren und studierte in den Jahren 1788 — 1793 auf dem Stift
II in Tübingen. In der Freundschaft mit Hölderlin und Schelling
" / ^3/ erfüllte sich sein Geist mit dem ganzen Reichtum der klassischen
imd der modernen Bildung. Das Griechentum mit seiner har-
monischen Entfaltung reiner Menschlichkeit war auch ihm die
geistige Heimat, die er in dem idealen Lichte der Schillerschen
Darstellung sah. Die Dichter und die Philosophen von Hellas
waren ihm durch das ganze Leben hindurch vertraute Freunde,
und in dem griechischen Staate verehrte er das Ideal eines ästhe-
tisch-sittlichen Zustandes der Gesellschaft. Die französische
Revolution und die Kantischc Philosophie, die mit den faulen
Zuständen dort des politischen, hier des wissenschaftlichen Lebens
aufzuräumen versprachen, fanden in ihm die erste einen be-
geisterten, die andere einen still verarbeitenden Jünger. Als er
dann einige Jahre in Bern als Hauslehrer zubrachte, vertiefte
er sich in historische Studien und folgte zugleich auf das ge-
naueste der philosophischen Entwicklung, die einerseits Fichte,
anderseits Schiller nahm. In denselben Jahren entstand ein
FiOl)on und Wc^rko. 321
MaiuiMkripl iibor das LcIxmi .Icsii, wolrhos ilm mit (1<t liCKwin»^-
schon Auffassung dor roli^iöson Entwicklun«^' auf dcinsclbcn SUnd-
punkto zeii^t. Duivli soiiio Oboisjodlun«^ nach Frankfurt a. M.,
wo er sich in dvv !j;UMc'hni äußeren Stelhni^ befand, wurden zwar
die theologischen und die politischen Studien nicht unterbrochen,
aber das nauptintcrcssc seiner Arbeit fiel dort schon auf einen
Entwurf seines phih)sop]iisclien Systems, den er in einem aus-
führliclien Manuskript niederleujte und teilweise mit Hölderlin
besprach. Dieser Entwurf zci<^t methodisch und inhaltlich be-
reits die Grundzüge seiner späteren Lehre und beweist, daß sich
ihr Grundproblem unabhängig von dem Identitätssystem bei ihm
aus der Kantischen und Fichteschen Philosophie entwickelt hat.
Aber Hegel besaß bei seinem kühlen und ruhigen, von allem
Übermut der Genialität freien Wesen die Strenge gegen sich
selbst, daß er die Gedanken in der Stille ausreifen ließ und mit
ihnen nicht eher vor die Öffentlichkeit trat, als bis er ihren
Abschluß gefunden hatte. Während Schellings AVerke, wie die
Dialoge Piatons, ihren Verfasser in einer stetigen Umbildung
begriffen zeigen, tritt das Hegeische System schon in dem ersten
großen Werke wie die Minerva aus dem Haupte des Zeus fertig
imd gepanzert hervor, und in seinen Schriften spricht deshalb
von Anfang bis Ende, wie es bei den überlieferten Lehrschriften
von Aristoteles der Fall ist, der mit sich selbst einige Denker.
Diese geschlossene Einheit aber war durch eine tief bewegte,
mit zähem Ernst ringende und erstaunlich vielseitige Entwick-
lung erworben worden, in der die ganze Mannigfaltigkeit des
geistigen Lebens seiner Zeit zur Geltung gekommen war: die
Prinzipien der zu Ende gehenden Aufklärung und die Motive
der aufsteigenden Romantik waren sich in Hegels Geiste be-
gegnet. Über diesen hochbedeutsamen Prozeß hat erst jüngst
Wilhelm Dilthey auf Grund der in der BerHner Bibliothek auf-
bewahrten Manuskripte ein reizvolles Licht zu verbreiten be-
gonnen.
Nach einem Menschenalter der Vorbereitung, der Sammlung
und der Verarbeitung begann Hegel im Jahre 1801 sein zweites
Menschenalter, dasjenige seiner Lehrtätigkeit. Durch den Tod
seines Vaters selbständig geworden, habilitierte er sich auf
Schellings Veranlassung in Jena und gab dort mit dem Jugend-
Windel"band, Gesch. d. n. Philos. U. 21
\
322 Hegel.
freunde das »Kritische Journal der Philosophie« heraus. Er
und Schelling meinten damals in ihrer philosophischen Über-
zeugung einig zu sein, und in den Abhandlungen, die Hegel in
diesem Journal veröffentlichte, zeigt er sich so sehr als ein selb-
ständiger Genosse Schellings, daß über einige dieser Abhand-
lungen, besonders über diejenige, welche von dem »Verhältnis
der Naturphilosophie zur Philosophie überhaupt« handelt, später
ein Streit entstehen konnte, welcher von beiden der Verfasser
sei. Von anderen Aufsätzen hat sich nachher herausgestellt,
daß die Freunde sie gemeinschaftlich verfaßt haben. Aber auch
die Abhandlung über »Glauben und Wissen« und die »Differenz
des Fichteschen und Schellingschen Standpunktes« sind völlig
im Geiste des Identitätssystems gehalten. In der Tat lag da-
mals noch die MögHchkeit vor, daß die Schelhngsche Lehre in
die von Hegel bereits betretene Bahn einmündete, und, wie
oben erwähnt, zeigen die späteren Darstellungen im »Bruno«
und in der »Methode des akademischen Studiums« auch bei
Schelling ein Überwiegen des ideellen Faktors im Absoluten,
welches ganz in der Richtung von Hegels Grundgedanken lag,
das "Absolute^ sei der Geist. Erst als Schelling auf andere An-
regungen in Würzburg die theosophische Wendung nahm, vollzog
sich mit der räumlichen auch die geistige Trennung der beiden
Freunde, welche später zu einer bedauerlichen und namentlich
auf Schellings Seite leidenschaftlich gereizten Gegnerschaft ge-
führt hat. Diesen Bruch mit dem Identitätssystem bekundete
3 7 0 • Hegel durch seine »Phänomenologie des Geistes« (Jena 1807),
das erste und in gewissem Sinne das großartigste seiner Werke.
Er war mit der Abfassung desselben eben fertig, als der
preußisch-französische Krieg den geistigen Kämpfen in Jena für
einige Zeit ein Ende machte; er verlor damit die außerordent-
liche Professur, die er 1805 erhalten hatte, und sah sich ge-
nötigt, während der folgenden Jahre in Bamberg als Redakteur
einer kleinen Zeitung sein Leben zu fristen. Aus dieser Position
erlöste ihn Niethammer, durch dessen Vermittlung er zum Di-
rektor des Ägidien- Gymnasiums in Nürnberg berufen wurde.
Das Denkmal dieser seiner Lehrtätigkeit bildet die philosophische
»Propädeutik«, welche er für den Unterricht in der obersten
Klasse entwarf; zugleich gab er in diesen Jahren sein Grund-
7?
Loben und Wirken. 323
work, die dreibiiiuiigo »Wisöcn.scliaft der Lo;jik« (Niiinbor;^ 1812
bis I81l)) henius. Als die Kriege; juis;^el()bt hatten, erhielt er
1810 «^leichzeitij^ Berufungen nach Jkrlin, Erlangen und Hcidelber;^
und f()ljj;tc auf Daubs Driin^^'cn der letzteren, um jedoch öcIidu
1818 nach Berlin überzusiedeln. Von da bis zu seinem Tode,
der 1831 durch die Cholera erfolgte, entwickelte er auf dem ^ ^ 'l
Berliner Katheder eine ausgebreitete und glänzende Wirksamkeit.
Er sah nicht nur die Scharen seiner Jünger sich von Jahr zu
.Jahr mehren und die Spitzen des Staates und der Gesellschaft
sich in seine Vorlesungen drängen, sondern er fing namentlich
durch Vermittlung des Ministers Altenstein an, bei der Regie-
rung solchen Einfluß zu gewinnen, daß seine Lehre als die
»preußische Staatsphilosophie« galt, und daß sich auch die
übrigen Universitäten mit seinen Schülern bevölkerten. An der
Spitze dieser Schule, deren Organ seit 1827 die Berliner »Jahr-
bücher für wissenschaftliche Kritik« bildeten, wurde er zeitweili«;
eine Macht in dem geistigen Leben Deutschlands, wie es kaum
Kant gewesen war, und der enzyklopädische Charakter seiner
Lehre brachte es mit sich, daß alle Wissenschaften in diese Be-
w^egung hineingezogen wurden. Er wurde für Deutschland genau
das, was ein Jahrhundert vorher Wolff gewesen war, und zw^ar
deshalb, weil er die Nation in dieselbe rationale Schulung nahm,
durch welche sie Wolff für die Zeit ihrer großen Entwicklung^
vorbereitet hatte. War Wolffs logische Universalität die Grund-
lage für die gewaltige Entwicklung des inhaltlichen Denkens, die
seit Kant der Idealismus entfaltete, so ist Hegels logische Uni-
versalität die abschließende Verarbeitung dieser Entwicklung. *
Darin besteht ihre Ähnlichkeit, darin aber auch die gewaltige
Überlegenheit, welche Hegel Wolff gegenüber besitzt. Man kann
den Reichtum der Entwicklung, welche der deutsche Geist in
jenem Jahrhundert durchgemacht hat, nicht besser beurteilen,
als wenn man die Systeme beider vergleicht.
Hegel selbst hat nur noch seine »Enzyklopädie der philo-
sophischen Wissenschaften im Grundrisse« (3 Teile, Heidelberg
1817) und die »Grundlinien der Philosophie des Rechts« (Berlin 1821)
herausgegeben. In die ge.-ammelten Werke (Berlin 1832—1845)
aber, zu deren Herausgabe sich eine Reihe seiner Schüler ver-
banden, sind außerdem seine Vorlesungen über Philosophie der
21*
324 Hegel.
Geschichte, Ästhetik, Eeligionsphilosophie und Geschichte der
Philosophie nach seinen Notizen und den Nachschriften von Zu-
hörern aufgenommen worden. Seine Darstellung ist keine glück-
liche; nur an seltenen Stellen kommt der Gedanke in klarer,
gelegentlich auch in schöner und großartiger Form zum Ausdruck.
Meist — und das trifft zumal die Vorlesungen — ist es das
Ringen des Denkens mit sich .^:elbst, das in einer schwierigen
Terminologie sich offenbart. Der formale Schematismus, der das
Ganze beherrscht und sich bis in die fein.-ten Gliederungen fort-
setzt, ist dem Verständnis des Uneingeweihten überall hinderhch,
und es ist wohl zu begreifen, daß es eine geraume Zeit lang nur
sehr wenige waren, die durch diese starre Schale zu dem lebens-
kräftigen und unerschöpflich fruchtbaren Kerne des Ganzen zu
dringen wußten.
Betrachtet man die großen idealistischen Systeme als meta-
physische Weltgedichte, so verteilen sie sich nach dem Charakter
ihrer Urheber merkwürdig auf die verschiedenen Diclitungsarten.
Die gewaltige, zur Tat drängende Persönlichkeit Fichtes entlädt
sich in dem dramatischen Aufbau der Wissenschaftslehre. Der
umfassende Weltblick Schellings schildert wie in epischer Aus-
breitung die Entwicklungsgeschichte des Universums. Die zarte
Religiosität Schleiermachers spricht sich in der lyrischen Schön-
heit seiner Gefühlslehre aus. Hegels System ist ein großes Lehr-
gedicht, sein Grundcharakter ist didaktis,ch, und mit der Lehr-
haftigkeit, die zu dem Wesen seines Urhebers gehörte, erscheint
es den Vorgängern gegenüber oft wie eine prosaische Ernüchterung.
In der Tat bestand der Bruch, den Hegel durch dieThänomeno-
logiemit dem Schellingschen System vollzog, darin, daß er sich
gegen das »geniale Philosophieren« erklärte. An Stelle der
Intuition, die unmittelbar das Wesen des Absoluten zu erfassen
meinte, setzt er wieder die strenge Arbeit des Begriffes. Die
Identität von Denken und Sein enthält die Voraussetzung, daß
das Wesen aller Dinge die ^Vernunft' sei. Alles was ist, ist ver-
nünftig, und nur das VernünftTge ist. Aber deshalb muß auch
die Vernunfterkenntnis bis in das innerste Wesen aller Dinge zu
dringen und sie völlig aus der Notwendigkeit der Vernunft ab-
zuleiten vermögen. Was bisher durch geniale Konzeption, durch
Behauptungen und Analogien aufgestellt worden ist, muß sich
Ilatiüiiulisnius. 3^25
als ein notwcndi^os Piotlukt des vcniünfti^^cn Denkens er<,'ebon.
Das lilentitätssystem soll sicli in einen neuen Rationalismus
verwandeln. Von dem poetischen P]iil()sopliieren ^'eht Hegel wieder
auf das wissenschaftliche zurück. Darum hat man sein System
mit Recht die Rationalisierung der Romantik genannt.
Aber der Inhalt der Romantik, den JJegel zu rationalisieren
vorfand, war eine so starke Geistesmacht, daß der neue Rationa-
y
lismus sich ihm fügen mußte, und daß die^Eegriffswissenschaft,
welche Hegel gab, das allerwunderlichste Durcheinanderschillern
der Phantasie und des Verstandes zeigt. Gerade darin besteht
die gefährliche Eigentümlichkeit Hegels, daß bei ihm das geniale
Philosophieren der Phantasie und der Analogie in dem Kleide
,, begrifflicher Notwendigkeit auftritt. Der rationalistische Charakter
seiner Lehre ist deshalb ganz andersartig als derjenige des vor-
kantischen Dogmatismus. Auf die Reflexionsphilosopliie des Ver-
standes, welche sich streng an die Regeln der formalen Logik
hält, eben deshalb aber nichts Neues zu erzeugen vermag, sieht
auch Hegel vornehm herab, und er mutet dem »rationalen«
Denken zu, eine ü^anz andere Form der bearifflichen Erkenntnis
sich zu eigen zu machen, welche er »Vernunft« nennt. Weit über
der Verstand eserkenntnis, die nur, wie der Kritizismus gezeigt
hat, mit der Anerkennung ihrer eigenen Beschränktheit und mit
dem Verzicht auf das wahrhaft wertvolle Wissen enden kann,
steht die dialektische Methode.
Die unmittelbare Abstammung des Hegeischen Denkens aus
der Fichteschen Wissenschaftslehre zeigt sich in der universellen
Ausbildung, die Hegel dieser Methode gegeben, und in dem Gegen-
satz, worin er sie zu der gewöhnlichen formalen Logik gebracht
hat. Zu den schwierigsten Darstellungen der Wissenschaftslehre
gehörte diejenige, welche ihre ersten Sätze aus den Problemen ent-
wickelte, die in den Grundsätzen der formalen Logik enthalten
sind. Schon hier trat der Gedanke hervor, daß die Konstruktion
der Wissenschaftslehre sich nicht jenem höchsten Prinzip unter-
ordnen könne, welches als der Satz des Widerspruches an der
Spitze der formalen Logik steht. Die Realität der Widersprüche
ina Ich war ja das Prinzip, auf welches die Wissenschaftslehre
ihre Entwicklung der Geschichte des Bewußtseins gründete. Diese
Auffassung erweiterte sich bei den Nachfolgern vom Ich aus über
■i
326 Hegel.
alle Dinge, die ja als Produkte jenes in sich widerspruchsvollen
Ich galten. Die Naturphilosophie mit ihrer Lehre von der
Polarität lag bereits ganz in dieser Richtung. Schelling bezog
sich in der »Methode des akademischen Studiums« direkt auf
Giordano Brunos »coincidentia oppositorum«. Die Romantiker,
Novalis und Friedrich Schlegel, sprachen es sehr bald aus, daß
»es um den Satz des Widerspruches unvermeidlich geschehen sei« ,
daß alles Leben auf Widersprüchen beruhe und deshalb durch
das Prinzip der formalen Logik nicht begreiflich sei. Diese Sätze
entsprechen der Tatsache, daß es entgegengesetzt wirkende, aber doch
stets beiderseits positive Kräfte sind, aus deren Wechselwirkung
das Geschehen hervorgeht. Aber sie verwechselten diese »Real-
repugnanz« mit der logischen »Kontradiktion« in einer Weise,
die Kant in seinem »Verbuch den Begriff der negativen Größen
in die Weltweisheit einzuführen« längst aufgedeckt und wie vor-
ahnend widerlegt hatte. Allein diese Verwechslung griff immer
mehr um sich, und sie führte im großartigsten Maßstabe schließ-
lich zu dem Hegeischen System, in welchem die »Negativität«
als die metaphysische Macht der Entwicklung betrachtet wurde.
Sollten nämhch die Gegensätze nicht bloß als gegebene Tatsachen
anerkannt, sondern durch das Denken als notwendig erkannt
werden, so war das nur dadurch möghch, daß die logische Form
der Negation als der reale AViderspruch aus der ursprünglichen
Position entwickelt wurde. ^Dies Prinzip sprach Friedrich
Schleojel in seinen Vorlesunpjen aus den Jahren 1804 — 180G
(herausgegeben von Windischmann 1836 — 1837) aus. Auch er
hatte damals bereits den Standpunkt des genialen Philosophierens
verlassen, und wie er denn immer zwischen Extremen oszillierte,
so verlangte er nun eine strenge Methode der Philosophie. Als
deren Form behauptete er, wie die Wissenschaftslehre, die
Triplizität, welche durch die Widersprüche hindurch zur höheren
Einheit empordringt. Dabei folgte auch Schlegel in diesen seinen
späteren Lehren demselben Gedankenzuge wie Bardili und Berger;
auch ihm galt dieses Denken, welches sich durch den Widerspruch
zur Wahrheit erhebt, als das göttliche Denken, das zugleich real
ist, und dessen Reproduktion im menschlichen Geiste »Erinnerung«
ist; auch ihm umfaßt deshalb diese Methode der Widersprüche
zugleich die Logik und die Metaphysik. Der Gedankengehalt, den
Dialoktinchn Moiliode. H27
er in dieser Methode darstellte, und den spüter seine » Philosoph ir
des Lebens^ (1828) und seine »Philosophie der Geschichte« (1829)
aus«>eführt liaben, ist wesentlich mystisch -rclij^iösen Charakters.
Er sucht zu zeigen, wie das Un(.*ndliche durch die dialektische
Notwendigkeit sich in das Endliche verwandelt, wie dies Endliche
in dem sündigen Menschen die volle Negation des Unendlichen
ausmacht, und wie der ganze Prozeß der Geschichte darin bisteht,
daß das Endliche wieder zum Unendlichen zurückkehrt und
schließlich darin aufgeht, — eine Wendung, die teils an den
Spinozismus Schleiermachers, teils an die letzten Lehren von
ScheUiug erinnert und bei Schlegel auch theoretisch zu dem Ge-
danken führte, daß die Unterwerfung des Individuums unter d^
positive göttliche Gesetz dessen höchste und letzte Aufgabe sei^
Den Abschluß aller dieser Bestrebungen bildet Hegels dia-
lektische Methode. Das Schema der »Dreieinigkeiten«, wie
es Schlegel genannt hatte, erscheint hier lediglich als die logische
Triplizität von Position, Negation und Aufhebung des Wider-
spruchs; aber diese Aufhebung wird nicht etwa so gedacht, daß
sie allein die Wahrheit sei und die vorangegangenen Momente
der Thesis und Antithesis widerlege, sondern so, daß alle drei
die notwendigen und realen Entwicklungsformen der Wahrheit
sind. Die Widersprüche sind das Wesen der Wirklichkeit, aber
die Wirklichkeit enthält zugleich ihre Versöhnung. Jeder Be-
griff schlägt mit metaphysischer Notwendigkeit in sein Gegenteil
um, aber aus der Syn thesis der Gegensätze ergibt sich der höhere
Begriff ihrer Vereinigmig ; daran enfaltet sich wieder derselbe
Prozeß, und dieser geht so lange fort, bis die abschließende und"^
höchste Synthese gewonnen worden ist. Dieser Prozeß ist aber
nicht nur derjenige des philosophischen Denkens, sondern, da der
"Geist und der "Begriff das Wesen der Dinge ausmacht, so ist er
zugleich die reale Entwicklmig, worin der Geist aus sich selbst
das Universum erzeugt und dadurch zu sich selbst kommt. Die
Entwicklung der Begriffe ist also zugleich Logik und Metaphysik.
Die notwendigen Formen, welche der Geist in dieser seiner inneren
Dialektik erzeugt, sind die Kategorien der Wirklichkeit. Alle
Stufen dieses Prozesses gelten für Hegel nicht mehr als subjektive,
sondern als objektive Erscheinmigen. Die Unendlichkeit der Dinge
in ihrer dialektischen Stufenfolge ist die Selbsterscheinung des
328 Hegel.
absoluten Geistes, dessen Wesen es ist, sich in sich selbst zu ent-
zweien und aus der Zerrissenheit zu sich zurückzukehren.
Trotz der Veränderung der Terminologie erweist sich doch
dieser Grundgedanke des Hegeischen Systems offenbar als eine
Assimilation der aristotelischen Metaphysik durch den Fichte-
schen Idealismus. Der aristotelische Begriff der Entwicklung
beherrscht die Lehre Hegels in noch viel tieferem Sinne als
diejenige von Leibniz*). Der göttliche Geist enthält in seinen
Kategorien die ideelle Möglichkeit aller Dinge, und der ganze
Weltprozeß besteht darin, daß diese Möglichkeit in den Gestalten
von Natur mid Geist ihre Verwirklichung findet, so daß erst
damit die Idee selbst zur vollkommenen Wirklichkeit (Entelechie)
wird. Aber diese Verwirklichung ist nun selbst wieder nichts
anderes als das wahre und ursprüngliche Wesen des göttlichen
Geistes.
Hierauf beruht zunächst die dreigliedrige Haupteinteilung des
Hegeischen Systems. Die Erkenntnis des absoluten Geistes, wie
er »an sich« ist (oder der »Idee an sich«), und der in ihm selbst
liegenden Notwendigkeit der dialektischen Entwicklung enthält
die Logik, in deren System selbstverständlich bereits alle die-
jenig^Si Entwicklungsformen eine entsprechende Stelle finden,
welche in den beiden anderen Teilen besonders ausgeführt werden.
Der Geist in seinem »Anderssein«, der Geist, wie er »für sich«
als ein Gegebenes und Äußerliches erscheint, ist die Natur. Neben
die Naturphilosophie tritt endlich als dritter Teil die Geistes-
philosophie als die Lehre von den Formen, in welchen derGeist
»an und für sich« sich selbst erfaßt und seine notwendige Ent-
wicklung vollendet. Jeder dieser Teile gliedert sich dann wiederum
nach dem triadischen Prinzip der Dialektik, und dies Schema
ist von Hegel mit der äußersten Kunst bis in das einzelnste
durchgeführt worden. Mit der äußersten Kunst: — aber auch
mit der äußersten Künstlichkeit, mit einem Virtuosentum der
begrifflichen Konstruktion und einer scholastischen Schematisierung,
die hin und wieder sich in Nomenklatur verliert und dabei an
die triadischen Ketten erinnert, in denen der letzte der Neu-
platoniker, Proklos, die Gedankenperlen der antiken Philosophie
♦) Vgl. Bd. I dieses Werkes S. 482 f.
Prin/ip der Kntwioklun^. 329
aufj^creilit hat. Die (lialoktisclic, MctlnKlo lo«^tc dem Stoff der
Krkoinitiiis rinen Zwiiu;^' auf, dein sich dieser oft nur mit wcsent-
hchon Verlusten und iniiner nur durch die bewunderungswürdige
Kombinat ionsgabe Hegels fügte. Seine Voraussetzung, daß das
logische (Jesetz der Dialektik das Weltgesetz sei, und daß der
menschliche (Jeist wie den Mut so auch die Kraft habe, die
logische Gliederung des Weltinhaltes zu verstehen, ließ ihn seine
Gedanken veibindungen in den Stoff des menschlichen Wissens
hineindenken, auch wo sich dieser gegen die Schematisierung
sträubte. Darum ist sein ganzes System wesentlich konstruktiver
Natur. Er besitzt geringe Achtung vor dem empirischen Wissen
und verwendet es nur willkürlich, um es in das Fächerwerk der
dialektischen Gliederung hineinzustecken und dann als ein Produkt
der^ Selbstbewegung des Geistes daraus hervorspringen zu lassen.
Dadurch entsteht der Schein, als erzeuge die dialektische Methode
all das Wissen, welches die besonderen Wissenschaften in ihrer
Weise empirisch gewonnen haben, aus sich von neuem, und al-5
drohe sie, die übrigen Disziplinen überflüssig zu machen und in
die Philosophie aufgehen zu lassen. In W^ahrheit steht die Sache
ganz anders. Nicht ein einziger Inhalt des positiven Wissens
ist von der dialektischen Methode erzeugt worden, und es konnte
von ihr nichts erzeugt werden. Ihre scheinbare Fruchtbarkeit
beruht auf einer Kryptogamie mit dem empirischen Wissen. So
konnte es sich denn später ereignen, daß der eine oder andere
der näheren oder ferneren Schüler von Hegel, wie z. B. W^eiße,
den sachhchen Gehalt dieser Lehre, mit dem Hegel oft so tief
gedrungen war, allein ohne die Methode darzustellen versuchte,
und daß der Gegenstand dabei zu vieler Erstaunen nicht nur
nichts verlor, sondern eher noch gewann. Der eigentliche Sinn der
Methode ist also nur der, die gesamte Welterkenntnis, welche
die übrigen Wissenschaften in ihrer besonderen Weise gewonnen
haben, in ihrem letzten logischen Zusammenhange und als die
gemeinsame Entwicklung des absoluten geistigen Weltgrundes zu
verstehen, und durch das logische Schema begreiflich zu machen,
weshalb der absolute Weltgrund sich gerade in denjenigen Formen
entwickelt hat, welche die Erkenntnis der übrigen Wissenschaften
als die wirklichen konstatiert hat. Die dialektische Methode ver-
folgt das absolute Ideal alles menschlichen Wissens; sie ist der
330 Hegel.
Versuch, zu begreifen, weshalb die Welt so ist, wie sie
sich vor unserer empirischen Erkenntnis darstellt, und
sie glaubt diese Aufgabe dadurch zu lösen, daß sie die Welt als
die notwendige Entwicklung des göttlichen Geistes betrachtet
und die Stelle und den Wert angibt, die innerhalb dieser Ent-
wicklung jeder einzelnen Lebensform des Universums gebühren.
Es handelt sich darum, daß der Satz, worin Philosophie und
Religion einig sind, wenn sie die Welt als ^'Erzeugnis des gött-
lichen Gcistes'^betrachten, nicht bloß behauptet, sondern begriffen
und bewiesen werden soll. Die Grundidee, daß ein spekulatives
Denken aus dem Begriff des Ganzen diejenigen seiner Teile müsse
konstruieren können, hatte zur Handhabung ihrer Methode eben
nur die Momente der logischen Kontradiktion als der einzigen
rein formalen Disjunktion, und diesem Schema der Gegensätze
mußten deshalb die Verschiedenheiten des empirischen Inhalts als
ihre selbstverständlichen Vertreter untergeschoben werden.
Gewiß, dieser Versuch Hegels ist gescheitert, wie denn über-
haupt dies Ideal zu denjenigen Kants und Fichtes gehören möchte,
deren Wesen die Uneifüllbarkeit involviert; aber es ist ebenso
seicht wie billig, sich, wie es lange Mode gewesen ist, über Hegel
lustig zu machen, der an der Lösung dieser Aufgabe mit aller
Kraft eines reichen und gewaltigen Geistes gearbeitet hat. Denn
nur nüt einer universalistischen Bildung und mit der lebendigsten
Verarbeitung alles menschlichen Wissensstoffes konnte jemand sich
dieser Aufgabe unterziehen. Die Voraussetzung für die Durch-
führung der dialektischen Methode war die kolossale Poly-
historie, welche Hegel in der Tat besaß. Sie bezog sich zwar
auch auf die Naturwissenschaften, aber in eminentem Sinne auf
das historische Wissen, und sie beschränkte sich in dieser Richtung
nicht auf die Massenhaftigkeit der gelehrten Kenntnisse, sondern
sie zeigte sich vor allem in der außerordentlichen Feinfühligkeit,
womit Hegel das Wesen der historischen Erscheinungen auf allen
Gebieten des menschlichen Lebens zu durchdringen vermochte.
Mit wahrhaft genialer Auffassung verstand er es, die wesentlichen
Züge der geschichtlichen Tatsachen herauszuheben, und seine
historischen Konstruktionen, so sehr sie auch im einzelnen manch-
mal mit der Chronologie im Hader leben mögen, sind doch überall
durch das reifste Verständnis für die innere Bedeutung der ein;':elneu
KiiiiRt dei SyslcmatiBicrent. H31
Erschcinun^'on ausgezoiclmot und jj;oradc dadurch hcsc^iidcT« frucht-
bar geworden. Und iibcr diesem ganzen Stoff der KenntniHKe
waltet n\in Hegels (Jeist mit einer souveränen Freiheit; er weiß
sie mit unnachahmlicher Sicherheit seiner systematischen Gliederung
einzufügen und die {Bedeutung der empirischen Erscheinungen
g(Made durch die Stellung klar zu machen, die er ihnen in seiner
Konstruktion des (umzen anweist. Das Bewunderungswürdigste
an ihm ist die Beherrschung seines eigenen Wissens durch die
dialektische Behandlung, die zähe Energie, die er in der logischen
Formulierung des empirischen Details betätigt, und die unver-
gleichliche Kunst der Systematisierung, womit er den ganzen
Uedankeniichalt seiner Zeit aus einem Gusse zu entwickeln wußte.
Hierin mehr als in der Originalität besonderer Lehren hat der
Zauber bestanden, den seine Persönlichkeit auf die von der uni-
versalistischen Tendenz getragene Bildung seiner Zeit, und den
seine Philosophie auf alle Wissenschaften und besonders auf die
Instorischen ausgeübt hat. In ihm waltete siegreich der wahrhaft
philosophische Geist, der alles Besondere aus dem Ganzen ver-
stehen und in seinem Werte für das Ganze beurteilen will. Sein
System ist auf dem Gebiete der Wissenschaft das reife Produkt
jener universalistischen Bildung, wie es die Goethesche Dichtung
in der schönen Literatur ist. Dies ist endlich auch seine Stellung
in der Entwicklung der idealistischen Philosophie. Seine Lehre
bildet ihren Abschluß, indem sie alles Bedeutende, was von Kant
an darin erzeugt worden ist, in ein großes System zusammenfaßt.
Was Hegel in den einzelnen Teilen seiner Philosophie lehrt, be-
rührt sich mehr oder minder mit den verschiedenen Theorien der
idealistischen Richtung ; was er hinzufügt, ist überall die direkte
Anknüpfung an den Plan des Ganzen mid die Ableitung durch
die einheitliche Methode. Er ist der größte Systematisator, den
die Philosophie je gesehen hat, und in seinem Systeme vereinigen
sich alle Grundlehren des deutschen Idealismus zu einem ge-
schlossenen Ganzen, das in der Symmetrie seines Baues und in
der Herrschaft des methodischen Gesetzes über den Inhalt der
Erkenntnisse die vollkommenste Ausführung der ästhetischen
Forderung ist, die in der ideaUstischen Entwicklung waltete.
Diesem Systeme selbst hat Hegel ein Präludium vorangeschickt,
durch welches er es einführen und vorbereiten wollte. Die
332
Hegel.
dialektische Methode setzt keine intellektuelle Anschauung des Genies
voraus, sie will eine rein wissenschaftliche und deshalb von jedem
zu erwerbende Form der Erkenntnis sein. Aber sie bewegt sich
auch nicht in der Art des landläufigen Denkens, und ihr Stand-
punkt muß deshalb erst aus diesem heraus entwickelt werden.
Das menschliche Denken steht nicht von selbst in seiner natür-
lichen Ursprünglichkeit auf dem philosophischen Standpunkte; es
hat ihn erst in der historischen Entwicklung gewonnen, und es
muß jeden Augenblick neu dazu herangebildet werden. Diese
Entwicklung des philosophischen Standpunktes aus dem gemeinen
Bewußtsein ist für den Dialektiker nur dadurch möglich, daß die
Widersprüche aufgedeckt werden, die in dem gemeinen Bewußt-
sein enthalten sind, und daß durch die innere Nötigung darin
der philosophische Standpunkt als der einzig übrig bleibende dar-
getan wird. Es gibt eine philosophische Vorbereitungs Wissenschaft,
welche den Geist von seiner gewöhnlichen Gestalt aus durch die
xlufzeigung seiner Widersprüche von Stufe zu Stufe drängt und
ihn schließlich auf den philosophischen Standpunkt führt. Diese
Lehre von den Erscheinungsformen^_wejche_das_Wissen durch-
machen muß, um vom gemeinen Bewußtsein sich bis zur Philo-
sophie zu erheben, ist die Phänomenolofrie des Geistes.
Dies Werk verfehlt nun freilich seinen Zweck, aus dem populären
in das philosophische Denken hinüberzuleiten, so vollständig wie
nur möglich. Denn sein Verständnis setzt nicht etwa nur das
Interesse und die allgemeine Fähigkeit philosophischer Überlegung
voraus, sondern es ist geradezu das schwierigste von allen Werken,
welche in der gesamten Literatur der Philosophie je geschrieben
worden sind. Ein platonischer Dialog und die Kritik der reinen
Vernunft sind eine leichte Lektüre gegenüber den Anforderungen,
welche diese Einführung in die Hegeische Philosophie an das Ver-
ständnis des Lesers stellt. Fragt man nach dem Grunde dieser
merliwürdigen Erscheinung, so liegt er nicht nur in der formellen
Schwierigkeit, welche dies Buch mit allen anderen seines Ver-
fassers teilt, sondern vor allem in seinem eigentümlichen und ganz
unvergleichhclien Inhalte. Der Übergang nämlich vom gemeinen
zum philosophischen Bewußtsein ist zunächst als eine erkenntnis-
theoretische Notwendigkeit aufzufassen, in der die Motive ent-
wickelt werden sollen, durch welche das Denken von Stufe zu
Phünomenolüßio. 3H3
Siufo weitciriu'kon imiß, bi« c« auf (l<'iii pliilosopliisclicn Süind-
punktc «eine \\\\\ic findet. Aber dieser l'rozeü i8t( nach Jlc^ela
Cberzeugunif) zu^leicli der Entwicklun;^^H«^an«^', den jedes indivi-
duelle Denken als eine, wenn aueh nocli so unvollkonnncne Mani-
festation des Weltgeiötcs mit psychologischer Notwendigkeit durch-/
niaclit. Doch damit ist es nicht genug. Für Hegel wie für
iSchelling gilt auch auf dem geistigen Gebiete das, was die heutige
organische Naturforschung das biogenetische Grundgesetz nennt,
die Annahme nämlich, daß die Entwicklung des Individuums und
diejenige der Gattung einen analogen Gang zeigen. Infolgedessen
muß der Prozeß, um dessen Darstellung es sich in der Phänome-
nologie handelt, sich auch in der wissenschaftlichen Entwicklung
der menschlichen Gattung, d. h. in der Geschichte der Philosophie/ ]/
und der besonderen Wissenschaften wiederfinden. Endlich aber,
da alles geistige Leben einheitlich ist, enthält diese Entwicklung
auch den ideellen Spiegel der allgemeinen Kulturbewegung, und{ W
auch in deren Phasen müssen sich somit die Stufen jenes Pro-^
zesses wiedererkennen lassen. /Freilich ist das in der Phänome-
nologie noch nicht im Sinne cmes totalen Parallelismus, aber doch
so zu verstehen, daß die dialektisch und psychologisch kon-
struierten Übergänge und Zusammenhänge ihr Abbild und ihre
Illustration in einzelnen Gesamterscheinungen der Geschichte und
in deren Beziehungen finden. So erweitern sich die logischen Ge-
bilde zu w^eltgeschichtlichen Gestalten. Diese mehrfache Analogie
erweist sich nun als überaus fruchtbar, indem die verschiedenen
Formen, in denen derselbe Grundprozeß obwaltet, einander er-
leuchten mid verständlich machen, und sie bliebe auch vollkommen
ungefährlich, wenn die verschiedenen Fäden, deren analoger Ver-
lauf die Voraussetzung bildet, auseinandergehalten oder auch nur
in ihrer Verschlingung sorgfältig verfolgt und genau bezeichnet
würden. Aber das ist nun gerade nicht der Fall; sondern Hegel
bewegt sich vielmehr vollkommen frei und ohne ausdrückliche ^
Bezeichnung fortwährend von dem einen auf das andere Gebiet.
Unmerkhch und unvermittelt versetzt er den Leser aus der er-
kenntnistheoretischen bald in die Esj;cholog;ische, bald in die phi-
losophiegeschichtliche, bald in die kultuAist()ijsche Linie, und
dieser Wechsel der Betrachtung wird nie sichtbar gemacht, sondern
vielmehr absichtlich verdeckt. So bildet die Phänomenologie ein bunt-
334 Hegel.
ßchillerndes Gewebe dieser verschiedenen Fäden, dessen Eindruck
zuerst derjenige einer absoluten Verwirrung ist. Wer in dies
Buch hineinkommt, muß zuerst glauben, er tappe wie im Nebel
herum; denn er weiß nie, auf welchem Gebiete der Untersuchung
er sich eigentlich befindet, und jede Gestalt, die er erfaßt zu
haben glaubt, verwandelt sich sogleich wieder in eine ganz anders-
artige und verquirlt in eine Unbestimmtheit, in der man nirgends
festen Fuß fassen kann. Es steckt in diesem Buche ein geradezu
unerschöpfHcher Quell von Geist und von Wissen. Gerade hier
betätigt Hegel die Grvoßartigkeit des historischen Blickes, mit dem
er die charakteristische Eigentümlichkeit der geschichtlichen Er-
scheinungen aufzufassen wußte ; aber diese tiefe Weisheit ist oft in
so überfeine Anspielungen und Andeutungen »hineingeheinmisst«,
daß die schärfste Aufmerksamkeit und das reichste Wissen dazu
gehören würden, sie alle zu verstehen. Das Geschlecht, welches
dem Reichtum dieses Werkes gewachsen war, stirbt aus, und
schon jetzt dürften diejenigen, die es auch nur von Anfang bis
zu Ende gelesen haben, zu zählen sein. Um so dankbarer ist es
zu begrüßen, daß Kuno Fischer in seiner Darstellung Hegels eine
glänzende und glückliche Analyse der Phänomenologie gegeben
hat, worin er mit seiner gewohnten Klarheit den Entwicklungs-
gang des Ganzen deutlich herausgestellt und die einzelnen Zu-
sammenhänge ebenso wie die besonderen Gestalten erleuchtet hat.
Auf diese ausführliche Entwicklung muß der moderne Leser an
dieser Stelle verwiesen werden.
Die Konstruktion der Phänomenologie folgt dem Leitfaden,
daß die Reflexion zeigt, wie auf jeder Stufe das Bewußtsein in
Wahrheit etwas ganz anderes ist, als es zu sein glaubte, daß
daher jedesmal die folgende Stufe das volle Bewußtsein des wahren
Inhaltes der vorhergehenden ist, und daß dieser Prozeß erst da
endet, wo in der Philosophie das Bewußtsein sich mit seinem
eigenen Inhalte vollkommen identisch weiß. Drei Hauptstufen
\ werden in dieser Entwicklung von Hegel unterschieden. Der
/ / primitive Zustand des gegenständlichen Bewußtseins, welcher
/ mit der Gewißheit der sinnlichen Empfindung beginnt, leitet durch
den Prozeß der Wahrnehmung und der verstandesmäßigen Auf-
fassung der Dinge hindurch bis zum individuellen Selbstbewußt-
-^1 sein. Dieses wirkt zuerst im Gegensatz zur Außenwelt als das
riiilnoincnologio. 335
zcrstörciulo iiiul daiui als da.s «^ostaltciRlo uihI HolHipferisclic Selbst;
OS ziolit sk'li aus dw foindlichon Aulionwolt in Hoine Freiheit, in
don .stoischen Trotz seiner lJnan;;reifharkeit zurüek, aber ch ver-
zweifelt scldießlieli an sich selbst und unterwirft sich der hi-
storischen Autorität. So «^ewituit es den Übcr;2an<c zur Kntwicklun:^
der Vernunft, die auf dem Ikwußtscin der (Jemcinschaft berulit. J y
Diese höchste Stufe entwickelt Ifejj^el wieder in drei Formen. Die
erste ist das vernünftige Selbstbewußtsein, welches als L'\j
beobachtende Vernunft Gesetze der objektiven Welt sucht, aber
in der Erkenntnis, daß es nur überall seine eigenen Formen
wiederfindet, sich in das praktisclie Ich verwandelt. Dieses be-
ginnt damit, die Dinge zu genießen, es lernt im Schicksal ihre
Eitelkeit verstehen und erhebt sich als Tugend darüber, um
schließlich einzusehen, daß auch in jenem Weltlaufe die höchste
Vernunft waltet, und sich dieser objektiven Macht unterzuordnen.
So verwandelt sich das vernünftige Selbstbewußtsein in den sitt- 7^^ ~7
liehen Geist. Dessen reine Form ist das griechische Leben mit
seinem Aufgehen des Individuums in die staatliche Gemeinschaft.
Aber auch hier bricht der Konflikt des Individuums mit der
Gattung aus. Das Allgemeine triumphiert als das ungeheure
Selbstbewußtsein des universellen Eechts ; und wieder bäumt sich
das Individuum gegen die Allgemeinheit auf: es entsteht der
Kampf der Bildung und des Glaubens, welcher das Bewußtsein
zerreißt und als Aufklärung zum absoluten Terrorismus führt, bis
die moralische Weltanschauung die widerspruchsvolle Dialektik
der banalen Nützlichkeit und der sittlichen Genialität entwickelt,
um in der Religion ihre Vollendimg zu finden. Diese als die Z> J
dritte Form der Vernunft verfolgt die Phänomenologie durch die
dreifache Entw'icklung als Naturreligion, Kunstreligion und ge-
offenbarte Religion, um schließlich zu zeigen, daß die Einheit
aller endlichen Dinge mit dem miendlichen Geiste, die auf dem
religiösen Standpunkte nur vorgestellt w^ird, in ihrer Notwendig-
keit begriffen werden muß, und daß dies die Aufgabe der Philo-
sophie ist, für deren kunstvolle Komposition die Phänomenologie
nur die Ouvertüre bildet.
Es konnte hier nur durch diese kurzen Sätze angedeutet werden,
wie in der Phänomenologie alle Motive der Hegeischen Lehre be-
reits kräftiger oder leiser anklingen, und wie aus ihr die Stimmen
i
336 Hegel.
der Weltgeschichte in wechsehidem Rhythmus ertönen. Sie er-
scheinen durchaus nicht in chronologischer Reihenfolge. Je nach
der Verwandtschaft, welche sie zu der einzelnen dialektisch kon-
struierten Entwicklungsstufe besitzen, treten bunt durcheinander
die Gestalten der antiken Welt, des Mittelalters und der modernen
Kultur auf, und Hegels Absicht ist nur die, zu zeigen, daß aus
der Fülle aller dieser Gestaltungen heraus die philosophische Er-
kenntnis sich als die Selbsterfassung des absoluten Geistes ent-
wickeln müsse, der in allen diesen Formen die verschiedenen
Seiten seines Wesens ausgelebt und den Reichtum seiner Inner-
lichkeit entfaltet hat. Jenes Bewußtsein, welches Schiller pro-
klamiert hatte, daß die moderne Kultur in der Zusammenfassuni]j
und Ausgleichung der früheren Lebensformen der Menschheit be-
stehe, jene Aufgabe, welche die Goethesche Dichtung in ihren
reifsten Erzeugnissen löste, erscheint bei Hegel als das Problem
der Philosophie. Sie soll alles, was der menschliche Geist in
seiner Entwicklung, die auf sie hinzielt, durch alle Formen seiner
Betätigung erzeugt hat, in seiner tiefsten Bedeutung verstehen
und zu einem Systeme der Welterkenntnis dadurch zusammen-
fassen, daß sie alle diese Produkte als die notwendigen Ent-
wicklungsformen des Weltgeistes begreift. Wie Schiller die ästhe-
tischen Begriffe aus einer geschichtsphilosophischen Konstruktion
gewann, so will Hegel in umfassenderer Weise die gesamte Philo-
sophie aus dem Zusammenhange der historischen Entwicklung des
menschlichen Geistes herausbilden. Das menschliche Selbst-
bewußtsein ist der zu sich selbst gekommene Weltgeist, die Ent-
faltung des menschlichen Geistes ist die bewußte Selbstcrfassung
des Weltgeistes, und das Wesen der Dinge ist aus dem Prozeß
zu verstehen, den der menschliche Geist durchgemacht hat, um
seine eigene und um damit die Organisation des Universums zu
begreifen. Die Hegeische Philosophie betrachtet sich selbst als
das Selbstbewußtsein der gesamten Kulturentwicklung der mensch-
lichen Gattungsvernunft, und sie sieht in dieser zugleich das Selbst-
bewußtsein des in die Welt sich entwickelnden absoluten Geistes.
Damit wird diese Philosophie auf der einen Seite zu einer durch-
aus historischen Weltanschauung, auf der andern Seite
aber gerät sie in eine vollkommen anthropozentrische Welt-
betrachtung hinein, indem sie die Entwicklung des menschlichen
^
(icistcs als (licjciii^c des » WoltjjjoiHtos« ansioht. So zieht Hc^el
die letzte Konsiniueiiz daraiiH, daß das IV)stulat der Identität
von Denken und Sein die Organisation der menschlichen Vernunft,
die für Kant den urs[)iünglichen Gegenstand der philosophischen
biikenntnis bildet-o, in die Organisation der Weltvernunft um-
deutete: es ist die äußerste Folgerung aus der Zertrümmerung
des~Ding-an-sich-Begriffos, die Fichte gelungen war.
Hegels Logik vollzieht die »Erhebung der Substanz zum Sub-
jekt«, indem sie von dem absoluten »Sein« ausgeht, um bei der
»Idee« zu endigen und auf diesem Wege das gesamte System der sj^^
Begriffe durch den dialektischen Fortschritt zu entwickeln. Aber*^^^
die Katogorien sind hier nicht mehr die Verknüpfungsformen der
Verstandestätigkeit wie bei Kant, sondern vielmehr die objektiven
Gestalten des AVeltlebens, in welches sich die Idee durch ihre
Selbstentwicklung entfaltet. Selbst wo jene Verknüpfungsformen
mit denjenigen der formalen Logik oder mit Kants transzenden-
talen Begriffen zusammenfallen, da gelten sie, wie bei Aristoteles,
zudeich als die realen Gesetze des wirklichen Geschehens. So
wird diese Lo^ik zu dem »Schattenreich der Wirklichkeit«. In
der Bewegung des abstrakten Gedankens erzeugen sich die Schemen
alles realen Lebens, und in den Evolutionen dieses Balletts der
Begriffe soll das Abbild des gesamten Weltprozesses gefunden
werden. In das Element der Abstraktion getaucht, sollen die
reinen Formen alles Daseins vor dem geistigen Auge hervor-
treten
Der erste Teil oder die Lehre vom Sein beginnt mit diesem
abstraktesten aller Begriffe, verwandelt ihn in denjenigen des
Nichts und findet ihre Verknüpfung in dem, was zugleich
ist und noch nicht ist , im Werden : und von da aus gewinnt
Hegel durch die Kategorien des Daseins, der Qualität, der End-
lichkeit und Unendlichkeit, der Einheit und Vielheit, der Quan-
tität und des Maßes schließlich den Begriff des »Wesens«, dessen
Entwicklung die Aufgabe des zweiten Teils bildet. Auf diesem
ganzen Wege ergibt sich aus der Betrachtung der Kategorien
eine stetige Rücksicht auf die Probleme der Naturphilosophie,
welche die konkrete Durchführung dieser Begriffe im empirischen
Gebiete zu ihrer Aufgabe hat. Die Lehre vom Wesen geht von
dem Gegensatze des Wesens und des Scheins zu den Reflexions-
Windelband, Gesch. d. n. Philos. H. 22
m
338 Hegel.
begriffen über, durch die jener Gegensatz aufgehoben werden soll,
und entwickelt als solche die Identität, den Unterschied, den
Widerspruch und den Grund; sie erhebt sich sodann durch das
Verhältnis der Erscheinung und der Wirklichkeit zum Absoluten
und dadurch zum Gegensatze von Notwendigkeit und Zufällig-
keit, der in die Kategorien der Kausalität und der Wechsel-
wirkung ausmündet. Der dritte Teil enthält die »subjektive
Logik«; er beginnt mit den Lehren vom Begriff, Urteil und Schluß
und führt von da zur Kategorie der Objektivität, die sich als
Mechanismus, Chemismus und organische Teleologie entwickelt.
Darüber erhebt sich die Idee in dem Prozesse des Lebens, dessen
höchste Formen die Erkenntnis und die Moralität bilden, um sich
von hier aus in der absoluten Idee zu vollenden. Es ist nicht
möglich, in dieser kurzen Übersicht die Übergänge zu reproduzieren,
welche das eigentliche Wesen des dialektischen Fortschritts aus-
machen; denn der Fortgang des Ganzen ist nicht sowohl durch
begriffliche Notwendigkeit, als vielmehr durch willkürliche Asso-
ziation und durch den stetigen Hinblick darauf bedingt, daß
der Voraussetzung nach diese Logik schon den gesamten Inhalt
der philosophischen Erkenntnis in nuce und in derselben An-
ordnung wie das ganze System enthalten soll. Daraus ergibt sich
für Hegel die Nötigung oft sehr künstlicher Vermittlungen, die
nur im ganzen reproduziert und nicht auf eine kurze Formel
gebracht werden können. Es kommt hinzu, daß Hegels schwierige
Sprache gerade auf diesem Gebiete der Abstraktion sich in die
größte Dunkelheit verliert, und es kann dem deutschen Leser von
heute nur empfohlen werden, in Kuno Fischers Darstellung den
Keichtum, womit Hegels Geist dies System der Kategorien ge-
woben hat, sich bis ins einzelnste deutlich zu machen; wir be-
sitzen darin jetzt eine Übersetzung des Hegeischen AVerkes in das
Verständnis der Gegenwart, welche den zahlreichen Versuchen
dazu, die schon früher in der ausländischen, namentlich der eng-
lischen Literatur gemacht worden waren, weit überlegen ist. Es
steht zu hoffen, daß damit die Vorurteile, unter denen Hegels
Andenken lange gelitten hat, mehr und mehr zerstreut werden.
Denn sowenig man an der Konstruktion des Ganzen festhalten
mag, so hat doch noch niemand, der diese Logik verstand, es
verkennen können, daß eine unendliche Fülle feinster Wendungen
und ^ruinier ^'ork^ii[)f^Illu» ii oft (Irr sclioinluir lioirroirensfcn DiriL'i'
ila?iii nitlialtiMi ist, wodurcli fast iih»MalI auf din ve^cliiodcnstrn
(icl)ir(o (los in('ns(hli( licn Wis-sons iibcTraschciulc SchlaL'lichtvr
fallen. Und »j;ova(l(* darin bestand die Ixfruclitcndc; Kraft, mit
d(^r dioso Loyik auf dic^ iil)ii<j;on WiasrnHcliaftcn g(^wirkt hat. Ho^^cIh
Prinzip, daß die Lo<i;ik mit den F(^rmen zut^Ieioh auch den wert-
vollsten Inhalt der Erkenntnis zu entwickeln habe, ist <(ewiß luch
nicht diejenige Gestalt, in welcher die durch Kants transzenden-
tale Analytik begründete »erkenntnistheoretischc Logik« bestehen
bleiben kann. Aber nur durch das Festhalten an dem Prinzip
der letzteren, daß alle Denkformen nur in der Beziehung auf die
Aufgaben des IfUialtcs ihren Sinn haben, kann die Logik im Zu-
sammenhange mit der lebendigen Wirklichkeit der menschlichen
Erkennt nistätigkeit bleiben. Hegel ist nach Aristoteles und Kant
trotz aller Willkürlichkeiten seiner Konstruktion der größte Logiker,
den die Geschichte gekannt hat, und er ist wie jene beiden anderen
der Beweis dafür, daß eine wahrhaft originelle und schöpferische
Behandlung der Logik nur für denjenigen möglich ist, der mit
reicher wissenschaftlicher Erfahrung den Ausblick auf die gesamte
Arbeit der menschlichen Erkenntnis gewonnen hat.
Am wenigsten originell ist Hegel in seiner Naturphilosophie. fj
Er folgt hier wesentlich dem allgemeinen Schema der Schelling- ^y
sehen Lehre, verfährt aber, da er hier am w^enigsten mit seinem ,r ^
Interesse, mit semem empirischen Wissen und mit der Gewöh- ^
nung an die diesem Gebiete eigenen Forschungs weisen heimisch
ist, noch viel willkürlicher und konstruktiver als sein Vorgänger.
Und doch zeigt sich die Tiefe seiner philosophischen Einsicht
gerade auf diesem Gebiete darin, daß er die Grenzen der ratio-
nalen Deduktion, die es nach seinem Prinzip eigentlich über-
haupt nicht geben sollte, in der Tat zwar nicht ausdrücklich,
aber doch indirekt scharf und genau bestimmt. Die Natur ist
der Geist oder die Idee in ihrem Anderssein. Dieser alkemeine
Charakter und scheinbar auch die großen Formen dieses Anders-
seins lassen sich aus Hegels Begriff des Geistes als der sich ent-
wickelnden Idee ableiten, weil sie im Prinzip schon darin an-
gelegt sind. Aber in der Natur ist deshalb überall etwas dem
Geiste Fremdes, und dessen besondere Eigentümlichkeit läßt sich
nicht deduzieren. Daß überhaupt der Geist sich in diese seine
22*
i
A
c/t^
340 • Hegel,
y '
Äußerlichkeit verwandelt, liegt nach Hegel in seinem Begriffe.
Wie aber diese Äußerlichkeit im besonderen beschaffen ist, das
folgt aus dem Wesen des Geistes nicht. Wenn die Hegeische
Lehre als die Voraussetzung, daß alles W^irkliche'^vernünftig^und
als solches '^erkennbar sei, ihrem Prinzip nach den äußersten
Paulo gismus enthält, der je aufgestellt worden ist, so erkennt
sie in der Natur selbst die Grenze ihrer Deduktion an; hier
kann auch sie nur höchstens die allgemeinen Formen und Ge-
setze aus der absoluten Vernunft entwickeln, und sie muß zu-
gestehen, daß es in der wirklichen Natur überall einen Rest
gibt, welcher sich gegen eine solche Ableitung sträubt und eine
unerklärliche Tatsache bleibt, ^gerade wie bei Kant die »Affi-
zierung« durch die Dinge an sich und im anderen Ausdruck
die »Spezifikation der Natur« oder bei Fichte die »gTundlosen«
Handlungen der Selbstbeschränkung des Ich/\ Von seinem Stand-
punkt aus drückt Hegel dies so aus, daß die Natur ohnmächtig
und zu schwach sei, die Begriffsbestimmungen nur abstrakt zu
erhalten, und er nennt sie deshalb das Reich der Zufälligkeit.
Die Anwendung dieses Terminus deutet wieder auf die innige
Verwandtschaft hin, die zwischen dieser und der Aristotelischen
Naturauffassung besteht. Auch in jenem größten System der
antiken Philosophie war das begriffliche Verhältnis des Wesent-
lichen und des Zufälligen in eine metaphysische Beziehung um-
gedeutet worden, und genau so gilt auch für Hegel die dedu-
zierbare Gesetzmäßigkeit der Natur als ihre ideelle Notwendigkeit
und dieser gegenüber die tatsächUche Besonderheit nur als eine
zufällige Nebenbestimmung. Die letztere aber wird von Hegel
ebenso wie von Aristoteles unter den teleologischen Gesichtspmikt
gebracht, daß ihr Zweck lediglich der sei, die ideelle Notwendig-
keit zu realisieren, ohne daß sie jedoch dieser Bestimmung voll-
kommen genüge. Die Äußerlichkeit soll ja schließlich von dem
Geiste selbst gesetzt sein, damit sein Wesen darin zur objek-
tiven Erscheinung kommt. Die besonderen Stufen dieses teleo-
logischen Prozesses stellen sich nun bei Hegel in ganz ähnlicher
Weise wie bei Schelling dar. Den ersten Teil der Naturphilo-
sophie bildet die Mechanik, welche nach der Konstruktion des
Raumes, der Zeit und der Synthesis, die beide in der Bewegung
finden, die Lehre von der Materie, der Schwere und der Trag-
Naturpliilofiophio. Hl 1
hoit entwickelt und mit der .uif die Gravitiition.sthcoric begrün-
deten Auffassung des Sonnensystorns endet. (JharakteristiKch ist
dabei die geozentrische Konstruktion iU^a Sonnensystems, mit der
]Iegel auch auf die entsprechenden Theorien der Schellingschen
Naturphih)sophie eingewirkt zu haben scheint, fn der Physik
kommen sodann die besonderen Erscheinungen des materiellen
Daseins zur S[)rache. Es wird von den kosmisclien Grundver-
hältnissen und dem meteorcdogischen Zusammenhange der Ele-
mente, darauf von dem spezifisclien Gewichte, von der Kohäsion,
vom Magnetismus und von der Kristallisation, endlich von der
Elektrizität und dem Chemismus gehandelt, und dabei werden
in diese dialektischen Konstruktionen auch die spezifischen Wir-
kungen der Dinge auf die menschlichen Sinne, die akustischen,
thermischen und optischen Verhältnisse und die Lehre vom Geruch
und Geschmack eingeflochten. Der dritte Teil, die Organ ik,
beginnt mit der Darstellung des Gesteins- und Stofflebens der
Erde, entwickelt den Gegensatz des Pflanzen- und des Tierreichs
und bespricht schließlich die Gestaltung, die Assimilation und
die Reproduktion als die drei Grundformen des animalischen
Prozesses. Die Untersuchung schließt mit einer Betrachtung des
Verhältnisses, in welchem das organische Individuum zu seiner
Gattung steht. Darin kommt die ganze Grundauffassung noch
einmal leuchtend zutage. Die ideelle Notwendigkeit und Ver-
nünftigkeit ist nicht im Individuum, sondern nur in der Gat-
tung zu suchen. Wie für Schelling, so ist auch für Hegel das
Individuum nur ein Durchgangspunkt in dem Leben der Idee,
die darin erscheint; aber er legt das Hauptgewicht darauf, daß
der Gattungsbegriff in keinem Individuum vollständig und rein
zum empirischen Dasein kommt. Jedes Individuum trägt in
seiner Abweichung vom Gattungsbegriff das Moment der Zu-
fälligkeit in sich, es erfüllt den Zweck, ein Träger der Gattungs-
idee zu sein, nicht vollkommen, und diese seine »Unangemessen-
heit zur Idee« ist seine »ursprüngliche Krankheit« und der
wahre Grund seines Todes. Die Individuen Q;ehen daran zu-
gründe, daß sie ihre Aufgabe, die in ihrem Gattungsbegriffe
liegt, nicht erfüllen. Dies ist die bedeutendste Form, welche
die Platonische Ideenlehre bei ihrer Aufnahme in den deutschen
Idealismus gefunden hat. Die Gattuno'sbeoriffe sind hier nicht
342
Heffel.
//
/
wie bei Piaton eine selbständige, für sich existierende Welt der
reinen Formen, sondern vielmehr ähnlich wie bei Aristoteles die
ideellen Mächte, welche das empirische Dasein teleologisch be-
stimmen; sie bilden den ideellen Zweck, der niemals vollkommen
erfüllt wird, und der doch den Lebenstrieb und die Lebenskraft
aller der Erscheinungen enthält, in denen nacheinander immer
von neuem seine Verwirklichung versucht wird. Der Fichtesche
Grundgedanke, daß das nie reale Ideal den Grund aller Eealität
in sich trägt, ist zum Prinzip der Auffassung des organischen
Lebens geworden und damit der Aristotelische Grundbegriff der
Entelechie' auf dem Boden des Idealismus zu neuer Fruchtbar-
keit gekommen. Wenn man heutzutage diesen Lehren ferner als
je zu stehen glaubt, so sollte man anderseits anerkennen, daß,
solange die organische Naturforschung selbst an der Realität
ihrer Klassen-, Gattungs- und Artbegriffe festhielt, eine philo-
sophische Behandlung dieses Verhältnisses nicht großartiger ge-
dacht werden konnte, als es hier von Hegel geschah : und wenn
man heute davon zu reden gewohnt ist, daß nicht nur diejenigen
Individuen, sondern auch diejenigen Arten der Gefahr des Unter-
gangs mehr als andere ausgesetzt sind, bei denen die zufällige
Variation eine unzweckm.äßige, d. h. den Lebensbedingungen der
Gattung weniger entsprechende Richtung eingeschlagen hat, —
sollte man da bei aller Verschiedenheit des Ausdrucks so sehr
weit von jenem Hegeischen Gedanken entfernt sein, der Unter-
gang des Individuums entspringe aus seiner Unangemessenheit
zur Idee der Gattung? Die Sprachen der Naturphilosophie von
heute und derjenigen vom Anfang des vorigen Jahrhunderts
klingen sehr verschieden; aber was sie darin sagen, ist vielleicht
so verschieden nicht, wie es diejenigen anzunehmen geneigt sind,
welche sich nie die Mühe gegeben haben, jene geschmähte ältere
Naturphilosophie kennen zu lernen.
Den dritten Hauptteil des Hegeischen Systems bildet die
Philosophie des Geistes. Es ist derjenige, in welchem die
hauptsächlichste und die weitestgreifende Bedeutung seines Den-
kens sich entwickelt. Auch die triadische Gliederung ist hier
am glücklichsten durchgeführt und findet in den tatsächlichen
Verhältnissen so viel Verwandtschaft, daß die Gegenstände durch
die Konstruktion \nel weniger vergewaltigt, häufig sogar in das
I)or objektive Geist. H43
allerknifti}j;sic und iciiistii Licht ^«bracht würden. Die; drei Knt-
wickluii«;sf()rinen den (Jcistes sind der subjektivem oder individuelle,
der objektive oder allgemeine und der absolute oder göttliche
Geist. ])ie Psychologie als den ersten Abschnitt der Geistes- JM
j)hilosophie hat Hegel in der Enzyklopädie nur scheniatisch skiz-
ziert, erst seine Vorlesungen und die Werke seiner Srhiiler haben
dies Gerippe mit Fleisch und JMut umgeben, ihre Aufgabe ist
die, das psycliische Leben des Individuums durch alle Stufen
seiner Entwicklung hindurch von der ersten Bedeutung, welche
die" Seele als Entelechie des organischen Leibes hat, bis an den
Punkt zu verfolgen, wo sie ihr innerstes Wesen in ihrer Iden-
tität mit dem allgemeinen Geiste erkennt. Hegel behandelt des-
halb in der »Anthropologie« die natürliche, die fühlende und // 1
die in der bewußten Vorstellung zur vollen Wirklichkeit gelan-
gende Seele, in der »Phänomenologie« den Prozeß, durch welchen
das Bewußtsein in Selbstbewußtsein und Vernunft übergeht, end-
lich in der engeren »Psychologie« die Entwicklung der Vernunft > t j
auf der theoretischen und der praktischen Linie: sie endet zu- ^
letzt darin, daß der selbstbewußte freie Wille als die Einheit
der theoretischen und der praktischen Vernunft sich zugleich als
die allgemeine, überindiyiduelle Vernünftigkeit, als den objektiven
Geist weiß.
Was Hegel unter dem objektiven Geiste versteht, darf
man als die Vernunft im menschlichen Gattungsleben bezeichnen. ^/
Unter diesen Begriff, dessen literarische Ausführung er nicht ^r^ ^ \
glücklich unter dem Namen der »Rechtsphilosophie« zusammen-
faßte, gehören deshalb alle die Institutionen der menschlichen r t / J
Lebensgemeinschaft und alle die Prozesse der individuellen und ^/^
der allgemeinen Entwicklung, \velche die Ausprägung der Gat-
tungsvernunft in dem wirklichen Leben der Gattung zu ihrem
Inhalte haben. Hegels Lehre vom objektiven Geiste umfaßt
daher im weitesten Sinne das ganze Gebiet, für w^elches heute
der geschmacklose Name Soz^olo^e üblich geworden ist. Es
handelt sich darum, die Entwicklungsformen zu begreifen, in
denen die Freiheit des Geistes sich im wirklichen Menschenleben
realisiert. Die niedrigste dieser Formen ist nach Hegel das ab-
strakte Eecht oder das sogenannte Naturrecht. Es ist die Fest-
stellung derjenigen äußeren Lebensformen, welche die allgemeine
i
344 Hegel.
conditio sine qua non für das gemeinsame Leben der zur Frei-
heit bestimmten Geister bilden. Dieses »An-sich« der Gattungs-
vernunft oder des objektiven Geistes wird als Eigentumsrecht,
Vertragsrecht und Strafrecht deduziert. Das letztere kann, da
das Hegeische Naturrecht für seine Geltung den Begriff des
Staates noch nicht voraussetzt und ebensowenig an das mora-
lische Bewußtsein appelliert, nur auf eine logische Notwendigkeit
zurückgeführt werden und wird daher aus dem dialektischen Ver-
langen abgeleitet, daß das Eecht, wenn es durch das Unrecht
aufgehoben worden ist, durch die Aufhebung des letzteren wieder
hergestellt wird. Dieser Triumph des Rechts über seine Ver-
letzung, diese ^Negation der Negation des Rechts ist die Strafe.
Der Legalität steht nach Kantischem Prinzip die Moralität
gegenüber. Betrachtet jene die rein äußerhchen, so diese die
rein innerlichen Formen des objektiven Geistes, und Hegel be-
handelt hier im Sinne dessen, was man sonst Moral nennt, die
Prozesse des subjektiven Geistes, durch welche dieser seinen
Willen dem objektiven Geiste unterwirft. Es ist eine tiefe Weis-
heit des Philosophen, die Ethik nicht vom subjektiven, sondern
vom objektiven Standpunkt aus zu behandeln; gerade der Sub-
jektivismus der Kantischen und der anfänglichen Fichteschen
Moralphilosophie hat gezeigt, daß das Prinzip der Ethik über
dem Individuum zu suchen ist. Aus dem individuellen Ich sind
das sittliche Bewußtsein imd die sittliche Gesetzgebung niemals
abzuleiten; sie wurzeln vielmehr in dem Verhältnis, worin sich
^ fL^ das Individuum der , allgemeinen/ Vernunft untergeordnet weiß.
Der Inhalt der sittlichen Gesetzgebung ist aus ihrer subjektiven
Form nur scheinbar zu deduzieren, in Wahrheit beruht er auf
der Gattungsvernunft, imd diese überindividuelle Abstammung
ist auch der einzige Grund seines imperativischen Charakters.
Für diesen Standpunkt ist daher die Lehre von der Moralität
auf die Untersuchung der subjektiven Vorgänge beschränkt, die
,i, sich im Individuum auf Grund seines Bewußtseins vom objek-
iv ^ .\^>^ tiyen Geiste vollziehen; in diesem Sinne behandelt Hegel den
\y Vorsatz und die Schuld, die Absicht und das Wohl, das Gute
und das Gewissen.
Das Wesen des objektiven Geistes aber vollendet sich erst
darin, daß seine äußerliche und seine innerliche Form sich decken.
^(^
StuatHlohre. .'{45
Diese Syntlioso von Lcf^alitiit und Moraliliit nennt llej^el die
Sittlichkeit, welclie also aiisdriicklich von der Moralität unter-
schieden wird. Sie umfaßt alle diejeni<;en Institutionen des
Menschenlebens, welche die (uittungsvernunft zur Realisierung^ in
dem äußeren Zusammenleben bringen, in denen sich deshall) der
rechtliche und der moralische (^harakter gleichmäßig aus[>rägt,
die Institutionen, welche das wertvollste Recht darstellen, indem
sie das äußerliche Zusammensein auf die moralische Überzeugung
gründen, und welche zugleich die vollendete Moralität bilden,
indem sie die Herrschaft der Gattungsvernunft zum Prinzip der
äußeren Organisation macheu. Als die Grundform dieser Sitthch-
keit behandelt Hegel die Familie und verlegt daher erst an diese
Stelle die Lehre von der Ehe, das Erbrecht und die Theorie der
Kindererziehung. Als die zweite Stufe der Sitthchkeit erscheint
die Gesellschaft. Hier wird das System der Bedürfnisse, die c '-/
Rechtspflege und die soziale Funktion der Polizei und der Kor-
porationen besprochen. Die Vollendung der Sittlichkeit endlich
und die konkrete Realisation der sittlichen Idee ist für Hegel
der Staat. An keiner anderen Stelle seiner Lehre tritt das
antike Moment seines Denkens so klar und so vollendet hervor
wie hier. Wenn unsere großen Dichter ihre wertvollsten ästhe-
tischen Überzeugungen aus der innerlichen Neuschöpfung des
Hellenismus gezogen haben, so leistete Hegel dasselbe auf dem
pohtischen Gebiete. Während selbst ein Mann wie Fichte erst
allmählich dazu kam, dem PoHzeistaate, welchen die Wirklich-
keit ihm darbot, höhere und zuletzt ethische Aufgaben zuzu-
schreiben, so ist Hegel von Anfang an von dem antiken Ideal
erfüllt, daß der Staat die lebendig gewordene Gattungsvernunft
des Menschen sein solle. Für den antiken Menschen war das
Staatsleben die Konzentration aller seiner wesentlichen Interessen.
Der gesamte Inhalt des gemeinsamen Geisteslebens prägte sich
in ihm aus. Weder Wissenschaft noch Kunst noch Religion, vor
allem aber auch nicht der individuelle Lebensgenuß führten neben
dem griechischen Staate ein Sonderdasein. Das im Staate ge-
ordnete gemeinsame Leben war der alles umfassende Ausdruck
für die höchsten Interessen, die das Individuum bewegten. So
haben Piaton und Aristoteles das Idealbild des antiken Staates
gezeichnet, und sowenig manchmal die historische Wirklichkeit
^')
A
346 Hegel.
ihm entsprochen haben mochte, so idealisiert sich doch für Hegel
ebenso wie für Schiller das im Staate konzentrierte Gesamtleben
des Altertums zu einem »lebendigen Kunstwerk«, das der Philo-
soph an verschiedenen Stellen seiner Werke und seiner Vorlesungen
mit begeisterten Zügen geschildert hat. Je weiter das politische
Leben seiner Zeit von diesem Ideal abstand, um so gTÖßer ist
das Verdienst seiner Lehre, welche die staatlichen Institutionen
als das Fleisch und Blut gewordene Gattungsleben des Menschen
und als die ideelle Konzentration aller derjenigen Interessen be-
zeichnete, durch welche das Individuum sich über sich selbst
hinaus zur Gattungs Vernunft potenziert. Kant hatte die voU-
koromene Staatsverfassung für den Zweck des historischen Pro-
zesses erklärt ; Herder hatte entgegnet, daß das nur eins der
Momente in der gesamten Kultur entwicklung sei, die das Wesen
der Geschichte ausmache. Hegel vereinigt diese Gegensätze, indem
er den vollkommenen Staat als die Organisation betrachtet, in
welcher die gesamte Kulturtätigkeit des Menschen ihre zentrale
ReaHsation und der »allgemeine Geist« seine äußere Verwirk-
lichung findet. In dieser Hinsicht bezeichnet Hegels Staatslehre
in der Geschichte des deutschen Geistes den Moment, in welchem
dieser zur Schätzung des sittlichen Wertes des Staatslebens zurück-
kehrt. Während bei Fichte diese Erkenntnis erst allmählich
heranreifte, ist Hegel vermöge seiner durch und durch antiken
Überzeugung davon anfangs sogar mit einer Überschwenglichkeit
erfüllt, welche ihn im Staate geradezu den »absoluten Geist«
selbst finden läßt.
Von diesem antiken Staatsideal, das die Gesamtheit aller
Werte in sich beschließen sollte, ist Heojel in seiner eisjenen Ent-
Wicklung erst allmählich zum Verständnis des modernen Staates
fortgeschritten. Je mehr er begriff, daß sich über dem objektiven
Geiste, den der Staat verwirklicht, der absolute Geist in den
Formen von Kunst, Rehgion und Wissenschaft aufbaut, um so
freier wurden auch in seiner Auffassung diese Kulturtätigkeiten
vom Staat, und um so mehr beschränkte sich ihm dessen Auf-
gabe wieder auf die Realisierung der sittlich- politischen Inhalte
des empirischen Gesamtgeistes. Aber auch so gelten ihm in der
»Rechtsphilosophie« die staatlichen Institutionen, welche das
innere Staatsrecht behandelt, als die volle Ausprägung des Volks-
StuatBphiluHophic. ;{47
«!;eistes, und die Staat sverfassung, die er auH dichcni Begriffe
konstruiert, ist im wesentlichen die konstitutionelle Mc^narchic
worin der Volksjj;eist selbst die gesetzgebende Macht sein Holl.
Allein Hegel ist von dem objektiven Werte, den die staatlichen
Institut ioni*n als der Ausdruck des allgemeinen Geistes haben, so
sehr erfüllt, daß er den zufällig zustande gekommenen Majori-
täten des Augenblicks und ihren subjektiven Überzeugungen nicht
das Recht einräumen kann, an den wesentlichen Grundlagen des
Staatslebens zu rütteln. J)er (leist des Volkes spricht nicht im
Wechsel des Tagesmeiuung noch in der Willkür parlamentarischer
Stimmführer, sondern in dem festen Gefüge, welches der Staats- \\
bau tlurch seine kontinuierliche Entwicklung besitzt. Mit dieser ■
historischen Auffassimg ist Hegel echt konservativ und vor allem
durch und durch antirevolutionär. Der chemaüge Schwärmer für
die französische Revolution, der in Tübingen als der wildeste
Jacobiner und als Schüler Eousseaus galt, hatte den Schwerpunkt
seiner Weltauffassuntif in dem Begriffe der Entwicklung gefunden,
und gegenüber dem Bruch mit der Geschichte, der das letzte
Resultat der Aufklärung war, hatte er eingesehen, daß die Ver-
nunft nur in dem historischen Fortschritte walte. So konnte er
in gewissem Sinne wegen dieser prinzipiellen Anerkennung für
das Recht des historisch Gewordenen als der Philosoph der
Restaurationszeit gelten, und so erklären sich mancherlei Angriffe,
welche weniger der echte als der radikale Liberalismus gegen ihn
gerichtet hat. Wenn er aber "erade in der Vorrede zu seiner
Rechtsphilosophie jenen typischen Ausspruch tat: Alles was ist,
ist vernünftig, so konnten mir solche, die ihn mißverstanden oder
nicht verstehen wollten, dies Wort dahin deuten, als ob nach
seiner Meinung alle bestehenden Institutionen als absolut ver-
nünftig gelten und deshalb so, wie sie sind, festgehalten werden
sollten. Von einem solchen bornierten Konservativismus, den ihm
Anhänger oder Gegner imputierten, ist bei Hegel keine Rede.
Wer seine Lehre kennt, weiß, daß ^Vernunft für ihn mit Ent-
wicklung^ identisch ist, und daß die W^irklichkeit für ihn nur in
dem Sinne als vernünftig gelten kann, als sie den notwendigen
Prozeß einer Entwicklung darstellt, in welcher die ursprüngliche
Anlage, d. h. in diesem Falle der Gesamtgeist des Volkes zur
vollen Verwirklichung kommt. Was Hegel bekämpft, ist nicht
J
Lr)
348 Hegel.
die Reform, sondern die Revolution, es ist der Wahn, als könne
man die Notwendigkeit des historisclien Prozesses durch die
Dekrete doktrinärer Willkür ersetzen. Wie Lessing und Kant an
Stelle der Aufklärerei die allmähliche Selbstbefreiung des denkenden
Geistes, so will Hegel an die Stelle des radikalen Fanatismus die
vernünftige Entwicklung setzen. Auf dem politischen Gebiete
selbst betätigt er den historischen Sinn, der in der Bewegung des
deutschen Geistes während jener Jahrzehnte vielleicht das kräf-
tigste und fruchtbarste Ferment gewesen ist.
Derselbe Sinn kommt nun an dem Abschlüsse der Lehre vom
objektiven Geist in der großartigsten Weise zutage. Dem inneren
Staatsrechte steht das äußere als die Lehre von der Souveränität
des Staates in seinem Verhältnis zu anderen Staaten gegenüber,
und es vermittelt so den Übergang zu der letzten und ab-
schließenden Synthese. Die wahre Verwirklichung der Idee des
Staates ist nicht in einem einzelnen wirklichen Staate, sondern
in der historischen Entwicklung der gesamten Menschheit, in der
Weltgeschichte zu suchen. Sie erst ist die volle Verwirk-
lichung des objektiven Geistes. Die »Rechtsphilosophie« voll-
endet sich in der » Philosophie der Geschichte «. Hegels Grund-
gedanke darin ist, zu zeigen, wie im historischen Prozesse der
Weltgeist sich in den verschiedenen Formen der einzelnen Volks-
geister sukzessive entwickelt hat. Jede Periode der Geschichte
ist dadurch charakterisiert, daß in ihr ein besonderes Volk die
leitende Stellung einnimmt und in seinem ganzen Leben den In-
halt zur Darstellung bringt, den der Gesamtgeist auf dieser Stufe
in sich selbst erfaßt hat. Wenn ein Volk diese Aufgabe erfüllt
hat, so beginnt die Zeit seines Niederganges ; es tritt in die Dunkel-
heit, aus der es zur Herrschaft hervortrat, zurück und übergibt
das Zepter an ein anderes Volk, dem einst dasselbe Schicksal be-
stimmt sein wird. Der Untergang der Völker beruht darauf,
daß sie ihre Mission erfüllt haben, und daß für die neue Ent-
wicklimg eine neue Kraft als Träger erforderlich ist. Aus diesem
Gesichtspunkte konstruiert Hegel die vier großen Perioden der
Geschichte: die orientalische, die griechische, die römische und
die germanische Welt, und sein Bestreben ist darauf gerichtet,
das Gesamtleben jeder dieser Perioden derartig zu erfassen, daß
der notwendige Zusammenhang, worin die Äußerungen des Volks-
L
Tioliro vom absoluten (JcIhI; Ästhetik. 349
<;oiytcs auf allen Gebieten niiteinundor stehen, au« dein innersten
Wesen der Entwiekluni^spluise he^^riffen worden soll. Seine Phi-
losopliie der Cescliiclife stellt ein Ideal der Kulturgeschichte auf,^
in der die historischen Tatsachen nicht mehr äuUerlich zuKainmcn-
gestellt inid nicht nur in ihrer pragmatischen und kausalen Ver-
mittlung erzählt, sondern als notwendige Entwicklungsformen des
allgemeinen Geistes erkannt werden. Manche Mißgriffe mögen
in diese Konstruktion eingelaufen sein; im allgemeinen bewährt
Heo;el nirgends mehr als hier die Sicherheit seines historischen
Verständnisses, welches die Auffassung der Geschichte noch heute
überall beherrscht, wo sie sich von der Einzelforschung zu dem
großen Gange des Ganzen erheben will. Und jenes »ungeheure
Schauspiel«, welches seine Geschichtsphilosophie entrollt, worin
man »von der Höhe des Staatsbegriffes die einzelnen Staaten als
ebenso viele Flüsse sich in das Weltmeer der Geschichte stürzen
sieht«, ist noch immer die vollkommenste Darstellung, welche
wir von dem Sinn der Gesamtentwicklung unseres Geschlechts
besitzen.
Der allgemeine Geist, dessen einzelne Inhaltsbestimmungen in
der historischen Entwicklung zur Wirklichkeit werden, ist, in
seiner Totalität zusammengefaßt und in seiner Einheit gedacht,
der absolute Geist. Er entwickelt sich in drei Formen: als
Anschauung m der Kunst, als Vorstellung in der Religion, als
Begriff in der Philosophie. Das ästhetische, das rehgiöse und
das philosophische Leben sind nur die verschiedenen Aus-
gestaltungen desselben absoluten Prinzips. Der romantische Grund-
gedanke kommt hier in einer systematischen Gestalt als der Ab-
schluß des Hegeischen Systems zur Geltung. Was zunächst die
Ästhetik anbelangt, so ist das Schöne die Anschauung des ab-
soluten Geistes insofern, als es die volle Identität der Idee und
der Erscheinung enthält, und so geht auch Hegel auf diesem
Gebiete von der Auffassung des Identitätssystems aus, die ihren
letzten Ursprung in Schiller hat. Deshalb ist auch bei ihm das
Kunstschöne oder das » Ideal « der wesentliche Begriff, für dessen
Entwicklung das Naturschöne nur als ein dialektisches Moment
betrachtet wird. In der Erzeugung der besonderen Formen des
Kunstschönen folgt Hegel sodann durchaus der von Schiller be-
gründeten geschichtsphilosophischen Konstruktion. Die Einheit
<Z^\
350 Hegel.
der Idee und der Erscheinung hat drei Grundformen: die
symbolische welche die Idee in der Erscheinimg nur ahnen läßt,
die klassische, welche diese Einheit in voller Naivität darstellt, und
die romantische, die den bewußten Gegensatz der Idee und der
Erscheinung wieder versöhnt. Die Symbolik verfolgt Hegel durch
ihre unbewußten Gestalten, die er in den orientalischen
Schöpfungen findet, bis zu den Formen, in denen sie die Natur
als die Andeutung der göttlichen Erhabenheit betrachtet, und
stellt dann in der Fabel, in der Allegorie und der beschreibenden
Poesie die dieser Stufe entsprechenden besonderen Kunstformen
auf. Das klassische Ideal entwickelt sich aus den Tiergestalten
zur Vollendung der olympischen Götter und findet seine Auf-
lösung in der satirischen Einsicht von der Vermenschlich ung des
göttlichen Prinzips, die darin enthalten war. Wie bei Solger,
nimmt also auch bei Hegel diese ganze Konstruktion eine wesent-
lich religiöse Tendenz; der Zusammenhang des Kunstlebens mit
der religiösen Ent^vicklung prägt den besonderen ästhetischen Be-
griffen fast überall eine religiöse Eedeutung auf, und so wird auch
das romantische Prinzip zuerst aus dem christlichen Bewußtsein
entwickelt. Es tritt sodann die Erscheinung des Rittertums hinzu,
um die Abenteuerlichkeit der romantischen Kunstformen zu be-
gründen, und den Abschluß dieser Reihe bildet der Begriff des
Humors als der frei und objektiv über dem Stoffe schwebenden
Subjektivität. Liegt darin etwas von dem romantischen Grund-
prinzip der Ironie, so zeigt sich dabei anderseits, wie Hegels kühle,
durch und durch sachliche Persönlichkeit sich weit über den will-
kürlichen Subjektivismus der Romantiker erhob. Es ist außer-
ordentlich charakteristisch, daß ihm die abschließende Kunstforni
eben jene völlige Ruhe des Humors bildet, von der die Roman-
tiker mit allem Witz und aller Ironie kaum einen Tropfen in
sich hatten. Als dritten Teil endlich üibt seine Ästhetik ein
System der Künste, das auf demselben Grundriß aufgebaut ist;
als die symbolische Kunst erscheint die Architektur, in welcher
die Beziehung auf den geistigen Inhalt nur angedeutet ist ; als
die klassische die Slailptur, durch welche die geistige Individua-
lität in ihrer vollen sinnliclien Gestalt wiedergegeben wird; als
die romantischen Künste die Malerei, die Musik und die Poesie,
welche den allgemeinen Gehalt des Bewußtseins in den Formen
RpliKionHi)hilo(io|)hio. Hf) 1
des Bildes, des Tones und am vollendeUstcn der Spraclie zur ad-
äquaten siindichcn Ersclieinun«f ])rin^en.
Das Wesen der Religion besteht darin, eine Vorstellung des
absoluten Geistes zu sein. Das tief iihl wird dedialb von He^^^el
(jnit sichtlicher Polemik gep^en Schleiermacher) nur zu einem Moment
in dem dialektischen Prozeß der P^ntwicklung des Begriffes der
Religion herabgesetzt, und es werden die besonderen Religionen
aus den Vorstellungsstufen konstruiert, welche der absolute Geist
im menschlichen Bewußtsein annimmt. Die erste dieser Formen
der »bestimmten Religion« ist die Naturreligion. Sie ist zunächst
eine Rehgion der Zauberei, dann, wie bei den Indern, eine solche
der phantastischen Naturauffassung und sie weist über sich selbst
liinaus, indem sie im Lichte die Macht des Guten ahnt oder,
wie in der ägyptischen Symbolik, die Rätselhaftigkeit der tierischen
Gestalten zum Bewußtsein bringt. Die zweite Stufe ist die Re-
ligion der geistigen Individualität, welche sich als diejenige der
Erhabenheit bei den Juden, als diejenige der Schönheit bei den
Griechen, als diejenige des Verstandes oder der Zweckmäßigkeit
bei den Römern entwickelt. Die höchste Stufe ist die absolute
oder die cbiistliche Religion. Hier erscheint Gott als das, was
er ist, als der ,, absolute Geist. Er erscheint deshalb in der Ge-
stalt der TrmiJbät. Denn der absolute Geist ist einerseits die
ewige Idee, welche sich in der Welt entwickelt: als solche ist er
der Vater. Er ist anderseits die zum Bewußtsein gekommene,
ganz in die Vorstellung eingegangene Idee: als solche ist er der
Sohn, der mit dem Vater eins ist. Er ist endlich die als der
allgemeine Geist der Gemeinde in ihr waltende und in ihrer
äußeren und inneren Gemeinsamkeit sich reaHsierende Idee: als
solche ist er der Geist. Mit dieser spekulativen Umdeutung der
christlichen in die absolute Religion schUeßt die Hegeische Re-
ligionsphilosophie. Diese Umdeutung selbst weist auf die mancher-
lei Versuche zurück, die seit Lessing in der deutschen Philosophie
gemacht worden waren. Aber sie war in dem Hegehchen Systeme
deshalb notwendig, weil hier nach dem allgemeinen Prinzip der
Entwicklung das letzte und höchste Produkt der Religions-
geschichte als die vollkommene Verwirklichung der religiösen
Idee angesehen werden mußte. Freilich scheint es Hegel
völlig entgangen zu sein, daß in diesem seinen dialektischen
352 Hegel.
Systeme der Religionen der Islam keine Unterkunft finden
konnte.
, Was nun endlich die Kunst als Anschauung, was die Religion
( 0 ) als Vorstellung, das soll die Philosophie als Begriff enthalten.
/ Aber auch sie löst ihre Aufgabe nur in ihrer historischen Ent-
wicklung. Die Geschichte der Philosophie ist deshalb der
abschließende Teil des Hegeischen Systems. Gerade darum soll
auch sie eine philosophische Wissenschaft sein; sie darf sich weder
damit begnügen, die Meinungen der Philosophen zu erzählen,
noch auch zu erforschen, wie diese im einzelnen dazu gekommen
sind, sondern sie hat die ideelle Notwendigkeit dieser Entwicklung
zu begreifen. Diese ideelle Notwendigkeit besteht aber darin,
daß die einzelnen Momente, die erst in ihrer konkreten Zu-
sammenfassung den Begriff des absoluten Geistes ausmachen, in
der Entwicklung des begrifflichen Denkens sukzessive ebenso zur
Geltung gekommen sind, wie die vollendete Philosophie diese
Kategorien in ihrem System entwickeln muß, und wie anderseits
der absolute Geist diese verschiedenen Seiten seines Wesens, in
der Reihenfolge der historischen Erscheinungen ausgelebt hat.
Daraus ergibt sich für die Geschichte der Philosophie jener
doppelte Parallelismus, der schon in der Phänomenologie an-
gedeutet war und teilweise zur Geltung kam. Die Systeme der
Philosophie müssen einerseits den Kategorien der Logik ent-
sprechen, welche ja die abstrakte Ausbreitung des Inhaltes des
götthchen Geistes enthalten sollte, und müssen anderseits das
Bewußtsein des wesentlichen Gehaltes derjenigen Perioden der
Kulturgeschichte in sich tragen, aus denen sie entstanden sind.
Jener erste Parallelismus hat nun in der Tat die Hegeische Kon-
struktion gelegentlich verleiten müssen, mit dem tatsächlichen
Material der Geschichte der Philosophie teils hinsichtlich seiner
Deutung, teils hinsichtlich der chronologischen Anordnung etwas
gewaltsam umzuspringen, und dies wäre noch gefährlicher ge-
worden, wenn sich nicht anderseits nachweisen ließe, daß Hegel
von dieser Anschauung aus von vornherein schon den dialek-
tischen Prozeß der Logik im Hinblick auf diesen seinen historischen
Doppelgänger angelegt hat, so daß die Übereinstimmung nachher
keine Schwierigkeiten finden konnte. Um so bedeutsamer ist der
zweite Parallelismus. Hegel hat zuerst eingesehen, daß jedes
Üeschichto der l'hilosophie.
:\bH
Systoni der Philosophie ein n()twen(li<^'es Prcxlukt des mcnsch-
liclien Denkens und eine notwendige Stufe in seiner Entwicklunrr
ist; er hat zwar mit der einseitigen Betonung dieser ideellen
Notwendigkeit die Ikdeutung Mer individuellen Vermittlungen,
durch welche sie sich realisiert, entschieden unterschätzt und
damit der Meinung Vorschub geleistet, als ließen sich alle Lehren
eines philosophischen Systems jedesmal als die logischen Kon-
sequenzen aus der Grundidee ableiten, die ihm seine charak-
teristische Stellung innerhalb der Gesamtentwicklung anweist.
Aber er hat anderseits den Ged.mken zur Geltung gebracht, daß
jedes der philosophischen Systeme einen Versuch enthält, sich des
gesamten Inhaltes, den der menschliche Kulturgeist auf der be-
treffenden Stufe seiner Entwicklung erreicht hat, in begrifflicher
Konzentration bewußt zu werden. Mag auch dann die Ausführung
dieses Versuches noch so sehr von der Individualität des Philo-
sophen und seiner persönlichen Stellung abhängig sein, so sind
doch immer die in seinem System verwobenen Gedankenmassen
dieselben, welche den Gehalt der zeitgenössischen Bildung aus-
machen, und so wird jedes philosophische System trotz seiner
individuellen Bedingtheit zu einem Spiegel des Kulturzustandes,
aus dem es hervorging. Die Geschichte der Philosophie so auf-
zufassen, hat die deutsche Wissenschaft von Hegel gelernt. Das
ist eins seiner größten Verdienste; es ist zugleich die Richtung,
in der er die bedeutendsten Schüler «ehabt hat. Die Geschichte
der Philosophie ist die fortschreitende Selbstbewußtwerdung des
menschlichen Kulturgeistes. Hieraus allein, folgert Hegel, kann
die^ Wahrheit der philosophischen Systeme beurteilt werden. Die
stetige Veränderhchkeit, w^elche die Philosophie in ihrer Geschichte
aufweist, erklärt sich aus der stetigen Veränderlichkeit des Ob-
jekts, das in ihr zum Selbstbewußtsein kommt: des Geistes selbst.
Jedes System ist wahr, insofern es einen bestimmten Entwick-
lungszustand oder ein Moment der selbst in der Entwicklung
begriffenen Wahrheit zum Bewußtsein bringt; es ist unwahr, in-
sofern es dies Moment in seiner Einseitigkeit festhält und in ihm
allein das Absolute gefunden zu haben meint. Die volle Wahr-
heit ist die entwickelte, diejenige, welche alle diese einzelnen
Momente in der dialektischen Notwendigkeit erzeugt und sie in
die konkrete Einheit zusammenfaßt. Die Abstraktion, die eines
Windelband, Gesch. d. ii. Philos. II.
23
ou
r
354 Hegel.
dieser Momente isoliert, ist immer nur die halbe Wahrheit. In
diesem Sinne begreift nun die Hegeische Philosophie sich selbst
als den Schlußstein der Entwicklung; ihre historische Grund-
anschauung besteht eben darin, daß sie alle Momente der Wahr-
heit, welche in der Entwicklung gesondert und teilweise in feind-
lichem Gegensatze zueinander aufgetreten sind, in sich aufnimmt
und als die notwendigen Formen der Entwicklung begreift, um
sie in ihrer Totalität zusammenzufassen und dadurch jedem seine
Stellung im Ganzen zu bestimmen. In der Tat ist die Hegeische
Philosophie mit ihrer umfassenden Systematisierung die Ver-
arbeitung des ganzen Gedankenstoffes der menschlichen
Geschichte, und darin besteht ihre universelle und bleibende
Bedeutung. Das historische Denken ist bei Hegel ohne die
skeptische Konsequenz der absoluten Relativität aller Systeme;
es hat vielmehr den Mut, den ganzen Prozeß der Gedanken qait
all«»^ seinen Widersprüchen aufzunehmen und als die integrierenden
^Bestandteile seiner eigenen höchsten Wahrheit zu proklamieren.
Diese Anerkennung enthält zugleich die Kritik dieser höchsten
Gestalt, welche der deutsche IdeaUsmus gefunden hat. Denn die
Synthese aller übrigen Systeme kann sich nur deshalb für das
absolute System halten, weil Hegel von der Ansicht ausgeht, daß
in der Entwicklung des menschlichen Geistes der ^^ absolute Geist
selber seine höchste Entfaltung findet. In Hegels Geschichts-
philosophie, Rehgionsphilosophie und Geschichte der Philosophie
führt nicht nur fortwährend der menschhche Kulturgeist den
Namen des »Weltgeistes«, sondern er wird auch tatsächlich als
solcher betrachtet. Darauf allein beruht schließlich die schöne
Harmonie dieses Systems, daß die notwendigen Entwicklungs-
formen des menschhchen Geistes als diejenigen des Universums
gelten. Hegels absoluter Geist ist in Wahrheit der menschhche
Geist. Darin besteht die weite Kluft, die ihn von Kant trennt.
Achtet man darauf, so begreift man auch die dialektische Methode
in ihrer innersten Bedeutung. Hat das menschliche Denken sein
Maß nur an sich selber, ist es wirklich das^ absolute, so ist seine
eigene notwendige Entwicklung auch die ,)Vahrheit. Die psycho-
logische Notwendigkeit aber des menschlichen Denkens bringt es
mit sich, daß seine Entwicklung darin besteht, die Vorstellungen
in Fluß zu bringen, sie ineinander übergehen und sich durch die
Der IrnitionaliRnm». 355
Fülle der Vcrinittlun^on iiUMiiaiuler verwandeln zu laswen. J)ie
Dialektik mit ihren Widersprüchen und ihrer unbeHtimmten Ver-
wandelbarkeit des Vorstellun»^sinhaltes ist der naturiiotwendi^e
Charakter des menschhchen De*nken8. Die dialektinche Metliode
besteht also darin, diesen psychologisch notwendi^^en Prozeß mit
dem logischen zu verwechseln. Ihr setzt sich deshalb die psycho-
logische Gegeneinanderbewegung der Vorstellungen in einen realen
Kampf- und Versöhnungsprozeß des Vorstellungsinhaltes um. Für
sie hat der Widerspruch und die Negation eine metaphysische
Bedeutung, und ihre eigene rastlos schaffende und wieder zer-
störende Bewegung projiziert sie in eine Weltanschauung des
ewigen Werdens.
§ 69. Der Irrationalismus.
Jacobi, Schelling, Schopenhauer, Feuerbach.
Der Hegeische Panlogismus bringt den Gesamtcharakter der
dialektischen Entwicklung der deutschen Philosophie auf den
schärfsten Ausdruck. Sie führt Schritt für Schritt mehr zu der
Aufgabe einer rein rationalen Erkenntnis des Universums: es
handelt sich schließlich um eine restlose Auflösung der Wirklich-
keit in Begriffe der Vernunft. Und das System Hegels verkündet
klar imd laut die Voraussetzung, unter der allein der Philosophie
eine solche Aufgabe gesetzt werden kann, als ihre tiefste Grund-
überzeugung: »Alles, was ist, ist vernünftig.« Soll das Universum
restlos in eine rationale Erkenntnis aufgehen, so heißt das von
vornherein, daß alle Realität selbst schon ein Rationales — daß,
wie Bardili sagte, jedes Ding nichts weiter als sein Begriff — ,
daß, wie Hegel sich ausdrückte, das Wesen der Dinge der Geist
sei. Nur dann ist für die vernünftige Erkenntnis die Welt
kommensurabel und bezwingbar, wenn sie selbst bis auf den Grund
vernünftig ist. Aus dieser Voraussetzung erwuchs Kants tran-
szendentale Logik; aber diese schloß eben daraus, daß das Welt-
bild im Kopfe des Menschen, durch die Vernunft bedingt, eine
Erscheinung sei, von deren Verhältnis zur Reahtät wir nichts
wissen können. In dem Maße, als diese kritische Restriktion
durch die Zertrümmerung des Ding-an-sich-Begriffes dahinfiel,
kehrte die Philosophie zu der alten rationalistischen Auffassung
23*
356 Grenzbegriffe.
zurück. Dieser Prozeß spitzte sich bis zu Hegel immer energi-
scher zu, und aus dem Kantischen IdeaHsmus war nun wieder
absoluter, schrankenloser Rationalismus geworden.
Allein das restlose Aufgehen der Wirklichkeit in die »Vernunft«
ist nur ein Schein. In Wahrheit bleibt für jedes dieser rationa-
listischen Systeme ein letztes Etwas übrig, was sich der rationalen
Erkenntnis entzieht, was sich für die begriffliche Auflösung als
unnahbar darstellt und dem vernünftiojen Bewußtsein als inkommen-
surabel erscheint. Bei aller rationalen Durcharbeitung unseres
Bewußtseinsinhaltes bleibt darin ein Rest, der wie ein Fremdes
imd Gegebenes dazwischen steht, und der sich aus der Vernunft
selbst nicht ableiten läßt. Es gibt im Grunde der Dinge etwas
Inkalkulables, — ein geheimnisvolles Etwas, welches da ist, auf
welches wir die Hand legen, und welches wir doch nie begreifen
können. In der Tiefe des »Deduzierten« ruht ein Undeduzier-
bares, von dem wir nichts wissen als: es ist!
So findet sich in jedem rationalistischen System ein Rest, an
welchem die Vernunfterkenntnis scheitert. Aber, nur eins dieser
Systeme hat diese Tatsache unumwunden ausgesprochen — der
kritische Rationahsmus von Kant. Er beschränkte die apriorische
Erkenntnis auf die Formen der Vernunft und behandelte die
Mannigfaltigkeit des Erfahrungsinhaltes als schlechthin »gegeben«.
Das ist, wie es besonders bei Maimon hervortrat, der tiefste Sinn
der Lehre vom T)ing an sich.' Der Rationalismus bedarf eines
Grenzbegriffes, vermöge dessen er eingesteht: hier liegt ein
Unbegreif Hohes, eine Tatsache, die gilt, ohne erkannt zu sein.
Von hier aus fällt vielleicht das schärfste historische Licht zurück
auf das innerste Gefüge der Metaphysik von Leibniz und seine
tiefste Verwandtschaft mit Kant, die sich in der Kritik der
Urteilskraft an dem Begriffe der Spezifikation der Natur heraus-
stellte*). Neben den »ewigen Wahrheiten« nahm Leibniz die
unerforschliche Tatsache der göttlichen Wahl an, nach welcher
unter den zahllosen Möglichkeiten gerade diese Welt in ihrem
ganzen Ablaufe wirkhch geworden sei: auch für ihn liegt also in
der Wirklichkeit eine Verite de fait vor, welche für das logische
Bewußtsein inkommensurabel bleibt. Bildet so der göttliche Wille
*) Vgl. oben S. 162 Anm.
ÜP"
Der IrrationaÜHiiius. 357
den (.ilrenzbegriff des Loibnizsciion Katioiialismus, so liegt, wenn
aucli in ganz anderer Verschlingung der Gedankenfäden, etwas
•sehr ähnliches bei Fichte vor : hier ist es die »grundlose« und
deshalb unbegreifliche »Tathandlung« des absoluten Ich, welche
den für das rationale Bewußtsein undurchdringlichen Grund der
ges^amten Wirklichkeit ausmacht. Wenn Fichte je daran gedacht
hatte, nach der Abwerf ung des Ding-an-sich- Begriffs die Welt
restlos aus dem Ich und seinen zwecknotwendigen Handlungen
zu begreifen, so fand er an der Empfindung, deren Tätigkeit
zwar abzuleiten,. deren Inhalt aber nicht zu deduzieren war, seinen
Grenzbegriff: und diese Einsicht scheint für ihn den Umkehr-
punkt seiner philosophischen Entwicklung ausgemacht zu haben.
Es war zugleich der Punkt, an dem SchelHng sich nachher von
ihm trennte, um für die Metaphysik des Identitätssystems jene
»intellektuelle Anschauung« in dem Kantischen Sinne des Wortes
in Anspruch zu nehmen, deren mystische und ästhetische Be-
ziehungen in der weiteren Entwicklung immer klarer hervortraten.
Diesen Grenzbegriff der intellektuellen Anschauung suchte dann
Hegel zu eliminieren, und eben darin bestand die »Rationali-
sierung« der romantischen Ideenwelt, die das unterscheidende
Merkmal seines Systems bildet : aber er stieß dafür wieder auf einen
anderen Grenzbegriff. Denn indem er den »Umschlag« der Idee
in die natürliche Wirklichkeit dialektisch zu entwickeln unternahm,
traf er in der Natur etwas der Idee Fremdes, eine »Negation«,
die nicbt nur den Mangel des ideellen Moments, sondern vielmehr
eine entgegenstehende Macht der Realität bedeutete, und welche
er unter dem Namen der »Zufälligkeit der Natur« als Tatsache
anerkennen mußte, ohne sie rationell begreifen zu können. Und
so trat wiederum in anderer Form dieser Proteus desjrrationaleii
Restes der Wirklichkeit zutage, und diese »Zufälligkeit« bildete
den Grenzbegriff des logischen Idealismus.
Diese Grenzbegriffe der rationalistischen Systeme sind nun die
Ausgangspunkte für eine Reihe höchst merkwürdiger und interessan-
ter philosophischer Lehren geworden, welche die Entwicklung
des rationalistischen Idealismus von Kant bis zu Hegel gewisser-
maßen wie ihr Schatten begleiten und deshalb hier zunächst in
Betracht kommen. Die kritische Einsicht in die Unzulänglichkeit
des Rationalismus, das Wesen der Dinge bis auf den Grund zu
358 Jacobi.
begreifen, führt zunächst dazu, dem rationalen ein irrationales
Wissen gegenüberzustellen, welches in irgend einer Tatsächhchkeit
seinen Ursprung habe, dann aber zu dem weiteren und wichtigeren
metaphysischen Schritte, den Gegenstand dieses irrationalen Wissens
aus der Sphäre des »Vernünftigen« herauszuheben und ihm den
Charakter sei es der Übervernünf tigkeit, sei es der Unvernünftig-
keit zuzusprechen. Die Systeme der Philosophie, die auf diesem
Wege durch die Reflexion auf die Grenzbegriffe des Rationalismus
entstehen, und welche mn dieser innersten Verwandtschaft ihres
Ursprungs willen hier unter der Bezeichnung des Irrationalismus
zusanamengefaßt werden, zeigen natürlich ein sehr verschiedenes
Gepräge und stehen untereinander nicht im Zusammenhange einer
kontinuierlichen Entwicklung: jedes von ihnen ist vielmehr ein
Nebensproß, der von dem Hauptstamme des Idealismus auf einer
bestimmten Phase seiner Entwicklung nach der Schattenseite hin
abgesendet wird. Die Begriffe, mit denen diese Systeme des
Irrationalismus arbeiten, sind deshalb immer wesentlich diejenigen
des rationalistischen Systems, gegen welches sie sich kritisch und
polemisch entwickeln. Darum sind es zum Teil Männer von hervor-
ragender kritischer Begabung, welche diese Systeme aufgestellt
haben, daraus erklärt es sich aber auch, daß nicht minder eben
diese Männer ihren Gegensatz gegen die rationalistischen Systeme
viel lebhafter empfinden und zur Darstellung bringen, als ihre
Abhängigkeit davon, und daß erst die historische Forschung über
ihre wahre Stellung in der Gesamtentwicklung hat orientieren
müssen, die sie selbst vielfach verkannten. Neben dieser sehr mannig-
fach verwickelten Beziehung zu den rationalistischen Systemen
ist endlich allen diesen Irrationalisten auch die Abstreifung der
schulmäßigen Form der Begriffsentwicklung und damit die freiere
und teilweise populärere Darstellungsweise gemeinsam, vermöge
deren sie — in gutem und minder gutem Sinne — auf die all-
gemeine Bildung häufig einen direkteren Einfluß ausgeübt haben,
als die strengeren Gedankengänge der rationahstischen Schule.
Der erste in dieser Reihe der irrationalistischen Denker ist
r , 1 \ Friedrich Heinrich Jacobi, dessen fruchtbare und förderliche
Kritik der Kantischen Lehre schon an anderer Stelle erwähnt
worden ist. Was seine positive Lehre anbetrifft, so wurzelt sie
l'crsünlichkeit. iJ.OO
zwar vielfach ii\ den vorschicdcMisten ilichtunj^en der vorkantiFchen
Philosophie; aber ihre Ausbildung und iiire f)räzi.se Darstellung
knüpft überall an den von.ihr bekämpften Idealismus an. Seiner
«ijanzen Persönlichkeit nach «^'chört .Jacobi jener Reaktion gegen
die nüchterne Aulkliirun«^ an, welche mit »Sturm und Drang auf
das geniale Gefühl der ursprünglichen Individualität pochte. 1743
zu Düsseldorf geboren, zog er sich aus der kaufmännischen Lauf-
bahn, die er anfänglich in Genf begonnen hatte, allmählich ganz
in die literarische Tätigkeit zurück und war von 1804 an bis zu
seinem Tode (1819) Präsident der Münchner Akademie der Wissen-
schaften. Von seinen zahlreichen mit Liebe gepflegten, aber mit
unsäglicher Empfindsamkeit und Empfindlichkeit verbundenen
persönlichen Beziehungen sind diejenigen zu Hamann und zu Goethe
die bedeutsamsten und für seine Lebensauffassung wichtigsten ge-
wesen. Solche Verhältnisse waren bei ihm um so einflußreicher,
als er eine außerordentlich weiche Natur war. Ein Schweben im
zartesten Gefühlsleben, ein Wühlen in der eigenen Empfindung,
ein Forcieren aller persönlichen Verhältnisse machen ihn zum
Typus jener Periode subjektiver Verinnerlich ung und individueller
Durchbildung, welche die Aufklärung abzulösen bestimmt war:
aber nicht minder zeigt er auch den genialen Eigensinn, das leiden-
schaftliche Verranntsein in persönliche Überzeugungen, welches
dem melancholischen Temperament anzuhaften pflegt. In seinem
Stile di'ückt sich das durch den Mangel objektiver, ruhiger
Beweisführung und das Vorherrschen des warmen Gefühls aus.
Seine Schriften bilden keine wissenschaftlichen Darstellungen, sie
sind immer im Affekt geschrieben, stets erregt und überschwenglich ;
sie sind aus der Gestalt von Ansätzen, Anfängen und Einleitungen
niemals zu einem fertigen, geschlossenen Werke gereift, imd da
in ihnen nicht der Verfasser über den Stoff, sondern der Stoff
über den Verfasser herrscht, so enthalten sie keine Beweise, sondern
nur Versich erunc^en ; sie ähneln den Werken der alten Mystiker
auch darin, daß in ihrer lebhaft dahinwallenden Bede oft aus der
trüben Dunkelheit prächtige Blitze des Geistes hervorbrechen.
Allein diese Verwandtschaft mit der Mystik ist bei Jacobi in
der Tiefe der Weltauffassung begründet. Das unmittelbare Er-
greifen des unendlichen und unbedingten Weltinhaltes durch den
endlichen Geist ist das Thema aller seiner Rhapsodien, und was
360 Jacobi.
seinen Blick für die Bedeutung der kritischen Erkenntnistheorie
so wunderbar schärfte, war nur die ihn von Anbeginn erfüllende
Überzeugung, daß dieses Erfassen des Unendlichen niemals durch
die wissenschaftliche Denktätigkeit, sondern nur durch das ur-
sprüngliche Gefühl geschehen könne. Darum fand er sich zu der
skeptischen Tendenz der Kritik der reinen Vernunft durchaus
sympathisch hingezogen. Die wissenschaftliche Unerkennbarkeit
des Übersinnlichen galt ihm als von Kant streng erwiesen. Aber
die Kritik ging ihm nicht weit genug; denn sie ließ noch die
wissenschaftliche Denkbarkeit einer übersinnlichen Welt bestehen.
Deshalb richtete Jacobi sein Augenmerk in erster Linie auf die
prekäre Stellung, welche bei Kant der Begriff des Dinges an sich^
als der Kreuzungspunkt seiner verschiedenen Denkinteressen ein-
nimmt, und zeigte in der oben erwähnten Polemik, in welche
Widerspiüche sich dieser Grundbegriff notwendig verwickelt. Die
wissenschaftliche Kritik muß das Ding an sich nicht als proble-
matisch betrachten, sondern leugnen; der transzendentale muß
absoluter Idealismus werden. Die Wissenschaft muß die üfcer-
similiche Welt nicht nur als etwas ihr Unbeiührbares hinstellen,
sondern sie muß sie leugnen. Sie kann nicht einmal den Begriff
des Unbedingten bilden, sie kennt nur den kausalen Zusammen-
hang endlicher Existenzen. Das Postulat der Kausalität muß
lauten: es gibt nichts Unbedingtes. In diesem Sinne bezeichnet
Jacobi den Spinozismus als die vollendete Form der Wissenschaft,
wobei er freilich vollkommen die große Rolle übersieht, welche
gerade in diesem das Unbedingte spielt, und nur auf seinen
Naturalismus hinsichtlich des Welt2:eschehens reflektiert. Die
Wissenschaft, sagt Jacobi, kann nur anerkennen, was sich be-
weisen läßt. Beweisen heißt etwas aus etwas anderem ableiten,
bewiesen werden kann nur das Bedingte. Das Unbedingte, die
höchsten Grundsätze, sind ursprünghche, allgemeine, unüberwind-
liche »Vorurteile«. Aber mit dieser Argumentation, welche an
sich als die Behauptung unerweisbarer Gründe für alle Bewtis-
tätigkeit durchaus korrekt ist, verbindet Jacobi ncch die naiv
rationalistische Verwechslung der Begriffe von "^Erkenn tnisgrund^
und^ealursache~und begründet damit den Satz, daß ein Gott,
welcher bewiesen werden könnte, kein Gott wäre, und daß es das
Interesse der Wissenschaft sei, daß kein Gott existiere. Naturalis-
Wissen uiul (jlauhon. 36|_
mus und Atheismus sind für ilm dc^halij notwendige Charaktere
der Wissenschaft; es gibt für sie kein unbedingtes, t^ondern nur
bedingtes Sein — eine Auffassung, wekhe Kants »kritischer Auf-
lösung« der beiden dynaniischen Antinomien in der Tat sehr nahe
steht.
Aber eben deshalb kann sich nach Jacobis Meinung die mensch-
liche Überzeugung nicht mit der Wissenschaft begnügen. Man
muß sorgfältig zwischen unmittelbarer und mittelbarer
Erkenntnis unterscheiden. Alles wissenschaftliche Denken ist
mittelbar und setzt £omit ein unmittelbares voraus, das es selbst
nicht begreifen kann. (So sprach Fichte vom sekundären Cha-
rakter des Bewußtseins.) Es ist das irpwTov '!;£uoo? der ratio-
nalistischen Aufklärung, nur glauben wollen, was sich wissen-
schafthch beweisen läßt. Das unbedingte Sein ist nie zu beweisen,
sondern immer nur unmittelbar zu fühlen. Es ist kein Objekt
des Wissens, sondern nur ein Gegenstand des Glaubens. Jacobi
schließt sich damit wie Hamann an Humes Gebravch des Wortes
»belief« an, bleibt jedoch in der Anwendung nicht innerhalb der
von Hume oesteckten Grenzen der sinnlichen Tatsächlich keit. Denn
er behauptet zugleich, daß dies unbeweisbare Gefühl, wodurch
sich das unbedingte Sein in unserem Bewußtsein ankündigt, zwei
Grundformen habe: die Gewißheit der sinnlichen Wahrnehmung
und diejenige des übersinnlichen Glaubens. Beiden ist gemeinsam,
daß sie die Realität ihres Gegenstandes nicht beweisen können,
sondern ihrer unmittelbar gewiß sind; beide sind deshalb, wie
Jacobi nicht ohne Beziehung auf die Leibnizische Monadologie
ausführt, nur dadurch erklärbar, daß im Akte der Wahrnehmung
Wahrnehmendes und Wahrgenommenes unmittelbar eins sind, daß
also die Gewißheit der Wahrnehmung ein inte grierec der Bestandteil
unserer Selbstgewißheit ist. Nur vermöge dieses »Glaubens« sind
wir der Existenz der äußeren Welt sicher. Beweisen läßt sie sich
nicht. Die theoretische Wissenschaft kennt nur Vorstellungen,
und die Kritik der reinen Vernunft führt, konsequent verfolgt,
zum Nihilismus, sie ist eine in alle Ewigkeit um lauter Nichts
beschäftigte Vernunft. Als daher Fichte diese Konsequenz zog
und das Ich als den nur auf sich selbst gerichteten Trieb de-
finierte, da stellte sich Jacobi ganz auf den Standpunkt des naiven
Realismus und behauptete, ein solches »Tun des Tuns«, ein
362 Jacobi.
»ursprüngliches Tun« sei absolut unvorstellbar*). Alles Tun weise
auf ein »ursprüngliches Sein« zurück, das es »zu enthüllen gilt«,
und das sich nur dem »Gefühl« zu erkennen gibt. Der Eealismus,
die Annahme einer außer uns existierenden Welt, ist Sache des
Glaubens: und so führt Jacobi die naive Weltansicht durch die
sensualistische Evidenz ein, — eine Lehre, worin ihn seine
Vertrautheit mit Bonnet bestärkte. Es wiederholt sich auch bei
ihm die häufig erwähnte Tatsache, daß der Antirationalismus mit
dem Sensualismus gemeinschaftliche Sache machen muß.
Aber das ist zuletzt nur eine Konzession; das eigentliche Inter-
esse liegt für Jacobi bei jener anderen Wahrnehmungsfähigkeit,
derjenigen des Übersinnlichen, welche er in seinen späteren Schriften
nach Herders Vorgange mit etymologischer Spielerei »Vernunft«
nennt, und es ist nur die Sache seiner persönhchen Überzeugung,
daß er diese nicht wie frühere Antirationalisten in irgend einer
positiven Offenbarung, sondern im individuellen Gefühle sucht.
Er ist in dieser Hinsicht und namentlich in bezug auf das Doppel-
verhältnis zu Kant und Spinoza das negative Seitenstück zu
Schleiermacher. Darin besteht auch bei ihm die eigentümliche
Zwischenstellung, daß er den Glauben an das Übersinnliche weder
auf einen theoretischen noch auf einen praktischen Beweis stützt,
sondern ihn lediglich im Gefühle sucht und dabei doch mit der-
selben Unklarheit wie Rousseau eine gewisse Allgemeingültigkeit
und Notwendigkeit dieses Gefühls mehr voraussetzt als ausdrück-
lich behauptet. Zwar spendet er, wie vorauszusehen, Kants Lehre
von dem Primat der praktischen Vernunft und seinem Begriffe
des moralischen Glaubens eine be;>eisterte Anerkennung; aber
gegen die kritische Ausführung dieser Gedanken sträubt er sich
teils wegen ihrer Richtung auf das »Sollen«, statt, wie er verlangt,
auf das »Sein« der Postulate, teils wegen ihrer wissenschaftlich
beweisenden Form, teils besonders we^cn der Rigorosität des
Kantischen Moralprinzips. Das starre Pfiichtgesetz erfüllt ihn
geradezu mit einer Art von Haß. Wie ihm die Individualität
die stärkste, lebhafteste und festeste aller Gewißheiten ist, so
betrachtet er auch die individuelle Natur als das Heiligste auf
*) Er glaubte witzig zu sein, wenn er das Fichtesche Ich >ein Stricken
nicht etwa des Strumpfes, sondern ein Stricken des Strickens« nannte.
ZwoifttclKi WjilirhciL :J03
(\vu\ monvlisclion Gebiete. Von der moralischen Autonomie hält
er sich mehr an auro?, als an den vo|io;. Es sind Anklän;^e an
Shaft-esbury und dessi'n ]jehre von der ^q-olicn sittlichen Indi-
vidualität, mit denen Jacobi das Hecht der Subjektivität, sich ihr
eigenes Gesetz zai i^eben und ihr Leben danach zu gestalten, in
begeisterter Weise verkündet. In seinen phil()S()j)hischen Romanen,
besonders im »Allwill«, entwirft er das Bild einer solchen großen
Persönlichkeit, welche gegen die philisterhafte Eingeschränktheit
des landläufigen Moralisierens das sittliche Recht hat, — ein Bild,
zu dessen Zügen unverkennbar Goethe gesessen hat. Jacobi war
selbst eine zu edle und moralisch sichere Natur, als daß dieser
ethische Individualismus bei ihm zu dem Übermute genialer
Willkür geführt hätte, welchen die Romantiker proklamierten.
Aber die Richtung seines ethischen Denkens ist dieselbe. Sie
wendet sich deshalb gegen die maximenhafte Formulierung der
sittlichen Wertbestimmung und trägt alle Züge einer ästheti-
sierenden Moral. Das Wesentliche in der sittlichen Überzeugung
ist auch bei Jacobi die Selbstgewißheit der Freiheit und der Glaube
an die Gottheit und die Unsterblichkeit; aber diese Gewißheit
ist kein Wissen, sondern eine Tugend. Sie ist lebendige Wirk-
lichkeit, wie alle Wahrnehmung, und der Versuch, sie zu denken,
erfaßt wie alles Denken nur ihren toten Schatten. Im Verstände
ist Fatalismus, Gottlosigkeit und schattenhaftes Wissen; Wahrheit,
Freiheit und Gottesglaube sind nur im Gefühl. So nennt sich
Jacobi mit dem Kopfe einen Heiden, mit dem Herzen einen
Christen und er sagt: licht ist in meinem Herzen, aber wenn
ich es in meinen Kopf bringen will, erlischt es.
Seine Lehre ist der Beweis davon, wie sich der Kantische
Dualismus von Wissen imd Glauben gestalten muß, wenn er in
das populäre Bewußtsein mit radikaler Konsequenzmacherei über-
setzt wird. Bei Jacobi sind alle Brücken zwischen Glauben und
Wissen derart abgebrochen, daß es gar keine Verbindung mehr
zwischen beiden gibt, daß sie vielmehr in einen vollkommenen
und prinzipiellen Widerspruch zueinander gesetzt werden. Für
ihn ist die Wissenschaft nicht nur wie für Kant unfähig, die
Objekte des Glaubens zu beweisen, sondern vielmehr genötigt,
sie zu leugnen. In dieser Hinsicht hat Jacobi einige Ähnlichkeit
364 Schelling.
mit dem großen französisclieii Skeptiker Pierre Bayle. Er ist
wie dieser ein hervorragender Vertreter der Lehre von der
zweifachen Wahrheit. Er bringt den Dualismus von Wissen
und Glauben bis auf die scharfe Form, daß seine persönliche
Überzeugung überall da anfängt, wo die Beweise aufhören, und
daß er von dem Gegenteil desjenigen überzeugt ist, was seiner
Meinung nach bewiesen werden kann. Seine Vernunftlehre ist
deshalb daä.Ä-Uß.crste Widerspiel des RationaUsmus. »Vernunft«
ist ihm kein Denken, sondern ein »Vernehmen« des Übersinn-
lichen, und was man sonst Vernunftwahrheit genannt hat, ist
für ihn eine Verstandesreflexion. Daraus folgt, daß von einer
wissenschaftlichen Schule, die sich an Jacobi angeschlossen hätte,
keine Rede sein kann, und Männer wie Wizenmann, Koppen,
Salat u. a., welche als seine Anhänger gelten, konnten immer
nur in seinen Fußtapfen nach treten. Aber anderseits hatte doch
sein Dualismus mit dem Kantischen viel zuviel Ähnlichkeit und
war viel zu sehr nur eine Verschiebung davon, als daß man
sich darüber verwundern könnte, wie manche Kantianer nament-
lich im Gegensatz gegen die Identitätsphilosophie sich mehr und
mehr zu Jacobi hinneigten. Und schließlich bot diese Verwandt-
schaft die Veranlassung dafür, daß Fries eine volle Vereinbarung
beider Denker auf seinem psychologistischen Standpunkte zu voll-
ziehen versuchte.
Jacobi ist im eigentHchsten Sinne mehr AntirationaHst als
Irrationalst. Zwar setzte er die Wahrheit des Gefühls geradezu
in Widerspruch mit dem reflektierenden Denken, welches er in
den früheren Schriften selbst das vernünftige oder rationale ge-
nannt hatte. Aber was er als den Inhalt des Glaubens be-
zeichnet, bleiben doch dieselben Ideen von ^Gott^ 'Freiheit und
Unsterbhchkeit, welche Kant mit der gewöhnlichen Sprache als
die Gegenstände des vernünftigen Glaubens charakterisiert hatte.
Wendet man, ohne sich um Jacobis willkürhchen Sprachgebrauch
zu kümmern, die gebräuchlichen Termini an, so ist doch auch
seine Lehre die, daß den letzten Inhalt aller Wirkhchkeit eine
göttliche Vernimft bildet, welche nur die denkende Vernunft des
Menschen nicht zu fassen vermöge. Der Antirationahsmus von
Jacobi betrifft nur noch die Erkenntnis des Absoluten, nicht
Pbilosopliio und Religion. ;U)5
den Begriff des Absoluten sechst, er ist kritischer Antirationa-
lismiis. Die weiterjjjehendc Wendung, die im Absoluten selbst
die Unvernünftigkeit entdecken wollte, war erst auf dem Stand-
punkte der Identitätaphilosopliie möglich, wenn der undeduzier-
bare Rest auch metaphysisch als das der Vernunft Vorhergehende
betrachtet wurde. Diese Wendung vollzog Scheu ing in der-
jenigen Phase seiner Entwicklung, der man den Namen der
Freiheitslehre gegeben hat.
Die Veranlassungen dazu lagen in einem Problem, welches
die letzte Form des Identitätssystems darbot. Dem Begriff des
Absoluten standen darin die göttlichen Potenzen gegenüber.
Aber die letzteren waren einerseits im Platonischen Sinne als
Ideen in Gott aufgefaßt, anderseits galten sie als selbständige
Wirklichkeiten in Natur und Geschichte. Das alte Problem von
der Substantialität der einzelnen Dinge der Gottheit gegenüber
war darin mehr verdeckt als gelöst. Pantheismus und Theismus
schlummerten friedhch nebeneinander. Schelling selbst war an-
fangs ganz entschieden Pantheist gewesen, und die Naturphilo-
sophen, besonders Oken, prägten diesen Standpunkt noch ent-
schiedener aus. Aber die Notwendigkeit des Fortschrittes hatte
ScheUing selbst darüber hinausgeführt, und der »Bruno«, sowie
die »Methode des akademischen Studiums« lehrten bereits aus-
drücklich eine Selbständigkeit des Absoluten der Welt gegenüber
und umgekehrt. Wenn nun, wie selbstverständlich, das Absolute
mit seinen Ideen als das Ursprüngliche angesehen wm'de, so
entstand die von dem Identitätssystem ungelöste Frage: wie
kommen die Ideen zur Selbständigkeit? oder populär ausge-
drückt: wie geht die Welt aus G<)tt hervor? Diese Frage an
die Schellingsche Phüosophie gestellt und damit ihre Fortbil-
dung veranlaßt zu haben, ist das Verdienst eines ihrer Schüler,
üschenmayer (1770—1852) suchte in seiner Schrift: »Die Phi- ^*'^^'^*^'
losophie in ihrem Übergange zur Nichtphilosophie« (1803) nach-
zuweisen, daß die Philosophie zwar die Entwicklimg der Ideen
in der natürlichen und der geschichtlichen Wirklichkeit begreifen,
daß sie aber ihr Hervorgehen aus der Gottheit und diese selbst
nicht zu erfassen vermöge und solche Mysterien der Religion
überlassen müsse. An dem Punkte, wo die Ideen in ihrem Ver-
hältnis zur Gottheit betrachtet werden sollen, hört das rationale
366 Schelling.
Denken auf, und die Philosophie geht in die Keligion über. Von
hier aus ist Eschenmayer später immer mehr der Philosophie ent-
fremdet und vom Supranaturalismus gefangen genommen worden
und hat schließlich in seinen »Grundzügen einer christlichen
Philosophie« (1838) namentlich Hegel bekämpft. Seine Bedeu-
tung beruht wesentlich darin, daß er Schelling auf den neuen
Weg seines Denkens gestoßen hat. Denn Schelling empfand
den Stachel dieser Frage tief, und er beantwortete sie in seiner
Schrift: »Philosophie und Keligion« (1804) dahin, daß sie von
einem Standpunkte gelöst werden müsse, der das religiöse und
das philosophische Denken nicht auseinanderreiße, sondern beide
zu der Vereinigung zurückführe, die nur im Laufe der Zeiten
verloren gegangen sei. Dieselbe Frage, welche später Hegel auf
rein philosophischem Wege zu lösen unternahm, indem er das
Absolute als die in notwendiger Entwicklung begriffene Idee
oder den absoluten Geist auffaßte, dieselbe wollte jetzt Schelling
durch eine Verschmelzung von KeUgion und Philosophie, d. h.
auf dem Wege der Theosophie lösen. Damit aber verläßt er
die Bahn des Rationalismus und betritt diejenige des Irratio-
nalismus.
Die Erkenntnis des ''Absoluten^ ist, wie auch später Hegel ge-
sagt hat, die gemeinsame Aufgabe der EeHgion und der Philo-
sophie. Aber das Absolute kann, da in ihm alle Wirklichkeit
erschöpft ist, nur sich selbst erkennen. Und nichts anderes sind
die Ideen als diese ewige Selbstobjektivierung der Gottheit. Die
Ideenlehre ist daher die wahre »transzendentale Theogonie«. Als
diese Selbstoffenbarung Gottes sind die Ideen in ihm, und sie
besitzen in diesem Anteil, den sie an dem absoluten Wesen
haben, die Möglichkeit der Selbständigkeit. Daß aber diese Selb-
ständigkeit wirklich geworden ist, dieser Abfall der Ideen von
Gott, durch den die Welt in ihrer metaphysischen Realität ent-
stand, ist eine aus dem Wesen der Gottheit nicht begreifliche
und deshalb nicht als notwendig zu erkennende Tatsache. Hier
ist der Sprung im Identitätssysteme; die Genesis des Endhchen
aus dem Absoluten ist irrational, sie ist eine Urtatsache,
welche aus dem Absoluten nicht deduziert werden kann. Sie
ist deshalb nur anzuerkennen und zu beschreiben. Sie besteht
in dem Verlangen der Idee, das Absolute selbst zu sein. Sie
Hiiador. 307
trägt an sich alle Züge des — Sündenfalls. J)er Akt der Ver-
selbständigung der Ideen, die Genesis der Welt, ist der Sünden-
fall; er ist eine im Wesen der Ideen mögliche, ai)er nicht not-
wendige, er ist eine absolut freie Handlung. In dieser erkennt
Schelling Fichtes Tathandlung des Ich. Das Endliche, das un-
endlich sein will, ist die selbständig werdende Idee, ist die Welt
in ihrem Abfall von der Gottheit. Die uralte Auffassung orien-
talischer Mystik, daß die Sonderexistenz der Einzelwesen Sünde^
sei, wird in philosophischer Formulierung zum bestimmenden
Prinzip des Schellingschen Denkens, und die Folge davon ist
die, daß dann auch das ganze Leben der selbständig gewordenen
Idee als eine Sühne des ersten Abfalls erscheint. Das selbständig
gewordene Endliche soll in die Gottheit zurückkehren, das ist
der ganze Inhalt des historischen Prozesses, der sich auf der
Natur als jener sündigen Verselbständigung des Endlichen auf-
baut. Die Mysterien von Fall, Läuterung und seUgem Leben
enthalten die volle Offenbarung der Gottheit in der historischen
Wirklichkeit, und erst nachdem es durch das abgefallene End-
liche zu sich selbst zurückgekehrt ist, hat das Absolute seine
vollendete Selbstobjektivierung gefunden. Es gilt auch hier das
dialektische Prinzip, daß erst aus der Selbstentzweiung das Ab-
solute den Abschluß seiner Entwicklung erreicht.
Damit war Schelling durch seine eigene Entwicklung zu einer
Theosophie gekommen, welche derjenigen der alten Mystik sehr
nahe stand. Der Gedanke einer Entwicklung des göttüchen Wesens
durch die von ihm abfallende Welt hindurch war von ihm zwar
originell gefunden, aber er war nicht neu, und es war deshalb
von großer Wichtigkeit, daß Schelling von neuem auf denjenigen
deutschen Mystiker aufmerksam wurde, welcher solche Gedanken
mit tiefsinniger Grübelei durchzuführen versucht hatte, auf Jacob
Böhme. Die Anregung ging jetzt von Schellings Freunde Franz /^ o,^^
von Baader (1765 — 1841) aus, welcher selbst in der nachhaltigsten
Weise unter dem gleichen Einflüsse stand. Baader selbst bewies
den überkonfessionellen Charakter der Mystik dadurch, daß er
den Gedanken des Protestanten Böhme mit seiner katholischen
Überzeugung in einer Weise vereinbarte, die freilich nicht die
Zustimmung der kirchhchen Macht finden konnte. Auch er hat
die aphoristische , behauptungsvoUe^ und^_wenig^ wissenschafthche
I-
Hl
368 Schelling.
Denk- und Schreibweise, die allen Mystikern gemein zu sein pflegt,
und seine Werke (16 Bände Leipzig 1851 — 1860) bestehen meist
aus kurzen abgerissenen Blättern. Nur die »Fermenta cognitionis«
(6 Hefte 1822 — 1825) und die » Vorlesungen über spekulative
Dogmatik« enthalten Zusammenhängendes über seine Lehre, welche
man am besten aus den Schriften seines unermüdlichen Anhängers
Franz Hoffmann und besonders aus dessen »Spekulative Ent-
wicklung der ewigen Selbsterzeugung Gottes« (Amberg 1835)
kennen lernt. Es ist eine etymologien- und analogienreiche Ver-
quickimg der Böhmeschen Mystik mit Kantischen und Fichte-
schen Gedanken. Es handelt sich um dieselbe Konstruktion des
theogonischen Prozesses und um den Aufweis des Parallelismus,
worin dieser mit dem Sündenfall und der Erlösung des Menschen
stehen soll. Es ist im Grunde genommen die theosophische Um-
deutung einer Geschichtskonstruktion unter einem religiösen Ge-
sichtspunkte. Die Entwicklung des Individuums und der Welt
sei durch den Sündenfall als Anfangspunkt und durch die Er-
lösung als Endpunkt bestimmt und aus ihnen zu begreifen, und
diese Entwicklung enthalte zugleich die Selbsterlösung der Gott-
heit von ihrem dunklen Urwesen durch ihre volle imd absolute
Selbsterkenntnis.
Dieselben theosophischen und theogonischen Gedanken sog nun
auch Schelling aus Jacob Böhme ein, aber ihre Phantastik milderte
sich bei ihm durch die Klarheit der Kantischen Gedanken und
namentlich der Kantischen Rehgionsphilosophie , welche ja in
mancher Hinsicht diesen Problemen nahe stand und auch ihrer-
seits eine spekulative Umdeutung der Lehren vom Sündenfall und
von der Erlösung versuchte. Man kann von einer sukzessiven
Wirkung der großen Kantischen Werke sprechen. Reinholds
Elementarphilosophie rekurrierte wesentlich auf die Kritik der
reinen Vernunft. Fichtes Lehre steht der Kritik der praktischen
Vernunft am nächsten. Schellings Naturphilosophie und die
ästhetische Wendung der Philosophie s'nd durch die Kritik der
Urteilskraft bedingt, und seine »Freiheitslehre« schließt sich teil-
weise an die »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Ver-
nunft«, im besonderen aber an die Theorie des intelligiblen
Cliarakters an, die darin eine wichtige Rolle spielte. Diese Freiheits-
lehre entwickelte sich vollständig in den »Untersuchungen über
FroihoitBlehro. 3H9
das Wesen der mcnschliclien Freiheit« (1809), welche Srhellin^
gegen einen |)lnin])en Angriff .lucohis in einer groben und ge-
hässigen Replik )>J)enkinal der Schrift von ditn g<)tt liehen Dingen
mul ihrer Offenbarung des Herrn F. IL Jacobi« (1812) und gegen
Einwürfe von Eschenmayer in der von ihm herausgegebenen
»Allgemeinen Zeitschrift von Deutschen für Deutsche« (1813)
verteidigte.
Das theosophisclie Problem besteht vor allem darin, daß alles
Endliche seinen Grund im Absoluten haben und doch selbst zum
Absoluten gehören soll. In diesem Sinne muß also das Absolute
seinen Grimd in sich selber haben ; es muß in ihm zwischen dem
Grunde seiner Existenz und seiner vollen, wirklichen Existenz, es
muß zwischen der Natur in Gott und dem vollendeten Gott,
zwischen Dens implicitus und Dens explicitus, zwischen seinem
AJpha und seinem Omega unterschieden werden, und zwischen
beiden Grenzpunkten muß die Welt der selbständigen einzelnen
Dinge als der Prozeß der Entwicklung von dem einen zum andern
begriffen werden. Das Universum ist die Selbstentwicklung der
Gottheit in sich, aus sich, zu sich selbst; es enthält eine große
Linie, welche vom Unvollkommenen zum Vollkommenen, vom
Natürlichen zum Geistigen, vom Sündigen zum Heiligen führt.
Den Anfang dieser Entwicklung bildet also der Grund in Gott,
der Urgrund, Ungrund oder Abgrund, wie er auch von Schelhng
genannt wird. Er ist das absolute Dunkel, das bloße Sein, die
vernunftlose Existenz, der Urzufall, der nicht notwendig, sondern
eben einfach vorhanden ist. Aber in ihm muß doch die Möglich-
keit des Vollkommeneren gegeben sein. Sie kann also nur als
ein Trieb, als ein dunkler Drang, als ein unbewußtes Streben be-
stehen, imd so ist der Urgrund der dunkle, unbewußte W^ille.
»Es gibt in letzter Instanz gar kein anderes Sein als Wollen«.
Aber die Tendenz dieses Willens kann wiederum auf nichts anderes
als auf das Absolute gerichtet sein; sie bezieht sich lediglich
darauf, daß der dunkle Grund sich selbst offenbar werde; sie ist
die Tendenz der Selbstobjektivierung des Willens. So erzeugt sich
in Gott fortwährend das Abbild seiner selbst, seine Selbstoffen-
barung, und diese besteht in den ewigen Ideen, in jener bewußten
Natur in Gott, welche Böhme "Sophia^ genannt hat. So tritt zum
unbewußten Willen die Vernimft. Nun scheiden sich die regellosen
Windelband, Gesch. d. n. Philos. H. 24
■
370 Schelling.
Kräfte des dunklen Willens, und es entstellt durch den Gegen-
satz der Vernunft und jenes dunklen Dranges die Welt, —
die Welt, in der beide herrschen, die Vernunft in der Gesetz-
mäßigkeit, Zweckmäßigkeit und Schönheit der Erscheinung, der
Wille in jenem ewig unerfüllten Triebe, der wie ein Schleier des
Wehs und der Sehnsucht über allem Dasein liegt. Das Geschick
dieser Welt aber besteht eben darin, daß mit jener unbegreiflichen
Freiheit, die zum Wesen des selbst nicht notwendigen Willens
gehört, die Welt sich selbständig gemacht, der besondere Wille
sich von dem allgemeinen Willen emanzipiert hat. Deshalb be-
ruht auch das ganze Weltgeschick auf dem Verhältnis des In-
dividualwillens zum Universalwillen. In der Natur ist der Indi-
vidualwille gebunden und bedingungslos von dem Universalwillen
beherrscht, der sich hier durch die a priori erkennbaren, d. h.
vernünftigen Gesetze darstellt, und dieses Verhältnis gilt auch für
das animale Triebleben, m welchem nur der psychologische Me-
chanismus waltet. Dieses Verhältnis ist dasselbe, welches Kant
und Fichte in ihrer Geschichtsphilosophie als den paradiesischen
Stand der Unschuld und des Vernunftinstinktes bezeichnet haben.
Erst im Menschen hat sich der Individualwille gegen den Universal-
willen empört, und diese Genesis des Bösen ist aus Naturgesetzen
nie zu begreifen. Der Sündenfall ist die irrationale, vorzeitliche
Tat des intelligiblen Charakters. Mit ihr begonnen, hat der ge-
samte Prozeß der Geschichte zu seiner Aufgabe nur die Über-
windung des Individual willens durch den Universalwillen. Diese
ist, nachdem der Individualwille sich einmal selbständig gemacht
hat und als solcher nicht mehr zu vernichten ist, nur dadurch
möglich, daß er selbst den Universalwillen in sich aufnimmt und
sich so in ihn verwandelt; er muß aus eigener Erkenntnis und
eigener Absicht zu jenem Verhältnis der Unterordnimg zurück-
kehren, das in der Natur bewußtlos herrscht. Diese Aufgabe ist^
diejenige des sittlichen und des religiösen Lebens. So ordnen
sich in Schellings Freiheitslehre die Bestimmungen von Kants und
Fichtes Geschichtsphilosophie dem theosophischen Gesichtspunkte
unter. Der Prozeß der Geschichte gilt ihm jetzt, der Natur gegen-
über, als die höhere Offenbarung der Gottheit; die Erreichinu
des Ziels, die völlige Unterwerfung des Individualwillens untej
den Universalwillen, welche freihch in der unendlichen Ferne de?
Schopenhauer. 371
Endes der GcHchichte liegt, ist die Rückkehr der Dinge zu Gott,
d. h. die Rückkehr der Gottheit zu sich selbst, die vollendete
Selbstoffcnbarung des Urgrundes — der Deua explicitus.
Wer mit der Kenntnis der Schopenhauerschen Lehre der bis-
herigen Darstellung gefolgt ist, der wird in ihr allmählich alle
die Steine haben zum Vorschehi kommen sehen, aus deren über- Jj
raschender Kombination sich das glänzende Mosaik des Systems/^ m
von Arthur Schopenhauer zusammengefügt hat. Keiner der ^^^^^'^^^
großen Denker vielleicht ist über seine historische Stellung in / 7 r /
einer solchen Selbsttäuschung befangen gewesen, und keiner hat /
die Erkenntnis der wahren Ausgangspunkte seiner Ansichten durch '^ /i'^ 0
seine Darstellung so sehr getrübt wie er. Wer ihn ohne historisches
Wissen liest, der muß meinen, Schopenhauer habe seine einzige ;
Voraussetzung in Kant und sei von diesem in einer Richtung
fortgeschritten, welche der durch die Namen Fichtes und
Schellings bezeichneten gänzlich entgegengesetzt sei und gar nichts
mit ihr gemein habe. In Wahrheit ist es nur eine durch die
Gegensätze seines persönlichen Wesens bestimmte, überaus origi-
nelle Verschiebung der Grundgedanken dieser gesamten Ent-
wicklung, welche Schopenhauer vollzogen hat, und der große Vor-
zug, den er vor den übrigen Nachfolgern Kants besitzt, besteht
wesenthch darin, daß er zugleich ein Schriftsteller ersten Ranges
ist. In der philosophischen Literatur aller Völker gibt es keinen
Denker, der mit so vollendeter Klarheit und mit so anschaulicher
Schönheit den philosophischen Gedanken zu formen verstanden
hätte wie Schopenhauer. So war es ihm gegeben, eine Anzahl
von Prinzipien, die er selbst nicht geschaffen, aus der Schul-
sprache in eine wahrhaft leuchtende und durchsichtige Darstellung
zu übersetzen und die gemeinsame Weltanschauung des deutschen
Idealismus zum Teil in Schlagwörter zu fassen, die, als seine
Werke einmal anfingen dem weiteren Pubhkum bekannt zu werden,
eine große Wirkung nicht verfehlen konnten. Anderseits unter-
stützte er diese Wirkung durch die Eigenart seiner Individualität,
die mit ihren starken, ausgeprägten Zügen in seiner Lehre aus
den begrifflichen Untersuchungen mit elementarer Kraft hervor-
brach und unmittelbar zum Leser zu sprechen schien.
Er war 1788 als Sohn eines Danziger Patriziers geboren und
24*
372 Schopenhauer.
wurde von seinem Vater nach längeren Reisen zum Beginne der
kaufmännisclien Laufbahn genötigt. Als er dann selbständig wurde
und seine Mutter, die bekannte Romanschriftstellerin, nach Weimar
zog, begann er seine wissenschaftUche Bildung nachzuholen, be-
zog 1809 die Universität Göttingen und hörte später in Berlin
Fichte. Dann nach Jena und Weimar zurückgekehrt, erfreute er
sich näheren Umgangs mit Goethe. Die Jahre 1814 — 1818 brachte
er in Dresden mit der Abfassung seines Hauptwerkes zu, machte
dann eine italienische Reise und habilitierte sich 1820 in Berhn.
Der geringe Erfolg, den er auf dem Katheder hatte und der sich
wiederholte, als er nach Unterbrechung durch eine dreijährige
Reise abermals den Versuch akademischer Wirksamkeit machte,
ließ ihn zuletzt darauf verzichten, und vom Jahre 1831 an zog
er sich in eine grollende Einsamkeit und Sonderlingsexistenz nach
Frankfurt a. M. zurück, wo er 1860 gestorben ist.
Schon der Titel seines Hauptwerkes »Die Welt als Wille und
Vorstellung« (Leipzig 1819) zeigt die oben berührte glückliche
Fähigkeit des Schriftstellers, dem philosophischen Gedanken eine
populäre Fassung zu geben. Der Kantische Gegensatz von Ding
an sich und Erscheinung, die phänomenalistische Lehre, daß die
Welt unserer Erfahrung und verständnismäßigen Erkenntnis eben
nur eine Welt der Vorstellung sei, die Umlegung des meta-
physischen Gesichtspunktes aus der theoretischen in die praktische
Vernunft, die Einsicht, daß das wahre Wesen der Dinge im Wülen
bestehe, — alle diese Grundlehren von Kant, Fichte und Schelling
sind in diesem Schlag worte zusammengefaßt. Die Welt der Er-
scheinung ist lediglich eine vorgestellte, sie hat daher für Schopen-
hauer etwas Traumhaftes an sich, sie ist ein Schleier, der uns
das wahre Wesen verhüllt und der zur Täuschung wird, wenn
ei dafür gehalten wird. Im besonderen entwickelt Schopenhauer
diese Gedanken an dem Begriffe der Kausalität, von welchem
seine scharfsinnige Promotionsschrift Ȇber die vierfache Wurzel
des Satzes vom zureichenden Gnmde« (Rudolstadt 1813) handelt.
Ihr Haupt verdienst besteht in der genauen Unterscheidung zwischen
dem metaphysischen Verhältnis von Ursache und Wirkung und
dem logischen Verhältnis von Grund und Folge. Wenn Schopen-
hauer in den mathematischen Beziehungen imd in der »Motivation «
noch zwei andere »Wurzeln« des Satzes aufstellte, so hat er
Das iiiuitijiliyBiscIie iJedürfiiii. 373
später aiisclrüc'klicli di*' lotztore (l<'iii Prinzip der Urnaclift unter-
^eordiiüt, und es ist anderseits klar, daß die erstere sich dem
Prinzip^ des Erkenntnis«i;rundes subsumiert. In ihrer meta-
physischen Bedeutung betrachtet nun Schopenhauer die KausaHtät
als die einzig wahre in dem Kantischen System der Kategorien
und bezeichnet sie, wie es schon bei Fichte in der theoretischen
Wissenschaftslehre geschah, als die Grundfunktion des Verstandes,
aus der allein in Verbindung mit den reinen Anschauungen der
Sinnliclikeit, Raum und Zeit, sich die Vorstellung einer objektiven
Welt erzeuge. Er führt namentlich, in pliysiologische Unter-
suchungen eingreifend, den Gedanken aus, daß keine Sinneswahr-
nehmung ohne diese Mitwirkung der Kausalität zustande komme,
daß nur durch sie die Empfindung sich zum Bilde eines äußeren
Gegenstandes projiziere, und diese seine Theorie, welche er haupt-
sächlich auf optischem Gebiete ausführte und als die Intellek-
tualisierung der Siuneswahrnehmung bezeichnete, hat später
durch die Zustimmung von Helmholtz einen bedeutenden Einfluß
auf die Physiologie gewonnen.
Die Kausalität als einzige Grundform der Verstandesfunktion
bildet daher für Schopenhauer auch den einzigen Leitfaden der
wissenschaftHchen Erkenntnis. Aber die letztere ist deshalb auch
auf Erscheinungen beschränkt, sie kann immer nur von Bedingtem
zu anderem Bedingten fortschreiten, und sie findet bei diesem
Fortschritt weder vorwärts noch rückwärts ein Ende. Nament-
lich ist die Erkenntnis außerstande, irgendwie den Begriff einer
ersten, selbst nicht mehr kausal bedingten Ursache aufzustellen.
Die Kausalität ist nicht wie ein Fiaker, den man anhalten lassen
könnte, wo es einem beliebt, sondern wie der Besen in Goethes
Zauberlehrling, der, einmal in Tätigkeit, sich nicht wieder bannen
läßt. Wie für Jacobi, so ist auch für Schopenhauer alle Er-
kenntnis nur eine anfang- und endlose Kette kausaler Notwendig-
keitsbeziehungen zwischen Erscheinungen. Aber der menschHche
Geist hat daneben das Bedürfnis, das Ganze der Erfahrung in
seinem innersten Zusammenhange zu überschauen, die Er-
scheinungen in ihrer Gemeinsamkeit zu überblicken und sich der
wesenhaften Einheit bewußt zu werden, die darin zur wechselnden
Erscheinung kommt. Indem Schopenhauer das^meta^hjsische
Bedürfnis so bestimmt, setzt er es ohne jeden Beweis mit der
374 Schopenhauer.
pantheistischen Voraussetzung einer den Erscheinungen zugrunde
liegenden absoluten Welteinheit gleich. Raum und Zeit sind das
»principium individuationis « , das Prinzip der Vielheit und Ver-
änderHchkeit. Aber dieses gilt eben nur für die Erscheinung, für
die Welt als Vorstellung. Das^Ding an sicir^ ist die absolute Ein-
heit, die darin verschleiert erscheint: es ist wie die ewig unver-
änderliche Idee gegenüber der Vielheit der immer werdenden und
vergehenden Sinnenwelt. Auch wenn Schopenhauer es nicht selbst
ausgesprochen hätte, würde kein Zweifel darüber bestehen können,
daß diese Überzeugung bei ihm auf seiner genauen Beschäftigung
mit Piaton beruht, die ihm sein Lehrer Aenesidemus- Schulze in
Göttingen besonders nahegelegt hatte.
Von der absoluten Welteinheit ist eine kausale Erkenntnis
nicht möglich; ihre Erkenntnis kann deshalb durch wissenschaft-
liche Methode nicht gewonnen werden. Wenn nun die ganze
Aufgabe der Philosophie darauf hinausläuft, dem metaphysischen
Bedürfnis Genüge zu tun, so ist sie nicht durch spezifisch wissen-
schaftliche Arbeit, sondern vielmehr durch eine geniale Intuition^
zu lösen, mit der der Philosoph den Zusammenhang der Erfah-
rung »deutet«. Diese Ansicht ist für Schopenhauers Stellung
innerhalb der deutschen Philosophie nach jeder Richtung hin
entscheidend. Sie stellt ihn zunächst dem Bestreben gegenüber,
die Philosophie als eine apriorische Begriffswissenschaft nach
eigener Methode zu entwickeln; er leugnet, daß jemals ein großer
Philosoph auf dem Wege der Methode zu seinen Lehren ge-
kommen sei; er meint vielmehr, der Nachfolger stümpere sich
immer erst aus der genialen Schöpfung des Selbstdenkers müh-
sam die Methode etwa ebenso zusammen, wie der Ästhetiker
aus der Produktion des großen Künstlers die Kunstregel heraus-
lese. Daraus geht ungewollt hervor, daß auch Schopenhauer das
philosophische mit dem ästhetischen Produzieren in eine ganz
ähnliche Parallele setzte wie die Romantiker; auch seine Tendenz
einer künstlerisch anschauenden Philosophie trägt den Stempel
jener Zeit der innigen Verknüpfung von Dichtung und Philo-
sophie. Deshalb war ihm niemand so sehr zuwider wie Hegel,
der diesem Zusammenhang ein Ende machen und die Philosophie
wieder zu einer reinen Begriffswissenschaft gestalten wollte, wenn
auch eben nur wollte./ Auf der anderen Seite weiß sich Schopen-
Dor Wille als Din^an-sicb. 375
liaiKM* in der in^i<^^ste^ lU'riilirun^ mit der Erfahrung. Seine
Philosophie will nichts als die Erfahriin«^ erklären. Aber das
sei eben nur dadurch niöj^^lich, daß vor der unmittelbaren An-
schauimt; sich die L,^eheime Verwandtschaft und das innerste
Wesen aller Erscheinun<];en enthüllt. Metaphysische Erkenntnis
ist nicht durch das auf Raum, Zeit und Kausalität beschränkte
Denken, sondern nur durch unmittelbares Erfassen des Wesens
der Dinge möglich. Indem Schopenhauer das metaphysische Be-
dürfnis innerhalb der Kantischen Erkenntnistheorie erfüllen will,
spricht er dem Menschen eine intellektuelle Anschauung zu, wenn
er auch diesen Namen vermeidet, imd er hätte sich nicht so
sehr über Fichte und Schelhng lustig machen sollen, denen er
es nachtat. Auch er fühlte sich vornehm im Besitz dieses ge-
nialen »Blickes über die ganze Erfahrung«, welcher nicht durch
die Arbeit der wissenschaftlichen Erkenntnis gewonnen werden
könne, sondern nur eine Gabe des bevorzugten Geistes sei. In
der Tat besaß er selbst die geniale Unmittelbarkeit anschaulicher
Auffassung der Gegenstände ebenso wie die glückliche Kraft
künstlerischer Wiedergabe dieser Anschauung.
Es kommt hinzu, daß sogar die Art jener intellektuellen An-
schauung bei Schopenhauer auf ein Haar derjenigen von Fichte
gleicht. Es ist die subjektive Selbstanschauung, welche ihn wie
Fichte lehrt, daß das wahre, aller Vorstellung und aller Erschei-
nung zugrunde liegende Wesen der Persönlichkeit der Wille ist.
Wenn das Subjekt sein eigenes Wesen anschaut, so erkennt es,
daß sein ganzes Bewußtsein nur seine Selbsterscheinung, sein
wahres und unveränderliches Wesen dagegen seinXharakter oder
sein^ Wille ist. Aus dieser Intuition folgert Schopenhauer ledig-
lich nach dem Prinzip des h xctl Tiav, daß die metaphysische
Betrachtung per analogiam den Willen als das allgemeine Ding
an sich zu betrachten habe, das allen Erscheinungen ausnahmslos
zugrunde liegt. Alle ^Kräfte und triebe, welche die Erschei-
nungen darstellen, sind nur Manifestationen des einen unend-
lichen Willens, den unsre Selbstanschauung uns als unser eignes
Wesen erkennen läßt. Dabei muß freilich aus dem Begriff des
Willens das Merkmal der bewußten Absicht fortgelassen werden:
nur der unbewußte Wille ist mit der Kraft und dem Triebe
zu identifizieren, und diesen meint auch Schopenhauer zunächst
376 Schopenhauer.
nur, wenn er gleich sich über diese seine Anwendung des Wortes
nicht näher ausgelassen hat. Gerade darauf aber beruht, wie
sich leicht absehen läßt, eine gewisse Zweideutigkeit, indem ge-
legentlich jener dunkle Welttrieb doch wieder Merkmale zeigt,
die eigentlich nur dem bewußten, durch Vorstellungen motivierten
Willen beiwohnen.
In betreff des Verhältnisses zwischen dem Willen als "^ Ding
an sich und der Erscheinungswelt herrscht nun in Schopenhauers
Lehre eine eigene und charakteristische Zwiespältigkeit. Den
erkenntnistheoretischen Grundlagen imd zumal der Kausalitäts-
lehre gemäß kann der Wille in Schopenhauers Metaphysik nun
und nimmermehr die Ursache der Erscheinungen genannt werden.
Die Sinnenwelt heißt deshalb, echt kantisch, bei Schopenhauer
nur die »Objektität« des Willens, d. h. die Form, worin das
Ding an sich für die Vorstellung erscheint. Allein wie bei Kant,
so heißt es doch auch hier wieder, daß der »Grund« der Er-
scheinung im Ding an sich liege. Wenn aber so das Verhältnis
von Ding-an-sich und Erscheinung mit dem von Grund und Folge
gleichgesetzt wird, so ist es bei Schopenhauer doch wieder nicht
ein bloß logisches Verhältnis (wie etwa bei Spinoza), sondern
eine^eale, eine metaphysische Beziehung, die von dem ursäch-
lichen Verhältnis kaum noch zu unterscheiden ist; und so wird
bei der Ausführung des Systems wenigstens im Ausdruck imd viel-
fach auch in der sachlichen Auffassung Schopenhauers »Wille«
wieder zu der erzeugenden Weltkraft, welche die Sinnenwelt
verursacht.
Die^Welt an sich'' also ist die TVelt als Wille.^' Schärfer als
bei irgend einem anderen tritt bei Schopenhauer die Tatsache
hervor, daß die Weltanschauung auch in der deutschen Philo-
sophie wesentlich eine metaphysische Umdeutung der psycho-
logischen Ansicht enthält. Die vorkantische Philosophie betrachtet
überall die Yorstellun^ als das Prius und den Willen als das
durch sie Bestimmte: daher ihr Determinismus, daher ihre Auf-
fassung der logischen Gesetze als Weltgesetze, daher jener inteUi-
gible Fatalismus von Leibniz*). Die nachkantische Philosophie
*; Vgl. Bd. I dieses Werkes, S. 505.
Itt'1ttfi'nil^^
W ilU; zum Leben. 377
sieht, wofür Fichtes Lehre von dem sekundären Charakter dea
Bewußtseins typiscli ist, im Willen das bestimmende Wesen des
deistes und in der Vorstellung hloß seine Erscheinungsform;
daher ihre Freihcitslehre, daher der Primat der praktischen über
die theoretische Vernunft, daher die Lehre vom Willen als dem
Ding an sich. In dieser Hinsicht steht also Schopenhauer völlig
auf dem Standpunkte der Wissenscliaftslehre. Aber er verläßt
ihn durch seine gänzlich veränderte Auffassung vom Wesen des
Willens. Darin zwar stimmt er mit Fichte überein, daß der
Wille als Ding an sich auf nichts anderes als auf sich selbst
gerichtet sei: er ist nichts als der Wille zu wollen oder, da
nach dieser Lehre alles^ Leben" nur Erscheinung des Willens und
im tiefsten Grimde nur immer wieder Wille ist, der »Wille zum
Leben«. Aber Fichte bezeichnete dieses Handeln um des Han-
delns, dieses Streben um des Strebens willen als das sittliche
und deshalb als"^^ praktische Vernunftr Diese Nebenbestimmung
streicht Schopenhauer, und darauf beruht sein ganzer Unter-
schied von Fichte. Man kann sagen, daß er dabei vielleicht in
gewissem, rein äußerlichem Sinne konsequenter verfuhr. Denn
die bloß formale Bestimmung des »Tuns um des Tuns willen« ist
eben in der Tat noch nicht die inhaltliche Bestimmung des sitt-
lichen Tuns, und sie wird von Fichte nur aus persönlicher Über-
zeugung und mit Kücksicht auf Kants kategorischen Imperativ
so gedeutet. Schopenhauer macht völHg Ernst mit dem Begriff
eines ^unbewußten Willens^, der gar nichts weiter will als wollen,
der darum seine eigene endlose Fortsetzung involviert, der gar kein
inhalthches Ziel hat, und der deshalb der absolut unvernünftige '_
Wille ist. Mit dieser Wendung schlägt Schopenhauers Lehre noch
mehr als mit ihrer grundsätzlichen Methodenlosigkeit in den Irra-
tionalismus um. Das Bewußtsein mit allen seinen vernünftigen
Formen ist nur Erscheinung. Das Wesen, das sich darin dar-
stellt, ist die absolute Unvernunft eines W^illens, der immer nur
wollen will. Mit dieser Veränderung wird Schopenhauers Lehre
zur Fratze der Fichteschen. Beide betrachten den Willen als das
Urprinzip aller Dinge: aber die Züge des sittlichen Willens, den
die Wissenschaftslehre zum Prinzip machte, verzerren sich bei
Schopenhauer zu der Unvernunft eines blinden und inhaltlosen
Triebes.
378 Schopenhauer.
Hieraus erklärt sich ein merkwürdiger Gegensatz, der sich
durch alle Lehren Schopenhauers hindurchzieht, und der auch in
seinen Konsequenzen genau an die Schellingsche Lehre von der
Schöpfung der Welt aus dem unbewußten Willen und der Ver-
nunft erinnert. Als Erscheinung des Willens muß die Sinnenwelt
zweckmäßig, d. h. vernünftig sein: als Erscheinung des unver-
nünftigen Willens muß sie den Stempel dieser Unvernünftigkeit
an sich tragen. So verknüpft sich bei Schopenhauer in wunder-
licher Weise eine teleologische Naturbetrachtung mit dem Pessi-
mismus, der zugleich ein Ausfluß seiner persönlichen Weltbetrach-
tung ist, und um den Widerspruch voll zu machen, kommt die
Schwierigkeit hinzu, wie man sich denken soll, daß jener im ver-
nünftige Urwille den Einfall gehabt hat, in der Gestalt des ver-
nünftigen Bewußtseins zu erscheinen, — eine Frage, die gerade
so schwer wiegt, wie im umgekehrten Falle bei dem Optimismus
der theoretischen Vernunft das Problem, weshalb die gütige Weis-
heit eine solche Welt von Elend und Sünde hervorgerufen hat.
Die Naturphilosophie, die Schopenhauer in seiner Schrift
»Über den Willen in der Natur« (Frankfurt 1836) ausgeführt
hat, zeigt die »Objektivation« des Willens in drei Hauptstufen:
in der niedrigsten Form erscheint der Wille als mechanische Ur-
sache, in höherer Gestalt schon in dem organischen Keiz, in voll-
endeter Entfaltung endlich als bewußt bestimmendes Motiv im ani-
malischen Wesen. So stellt sich die Natur als ein Stufenreich von
Manifestationen des Willens dar, in welchem dieser allmählich aus
der äußerlichsten in die innerliche Form der Kausalität übergeht.
Der ganze Prozeß der Kausalität in der Natur hat also den Sinn,
daß in ihr der Wille aus der unbewußten sich in die bewußte Er-
scheinungsform verwandelt, — ein Gesamtresultat, worin, so ver-
schieden die begriffliche Formulierimg ist, doch der Grundgedanke
von Schellings Naturphilosophie unverkennbar wiederkehrt. Diese
Verwandtschaft wurzelt in der gemeinsamen Abhängigkeit von
Fichte, der alle Kraft und allen Trieb als eine Wirkung des »Willens«
auffaßte: so ist für Schelling das innerste Wesen der Natur der
Trieb, »Ich« zu werden; für Schopenhauer ist es der imbewußte
Wille, der schließlich zum Bewußtsein und zur Vernunft gelangt.
Allein die Allgemeinheit der »Deutung«, welche Schopenhauer nur
für seine metaphysische Auffassung der Erfahrung in Anspruch
Nuturphilüsophie. *^79
nahm, verhinderte ihn dabei, den tatsächlichen Erkenntnissen der
Naturwissenschaft derarti<jj Gewalt anzutun, wie es von Seiten
Schellings und seiner 7Vnhän<^er «geschah, und so vertrug]; sich in
der Tat die Schopcnhauersche Lehre mehr mit der empirischen
Wissenschaft, als es seit Kant bei den Philosophen der Fall ge-
wesen war. Darin liegt ein Hauptgrund dafür, daß Schopenhauer
später bei den Natiu'forschern eine verhältnismäßig ausgedehnte
Anerkennung gefunden hat. Aber auch darin steht Schopenhauers
Naturauffassung derjenigen des späteren Schelling nahe, daß er
di^Kräfte,^ Gesetze und Gattungstypen als die wandellosen Ideen
bezeichnet, in denen sich durch den ewigen Wechsel hindurch das
konstante Wesen des Willens offenbart. Es ist das Platonische
Element, welches sich in dieser Lehre auch bei Schopenhauer
geltend macht, hier aber schwer mit der anderen Behauptung zu
vereinigen ist, daß der all-eine Wille erst durch Raum und Zeit
individualisiert erscheint. Die Ideen , als das Unräumliche und
Außerzeitliche, bilden in ähnlicher Weise eine Zwischenstufe
zwischen der Sinnenwelt und dem Willen, wie bei Piaton zwischen
derselben und der Idee des Guten.
Dasselbe, was von den Ideen in der Natur, gilt innerhalb der
Schopenhauer sehen Lehre auch für die individuellen Charaktere.
Auch sie enthalten eine Individuation des Willens, welche der
räumlich-zeitlichen Erscheinungsform vorhergehen soll. In dieser
Hinsicht war Schopenhauer so glücklich, eine volle Überein-
stimmung zwischen den beiden von ihm am höchsten verehrten
Denkern, Piaton und Kant, zu konstatieren, und er führte die
Lehre vom intelligiblen Charakter weiter, für die auch
Schellings Freiheitslehre das Interesse neu belebt hatte. Da die
Motivation sich als eine Form der natürlichen Kausalität zu er-
kennen gab, so nahm auch Schopenhauer für die Entwicklung
des enapirischen Charakters imd für die Genesis aller seiner
Handlungen den vollen Determinismus an. Für diese gesamte
»Erscheinung« aber machte auch er den intelligiblen Charakter
verantworlich , aus dessen unbegTeif lieber Freilieit des Seins die
ganze Notwendigkeit des Tuns folge. Im Grunde genommen sind
also auch hier die freien Individualcharaktere l)inge an sich,^
welche als ^^ Ursachen der ^Erscheinung "^ ebenso wie bei Kant fi-
gurieren.
m
380 Schopenhauer.
Es hängt mit der lediglich formalen und des ethischen Merk-
mals entkleideten Begriffsbestimmimg des Willens zusammen, daß
Schopenhauer für die Ethik eine ganz andere Basis als Kant
und Fichte suchen mußte. Bei ihm ist das Wollen durch kein
Sollen bestimmt, und er muß daher die ganze imperativische
Form der Moralphilosophie verwerfen. Er kehrt deshalb zu der
früheren Auffassung zurück, daß es sich darin nicht um die Auf-
stellung von Geboten, sondern um die metaphysische und psycho-
logische Erklärung des wirklichen sittlichen Lebens handelt.
Infolgedessen geht seine ganze Untersuchung auf den Eudä-
monismus zurück und betrachtet das Glückseligkeitsstreben als
das Grundmotiv des empirischen Willenslebens. Allein die ego-
istische Form der Motivation hängt lediglich an der Täuschung,
als ob die einzelnen Wesen für sich bestehende wären. In Wahr-
heit ist es ja nur der eine, selbe Wille, welcher in Raum und Zeit
differenziert erscheint*), und für diese Erkenntnis ist alles, was
wir dem anderen Wesen tun, Gutes und Böses, uns selbst getan.
Hierauf beruht die Möglichkeit der ethischen Motivation, in
welcher das Individuum das fremde Interesse zu dem seinigen
macht. Als die Grundform des Altruismus betrachtet aber Schopen-
hauer nicht die »wohlwollende Neigung«, sondern vielmehr das
Mitleid. Das ist die Konsequenz des Pessimismus, der sich
bei ihm unmittelbar an den Begriff des Willens anschließt. Denn
ein Wille, der immer nur wollen will, ist seinem Wesen nach der
in alle Ewigkeit unbefriedigte Wille. Gerade dadurch, daß er
seinen Zweck erreicht, erzeugt er sich von neuem, und mit ihm
ist deshalb in der bewußten Erscheinung das Gefühl der Unlust
notwendig und unentf liehbar verknüpft.
Dieser Argumentation kann man freilich entgegenhalten, daß,
wenn der Wille nichts will als wollen, er seinen Zweck ja durch
sich selbst immerfort erreicht und so der stets befriedigte Wille
ist. Im besonderen hat daher Schopenhauer immer den Pessimis-
mus hedonistisch begründet, indem er die Unerfüllbarkeit des
Glückseligkeitsstrebens aus den Tatsachen zu beweisen suchte:
*) An dieser Stelle besteht zwischen der Lehre von der außerzeitlichen
Ding-an-sich-haftigkeit der Individuen und der metaphysischen Basierung
der Ethik eine von Schopenhauer, wenn überhaupt, so jedenfalls erst spät
bemerkte Differenz,
PessinunmuB. ,'i81
wie denn bei dem Philosophon Hclhst der Pes-simLsmus, soweit er
iiichl. l)lüß die 'J'hcorio des zuschiiuendon I^ctrachtcrH war, auf
die porsöidichon Gefühle, auf s(iinniun«^sniaüi<^«' Vcranla;4un;4 und
dadurch gefärbte KrlebiiiHse zAiiiick^ing. In seiner Pliilosophie
wird er nicht müde, die Frivolität zu brandmarken, womit der
hindljlufige Optimismus dem Elend der Wirklichkeit gegenüber
von einer unbegreiflichen Zweckmäßigkeit und Weisheit der Welt-
einrichtung zu predigen weiß. Er zeigt, daß dem geringen Quantum
von Lustgefühl, das in dieser Welt mciglich ist, im besten Falle
stets eine größere Unlust des noch unbefriedigten Triebes vor-
hergeht, und betrachtet deshalb die Unlust als das positive Ge-
fühl imd die Lust nur als den Mangel daran. So enthält dieser
Pessimismus bis in die einzelnen Lehren hinein eine Umkehrung
der Theorien von Leibniz' Theodicee: es ist der auf den Kopf
gestellte Optimismus; beide sind widersprechende Antworten auf
die eudämonistisclie Frage, deren prinzipielle Yerfehltheit Kant
eingesehen hatte. Deshalb aber ist nun für Scliopenliauer das
"Mitleid das ethische Grundgefühl; die sittliche Handlung besteht
ihm in der Linderung der fremden Not und erst sekundär in der
tätigen Liebe für das fremde Wohl, wobei er besonders hervor-
gehoben hat, daß er nach seinen Grundsätzen — der einzige
unter den europäischen Moralphilosophen — direkt auf die Tiere
die sittliche Verpflichtung des Mitleids und der Liebe ausdehnt.
Allein selbst dies ethische Handeln bleibt doch nur ein Palliativ.
Dem Willen ist die Unlust wesentlich, und eine völlige Aufhebung
des Elends der Welt ist nur dadurch möglich, daß die Axt an
diese tiefste W^urzel, an den Willen selbst, gelegt wird. Es hüft
schließlich nichts, daß der Wille aus der egoistischen in die al-
truistische Richtung gebracht wird; denn er führt auch so immer
nur zum Elend. Es gibt vor dem Leid nur eine Rettung : das ist
die Flucht in das Nichts. Diese Rettung ist nicht durch die Auf-
gebung des irdischen Lebens zu erreichen; denn der individuelle
Wille ist ein unzerstörbares Ding an sich, er würde sich sogleich
eine neue Erscheinungsform schaffen. Die Metempsychose läßt
den Selbstmord als eine Torheit erscheinen. Die Vernichtung
muß nicht die Objektivation des Willens, sondern diesen selbst
treffen. Erst wenn der Wille aufhört, endigt auch die Unlust,
die er notwendig bei sich führt. Über dem ethischen Handeln
382 Schopenhauer.
stellt der Quietismus der Willenlosigkeit, über der tätigen
Liebe die asketische Weltentfremdung, die Einsicht in die Nichtig-
keit alles Strebens und die vollkommene Abtötung aller Triebe.
Die mystisch orientalische Lehre vom Aufgehen der sündigen
Einzelexistenz in die Gottheit verwandelt sich in das Ideal der
absoluten Vernichtung. Fichtes zweite Lehre sah im sittlichen
Leben nur die Vorbereitung zu der höheren »Seligkeit« der Gottes-
anschauung: für Schopenhauer ist diese Seligkeit das Nichts; die
Aufhebung alles Willenslebens ist zugleich die absolute Vernichtung.
Denn bei Schopenhauer steht hinter dem Willen nicht mehr, wie in
Fichtes zweiter Lehre, das absolute Sein, das der willenlose Intellekt
»anschauen« könnte. Die Darstellung dieser Schlußlehre verbrämt
Schopenhauer mit Analogien aus der indischen Philosophie, von der
damals die ersten Bruchstücke in Europa bekannt wurden; die
Büßer am Ganges, die, nicht mehr vom Schleier der Maja ge-
täuscht, sich in das Nirwana versenken, werden ihm zum philo-
sophischen,(" wenn auch nicht zum persönlich befolgten) Ideal. Wie
nun freihch nach seinen metaphysischen Bestimniungen diese
Quieszierung des Willens möghch sein soll, ist durchaus nicht
abzusehen; er erklärt sie deshalb für eine" Wiedergeburt, die ebenso
ein Mysterium bleibe wie die^^Freiheit. In dieser Verneinung des
Willens zum Leben, in diesem totalen Aufgeben aller und selbst
der sittUchen Willenstriebe sieht Schopenhauer den eigentlich
religiösen Akt; er bildet ihm auch den tiefsten Gehalt des
Christentums, dessen pessimistische Seite, wie sie in dem Erlösungs-
bedürfnis unverkennbar ausgesprochen ist, von Schopenhauer ge-
rade im Gegensatz zu dem optimistischen Dogma von der gött-
lich enW eltschöpf ung und Weltregierung geflissentlich hervorgehoben
wird. So kommt der Philosoph zu der Paradoxie, ein religiöses
Verhalten ohne den Glauben an die Gottheit zu statuieren. Bei
Fichte und seiner ersten Lehre war eine ähnliche Kombination
insofern vorhanden, als es auch für ihn nicht den Glauben an
die Existenz einer göttlichen Substanz, sondern nur denjenigen
an ein absolutes sittliches, Ideal gab. Schopenhauers ^Wille ist der
unvernünftige, und sein Ideal ist deshalb das Nichts. Aber weder
dies Ideal noch jener vernunftlose Wille können Gott genannt
werden: deshalb bekennt sich Schopenhauer zu der »atheistischen
Religion« des Buddhismus.
Vorncinuni^ tlcB Willeni«. ,'JH3
Dio absolute Quif^Hzirrun«^ des Willens N\ür(lc' mit ihm Hclbst
auch srine i;caamtc Ei. schein irnj^Hform vernichten, sie wäre idcn-
tiscli mit dem Knde der Welt. Sie int also für öihopciihaU(!r,
was Kant einen (Jrenzbegriff oder eine Idee genannt haben würde.
Er betont aber dabei eben das Merkmal ihrer Unerfüllbarkeit in
der Erscheinungswolt. Sie gilt ihm deshalb auch nicht als ein
Ziel, auf welches die letztere in allmählicher Entwicklung zu-
streben kömite. So dumm ist der Wille nicht, daß er auf seine
Vernichtung hinarbeitete. Infoluedessen verhält sich Schopenliauer
zu den geschichtsphilosophischen Tendenzen auch Kants durchaus
ablehnend. Er leugnet jeden Fortschritt im historischen Prozeß:
ihm gilt die Geschichte nur als eine ewige, sinnlose Wiederholung
des Elends, worin sich der Wille zum Leben stürzt. Seine Welt-
anschauung ist völlig unhistorisch; sein Irrationalismus wendet
sich vor allem gegen die Geschichte, in der er keine Spur von
Vernunft anerkennt, und er ist darin allerdings der konsequenteste
unter den Gegnern Hegels.
Allein innerhalb der Erscheinungswelt gibt es doch auch für
Schopenhauer eine partielle Vernichtung des Willens, die deshalb
die wahre Seligkeit mitten darin gewährt. Im allgemeinen ist der
Intellekt die Erscheinung des Willens und durch ihn bestimmt.
Nach dem Primat der praktischen Vernunft hegt der Trieb des
Denkens im Willen. Aber es gibt eine Möghchkeit, vermöge deren
der Intellekt sich vom Willen zu befreien vermag. Wo er es er-
reichen kann,^mteTesselos anzuschauen und zu denken, da schweigt,
wenn auch nur für Momente, der unselige und törichte Wille, und
da entsteht in der bloßenBetrachtung die intellektuelle Lust, die
deshalb als eine Erlösimg von den Lbeln des Trieblebens wirkt.
Es ist klar, welchen Wert in diesem Zusammenhange für Schopen-
hauer der Kantisch- Schillersche Begriff der" interesselosen Betrach-
tung' gewimien mußte ; sie hat für ihn fast genau denselben Wert
wie bei den Eomantikern die~Ironie, d. h. sie ist der Genuß der
Phantasie, welche von aller Arbeit des W^illens frei geworden ist,
und sie bildet für ihn in der Erschein ungs weit die Erfüllung des
religiösen Bedürfnisses nach der Vernichtung des Willens. Aber
er gibt ihr einen allgemeineren, nicht nur ästhetischen Sinn. Das
interesselose Anschauen gewährt der ästhetische Naturgenuß und
die Kimat, das mteresselose Denken gewährt die Wissenschaft;
384 Schelling,
In dem ästhetischen und dem wissenschaftlichen Verhalten ist der
Intellekt vom Willen frei geworden und betätigt das dadurch,
daß er in beiden Fällen sich nicht mehr auf die Besonderheit der
einzelnen Erscheinungen, sondern auf das Allgemeine, auf die
Idee und das Gesetz richtet, das sich darin darstellt. So wird
auch Schopenhauer ein Prophet jener Bildung, welche in Kunst
und Wissenschaft ihre Religion hat und darin ihre Erlösung von
,' O O
dem Leide des Lebens findet. Der intellektuelle Genuß ist die
wertvolle Selbstbefreiung, die das vernünftige Bewußtsein dem
dunkeln und unvernünftigen Weltgrunde abgerungen hat. Und
so geht am Schluß der Schopenhauerschen Philosophie klar und
deutheh das dialektische Prinzip des W^iderspruchs hervor, worin
sie ihren historischen Ursprung hatte: der dumme Wille hat —
wüßte man nur wie — das vernünftige Bewußtsein erzeugt, das
ihn zu überwinden berufen ist. Dieser Zwiespalt zwischen dem
Willen und dem Intellekt beherrscht die ganze Philosophie Schopen-
hauers: er bildet die Einheit seiner Lehre wie seiner Persönlichkeit
und seines Lebens.
Schopenhauers System ist der Beweis davon, daß Schelling
auf dem Wege, der ihn zuerst zu dem Begriffe eines unbewußten
und irrationalen Weltgrundes geführt hatte, sich nicht allein be-
fand. Aber auch Schelling selbst ging in derselben Richtung noch
weiter fort. Er überzeugte sich immer mehr davon, daß das[Wollen
das Höchste sei und die unbegreifliche Urtatsache genannt werden
müsse. Man kann von ihm nur sagen, daß es^ ist, nicht daß es
notwendig ist, und in diesem Sinne ist es der »Urzufall«. Es
spottet jeden Versuchs, es aus irgendwelchen Vernunftprinzipien
zu deduzieren. Es ist vielmehr da, mitten in der vernünftigen Welt,
und es ist sogar der tiefste Grund, auf dem diese sich aufbaut.
Das ganze System der endlichen Dinge ist vernünftig gestaltet,
aus der Vernunft abzuleiten und deshalb a priori zu erkennen.
Aber daß es überhaupt da ist, daß es aus dem Absoluten sich
entwickelt hat, dieser »Abfall« des Universums von Gott und der-
jenige der Vernunft von dem irrationalen Weltgrunde ist selbst
nicht rational zu deduzieren. Deshalb bezeichnet Schelling jetzt
allen Rationalismus, auch sein früheres Identitätssystem, besonders
aber die ganze Hegeische Lehre als die Wissenschaft vom End-
Positive l'hilüsoiihie. .'iH5
liclicn oder auch als die negative l'hiloHophic und erklärt es für
die schwoi'öto aller Verirrunj^en , w(^nn man in dieHcr die ganzo
riiiloaophie zu besitzen meine. Zu ihrer Er^änzun;^ bedürfe es
einer i>positiven Philosopliie«, die jenen unau.-.sa^baren Welt-
grund und seine Entwickhuiif zu der vernünfti^'cii Welt als ihren
Gt^genstand behandelt. Diese positive Philosophie kann jiber
selbst nicht eine rationale Deduktion enthalten, sondern muß sich
auf die Erfahrung stützen, in welcher sich der unvernünftige
Weltgrund geltend macht. Die positive Philosophie will meta-
physischer Empirismus sein. Die Einsicht, daß es einen für
die Vernunft unauflöslichen Rest der Erscheinungen gibt, verlangt
eine Ergänzung des Rationalismus durch die Erfahrung. Das hat
Schelling, der vielgestaltige Vertreter der aprioristischen Philo-
sophie, zum Schluß erkannt. Aber nach den Prämissen seinas
Denkens kann diese Erfahrung nicht diejenige einzelner endlicher
Tatsachen sein; denn diese gehören dem vernünftigen Denken an;
sondern es kann nur die Erfahrung sein, welche die Vernunft von
dem unendlichen Weltgrunde macht: das religiöse Bewußtsein.
Prinzipiell vollzieht also Schelling schließlich genau den Gedanken
Jacobis. Aber er faßt dabei das reUgiöse Bewußtsein nicht wie
dieser in einer individuellen Form auf, wodurch jede philosophische
Behandlung der Sache unmöglich gemacht wird, sondern er ver-
folgt den Gedanken, daß es der absolute Weltgrund selbst ist,
der sich in dem vernünftigen Universum entwickelt, imd daß
somit die einzelnen Momente seines Wesens in den verschiedenen
Auffassimgen vom Wesen des Weltgrundes zutage treten müssen,
welche die Vernunft der Erscheinimgswelt in ihrer bewußten Form
erzeugt hat. Die metaphysische Erfahrung der „positiven Philo-
sophie ist also keine andere als das religiöse Vorstellungsleben
der Menschheit in seiner historischen Entwicklung. Die meta-
physische Erfahrung ist die der 'Offenbarung', aber der Offen-
barung weder in einer individuellen noch in einer besonderen
konfessionellen Form, sondern vielmehr in der Gesamtheit der
Vorstellungen, worin sich der Weltgrund für das vernünftige Be-
wußtsein überhaupt jemals dargestellt hat. In den Kreis dieser
Erfahrung gehört also nicht nur diejenige göttliche Offenbarung,
welche als solche ausdrücklich geglaubt wird, sondern auch die-
jenige, welche noch naiv als die natürliche Vorstellung vom Wesen
Windelband, Gesch. d. n. Philos. II. 26
386 Schelling.
der Gottheit erscheint, d. h. die mythologische Form des Gottes-
bewnßtseins. Deshalb ist die positive Philosophie eine Philo-
sophie der Mythologie und Offenbarung. Damit kehrt der
Greis Schelling zu Interessen zurück, die er schon als Jüngling
verfolgt und nie vergessen hatte. Schon achtzehnjährig schrieb
er >>Über Mythen, historische Sagen und Philosopheme der ältesten
Welt«. Am Ende der Kunstphilosophie deutete er an, daß viel-
leicht die Naturphilosophie geeignet wäre, eine neue Mythologie
zu schaffen, vermöge deren die altheilige Verbindung von Kunst
und Religion wieder herbeigeführt werden könne. In diesem
Sinne war die Schrift angelegt, die er unter dem Titel » Die Welt-
alter« lange versprach, in den dreißiger Jahren teilweise aus-
arbeitete, aber aus dem begonnenen Druck wieder zurückzog;
imd dieser Plan war es endlich, den er in den Berliner Vorlesungen
ausführte. In das weitere Publikum drangen darüber außer vagen
Gerüchten zunächst nur die unzuverlässige Nachschrift von Frauen-
städt (Schellings Vorlesungen in Berlin, Berlin 1842) imd eine
Karikatur, welche ein persönlich verbissener Gegner, der Ratio-
nalist Paulus, unter dem Titel: »Die endlich offenbar gewordene
Philosophie der Offenbarung« auf Grund von Heften der Zuhörer
1843 erscheinen ließ. Erst in den gesanmaelten Werken sind
Schellings eigene Niederschriften für diese Vorlesungen als die
vier Bände der zweiten Abteilung veröffentlicht worden, und so
hat sich ein Bild von dem großen Plane gewinnen lassen, den
er durch die wunderhchen Konstruktionen des Ganzen hindurch
verfolgte. Gleich zu Anfang haben ScheUings Gegner mit Phrasen
wie Mystik, Gnostizismus usw. nicht gespart, und diese pflegen um
so mehr nachgesprochen und nachgedruckt zu werden, als man
sich dadurch der Mühe überhebt, jene vier Bände zu lesen und
zu verstehen. Aber man braucht in dieser letzten Phase des
Schellmgschen Denl^ens nicht das Heü der Zukunft zu suchen
und kann doch die Großartigkeit der Tendenz und die gelehrte
Vielseitigkeit, sowie den überraschenden Kombinationsblick darin
anerkennen. Da nämlich nach dem früheren Prinzip für Schelling
die Entwicklung der Welt mit derjenigen der Gottheit identisch
ist, so erhalten wir eine Religionsphilosophie in der Form
einer philosophischen Religionsgeschichte. Dabei waltet
im ganzen der dialektische Grundgedanke ob, daß die einzelnen
Älytholo^io und OfTenliaruiig. 387
Moinrutp des «^öttlicIuMi Wesena in ihrer Vereinzelung sukzewiive
bei dieser Entwicklung der Mytlien und der Offenbarungen luirvor-
treton, und daß nur die absolute Synthese aller dieser Moment«^
die vüllkominene Erkenntnis des i^öttlichen Wesens enthüll. So
ist es im Grunde genommen genau das Prinzip der Hegeischen
Philosophie der Geschichte und des HegelsclK^n Systems überhaupt,
was Schelling in der Theosophie geltend macht, und obwohl er
das irrationale Moment in seiner vollen Bedeutung durchschaut
hat, bleibt er doch bis zum Ende Dialektiker. Die besondere
Ausführung dieses Planes ist natürlich durch den damaligen Stand
der mytliolouischen Forschungen und Hypothesen bedingt, und
man wird Schelling nicht absprechen dürfen, daß er auch hier in
das zerstreute Material überaus glückhch den ideellen Zasammen-
hanü: hineinzudenken verstand. Freilich verfuhr er dabei mit den
historischen Tatsachen gelegentlich ebenso willkürlich, wie einst
mit den physikalischen. Wieder fügt sich unter seiner Hand das
gesamte Material dem triadischen Schema, und dor 'Gottesbegriff,
der so gewissermaßen aus dem Niederschlage der ganzen Rehgions-
geschichte gewonnen werden soll, zeigt die aufsteigende Reihe von
drei Entwicklungsstufen. Die erste bildet na türhch jenes blind not- / i
wendige Willenssein, der dunkle Drang zum Leben, den schon die
»Freiheitslehre« als die ewige Natur in Gott bezeichnet hatte,
und den man auch den Schopenhauerschen Willen nennen könnte.
Den dialektischen Gegensatz dazu enthält der sich selbst offenbar (^ )
weidende Wille, den Schelling wiederum in drei Stufen entwickelt,
wonach er zuerst als bewußtlos schaffender Wille die wirkende
Naturkraft oder die causa materiaHs, sodann als besonnener Wille
das tätige Weltleben oder die causa efficiens, endhch als zweck-
tätiger Wille der sich selbst begTeifende Weltzweck oder die causa
finalis ist. Den Abschluß dieser Selbstevolution bildet also das
Bewußtsein, und so erweist sich auch hier, daß die irrationalistische
Dialektik auf den Gegensatz von Willen und Denken oder von
unbewußtem imd bewußtem psychischen Leben hinausläuft. Die
Synthesis endlich dieser beiden Momente enthält den absoluten ^ /
Gottesbegriff als denjenigen einer Überwindung des dunkeln durch
den offenbar gewordenen Willen. Diese Überwindung ist der Inhalt
des christlichen Gottesbegriffes in seiner trinitären Fassung. Die
Möglichkeit der Überwindung ist der ^ater, die Macht der
/>
388 Feoerbach.
Überwindung ist der Sohn, die Vollendung der Überwindung ist der
Geist. So endet Schelling mit einer spekulativen Ümdeutung des
positiven Dogmas, und der Grundgedanke ist dabei der einer Über-
windung des unvernünftigen Weltgrundes durch seine eigene ver-
nünftige Offenbarung. Es ist das positive Gegenstück zu Schopen-
hauers Lehre von der Verneinung des Willens durch die vernünftige
Erkenntnis seiner Unvernunft. Die volle Herrschaft dieses höchsten
Gottesbegriffes erwartet Schelhng erst von der Zukunft. In der
Geschichte des Christentums konstruiert er mit Kant und Fichte
drei Perioden, die Petrinische des Katholizismus, die Paulinische
des Protestantismus und als ihre Versöhnung die Johanneische
Eehgion der Liebe, das Christentum der Zukunft.
So erfolglos diese letzte Konstruktion Schellings sich in der
Geschichte der Philosophie erwiesen hat, so zeigt doch ihr Grund-
motiv, mit wie tiefem Verständnis er bis zum Ende der philo-
sophischen Gedankenbewegung folgte. Er begriff vollständig, daß
die Zeit des aprioristischen Kationalismus vorüber war, und daß
der unerklärte Rest in der Wirklichkeit für die Dialektik eine
Ergänzung notwendig mache, welche nur durch irgend eine Er-
fahrung gewonnen werden könne. Seinen Versuch, diese nur
im religiösen Bewußtsein zu finden, versteht man aus seiner Ent-
wicklung; aber seine Zeit verschmähte ihn und griff um so be-
gieriger nach einem anderen, welcher den metaphysischen Em-
pirismus, dessen Notwendigkeit Schelling erkannt hatte, auf dem
entgegengesetzten Ende, bei der sinnlichen Wahrnehmung suchte.
Auch dieser führte zu einer Art von Irrationalismus, zu einer
freilich ganz anderen und viel roheren Lehre von dem unver-
nünftigen Weltgrunde. Der große Träger der idealistischen Ent-
wicklung war vor der Plumpheit sicher, den bewußtlosen Urgrund
der Wirklichkeit in dem materiellen Stoff zu suchen, der als ein
Vorstellungsprodukt durch die Kantische Lehre ein für allemal
erkannt ist. Aber wer diese vergaß, der konnte wohl wieder an
den Gedanken geraten, da, wo der Rationalismus scheiterte, auf
die^Materie ' als auf den irrationalen, nur durch die sinnliche Er-
fahrung in das Bewußtsein tretenden Weltgrund hinzuweisen. Die
einzig originelle Form daher, worin unter den Deutschen der
Materialismus je gelehrt worden ist, ging von einem Manne aus,
fnuMA
VerhUltni« zu Hrj^el. 3HiJ
der sich von dem Rationalismus durch dio Einflicht in dessen
Unzulänglichkeit befreite. Dies ist die historische Sti»llung Ludwig
Feuerbachs, und deshalb muß der Gedanken<^anji, durch den
er zu seiner »Philosophie der Zukunft« gelanj^te, schon in diesem
Zusammenhang entwickelt werden, während die rcligionsphilo- //fff
sophische Zersetzung der l[egelschen Schule und die materialistische
Bewegung, mit denen Feuerbach verwachsen ist, erst an späterer
Stelle zm* Darstellung kommen.
Er war 1804 als Sohn des bekannten Kriminalisten Anselm
Feuerbach zu Landshut geboren, besuchte in München und Ans-
bach die Schulen mid studierte in Heidelberg und Berlin. Hier
sattelte er unter dem Einflüsse Hegels von der Theologie zur
Philosophie um, beschäftigte sich sodann in Erlangen eingehend
mit naturwissenschaftlichen Studien und habilitierte sich an dieser
Universität 1828. Da er sich jedoch infolge seiner Schrift »Ge-
danken über Tod und Unsterblichkeit« (Nürnberg 1830), deren
Anonymität nicht gewahrt geblieben war, in der akademischen
Laufbahn zurückgesetzt fand, so zog er sich 1832 von ihr zurück
und gab sie, nachdem er nach drei viertel] ähriger Unterbrechung
noch einmal gelesen hatte, vollständig auf, um sich nach Bruck-
berg, der Heimat seiner Frau, zurückzuziehen. Aus dieser Ein-
samlvcit trat er zuerst im Jahre 1848 heraus, um in Heidelberg
nach Aufforderung der dortigen Studentenschaft Vorlesungen über
das Wesen der Religion zu halten. Schlimmer aber wurde er
aus dem Idyll herausgerissen, als die der Familie gehörige Fabrik
zuerunde sing, und er sich seit 1859 bis zu seinem Tode 1872
mit den Seinigen zu einer kümmerlichen Existenz in einer Vor-
stadt von Nürnberg verurteilt sah.
Feuerbach ist der irrationalistische Ausläufer des Hegelianismus,
und seine Entwicklung ist daher wesentlich durch den Grenz-
begriff bestinmit, der sich innerhalb dieses Systems als die
Schranke der Deduzierbarkeit darstellte: es ist das, was Hegel
die ZufäUigkeit der Natur genannt hat. Bezeichnete der Meister
die undeduzierbare Besonderheit der einzelnen Naturerscheinungen
als eine Unansemessenheit der Wirklichkeit zima Begriff, so hat
schHeßlich der Schüler diesen Gedanken umgekehrt und war der
populären Beistimmung sicherer, wenn er erklärte, dies Verhältnis
beweise nur die Unangemessenheit des Begriffes zur Wirkhchkeit.
390 Feuerbach.
Diese Umkehrung entwickelte sich bei Feuerbach sukzessive in
dem religionsphilosophischen Streite, der die Hegeische Schule
seit der Mitte der dreißiger Jahre bewegte. Es ist nicht erforder-
lich, auf diesen hier schon genauer einzugehen ; es genügt hervor-
zuheben, daß Feuerbachs Stellung darin zunächst durch seine An-
sicht vom Wesen der Gattungsbegriffe und speziell von der Be-
deutung des Begriffes der menschlichen Gattung bestimmt war.
Gerade in diesem Streite stellte sich bei den »Linken« unter den
Schülern Hegels, zu denen Feuerbach wie Strauß gehörte, heraus,
daß Hegels »absoluter Geist« eigentlich doch nichts anderes als
sein »objektiver Geist«, d. h. die menschliche Gattungsvemunft
war, und solange beide Männer an der ReaHtät dieser Idee im
Hegeischen Sinne festhielten, konnten sie, wenn auch als äußerste
Gegner des Supranaturalismus , einen religionsphilosophischen
Standpunkt ausbilden und festhalten. Aber schon Feuerbachs
»Gedanken über Tod und Unsterblichkeit« betonten das Prinzip
der Unangemessenheit des Individuums zur Gattung und den Ge-
danken des Aufgehens des ersteren in die letztere mit einer der-
artigen Anlehnung an den Spinozistischen Naturalismus, daß das
ideelle Moment der Hegeischen Lehre hinter dem Pantheismus
entschieden zurücktrat. Und schließlich ist es denn auch dieser
Spinozistische Begriff der unendlichen Natur gewesen, der, von
Hegel in die dialektische Entwicklung der Idee aufgenommen,
bei Feuerbach seine übermächtige Kraft entwickelte und die
Schale des Idealismus zersprengte. Denn als Feuerbach 1839
seine »Kritik der Hegeischen Philosophie« gab, wies er vor allem
darauf hin, daß in der Hegeischen Dialektik zwar für die Suk-
zession, aber nicht für die Koordination, zwar für die Zeit, aber
nicht für den Raum gesorgt sei, und daß darin zwar die Ge-
schichte, aber nicht die Natur ihren Platz finde. Der Hegelianismus
als die historische Weltanschauung stehe ratlos vor der Natur,
er könne sie nicht begreifen und betrachte sie als das »Zufällige«.
Aber gerade dieses Zufällige sei in Wahrheit das Wesentliche;
die ganze nach Hegel deduzierbare Gesetzmäßigkeit der Natur
hat nur Sinn in der Anwendung auf die spezifische Eigentümlich-
keit der Erscheinungen, welche dialektisch nie deduziert werden
kann. Das Wesen der Natur ist gerade die Individualisierung,
deren Erkenntnis die Hegeische Lehre ausdrücklich preisgeben
AnthropologiMinui. 391
muß. Unter Ftuierbachs liistorisc-hen Arbeiten ist die vJJurHt<lliing,
Entwicklung und Kritik der Ii<Ml>nizschen VhiloHf^pliie« (1837) die
bedeutendste, und der IndividualismuH dieser Lehre hat bei ihm
offenbar die tiefsten Wurzeln j^eschlaj^en. Ist deshalb eine Philo-
sophie unfähig, die Individualität und damit die Natur zu begreifen,
so muß sie verworfen werden. So wird Feuerbach aus einem An-
hänger zum Gegner der Hegeischen Philosopliie. Während er
früher diese so dargestellt hatte, daß sie sorgfältig von der Theo-
logie unterschieden werde, wirft er ihr jetzt vor, sie habe mit
ihrer Lehre von der~ Realität der Idee und von der Zufälligkeit
der Natur einen durchaus theologischen Charakter. Im Zusammen-
hans; entwickeln sich diese Gedanken in seinem berühmtesten
Werke, dem »Wesen des Christentums« (1841). Die Wissenschaft
hat nicht die scholastische Aufgabe, welche sich auch Hegel ge-
setzt hat, die Religion zu rechtfertigen, sondern nur diejenige,
sie zu erklären, und sie kann sie nur aus dem Wesen des Menschen
und aus dessen psychologisch notwendiger Entwicklung erklären.
Feuerbach deckt das Geheimnis der Hegeischen Lehre auf, indem
er offen und präzis den Standpunkt des Anthropologismus be-
tritt. Der Mensch hat einen Begriff von seiner Gattung, und sein
Verhalten zu diesem ist der Grund seines religiösen Lebens. Aber
er betrachtet diesen Begriff nicht als sein eigenes Wesen, sondern
als ein fremdes ; er glaubt an die Realität dieses fremden W^esens
und schafft sich damit seinen Gott. Die Religion ist also auf
diesem anthropologischen Standpunkt eine notwendige Illusion,
und zwar diejenige, in welcher der ' Gattungsbegriff des Menschen^
als ein dem individuellen Menschen gegenüberstehendes reales
Wesen gedacht wird. Alle religiösen Dogmen beruhen auf einer
Umkehrung der ursprünglichen Sätze, in denen die idealen Merk-
male des menschlichen Gattungsbegriffes als das Wertvollste, als
das Göttliche bezeichnet werden. Der Mensch wünscht selbst diesem
seinem Gattungsbegriff zu entsprechen, und vermöge dieses
Wimsches erscheint ihm sein Gattungsbegriff als die höchste
Realität, als Gottheit. Der Mensch steigert sein eigenes Wiesen
ins Unendliche und stellt es sich als "Xrott^ gegenüber. 'Gott ist,
was der Mensch sein möchte. So erscheint die Religion als Er-
zeugnis des Bedürfnisses. Während also Feuerbach früher mit
Strauß die Realität der Idee der Menschheit angenommen hatte,
mm
392 Feuerbach.
sieht er die letztere jetzt in seiner »Theorie des Wunsches« als
eine Illusion des Individuums an. Man kann sagen, er ist No-
minalist geworden, und zwar deshalb, weil er sich in der Kritik
der Hegeischen Philosophie überzeugt hat, daß aus der Idee die
Individualität nicht zu deduzieren ist.
Aber derselbe Gedankengang führte notwendig weiter. Das
Allgemeine, der Begriff und die Idee sind das Qeistige, die In-
dividualität, das Besondere ist das Natürliche. Die dialektische
Methode ist unfähig gewesen, die Natur zu begreifen, und zwar
deshalb, weil sie die'^Idee^ für die höchste Wirklichkeit gehalten
hat. Feuerbachs Naturaüsmus dagegen behauptet, man müsse die
^Natur und das Individuuni als die wahre Wirklichkeit betrachten.
Die Hegeische Philosophie stellt den wahren Sachverhalt auf den
Kopf; ihr gilt der Geist imd die Allgemeinheit, welche nur ein
Bild der natürlichen Individualität sind, als das Wirkhche, und
darin besteht zugleich nach Feuerbachs Ansicht die Gefährlichkeit
des Christentums, daß auch dieses die düstere Innerlichk:eit des
Geistes zur religiösen Weltmacht hypostasiert. Als darum Feüer-
bach 1843 die »Grundsätze der Philosophie der Zukunft« pro-
klamierte, erklärte er ganz konsequent, daß nur das sinnliche In-
dividuum das ^Wirkliche und das Allgemeine die Illusion des In-
dividuums sei. Der Geist ist die Verdoppelung und Entzweiung
des Individuums mit sich selbst. Er ist nicht das Wesen, sondern
das verblaßte Abbild der Natur. So negiert in Feuerbach die
deutsche Philosophie sich selbst, indem sie ihr Prinzip, den Geist,
negiert. Der Geist, der sich bei Hegel als die notwendige Selbst-
entzweiung begriff, erscheint bei Feuerbach als die Entzweiung
des natürlichen Menschen mit sich selbst. Seine Lehre ist in
dieser Entwicklung der Selbstmord des Geistes, der sich in den
Abgrund der Materie stürzt. Feuerbach mußte damit enden, daß
er in der Einleitung seiner gesammelten Werke erklärte: »Meine
/ / Philosophie ist, daß ich keine Philosophie habe.«
Das ist der Fall ins Bodenlose. Feuerbach ist der verlorene
Sohn des deutschen Idealismus, der im sinnlichsten MateriaHsmus
enden muß. Wie er damit einer weiteren Bewegung entgegenkam,
wie er sich zum Stimmführer einer seichten Reproduktion der
entsprechenden Lehren des XVIII. Jahrhunderts hergab, wie seine
Lehre von der alleinigen Wahrheit des sinnlichen Individuums
Dialcktieclier MuteriaÜHiuuH. ,'j<l3
Bchließliuh zu ethischen und sozialen Konsequenzen fühlte, ver-
möge deren er sich zum Vorfechter radikaler und revolutionärer
Parteien machte, — das kann erst in anderem Zusammenhan;^e
dargestellt werden. Hier handelte es sich nur darum, die Tra-
gödie seiner Entwicklung aufzuzeigen, mit der er aus dem Pau-
logismus heraus zum Materialisten wurde. Diese Tragödie hat in
der Tat ihren Ursprung in der Unzulänglichkeit der dialektischen
Konstruktion. Er hatte vollkommen recht damit, daß die Natur
und das Individuum aus der Idee und dem Allgemeinen nicht zu
deduzieren sind. Der »unlogische Rest«, der unter dem Namen
der (Zufälligkeit in dem Panlogismus eingesperrt war, zerstörte von
innen heraus das ganze Gebäude, und es gehörte nur die kräftige
Sinnlichkeit eines Mannes wie Feuerbach dazu, um das zarte
Maschennetz der Dialektik zu zerreißen. Und doch trägt ander-
seits gerade dieser Materialismus die Züge seines idealistischen
Ursprunges deutlich an der Stirn und unterscheidet sich eben da-
durch von den älteren Lehren, mit denen er sich im Resultat
identifiziert. Es ist ein Rest der abgeworfenen Dialektik, der
darin zutage tritt, daß Feuer bach den »Geist« als die Negation
der Materie, als die mit sich selbst entzweite Natur betrachtet und
gerade aus diesem Grunde in der Theorie und in der Praxis be-
kämpft. Das war eine Art von Nemesis, mit der sich an der
dialektischen Methode der Übergang der Begriffe ineinander rächte.
Sah Hegel in dem Geist das Ursprüngliche und in der Materie die
Negation, die jener aus seiner Selbstentzweiung notwendig erzeuge,
wie kann man es dem Schüler verargen, wenn er umgekehrt die
Materie für das Ursprüngliche, den Geist als die mit sich selbst
entzweite Natur betrachtete? Dieser Materialismus ist der Zwilhngs-
bruder des dialektischen Idealismus. Feuerbachs Lehre ist nichts )
/ als der umgestülpte Hegehanismus. Die schemenhafte Verschw^ommen-
, heit, mit der die Begriffe der dialektischen Logik ineinander zer- ^
I rannen, gewährte die Möglichkeit, mit derselben Dialektik das
j Umgekehrte von dem zu konstruieren, was der Meister darin nieder-
^ gelegt hatte. Diese Tatsache ist noch viel später in einem der
merkwürdigsten und wunderlichsten Bücher erkennbar, die je ge-
schrieben worden sind: es ist das »System der Rechtsphilosophie «
von Ludwig Knapp (Erlangen 1857), das Feuerbach auf das
freudigste begrüßte, ein Buch, das den Materialismus mit der
394 Irrationalistischer Empirismus.
feinsten Dialektik, oft in holiem poetischen Schwünge und mit
jener hin und wieder ans Barocke streifenden Kombinationsfähigkeit
darstellt, ohne welche die dialektische Methode nicht gehandhabt
werden kann. Es ist vielleicht die spirituellste Form, worin der
Materialismus je gedacht worden ist, und während die Sprache
sich in die feinsten Abstraktionen verflüchtigt, soll darin der
gröbste Stoff als das Wesen aller Dinge und Verhältnisse gelehrt
werden.
Der Irrationalismus aber, in den Feuer bach die Hegeische
Lehre verwandelt hat, zeigt sich noch in einer anderen Kon-
sequenz. Denn dieser Materialismus ist selbstverständlich, sofern
er sich noch mit einer Betrachtung der Erkenntnistätigkeit ab-
gibt, der einfachste und roheste Sensualismus. Wenn das sinn-
Hche Individuum die einzige Wahrheit ist, so besteht alle Er-
kenntnis nur in der sinnlichen Empfindung. Diese selbstverständ-
hche Folgerung muß aber deshalb ausdrücklich hervorgehoben
werden, weil sie ein interessantes Gegenstück zu den übrigen ir-
rationalistischen Lehren enthält. Wer die Unzulänglichkeit des
Rationalismus durchschaut hat, muß die Erkenntnis jenes un-
deduzierbaren Restes immer in der Erfahrung suchen. Bei Jacobi
erscheint zu diesem Zwecke neben der sinnlichen Wahrnehmung
die »Vernunft« als das Wahrnehmungsvermögen für das Über-
sinnliche, bei Schopenhauer die Selbstanschauung des Subjekts,
in der es sich als Wille erkennt, bei Schelling die Offenbarung,
mit der der göttliche Urgrund im menschUchen Bewußtsein sich
selbst entwickelt, bei Feuerbach — die sinnliche Empfindung.
Alle diese Systeme des Irrationalismus sind ebenso viele Formen
des Empirismus, und es ist von hier aus zu übersehen, wes-
halb, als der Glanz des Hegeischen Systems erloschen war, die
Philosophie der Epigonen zunächst die Tendenz nehmen mußte,
eine Ausbildung des Empirismus zu werden. An dem unlogischen
Reste mit seinen apriorischen Konstruktionen gescheitert, fiel der
philosophische Geist in die Arme der Erfahrung zurück.
§ 70. Die kritische Metaphysik.
Herbart.
Der Umschlag der rationalistischen in irrationalistische Sy-
steme, den der vorige Paragraph in seinen einzelnen Gestalten
Herl>art. 895
verfolgte, zeigt fant nocli charakteristischer als das llcf^clsche
System selbst die außerordentliche Flüssif^'keit und Wandolhar-
keit der Begriffe, mit denen die bisher betrachtete Entwicklung^
der deutschen Philosophie nach Kant arbeitete. In der Tat ent-
spricht nun ein solches Übergehen der Begriffe ineinander durch-
aus dem psychologischen Prozesse, den das menschliche Denken
unwillkürlich durchmacht, und gerade deshalb erwies sich als der
eigenste Charakter des Hegeischen Systems — seinem Urheber
unbewußt — die metaphysische Hypostasierung psychologischer
Begriffsverhältnisse. Seine Logik war im gewissen Sinne eine
vortreffliche Psychologie, eine richtige Beschreibung der schwan-
kenden Bewegung, vermöge deren die menschlichen Vorstellungen
sich ineinander weben und durcheinander mengen. Diese Fein-
fühligkeit, womit in dem Gewebe unserer Gedanken »ein Tritt
tausend Fäden regt«, dieses phantasievolle Schimmern und Schil-
lern, vermöge dessen sich analoge Denkbestimmungen ineinander
mischen, war recht eigentlich ästhetischen Charakters; aber dies
entsprach eben deshalb nicht den strengen Anforderungen der
Wissenschaft, für welche immerdar die Wolf f sehe Forderung »deut-
licher Begriffe und gründlicher Beweise« maßgebend bleiben wird.
Die Philosophie nach Kant war wirklich, wie er verlangte, eine
»Wissenschaft aus Begriffen« : aber ihre'Begriffe waren so schwan-
kend, so unsicher geworden, daß sie sich stets ineinander zu ver-
wandeln vermochten und, statt sich abzuklären, vielmehr in eine
allgemeine Unbestimmtheit sich auflösten, worin jeder seinem per-
sönlichen Denkwesen nach eine eigene Deutung zu finden ver-
mochte.
Deshalb tat der deutschen Philosophie, um sie zur Strenge
der wissenschaftlichen Arbeit zurückzuführen, die Erscheinung
eines Kritikers not, der sich der Gnindf orderung scharfer Be-
griffsbildung klar bewußt und sie durchzuführen befähigt war.
Er mußte dem genialen Drange der Identitätsphilosophie gegen-
über etwas von dem pedantischen Anstrich haben, welcher der
vorkantischen Schulphilosophie eigen gewesen war; er mußte der
Überzeugung sein, daß mit dem neuen Prinzip der Kantischen
Lehre der strenge logische Methodismus von Wolff nicht zu
Grabe getragen, sondern vielmehr mit ihm zu versöhnen und zu
durchdringen sei. Er durfte kein sklavischer Anhänger des Alten,
396 Herbart.
aber aucli kein enthusiastischer Verehrer des Neuen sein. Diese
kritische Mittelstellung, welche für das deutsche Denken außer-
ordentlich wünschenswert und förderlich war, ist diejenige Johann
^sxl^aAJ- Friedrich Herbarts.
/ Auch er gehörte zu den hochstrebenden Jüngern, die sich um
I / Fichte während seiner Jenenser Wirksamkeit scharten. 1776 zu
^^ /^y/ Oldenburg geboren, hatte er 1794 die Universität bezogen und
trat in die dort herrschende Gedankenströmung schon mit einer
tüchtigen, auf dem Gymnasium und durch persönlichen Umgang
erworbenen philosophischen Vorbildung ein. Diese enthielt nicht
nur eine gründliche Kenntnis Kants, sondern auch eine eingehende
Vertiefung in die Leibniz- Wolffische Lehre. Dazu kam eine her-
vorragende kritische Begabung, um den jugendlichen Zuhörer
schon damals selbständig der idealistischen Lehre gegenüber seine
Stellung nehmen zu lassen. Er legte dem gefeierten Lehrer über
Schellings erste, noch ganz den Fichteschen Standpunkt vertre-
tende Schriften kritische Bemerkungen vor, in denen er an Stelle
der idealistischen Weiterentwicklung eine sorgfältige Prüfung der
Kantischen Lehre für notwendig erklärte. Diese Gedanken reiften
dann zu positiven Überzeugungen heran, als Herbart nach Ab-
schluß der Universitätsstudien drei Jahre in der Schweiz als
Hauslehrer lebte, eine Zeit, in der besonders die Bekanntschaft
mit Pestalozzi von Wichtigkeit für ihn wurde. 1802 in Göttingen
habilitiert, wurde er 1809 durch Wilhelm von Humboldt nach
Königsberg berufen und verließ diesen Wirkungskreis erst wieder
1833, um als Professor nach Göttingen zurückzugehen, wo er
1841, schon als Haupt einer sich um ihn bildenden Schule, ge-
storben ist.
Hinsichtlich der Strenge des wissenschaftlichen Denkens war
Herbart offenbar in der auf Kant folgenden Generation der be-
rufenste, sein Nachfolger auf dem Königsberger Lehrstuhle zu
sein. Seine Auffassung von der Aufgabe der Philosophie, die
am besten in seinem »Lehrbuch zur Einleitung in die Philo-
sophie« (Königsberg 1813) zugängÜch ist, geht ausdrücklich auf
Kant zurück, indem er die Philosophie als eine Begriffswissen-
schaft betrachtet haben will. Die Vermischung der philosophischen
und der empirischen Disziphnen, welche durch die universalistische
Tendenz der Identitätslehre einzureißen drohte, findet an ihm
Bearbeitung der Bogriflo. 397
einen nicht minder scharfen Gej^ner, als jene,, geniale, die ver-
standesniiißige iieflexion verac'htende Hehandliingsweise der Philo-
sophie, der dieselbe Richtung zuneigte, (jleich energisch von
der Empirie und von tler iisthetisierenden Betrachtung sich ab-
grenzend, soll Ilerharts Philosophie eine ^ klare und deutliche
Wissenschaft der ]3ogriffc sein. Dabei verfällt er durchaus nicht
dem Pedantismus Wolffs : mit freiem Blick umspannt er die Weite
des Kantischen (ledankenhorizonts und sucht innerhalb dieser
Gedankenwelt sich in dem kritischen Zentrum selbst anzubauen.
Indem er damit zu der gesamten identitätsphilosophischen Denk-
bewegung in bewußten Gegensatz tritt, knüpfen sich doch seine
Lehren der Form und dem Inhalte nach daran überall an: ja,
sie enthalten stets gewissermaßen den Rückschlag nach der ent-
gegengesetzten Seite, und sie würden vielleicht ohne diese Kon-
trastwirkung nicht immer dieselbe Schärfe der Zuspitzung er-
fahren haben. Dies Verhältnis tritt sehr bezeichnend in seiner
Darstellung hervor, welche meist polemisch von anderen An-
sichten, am häufigsten von Kant und Fichte, ausgeht, darüber
stets neues und wertvolles Licht verbreitet, im ganzen aber für
die unmittelbare Wirkung sehr ungünstig ist, so daß man sich
über die Grundzüge seiner Lehre am bequemsten in der Dar-
stellung eines seiner Schüler, z. B. in Hartensteins^ vortreff- \^^^^
liehen »Problemen und Grundlehren der allgemeinen Metaphysik*
(Leipzig 1836) orientieren wird.
Ist Herbart mit Kant darin einig, daß Philosophie eine'Wissen-
schaft der Begriffe^ sei, so weicht er doch von dem Altmeister
sogleich darin ab, daß er sie nicht wie dieser auch als eine
"Wissenschaft aus Begriffen bestimmt sehen will. Nicht der
apriorische, sondern der gegebene Begriff ist ihm der Aus-
gangspunkt der philosophischen Tätigkeit. Diese gegebenen Be-
griffe liegen teils in der allgemeinen Erfahrung, teils in den
empirischen Wissenschaften vor: sie werden in unwillkürlicher
Betätigung der Erkenntnis gewonnen und haben nie darauf ge-
wartet, daß die Philosophie sie erst begründen sollte. Aber wie
sie nun da sind und das ganze System der Erfahrung ausmachen,
zeigt sich sogleich, daß es »damit sein Bewenden nicht haben
kann«. Der so mannigfach gestaltete Inhalt unserer Weltauf-
fassung bedarf einer allgemeinen Ausgleichung; seine Gegensätze
398 Herbart.
wollen vermittelt, seine Widersprüche gehoben sein. Wichtiger
aber ist es, daß, je genauer man zusieht, um so mehr sich das
scheinbar Einfache verwickelt, sich gerade das Gewohnteste in
ein Problem verwandelt. Das landläufige Bewußtsein freilich
streift oberflächlich über die Welt hin, ohne die Abgründe zu
bemerken, die in unserm Denken aufklaffen; ihm gilt als selbst-
verständlich, was es alle Tage anwendet. Philosophenarbeit ist
es, in dem scheinbar Selbstverständlichen das Problem zu er-
kennen. So hat Kant einmal im ironischen HinbHck auf die
aufklärerische Alles wisser ei gesagt, er mache aus der Schwäche
seiner Einsicht kein Hehl, wonach er gemeiniglich dasjenige am
wenigsten begreife, was alle Menschen leicht zu verstehen glauben.
In gleichem Sinne besteht für Herbart der Eingang in die Philo-
sophie darin, daß man sich klar macht, welche großen Schwierig-
keiten, welche ungelösten Widersprüche gerade in den Begriffen
stecken, mit denen wir als den einfachsten und vermeintlich
klarsten fortwährend operieren, und welche als das feste Gerippe
dem Stoffwechsel unserer Erkenntnis zugrunde liegen. Vorstel-
lungen wie^DingJ^VeränderungPMaterie^ Selbstbewußtsein^ brauchen
wir unablässig, als ob sie die durchsichtigsten und sichersten von
der Welt wären: imd doch bedarf es nur einiger Besinnung, um
uns klar zu machen, daß sie ganze Nester von Widersprüchen
sind, und daß sie, statt uns die Erfahrung verstehen zu lehren,
vielmehr selbst eine noch unaufgelöste und unbegriffene Ver-
wirrung enthalten. An der Erfahrung selbst also hat die Philo-
sophie nicht zu rütteln; aber sie hat sie begreiflich zu machen,
indem sie alle ihre Arbeit darauf verwendet, nüt rücksichtsloser
Energie die Erfahrung selbst zu Ende zu denken und dasjenige
in ihr, was in unklarer Gewohnheit mit Widersprüchen sich be-
haftet zeigt, zu eliminieren. Zur Lösung dieser Aufgabe aber
besitzt die Philosophie nichts als die gegebene Erfahrung selbst
und das Denken mit seinen immanenten Gesetzen. Philosophie
also ist ein begriffliches Denken des Gegebenen, um es mit voller
Klarheit und Widerspruch slosigkeit vorstellen zu können: sie ist
in diesem Sinne Bearbeitung der Begriffe.
Aus dieser Formulierung schon geht hervor, daß Herbart ein
Vertreter der formalen Logik im Kantischen Sinne des Worts
ist. Und er hält diese aiisdrücküche Besinnung auf die formalen
Siitz lies WidoiBprucliH. .'J99
Gesetze des Denkens um so mehr für erforderlich, als sie und
mit ihnen ihr oberstes Prinzip, dasjenige des Widerspruch«;«, in
der identitätsphiU^sophisclien Entwickhm^ mehr und mehr zu
untergeordneter Bedeutung herabgesetzt worden waren. Wurden
sie doch in Hegels großer Logik nur als ein Kapitel der »sub-
jektiven Logik« abgehandelt, und das vornehme Denken der
intellektuellen Anschauung und des absoluten Standpunktes sah
auf die Reflexionsarbeit des Verstandes mit seiner Gebundenheit
an den Satz des Widerspruches als auf etwas Überwundenes
herab. Gerade die Realität der Widersprüche galt dem absoluten
Idealismus als das höchste Prinzip der spekulativen Entwicklung.
Auch Herbarts Lehre geht von den^ Widersprüchen des empirischen
Denkens aus, aber nicht um sie metaphysisch zu hypostasieren,
sondern um sie durch streng formales Denken zu eliminieren. In
dieser Hinsicht verhält er sich zu den Identitätsphilosophen ähnlich
wie im Altertum die Eleaten zu Heraldit. Er geht von der Über-
zeugung aus, daß das Wirkliche nur als durchaus widerspruchs-
loses Sein zu denken sei. Das höchste Prinzip der formalen Logik,
der Satz des Widerspruches, gilt ihm in dem rationalistischen
Sinne, daß, was sich widerspricht, nicht wahrhaft* real sein könne.
Wenn daher unsere Vorstellungen von der Wirklichkeit Wider-
sprüche enthalten — und sie tun es — , so folgt daraus, daß sie
so, wie sie sind und in der unwillkürlichen Erfahrung gedacht
werden, keine richtige Erkenntnis der Realität gewähren können.
Enthält also die Erfahrung mit allen zu ihr gehörigen und aus
ihr erwachsenden Wissenschaften ein widerspruchsvolles Weltbild,
so ist es die Aufgabe der Philosophie, es zu einer widerspruchs-
losen Auffassung der wahren Realität umzuarbeiten.
Auf den alten Gegensatz einer widerspruchsvollen Erschoin^i^gS-
welt und einer wahren, von der Metaphysik zu begreifenden Welt
der Dingern sich läuft somit auch Herbarts Lehre hinaus: man
könnte seinen Standpunkt in metaphysischer Hinsicht denjenigen
von Kants Inauguraldissertation nennen. Aber er hat jenen
eleatisch-platonischen Gegensatz in einer durchweg originellen und
allen früheren Ansichten der Sache gegenüber selbständigen W^eise
behandelt. Er leugnet zunächst, daß es außerhalb der Erfahrung
selbst irgend eine Quelle für die metaphysische Erkenntnis gibt.
Eine rationalistische Metaphysik, die aus bloßen logischen Formen
400 Herbart.
eine inhaltliche Welterkenntnis abzuleiten versuchte, ist nach Kants
vernichtender Kritik nicht mehr möglich. Aber auch Kants »Meta-
physik der Erscheinimgen« ist unmöglich, sowohl in ihrer positiven,
als auch in ihrer negativen Tendenz. Auch die reinen Formen der
Erkenntnis, als welche Kant Kaum, Zeit und die Kategorien be-
handelt hat, glaubt Herbart als Produkte des Vorstellungsmecha-
_nismus ableiten zu können und kann daher eine aus ihnen zu
entwickelnde apriorische Erkenntnis nicht zugeben; anderseits,
mögen die sinnlichen Empfindungen, deren Verschmelzungs- und
Assoziationsprozesse zu jenen Formen führen, noch so subjektiven
Charakters sein, sie haben doch immer eine Beziehung auf die
Wirklichkeit, und die Versuche des Idealismus, sie l^iglieh für
Produkte der Vorstellungstätigkeit auszugeben, sind alle gescheitert.
»So viel ^^chf^i^j so viel Hindeutung auf das Sein.« Wenn daher
der Schein, der sich in der Erfahrung darstellt, als ein durch
und durch widerspruchsvoller sich zu erkennen gibt, so bleibt
nur übrig, ihn so lange begrifflich zu bearbeiten, bis diese Wider-
sprüche aufgehoben sind. Ist dadurch die Erfahrung^, be-
greif lieh gemacht/ so ist das die einzige Möglichkeit, zu einer
Vorstellung von~(Jen Dingen an sich zu gelangen, und der Ver-
wirklichung einer solchen Metaphysik steht dann nichts entgegen,
weil die Erscheinungen immer doch in dem Wesen begründet
sein müssen.
Für diese ^Bearbeitung der Erfahrungsbegriffe^ hat nun Herbart
ein Verfahren aufgestellt, welches er die Methode der Bezie-
hungen nennt und welches bei alier Verwandtschaft mit Fichtes
dialektischer Methode doch in der Absicht und im Resultat gleich
sehr davon abweicht. Auch er geht, wie es Fichte in einer seiner
Darstellungen der Wissenschaftslehre getan hatte, von dem synthe-
tischen Charakter aus, den alle Erkenntnisurteile an sich tragen:
aber er nimmt dabei den Standpunkt der formalen Logik in der
schematischen Auffassung ein, die in jedem Urteil eine Gleich-
setzung von Subjekt und Prädikat sieht. Aus dieser Auffassimg
i/-<|^ hatten sich schon bei Ploucquet und anderen Leibnizianern die
Anfänge des sogenannten »logischen Kalküls« entwickelt*), der
im XIX. Jahrhundert eine noch viel einseitigere Ausbildung der
*) Vgl. Bd. I dieses Werkes, S. 558.
■!fP^^^^iPi"^P^iPp
Methudu dur lieziuhuugen. 401
Logik hervorgerufen hat. Danach ))eKtelit also das Wesen dea
Urteils in der Gleichsetzung eines Begriffes mit einem andern :
a »ist« b. Diese Gleichsetzung widerspricht jedoch dem logischen
Gesetze der Identität, wonach jeder Begriff nur sich selbst gleich-
gesetzt werden kann. Wollte man nun dieser vSchwierigkeit etwa
dadurch entgelien, daß man das Subjekt des Satzes als einen
Allgemeinbegriff auffaßte, dessen einzelnen Exemplaren, a,, a^ usw.
das Prädikat b zukomme, so würde man in ganz dieselbe Schwierig-
keit verfallen, indem man jeden dieser Artbegriffe mit dem Prä-
dikat-sbegriffe gleichsetzte. Dagegen entgeht man dem Wider-
spruche, sobald man das Prädikat der Beziehung' gleichsetzt,
w^elche zwischen zweien oder auch mehreren dieser Begriffe ob-
waltet. Der Satz a = b verliert seinen Widerspruch, wenn sein
eigentlicher Sinn sich in die Formel bringen läßt: a^ : a2 = b.
Wo sich also in den Erfahrungsurteilen Widersprüche finden, da
wird versucht werden müssen, ob man nicht den fraglichen Be-
griff in eine Anzahl von Arten einteilen kann, um aus der Be-
ziehung dieser Arten zueinander das Prädikat zu entwickehi, das
dem einfachen Begriff allein nicht ohne Widerspruch zugeschrieben
werden konnte.
Diese abstrakte Formel gewinnt nun sogleich eine lebendige
Anwendung, sobald man besondere Probleme ins Auge faßt. Das
wichtigste darimter ist für Herbarts Lehre das der Inhärenz,
das Verhältnis des Dinges zu seinen Eigenschaften. Ist es schon
ein Widerspruch, daß in dem gewöhnlichen Urteile das Ding einer
Eigenschaft gleichgesetzt wird, so ist es noch widerspruchsvoller,
in demselben Begriffe mehrere Eigenschaften zu vereinigen, welche
danach auch gleich sein müßten, während sie doch durchaus von-
einander unterschieden werden sollen. Ist es ein Widerspruch,
daß a = b sei, so ist es noch widersprechender, daß dasselbe a
auch = c und = d sei, weil dann auch b = c = d sein würde.
Diesen Widerspruch führen wir nun — meint Herbart — in der
Tat immerfort aus: stets behaupten wir, daß dasselbe Ding
mehreren Eigenschaften gleich sei, und können doch gar nicht
sagen, wie es kommen soll, daß dasselbe Ding, welches weiß ist,
zugleich auch hart sei usf. Eben die synthetische Funktion der Ver-
einheitlichung des Mannigfaltigen, welche Kant als das Wesen der
Kategorie angesehen hatte, gilt bei Herbart als ein Widerspruck
Wi ndelb an d . Gesch. d. n. Philos. II. 26
//
402 Herbart.
gegen das Grundgesetz der formalen Logik. Eine Lösung dieses
Widerspruches gibt es nur durch die Methode der Beziehungen.
Die Vereinigung vieler Eigenschaften in einem Dinge ist nur
dadurch möglich, daß dasselbe Ding in vielen Beziehungen zu
andern Dingen steht, und daß jedesmal dasjenige, was wir seine
Eigenschaft nannten, nicht sowohl es selbst als vielmehr eine
Beziehung ist, worin es zu anderen Dingen steht. Der Satz
a = b = c = d löst sich dadurch in eine Reihe von Sätzen auf :
a : a^ = b, a : a2 = c, a : ag = d usf., Sätzen, welche weder in sich
noch untereinander einen Widerspruch enthalten. Was wir also
gewöhnhch die^^Eigenschaft eines Dinges nennen, ist in Wahrheit
nur die Beziehung, in der es zu irgend einem andern Dinge steht.
So ist »weiß« die Eigenschaft eines Körpers nur in Beziehung
auf das Licht, das er reflektiert, »hart« nur die Beziehung eines
Körpers auf einen andern, der in den Raum, welchen er einnimmt,
eintreten will, usf. Alle Eigenschaften sind Bezieh UÄgsbegriffe.
Von einer Eigenschaft, die einem Ding an sich und ohne Be-
ziehung auf ein anderes Ding zukäme, können wir uns gar keine
Vorstellung machen. Und doch müssen wir eine solche annehmen;
denn nur in ihr kann der Grund dafür Hegen, daß das Ding in
seiner Beziehung zu andern Dingen gerade diese und keine andern
Eigenschaften entwickelt. Der Satz der Identität verlangt, daß
wir jedes Ding mit einer einfachen und konstanten Qualität aus-
gestattet denken, vermöge deren es mit sich selbst absolut iden-
tisch ist und bleibt. Während also die Eigenschaften nur relativ
und deshalb veränderlich »gesetzt« werden, ist das S«in als »abgo-
lute Position« ein für allemal unveränderlich und unzurück-
nehmbar gesetzt. Aber diese einfachen Qualitäten der Dinge an
sich können wir niemals erkennen, da alle Eigenschaften, die wir
vorstellen, die Beziehungen der Dinge auf andere Dinge enthalten.
Alles was wir Eigenschaften nennen, sind, mit Locke zu reden,
sekundäre Qualitäten; die primären, einfachen Qualitäten der
Dinge sind unerkennbar. Deshalb erkennt Herbart an, daß die
"Dinge an sich^ unerkennbar sind; aber er behauptet, daß sie al&
»Reale«*) von einfacher Qualität an.^enommen werden müssen..
*) Dieser Ausdruck, welchen Herbart zur Bezeichnung der auch nacli
seiner Lehre unerkennbaren *"Dinge an sicli einführte, ist die Veranlassung
dafür geworden, daß sein System in der traditionellen Terminologie der Ge-
mm
Dio llciiloii und iliro B(*/iuliun((oii. 4()ii
um die VorstelIun}T von Dinj^en mit ihren ,^Eigcn«chaftcn, auH
denen .sich unsere Erfahrung zuHammenHctzt, durch die Mannig-
faltigkeit der Beziehungen zwischen diesen Keah^n be^eifhch zu
machen. Was ein Ding in seinem eigensten Wesen ist, können l""^"^
wir weder erfahren noch durch Denken ertjchUeßen. Aber in diesem
seinem unbekannten Wesen müssen wir den einzigen Grund für
die Mannigfaltigkeit von Eigenschaften* suchen, womit das Din^
in seinem Verhältnis zu andern Dingen ersclieint./r Ganz ähnlich
löst sich mm auch das analoge Problem der Veränderung. So
wenig wie wir irgend eine Eigenschaft eines Dinges kennen, die
es ohne Beziehung auf ein anderes Ding besäße, so wenig können
wir ims den Übergang des Dinges aus einem Zustande in einen
andern aus ihm allein und seiner einfachen Grundqualität er-
klären. Wo nur ein Wesen existierte, gäbe es kein Geschehen,
kein Tun und kein Leiden. Alle Veränderung ist Eeaktion eines
Realen gegen ein anderes, ist die Selbsterhaltung seiner eigenen
Quahtät gegen die Störung, welche es durch ein anderes Reale
^ erfährt^
Trotz der kritischen Anerkennung der Unerkennbarkeit der
Dinge an sich entwickelt hiemach Herbarts Philosophie eine Meta-
physik, deren Grundzüge er in den »Hauptpunkten der Metaphysik«
(1806) angelegt und in der »Allgemeinen Metaphysik nebst den
Anfängen der philosophischen Naturlehre« (1828 und 1829) ausge-
führt hat. Sie ist also nicht eine Lehre von den Qualitäten der
Dinge an sich, sondern niu* von ihren Beziehungen zueinander und
zu der Erfahrung. Ihren Grundcharakter bildet der Pluralis-
mus der Substanzen. Auch hinsichtlich der Weltanschauung
schichte der Philosophie als Realismus charakterisiert wurde. So ist es
auch noch in der ersten Auflage dieses Werkes bei der Paragraphenüber-
schrift geschehen. Allein diese Bezeichnung sollte als irreführend aufgegeben
werden. Versteht man unter >Idealismus< die Lehre, daß die "Welt der
Wahrnehmung als solche nicht real, sondern nur im Bewußtsein als Vor-
stellung ist, so muß Herbart gerade so als Idealist charakterisiert werden
wie Kant. Herbarts Opposition gegen den »Idealismus« von Fichte, Schelling
und Hegel besteht nur darin, daß er die'^Dinge an sich gerade wie Kant
für real, aber ihrer Qualität nach für unerkennbar hält. Will man ihn des-
halb einen >Realisten« nennen, so gilt dasselbe auch von Kant. Man sieht
an diesem Beispiel, wie bedenklich die^Vieldeutigkeit der landläufigen Aus-
drücke ist, und wie wenig mit ihnen gewonnen wird.
26*
^
404 Herbart.
steht Herbart der monistisclien Tendenz, welche die gesamte
Identitätsphilosophie beherrscht, scharf gegenüber. Wenn man
darin eine Kückkehr zu Leibniz gesehen hat, so wäre es wohl in
dieser Hinsicht korrekter, von einer solchen zu Wolff zu sprechen.
Denn erstens sind Herbarts »Reale« keine in der Entwicklung
begriffenen Monaden, sondern vielmehr einfache und unveränder-
1 ) liehe Substanzen. Zweitens sind diese unerkennbaren Qualitäten
weder als körperlich noch als psychisch zu bezeichnen; sie sind an
sich und allgemein weder Atome oder Korpuskeln noch Seelen.
y) Drittens fehlt bei Herbart wie bei Wolff zwischen diesen Sub-
stanzen das Bindeglied der prästabiüerten Harmonie. Infolgedessen
wird Herbarts Metaphysik doch derartig atomistisch, daß von einem
inneren Zusammenhange der Realen, welcher sich in dem Pro-
zesse des Geschehens entfaltete und ihn möglich machte, im eigent-
lichen Sinne bei ihm keine Rede ist. Er ist auch darin der
äußerste Gegenfüßler der identitätsphilosophischen Weltansicht.
Machte diese vergebHche Anstrengungen, aus der absoluten Einheit
die Vielheit der Erscheinungen als deren notwendige Entwicklimgs-
formen zu deduzieren, so ist es anderseits der Herbartschen Philo-
sophie nicht gelungen, von der'^ielheit der^ Realen aus_zu einer
lebendigen Welteinheit zu kommen. Als ein Zeichen davon ist
es anzusehen, daß der Gottesbegriff in Herbarts theoretischer
Philosophie gar keine Rolle spielt und bei ihm nur als Objekt
eines ethisch-ästhetischen Bedürfnisses erscheint, das in unserer
Auffassung der, zweckmäßigen Gestaltung der gesamten Natur eine
Bestätigung seines Glaubens finde. Da nämlich die Quahtäten
der Realen und ebenso ihre wirklichen Beziehungen, aus denen
die Erfahrungswelt mit ihren Veränderungen hervorgeht, theoretisch
unerkennbar sind, so bleibe (als regulatives Prinzip nach Kant)
die ästhetische Betrachtung möglich, den Zusammenhang des ab-
solut Seienden als eine zweckmäßige, gottgewollte Ordnung zu
deuten. Infolge dieser Auffassung ist Herbart von jener speku-
lativen Umdeutung der positiven Dogmen, welche in der Identi-
tätsphilosophie einen so großen Raum einnahm, weit entfernt,
und seine Religionsphilosophie gewinnt eben dadurch eine gewisse
Farblosigkeit, die unter Umständen der Verbreitung seines Systems
förderlich sein konnte und gewesen ist.
Allein die pluralistische Weltanschauung bringt dem Begriffe
Dio /.uialligcn AiiHicIiien. 405
des Geschehens gcgenüher eine Reihe von Sehwicrigkeitcn mit Hicli,
denen Herbarfc kaum (Mil4»angen ist. Hot die dialektische Pliilo-
sophio eine Lelire vom ewigen Werden, in welcher es kein Sein
gab, so haben wir hier eine Lehre vom Sein, nach der es im Gnmde
genommen kein Werden gibt. N'ergleicht man beide, so ist es
etwa so, als ob denselben chemischen Stoff II.O der eine Forscher,
der ihn nur bei der Temperatur über Null beobachtet hat, für
flüssig, der andere, der ihn nur unter Null gesehen hat, für fest
erklären wollte. Das eigentliche Wesen der Realen ist bei Herbart
durchaus unveränderlich. Das Geschehen in der Welt kann also
nur darin bestehen, daß die Realen in wechselnde Beziehungen
treten, die aber an ihnen selbst nichts ändern. Es ist daher ein
völlig äußerliches »Kommen und Gehen« der Substanzen, für
welches sinnliche Bild Herbart den Begriff eines intelligiblen
Raumes 'aufstellt, worin sie sich alle bew^egen. Weshalb freilich
und nach welchen Gesetzen diese Bewegung stattfindet, das ist
der menschlichen Erkenntnis durchaus verschlossen; von dem
wirklichen Geschehen wissen wir ebensowenig wie von den
Qualitäten der^Dinge an sichT Wir müssen beide nur annehmen,
um uns das scheinbare Geschehen und die scheinbaren Eigen-
schaften der Dinge, welche die Erfahrung darbietet, zu erklären.
Indem nämlich die Substanzen im intelligiblen Räume sich »be-
rühren«, treten sie miteinander in die »Beziehungen«, vermöge
deren an ihnen die erfahrbaren Eigenschaften erscheinen, und durch
den Wechsel dieser Beziehungen erpdbt sich aus dem wirklichen
Geschehen die Veränderung der erscheinenden Eigenschaften oder
das scheinbare Geschehen. Alle diese in die Erscheinung
fallenden Eigenschaften und Veränderungen aber bleiben dem
eigentlichen Wesen der Dinge fremd; sie sind deshalb nur »*u-
lällige Ansichten«. Dieser Begriff hat bei Herbart eine etwas
zweideutige Stellung zwischen subjektiver und objektiver, zwischen
erkenntnistheoretischer und metaphysischer Bedeutung. In manchen
seiner Ausführungen scheint es, als ob die Beziehimgen der Realen
aufeinander lediglich in das auffassende Bew^ußtsein verlegt werden
sollte: auch das wirkliche Geschehen »passiert« ja nicht den
Realen, die davon in ihrem Wesen unverändert bleiben, folgUch
passiert es nur dem »Zuschauer«. Aber dann w^ürde alles wirk-
liche Geschehen aufgehoben sein, und es wäre dann nicht einmal
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406
Herbart.
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mehr zu begreifen, wie das die Realen in Beziehung setzende
Bewußtsein selbst einen Wechsel in seiner beziehenden Tätigkeit
erzeugen könnte, der dann das einzige wirkliche Geschehen bilden
müßte. Außerdem soll ja das Bewußtsein selbst erst ein Produkt
der Beziehungen sein. Deshalb scheint Herbarts eigentliche Mei-
nung doch die zu sein, daß das wirkliche Kommen und Gehen
der Substanzen an ihnen oder in ihnen diejenigen Selbster hal-
J'3??g^?L.^§S?ii die Störungen durcheinander hervorruft, welche das
Bewußtsein als die erfahrungsmäßigen Eigenschaf teiT und" Tätig-
keiten auffaßt, und diese für das Bewußtsein durchaus notwen-
digen, durch das wirkliche Geschehen bedingten Ansichten werden
nur in dem Sinne »zufällig« genannt, als sie das Wesen de/ Dinge
I an sich nicht treffen. Um so unbegreiflicher freilich ist es, was
dieses Geschehen, das die Realen nichts angeht und nicht aus
V«.
ihnen kommt, bedeuten soll. ^
. Das scheinbare Geschehen entwickelt sich nun auf zwei von-
einander zu sondernden Gebieten. Das Bewußtsein selbst, das
die Beziehungen auffaßt, ist ebenfalls eine Reaktion des einfachen
Seelen Wesens, welches zu den Realen gehört. Betrachtet man es
von dieser Seite, so enthält es insofern die unmittelbarsten aller
Erkenntnisse, als es eben selbst die scheinbaren Eigenschaften
und Veränderungen dieses Seelenwesens darstellt. Die Vorstellungen
sind die Reaktion der an sich unbekannten Seelensubstanz gegen
andere Substanzen, mit denen jene durch das wirkliche Geschehen
in Beziehung tritt. Insofern aber die Vorstellungen auf dieser
Beziehung beruhen, so enthalten sie zugleich in sich die schein-
baren , Eigenschaften derjenigen Substanzen, gegen welche die
Reaktion stattfand, und bilden so die Erfahrung von den übrigen
Realen. Indessen treten nun auch diese untereinander in Be-
ziehungen und verändern eben damit die scheinbaren Eigen-
schaften, mit denen das Bewußtsein ihr Zusammensein auffassen
muß. Die ^Metaphysik des scheinbaren Geschehens 'teilt sich da-
durch in zwei Teile: die Eidologie, welche in die Psychologie,
und die Synechologie, welche in die Naturphilosophie ausläuft.
Was zunächst die letztere anbetrifft, so liegt Herbarts Interesse
bei ihr darin, die Grundbegriffe, mit denen die empirische Natur-
forschung operiert, aus seinen metaphysischen Voraussetzungen
abzuleiten und zu widerspruchsloser Gestaltung umzuarbeiten.
NaturphiluBOphio. 407
Mit dem feinen kritischen GrcnzbcwuütKein, das ihn auszeichnet,
sucht er die rhiU)S()pliie davor zu bewahren, in die sachliche
Arbeit der besonderen Wissenschaft<;n huicinzupfuächen und das-
ienij^e, was diese erkannt haben, noch einmal, nur in anderer
Weise, erkennen zu woHen. Er will nur zeigen, daß die Wider-
sprüche, in welche die Begriffe der^Materie^ des Atoms ußw. sich
verwickeln, verschwinden, sobald man darin nur die Erscheinungs-
form des wirklichen Geschehens, welches uns unbekannt ist, er-
blicken will. Seine Naturphilosophie ändert daher an den be-
sonderen Erkenntnissen der Naturforschung nichts: aber sie ist
auch gerade infolgedessen sowohl nach der guten als auch nach
der schädlichen Seite hin ziemlich wirkungslos geblieben. Sie
vertrug sich mit der empirischen Forschung, aber sie befruchtete
diese auch nicht: sie verhielt sich eben völlig umgekehrt wie die
Schellingsche. Sie lehnt deshalb auch alle dynamische und
teleologische Naturbetrachtung ab und stellt sich auf den Stand-
punkt des Mechanismus auch für die Erklärung der physio-
logischen Erscheinungen und der biologischen Veränderungen und
Umbilduno en. Herbart' sucht zunächst darzutun, daß der sinn-
Iklj^ Raum die notwendige Erscheinungsform des Zustandes der
»unvollkommenen Durchdiingung « ist, in welchem sich die Realen
bei ihrem »Zusammensein« befinden, wobei man freilich mit in
Kauf nehmen muß, daß die räumhchen Verhältnisse in dem Be-
«jriffe des intellidblen Raumes, des »Kommens und Gehens« der
Substanzen doch unvermeidlich schon vorausgesetzt waren. Durch
eine sehr künstliche Konstruktion werden dann der Begriff des
^ Atoms" als des starren Elements und weiterhin diejenigen des
Moleküls ^ und des Körpers" gewonnen , wobei die Attraktion als
das Prinzip der Durchdringung, die Repulsion als dasjenige der
Unvollkommenheit dieser Durchdringung gilt. Dadurch nun, daß
die Tendenz der Durchdringung und, subjektiv gefaßt, der Ver-
such des Bewußtseins, die Realen vollständig zusammenzufassen,
niemals gelingen kann, entsteht der objektive Schein der' Be-
wegung. In der Entwicklung dieses Begriffes zeigt sich am
meisten die oben erwähnte Zweideutigkeit der Lehre von den
zufälligen Ansichten. Auf der einen Seite soll die Bewegung
nicht in den Dingen vorgehen, sondern nur etwas sein, was dem
Zuschauer widerfährt, auf der andern soll diese Beziehung zwischen
408 Herbart.
den Dingen ein objektiver Schein in dem Sinne sein, daß er auch
ohne irgend ein beobachtendes Bewußtsein ein Verhältnis der
Dinge selbst bildet. Neben der Bewegung ist es hauptsächlich
noch die Verschiedenheit der Stoffe, welche die Synechologie aus
den verschiedenen Verhältnissen konstruiert, in denen sich die
Elemente der Materie durch ihren Gegensatz zueinander befinden.
Herbart gewinnt daraus eine Vierteilung aller Körperlichkeit in
ponderable Materie, Wärmestoff, elektrisches Fluidum und Äther:
aus dem letzteren will er neben dem Licht auch die scheinbare
»actio in distans« der ponderablen Materie erklärt wissen.
Bedeutsamer und einflußreicher ist Herbarts Psychologie.
Sie hat er neben kleineren, teils methodologischen, teils sachlichen
Abhandlungen in dem »Lehrbuch zur Psychologie« (1816) und in
seinem Hauptwerke: »Psychologie als Wissenschaft, neu gegründet
auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik« (1824—1825) dar-
gestellt. Auf diesem Gebiete hat er durch seine originelle Auffassung
einen mächtigen Umschwung hervorgerufen und eine Richtung be-
gründet, die noch heute eine andauernde Bedeutung besitzt. Aus
der Konsequenz seiner Metaphysik ergab sich ein klares, wissen-
schaftliches Prinzip, das den unbestimmten, halb belletristischen
Betrachtungen, worauf sich so vielfach die psychologische Lehre
beschränkt hatte, in der wirksamsten Weise gegenübertreten
konnte und selbst da anerkannt werden muß, wo man darin
nicht die ganze Methode der Psychologie sehen will. Wenn
Herbart auch hier zunächst polemisch verfährt, so befindet er
sich in vollem Rechte gegenüber jener mythologisierenden Theorie
der seelischen »Vermögen«, mit der man die Seele in lauter kleine
Seelchen zersplittert, um für verwandte Erscheinungen eine ge-
meinsame Kraft" anzunehmen. Hatte schon Aenesidemus-Schulze
im Streite gegen Reinhold und Kant die Unbrauchbarkeit mid
Schädlichkeit dieses Begriffes der ^Vermögen in der empirischen
Psychologie betont, so hat Herbart dagegen einen systematischen
Vernichtungskampf geführt. Von einer wissenschaftlichen Psycho-
logie kann nur dann die Rede sein, wenn man sich entschließt,
ebenso wie in der Naturwissenschaft die komplizierten Erschei-
nungen nicht auf besondere »qualitates occultae« zurückzuführen,
sondern sie aus den gesetzmäßigen Kombinationen elementarer
Vorgänge zu erklären. Dies Prinzip in der deutschen Philosophie
l*8ych(»logio. 401)
zuerst aufgestellt zu haben, i.st das ^roße Verdienst Ifcrharts.
Es ist persönlich inn so größer, als sich eine direkte Abhängig-
keit von der englischen Assoziationspsychologie, die ja denselhcm
Gedanken vertrat, bei ihm nicht nachweisen läßt. Hei den Eng-
ländern ist es — das zeigt die typische Behandlung dicßer Pro-
bleme bei dem Schotten Thomas Brown — die nominalistische
Tendenz, welche sie zur Leugnung der Realität solcher Allge-
raeinbegriffe wie Wille," Verstand ' usw. bringt; bei Herbart ist
es die metaphysische Ansicht von der einfachen Qualität des
Seelenwesens, die verbietet, darin eine Mehrzahl verschiedener
Grundkräfte anzunehmen. Die Verschiedenheit der psychischen
Tätigkeiten kann bei ihm nur auf den wechselnden Beziehungen
beruhen, in welche die Seele zu anderen Realen tritt. Daraus
aber ergibt sich von vornherein eine einseitige Bestimmtheit
seiner psychologischen Ansicht. Die Selbsterhaltung der Seele
gegen das Zusammensein mit anderen Realen isf'Vorstellung^ und
damit wird für Herbart die '^Vorstellung^ zu der einzigen
Grundfunktion der Seele. Alle übrigen psychischen Tätig-
keiten bestehen nur in Vorstellungs Verhältnissen. Hierin liegt
hauptsächlich Herbarts Verwandtschaft mit der vorkantischen
Philosophie. Wie in dieser, so gelten auch bei ihm die Tätig-
keiten des W^illens und des Gefühls immer nur als Vorstellungs-
verhältnisse, und gegen jene Ansicht von dem Primat des W^illens
über das Denken, der Fichte den schärfsten Ausdruck gab, mußte
er sich nach jeder Richtung sträuben. Daraus folgte dann wieder,
daß er die gesamte Freiheitslehre der deutschen Philosophie ver-
warf und zum Leibnizschen Determinismus zircückkehrte.
Daß es nun zwischen den Vorstellungen überhaupt Verhält-
nisse gibt und somit alle die Kombinationen eintreten können,
deren Erklärung allein den Gegenstand einer wissenschaftlichen
Psychologie bildet, das beruht auf der Tatsache, daß die Vor-
stellungen, ijnit denen die Seele sich gegen andere Realen selbst
erhält;,' )nicht mit dieser Berührung wieder verschwinden, sondern
in der Seele als Vorstellun2;skräfte bestehen bleiben und dadurch
untereinander in die mannigfaltigsten Verhältnisse geraten. Die
Einheitlichkeit des Seelenwesens verlangt, daß diese verschiedenen
Formen ihrer Selbsterhaltung sich miteinander vereinigen. Die
Folge davon ist, daß, da diese Vereinigung wegen der
410 Herbart.
Verschiedenheit des Inhaltes der Vorstellungen nicht vollständig
geschehen kann, sie sich gegenseitig hemmen. Ist im Bewußtsein
nur eine Vorstellung, so nimmt sie seine ganze Energie für sich
allein in Anspruch ; sind es aber mehrere, so üben die Vorstellungs-
kräfte aufeinander eine Hemmung aus, vermöge deren jede an
ihrer Intensität um so mehr verlieren muß, je stärker die Inten-
sität der Vorstellung ist, von welcher sie gehemmt wird. Hierauf
beruht nun die Möghchkeit, den psychologischen Mechanismus der
Vorstellimgen einer mathematischen Berechnung zu unter-
werfen. Die Hemmungssumme, d. h. die Gesamtintensität, welche
die miteinander konkurrierenden Vorstellungen verlieren, verteilt
sich unter die einzelnen derartig, daß nach ihrem ursprünglichen
Intensitäts Verhältnis jede um so weniger verliert, je stärker sie
war. Macht man daher über die Größe dieser Hemmungssumme
eine Annahme — und Herbart setzt voraus, daß sie der Intensität
der schwächeren Vorstellung oder bei mehreren der Summe der
schwächeren Vorstellungen gleich sei — , so läßt sich mathematisch
berechnen, wieviel von jeder nach der gegenseitigen Hemmung
übrig bleibt. Sind z. B. zwei Vorstellungen von der Intensität
c/ > 6 gegeben, so bleibt nach der Hemmung von der ersten nur
, von der zweiten nur übrig. In dieser Weise
a-{-b a+ 6
will Herbart, was Kant für unmöglich erklärt hatte, die Psycho-
logie zur Wissenschaft erheben, indem er den mathematischen
Kalkül in sie einführt und auch für sie die Übereinstimmung
der metaphysisch-mathematischen Deduktion mit dem empirischen
und tatsächlichen Wissen in Anspruch nimmt. Es ist der erste
Versuch, aus ihr eine theoretische Naturwissenschaft nach Newton-
schen Prinzipien zu machen. Und selbst wenn man die Durch-
führbarkeit dieses Gedankens bestreitet, so wird man doch einer-
seits die große Konsequenz dieser Behandlungsweise bewundem,
anderseits aber ihre hypothetische Anwendbarkeit auf bestimmte
einzelne, freilich sehr beschränkte Gebiete, wie z. B. die Emp-
_findungslehre, anerkennen dürfen.
Die Voraussetzung aber dieser mathematischen Behandlung
der Psychologie bildet die Annahme einer verschiedenen Intensität
der Vorstellimgstätigkeit, welche Herbart als selbstverständlich
ansieht. Die Verwandtschaft mit Leibniz zeisjt sich dabei vor
Psycholoprie. 411
allern darin, daß er wie dieser als eine Funktion der Vor-
stellunj^sintenHität da» Bewußtsein betrachtet. Besitzt die
Vorstellun«; eine gewisse Intensität, so wird sie bewußt und ist
ein »wirkliches Vorstellen«. Wird sie unter diesen Grad
herabgcdrückt, so wird sie unbewußt und ist nur noch ein
»Streben vorzustellen«. Den niedrigsten Grad, bei welchem
die Vorstellung noch bewußt ist, nennt Herbart die Bewußt-
seinsschwelle. In dem Mechanismus der Vorstellungen kommt
es deshalb darauf an, ob die Hemmung, welche die Vorstellungen
aufeinander ausüben, derartig ist, daß eine oder die andere davon
unter die Bewußtseinsschwelle herabsinken muß : das ganze Seelen-
leben erscheint bei Herbart wie ein Kampf, den die Vorstellungen
wie in einem engen Räume miteinander führen, und bei dem es
darauf ankommt, ob die einen oder die andern je nach ihrer
Intensität über die Schwelle in den erleuchteten Teil eintreten
können, den das Bewußtsein oder das wirkliche Vorstellen darin
bildet. Die Gleichgewichtsverhältnisse, in welche die Vorstellungen
dabei miteinander treten, sind die Gefühle, und in dem »Sich-
heraufarbeiten« einer Vorstellung gegen die Hemmungen der
übrigen sieht Herbart dasjenige, was man Begehren nennt. Die
Psychologie ist nichts als eine »Statik und Mechanik des
Geistes«, welche die Gesetze dieser Bewegung mathematisch zu
deduzieren und empirisch zu bestätigen hat.
Diejenigen Vorstellungen nun, welche gleichzeitig zum wirk-
lichen Vorstellen gekommen sind, geraten dadurch in eine Ver-
wachsung, vermöge deren sie sich zu Vorstellungsmassen ver-
knüpfen, assoziieren und komplizieren, deren einzelne Teile, wenn
sie wieder zum Bewußtsein gelangen, die anderen ebenfalls in
den lichten Raum emporzuziehen, d. h. zu reproduzieren streben.
Vorstellungen, die aus dem Bewußtsein verschwinden, sind nicht
überhaupt zugrunde gegangen, sondern existieren vermöge der
Hemmung nur noch als »Streben vorzustellen« und werden unter
geeigneten Umständen, sei es »frei steigend«, sei es durch die
Assoziation, wieder zum wirklichen Vorstellen. Jene Massen aber,
welche sich in dem psychologischen Mechanismus zusammen-
gefunden haben, üben auf die neu eintretenden Vorstellungen
eine Art von Attraktionskraft in der Weise aus, daß sie die
verwandten darunter in sich aufzunehmen und mit sich zu
412 Herbart.
verbinden suchen. Diesen Prozeß bezeiclinet Herbart als Apper«
zeption und schreibt ihm die Rolle zu, daß dadurch der Besitz-
stand, den die Seele sich bereits erworben hat, alle neu hinzu-
kommenden Vorstellungen sich assimiliert und so alles Neue in
den Zusammenhang des Früheren einfügt.
Aus der gesetzmäßigen Bewegung der ursprünglichen Vor-
stellungen, welche sich auf diese Grundformen zurückführen läßt,
sucht nun Herbart alle die komplizierten Gebilde sowohl des theo-
retischen als auch des praktischen Verhaltens zu erklären, wie sie
in der inneren Erfahrung vorkommen. Von ursachlosen Funktionen
kann bei dieser Auffassung nicht die Rede sein, und auch die höchsten
und wertvollsten Tätigkeiten müssen als Produkte des psychischen
Mechanismus aufgefaßt werden. Darum griff Herbart hauptsächhch
die Kantische Idee der intelligiblen Freiheit an, obwohl er mit seiner
Lehre von der metaphysischen Urqualität des einfachen Seelen-
wesens, welche den Grund für alle »Selbsterhaltungen« in der Er-
scheinung bilde, vielleicht mehr als andere sich diese Lehre hätte
zu eigen machen können. Aber abgesehen davon, daß Herbart
jene Urqualität für völlig unerkennbar hielt, konnte er auch der
religionsphilosophischen Verwendung, die Kant von dem Begriffe
machte, nicht beitreten ; denn danach sollte in der »Wiedergeburt «
der intelligible Charakter sich in völlig unbegreiflicher Weise ver-
ändern, was mit Herbarts metaphysischen Prinzipien unvereinbar
war. Lifolgedessen blieb in seiner Lehre nur ein Determinismus
übrig, der in allen wesentlichen Zügen mit demjenigen von Leibniz
übereinstimmte. Aber auch alles dasjenige, was von 'eingeborenen
Begriffen oder eingeborenen Formen im menschlichen Geiste be-
hauptet worden war, mußte bei Herbart in dieser Weise als Er-
zeugnis der psychischen Entwicklung angesehen werden, und er
benutzte dann namentlich seine Theorie der »reihenweis abgestuften
Verschmelzung«, um im Gegensatz zur transzendentalen Ästhetik
^aum und Zeit aus der Empfindungstätigkeit abzuleiten. Besonders
wichtig aber ist es, daß sich derselben Behandlung auch der Be-
griff des Ich unterwerfen muß. Herbart weist scharfsinnig nach,
daß das Fichtesche »reine Selbstbewußtsein« den Widerspruch einer
doppelten unendlichen Reihe involviere. Wenn es als das sich
selbst Vorstellende definiert wird, so ist dabei das, was vorstellt,
und das, was vorgestellt wird, immer wieder nur das sich vor-
l*ädap;ogik und Ethik. 413
stellende Ich, und so fort bis ins Unendliche. J5ei dieser formalen
Bestimmung kommt niemals ein Inhalt heraus, an welchem die
Vorstelhingstäti<J5keit Halt machen könnte. Insofern hat Fichte
lecht gehabt, daß das Ich nie zustande kommt, sondern nur im
unendlichen Streben sich zu realisieren sucht. Aber dieses wider-
spruchsvolle reine Ich ist auch gar nicht gegeben, sondern nur eine
formelle Abstraktion Fichtes; das gegebene, das allein begreiflich
zu machen ist, ist das empirische Selbstbewußtsein, und dies ist
stets inhaltUch bestimmt. Das Ich weiß sich jedesmal in einem
bestimmten Zustande, es wird also immer durch bestimmte Apper-
zeptionsmassen gebildet, welche, mehr oder minder wechselnd, aber
doch schließlich an einem konstanteren Kerne haftend, die neu ein-
tretenden Vorstellungen assimilieren. Das Ich ist also gewisser-
maßen der Schneidepunkt aller derjenigen Vorstellungsreihen, welche
in der Entwicklung des Individuums durch den Mechanismus der
Vorstellimgen entstanden sind. Dieser Schneidepunkt wandert mit
gewissen Grenzen in dem Inhalte des wirklichen Vorstellens, imd
seine Identität liegt nur einerseits in der Gleichheit der Apper-
zeptionsprozesse, anderseits in der Kontinuierlichkeit der Vor-
stellungsentwicklung. Fichtes imd Herbarts Behandlungen dieses
schwierigsten aller Probleme stehen sich diametral und einander er-
gänzend gegenüber: jener richtet seine Untersuchung auf die iden-
tische Einheit des Ich und vermag daraus keinen individuellen
Inhalt des empirischen Ich abzuleiten; dieser betont den indivi-
duellen Inhalt derartig, daß die formale Einheit und Identität ver-
loren zu gehen droht.
Jedenfalls aber betrachtete Herbart das Leben der Seele als
einen naturnotwendigen Bewegungsprozeß und nicht wie Fichte als
die Äußerung einer unbegreifüclien Freiheit. Für den letzteren
Standpunkt war es eigentlich durchaus irrationell, von einer Er-
ziehung zu sprechen, da die »Freiheit« des Ich doch keiner natur-
notwendigen Beeinflussung imterliegt und deshalb keinen Ein-
wirkungen zugänglich ist, die sich voraussehen und planvoll her-
vorrufen Heßen. Umgekehrt forderte Herbarts Theorie der psy-
chischen Entwicklung geradezu auf, zu untersuchen, wie der nach
äußeren Anregimgen naturnotwendig verlaufende Mechanismus des
Seelenlebens in solche Bahnen gelenkt werden kann, daß er zu
beabsichtigten Erziehungszwecken sicher führen muß. Deshalb
414 Herbart.
begründete niclit nur Herbart selbst von seiner Psychologie aus eine
sehr glücklich angelegte und durchgeführte Pädagogik, sondern
dies ist auch das Spezialfach, worin seine Lehre die tiefsten und
nachhaltigsten Einflüsse ausgeübt hat. In der Tat darf Herbart
als Begründer der wissenschaftlichen Pädagogik angesehen werden.
An die Stelle sachkundiger Reflexionen und praktischer Vorschläge,
zwischen denen sich bis dahin die Literatur dieser Disziplin im
günstigsten Falle bewegt hatte, setzte er zum erstenmal eine streng
begriffliche Untersuchung: und indem er der Ethik das Ziel und
der Psychologie das Wissen von den Mitteln der Erziehung ent-
nahm, bestimmte er der Pädagogik ihre Stelle im Systeme der von
der Philosophie abhängigen Wissenschaften. Das ist, gegenüber
den einzelnen, dem Wechsel des wirklichen Erziehungslebens unter-
worfenen Theorien, die bleibende Bedeutung seiner Pädagogik.
Angesichts jener psychologischen Überzeugungen mußte auch
Herbarts Behandlung der Ethik in seiner »Allgemeinen praktischen
Philosophie« (1808) anders als bei Kant und bei Fichte ausfallen.
Sie konnte weder auf ein Freiheitsgesetz des SoUens noch auf den
Begriff des Ich begründet werden. Vielmehr schlägt Herbart einen
neuen Weg ein, um die Kantische Forderung einer vollkommenen
Selbständigkeit der Moralphilosophie und ihrer gänzlichen Unab-
hängigkeit sowohl von der Psychologie als auch von der Meta-
physik mehr als irgend ein anderer zu verwirklichen. Er geht
dabei von der Tatsache aus, daß es neben den theoretischen Ur-
teilen Beurteilungen gibt, in denen sich Billigung oder Nicht-
billigung eines erkannten Gegenstandes ohne jede Rücksicht auf
die Art, wie dieser zustande gekommen ist, ausspricht. Solche Be-
urteilungen beziehen sich immer auf Verhältnisse des Vorstellungs-
inhaltes, und je komplizierter diese sind, um so weniger ursprüng-
lich kann die Beurteilung sein. Es muß deshalb eine Anzahl ein-
facher Verhältnisse geben, welche den Gegenstand eines ursprüng-
lichen Wohlgefallens oder Mißfallens bilden, und aus deren Kom-
plikation die abgeleitete Beurteilung verwickelterer Verhältnisse
erklärt sein will. Die Wissenschaft von diesen einfachen Ver-
hältnissen, welche die BilHgung oder Mißbilligung bei sich führen,
nennt Herbart Ästhetik und stellt sie, der Logik und der Meta-
physik gegenüber, als den dritten selbständigen Teil der Philo-
sophie auf. Denjenigen Teil der Ästhetik, den man gewöhnlich
Pädagogik und KtliiU. 415
mit dioscni Namen bezeichnet, und der durch die Beurteilungs-
priidikatc der Schönlicit und der Häßlichkeit charakterisiert ist,
haben erst Ilerbarts Schüler bearbeitet: er selbst hat sich auf die
Ethik als auf denjenigen Teil der all^'cmeinen Ästhetik be-
schränkt, welcher es mit den einfachen Verhältnissen der sitt-
lichen Beurteilung zu tun hat. Diese müssen nach Herljarts
Methode durch begriffliche Bearbeitung der moralischen Billigungen
und Mißbilligungen gewonnen werden, die in der Erfahrung tat-
sächlich ausgeübt werden. Auch hier also sträubt sich Herbart
gegen die monistische Tendenz eines obersten Moralprinzips: für
alle Probleme ist er davon überzeugt, daß das menschliche Denken
auf einer Anzahl ursprünglicher, nicht mehr auseinander ableit-
barer Inhaltsbestimmungen beruhe, die es nur in ihrer Reinheit
festzustellen und miteinander in »Beziehung« zu setzen gelte. Die
einfachen Willensverhältnisse, welche den Gegenstand des ur-
sprünglichen moralischen Beifalls bilden, nennt Herbart die sitt-
Hchen Ideen, und er stellt deren fünf auf: die Idee der »inneren
Freiheit« als der Übereinstimmung des Willens mit dem eigenen
Urteil, die Idee der »Vollkommenheit« als der richtigen Größe
der Willensbestrebungen, die Idee des »Wohlwollens« als des Willens,
welcher das fremde Wohl zu seinem Gegenstande macht, die Idee des
»Rechts« als die Regel der Willensübereinstimmung verschiedener
Individuen und das Mißfallen am Streite, endlich die Idee der
»Billigkeit« als der Vergeltung der guten und der bösen Handlungen.
An diese fünf ursprünglichen schließen sich sodann fünf abgeleitete
Ideen als diejenigen der sittüchen Institutionen, worin jene ersten
zur Verwirklichung kommen: sie machen deshalb den Inbegriff der
sittlichen »Güter« aus. Herbart entwickelt sie (in umgekehrter
Reihenfolge) als das Lohnsystem, die Rechtsgesellschaft, das Ver-
waltungssystem und das Kultursystem, welche vier in der be-
lebten Gesellschaft zu einer organischen Einheit verbunden
sind. So geht die Ethik in Sozialphilosophie über, und Herbart
betrachtet den Staat als den Lebensprozeß der Menschheit, worin
alle diese Güter zur Entwicklung kommen. Allein er sieht nun wieder
im Staate wesentlich einen sozialen Mechanismus; auch ihm ist der
Staat »der Mensch im großen«. Die Elemente, aus denen er be-
steht, sind die wollenden Menschen, und die Staatslehre soll mehr
eine Statik und Mechanik der sozialen Kräfte, als eine rechts-
416 Herbart.
philosophische Konstruktion, die Staatskimst eine Berechnung der
psychologisch -sozialen Notwendigkeiten sein. Denn das Gleich-
gewicht der sozialen Kräfte, worin das Wesen des Staates besteht,
wird, wie Herbart namentlich dem doktrinären Liberalismus ent-
gegenhielt, nicht durch die Kechtsformen herbeigeführt, die viel-
mehr selbst erst das Produkt des sozialen Mechanismus sind,
sondern nur durch die psychologische Bewegung der den Staat kon-
stituierenden Individuen. Sitte, Wohlwollen und Bildung sind
deshalb ungleich festere und wertvollere Säulen der staatlichen
und gesellschaftlichen Ordnung als abstrakte Rechtsbestimmungen,
und der Sinn der äußeren Lebensformen der Menschheit liegt in
der psychologischen Bewegung, aus der sie hervorgegangen sind.
§ 7L Der Psychologismiis.
Pries und Beneke.
So scharf der Gegensatz ist, worin sich Herbart zu der Iden-
titätsphilosophie sowohl in ihrer rationalen als auch in ihrer ir-
rationalen Form befindet, so ist er mit allen ihren Trägern doch
darin einig, daß er die umbildende Entwicklung der Kantischen
Philosophie in der metaphysischen Richtung sucht. Freilich bringt
seine Bekämpfung des Axioms der Identität von Denken und
Sein es mit sich, daß er mehr als alle anderen Nachfolger des
gToßen Königsbergers auf die erkenntnistheoretische Basis zurück-
geht, und alle seine metaphysischen Lehren beruhen auf dem echt
kritischen Bestreben, »die Erfahrung begreiflich zu machen«: die
Lösung dieser Aufgabe sucht jedoch auch er auf dem Wege einer
Metaphysik, die zwar die Dinge an sich'mid das "wirkliche Ge-
schehen für unerkennbar erklärt, aber doch über ihr Verhältnis
zur Erscheinungswelt eine weit umfangreichere theoretische Er-
kenntnis behauptet, als es Kant zugestanden haben könnte. Allein
neben allen diesen metaphysischen Bestrebungen der nachkantischen
Philosophie, in denen zweifellos der schöpferische Fortschritt des
philosophischen Geistes enthalten ist, laufen nun eine Reihe anderer
Versuche einher, welche das kritische Prinzip der Selbsterkenntnis
der menschlichen Vernunft in die Sprache der empirischen
Psychologie zu übersetzen und die grundlegenden Untersuchungen
der Erkenntnistheorie mit vollem methodischen Bewußtsein in die
Der PHycbologisinuB. 417
anthropologische Erfalirung zu verlegen Buchen. Je wichtij^er
für Kants gesamte Kritik der apriorischen Erkenntnis die bei ihm
niemals ausdrücklich herausgehobenen psychologischen Voraus-
setzungen waren, um so mehr konnte man glauben, seinen
Absichten zu entsprechen, wenn man in der empirischen Selbst-
erkenntnis des menschlichen Geistes die Grundlage aller philo-
sojphischen Untersuchungen sah: und je mehr die großen meta-
physischen Systeme, die sich aus seiner Lehre entwickelten, im
geheimen mit einer bestimmten psychologischen Grundansicht
operierten, um so näher lag die Möglichkeit, daß man ihre Lehren
ausdrücklich auf die anthropologische Erkenntnis zu stützen unter-
nahm. So ist der Psychologismus eine konstante Neben-
erscheinung der metaphysischen Systeme: er besteht an jedem
Punkte in einer Verarbeitung der metaphysischen Lehren unter
dem Gesichtspunkte der empirisch-psychologischen Begründung,
und seine Vertreter gehen sämtlich von der Ansicht aus, das
»subjektive Prinzip« der modernen Philosophie lauf 3 darauf hinaus,
daß in der empirischen Psychologie als der Selbsterkenntnis des
erkennenden Geistes die Grundlage der gesamten Philosophie ge-
sucht werden müsse. Dieser Psychologismus hatte den Stand-
punkt der Aufklärungsphilosophie gebildet: er erschien jetzt wieder
als die nächstliegende Form des »metaphysischen Empirismus«,
auf den das Scheitern der rationahstischen Deduktion von allen
Seiten hinwies. Die Überzeugungen der ihn vertretenden Männer
sind daher ähnlich, wenn auch in mehr positiver Weise, als ee
bei den Irrationalisten der Fall war, durch die metaphysischen
Systeme bestimmt, für welche sie in anthropologischen »Selbst-
beobachtungen« die empirische Basis zu gewinnen trachten.
Wesentliche oder prinzipielle Neuerungen sind daher nicht von
ihnen ausgegangen: ihr Kampf gegen die großen Systeme
wird stets mit den Gedanken geführt, die diesen selbst ent-
nommen sind.
Einer der bedeutendsten dieser Psychologisten ist gleich der
erste, derjenige nämlich, welcher sich in dieser Weise der em-
pirisch-psychologischen Begründung zu dem Kantischen Systeme
selbst verhält. Jakob Friedrich JFries (1773 geboren, unter
dem Einfluß der Herrnhutischen Brüdergemeinde zu Barby und
Windel band, Gesch. d. n. Philos. U. 27
418 Fries.
Niesky erzogen, auf den Universitäten Leipzig und Jena gebildet,
1801 in Jena habilitiert, 1805 als Professor der Philosophie nach
Heidelberg, 1816 nach Jena berufen, nach seiner Beteihgiing am
Wartburgfeste suspendiert, 1824 als Professor der Physik reha-
bilitiert und 1843 zu Jena gestorben) hat in seinem Hauptwerke
»Neue Kritik der Vernunft« (1807) die Kantische Lehre auf eine
psychologische Ansicht zu stützen gesucht, die in dem »Handbuch
der psychischen Anthropologie« (1820) sachlich und terminologisch
genauer fixiert und in seinen zahlreichen übrigen, auf alle Teile der
Philosophie sich erstreckenden Schriften weiter ausgeführt ist. Er
geht von der Überzeugung aus, (die in gewisser, freilich viel mehr
einzuschränkender Beziehung unangreifbar und z. B. auch von Her-
bart anerkannt worden istMaß die Untersuchung über die apriorische
Erkenntnis, welche die Vernunftkritik ausgeführt hat und ausführen
soll, selbst aposteriorischen Charakters ist, indem alle »transzenden-
talen Bedingungen « der Erkenntnis in der tatsächlichen, empirisch
gegebenen Natur der menschlichen Denktätigkeit aufgesucht werden.
Nur durch die Erfahrung selbst werden wir uns jener »reinen
Formen« bewußt, die als immanente Gesetze unserer Vorstellungs-
tätigkeit diC/ allgemeinen und notwerxdigen , d. h. apriorischen Be-
stimmungen alles Erfahrungsinhaltes bilden. Kants gesamte Unter-
suchung ist somit nach Fries psychologischen Charakters, und man
soll sich nicht scheuen, dies offen auszusprechen. Darin war richtig,
daß der Leitfaden von Kants Kritik überall eine psychologische
Voraussetzung und das Kriterium ihrer Entscheidungen immer eine
psychologische Einsicht oder Ansicht ist; aber es darf nicht ver-
gessen werden, daß den Grund, den Kant für die Apriorität der Ver-
nunftformen suchte, niemals ihre empirische Funktion bildete. Fries
seinerseits behauptet, die ganze Aufgabe der Kritik bestehe in der
Reflexion auf die von dem menschlichen Geiste unmittelbar aus-
geübte Erkenntnistätigkeit. Dabei zeigt sich nun, daß alles Wissen
des Verstandes in seiner demonstrierbaren Gewißheit auf Voraus-
setzungen beruht, welche das reflektierende Denken nicht erzeugt,
sondern übernimmt. Das Denken ist — genau so hatte der von
Fries so lebhaft bekämpfte Fichte gesprochen — immer nur sekun-
dären Charakters: es hat stets nur mittelbare Gewißheit und ist
nur eine Reflexion auf die unmittelbare Gewißheit, die ihm vorher-
geht, und der es seinen Inhalt entnimmt. In dieser Entgegensetzung
Unmittclbures und mittelbures Wissen. 419
ist Fries vollkommen von .Tacobi abhängig und stimmt ihm auch
darin bei, daß die unmittelbare Gewißheit nicht im reflektierenden
Denken, sondern im Gefühl enthalten ist. Wenn er deshall> in
gewissem Sinne ebenfalls ein \'ertreter dei- (jJefiihlsphilosophie ist,
so unterscheidet er sich von Jacobi eben darin, daß er verlangt, die
unmittelbare, dunkle Gefiihlserkenntnis solle durch die Reflexion
in das klare imd sichere Bewußtsein erhoben werden, und deshalb
ist seine Lehre ungleich viel wissenschaftlicher und objektiver ge-
worden, als diejenige Jacobis, die sich mit dem Pathos des unklaren,
subjektiven Gefühls begnügte. Andei-seits aber verfolgt nun auch
Fries den Gedanken, daß die unmittelbare Gewißheit, indem sie in
das reflektierende Bewußtsein aufgenommen wird, dessen lediglich
subjektive Formen und damit den Charakter der bloßen Erscheinung^
annehmen muß. Unser Denken ist die Reflexion auf unser un-
mittelbares Gefühl; aber es ist notwendig in seine ihm eigentümlichen
Formen gebannt und erkennt daher lediglich die Erscheinung der
Wahrheit. Alles Wissen bewegt sich in den Refleyionsformen der
Subjektivität, welche wir durch die Selbstbeobachtung unserer Er-
kenntnistätigkeit uns zum Bewußtsein zu bringen vermögen. Die
»Neue Kritik« gibt in der Analyse dieser Formen des reflektierenden
Bewußtseins sehr viel feine und geistreiche Untersuchungen ; nament-
lich die Kategorienlehre ist von Fries durchaus selbständig und ori-
ginell behandelt und auf die Kategorien der Relation zugespitzt
worden. Allein das demonstrierende Wissen ist deshalb für
ihn gänzlich auf die Anwendung dieser Formen beschränkt: es
verliert allen Boden unter den Füßen, sobald es diese Grenze über-
schreiten will. Für die'^wissenschaftliche Erkenntnis gut Kants Be-
schränkung auf die Erfahrung und Erscheinung. Von der äußer^
Natur wissen wir nur so viel, als sich mathematisch und mechanisch
berechnen läßt. Die Prinzipien der Natuierkenntnis sind lediglich
mathematisch und mechanistisch : auch die Organismen wollen in
dieser Weise begriffen sein, und es ist ein Fehler Kants, auf sie die
teleologische Betrachtung auch nur für wissenschaftlich anwendbar
erklärt zu haben, y In der Erkenntnis der inneren, psychischen Natur
dagegen verläßt uns — trotz Herbart — die mathematische Er-
kenntnis; hier sind wir ledighch auf deskriptive Analysis ange-
wiesen, — eine Behauptung, die bei Fries um so schwerer wiegt,
als er auf diese Erfahr ungs Wissenschaft die ganze Philosophie gründen
27*
420 Fries.
wollte. Wälirend aber so die wissenschaftliche Erkenntnis auf die
naturnotwendige Erscheinung angewiesen ist, enthält das unmittel-
bare Gefühl den Glauben an die Welt dei^inge an sich : die Kantischen
Ideen von Gott, von der intelligiblen Freiheit und dem übersinnlich-
unsterblichen Wesen des Menschen erscheinen hier als Objekte des
unmittelbar selbstgewissen Gefühls, und zwischen jenem Wissen der
Erscheinungen und diesem Glauben der Dinge an sich wird von
Fries ganz der schroffe Dualismus angenommen, der Kant und
Jacobi gemeinsam war. Dennoch gibt es für Fries eine Vermittlung
zwischen beiden , und seine Wertschätzung der Kritik der Urteils-
kraft, (die er für Kants größtes Werk erklärte ,^zeigt sich auch
darin, daß das Gefühl wieder zuletzt zwischen der theoretischen
und der praktischen Vernunft vermitteln soll. Als ästhetisches
Gefühl zeigt es uns in unmittelbarer Anschauung die übersinnliche
Idee in die sinnliche Erscheinung verwachsen, als rejigiöses Gefühl
läßt es uns in der Zweckmäßigkeit der Natur die Weisheit des
göttlichen Schöpfers verehren. Wenn wir so die Erscheinungen
in ihrer mathematischen Notwendigkeit erkennen und wissen, wenn
wir an die Dinge an sich als die sittlichen Werte glauben, so
»ahnen« wir in dem ästhetischen und dem religiösen Gefühl, daß
in^en Erscheinungen eben jenes wahre, sittliche Wesen der Dinge
erscheint. Die rein naturalistische Beschränkung der Erfahrungs-
erkenntnis, der moralische Glaube an eine Welt der Werte und
an die Würde der menschlichen Bestimmung, die Parallelisierung
des ästhetischen und des religiösen Gefühls in der gemeinsamen
Bedeutung, daß in beiden das Verhältnis der Erscheinung zur
Idee, des Bedingten zum Unbedingten geahnt wird, — das alles
sind Theorien, die, in Kant angelegt, bei seinen verschiedenen
Nachfolgern in besonderen Formen entwickelt worden sind : bei
Fries erscheinen sie auf der gemeinsamen Basis einer anthropo-
logischen Untersuchung, die aus der Selbsterkenntnis des empi-
rischen Bewußtseins methodisch das Allgemeingültige erforschen
will, um sich seiner apriorischen Berechtigung zu versichern.
Gerade eine solche Ableitung der Grundlehren der Kantischen
Philosophie aus der empirischen Psychologie hatte etwas Eindring-
liches und unmittelbar Einleuchtendes an sich, was des großen
Erfolges in weiteren Kreisen sicher war. Ähnlich sprachen sich
Fr. van Calker in seiner » Urgesetzlehre des Wahren, Guten und
-V.<
.SJ."
V'^v •
Krug. 421
Schonen« (1820) und Chr. Weiß in zahlreichen Schriften aus,
unter denen namentlich die »Untersuchungen über das Wesen und
Wirken der menschlichen Seele« (1811) hervorzuheben sind, und
später schloß sich an Fries eine umfangreiche Schule an, die sich
namentlich auch auf theologischem Gebiet Ausbreitung und Gel-
tung verschaffte.
Wie Fries zu Kant und Jacobi, so verhielten sich geringere
Geister zu Kant und Fichte. Zunächst ist in dieser Hinsicht l
Wilhelm Traugott Krug (1770 — 1842) zu nennen, welcher die ; 7
Kantisch -Fichteschen Eehren auf »Tatsachen des Bewußtseinß«
zurückzuführen suchte. Aus seiner überaus fruchtbaren Schrift-
stellertätigkeit ist das »Handbuch der Philosophie« (1820) am
meisten verbreitet gewesen ; das Präziseste ist wohl der » Entwurf
eines neuen Organon der Philosophie« (1801) und die » Fimdamental-
philosophie« (1803). Von der Mendelssohnschen Art des Philoso-
phierens ausgegangen, sah er auch in der neuen philosophischen
Bewegung nichts als eine Analyse des Bewußtseins, die den Inhalt
des gesunden Menschenverstandes kritisch festzustellen habe. Die
letzte Tatsache, worauf dabei das sich selbst beobachtende Bewußt-
sein stoße, der absolute Inhalt des Selbstbewußtseins, sei die Ver-
knüpfung des Denkens mit dem Sein. Deshalb sei sowohl der
Realismus, der nur die Ursprünglichkeit des Seins, als auch der
Idealismus, der nur diejenige des Denkens anerkennen wolle, von
vornherein verfehlt; der einzig wahre Standpunkt sei der tran-
szendentale Synthetismus, der in dem empirischen Selbst-
bewußtsein diese Tatsache der gegenseitigen Beziehung von Denken
und Sein konstatiere und sie zum Ausgangspunkt aller philoso-
phischen Gewißheit mache. Denn diese sei nichts als der Glaube
an_ die Tatsachen des Bewußtseins. Enthält diese Lehre eine
psychologische Umstempelung der Fichteschen Theorie vom Ich,
so ist sie anderseits ein Synkretismus Reinholdischer und Jacobischer
Gedanken auf der Basis der empirischen Psychologie. //5^ //>
Bedeutender ist der Versuch, den Friedrich Bouterwek
(1766 — 1828), ein als empiristischer Ästhetiker und Literatur-
historiker sehr geschätzter Mann, in seiner »Idee einer Apodiktik«
(1799) gemacht hat, um eine psychologische »Selbstverständigung«
des Kritizismus zu gewinnen. Er führt zunächst aus, daß die
logischen Formen des Denkens niemals zu einer anderen als
422 Bouterwek, Troxler.
formalen und hypothetischen Erkenntnis führen; er entwickelt so-
dann, daß die Transzendentalphilosophie den Spinozis tischen Begriff
eines absoluten Seins neu und sicher begründe, aber um den Preis,
daß sie alle Individualität imd Verschiedenheit, alles Geschehen
imd Tun lediglich für Erscheinung erklären müsse, und er zeigt
sich in dieser Spinozistischen Konsequenz, die er aus Kant ableitet,
schon hier durchaus von Jacobi abhängig, dem er später immer
mehr anheimgefallen ist. Er fügt endlich hinzu, daß uns nur
unser eigenes empirisches Selbstbewußtsein uns selbst als handelnde
Individualitäten erkennen lasse, und daß diese Selbstbeobachtung
die einzige Möglichkeit sei, uns auch die äußere Welt zu erklären.
Indem unser Wille, der das absolut Gewisse unserer Selbserkennt-
nis ist, bei seinem Handeln auf Widerstand stößt, erkennen wir
die Welt, welche in der Transzendentalphilosophie nur als einheit-
liches und unbestinmates Sein erschien, als eine unendliche Viel-
heit lebendiger Kräfte. Die Selbsterkenntnis, in der wir uns als
wollende Wesen erfassen, enthüllt uns das Geheimnis der Dinge:
wir müssen sie ebenso wie uns selbst als lebendige Kräfte ansehen.
Deshalb bezeichnet sich dies System als absoluten Virtualis-
mus. Fichtes Selbstanschauung der Intelligenz als Wille ist also
hier in eine Selbstbeobachtung der empirischen Psychologie ver-
wandelt, und was später Schopenhauer als seine geniale Deutung
der Erfahrung bezeichnete, erscheint hier ausdrücklich als eine
auf die innere Erfahrung gestützte Analogie: wobei nicht zu ver-
gessen ist, daß Bouterwek in Göttingen lehrte, wo Schopenhauer
seine ersten Studien gemacht hat.
Zeigt Bouterwek in seiner Auffassung der Transzendentalphilo-
sophie eine entschiedene Verwandtschaft mit Schellings Neospino-
zismus, so hat auch dessen Schule ihren Psychologisten in Ignaz
%ij/) Paul Troxler (1780 — 1866) aufzweisen. Dieser war anfangs ein
unbedingter Anhänger der Naturphilosophie und des Identitäts-
systems gewesen; aber er nahm schon durch seine »Blicke in das
Leben des Menschen« (1812) und später in seiner »Naturlehre des
menschlichen Erkennens oder Metaphysik« (1828) und in der
»Logik« (1830) eine relativ selbständige Stellung ein. Das Wesent-
liche daran ist, daß er die Identität von Denken und Sein dahin
deutete, die Gesetze des menschlichen >> Gemüts << seien diejenigen
des Universums ; der Mensch sei Mikrokosmos, und alle seine Welt-
&Ä
Bonoke. 423
erkcnntnis bestehe in seiner Selbsterkenntnis. Alle Philosophie
ist Anthroposophie, und diese beruht nur auf dem Wissen der
Selbstbcobachtun«^'. Tn der Ausführuni^ dieses Gedankens legt
Troxler an die empirische Untersuchung in einer äußerst unfrucht-
baren Weise das tetradische System der Kreuzung von Gegensätzen,
das Wagner (vgl. ij 00) aufgestellt hatte. Eine Unterscheidung
von Geist und Seele, Leib und Körper bildet die Grundlage, auf
der sich eine Schema tische Entwicklung der gesamten Welterkennt-
nis aufbauen soll. ^^
Der konsequenteste und radikalste Vertreter des Psychologis-6^J/'
mus ist derjenige, welcher in dem oben bezeichneten Verhältnis /^.
zu Herbart steht: Friedrich Eduard Beneke. 1798 in Berlin //
geboren, in Halle und Berhn gebildet und an der letzteren Uni- ^^
versität habilitiert, wurde er 1822 von der akademischen Tätigkeit i p ^
suspendiert, dozierte einige Jahre in Göttingen und kehrte dann
nach Berlin zurück, wo er 1832 eine außerordentliche Professur
erhielt und 1854 gestorben ist. Seine sehr zahlreichen Schriften
enthalten die ausgesprochenste Form des Psychologismus, welche
in dieser Epoche der deutschen Philosophie aufgetreten ist. Er
meint nicht nur wie Fries, daß die Erkenntnistheorie und von da
aus alle übrigen philosophischen Disziplinen von der empirischen
Psychologie ausgehen müssen, sondern seine Anschauung ist die,
daß deren Aufgabe nicht die Aufsuchung einer apriorischen Er-
kenntnis, die es gar nicht gebe, sondern die Entwicklungsgeschichte
des empirischen Bewußtseins sei. Er fühlte sich infolgedessen am
meisten mit den enghschen Assoziationspsychologen und der
schottischen Schule verwandt, deren Vertreter er eifrig studiert
hatte und mit seiner »Neuen Psychologie << (1845) in Deutschland
bekannt zu machen suchte. Die Grundzüge seiner Lehre hatte
er bereits 1820 in der »Erfahnmgsseelenlehre als Grundlage alles
Wissens« dargestellt; als er darauf Herbarts Schriften genau kennen
lernte, wurde dessen verwandte Theorie für die Ausbildung seiner
Ansichten von entscheidendem Einfluß. So gestaltet erscheinen
sie in seinem Hauptwerke, dem »Lehrbuch der Psychologie als
Naturwissenschaf t <( (1833) und teilweise schon in den »Psycho-
logischen Skizzen« (1825 und 1827).
Beneke teilt mit Herbart die Grundvoraussetzung, daß alles
psychische Leben auf der Bewegung einfacher Elemente beruhe,
l
424 Beneke.
deren Gesetze oder »Grundprozesse« es festzustellen gilt. Aber
die psychologische Untersuchung soll nach ihm weder auf Mathe-
matik noch auf Metaphysik, sondern lediglich auf Erfahrung ge-
gründet werden, und diese Erfahrung ist im Gegensatz zu der
äußeren die innere Erfahrung. Die Psychologie steht deshalb
völlig ebenbürtig der Naturwissenschaft gegenüber, sie ist wie diese
eine Erfahrungswissenschaft ; aber sie gewinnt ihre Erfahrung nicht
durch den äußeren, sondern nur durch den inneren Sinn. Sie ist
die Naturwissenschaft des inneren Sinnes. Ihre metho-
dischen Mittel sind die Selbstbeobachtung der psychischen Tat-
sachen und die Induktion, welche aus der Analyse der inneren
Wahrnehmungen die Einsicht in die Grundprozesse gewinnt, nach
denen sich die komplizierten Erscheinungen zusammengesetzt
haben. Die ganze Absicht der Benekeschen Lehre ist also darauf
gerichtet, die Gesetze der Entwicklung zu erkennen, durch welche
das seelische Leben den Inhalt und die Formen gewinnt, die
unsere Erfahrung darin vorfindet. Denn darin hat der Begründer
der Lehre vom inneren Sinn, Locke, recht gehabt, daß nichts
Fertiges von Vorstellungen cder Willensrichtungen der Seele an-
geboren ist, sondern alles von ihr durch die Erfahrung erworben
wird. Aber anderseits ist es ein Mißverständnis, diese »tabula
rasa« zum reinen Nichts zu machen, aus dem nie etwas werden
könnte. Die Seele muß vielmehr aus einer Anzahl von Anlagen
bestehen, welche die Möglichkeit in sich tragen, daß sie auf Grund
äußerer Anregungen sich zu der ganzen Fülle ihres späteren Lebens
entwickelt. Hier macht nun freilich dieser Empirismus, wie es
jedem geht, unversehens eine metaphysische Annahme: die Seele
gilt bei Beneke nicht als eine einheitliche, qualitativ fest be-
stimmte Substanz, sondern vielmehr als eine Summe von Anlagen,
die ihrer Verwirklichung entgegenstreben: sie besteht aus einer
Anzahl von Kraftgruppen. Diese Anlagen nennt Beneke die
>> Vermögen« der Seele. Er versteht darunter nicht jene hypo-
stasierten Klassifikationsbegriffe der älteren Psychologie, deren
Beseitigung er für Herbarts größtes Verdienst erklärt, sondern die
spezifischen Formen der Reaktionsfähigkeit auf äußere Reize,
z. B. die Fähigkeit rot zu empfinden. Dieser Vermögen sind also
von vornherein sehr viele, und sie ordnen sich je nach ihrer Ver-
wandtschaft zu bestimmten Gruppen an. Zu einem wirklichen
^
NaturwisseiiHchaft des inneren Sinnes. 425
Beelischon »Gebilde« aber werden sie erst in der Verbindun«^ mit
den ihnen adäquaten »Heizen«, (lie sie aus der Potentiaiität in
die Aktualität überführen. Ohne den Reiz sind also die^yerraögen
eigentlich nur^Kräfte oder Triebe zur Vorstellung." Die Seele
besteht aus einer Fülle solcher Triebe, welche nur auf den Reiz
warten, um zu wirklichen Vorstellungen zu werden. Von hier aus
erhellt am besten Benekes Verhältnis zu Fichte. Beiden besteht
die Seele aus Trieben: aber für Fichte ist sie ein System von
Trieben, die so zusammengehören, daß einer nicht ohne den
andern sein kann; für Beneke ist sie nur sozusagen ein Bündel
von Trieben, welche zufällig zusammen sind, und von denen jeder
für sich allein besteht oder bestehen kann: bei Fichte ist die
Seele das einheitliche System, das sich notwendig in die be-
sonderen Triebe gliedert, bei Beneke ist sie nicht einmal eine ein-
fache Substanz, die Triebe besäße (wie bei Herbart), sondern eine
Verwebung zufäUig zusammengekommener Vermögen.
Für die Entwicklung des Seelenlebens nimmt nun Beneke vier
Grundprozesse an. Die Aneignung der entsprechenden Reize durch
die Vermögen ergibt die ursprünglichen Empfindungen. Dazu
kommt zweitens, daß die Seele im Laufe ihrer Entwicklung immer
neue Urvermögen erwirbt. Das ist durch die Tatsache bewiesen,
daß sie später auf Reize reagiert, denen sie sich früher verschlossen
zeigte. Wie aber diese Erwerbung zu denken sei, wie die vor-
handenen Vermögen durch die Kumulation der Reize zur Erzeugung
neuer Vermögen veranlaßt werden, darüber hat Beneke nur äußerst
künstliche und ungenügende Hypothesen und Erklärungen auf-
stellen können. Reiz und Vermögen sind aber in dem Gebilde der
wirklichen Vorstellung beweglich miteinander verbunden, so daß
die bewußte Vorstellung wieder in die beiden Faktoren auseinander
und diese in andere Vermögen hinüber fließen können. Dadurch
verwandelt sich das Gebilde in eine »Spur« oder »Angelegtheit«,
welche bei neuer Reizung wieder zum Gebilde werden kann und
dann ein stärkerer Trieb als zuvor geworden ist. Endlich besitzen
die Vorstellungen die Fähigkeit, nach dem Maße der Gleichheit
ihres Inhaltes sich anzuziehen und eine engere Verbindung mit-
einander anzustreben. Aus diesen vier Vorgängen, der Entstehung
von Vorstellungen durch Reize, der Erwerbung neuer Ver-
mögen, der Reproduktion und der Assoziation muß der gesamte
■> ^
426 Beneke.
Vorstellungsverlauf bis in alle seine Verzweigungen hinein er-
klärt werden.
Auch darin ist nun Beneke mit Herbart einig, daßjdie Vor-
stellung in ihrer Bedingtheit durch Eeiz und Vermögen das
Grundgebilde des psychischen Lebens ausmacht, und daß alle
übrigen »Bildungsformen« der Seele nur auf die verschiedenen
Verhältnisse der Vorstellungen zurückgeführt werden sollen, Ist
der Keiz dem Triebe gegenüber zu schwach, so entsteht das mit
dem Unlustgefühl verknüpfte Begehren nach voller Erfüllung des
Triebes. Genügt er dem Reize, und geht er zugleich ganz darin
auf, so entsteht das deutliche Wahrnehmen, die interesselose, reine
Vorstellung. Besitzt der Reiz einen Überschuß über das vom Ver-
mögen Verlangte, so entsteht das Lustgefühl. Steigert er sich je-
doch bis zum Übermaß, so entsteht das Gefühl der Abstumpfung
und des Überdrusses. Und tritt endlich ein solches Übermaß
plötzlich ein, so entsteht das Schmerzgefühl.
Die zahlreichen sorgfältigen Beobachtungen und feinsinnigen
Analysen, die in diese Theorien eingeflochten sind, gehören mehr
der empirischen Psychologie als der allgemeinen Philosophie an.
Das prinzipielle Interesse an der Sache liegt darin, daß Beneke
den Versuch macht, auf empirischem Wege eine Entwicklungs-
geschichte des Seelenlebens zu geben, welche dessen ganze Aus-
breitung aus den Urvermögen und deren mannigfaltiger Reaktion
auf die äußeren Reize nach dem Prinzip der Naturgesetzlichkeit
ableitet. In diesem Grundcharakter der Benekeschen Lehre ist es
begründet, daß sie sich in hohem Grade und fast noch mehr als
die Herbartsche zur Grundlage für die Pädagogik eignete, die
denn auch schon Beneke selbst in seiner »Erziehungs- und Unter-
richtslehre« (1835 und 1836) und nach ihm hauptsächlich sein
Schüler Dreßler ausgebaut hat. Schon Beneke kam immer wieder
darauf zurück, daß das dem Menschen Angeborene, die Urvermögen
seiner individuellen Seele, verhältnismäßig der späteren Lebensfülle
gegenüber nur von sehr geringer Ausdehnung und bei den ver-
schiedenen Menschen von nur unbedeutender Verschiedenheit sei
(er beschränkt die individuelle Anlage wesentlich auf die in der
Intensität der Urvermögen bestehenden Temperamentsverhältnisse),
daß dagegen alles, was man populär Anlage^, Talent, Genie usw.
nenne, durch die Einwirkungder Reize auf die Vermögen erworben
Entwickluupf des Seolonlübens. 427
sei, lind der Grundgedanke seiner Pädagogik ist daher der, la der
Erziehung diese Reizwirkungen derartig zu regeln, daß sie zu einer
dem Zweck der Erziehung entsprechenden Entwicklung, Bereicherung
und Befestigung der Urverraögen führen.
Auf diese psychologische Grundansicht stützt nun Beneke nicht
nur seine Logik (1842), deren Problem er in der Entstehung der
Begriffe diu:ch den^ Verschmelzungsprozeß der Vorstellungen ^findet,
sondern auch sein »Natürliches System der praktischen Philo-
sophie« (1837 und 1840), das sich aus der Wertschätzung der
Reize wegen der durch sie bewirkten Steigerung oder Herab-
setzung der Vermögen entwickelt. Ahnlich wie die englischen
Utilisten versucht hier der Philosoph allgemeine Normen für die
Abmessung des Wertes zu finden, den die Reize im egoistischen
und altruistischen Sinne besitzen, und dabei erscheint als das mo-
rahsch Wertvolle das, was zu einer Steigerung der menschlichen
Natur allgemein geeignet ist. Die richtige Schätzung solcher
Werte ist das sittliche Gewissen, das im Gegensatz zu den niederen
Strebungen die Form des PfUchtgefühls annimmt.
Das psychologische Fundament trägt endlich bei Beneke auch
eine »Metaphysik und Religionsphilosophie« (1840). Dieser Auf-
bau ist aber nur durch das Prinzip der analogen Deutung mög-
lich, welche die Ergebnisse der Selbsterkenntnis auf die äußere
Welt überträgt. Eine ursprüngliche und absolute Gewißheit gibt
eben nach Beneke nur die innere Erfahrung; es ist Kants Grund-
fehler, auch auf sie die Phänomenalität ausgedehnt zu haben, die
der äußeren Erfahrung gegenüber das Richtige ist. Wollen wir
die anderen Dinge erkennen, so bleibt uns nur übrige von ihnen
vorauszusetzen, daß sie sich analog verhalten, wie wir die Vorgänge
in uns selbst erkannt haben. Die Formulierung der Begriffe von
Substantialität und Kausalität gestaltet sich danach bei Beneke
nach der Ansicht, die er vom Wesen und Tun der Seele hat: die
Substanz ist ein Aggregat von Vermögen, und ihre Tätigkeiten
sind die Verwirklichungen dieser Vermögen durch Reaktion auf die
von anderen Substanzen ausgehenden Reize. Weiterhin führte
dieses Prinzip zu der Ansicht, die Beneke als seinen Dpiritualismus
bezeichnete, daß nämlich in allen, auch den körperlichen Dingen
etwas der Seele Analoges gedacht werden müsse, - — eine ]Mona-
dologie ohne prästabiüerte Harmonie. Schließlich, da unsere Keimtnis
428 Beneke.
der Außenwelt überall Lücken zeigt, müssen wir im Begriffe der
Gottheit die Idee der Welteinheit bilden, deren Kealität wir mehr
glauben und ahnen dürfen als erkennen können.
Mit dieser Übertragung der psychischen Erfahrung auf die
Metaphysik spricht der Psychologismus in Beneke das Greheimnis
aus, welches, wie sich zeigte, zuletzt auch den großen meta-
physischen Systemen zugrunde lag: die Umdeutung der mensch-
lichen^Selbßterkenntnis in "Welterkenntnis. Und so ent-
hüllt die ganze »Dialektik« der nachkantischen Philosophie nur
die tiefe Weisheit, welche in dem Prinzip Kants Hegt, daß alle
philosophische Erkenntnis nur die Einsicht in die ^ Organisation
der menschlichen Vernünftelst.
Mit dieser Nachlese endet der Versuch, die reifen Garben zu
binden, in welche die Kantische Saat aufgeschossen ist. Nach
jener großen Zeit sind über die deutsche Philosophie Herbst und
Winter hereingebrochen. Die schöpferische Überkraft, aus der
System auf System quoll, war versiegt, und auf den Eausch der
Spekulation folgte die Ernüchterung. Es kam hinzu, daß die
Nebel der Bestaurationszeit über Europa und am dichtesten über
Deutschland lagerten. Und als dann diese trübe Atmosphäre sich
zu lichten begann, als es wieder frischer und reger wurde, da
war — wenige Träger der großen Tradition ausgenommen — die
Verbindung des philosophischen Gedankens mit der universali-
stischen Bildung verloren gegangen, die das Geheimnis jener Blüte-
zeit ausmachte. Die Zeiten haben sich schnell geändert. Zweifellos
ist dem Gesamtwissen jener Zeit das der Gegenwart weit über-
legen: aber dafür zersphttert es sich jetzt in die einzelnen Köpfe
und Tätigkeiten, und das Individuum, unfähig seine Bildung aus
dem Ganzen herauszuarbeiten, muß sich für die Einseitigkeit seiner
Berufsarbeit meist durch einen eitlen Dilettantismus entschädigen,
der von allem kostet, um sich von nichts zu nähren. Zweifellos
sind wir politisch reifer und den Aufgaben der äußeren Existenz
weit gewachsener geworden: aber in der Not des Kampfes fehlt
uns der Friede, uns seiner Früchte zu freuen, und mit Neid
müssen wir auf jene Zeit zurückschauen, der es vergönnt war,
Schluß. 429
mitten aus einer gewaltij];ei\ Schöpfertäligkeit lieraus ihren gcintigen
Gehalt in schöner Harmonie zu genießen. In der Hast des mfxlernen
Lebens ist keine Zeit für die »interesseloHC Betrachtung«, und in
dem Geschiebe uaseres sozialen Median ismus ist kein Raum für
den »Spieltrieb«. Wem das Leben nicht in die Jagd nach der
Lust, wie immer er sie nenne, aufgeht, dem ist es zu ernster
Arbeit geworden, und nur an dem fernen Horizonte der Erinnerung
und der Sehnsucht erscheint das Bild jener goldenen Tage, in
denen auch bei uns, wie einst in Hellas, die Wahrheit mit dem
Lichte der Schönheit strahlte.
Kegister.
Abicht 197.
Aenesidemus- Schulze
203 ff.
Ahrens 299.
Ammon 198.
Ast 296.
Baader 367.
Bardili 318.
Beck 220.
Beneke 423 ff.
Berger 319.
Born 197.
Bouterwek 421.
Burdach 262.
Calker 420.
Carus 260 f.
Dreßler 426.
Eberhard 193.
Eschenmayer 365.
Feder 191. 193.
Feuerbach, Ans. 197.
— , Ludw. 389 ff.
Fichte,J.G.210ff.301ff.
Flatt 193. 204.
Forberg 212. 242.
Fries 417 ff.
Garve 191.
Gesenius 198.
Goethe 249.
Halbkantianer 198.
Hamann 194.
Hardenberg 259. 278.
Hartenstein 397.
Hegel 320 ff.
Herbart 396 ff.
Herder 194. 297.
Hermes 198.
Hoffmann, Fr. 368.
Hölderlin 287.
Hufeland 193.
Hülsen 287.
Humboldt, AVilhelm v.
274 f.
Jacob 197.
Jacobi 195 f. 358 ff.
Kant 1—182.
Kantianer 197 f.
Kielmeyer 250.
Klein 296.
Knapp 393.
Knutzen 5 f.
Koppen 364.
Kraus 192.
Krause 298 ff.
Krug 421.
Maaß 193.
Maimon 206 ff.
Meiners 193.
Memel 242.
Mendelssohn 190.
Nicolai 190.
Niethammer 212. 242.
Novalis, 8. Hardenberg.
Oken 261. 290.
Ouvrier 193.
Paulus 198.
Pölitz 197.
Rehberg 191.
Reinhold, K. L. 192.
199 ff.
Röhr 198.
Rotteck 197.
Salat 364.
Schad 242.
Schaumann 242.
Schelling 242 ff. 284 ff.
364 ff 384 ff.
Schiller 264 ff.
Schlegel, Fr. 279 ff. 326.
Schleiermacher 305 ff.
Schlosser 197.
Schmalz 197.
Schmid, Ehrh. 192.
Schopenhauer 371 ff.
Schubert 262.
Schulze, G. E., s. Aene-
sidemus.
— , Joh. 191.
Schütz 191.
Schwab 193. 204.
Schweizer, AI. 312.
Seile 193.
Solger 297.
Steffens 260. 316.
Stutzmann 296.
Süskind 198.
Tiedemann 203.
Tieftrunk 198.
Tittel 193.
Troxler 422.
Wagner 298.
Weishaupt 193.
Weiß, Chr. 421.
Wizenmann 368.
Wolff, K. Fr. 249.
Zachariae 197.
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